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Soziologie von Gesundheit und Krankheit

Matthias Richter • Klaus Hurrelmann (Hrsg.)

Soziologie von Gesundheit


und Krankheit
Herausgeber
Matthias Richter Klaus Hurrelmann
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Hertie School of Governance
Halle, Deutschland Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-658-11009-3 ISBN 978-3-658-11010-9 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9

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Lektorat: Katrin Emmerich, Stefanie Loyal

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Inhalt

Einführung

1 Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3


Matthias Richter und Klaus Hurrelmann

I Theorien, Methoden und Geschichte der Soziologie von Gesundheit


und Krankheit

2 Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 23


Uwe H. Bittlingmayer
3 Handlungsorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . 41
Stefanie Sperlich
4 Die quantitative Analyse von Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Siegfried Geyer
5 Die qualitative Analyse von Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
Heike Ohlbrecht
6 Geschichte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Thomas Gerlinger

II Die soziale Produktion von Gesundheit und Krankheit

7 Globalisierung und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107


Oliver Razum und Kayvan Bozorgmehr
8 Soziale Ungleichheit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Thomas Lampert
VI Inhalt

9 Gerechtigkeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139


Georg Marckmann
10 Migration und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Jacob Spallek und Oliver Razum
11 Arbeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Nico Dragano
12 Gendersensible Perspektiven auf Gesundheit und Gesundheitsversorgung . . . . . . . 183
Ellen Kuhlmann
13 Regionale Variationen in der Gesundheit und Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . 197
Leonie Sundmacher
14 Einflussfaktoren von Gesundheitssystemen auf Gesundheit und
gesundheitliche Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Claus Wendt

III Die soziale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit

15 Laienperspektiven auf Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229


Toni Faltermaier
16 Bewältigung chronischer Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Doris Schaeffer und Jörg Haslbeck
17 Gesunde Körper – Kranke Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Markus Schroer und Jessica Wilde
18 Medikalisierung sozialer Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
Claudia Peter und Carolin Neubert
19 Soziale Folgen der Biomarker-basierten und Big-Data-getriebenen Medizin . . . . . . 287
Peter Dabrock
20 Die mediale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Constanze Rossmann
21 Demographischer Wandel, Altern und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Stefan Blüher und Adelheid Kuhlmey
Inhalt VII

IV Die soziale Organisation der gesundheitlichen Versorgung:


Politik, Professionen und Strategien

22 Gesundheitssystemgestaltung, Versorgungsgestaltung und


Versorgungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Holger Pfaff und Timo-Kolja Pförtner
23 Soziale Einflüsse auf die gesundheitliche Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Jens Klein und Olaf von dem Knesebeck
24 Transformationsprozesse im Krankenhauswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Maximiliane Wilkesmann
25 Soziologie des kranken Menschen: Krankenrollen und Krankenkarrieren . . . . . . . . 369
Bernhard Borgetto
26 Soziologie der Berufe im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Karl Kälble und Bernhard Borgetto
27 Soziologie der Pflege. Ein Vorschlag zur Konturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
Klaus R. Schroeter
28 Soziologie der Krankheitsprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
Christina Dietscher und Jürgen Pelikan
29 Gesundheitsförderung: Idee, Konzepte und Vorgehensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
Julika Loss, Berit Warrelmann und Verena Lindacher

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451


Einführung
Die soziologische Perspektive auf Gesundheit
und Krankheit 1
Matthias Richter und Klaus Hurrelmann
1 Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit

Überblick
▶ Was ist Soziologie und wie kann sie zu einem besseren Verständnis von Gesundheit
und Krankheit beitragen?
▶ In welchem Verhältnis steht die Soziologie von Gesundheit und Krankheit zur
Medizin?
▶ Was ist das soziale Modell von Gesundheit und wie unterscheidet es sich vom (bio-)
medizinischen Modell?
▶ Welche Strukturen und Schwerpunkte hat die Soziologie von Gesundheit und
Krankheit?

1 Einleitung

Wir leben in einer gesundheitsbesessenen Welt: Gesundheit wird in nahezu allen Lebens-
bereichen und durch unterschiedlichste Kanäle thematisiert, problematisiert und stilisiert,
von Fernsehsendungen mit Gesundheitstipps, Werbung für optimierende Vitaminpillen,
Halbmarathonläufen über Apps für Smartphones, die Schritte und Puls erfassen, bis hin
zum wöchentlichen Besuch des Fitnessclubs. Eines haben diese Beispiele gemeinsam: Sie
gehen von der Vorstellung aus, dass Gesundheit und Krankheit primär biologisch verursacht
sind und unser individueller Lebensstil dafür verantwortlich ist, wie lange und wie gesund
wir leben (Raphael 2006, Richter 2013, Cockerham 2015a). Diese Entwicklung führt dazu,
dass wir Gesundheit und Krankheit individualisiert wahrnehmen und im Wesentlichen als
das Produkt von genetischer Anlage und persönlichem Verhalten verstehen (Germov 2009).
Diese Sichtweise ist nicht falsch, aber sie ist unvollständig. Kernargument der Soziologie
von Gesundheit und Krankheit ist, dass eine derartige Perspektive die gesellschaft lichen
Faktoren und Prozesse ausblendet, die als einflussreiche Rahmenbedingungen für die
Entstehung von Gesundheit und Krankheit fungieren (Germov 2009, Nettleton 2013).
Sie übersieht die politischen, wirtschaftlichen, finanziellen, kulturellen, technischen und

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
4 Matthias Richter und Klaus Hurrelmann

ökologischen Determinanten, die teilweise direkt auf die körperliche und psychische Ge-
sundheit wirken und sie teilweise indirekt über die Beeinflussung des Gesundheitsverhaltens
mitbestimmen. Deren Analyse ist Aufgabe der Soziologie von Gesundheit und Krankheit:
Sie ist für die „zweite Hälfte“ der Erklärung gesundheitsrelevanter Prozesse verantwortlich
und ergänzt den primär biologischen Blick. Erst beide Sichtweisen zusammen sind in der
Lage, ein vollständiges Bild von der Entstehung und Entwicklung von Gesundheit und
Krankheit zu gewinnen. Das gilt sowohl für den Blick auf den einzelnen Menschen als
auch auf verschiedene Bevölkerungsgruppen oder die Gesamtbevölkerung.
Wie stark gesellschaftliche Faktoren auf Gesundheit und Krankheit einwirken, lässt sich
anschaulich am Beispiel der Lebenserwartung demonstrieren. Unzählige Untersuchungen
zeigen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in den relativ armen, wirtschaftlich
und politisch weniger entwickelten Ländern deutlich unter der für fortgeschrittene,
hoch entwickelte Länder liegt. Deutschland zum Beispiel verfügt über eine der höchsten
Lebenserwartungen weltweit; sie liegt für neugeborene Mädchen derzeit bei 83 und für
Jungen bei 78 Jahren (Statistisches Bundesamt 2015a). Ein zentralafrikanisches Land wie
Angola hingegen kommt nur auf Werte von 53,4 Jahren für Frauen und 50,4 Jahren für
Männer. Diese Unterschiede lassen sich kaum darauf zurückführen, dass die Bevölkerung
in Deutschland einen besonderen biologischen Vorteil oder eine besonders gute genetische
Ausstattung hat, sondern sie sind vielmehr eine Folge des unterschiedlichen gesellschaft-
lichen Wohlstands und der damit verbundenen Lebens- und Arbeitsbedingungen.
Diese Erkenntnis wird dadurch unterstrichen, dass die Lebenserwartung sich relativ
kurzfristig ändern kann. Im Durchschnitt der letzten zehn Jahre ist sie in Deutschland
bei Männern alle fünf Jahre um ein Jahr gestiegen, bei Frauen ist es etwas weniger – ein
viel zu kurzer Zeitraum für genetische Veränderungen (Statistisches Bundesamt 2015b).
Zudem zeigen sich auch in Deutschland regionale Unterschiede in der Lebenserwartung.
Sie ist in den Bundesländern und Regionen niedriger, wo die wirtschaftliche Lage schlecht
ist und zum Beispiel eine hohe Arbeitslosigkeit oder ein niedriges Einkommensniveau
vorherrscht (Gaber & Wildner 2011). Hinzu kommt, dass sich trotz einer insgesamt hohen
Lebenserwartung deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen einer
Gesellschaft finden (Elo 2009, Bleich et al. 2012, Richter & Hurrelmann 2009). Analysen
des Sozioökonomischen Panels zeigen beispielsweise, dass die Differenz in der mittleren
Lebenserwartung bei Geburt zwischen der höchsten und niedrigsten Einkommensgruppe
in Deutschland bei Männern etwa elf Jahre und bei Frauen acht Jahre beträgt (Kroll &
Lampert 2009).
Diese Beispiele verdeutlichen eindrucksvoll, dass Gesundheit und Wohlbefinden eines
Menschen vom Moment der Geburt an (und schon davor) bis zum Tod durch soziale Prozesse
beeinflusst werden. Die Reduzierung von Gesundheit und Krankheit auf biochemische,
physiologische und genetische Ebenen – sei es durch die Medien, die Wissenschaft oder
unser Alltagsverständnis – führt zu einer Unterschätzung der Bedeutung sozialer Faktoren,
und zwar sowohl für die Ursachenerklärung als auch für die Behandlung und Versorgung.
Dieser Band beschäftigt sich mit dem Beitrag der Soziologie zu einem umfassenden,
modernen Verständnis von Gesundheit und gesundheitlicher Versorgung. Er soll in die
1 Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit 5

soziologische Perspektive und Denkweise einführen und aufzeigen, wie sie genutzt werden
kann, um die soziale Produktion, die Verteilung aber auch die individuelle Erfahrung von
Gesundheit und Krankheit besser zu verstehen. Dazu werden zunächst zentrale Grundzü-
ge und Perspektiven der Soziologie und ihre Bedeutung für die Analyse von Gesundheit
und Krankheit aufgezeigt. Dabei wird auch auf das Verhältnis zur naturwissenschaftlich
dominierten Medizin eingegangen. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion der unter-
schiedlichen Schwerpunkte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit und leitet zu
den Beiträgen über die zentralen soziologischen Theorien und Methoden über.

2 Was ist Soziologie und warum ist sie wichtig?

Ohne jeden Zweifel ist die Soziologie eine der kontroversesten Wissenschaften überhaupt,
die bis hin zu fluchtartigen oder feindseligen Reaktion führen kann (Barry & Yuill 2012).
So kann die Soziologie in der Öffentlichkeit durchaus ein irritierendes Bild darstellen;
berüchtigt für ihre angeblich unverständliche Sprache, zu Selbstzweifeln und einer „Sozio-
logisierung“ der Gesellschaft neigend (Joas 2001). Dieses Bild liegt aber nicht nur an einer
verzerrten Wahrnehmung der Soziologie in der Öffentlichkeit, sondern auch daran, dass
sie scheinbar bekannte Sachverhalte und nur allzu vertraute Probleme in einer anderen,
von der üblichen Darstellung abweichenden Art und Weise beleuchtet (Baur et al. 2008: 9).
So versuchen wir unsere sozialen Erfahrungen oft zu erklären, indem wir die Motive der
direkt beteiligten Personen analysieren. Die Soziologie geht über diesen psychologischen
Ansatz hinaus und untersucht wiederkehrende Muster in den Einstellungen und Mustern
und fragt, wie sie über die Zeit, unterschiedliche Kulturen und soziale Gruppen variieren
(Joas 2001). Charles Wright Mills (1959) hat diese Herangehens- und Sichtweise treffend als
„sociological imagination“ bezeichnet. Die Soziologie erfordert damit einen bestimmten,
oftmals kritischen Blick auf uns und die Welt um uns herum (Germov 2009). Eben diese
Perspektive macht die Soziologie auch so ansprechend und relevant.
Die Antwort auf die Frage, was Soziologie eigentlich ist, kann weniger einfach und ein-
deutig beantwortet werden als man es vielleicht erwartet. Es liegen inzwischen unzählige
Definitionen anerkannter Vertreter der Soziologie vor. Einig ist man sich unter Soziologen
darüber, dass sich die Soziologie mit dem Zusammenleben von Menschen zu befassen hat
und als empirisch-rationale Wissenschaft zu betreiben ist (Gukenbiehl 2008: 16). Hier soll
einer Definition von Anthony Giddens gefolgt werden, neben Pierre Bourdieu der einfluss-
reichste Vertreter einer an der Praxis orientierten Soziologie. Er definiert Soziologie als
„[…] the study of human social life, groups and societies. It is a dazzling and compelling
enterprise, having as its subject matter our own behaviour as social beings. The scope of
sociological study is extremely wide, ranging from the analysis of passing encounters be-
tween individuals on the street to the investigation of global social processes such as the
rise of Islamic fundamentalism.” (Giddens 2006: 4).
Soziologie ist demnach die Analyse von Gesellschaft und sozialer Prozesse der gesell-
schaftlichen Veränderungen, der Entstehungsmechanismen sozialen Handelns und der
6 Matthias Richter und Klaus Hurrelmann

Verteilung von Macht und Ressourcen zwischen sozialen Gruppen. Soziologisches Wissen
basiert allgemein auf einem wissenschaftlichen Ansatz, dem empirische Forschung zu-
grunde liegt, um damit letztlich theoretische Perspektiven von Gesellschaft zu entwickeln
und zu überprüfen. Ihr besonderes Interesse gilt der Frage, wie die verschiedenen Aspekte
des sozialen Lebens sich gegenseitig beeinflussen (Joas 2001: 14). Hierbei interessiert
besonders die Interaktion zwischen Individuum und sozialer Umwelt. Stark vereinfacht
wird Gesellschaft als „System“ und viele Aspekte unseres Handeln als „institutionalisiert“
verstanden, d. h. durch gesellschaftliche Prozesse hergestellt. Dazu bietet die Soziologie
verschiedene Analysemethoden und Erklärungsansätze an.
Die Soziologie hat eine paradigmatische Struktur, d. h. es finden sich in Forschung und
Lehre unterschiedliche Theorieansätze darüber, was die soziale Wirklichkeit ausmacht und
wie man das als wesentlich Erachtete empirisch erfassen und das Erfasste zu interpretieren
hat (Gukenbiehl 2008: 13). So existieren in der Soziologie unterschiedliche miteinander
konkurrierende, sich ergänzende aber auch sich wiedersprechende Theorien und Ansätze
(siehe Bittlingmayer und Sperlich in diesem Band). Je nach Auslegung greifen sie unter-
schiedliche Interpretationshilfen von Gesellschaft auf.
Die Beziehung und das Zusammenspiel zwischen Individuum und Gesellschaft werden
durch Strukturtheorien einerseits und Handlungs- bzw. Agency-Theorien andererseits
skizziert. Während strukturtheoretische Ansätze vor allem den Einfluss der Gesellschaft
(Struktur) auf individuelles Handeln betonen, unterstreichen handlungstheoretische
Ansätze die Bedeutung des Potentials jedes Einzelnen, das Leben selbst zu beeinflussen
und damit in der Summe individueller Handlungen die Umwelt und letztlich die Ge-
sellschaft mit zu gestalten (Germov 2009). Der Agency-Ansatz blendet den Einfluss der
Gesellschaft auf das individuelle Handeln nicht aus, aber er betont gleichzeitig, dass wir
durch unsere Handlungen Gesellschaft auch konstruieren; sie sieht den Menschen als
Schöpfer und als Produkt gesellschaftlicher Regeln und Ressourcenverteilungen (Mick
2012). Besonders die Arbeiten von Elias, Giddens und Bourdieu stehen für den Versuch,
Struktur- und Handlungstheorien zusammenzuführen (Baur et al. 2008: 7). Neben dem
multiparadigmatischen Diskurs verfügt die Soziologie zudem über ein ebenso großes wie
einvernehmlich gehandhabtes Inventar an Methoden der empirischen Sozialforschung
und der Datenanalyse (siehe Geyer und Ohlbrecht in diesem Band).
Wie viele andere Bereiche der Soziologie ist auch die Soziologie von Gesundheit und
Krankheit durch diese Vielfalt an Deutungsmustern und Methoden charakterisiert. Was
diese Ansätze verbindet, ist die klare Ablehnung eines einseitigen Determinismus von der
Natur und Biologie über das Individuum zur Gesellschaft. Mit Bezug auf Gesundheit und
Krankheit demonstrieren Soziologen so auf der Basis empirischer Forschung die soziale
Produktion und die soziale Verteilung von Gesundheit und Krankheit (Barry & Yuill
2012, Bradby 2009, Nettleton 2013). Sie zeigen ebenso, wie Krankheiten unterschiedlich
wahrgenommen, behandelt und erfahren werden, wie also Krankheiten aus der sozialen
Organisation der Gesellschaft entstehen (White 2009: 4).
1 Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit 7

3 Der soziale Blick auf Gesundheit und Krankheit

Der soziale Blick auf Gesundheit und Krankheit und auch die systematische wissenschaft-
liche Analyse der sozialen Ursachen von Gesundheit und Krankheit hatten ihren Anfang
schon weit vor der Etablierung der Soziologie als akademisches Fach in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts. Der soziale Blick war also nicht immer ein soziologischer Blick. Als
Beispiel können wir auf den Philosophen Friedrich Engels und den Mediziner Rudolf
Virchow verweisen. Durch sie wurden auf ganz unterschiedliche Weise schon früh die
Zusammenhänge zwischen der schnellen Industrialisierung und dem Gesundheitszustand
der arbeitenden Bevölkerung aufgedeckt.
In seinem Erstlingswerk über die Lage der arbeitenden Klasse in England verarbeitet
der Industriellensohn Engels Eindrücke, die er selbst während seines Aufenthaltes in Man-
chester gewonnen hatte (Engels 1845). Seine Schrift gilt als Pionierwerk der empirischen
Sozialforschung und wird oft als ein Standardwerk der Industrie- und Stadtsoziologie
bezeichnet. Engels berichtet hier von den dramatischen Auswirkungen der Kinderarbeit,
den ungesunden Arbeitsbedingungen, den unhaltbaren hygienischen Lebensbedingun-
gen der Arbeiterklasse und der materiellen Verarmung breiter Schichten der arbeitenden
Bevölkerung. Er zeichnet einen engen Zusammenhang zwischen Arbeits- und Lebensbe-
dingungen und der gesundheitlichen Lage und der Lebensdauer der Arbeiter nach. Neben
Engels waren es Mediziner wie Rudolf Virchow, die den Einfluss der „sozialhygienischen“
Lebensbedingungen auf die Gesundheit der Bevölkerung weiter untersuchten. Von Virchow
stammt auch die oft zitierte aber selten ernst genommene Formulierung: „Die Medizin
ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen“
(Virchow 1849: 125).
Es waren solche Analysen, die zusammen mit den aufkeimenden Unruhen in der
ausgebeuteten Arbeiterschaft zu politischen und besonders auch sozial- und gesundheits-
politischen Konsequenzen führten (Heinzelmann 2009, Richter 2013). Das zunehmende
Bewusstsein, dass sich Arbeitsbedingungen, Armut und Krankheit gegenseitig bedingen,
spielte beispielsweise bei der Einführung der Bismarck‘schen Sozialgesetzgebung – allen
voran der gesetzlichen Krankenversicherung – eine zentrale Rolle. Die Tradition einer
Analyse der gesellschaftlichen Krankheitsursachen blühte gerade in Deutschland weiter
auf und entwickelte sich unter dem Oberbegriff der Sozialhygiene als spezifische Reaktion
der „sozialen Medizin“ auf die „soziale Frage“. Alfred Grotjahn, einer der Mitbegründer
und wichtiger deutscher Vertreter der Sozialhygiene, fasste bereits 1923 folgende Punkte
zu einer sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise von Gesundheit und Krankheit zu-
sammen: Die sozialen Verhältnisse 1) schaffen oder begünstigen die Krankheitsanlage, 2)
sind die Träger der Krankheitsbedingungen, 3) vermitteln die Krankheitsursachen und
4) beeinflussen den Krankheitsverlauf. Bis heute haben diesen Aussagen nichts von ihrer
Aktualität und Reichweite eingebüßt.
Virchow und Grotjahn stehen mit ihrem Ansatz einer „sozialen Medizin“ stellvertre-
tend für die Minderheit unter den Medizinern in Deutschland, die sich gegen die immer
stärker werdende Ausrichtung ihrer Disziplin an den naturwissenschaftlichen Erkennt-
8 Matthias Richter und Klaus Hurrelmann

nissen der Biologie, Chemie und Physik wandten. Sie waren der Auffassung, die Medizin
sei hierdurch auf dem Weg, die „Gesamtpersönlichkeit des Kranken, seine Konstitution,
seine spezifische Beeinflussung des Krankheitsverlaufes durch die Umwelt, Wohnung,
Ernährung und Arbeit grob zu vernachlässigen“ (Grotjahn 1932, zitiert nach Meyer 1997:
ohne Seitenangabe). Ihre Appelle, die soziale Dimension von Gesundheit und Krankheit
zu betonen und neben den auf das Individuum zentrierten auch die bevölkerungsweiten
Maßnahmen als Aufgabengebiet der Medizin zu definieren, konnten sich allerdings nicht
durchsetzen. Die Medizin entwickelte sich vielmehr von den 1930er Jahren an – nicht
nur in Deutschland – in schnellem Tempo zu einer naturwissenschaftlich ausgerichteten
Disziplin der Behandlung von spezifischen individuellen, meist körperlichen Krankheiten.
Die Forschungszugänge und Inhalte einer sozialen Medizin gerieten mit dem Einfluss der
naturwissenschaftlich dominierten Medizin in Vergessenheit.

4 Das Verhältnis von Soziologie und Medizin

Nachdem die Medizin damit ihren sozialen Part aufgegeben hatte und sich nur noch der
„naturwissenschaftlichen Hälfte“ der Analyse von Gesundheit und Krankheit widmete,
war es an der Soziologie, sich der zweiten, der sozialwissenschaftlichen Hälfte zuzuwenden.
Sie tat es, indem sie sich zunächst intensiv mit der Logik und den Implikationen ausei-
nandersetzte, die eine naturwissenschaftliche Ausrichtung der Analyse von Gesundheit
und Krankheit mit sich bringt (siehe Gerlinger in diesem Band). Die Kritik richtete sich
vor allem auf das dominante Paradigma der Medizin, das biomedizinischen Krankheits-
modell. In der Medizin ist dieses Modell, das sich Ende des 19. Jahrhundert rasant unter
dem Einfluss naturwissenschaftlichen Denkens entwickelte, bis heute der vorherrschende
Erklärungs- und Therapieansatz von Gesundheit und Krankheit (Miles 2009, Germov 2009,
Krieger 2012). Viele der zentralen Konzepte und Forschungsansätze der soziologischen
Betrachtung von Gesundheit und Krankheit entstanden und entstehen als Kritik an und
Auseinandersetzung mit diesem Modell.

4.1 Das biomedizinische Modell

Entsprechend dem naturwissenschaftlichen Ansatz der Medizin sind Menschen als


biologische Organismen zu verstehen. Vereinfacht dargestellt führen spezifische und er-
kennbare Ursachen wie Keime oder Unfälle zu einer Schädigung von Zellen und Gewebe
oder zu einer Dysregulation von mechanischen oder biochemischen Prozessen, die wie-
derum das Risiko für Krankheiten erhöhen (Eckart 2009, Uexküll & Wesiack 1988). Die
Krankheit wird auf innerkörperliches Geschehen reduziert und als Störung der normalen
Organfunktion verstanden. Der Mensch trägt eine Krankheit also in sich und wird nach
dieser Logik behandelt. Die Krankheit existiert dementsprechend als eindeutige Entität
und kann durch die Untersuchung von Symptomen und Signalen aufgezeigt werden. Der
1 Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit 9

individuelle Patient ist mehr oder weniger die passive Seite der Krankheitsmanifestation. Die
Krankheitsursprünge gelten als körperlich und damit als naturwissenschaftlich erklärbar.
Zum besseren Verständnis wird der menschlichen Körper mit seinen inhärenten
komplexen Prozessen in Bestandteile dekonstruiert, die immer kleinteiliger werden: von
Organen über Zellen zu Genen und Proteinen (Miles 2009, Ahn et al. 2006). Es wird davon
ausgegangen, dass Funktionen und Funktionsstörungen sich dann besser verstehen lassen,
wenn die Organsysteme und -strukturen sowie die physiologischen Prozesse möglichst
kleinteilig analysiert werden. Die molekulare Medizin mit ihrer expliziten Verknüpfung mit
Methoden der Naturwissenschaften setzt den Reduktionismus weiter fort (van Regenmortel
2004). Allerdings gab es in einigen Bereichen der jüngsten Forschung einen gegenläufi-
gen Trend: In der Evolutions- und Entwicklungsbiologie hat sich die Genomforschung
von einem deterministischen Präformationsmodell zunehmend zu einem dynamischen
Interaktionsmodell gewandelt (Lewontin 2000, Minelli & Fusco 2008). Es zeigt sich, dass
diese Erkenntnisse die naturwissenschaftliche Medizin erfreulicherweise bereits jetzt stark
beeinflussen (Egger et al. 2004, Carey 2011).
Spätestens an dieser Stelle werden jedem sozialwissenschaftlich geneigten Leser die
Grenzen dieses Ansatzes deutlich. So ist der Körper nicht nur komplett isoliert von der
Person, sondern die sozialen und materiellen Ursachen der Krankheit werden ebenso
ausgeblendet wie die subjektive Interpretation und Bedeutung der Erkrankung (Nettleton
2013). Um die Entstehung und auch die Vermeidung von Krankheiten besser verstehen
zu können, müssen in soziologischer Sicht die Verhältnisse identifiziert werden, in denen
Krankheiten gedeihen können. Während soziale Faktoren und subjektive Interpretationen
in der praktischen Medizin zunehmend Berücksichtigung finden, wird in der naturwis-
senschaftlich ausgerichteten Grundlagenforschung oft vergessen, dass Menschen nicht
nur biologische Organismen, sondern gleichzeitig auch soziale Wesen sind, die in sozial
organisierten Gesellschaften leben (Krieger 2012, Barry & Yuill 2012, Cockerham 2015b).
Die Tendenz, Gesundheit und Krankheit auf biologische Faktoren zu reduzieren, führt
so zu einer Unterschätzung des Einflusses sozialer Faktoren. Sie kann auch ebenso wenig
erklären, wie gesellschaftliche Muster der Verteilung von Gesundheit und Krankheit ent-
stehen (Krieger 2012, Commission on Social Determinants of Health 2008, Richter 2013).
Die Soziologie von Gesundheit und Krankheit hat sich auf die Suche gemacht, alter-
native Wege der Interpretation von Gesundheit, Krankheit, Befinden, Einstellungen zum
Körper oder dem (medizinischen) Versorgungssystem insgesamt zu finden, d. h. sie zu
vergleichen, zu deuten und zu interpretieren. Ein großer Teil dieser Ansätze hat sich durch
Herausforderungen ergeben, die mit einer starken naturwissenschaftlichen Perspektive
verbunden sind.

4.2 Herausforderungen und Grenzen der (Bio-)Medizin

Vor der Entwicklung und Etablierung der naturwissenschaftlichen Medizin herrschten qua-
si-religiöse Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit vor, die Krankheit in Verbindung
mit Sünde, Buße und bösen Geistern brachten. Das biomedizinische Modell repräsentiert
10 Matthias Richter und Klaus Hurrelmann

hier einen signifikanten Fortschritt im Verständnis von Krankheit und führt zu besseren
Möglichkeiten der Verhinderung und Behandlung von Erkrankungen. Pathophysiologische
und biochemische sowie neuerdings molekulargenetische Konzepte haben zweifelsfrei zu
großen Fortschritten in der Medizin geführt. Auch wenn dem biomedizinischen Modell
ab den 1970er Jahren durch die zunehmende Bedeutung vermeidbarer, chronischer Er-
krankungen ein Risikofaktorenmodell beiseite gestellt wurde (Franke 2012), häuften sich
sowohl innerhalb als auch außerhalb der Medizin kritische Stimmen gegen diese starke
naturwissenschaftliche Ausrichtung der Analyse von Gesundheit und Krankheit.
Exemplarisch sollen hier einige Herausforderungen und Kritikpunkte genannt werden
(Nettleton 2013, Germov 2009):

t Die Vorstellung, dass eine bestimmte Erkrankung eine bestimmte Ursache haben muss,
trifft nur auf eine begrenzte Zahl (infektiöser) Erkrankungen zu. Die große Mehrheit der
aktuell vorherrschenden Krankheiten ist weniger das Ergebnis eines einzigen Einfluss-
faktors, sondern vielmehr das Resultat einer Konstellation von zahlreichen Faktoren
und Umständen. Krankheitsätiologie ist komplexer als das (klassische) biomedizinische
Modell impliziert und beinhaltet multiple Faktoren wie die körperliche Konstitution,
Stress sowie die soziale und natürliche Umwelt.
t Nach einer langen Zeit der Abhängigkeit von medizinischen Experten versuchen viele
Menschen, wieder mehr Kontrolle über ihre Erkrankungen zu erlangen. Im Hinter-
grund steht die Erkenntnis, dass Laien über eigene gültige, subjektive Interpretationen
und Erfahrungen mit Gesundheit und Krankheit verfügen. Auch von politischen
Entscheidungsträgern und Patientenvertretungen wird zunehmend diskutiert, dieses
„Laienwissen“ sowohl für die eigene Behandlung und Pflege als für die Versorgung
Angehöriger stärker als bislang zu nutzen.
t Eine weitere Herausforderung ist die Art und Weise, wie die Medizin Patienten „behan-
delt“. Lange Zeit stand das passive Objekt im Mittelpunkt und nicht die ganze Person.
An vielen medizinischen Fakultäten in Deutschland ist es beispielsweise immer noch
Tradition, dass das Studium der Medizin mit dem Sezieren eines menschlichen Körpers
beginnt. Hier wird die Agenda für die weitere Ausbildung gelegt: Objekt des Studiums ist
der Körper und nicht die Person. Diese Engführung scheint langsam der Vergangenheit
anzugehören. Inzwischen gelangen Aspekte der Kommunikation zwischen Ärzten und
Patienten sowie soziale Determinanten von Gesundheit auch stärker in die vorklinische
und klinische Ausbildung von Medizinern.
t Befeuert wird eine kritische Auseinandersetzung mit der Biomedizin auch durch
den starken Anstieg der Kosten für die medizinische Versorgung. An verschiedenen
Stellen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Medizin wird argumentiert, dass die
Wirksamkeit naturwissenschaftlicher Ansätze in der Medizin in der Bekämpfung und
Behandlung von Erkrankungen deutlich überschätzt wird. Der Ruf nach einer evidenz-
basierten Medizin ist die institutionelle und politische Reaktion auf eben diese Kritik.
1 Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit 11

Diese Entwicklungen führten dazu, dass die Medizin sich besonders in den letzten zehn
Jahren deutlich gewandelt hat und dabei auch Aspekte berücksichtigt, die jenseits der klas-
sischen Biomedizin liegen. Ein ausschließlich biologistischer und pathogenetischer Blick
auf den Menschen – trotz seiner starken Dominanz – scheint in der Medizin zunehmend
der Vergangenheit anzugehören ( Nettleton 2013, Cockerham 2015a).

5 Struktur und Schwerpunkte einer Soziologie von Gesundheit


und Krankheit

Ein Ausdruck dieses Wandels ist die Proklamierung eines biopsychosozialen Krankheitsmo-
dells, welches an die Stelle des biomedizinischen Modells mit seinem engen Reduktionismus
tritt (Engel 1977, Uexküll & Wesiack 2003, Franke 2012). Das Modell geht davon aus, dass
Biologisches, Psychisches und Soziales nicht eigenständig wirken, sondern Teile eines ver-
flochtenen Ganzen darstellen. Diese dynamischen Wechselbeziehungen sind gemäß dem
biopsychosozialen Modell kausal für die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten.
Inzwischen ist dieser Begriff in der medizinischen Alltagssprache so geläufig, dass man
den Eindruck gewinnen könnte, die moderne Medizin verstehe sich in weiten Bereichen als
eine biopsychosoziale (Egger 2005). Die Wirklichkeit zeigt allerdings, dass der ausgerufene
Paradigmenwechsel von einer biomedizinischen zu einer holistischen, biopsychosozialen
Medizin bislang kaum stattgefunden hat. Die aktuelle Publikationstätigkeit zeigt ganz
nüchtern die gewaltige Dominanz der biologisch-medizinischen Wissenschaft. Aus Sicht
einer soziologischen Analyse von Gesundheit und Krankheit erscheint es zudem oftmals
so, als würde der Begriff nur aus „bio“ und „psychosozial“ bestehen (Richter 2013, Hur-
relmann & Richter 2013). Die Einbindung einer explizit „sozialen“ Perspektive ist selten.
Dennoch deutet sich hier insgesamt ein Umdenken an. Der theoretische Ansatz der
„Salutogenese“ des amerikanisch-israelischen Soziologen Aaron Antonovsky war ein
wichtiger Meilenstein in der Entwicklung eines Modells von Gesundheit und Krankheit,
das umfassend angelegt ist (Antonovsky 1987, 1993). Der Begriff Salutogenese – sinngemäß
etwa als „Gesundheitsentstehung“ oder besser noch als „Gesundheitsdynamik“ übersetz-
bar – soll ein Gegenbegriff zu Pathogenese („Krankheitsdynamik“) sein. Hiermit möchte
Antonovsky programmatisch zum Ausdruck bringen, dass die zentrale Fragestellung
seines theoretischen Modells nicht ist, wie Krankheiten zustande kommen und sich ent-
wickeln, sondern vielmehr, warum Menschen trotz einer Vielzahl von gefährdenden und
belastenden Faktoren im mikrobiologischen, biochemischen, psychologischen und sozialen
Bereich gesund bleiben und Störungen ihrer Gesundheit erfolgreich ausgleichen können
(Franke 2012, Antonovsky 1993).
Im Anschluss hat beispielsweise auch die Sozialisationstheorie Ansätze entwickelt, um
dem biomedizinischen Krankheitsverständnis der naturwissenschaftlichen Medizin ein
Modell von Gesundheit und Krankheit entgegenzustellen, das den Menschen nicht nur
auf seine Körperfunktionen reduziert (Hurrelmann & Richter 2013). Die Sozialisations-
theorie konzentriert sich hier auf die Frage, wie ein Mensch mit seinen genetisch weitge-
12 Matthias Richter und Klaus Hurrelmann

hend festgelegten körperlichen und psychischen Merkmalen zu einem sozial integrierten


Gesellschaftsmitglied wird, wie er also die persönliche Individuation und die soziale
Integration miteinander in Einklang bringt (Hurrelmann und Bauer 2015). Hieraus leitet
sich das soziologische Verständnis von Gesundheit und Krankheit ab.
Dies sind nur zwei Beispiele aus der Soziologie von Gesundheit und Krankheit, die
dem vorherrschenden, reduktionistischen Krankheits- und Gesundheitsverständnis der
naturwissenschaftlichen Medizin ein soziales Modell von Gesundheit und Krankheit
entgegenstellen – ein Modell, das den Menschen und damit auch den Patienten und nicht
nur seine Körperfunktionen in den Mittelpunkt stellt. Das soziale Modell von Gesund-
heit wird allgemein als Überbegriff verwendet, um Ansätze zu kennzeichnen, die auf die
sozialen Determinanten von Gesundheit und Krankheit abzielen. Es verortet Menschen
in sozialen Kontexten, konzeptualisiert die physische Umwelt als sozial organisiert und
versteht Krankheit als einen Prozess der Interaktion zwischen Individuen und ihrer Umwelt.
Tabelle 1 kontrastiert die Kernmerkmale des biomedizinischen Models mit dem sozialen
Modell, um so die unterschiedlichen Annahmen, Schwerpunkte und Grenzen zu beschreiben.
Dabei ist es wichtig zu betonen, dass das soziale Modell von Gesundheit die Existenz und
Bedeutung biologischer und psychologischer Aspekte von Gesundheit und Krankheut oder
den Bedarf an medizinischer Behandlung nicht bestreitet. Vielmehr hebt es hervor, dass
Gesundheit oder die individuelle Erfahrung von Krankheit immer und überall in einem
sozialen Kontext entstehen und effektive gesundheitsrelevante Interventionen – gerade im
Bereich der Prävention – über die medizinische Behandlung von Individuen hinausgehen
müssen. Das soziale Modell von Gesundheit ist dementsprechend nicht als Alternative zum
biomedizinischen Modell gedacht, sondern als selbstbewusste, eigenständige Ergänzung.
Es unterstreicht, dass wir unser Leben gleichzeitig als biologische Organismen und als
soziale Wesen leben. Unsere Erklärungen gesellschaftlicher Muster von Gesundheit und
Krankheit sind unzureichend, wenn der Fokus nur auf einer Ebene liegt.

Tab. 1 Das biomedizinische und soziale Modell von Gesundheit im Vergleich


Biomedizinisches Modell Soziales Modell
Fokus t Individueller Fokus, akute Be- t Gesellschaftlicher Fokus, Lebens- und
handlung kranker Individuen Arbeitsbedingungen, die Gesundheit
beeinflussen
Annahmen t Gesundheit und Krankheit t Gesundheit und Krankheit sind soziale
sind objektive biologische Konstruktionen
Zustände
t Individuelle Verantwortung t Soziale Verantwortung für Gesundheit
für Gesundheit
Schlüssel- t Individuelle Pathologie t Soziale Ungleichheit
indikatoren t Vererbung, Geschlecht (Sex), t Soziale Gruppen: Klasse, Geschlecht,
Alter Migration, Alter, Beruf, Arbeitslosigkeit
t Risikofaktoren t Risiko-induzierende Faktoren
1 Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit 13

Ursachen t Gendefekte und Mikro- t Politische/ökonomische Faktoren: Vertei-


von Erkran- organismen (Viren/Bakterien) lung von Wohlstand, Einkommen, Macht,
kungen Armut
t Trauma (Unfälle) t Beschäftigungsfaktoren: arbeits- und bil-
dungsbezogene Möglichkeiten, stressrei-
che und gefährliche Arbeit
t Verhalten/Lebensstil t Kulturelle und strukturelle Faktoren
Intervention t Individuelle Behandlung durch t Öffentliche Politik
Chirurgie und Pharmazie
t Verhaltensmodifikation t Interventionen des Staates zur Stärkung
von Gesundheit und Abbau von sozialen
Ungleichheiten
t Gesundheitserziehung und t Community, Partizipation, Anwaltschaft
Immunisierung und Lobbyismus
Kritik t Ein Fokus auf Krankheiten t Utopisches Ziel von Gleichheit führt zu
führt zu einem Mangel an nicht umsetzbaren Forderungen sozialen
präventiven Maßnahmen Wandels
t Reduktionistisch; ignoriert die t Überbetonung der schädigenden Neben-
Komplexität von Gesundheit effekte der Biomedizin
und Krankheit
t Scheitert an der Berücksich- t Die vorgeschlagenen Lösungen können
tigung der sozialen Ursachen sehr komplex und schwierig in der kurz-
von Gesundheit und Krankheit fristigen Implementation sein
t Expertenmeinung kann das t Soziologische Vorstellungen können die
„victim blaming“ verstärken individuelle Verantwortung und psycho-
logische Faktoren unterschätzen
Quelle: Germov (2009: 17)

Damit umfasst die Soziologie von Gesundheit und Krankheit eine große Bandbreite an
Themen und Zugängen: Von der Analyse medizinischen Wissens über die Laienperspektive
auf Gesundheit, die Erfahrung und Interpretation von Krankheit, soziale und kulturelle
Aspekte des Körpers bis hin zur Analyse der Arzt-Patienten-Interaktion, die sozialen,
ökonomischen und politischen Determinanten von Gesundheit und Krankheit sowie die
soziale Organisation der Gesundheitsversorgung (Barry & Yuill 2012, Nettleton 2013).
Sie bietet darüber hinaus eine umfassende, kritisch-analytische Sichtweise und einen
eigenständigen Erklärungsansatz gesundheitsrelevanter Prozesse.

Schwerpunkte und Dimensionen einer Soziologie und Gesundheit


und Krankheit
In diesem Band wird versucht, eine Struktur in diese Themenvielfalt zu bringen. Angebote
dafür finden sich u. a. bei Seale (2008), Nettleton (2013), White (2009) und Cockerham
(2015b). Dieser Band greift eine Logik von Germov (2009) auf, die sich über drei Ana-
lyseebenen entfaltet: 1) die soziale Produktion von Gesundheit und Krankheit, 2) die
14 Matthias Richter und Klaus Hurrelmann

soziale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit und 3) die soziale Organisation der
Gesundheitsversorgung.

Die soziale Produktion von Gesundheit und Krankheit


Einer der inhaltlichen Schwerpunkte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit ist
der Fokus auf soziale Muster der Verteilung von Gesundheit und Krankheit und die
Suche nach sozialen und nicht biologischen oder psychologischen Erklärungen für diese
Muster. Diese Perspektive unterstreicht, dass viele gesundheitliche Beeinträchtigungen
und Krankheiten sozial produziert werden. So sind beispielsweise Krankheiten, die in
gesundheitsschädlichen Arbeitsumwelten entstehen, oftmals jenseits der individuellen
Kontrolle. Sie müssen deshalb auf der gesellschaftlichen Ebene adressiert werden (z. B.
über Regelungen zum Arbeitsschutz, Arbeitslosenversicherung). Ein anderes Beispiel
ist der soziale Gradient von Gesundheit, der aufzeigt, dass Personen mit einer niedrigen
Bildung, beruflichen Stellung oder Einkommen früher sterben und häufiger erkranken.
Dementsprechend richtet sich ein Fokus im Bereich der sozialen Produktion und Vertei-
lung von Krankheit auf die Rolle der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Entstehung,
Bewältigung und Versorgung von Krankheiten.

Die soziale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit


Ein weiterer Schwerpunkt ist die Frage, wie Definitionen von Gesundheit und Krankheit
zwischen Kulturen und über die Zeit variieren. So kann das, was als „krank“ angesehen
wird, in einer anderen Kultur oder zu einer anderen Zeit als „normal“ verstanden werden.
Zum Beispiel wurde Homosexualität (und wird teilweise in bestimmten Kulturkreisen
immer noch) als psychiatrischen Störung aufgefasst – ohne jede wissenschaftliche Evidenz
einer Pathologie. Dies ist nur ein Beispiel, wie kulturelle Überzeugungen soziale Praktiken
und soziale Institutionen konstruieren und wie Gesundheit und Krankheit verstanden
und definiert werden. Das Beispiel verdeutlicht, dass Krankheit nicht notwendigerweise
auf objektiven Fakten basieren muss; Gesundheit und Krankheit können ebenso soziale
Konstruktionen darstellen, die Kultur, Politik und moralische Vorstellungen einer Gesell-
schaft zu einer bestimmten Zeit reflektieren.

Die soziale Organisation der gesundheitlichen Versorgung


Der dritte Schwerpunkt setzt sich mit der Art und Weise auseinander, wie eine bestimmte
Gesellschaft ihre gesundheitliche Versorgung organisiert, finanziert und in Anspruch
nimmt. Ziel verschiedener Analysen ist hier beispielsweise die dominante Rolle der me-
dizinischen Profession. Sie hat die Gesundheitspolitik und ihre Finanzierung über mehr
als ein Jahrhundert zu ihrem eigenen Vorteil und zu Lasten präventiver Ansätze oder
der Gesundheits- und Pflegewissenschaften geprägt (und tut es immer noch). Um solche
Fehlsteuerungen zu vermeiden, wird ein Abbau der ungleichen Beziehungen zwischen
den Professionen und Disziplinen angestrebt, die sich mit Gesundheit auseinandersetzen,
um die effektive Nutzung von Gesundheitsressourcen zu stärken und die Versorgung von
Patienten zu optimieren.
1 Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit 15

6 Fazit

Die Aufgaben und das Interesse sowohl der (klinischen) Medizin als auch der Soziologie
von Gesundheit und Krankheit haben sich in den letzten zehn Jahren grundlegend geändert
und sind vielfältiger geworden. Weil die Medizin eine außerordentlich starke Profession mit
sehr großer öffentlicher Beachtung ist und auch die ihr zuarbeitende naturwissenschaftliche
Forschung hohe Aufmerksamkeit auf sich zieht, kommt es aber immer wieder zu einer
„halbierten“ Sicht. Die zweite Hälfte der Erklärung von Gesundheit und Krankheit geht
im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs oft unter.
Es gibt aber positive Entwicklungen. Eine besteht darin, dass ursprünglich stark so-
ziologisch geprägte Forschungsschwerpunkte wie z. B. die Versorgungs- und Präventions-
forschung zunehmend fester Bestandteil der medizinischen Forschung und Ausbildung
werden. Die Grenzen zwischen den beiden Disziplinen Medizin und Soziologie verwischen
zunehmend, und frühere gegenseitige Bedenken und Spannungen reduzieren sich. Dies
birgt Risiken aber auch Chancen für das Fach. Die allgemeine Soziologie ist gut beraten,
hier ein gewichtiges Wort mitzureden und dem biomedizinischen Denken ein starkes
Gegengewicht beiseite zu stellen. Bislang hat es die Soziologie, weder in Deutschland noch
in anderen Ländern, in Theorie und Forschung nicht geschafft, für ihre ergänzende Sicht-
weise das sachlich nötige Gehör zu erreichen und gewissermaßen – um den australischen
Soziologen Germov (2009) zu zitieren – eine schlagkräftige „zweite Meinung“ zu etablieren.
Um die Komplexität von Gesundheit und Krankheit zu verstehen, müssen wir über
naturwissenschaftliche Ansätze hinausgehen und ein soziales Modell von Gesundheit
etablieren. Dieser Band hat sich zum Ziel gesetzt, zu diesem Verständnis beizutragen. In
systematisch strukturierter Form wird der Zugang der Soziologie zum Verständnis von
Gesundheit und Krankheit vorgestellt. Die einzelnen Beiträge führen theoretisch und
methodisch in die soziologische Denk- und Arbeitsweise ein und erläutern Entstehung
und Determinanten, Entwicklung und Dynamik sowie Ausprägung und Verteilung von
Gesundheit und Krankheit ebenso wie Struktur und Organisation der Versorgung von
Menschen und Bevölkerungsgruppen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und
Krankheiten. Ziel ist es, die „zweite Meinung“ zu stärken und dabei einen kritischen
Gegenpol zur vorherrschenden biologisch-medizinischen Sichtweise auf Gesundheit und
Krankheit zu bieten.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Soziologie ist eine empirische Wissenschaft, die sich mit der Struktur und Funkti-
onsweise von Gesellschaften und dem Handeln von Individuen in sozialen Kontexten
auseinandersetzt. Ihr Ziel ist das Zusammenleben von Menschen in Gemeinschaften
und Gesellschaften zu analysieren und zu verstehen.
16 Matthias Richter und Klaus Hurrelmann

▶ Die Tendenz, Gesundheit und Krankheit auf biologische und verhaltensbezogene


Faktoren zu reduzieren, führt zu einer Unterschätzung der Bedeutung sozialer
Determinanten und Prozesse.
▶ Aufgabe einer Soziologie von Gesundheit und Krankheit ist es, dem reduktionis-
tischen Krankheitsverständnis der naturwissenschaftlichen Medizin ein soziales
Modell von Gesundheit und Krankheit entgegenzustellen, das den Menschen als
soziales Wesen – und nicht als biologischen Organismus – in den Mittelpunkt stellt.
▶ Schwerpunkte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit sind die soziale Pro-
duktion und die soziale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit sowie die
soziale Organisation der gesundheitlichen Versorgung.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ In welchem Verhältnis stehen unser Alltagsverständnis sozialer Interaktionen und
der Ansatz der „sociological imagination“?
▶ Welche Wege und Möglichkeiten fallen Ihnen ein, die mediale und wissenschaftliche
Dominanz der Biomedizin zu verändern?
▶ Überlegen Sie, welche Mechanismen dazu führen, dass die Gesellschaft „unter die
Haut kommt“ und Krankheiten verursacht.
▶ Skizzieren Sie die Stärken und Schwächen des biomedizinischen und sozialen Modells
von Gesundheit und Krankheit.
▶ Was sind die drei Schwerpunkte des sozialen Modells von Gesundheit und Krankheit?
Geben Sie bitte Beispiele für jeden Schwerpunkt.

Leseempfehlungen

t Germov, J. (Ed.), 2009: Second Opinion: an Introduction to Health Sociology (4rd


Edition). Melbourne: Oxford University Press.
Das bislang beste englischsprachige Lehrbuch zur Soziologie von Gesundheit und Krankheit
auf dem Markt, das auch dem vorliegenden Band als Vorlage diente und einen umfas-
senden Überblick über die Disziplin gibt.

t Hurrelmann, K. & M. Richter, 2013: Gesundheits- und Medizinsoziologie. Eine Einfüh-


rung in die sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. Weinheim: Beltz Juventa.
Während das vorliegende Lehrbuch bewusst die wissenschaftliche Community zu Wort
kommen lässt, findet sich in diesem Band die ganz eigene Sichtweise der beiden Heraus-
geber auf soziale Aspekte von Gesundheit und Krankheit.
1 Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit 17

t König, K., & M. Tönnesmann (Hg.), 1958: Probleme der Medizin-Soziologie (Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 3). Opladen.
Die erste umfangreiche Abhandlung über die soziologische Sicht auf Gesundheit und
Krankheit nach dem 2. Weltkrieg, die versucht, an die große deutsche Tradition einer
„sozialen Medizin“ anzuknüpfen.

t Folgende Fachzeitschriften geben einen umfassenden Einblick in die Themenvielfalt der


Soziologie von Gesundheit und Krankheit: 1) Sociology of Health and Illness, 2) Social
Science & Medicine, 3) Journal of Health and Social Behaviour, 4) Health: Interdiscip-
linary Journal for the Social Study of Health, Illness and Medicine

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.shifoundation.org.uk
Der spannend gemachte Internetauftritt der neu gegründeten, wohltätigen „Founda-
tion for the Sociology of Health and Illness“ informiert über aktuelle Neuigkeiten aus
Forschung, Praxis und Projektförderung weltweit.

Film „Quarks & Co: Bist Du reich genug“ (Dokumentation, WDR – Wissen) – https://
www.youtube.com/watch?v=ytRBMO9gJjY
Engagiert gemachte, leicht verständliche Dokumentation über soziale Ungleichheiten
und ihre Auswirkungen auf Gesundheit, Bildung und Arbeit in Deutschland.

Film „Einstweilen wird es Mittag“ (Dokumentarischer Fernsehfilm, Österreich/BRD


1988, Regie: Karin Brandauer)
Der Film beruht auf den Erlebnissen der österreichischen Soziologen Marie Jahoda,
Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel sowie deren 1933 veröffentlichter Studie „Die Arbeits-
losen von Marienthal“. Die richtungsweisende Studie auf Grundlage von Interviews,
Tagebuchnotizen, Briefen, Beobachtungen und statistischen Daten verdeutlich auf
eindrucksvollste Weise, wie Gesellschaft in den Körper kommt und damit Krankheiten
verursacht.

Film „Soziologie ist ein Kampfsport – Pierre Bourdieu im Portrait“ (DVD – Französische
Originalfassung mit deutschen Untertiteln) – https://www.youtube.com/watch?v=-
5Joz5G94L7U
Beeindruckende Dokumentation über das Leben und Denken eines der einflussreichsten
Soziologen und engagiertesten Denker des 20. Jahrhunderts.
18 Matthias Richter und Klaus Hurrelmann

Literatur

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1 Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit 19

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I
Theorien, Methoden und Geschichte
der Soziologie von Gesundheit und Krankheit
Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit
und Krankheit 2
Uwe H. Bittlingmayer
2 Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit

Überblick
▶ Was ist soziale Struktur?
▶ Wie kann das Verhältnis von überindividuellen Strukturen und individuellem Han-
deln als allgemeiner Zusammenhang beschrieben und analysiert werden?
▶ Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Struktur(en) und Gesundheit bzw. Krankheit
im Strukturfunktionalismus Parsons, in der Genealogie Foucaults und im (Neo-)
Marxismus konkret bestimmen?

1 Einleitung

Die Soziologie gilt – neben der Ethnologie oder der Politikwissenschaft – als eine Sozial-
wissenschaft, die sich primär mit den sozialen Strukturen von Gesellschaften beschäftigt.
Dabei geht es darum, überindividuelle Strukturen zu identifizieren, von denen angenom-
men wird, dass sie das individuelle Handeln maßgeblich beeinflussen. Diese Perspektive
ist für eine Soziologie der Gesundheit und Krankheit besonders wichtig, weil sie, anders
als große Teile der Public Health-Praxis, davon ausgeht, dass Gesundheit und Krankheit
wenig individuell sind. Das ist übrigens eine Grundüberzeugung, die die Soziologie mit
der frühen Sozialmedizin von Rudolf Virchow oder Salomon Neumann teilt.
Natürlich werden in einer strukturorientierten soziologischen Perspektive etwa gene-
tische Erkrankungen, die kaum von sozialen Strukturen abhängig zu machen sind, nicht
geleugnet. Aber einerseits ist der Umgang mit solchen Erkrankungen bereits wieder stark
gesellschaftsstrukturell vermittelt. Er ist etwa abhängig davon, ob erkrankte Menschen
gezwungen werden zu arbeiten, ob sie ausgegrenzt werden oder ihnen ein garantiertes
Grundeinkommen zur Verfügung steht. Andererseits stehen aber genetische oder andere
spezifische Erkrankungen gar nicht im Fokus der analytischen und empirischen Bemü-
hungen, ein Verständnis für die Abhängigkeit der individuellen Gesundheit von sozialen
Strukturen zu erlangen. Deshalb ist die Betonung sozialer Strukturen bei der Thematisierung

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
24 Uwe H. Bittlingmayer

von Gesundheit und Krankheit zunächst einmal mit einer besonderen Perspektive auf den
wissenschaftlichen Gegenstand verbunden, ohne dass hier ein Alleinvertretungsanspruch
dieser Perspektive oder der Soziologie insgesamt formuliert werden muss. Im Gegenteil
ist es gerade das Besondere und Fruchtbare am Gegenstand Gesundheit, dass er ohne
eine interdisziplinäre Perspektive, wie sie zum Beispiel durch eine Verschränkung von
Sozial- und Kulturwissenschaften, Geschichte, Philosophie, Psychologie, Ökonomie oder
Kommunikationswissenschaften abgebildet wird, nicht hinreichend verstanden werden
kann (Schwartz & Janus 2006, Schnabel & Bödeker 2012).
Die Popularität einer strukturorientierten Perspektive selbst ist enormen Schwankungen
unterworfen (siehe hierzu auch die komplementären Ausführungen von Sperlich im Band).
So gab es innerhalb der Soziologie von Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre
hinein einen übergreifenden Konsens, dass das Individuum maßgeblich durch gesellschaft-
liche Strukturen, vorrangig durch die soziale Herkunft und die Geschlechtszugehörigkeit
bestimmt wird. Dabei wurde das Individuum häufig als bloßer Repräsentant einer sozialen
Strukturkategorie wie „Arbeiter“, „Mittelschichtsangehörige“, „Mann“ oder „Frau“ verstan-
den und nicht weiter analysiert, ob sich systematische Differenzen zwischen den „realen
empirischen Individuen“ und den verwendeten sozialwissenschaftlichen Strukturkatego-
rien finden ließen. In den 1980er und 1990er Jahren wurde mit Blick auf die These eines
umfassenden Wertewandels in Richtung „Postmaterialismus“ und eines kontinuierlichen
Wohlstandsgewinns in der Nachkriegszeit in der deutschen Soziologie davon ausgegangen,
dass soziale Klassen oder Schichten als Strukturkategorien nicht länger sinnvoll sind und
entweder das Ende jeder sinnvollen „Großgruppensoziologie“ (Beck 1986) oder die Exis-
tenz von Erlebnismilieus verkündet, deren vordringlichstes Problem die Umsetzung und
Interpretation des nunmehr dominanten gesamtgesellschaftlichen Imperativs „Erlebe dein
Leben!“ sein sollte (Schulze 1992). Es war die feste Überzeugung vieler Autorinnen und
Autoren in den 1980er und 1990er Jahren, dass die Mangelgesellschaft an ein historisches
Ende gekommen und durch eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky) abgelöst
worden war (eine starke Übersicht über 50 Jahre Klassentheorie liefert Thien 2014).
Durch eine außerwissenschaftliche und eine innerwissenschaftliche übergreifende
Tendenz lässt sich seit den 2000er Jahren bis heute eine sehr starke Rückorientierung zu
einer Strukturperspektive erkennen (für die Sozialisationsforschung Bauer 2013): Durch
den Umbau des souveränen Nationalstaats in einen internationalen Wettbewerbsstaat (z. B.
Hirsch 1995, Streeck 2013), durch den Aufstieg eines zunehmend globalen Finanzmarkt-
kapitalismus (Krätke 2002, Piketty 2014) sowie durch die ideologische Runderneuerung
der Sozialdemokratie im Rahmen von Workfare und Aktivierungspolitik (Lessenich 2009,
Gerdes & Bittlingmayer 2012) wurde als übergreifende gesamtgesellschaftliche Entwicklung
eine Ökonomisierung von zuvor geschützten gesellschaftlichen Bereichen (auch im Ge-
sundheitssektor: vgl. u. a. Kühn 2004, Ahrens 2007, Bauer 2007, Slotala 2011) angestrengt,
die zu neuen sichtbaren Ausgrenzungen und sozialen Ungleichheiten geführt haben. Neben
dieser gesamtgesellschaftlichen, in großen Teilen außerwissenschaftlichen Entwicklung
hat innerhalb der Sozial- und Gesundheitswissenschaften der markante Aufstieg der em-
pirischen Zugänge und die Verbesserung der nationalen und internationalen Datenlage
2 Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 25

einen wichtigen Beitrag zu einer Wiederentdeckung einer starken Strukturperspektive


(die allerdings selbst in den 1980er und 1990er Jahren nicht gänzlich verschwunden
war; vgl. u. a. Geißler 1996) geleistet. Denn die empirische Sozialwissenschaft und die in
Deutschland erst jüngst prominenter gewordene Sozialepidemiologie hat in den letzten 15
Jahren die überragende Bedeutung der sozialen Herkunft, der Geschlechtszugehörigkeit,
der ethnischen Zugehörigkeit oder des verfügbaren Einkommens zum Beispiel für das
Gesundheitsverhalten, das subjektive Wohlbefinden oder psychische Erkrankungen in
vielen Studien herausgestellt (Mielck 2005, Wilkinson 2005, Muff 2009, Kroll 2010).
Es lässt sich also für den jetzigen Zeitpunkt festhalten, dass wir es mit einer Wiederkehr
einer starken Strukturperspektive innerhalb der Soziologie und benachbarten Diszip-
linen zu tun haben, die davon ausgeht, dass das Individuum maßgeblich durch soziale
Großgruppen und Institutionen beeinflusst wird. Aber was ist eine Struktur genau? Um
diese Frage zu beantworten, wird im nächsten Abschnitt zunächst ein allgemeiner, nicht
auf Gesundheit bezogener Begriff sozialer Strukturen vorgestellt. Anschließend werden
einige wenige exemplarische Beispiele angeführt, die von einer Strukturperspektive aus
auf Gesundheit und Krankheit schauen.

2 Der Strukturbegriff in den Sozialwissenschaften: Theoretische


Annäherungen mit Blick auf Gesundheit und Krankheit

Mit der These von der Abhängigkeit des Individuums von überindividuellen Strukturen ist
so lange noch nichts gewonnen, bis wir über ein genaueres Verständnis darüber verfügen,
was eine Struktur sein soll und wie sie für Individuen im Alltag funktioniert (siehe hierzu
auch die Ausführungen von Sperlich zur bourdieuschen Soziologie sowie Gerlinger 2006).
Eine klassische Vorgehensweise, sich eines Gegenstandes oder eines Begriffs zu nähern, ist
darüber nachzudenken, was er nicht ist. Deshalb wäre die allererste Annäherung an einen
sozialwissenschaftlichen Strukturbegriff die Abgrenzung gegenüber einem naturwissen-
schaftlichen Strukturbegriff. Die sozialen Strukturen, die für das individuelle Gesundheits-
verhalten oder eine gruppenspezifische Erkrankungswahrscheinlichkeit verantwortlich
sein sollen, sind keine Naturgesetze wie die Geschwindigkeit des Lichts, die universell
gilt. Zwar gibt es auch in den Sozialwissenschaften, vor allem in der Sozialanthropologie
von Claude Levi Strauss, Theorieelemente, die auf universelle Geltung abzielen – etwa auf
die These der universellen Geltung des Inzesttabus in allen Gesellschaften. Levi Strauss
wollte mit seinem ethnologischen Theorieprogramm durch die Analyse von Mythen uni-
versale Denkstrukturen freilegen und nicht nur zur Analyse fremder Kulturen beitragen.
Allerdings bleiben diese universellen Denkstrukturen anders als die Lichtgeschwindigkeit
immer abhängig von Menschen, die sie in welcher Form auch immer handelnd vollziehen.
Ein zweiter Ansatz, um einem sozialwissenschaftlichen Verständnis des Strukturbegriffs
näher zu kommen, ist die Frage, wogegen sich der Strukturbegriff richtet, was also der
wissenschaftliche Gegner einer strukturorientierten Auffassung ist. Strukturorientierte
Ansätze bestreiten eine umfassende individuelle Handlungsautonomie, wie sie etwa in der
26 Uwe H. Bittlingmayer

Philosophie des Deutschen Idealismus prominent bei Immanuel Kant formuliert wurde
und etwa in der Ottawa-Charta programmatisch wieder aufgegriffen wird, wenn davon
die Rede ist, dass die Individuen die Kontrolle über ihre Lebens- und Arbeitswelt erhalten
sollen. Die Betonung von überindividuellen Strukturen dient also zunächst dazu, Ansätze
wie zum Beispiel die ökonomische Theorie rationaler Entscheidungen oder idealistische
Subjekttheorien in der Tradition der Aufklärung, die die Selbstherrlichkeit individueller
Entscheidungen betonen, einzuhegen und die individuellen Entscheidungen selbst als
Ausdruck überindividueller Strukturen zu begreifen (siehe auch Sperlich in diesem Band).
Der Kristallisationspunkt eines entscheidungsautonomen Subjekts – sei es, dass sich das
Subjekt für einen gesunden Lebensstil, für eine private Krankenversicherung oder für einen
Freitod entscheidet – lässt sich in einer strukturorientierten Perspektive von drei Seiten
aus angreifen (vgl. zum folgenden Hall 1994). So hat erstens Karl Marx in seinen Arbeiten
herausgestellt, dass die Menschen immer noch weit davon entfernt sind, ihre eigene Ge-
schichte bewusst zu gestalten. Vielmehr spielt sich die Menschheitsgeschichte bislang (und
bis heute) hinter dem Rücken ihrer eigenen Subjekte ab. „Die Menschen machen ihre eigene
Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, son-
dern unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Bedingungen.“ (Marx 1972
[1852]: 115). Zweitens hat Sigmund Freud in seinem Werk die Bedeutung des Unbewussten
für unser Begehren (vom Konsumverhalten bis zur Sexualität) untersucht und die These
entwickelt, dass ein Großteil der subjektiven Handlungen durch triebgesteuerte Impulse
verursacht werden, die dem überlegten, vernünftigen und kalkulierenden Subjekt gerade
entgegen stehen. Und drittens hat der französische Linguist Ferdinand de Saussure das
Verhältnis von Subjekt und Sprache umgedreht. Nicht das Subjekt verfügt selbstherrlich
über eine Sprache, sondern die Sprache und ihre Strukturen sind dem Individuum selbst
vorgängig: „Die Sprache ist nicht eine Funktion der sprechenden Person; sie ist das Produkt,
welches das Individuum in passiver Weise einregistriert.“ (de Saussure 1967: 16) Werden
diese systematischen Grenzziehungen von autonomer Subjektivität berücksichtigt, dann
geraten Public Health-Ansätze, die sich auf Verhaltenssteuerung beziehen in erhebliche
theoretische Erklärungsnot, weil eine nicht-autoritäre Verhaltensprävention ja immer darauf
setzen muss, dass sich ein Individuum freiwillig und autonom für die gesundheitsbewuss-
tere Variante entscheidet. Damit wird aber immer schon die Fähigkeit vorausgesetzt, über
sich, über die eigenen Wünsche und über die eigenen Handlungen selbst bestimmen zu
können. Dieser Vorstellung würden strukturorientierte Ansätze entgegen halten, dass wir
dem Schweizer Philosophen Peter Bieri zufolge „nicht nach Belieben, ohne Vorbedingungen
und aus dem Nichts heraus, darüber bestimmen [können], was wir denken, fühlen und
wollen. […] Bevor wir soweit sind uns zu fragen, wie wir leben möchten, sind tausendfach
Dinge auf uns eingestürzt und haben uns geprägt. Diese Prägungen bilden den Sockel für
alles weitere, und über diesen Sockel können wir nicht bestimmen.“ (Bieri 2011: 9f) eine
strukturorientierte Perspektive ist also gegenüber einem starken Begriff eines autonomen
Subjekts oder Individuums von Beginn an sehr skeptisch eingestellt.
Nähern wir uns nun dem Strukturbegriff aus einer dritten Perspektive, der Perspektive
der Notwendigkeiten, die ein sozialwissenschaftlicher Strukturbegriff berücksichtigen muss
2 Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 27

und der Funktionen, die er erfüllen soll. Notwendig für einen zeitgemäßen sozialwissen-
schaftlichen Strukturbegriff ist erstens zunächst, dass er nicht deterministisch formuliert
wird. Es ist offensichtlich, dass zu allgemeine Aussagen auf der Basis von angenommenen
sozialen Strukturen empirisch nicht haltbar sind: „Männer sind größer als Frauen!“,
„Kinder von Eltern mit niedrigen Bildungsabschlüssen studieren nicht“ oder „männliche
Kinder mit türkischem Migrationshintergrund sind übergewichtig“ lassen sich durch em-
pirische Gegenbeispiele leicht widerlegen. Das Merkmal oder die Eigenschaft Mann oder
Frau, Vietnamese, Deutscher oder Spanierin oder Unterschichts- oder Oberschichtskind
determiniert nicht, sondern lässt bestimmte Verhaltensformen, Körperverständnisse, Ess-
gewohnheiten oder Erkrankungen unterschiedlich wahrscheinlich werden. In diesem Sinne
bezeichnen Strukturen soziale Relationen und spezifische Wahrscheinlichkeiten (Bourdieu
1987, Emirbayer 1997). Das, was die Sozialwissenschaften unter Struktur verstehen, ist also
nicht durch Vollständigkeit gekennzeichnet und muss prinzipiell offen konzeptionalisiert
werden (Zima 2010: X).
Notwendig ist zweitens, dass soziale Strukturen als etwas verstanden werden, das von
den Menschen selbst erzeugt wird, unabhängig davon, wie abstrakt (globale Ökonomie)
oder schicksalhaft (Geschlechterdualismus, ethnische Zugehörigkeiten) sie erscheinen. Die
grundlegende Annahme, dass soziale Strukturen keine „Essenz“ im Sinne überhistorischer
Gegebenheiten besitzen, sondern prinzipiell wandelbar und damit prinzipiell gestaltbar sind,
ist der Minimalkonsens aller so genannten sozialkonstruktivistischen Ansätze (die selbst
sehr heterogen sind). Es gibt zum Beispiel keine Essenz des Türkischen oder Deutschen,
es gibt keine „Frau an sich“ oder eine Essenz der Arbeiterin, weil das darunter verstande-
ne sehr starken historischen Schwankungen (z. B. sind die Nationalstaaten Deutschland
und die Türkei historisch sehr jung; die traditionelle Arbeiterklasse und ihre beruflichen
Tätigkeiten haben sich stark modernisiert) und sehr starken kulturellen Schwankungen
(z. B. existierendes Matriarchat auf indonesischen Inseln, demnach liegt Männerherrschaft
nicht in der Natur des Menschen) unterliegen.
Notwendig ist drittens, dass der Begriff der sozialen Strukturen als historisch wandel-
bar begriffen wird, gerade weil sich soziale Strukturen dadurch auszeichnen, dass sie eine
gewisse Widerständigkeit gegen schnellen sozialen Wandel aufweisen (Mittelstraß 2004:
107). Damit muss ein sozialwissenschaftlicher Strukturbegriff zwei entgegengesetzte Dinge
gleichzeitig bewerkstelligen: Einerseits muss er auf die enormen Beharrungskräfte sozialer
Strukturen hinweisen und deutlich machen, dass die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen
sozialen Strukturen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten etwa der Alltagspraxis
eines gesunden Lebensstils einhergehen. Andererseits muss der Strukturbegriff aber so offen
sein, dass auch die Möglichkeit zumindest prinzipiell besteht, dass die für das Individuum
sehr wirkmächtigen sozialen Strukturen aufhören zu existieren. Im sozialwissenschaftli-
chen Strukturbegriff ist damit zwingend ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen
Strukturkontinuität und sozialem Wandel, zwischen Statik und Dynamik (Adorno 1980
[1961]) eingeschrieben. Werden diese Notwendigkeiten – Antideterminismus, Antiessen-
tialismus, Relationalität, Menschen als Strukturproduzenten, Dialektik von Kontinuität
und Wandel – bei der Grundlegung eines Strukturbegriffs berücksichtigt, dann leisten auf
28 Uwe H. Bittlingmayer

diese Weise konstruierte Strukturbegriffe ein Verständnis für die statistischen Relationen
der empirischen Sozialforschung und Sozialepidemiologie. Denn der Nachweis einer statis-
tischen Signifikanz ist keine Erklärung, sondern nur eine statistische Relation. Mit einem
angemessenen Strukturbegriff lassen sich solche empirischen Befunde theoretisch erklären.
Im Folgenden sollen exemplarisch drei wichtige Varianten sozialwissenschaftlicher
Strukturtheorie für den Gegenstandsbereich Gesundheit vorgestellt werden, um ein Gefühl
für die Heterogenität von Strukturkonzepten zu vermitteln. Es sind dies der Strukturfunk-
tionalismus Talcott Parsons, der genealogisch-archäologische Ansatz Michel Foucaults
und die neomarxistische Perspektive der Frankfurter Schule.

2.1 Gesundheit als Funktion, Krankheit als Funktionsstörung:


der Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons

Der bislang entwickelte Strukturbegriff, der davon ausgeht, dass überindividuelle Strukturen
existieren, die maßgeblich das Handeln der Individuen bestimmen und ihre prinzipiellen
Freiheitsgrade einschränken, war im Großen und Ganzen gesellschaftskritisch ausgerichtet.
Das ist für eine strukturorientierte Perspektive aber nicht zwingend. Im Gegenteil war
der Ausgangspunkt der Medizinsoziologie der so genannte Strukturfunktionalismus des
US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons, der davon ausging, dass die US-ameri-
kanische Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre die bestmögliche aller Gesellschaften
darstellte (das ist nur verständlich vor dem Horizont des Kalten Krieges). 1951 veröffent-
lichte Parsons das Buch „The Social System“, das seinen strukturtheoretischen Ansatz
kompakt darstellen sollte. In dieser Publikation war ein Kapitel mit dem Titel „Struktur
und Funktion der modernen Medizin“ enthalten, das das medizinische Diagnose- und
Versorgungssystem einer soziologischen Analyse unterwarf (dieses Kapital wurde 1958
auf Deutsch veröffentlicht). Parsons‘ normative Grundüberzeugung, dass die existierende
Gesellschaft unbedingt erhalten werden muss, prägt seinen Zugang zur Analyse von Ge-
sundheit und Krankheit. Gesundheit wird implizit definiert als normales Funktionieren
eines Menschen und Krankheit als „Störung des ‚normalen‘ Funktionierens des Menschen“
(Parsons 1958: 12; kritisch hierzu etwa Schnabel 1988: 30-43). Vor dem Hintergrund, dass
solche Funktionsstörungen mit Blick auf den Erhalt der Gesamtgesellschaft schnellstmög-
lich und effizient behoben werden müssen, um die soziale Ordnung nicht zu gefährden,
leitet Parsons eine spezifische Rahmung des Verhältnisses von Arzt/Patient ab. Damit
wird „das Problem der gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit
sogleich eingegrenzt auf das Problem der sozialen Organisation medizinischer Behandlung
von Patienten.“ (Badura et al. 2012: 186) Die Medizin übernimmt dabei die Funktion, die
Leistungsfähigkeit des Individuums effizient und effektiv wiederherzustellen und erhält
dafür soziale Privilegien – etwa hohe Gehälter und hohes gesellschaftliches Ansehen. Vom
Patienten wird gesellschaftlich erwartet, sich ohne Verzögerung in medizinische Obhut zu
begeben, dem ärztlichen Rat widerspruchslos zu folgen, damit er mit seiner Arbeitskraft
an der sinnvollen Reproduktion der Gesamtgesellschaft wieder aktiv teilnimmt. Obwohl
sich aktuell nicht ohne weiteres an die Parsons‘sche strukturfunktionale Bestimmung des
2 Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 29

Arzt-Patienten-Verhältnisses etwa aufgrund des markanten Wandels der Patientenrolle


(Patientenempowerment, Patientenmündigkeit) anschließen lässt (vgl. Wolf & Wendt 2006:
19f.), ist Parsons‘ Perspektive dennoch höchst aufschlussreich. Denn das bis heute existie-
rende Ordnungsschema, dass ein professionelles Medizinsystem die gesamtgesellschaftliche
Funktion monopolisiert hat, Menschen aus dem Arbeitsprozess temporär auszugliedern,
ist keine schicksalhafte Entwicklung, sondern erklärungsbedürftig. Und innerhalb dieses
Ordnungsschemas werden Menschen, die im Arbeitsprozess sind und erkranken, nach wie
vor gezwungen, einen Arzt oder eine Ärztin zu konsultieren, um sich die gesellschaftliche
Legitimität ihres Fernbleibens von der Arbeit zu sichern und auf dieser Grundlage sogar
weiterhin Lohnzahlungen zu erhalten. An dieser Rolle der Medizin setzt die folgende
Strukturperspektive von Michel Foucault an.

2.2 Die Normalisierung von Gesundheit durch den ärztlichen Blick


und die Pathologisierung des Anderen durch die Psychiatrie:
die Sicht Michel Foucaults

Die zweite strukturorientierte Perspektive von Michel Foucault, einem französischen


Philosophen, Historiker und Soziologen, die hier kurz skizziert werden soll, wird in auch
aktuellen Arbeiten der Gesundheitswissenschaften positiv zu Grunde gelegt (vgl. z. B.
Brunnett 2007, 2009, Mazumdar 2008, Steindor 2008). Foucault veröffentlicht zunächst
in den 1960er Jahren die beiden Studien „Wahnsinn und Gesellschaft“ und „Die Geburt
der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks“ und entwickelt eine radikal-historische
Perspektive, die er als Archäologie des Wissens bezeichnet. Foucault geht es zunächst um
die historischen Wandlungen im Verständnis von psychischen Erkrankungen und Krank-
heit. In „Wahnsinn und Gesellschaft“ zeigt er die Rolle der Wissenschaft an der Konsti-
tuierung des Phänomenbereichs des Wahnsinns selbst auf. Wahnsinn fungiert Foucault
zufolge als notwendige Abgrenzungsfolie, um einen bürgerlichen Begriff von Vernunft zu
erschaffen, der dann als das Normale gelten kann. Die Festsetzung dieses Dualismus ist die
Voraussetzung, um Menschen, die fortan als wahnsinnig (oder geisteskrank) bezeichnet
werden, zu kasernieren und zu Objekten medizinisch-psychiatrisch-wissenschaftlicher
Behandlung werden zu lassen. Foucault behauptet damit eine unmittelbare Verbindung
zwischen der Herrschaftsergreifung des Bürgertums und der Entstehung der Psychiatrie
als eigenständiger medizinischer Disziplin (Roelcke 1999: 19). Damit ist, radikaler als
bei Parsons, die Medizin und insbesondere die Psychiatrie, nicht nur eine Funktion der
Reproduktion der gesamtgesellschaftlichen Ordnung, sondern beide nehmen direkten
Anteil an der Erzeugung einer bürgerlichen Ordnung selbst.
In „Die Geburt der Klinik“ untersucht Foucault die grundlegenden Bedingungen,
unter denen ein ärztlicher Blick die für das Individuum richtungsweisende Entscheidung
„normal oder pathologisch“ trifft. Durch den medizinischen Blick wird das Individuum
entindivualisiert, es wird im Rahmen der medizinischen Behandlung nur noch zum
austauschbaren Träger einer Krankheit, die mit wissenschaftlichen Methoden behandelt
werden muss. In der Verknüpfung von Medizin und Nationalstaat übernimmt dann die
30 Uwe H. Bittlingmayer

Medizin ab dem 19. Jahrhundert zunehmend polizeilich-staatliche Aufgaben und beteiligt


sich dadurch unmittelbar an der Beherrschung der Bevölkerung durch den Staat (bis hin
zum traurigen Höhepunkt der wissenschaftlichen Konstruktion von Rassenhygiene; vgl.
hierzu die starken Ausführungen in Labisch & Woelck 2012: 60-72).
In den späteren Werken geht Foucault von einer Archäologie des (medizinisch-psychia-
trischen) Wissens über zu einer Diskursanalyse und noch später zur Analyse von Gouver-
nementalitäten (ungefähr mit selbstbezogenen Regierungstechniken zu übersetzen). Die
für aktuelle Diskussionen sicher äußerst anschlussfähige Studie von Foucault „Der Wille
zur Wahrheit“ untersucht gesellschaftliche Techniken der Erzeugung und Reproduktion
der bürgerlichen Ordnung. Allerdings verlegt Foucault diesen relativ klassischen Untersu-
chungsbereich in die Techniken der Beherrschung menschlicher Körper, insbesondere in die
gesellschaftliche Bearbeitung von Sexualität und körperlicher Disziplinierung (in Fabriken,
aber auch in Schulen). Sexualität fungiert bei Foucault als „gesellschaftliches Dispositiv“
(Foucault 1983 [1976]: 128): Foucault stellt einen direkten Zusammenhang her zwischen
der Beherrschung und Kontrolle von Menschen und der gesellschaftlichen Rahmung von
Sexualität und weist vier strategische Komplexe (Hysterisierung des weiblichen Körpers,
Pädagogisierung des kindlichen Sexes, Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens und
Psychiatrisierung der perversen Lust), aus, die als Wissens- und Machtdispositive wirken
(Foucault 1983 [1976]: 125-127). Dispositive in diesem Sinne bedeuten, dass Freiheitsgrade
eingeschränkt, Handlungsoptionen ausgeblendet werden und dass Individuen durch die
Dispositive formiert und „normalisiert“ werden. Foucault resümmiert: „Die Disziplinen
des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum
sich die Macht zum Leben organisiert hat. […] Auf dem Felde der politischen Praktiken
und der ökonomischen Beobachtungen stellen sich die Probleme der Geburtenrate, der
Lebensdauer, der öffentlichen Gesundheit, der Wanderung und Siedlung; verschiedenste
Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kontrolle der Bevölkerung […] eröffnen
die Ära einer ‚Bio-Macht‘. […] Diese Bio-Macht war gewiss ein unerlässliches Element
bei der Entwicklung des Kapitalismus, der ohne kontrollierte Einschaltung der Körper
in die Produktionsapparate und ohne Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die
ökonomischen Prozesse nicht möglich gewesen wäre.“ (Foucault 1983 [1976]: 166ff.) Diese
strukturorientierte Perspektive geht also davon aus, dass die gesellschaftlich-staatliche
Herrschaft sich nicht nur in rechtlichen Arrangements, Eigentumstiteln oder sozial un-
gleichen Ressourcenzugängen manifestiert, sondern dass sie sich unter Zuhilfenahme der
Humanwissenschaften unmittelbar in unsere Normalitätsvorstellungen (was ist normal,
was ist wahnsinnig? Was ist gesund, was ist krank?), in unsere Körper und selbst in unsere
sexuellen Praktiken einschreibt.
In aktuellen Studien ist dieser Ansatz von Foucault übertragen worden auf neue Selbst-
regierungstechniken, wie sie im Zuge einer neoliberalen Wende seit den 1980er Jahren
diskutiert werden. Insbesondere eignet sich Foucaults Begriff des Sexualitätsdispositivs
dazu, als Fitness-Dispositiv reinterpretiert zu werden, um die gesamtgesellschaftlichen
Diskurse über Über- und Untergewicht (immer flankiert durch humanwissenschaftliche
Verfahren wie die Bestimmung des Body Mass-Indix), gesunde Ernährung und gesund-
2 Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 31

heitsfördernde Bewegung als eine gesellschaftliche Zwangsveranstaltung zu begreifen, mit


der die hauptamtliche Sorge für die Gesundheit des Individuums ihm selbst übertragen
wird, obwohl die gesellschaftlichen Verhältnisse wesentlicher stärker das durchschnittli-
che Lebensalter bestimmen als das individuelle Gesundheitsverhalten (vgl. Schmidt 2007,
2008). Für das Subjekt bzw. Individuum bedeuten solche Diskurse oder Dispositive im
Sinne von Foucault, dass ihre scheinbar selbst gewählten Alltagspraktiken immer schon
übergreifend gerahmt und gesellschaftlich genormt werden – das Körpergewicht ist da-
mit nicht nur eine individuelle Eigenschaft, sondern bereits Ausdruck einer gelungenen
Formierung des Ichs und einer erfolgreichen oder weniger erfolgreichen Disziplinierung
des eigenen Körpers. Dieser komplexe theoretische Zugang liefert eine Erklärung dafür,
dass mittlerweile ein Drittel aller zehnjährigen Kinder sich einen vollkommen anderen
Körper wünschen (Bittlingmayer 2008), dass die Körperwahrnehmung so vieler Teenager
in Selbstschädigung umschlägt oder dass die Sorge um die richtige und gesunde Ernäh-
rung in eine gesamtbiografische Sinnsetzung mündet und Formen von Zwangsverhalten
aufweist (kritisch hierzu Herzog 2015).

2.3 Gesundheit als Ware: die (neo-)marxistische Perspektive

Der Marxismus ist ein sehr heterogener Theoriezusammenhang, der durch die positive
Bezugnahme auf das Werk von Karl Marx und Friedrich Engels geklammert wird. Marx war
davon ausgegangen, dass die bürgerliche Ordnung und ihre kapitalistische Wirtschaftsweise
entgegen ihren eigenen Versprechungen nicht zur Umsetzung der in der Französischen
Revolution ausgerufenen Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! (– heute Freiheit,
Gleichheit, Solidarität) führt. Vielmehr wird Marx zufolge eine besondere Form der Herr-
schaft von Menschen über Menschen etabliert, die wenige Gewinner und viele Verlierer
kennt und die sich dadurch auszeichnet, dass sie in formaler Hinsicht (Rechtsgleichheit)
Menschen gleich behandelt, in materialer Hinsicht (Einkommensunterschiede, Besitz-
verhältnisse) aber genau durch diese Gleichbehandlung soziale Ungleichheit erzeugt wird
(vgl. zur Steigerung von Ungleichheiten in historischer Perspektive aktuell Piketty 2014).
Denn die bürgerlich-rechtliche Grundordnung, die vom Nationalstaat und seiner Polizei
durchgesetzt werden, garantieren sowohl das Privateigentum an Produktionsmitteln als
auch die familiäre Vererbung von Eigentumstiteln, so dass – in groben Zügen – die soziale
Ungerechtigkeit in jeder Generation von neuem fortgeschrieben wird.
Der Zugang der Marx‘schen Analysen zur bürgerlichen Gesellschaft verläuft über die
Analyse der ökonomischen Verhältnisse, die er – anders als Foucault – für die gesamt-
gesellschaftlich relevanten hält. Alle anderen gesellschaftlichen Formen – Staat, Familie,
Bildungswesen – sind der Ökonomie und ihrer Funktionsweise untergeordnet. Im Mit-
telpunkt einer kapitalistischen Wirtschaftsweise steht die Warenproduktion, die selbst
nur Mittel zum Zweck ist. Denn im Kapitalismus werden Waren nicht hergestellt, um die
Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen (Gebrauchswert der Ware), sondern um Profit
zu erzeugen (Tauschwert der Ware), der – so ein von Marx behauptetes wichtiges ökono-
misches Strukturgesetz – wieder reinvestiert werden muss, um mehr Profit zu erzeugen.
32 Uwe H. Bittlingmayer

Der Hintergrund dieses Re-Investitionszwangs ist die unternehmerische Konkurrenz


(Anarchie des Marktes), die dazu zwingt, die Produktion von Waren und Dienstleistungen
immer effizienter, schneller und mit immer höheren Profitraten zu gestalten. Nach Rosa
Luxemburg ist es eine für die kapitalistische Wirtschaftsweise systemkritische Schwie-
rigkeit, Bereiche zu finden, in denen die erzeugten Profite wieder mit erneutem Profit
reinvestiert werden können. Hier entsteht eine Dynamik, die Luxemburg mit der Metapher
der Landnahme beschreibt, und die dazu führt, dass immer weitere Felder individuellen
Handelns der kapitalistischen Logik der Warenproduktion und ihrem Zweck, der Profiter-
zeugung, unterworfen werden. Unterscheiden lässt sich dann eine äußere Landnahme, die
in der Regel militärischem oder wirtschaftlichem Imperialismus führt von einer inneren
Landnahme, die zuvor gesellschaftlich geschützte und vom Staat regulierte Bereiche der
Profiterzeugung zuführt (vgl. hierzu Dörre 2009). Diese Formen der inneren Landnahme
sind seit den 1980er Jahren gut beobachtbar, etwa in den Bereichen des Postwesens, der
Wasserversorgung und eben auch des Gesundheitswesens. Aus einer Marx‘schen Pers-
pektive wäre damit zunächst die Ökonomisierung des Gesundheitsbereichs mit all den
zum Teil brutalen Folgen für ressourcenschwache Individuen (Kolb & Wolf 2006) aus
der inneren Struktur der kapitalistischen Wirtschaftsweise und ihrer eigenen Zwänge zu
erklären, also dem Zwang geschuldet, immer neue Bereiche zu finden, in denen sich Profit
erzeugen lässt. Durch die Ökonomisierung im Gesundheitswesen bleibt auch die Arzt-Pa-
tienten-Beziehung nicht unberührt, denn PatientInnen können sich nicht mehr sicher
sein, ob die Behandlung auf Profitmaximierung abzielt oder ob ihre eigene Gesundung
im Mittelpunkt steht – Kühn spricht in diesem Zusammenhang von einer Umkehrung
der Zweck-Mittel-Relation (Kühn 2004).
Eine zweite, wichtige Perspektive liefert Hagen Kühn in seinem Public Health-Stan-
dardwerk Healthismus (1993, vgl. auch Kühn et al. 2008). Kühn argumentiert hier, dass
in den 1980er Jahren zunächst in den U.S.A eine Präventionsindustrie herausgebildet
hat, die auf die moderne urbane Mittelschichtsangehörigen zugeschnitten sind und diese
soziale Schicht mit Gesundheitskursen versorgt. Dieser Trend ist mittlerweile auch in
Deutschland sehr deutlich angekommen. Dabei ist ein zentraler Aspekt, dass die Sorge
für die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft auf die ArbeitnehmerInnen selbst verlagert
wird. Technisch gesprochen wird das Transformationsproblem der Ware Arbeitskraft
in die Individuen hinein verlegt. Marx hatte in seinen Schriften argumentiert, dass ein
Kapitalbesitzer zwar die Arbeitskraft einer/s Arbeitsnehmerin/s kauft, aber damit noch
nicht festgelegt ist, wie er sie am profitabelsten verwendet. Im so genannten klassischen
Fordismus (benannt nach de, Industriellen Henry Ford) wurde das Problem der Trans-
formation von abstrakter Arbeitskraft in wertschöpfende Arbeit dadurch gelöst, dass die
Arbeit sehr stark zerlegt wurde und im Rahmen von Fließbandarbeit die gesamte Exper-
tise gewissermaßen in der Fabrik und deren Maschinen lag. Seit den 1980er, spätestens
1990er Jahren spricht die Arbeitssoziologie vom so genannten Postfordismus, der unter
anderem dadurch charakterisiert ist, dass die Fließbandarbeit zurückgefahren ist, die
Wiedereinführung und Stärkung von Teamarbeit sowie die Stärkung der Verantwortlich-
keit für den Produktionsprozess und die Profiterzeugung durch die Arbeitenden selbst
2 Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 33

(einschlägig hierzu Voß & Pongratz 1998). Dieser Umstellung in den Produktionsabläufen
korrespondiert eine Umstellung im individuellen Gesundheitsverhalten, das zunehmend
auf die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft in der eigenen Freizeit gerichtet ist – die Mit-
gliederzahlen in Fitness-Studios erreichen seit Jahren in Deutschland Höchstwerte. Diese
Kritik an der Verlegung der Verantwortlichkeit für die Gesundheit ins Individuum selbst
besitzt starke Überschneidungen zum foucaultschen Ansatz der Selbstregierung und die
Weiterentwicklung einer Kritik des „Fitness“-Dispositivs.
Der neomarxistische Ansatz der Frankfurter Schule, die seit den 1930er Jahren in un-
terschiedlichen Strömungen und Weiterentwicklungen bis heute existiert liefert schließlich
in Hinblick auf die Analyse des Gesundheitsbereichs besonders radikale Variante. Aus-
gangspunkt ist eine grundlegende Kritik von bestehenden Gesellschaften, die zwar an der
Marx‘schen Kapitalismuskritik ansetzt, aber anders als Marx und Engels nicht mehr auf
eine Arbeitsklasse hoffen können, die die menschlichen Herrschaftsverhältnisse aufheben
könnte. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse, um die bekanntesten
der Frankfurter Schule zu nennen, sind der Überzeugung, dass diese Gesellschaft unbedingt
überwunden werden muss, wenn die Menschen miteinander in Freiheit, Gleichheit und
Solidarität leben wollen. Deshalb sind ihnen alle menschlichen Handlungen verdächtig,
die nicht offensiv gegen die Gesellschaft rebellieren und die real bestehende Gesellschaft
als einzig mögliche Form moderner Gesellschaften betrachten. Nach Adorno, Marcuse und
Horkheimer ist die deutsche Gesellschaft zwar in der Lage, den Großteil der Bedürfnisse
ihrer Mitglieder zu befriedigen, aber die Bedürfnisse der Menschen sind bereits durch das,
was sie die „Kulturindustrie“ nennen, so überformt, dass Bedürfnisse nach Ruhe, Muße,
Solidarität gar nicht mehr auftauchen (Marcuse 1967 [1964]; eine aktuelle Version dieser
Kritik an der Kulturindustrie vertritt u. a. Rosa 2013). Von daher ihre Einschätzung, dass
Menschen, die in dieser Gesellschaft, in der Konkurrenz, Existenzdruck, sinnlose Hie-
rarchien, soziale Herrschaft (ausgedrückt in Klassenherrschaft, Patriarchat, Rassismus,
Verachtung von behinderten Menschen usw.) nur dann gesund bleiben können, wenn
sie so abgestumpft und an die gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst sind, dass sie gar
keine Sehnsucht nach weniger konkurrenzbezogenen Verhältnissen mehr kennen: Die
„zeitgemäße Krankheit [besteht] gerade im Normalen.“ Die Verdrängungsleistungen, „die
vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimmt, sind derart,
daß sie nur vermöge der tiefsten Verstümmelung vollbracht werden können […]. Der re-
gular boy, das popular girl müssen […] ihre Begierden und Erkenntnisse verdrängen […].
Diagnostizieren läßt die Krankheit der Gesunden sich einzig objektiv, am Mißverhältnis
ihrer rationalen Lebensführung zur möglichen vernünftigen Bestimmung ihres Lebens.“
(Adorno 1993 [1951]: 69-70). Herbert Marcuse formuliert bei seiner analogen Diagnose der
Krankheit der bestehenden Gesellschaft dabei einen diskussionswürdigen Maßstab, der sich
an den Begriff der strukturellen Gewalt, wie er von dem Friedensforscher Johan Galtung
maßgeblich geprägt worden ist, anlehnt. Nach Marcuse (1968: 11) ist eine Gesellschaft dann
krank, „wenn ihre fundamentalen Institutionen und Beziehungen (d. h. ihre Struktur) so
geartet sind, daß sie die Nutzung der vorhandenen materiellen und intellektuellen Mittel
für die optimale Entfaltung der menschlichen Existenz (Humanität) nicht gestatten. Diese
34 Uwe H. Bittlingmayer

Definition ist relativ eng an der grundsätzlichen Perspektive der Ottawa-Charta, womit
sich der Kreis der strukturorientierten Perspektiven und ihre Relevanz in Hinblick auf
Gesundheit dann wieder schließt.

3 Schlussfolgerungen

Die Übernahme einer theoretischen oder theorieorientierten Perspektive ist in den deut-
schen Gesundheitswissenschaften in den Curricula gesundheitsbezogener Studiengänge
nicht tief verankert (in den letzten Jahren gebührt Peter-Ernst Schnabel das Verdienst,
kontinuierlich zur Public Health-Theorie beizutragen, vgl. etwa Schnabel & Bödeker
2012, Schnabel 2015). Das liegt einerseits daran, dass die Institutionalisierung von Public
Health in Deutschland eng mit sozialen Bewegungen – wie etwa der AIDS-Bewegung
oder der Medizinkritik – verknüpft ist und andererseits in der Regel als praxisorientierte
Wissenschaft verstanden wird.
Das wird besonders deutlich, wenn man sich die Grundbegriffe von Public Health
betrachtet, die häufig widersprüchlich und aus theoretischer Sicht wenig stichhaltig sind.
Zu diesen für eine Wissenschaft verhältnismäßig schwachen Grundbegriffen gehört
zunächst in Public Health die Verwendung des Strukturbegriffs selbst, der häufig einen
vagen Horizont bezeichnet, der Menschen beeinflusst, von diesen aber nicht beeinflusst
werden kann. Wenn man sich vergegenwärtigt, was alles mit der Strategie der Verhält-
nisprävention, die ja auf einen Strukturbegriff unmittelbar hinweist, verbunden wird,
dann wird die Schwammigkeit des Strukturbegriffs in Public Health sehr deutlich. Ein
anderes Beispiel ist der Setting-Begriff, der in der wichtigen Ottawa-Charta von 1986 als
Königsweg für die Umsetzung einer Empowerment-Strategie gilt. Seitdem ist sehr wenig
konsistente Theoriearbeit am Settingbegriff erfolgt. Zwar besteht große Einigkeit in Public
Health, dass eine Setting-Strategie erstrebenswert ist; was allerdings eine Kita, ein Betrieb,
die Familie und ein Gefängnis – das sind alles Settings – gemeinsam haben sollen, bleibt
unklar. Ferner werden gleichermaßen systemische und lebensweltliche Strategien der
Implementierung von Public Health-Interventionen verknüpft, die aber jeweils mit ganz
anderen Ideen menschlicher Handlung und menschlicher Subjektivität verbunden sind
(vgl. hierzu auch den Beitrag von Sperlich im Band). In gewisser Hinsicht lässt sich sagen,
dass die Theorieentwicklung in Public Health, trotz einer nunmehr dreißigjährigen Er-
folgsgeschichte in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckt.
Was aber, so lässt sich natürlich fragen, hat denn eine praxisorientierte Wissenschaft
von theoretischer Anstrengung, warum sollte eine Public Health-Studentin oder ein Public
Health-Student sich mit Theorie überhaupt beschäftigen, wenn es doch am Ende darum
geht, Konzepte zur Verbesserung des Gesundheitsverhaltens von Jugendlichen, für eine
betriebliche Gesundheitsförderung oder für eine Anti-Alkohol-Kampagne für die BZgA
zu entwickeln? Aus meiner Sicht ist eine intensive Beschäftigung mit der soziologischen
Theorie aus mindestens vier Gründen sinnvoll. Erstens liefert sie eine gute Vorstellung
von der Mächtigkeit sozialer Strukturen, gegen die es als einzelne/r enorm schwer ist
2 Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 35

aufzubegehren, ohne aber diese Strukturen zugleich als reine Schicksalsmacht oder als
gottgewollte zu verklären. Zweitens liefert Theoriearbeit ein Gefühl für gesellschaftliche
Macht- und Herrschaftsverhältnisse, in die auch Public Health, zum Beispiel im Kampf
darum, wieviel Geld die Gesundheitspolitik erhält oder ob private Krankenversicherungen
mit sozial ungleichen Privilegierungen erlaubt sind, unmittelbar eingebunden ist. Die
Auseinandersetzung mit soziologischer Theorie hilft erkennen, dass die Vorstellung, die
Public Health-Praxis möchte nur Gutes tun, während sie von allen Seiten daran gehin-
dert wird, naiv und falsch ist. Drittens hilft Theoriearbeit dabei, die eigene Position als
Vertreter/in eines Gesundheitsberufs im Konzert mit anderen Disziplinen zu verstehen.
Dadurch liefert die Auseinandersetzung mit Theorien Handlungsoptionen und kann –
etwa gegenüber naturwissenschaftlich orientierten Disziplinen wie der Medizin, aber auch
der Mathematik oder den Ingenieurswissenschaften – Ohnmachtsgefühlen und Minder-
wertigkeitskomplexen entgegenwirken. Und viertens schließlich geht Theoriearbeit mit
einem erheblich verbesserten Verständnis der eigenen Person einher. So lassen sich zum
Beispiel heftige Abneigungen gegenüber Institutionen (wie dem Gesundheitsamt oder der
Ärztekammer) und gegenüber Personen (wie politisch Mächtigen, die den Militarismus in
Deutschland fördern mit fürchterlichen Konsequenzen für die Bevölkerungsgesundheit),
aber auch gegenüber blinden Identifikationen (etwa mit der BZgA) selbst als schematische
Reaktionen eines Berufsfeldes durchdringen und dadurch persönliche und institutionelle
Handlungsoptionen eröffnen, die ohne ein reflexives Verständnis der eigenen Positionen
verdeckt blieben. Aus all diesen Gründen trägt eine Auseinandersetzung mit (soziologischen,
aber auch politikwissenschaftlichen, philosophischen) Theorien zu einer deutlichen Pro-
fessionalisierung von Public Health bei und ich würde jedem Student und jeder Studentin
dazu raten, sich gemeinsam mit Kommiliton/innen auch schwierige Texte zu erschließen.
Der Beitrag sollte die grundsätzliche Perspektive einer analytischen Strukturorientie-
rung verdeutlichen und Kriterien benennen, die ein zeitgemäßer und aussagekräftiger
Strukturbegriff aufweisen muss. Ferner sollte die Stärke der Erklärungskraft strukturo-
rientierter Positionen – zum Beispiel als Erklärung für empirisch festgestellte Korrelatio-
nen – demonstriert werden. Dabei sollte deutlich werden, dass eine Strukturorientierung
nicht gleichzusetzen ist mit einer gesellschaftskritischen Position. Allerdings, so könnte
geschlussfolgert werden, ist die Erarbeitung gesellschaftskritischer Perspektiven ohne eine
vernünftige Strukturorientierung kaum zu leisten.
36 Uwe H. Bittlingmayer

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Die Übernahme einer Strukturperspektive ist zwingend notwendig, um gesund-
heitsbezogene Phänomene vom Verhalten eines Einzelnen bis zum Phänomen
gesundheitlicher Ungleichheit zu erklären.
▶ Es liegen in Public Health unterschiedliche theoretische Ansätze vor. Die Übernah-
me einer Strukturperspektive bedeutet dabei nicht unbedingt die Übernahme einer
gesellschaftskritischen Position.
▶ Public Health-Praxis ist aus einer Strukturperspektive selbst Bestandteil übergrei-
fender sozialer Kämpfe, etwa um die Wichtigkeit und Vorrangigkeit von Gesundheit
vor ökonomischen Profiten; sie nimmt deshalb auch keine neutrale Position in der
Gesellschaft ein, sondern reklamiert eigene Interessen.
▶ Die Beschäftigung mit (soziologischer) Theorie liefert einen umfassenden Beitrag
zur Professionalisierung gerade der Public Health-Praxis.

Nachfragen und Diskussionsanregungen

▶ Überlegen Sie, welchen Kriterien ein Strukturbegriff genügen muss, damit er für
Public Health einen sinnvollen Rahmen liefern kann.
▶ Diskutieren Sie, welcher der drei im Beitrag vorgestellten Theorieansätze (Parsons,
Foucault, (Neo-)Marxismus) aus Ihrer Sicht der geeignetste zur Thematisierung und
Erklärung von gesundheitlicher Ungleichheit ist.
▶ Überlegen Sie, welche Kritikpunkte sich gegen die vorgestellten theoretischen An-
sätze formulieren lassen.
▶ Diskutieren Sie die These, dass Theoriearbeit zur Professionalisierung der Public
Health-Praxis führt.

Leseempfehlungen

t Bittlingmayer, U.H. & Ziegler, H., 2012: Public Health und das gute Leben. Der Capa-
bility-Approach als normatives Fundament interventionsbezogener Gesundheitswis-
senschaften? Discussion paper SP I 2012-301. Berlin: WZB.
Dieses online verfügbare Paper analysiert gerechtigkeitstheoretische Maßstäbe und
Fundamente von Public Health und ist hilfreich für die Frage, was genau bedeutet der
Zusammenhang von Gesundheit und Gerechtigkeit.

t Brunnett, R., 2009: Die Hegemonie symbolischer Gesundheit: Eine Studie zum Mehr-
wert von Gesundheit im Postfordismus. Bielefeld: transcript.
2 Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 37

Eine anspruchsvolle Studie, die die jüngere Entwicklung von Gesundheitsförderung zum
Fitness-Zwang aus poststrukturalistischer Perspektive analysiert und die Verstrickung der
Public Health-Praxis an dieser Entwicklung herausarbeitet.

t Deppe, H.-U., 1987: Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar. Zur Kritik der Gesund-
heitspolitik. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Das Buch ist nach wie vor aktuell und kann als Einführung in die politische Ökonomie
von Gesundheit aus politikwissenschaftlicher Perspektive verstanden werden.

t Foucault, M., 1988 [1963]: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks.
Frankfurt/Main: Fischer.
Leicht verständlicher Klassiker, der die sozialen Konstruktionen hinter der – für uns
selbstverständlichen – medizinischen Praxis sichtbar macht.

t Schnabel, P.-E., 2015: Einladung zur Theoriearbeit in den Gesundheitswissenschaften.


Wege, Anschlussstellen, Kompatibilitäten. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
Das Buch von Peter-Ernst Schnabel kann als grundlegendes Lehrbuch für eine Theorie-
arbeit in Public Health gelten.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.mabuse-verlag.de/Zeitschrift-Dr-med-Mabuse/Willkommen
Homepage der gut verständlichen und kritischen Zeitschrift Dr. med. Mabuse.

Web http://www.jkmg.de
Homepage des Jahrbuchs für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften,
inklusiv einem frei verfügbaren online-Archiv der Jahrbuchbeiträge.

Film „Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede“. 1982. NDR


Sehr gut verständliche Dokumentation über den Strukturansatz von Pierre Bourdieu
des Norddeutschen Rundfunks.

Film „Sicko“. 2007. Regie und Buch: Michael Moore


Kritischer Film über die Konsequenzen einer voranschreitenden Ökonomisierung des
Gesundheitssystems.
38 Uwe H. Bittlingmayer

Literatur

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Handlungsorientierte Perspektiven auf
Gesundheit und Krankheit 3
Stefanie Sperlich

3 Handlungsorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit

Überblick
▶ Was sind soziologische Handlungstheorien und welchen Beitrag leisten sie zur Er-
klärung von gesundheitsrelevantem Verhalten?
▶ Wie können Agency und Struktur in der soziologischen Gesundheitsforschung
verknüpft werden?
▶ Wie entwickelt sich Agency im Lebenslauf?

1 Einleitung

Unter den Begriff Agency werden in der Soziologie Theorieansätze subsummiert, die
das Handeln von Akteuren in den Mittelpunkt der Untersuchung stellen. Während die
Fokussierung auf strukturtheoretische Ansätze (siehe Bittlingmayer in diesem Band) mit
der theoretischen Annahme verbunden ist, dass gesellschaft liche Makrostrukturen das
individuelle Handeln prägen, ist mit der Betrachtung von Agency eine theoretische Umori-
entierung verbunden. Diese Perspektive geht davon aus, dass gesellschaft liche Prozesse und
Strukturen aus der Mikroperspektive der Akteure zu rekonstruieren sind. Diesem Ansatz
liegt die Annahme zugrunde, dass soziale Sachverhalte über das individuelle Verhalten
erklärt werden können und demzufolge soziale Wirklichkeit primär durch menschliches
Handeln hervorgebracht wird. Diese Vorstellung geht unter anderem auf Max Weber
zurück, der Soziologie als eine Wissenschaft definierte, „welche soziales Handeln deutend
verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“
(Weber 1922).
Bis in die 1970er Jahre dominierten in der deutschen Soziologie strukturtheoretische
Ansätze, in denen der Einfluss gesellschaft licher Strukturen auf das individuelle Verhalten
im Vordergrund stand. Leitend für diese Ansätze war die Vorstellung, dass die deutsche
Gesellschaft wesentlich durch eine vertikale Klassen- bzw. Schichtstruktur geprägt ist und
die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Position zugleich das individuelle Verhalten

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
42 Stefanie Sperlich

determinierte. In den 1980er und 1990er Jahren erfolgte ein Paradigmenwechsel hin zu einer
handlungstheoretischen Grundlegung, die mit einer stärkeren Subjektorientierung in der
Soziologie verknüpft war (Bolte 1983). Ausgangspunkt für diese Umorientierung waren die
diagnostizierten Erscheinungsformen des ‚sozialen Wandels‘, die zu einer Pluralisierung
der Lebensformen und einer Diversifizierung von Lebensbedingungen geführt haben.
Mit der fortschreitenden Enttraditionalisierung, dem beschleunigten ökonomischen
Wachstum, dem technischen Fortschritt, dem steigenden Wohlstand für alle und der
zunehmenden Demokratisierung wurde ein deutlicher Zuwachs an Freiheiten und Gestal-
tungsoptionen postuliert, der die Vorstellung von handlungsdeterminierenden Schichten
und Klassen als zunehmend inadäquat erscheinen ließ (Berger 1996). In der Folge ent-
standen mit den Milieu- und Lebensstilkonzeptionen alternative Sozialstrukturmodelle,
die das Gefüge sozialer Ungleichheit in modernen Gesellschaften adäquater erfassen und
der Sozialstrukturanalyse zu mehr Lebensnähe und Alltagsrelevanz verhelfen sollten. Vor
allem in den Lebensstilkonzepten spielten strukturelle Ungleichheitsdimensionen (wie
Bildung, Einkommen oder berufliche Position) keinen zentralen Stellenwert mehr, viel-
mehr wurde die strukturgestaltende Kompetenz der individuellen Akteure bzw. Subjekte
hervorgehoben und Lebensstile als neue Dimension handlungsproduzierter Ungleichheit
angesehen (Hörning & Michailow 1990, Lüdtke 1990). In ähnlicher Weise vollzog sich
auch in der Sozialisationsforschung ein Paradigmenwechsel von strukturtheoretischen
hin zu handlungstheoretischen Konzeptionen. Auch hier lautete die Kritik, dass die aktive
Rolle des Subjektes im Sozialisationsprozess nicht angemessen zur Geltung kommt. Aus
dieser Kritik ist in den 1980er und 1990er Jahren das Sozialisationsmodell des ‚produktiv
realitätsverabeitenden Subjekts‘ hervorgegangen, welches die aktive Auseinandersetzung
des Individuums mit seiner Umwelt in das analytische Zentrum stellt (Hurrelmann 1983).
Seit Ende der 1990er Jahre mehrte sich wiederum die Kritik an diesen subjektori-
entierten Sozialstruktur- bzw. Sozialisationsmodellen. Sie zielte im Kern auf eine neue
Vereinseitigung: Während die alten Theorieansätze einseitig von einem strukturtheoreti-
schen Primat ausgegangen sind, neigten die Neukonzeptionen zu einer Verabsolutierung
subjektiver Handlungs- und Sozialstrukturkategorien. Die unkritische Fokussierung auf
die dynamische Vielfalt der Lagen, Milieus und Lebensstile ebenso wie die Betonung von
Autonomie und Handlungsfähigkeit im Sozialisationsprozess führe dazu, die strukturellen
Bedingungen individueller Handlungen und Entscheidungen theoretisch zu vernachläs-
sigen (Bauer 2013, Sperlich & Mielck 2003, Geißler 1996). Die Debatte in der Soziologie
bilanzierend wurde jedoch gleichzeitig herausgestellt, dass es ein zentrales Verdienst der
neueren Ansätze war, die Perspektive des ‚leibhaftigen‘ Akteurs wiederentdeckt zu haben,
nachdem die Individuen im strukturtheoretischen Paradigma vornehmlich als Opfer
abstrakter Mächte der Strukturreproduktion betrachtet wurden (Lüdtke 1990). Damit
erscheint eine theoretische Verknüpfung von Agency und Struktur als ‚Königsweg‘, um
einerseits dem Subjekt Rechnung zu tragen, anderseits jedoch eine Überbetonung indivi-
dueller Autonomie zu vermeiden.
Im Folgenden werden zunächst die drei zentralen handlungstheoretischen Paradigmen
näher skizziert und ihre Anwendungsfelder in der Gesundheitsforschung exemplarisch
3 Handlungsorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 43

beschrieben. Daran anknüpfend wird der Frage der Verknüpfung von Agency und Struk-
tur nachgegangen und mit der Bourdieuschen Habitustheorie ein möglicher Ansatz zur
Vermittlung beider Perspektiven vorgestellt. Anschließend wird die Anschlussfähigkeit
von Handlungstheorien an die gesundheitsbezogene Lebenslaufforschung thematisiert,
die in den letzten Jahren zunehmend an Relevanz gewinnt. Das Kapitel schließt mit einer
kritischen Bilanzierung des Agency-Ansatzes in der soziologischen Gesundheitsforschung.

2 Soziologische Handlungstheorien

Handlungstheorien stellen mikrosoziologische Theorieansätze dar, die die Bedingungen


und Wirkungen sozialen Handelns in den Blick nehmen. Im Kontext von Gesund-
heit und Krankheit sind unterschiedliche Handlungsdimensionen von Bedeutung. Die
Agency-Perspektive beleuchtet z. B. Verhaltensweisen von gesunden Menschen, die der
Gesunderhaltung bzw. Krankheitsvermeidung dienen (Gesundheitsverhalten). In der
gesundheitswissenschaftlichen Forschung werden jedoch häufiger in einer pathogeneti-
schen Sichtweise Verhaltensweisen analysiert, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, eine
spezifische Krankheit zu entwickeln, z. B. Nikotinkonsum, übermäßiger Alkoholkonsum,
Bewegungsmangel oder eine fett- und kalorienreiche Ernährung (Risikoverhalten). Die
Agency-Perspektive umfasst zudem das Verhalten von Personen, die bereits Symptome
einer Krankheit wahrnehmen und aktiv werden, um diese abzuklären und geeignete
therapeutische Maßnahmen einzuleiten (Krankheitsverhalten). Zudem untersucht die
Agency-Perspektive soziale Interaktionsprozesse zwischen Ärzten und Patienten sowie
den Umgang von Patienten mit Behandlungsmaßnahmen und ihren Folgen (Krankenrol-
lenverhalten) (Faltermaier 2010).
Allen Handlungstheorien gemein ist die Annahme, dass Handeln ein absichtsvolles Tun
der Akteure darstellt, was sowohl ein bewusst rationales als auch ein gewohnheitsmäßiges
oder an Wertvorstellungen orientiertes Handeln einschließt. Die einzelnen Handlungsthe-
orien unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Autonomievorstellung des Subjekts und
damit hinsichtlich der Frage, wie zielgerichtet, kontrolliert, zweckrational und reflexiv das
Handeln der Akteure zu bewerten ist. Grundlegend können mit dem ‚normativen‘, dem
‚individualistischen‘ und dem ‚interpretativen‘ Paradigma drei theoretische Ausrichtungen
innerhalb der Handlungstheorien unterschieden werden (Miebach 2014). Im Folgenden
werden die drei Paradigmen vorgestellt, mit dem Ziel, die grundlegenden Unterschiede
zwischen den handlungstheoretischen Orientierungen deutlich zu machen.

2.1 Das normative Paradigma

Vertreter des normativen Paradigmas postulieren, dass sich das Handeln der Akteure aus
der sozialen Ordnung, das heißt aus übergeordneten Normen, Institutionen und Regeln
ableiten lässt. Der berühmteste Vertreter des normativen Paradigmas ist Talcott Parsons. Sein
44 Stefanie Sperlich

Werk lässt sich in unterschiedliche Phasen einteilen. Für das Verständnis des normativen
Paradigmas ist vor allem seine erste Schaffensphase der Ausarbeitung der ‚voluntaristischen
Handlungstheorie‘ (Parsons 1968) bedeutsam. Der Begriff ‚voluntaristisch‘ (voluntas – lat.
Wille) soll verdeutlichen, dass soziale Ordnung nur dann erhalten werden kann, wenn
die Individuen dazu motiviert werden, sie freiwillig mitzutragen. Parsons unterscheidet
in seiner Theorie drei Systeme, die hierarchisch angeordnet sind. Das kulturelle System
ist das übergeordnete System der Werte und Normen der Gesellschaft. Nach der norma-
tiven Maßgabe des kulturellen Systems vollzieht sich das Handeln der Individuen in den
einzelnen sozialen Systemen, wie Familie, Beruf oder Vereinen. Das Persönlichkeitssystem
besteht schließlich aus der spezifischen Organisation von verinnerlichten Werten und sich
daraus ergebenden Formen des Handelns. Die Verinnerlichung von Werten und Normen
vollzieht sich nach Parsons durch die Erfahrung, dass ihre Befolgung zu Anerkennung
und Belohnung, ihre Missachtung hingegen zur Ablehnung und Bestrafung führt. Die
Aufgabe der Sozialisation ist es, die Bereitschaft und Motivation zur Übernahme von Rol-
len zu erzeugen und durch die Vermittlung stabiler Wertbindungen zu erreichen, dass die
Individuen das tun wollen, was sie gesellschaftlich tun sollen. Während Parsons zwischen
1945 und 1960 die soziologische Theorie dominierte, geriet sein strukturell-funktionaler
Ansatz in den 1960er Jahren immer mehr in die Kritik. Parsons wurde vorgeworfen, dass
seine Handlungstheorie die Mikroebene des individuellen Handelns gegenüber der Makro-
ebene gesellschaftlicher Normen und Strukturen vernachlässige. Seine Handlungstheorie
betone zu stark die Anpassung an bestimmte soziale Rollen und unterschätze dabei das
aktive Subjekt und den Spielraum des Einzelnen, z. B. beim Rollenhandeln (Miebach 2014,
Abels & König 2010).
Beeinflusst wurde die soziologische Forschung zu Gesundheit und Krankheit vor
allem durch Parsons rollentheoretische Überlegungen, nach der sowohl der Patient als
auch der Arzt an spezifische soziale Normen gebunden sind und damit die individuelle
Beziehung zwischen Arzt und Patient in ein Geflecht normativer Erwartungen eingebettet
ist (Siegrist 2005).

2.2 Das individualistische Paradigma

Dieses Paradigma vereint unterschiedliche Theorieansätze, deren gemeinsamer Nenner die


Vorstellung ist, dass soziale Phänomene wie Institutionen, Normen und soziale Strukturen
über das individuelle Verhalten zu erklären sind. Anders als beim normativen Paradigma
sind soziale Phänomene daher aus dem Blickwinkel des absichtsgeleiteten Handelns der
Individuen zu betrachten. Vertreter des individualistischen Paradigmas sind unter anderem
Hartmut Esser (1999) und James Coleman (1991). Bekannt geworden ist insbesondere die
Theorie der rationalen Entscheidung (Rational-Choice Theorie), welche dem handelnden
Subjekt kalkulierendes und nutzenmaximierendes Verhalten zuschreibt. Eine Handlung wird
dann als rational bezeichnet, wenn sie dem Handelnden am besten geeignet erscheint, ein
mit der Handlung intendiertes Ziel zu erreichen. Die Ziele eines Individuums werden von
den persönlichen Präferenzen determiniert, aus denen sich die Bedürfnisse des Individuums
3 Handlungsorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 45

ableiten lassen. Nach der Wert-Erwartungstheorie von Esser (1999) wird die Handlungsal-
ternative gewählt, deren angestrebte Folge wahrscheinlich ist und gleichzeitig dem Akteur
wertvoll erscheint. Während die Rational-Choice Ansätze im Zuge des gesellschaftlichen
Wandels und dem dadurch postulierten Zugewinn an Autonomie und Handlungsfreiheit
(siehe Einleitung) eine gewisse Popularität erlangt haben (z. B. Lüdtke 1990), geriet das
rationalistische Bild des ‚Homo oeconomicus‘ im soziologischen Diskurs seit den 1990er
Jahren zunehmend in die Kritik. Bedeutende Weiterentwicklungen beziehen sich auf den
‚Constrained-Choice‘-Ansatz (Franz 1986), in dem strukturellen Rahmenbedingungen ein
größerer Stellenwert für die individuelle Handlungsentscheidung eingeräumt wird. Der
Constrained-Choice Ansatz wird im Rahmen gesundheitswissenschaftlicher Forschung
eingesetzt, um aus einer subjektorientierten Perspektive Handlungsentscheidungen für
bzw. gegen gesundheitsförderliches Verhalten zu erklären (Chan 2009, Bird & Rieker 2008).

2.3 Das interpretative Paradigma

Das interpretative Paradigma umfasst vielfältige Theorieansätze, wie den symbolischen


Interaktionismus (Mead, Blumer,), die dramaturgische Soziologie (Goffman), die phäno-
menologische Soziologie (Schütz) und die Ethnomethodologie (Garfinkel). Obwohl sich
die Ansätze in ihren Begriffen, Modellen und Anwendungen unterscheiden, verbindet sie
in Abkehr zum normativen Paradigma die Vorstellung, dass soziale Ordnung nicht durch
die Verinnerlichung von Werten und Normen, sondern als Ergebnis von Handlungen,
Interaktionen und Interpretationen entsteht. Die soziale Wirklichkeit ist demnach nicht
normativ zu begründen, sondern wird durch die soziale Interaktion und Interpretation von
den Akteuren fortwährend konstruiert. Im Unterschied zum individualistischen Paradig-
ma liegt der Fokus nicht auf dem Handeln des Einzelnen, sondern auf den symbolischen
Kommunikationsprozessen zwischen den Interaktionsteilnehmern. Die Grundlagen für
eine Theorie ‚symbolvermittelter Interaktion‘ hat Mead (1968) gelegt. Der Ansatz wurde
von Blumer (1969) weiterentwickelt und von Goffman (1959) um die Analyse von Ritualen
und Selbstinszenierungen im Alltag erweitert. Bereits in den 1940er Jahren hatte Schütz
(1974) die Bedeutung der alltäglichen Lebenswelt für das Sinnverstehen von Handlungen
herausgestellt und eine Theorie des Alltagshandelns entwickelt. Auf diesen Arbeiten
aufbauend begründete Garfinkel (1967) die Ethnomethodologie, die sich mit der Frage
beschäftigt, wie sich Menschen im Alltag orientieren und mit welchen Praktiken sie die
Strukturen ihrer Alltagswelt interaktiv hervorbringen.
Im Folgenden wird das interpretative Paradigma exemplarisch am Beispiel des sym-
bolischen Interaktionismus von Mead vorgestellt. Nach Mead ist soziales Handeln ganz
ähnlich wie bei Parsons wesentlich als das Ergebnis der Übernahme von sozialen Rollen
zu verstehen. Im Zuge dieser Rollenübernahme muss das Individuum das Rollenmuster
jedoch in seinem Handeln konkretisieren und dabei einen eigenen, subjektiven Beitrag
leisten (Miebach 2014). Im Zentrum von Meads Handlungstheorie (1968) steht die Analyse
dieses subjektiven Beitrags auf der Mikroebene der handelnden Akteure. Ausgangspunkt
seiner Theorie ist die Auffassung, dass die subjektiven Erfahrungen zwischenmenschlicher
46 Stefanie Sperlich

Interaktionen im Laufe der Zeit zu abstrakten Zeichen verallgemeinert, d. h. ‚symbolisiert‘


werden. Die Symbole sind in den Subjekten als kollektive Vorstellung präsent und werden
in der gemeinsamen Sprache zum Ausdruck gebracht. Aus den gemeinsamen Erfahrungen
ergeben sich kollektive Vorstellungen, wie in bestimmten Handlungssituationen gehan-
delt werden soll. Diese kollektiven Vorstellungen werden von Mead als der ‚generalisierte
Andere‘ bezeichnet. Über die Orientierung am generalisierten Anderen werden die ein-
zelnen Haltungen verbunden und zu einem gemeinsamen Verhalten einer Gruppe oder
Gemeinschaft organsiert (Abels & König 2010).
Kritisiert wird an dem Meadschen Ansatz, dass die gesellschaftliche Ebene nicht
gebührend berücksichtigt wird und z. B. soziale Konfliktlinien und ungleich verteilte
Machtverhältnisse ebenso wie sozialstrukturelle Unterschiede zwischen den Akteuren
zu wenig thematisiert werden. Mit dem qualitativen Forschungsschwerpunkt findet der
symbolische Interaktionismus in der soziologischen Gesundheitsforschung vor allem An-
wendung in der Analyse von Interaktions- und Kommunikationsprozessen, z. B. zwischen
Professionellen und Patienten im Gesundheitswesen (Hanses & Sander 2012, siehe auch
Ohlbrecht in diesem Band).

3 Verknüpfung von Agency und Struktur

Im Zuge der Kritik an der einseitig-subjektivistischen Ausrichtung der Soziologie mehrten


sich in den letzten Jahren auch in der gesundheitswissenschaftlichen Forschung kritische
Stimmen gegenüber einer einseitig an das Individuum und seine Eigenverantwortlichkeit
appellierenden Verhaltensprävention, die den Schlüssel zu mehr Gesundheit vor allem in
der Optimierung des individuellen Gesundheitshandelns sieht (Chan 2009, Cockerham
2005). Zunehmend wird auch hier herausgestellt, dass die Subjektzentrierung einhergehen
muss mit einer gleichzeitigen Betrachtung der strukturellen Handlungsvoraussetzungen.
Vor diesem Hintergrund finden im Diskurs zu Gesundheit und Krankheit verstärkt
theoretische Ansätze Beachtung, die Agency und Struktur zu verbinden versuchen. In
diesem Zusammenhang hat insbesondere die Habitustheorie von Bourdieu internationale
Bedeutung erlangt (Veenstra & Burnett 2014, Bittlingmayer & Sahrai 2010, Cockerham
2005, Sperlich & Mielck 2003, Williams 2003, Williams 1995).
Nach Bourdieu kann der Habitus als ein sozial erworbenes psychisches Dispositionssys-
tem verstanden werden, welches das Wahrnehmen, Denken und Empfinden strukturiert
(Bourdieu 1982). In einer dialektischen Auslegung ist der Habitus einerseits das Resultat
der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit strukturierte Struktur, andererseits repro-
duziert der Habitus jedoch diese Verhältnisse und ist damit auch strukturierende Struktur.
Mit dem Habituskonzept wird einerseits betont, dass Handlungen jenseits eines ‚blinden‘
Ausübens von Regeln oder Normen von den Subjekten ausgeführt werden, weil sie sinnvoll
und situationsangemessen und in diesem Sinne auch rational sind. Gleichzeitig werden
Handlungen jedoch nicht als Ausdruck autonomer Subjektivität betrachtet, vielmehr
ist der handlungsleitende ‚Praxis-Sinn‘ das Ergebnis der Auseinandersetzung mit der
Tab. 1 Überblick unterschiedlicher Paradigmen innerhalb der Handlungstheorien
Normatives Paradigma Individualistisches Interpretatives Paradigma
Paradigma
Strukturfunktionalis- Rational Choice Symbolischer Dramaturgische Phänomenologi- Ethnomethodo-
Theorien mus Interaktionismus Soziologie sche Soziologie logie

Vertreter T. Parsons J. Coleman G.H. Mead E. Goffman A. Schütz H. Garfinkel


H. Esser H. Blumer

Grundannahme Handeln wird durch Handeln resultiert aus Handeln wird im symbolisch vermittelten Prozess der Interaktion bzw.
Normen und Werte individuellem Entschei- Kommunikation hervorgebracht. Durch zwischenmenschliche Interaktio-
strukturiert und durch dungsverhalten nach den nen wird soziale Wirklichkeit konstruiert.
Rollen spezifiziert. Maßgaben von Nutzen-
orientierung, Rationalität
und Ökonomie.
Kritik Überbetonung der Rationalität des Handelns Gesellschaftliche Ebene wird im Interaktionsprozess nicht gebührend
Anpassung an soziale wird überschätzt, soziale berücksichtigt (z. B. soziale Konflikte).
Rollen, Unterschätzung Einflussfaktoren werden Alles, was außerhalb der subjektiven Wahrnehmung liegt, wird nicht
des aktiven Subjekts. unterschätzt. erfasst.
Anwendung Arzt-Patient-Bezie- Erklärung von gesund- Analyse von Interaktions- und Kommunikationsprozessen, z. B. zwischen
im Kontext hung ist eingebettet in heitsrelevantem Verhal- Professionellen und Patienten im Gesundheitswesen.
Gesundheit / normative Erwartungen, ten, wie Rauchen oder
3 Handlungsorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit

Krankheit die das ärztliche und Sportverhalten.


patientenseitige Handeln
steuern.
Quelle: eigene Darstellung
47
48 Stefanie Sperlich

gesellschaftlichen Realität. Mit diesen Charakteristika kann das Habituskonzept als eine
mögliche Vermittlungsinstanz im Sinne eines ‚Scharniers‘ zwischen objektiven Lebens-
bedingungen und der subjektiven Lebensweise und damit zwischen Struktur und Agency
fungieren.
In Abbildung 1 wird eine derartige Verknüpfung von Agency und Struktur im Kontext
von Gesundheit und Krankheit dargestellt (Cockerham 2005, Sperlich & Mielck 2003). In
der Darstellung wird zwischen der makrosoziologischen Ebene, d. h. der gesellschaftlichen
Ungleichverteilung von sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital (Bourdieu 1983)
und der mikrosoziologischen Ebene mit dem Dreiklang von ‚Lebenswelt‘, ‚Habitus‘ und
‚Lebensweise‘ unterschieden. Während die makrosoziologische Ebene den allgemeinen
strukturtheoretischen Rahmen absteckt (siehe Bittlingmayer in diesem Buch), findet sich
‚Struktur‘ auf der mikrosoziologischen Ebene als sinnlich erfahrbarer sozialer Kontext,
d. h. im Sinne von Schütz (1974) als Lebenswelt repräsentiert. Im Kontext von Gesundheit
und Krankheit sind hier insbesondere soziale Belastungen (z. B. finanzielle, berufliche
und familiäre Stressoren), aber auch Ressourcen (z. B. soziale Unterstützung) relevant. Die
subjektiven gesundheitsrelevanten Handlungsweisen werden unter den Begriff ‚Lebens-
weise‘ subsummiert. Dazwischen befindet sich als Vermittlungsinstanz das Konstrukt des

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Abb. 1 Verknüpfung von Agency und Struktur mittels des Habituskonzepts in einem
handlungstheoretischen Erklärungsrahmen gesundheitlicher Ungleichheit
Quelle: eigene Darstellung
3 Handlungsorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 49

Habitus. Gleichwohl der Habitus im Kontext gesundheitswissenschaftlicher Forschung


noch keiner empirischen Operationalisierung zugänglich gemacht wurde, erscheint er
anschlussfähig an die Vorstellung von Identität, die sich aus spezifischen Denk- und
Wahrnehmungsschemata sowie emotionalen und kognitiven Ressourcen bzw. Kom-
petenzen zusammensetzt (Sperlich & Mielck 2003). In diesem Sinne können die in der
gesundheitlichen Ungleichheitsforschung bereits etablierten Konstrukte, wie ‚Stresswäl-
tigungskompetenzen‘, ‚Selbstwirksamkeitserwartungen‘, ‚Kontrollüberzeugungen‘, oder
‚Kohärenzsinn‘ und insgesamt die Ausstattung mit emotionalen und kognitiven Ressourcen
als habituelle Dispositionen bezeichnet werden, die aus der Auseinandersetzung mit den
lebensweltlichen Erfahrungen hervorgegangen sind und das soziale Handeln beeinflussen.
Mit diesem Dreiklang von Struktur, Habitus und Agency ist ein handlungstheoretischer
Theorierahmen skizziert, der hinsichtlich seiner empirischen Tragfähigkeit noch unter
Beweis gestellt werden muss.

4 Agency und der individuelle Lebenslauf

Die soziologische Gesundheitsforschung befasst sich in jüngerer Zeit verstärkt mit der
Lebenslaufperspektive, die die Auswirkungen frühkindlicher sozialer Benachteiligungen
auf die Gesundheitschancen im Erwachsenenalter in den Blick nimmt (Ben-Shlomo &
Kuh 2002). Soziale Handlungstheorien bereichern diese Perspektive, indem sie als Sozi-
alisationstheorien die zeitlich-dynamische Entwicklung von Handlungsfähigkeit in den
Blick nehmen. Sie tragen damit zu einem vertieften Verständnis über die wechselseitige
Beeinflussung von Agency und Struktur im biographischen Kontext bei. Die Kernannah-
me der Bourdieuschen Habitustheorie besagt, dass materielle Lebensbedingungen und
Verhaltensweisen mittels eines im Laufe der Sozialisation erworbenen Habitus ‚verzahnt‘
werden. Aufgrund ähnlicher Lebensbedingungen kommt es zu vergleichbaren Lebenser-
fahrungen, die für die Herausbildung eines gleichgearteten Habitus verantwortlich sind.
Mead (1968) präzisiert in seinem Handlungsmodell diesen Prozess der Identitätsbildung,
indem er zwischen den psychischen Instanzen ‚Me‘ und ‚I‘ unterscheidet: Das ‚Me‘ stellt
das ‚soziale Ich‘ dar, das die Summe der sozialen Zuschreibungen der eigenen Person
und damit die Summe der inkorporierten sozialen Erfahrungen darstellt. Demgegenüber
stellt das ‚I‘ das individuelle und ‚impulsive Ich‘ dar, das zu spontanen und kreativen
Handlungen beiträgt. Aus dem Wechselspiel zwischen ‚Me‘ und ‚I‘ bildet sich kontinu-
ierlich das Selbstbild bzw. die Identität aus (Miebach 2014). In dem Begriff des Habitus ist
die fortwährende Geschichte dieser Identitätsbildung aufgehoben. In ihm vereinen sich
unterschiedliche Zeitbezüge, die von Emirbayer & Mische (1998) als konstitutiv für das
Verständnis von Agency angesehen werden. So richtet sich der Habitusbegriff zum einen
auf die Vergangenheit und betont, dass das Handeln eine vom praktischen Verstehen zu-
sammengehaltene Verhaltensroutine darstellt, die durch vorausgegangene Erfahrungen
verinnerlicht wurde. Damit tritt der Einzelne nicht jederzeit neu in eine vorgeschichtslose
Interaktion mit der Umwelt ein. Vielmehr ist jede Interaktion durch das System kohärenter
50 Stefanie Sperlich

Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata vorstrukturiert, die selbst wiederum


das Ergebnis früherer Interaktionen mit der Realität darstellen (Bauer 2013).
Die Auseinandersetzung mit der äußeren Welt führt auch zu einer spezifischen Soziali-
sation des Körpers: die sozialen Erfahrungen schreiben sich gewissermaßen in den Körper
ein und drücken sich in bestimmten Körperhaltungen bzw. -bewegungen und insgesamt in
dem Verhältnis zum eigenen Leib aus (Villa 2007). Da der Habitus aus der Verinnerlichung
der sozialen Erfahrungen hervorgegangen ist, sind seine Handlungsanweisungen mit der
äußeren Welt abgestimmt. Der Habitus ermöglicht so den sicheren Umgang mit der sozialen
Welt in der Gegenwart, d. h. im ‚hier und jetzt‘. Bourdieu hebt gleichzeitig hervor, dass der
Habitus jedoch nicht vollständig sozial determiniert ist. Analog zum ‚I‘ von Mead integriert
der Habitus auch die Seite der individuellen Spontanität und Kreativität und schafft mit
dieser prinzipiellen Offenheit die Voraussetzung für zukünftige Veränderungen. Nach
Emirbayer & Mische (1998) leben die Individuen gleichzeitig in den zeitlichen Bezügen
von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und verknüpfen diese Zeitdimensionen mehr
oder weniger bewusst in ihrem konkreten Handeln. Erst in dieser zeitlich-dynamischen
Betrachtung erschließt sich das dialektische Verhältnis von Agency und Struktur.

5 Schlussfolgerungen

Die Agency-Perspektive richtet den Blick auf die Lebenswelt der Individuen und versucht,
soziales Handeln aus den subjektiven Sinnzusammenhängen der Akteure zu rekonstruie-
ren. Diese Perspektive nimmt in der Soziologie von Gesundheit und Krankheit, vor allem
im Rahmen gesundheitlicher Ungleichheitsforschung, bislang einen eher untergeordneten
Stellenwert ein. Angesichts der Potenziale, die mit einer stärkeren handlungstheoretischen
Orientierung für die Erklärung von gesundheitsrelevantem Verhalten, aber auch für die
Ausgestaltung von lebensweltnäheren Interventionsmaßnahmen verknüpft sind, erscheint
eine verstärkte Integration von Agency-Ansätzen zukünftig wünschenswert. Als Fazit der
jüngeren Debatte in der Soziologie kann festgehalten werden, dass die Agency-Perspektive
in einen strukturellen Kontext eingebettet werden muss, um den ideologischen Gefahren
einer ausschließlichen Subjektzentrierung zu entgehen (Geißler 1996). Dies entspricht der
sozialepidemiologischen Studienlage, die belegt, dass das gesundheitsrelevante Verhalten
nach wie vor einer sozialstrukturellen Logik folgt, nach der sozial Benachteiligte regelhaft
gesundheitsabträglichere Verhaltensweisen aufweisen (Helmert & Schorb 2009, siehe
auch Lampert in diesem Band). Mit der Bourdieuschen Habitustheorie wird der Blick auf
identitätskonstituierende psychische Dispositionen gerichtet, die als Handlungsvorausset-
zungen zwischen der sozialen Lebenssituation und dem konkreten Handeln vermitteln.
Angewendet auf einen mikrosoziologischen Kontext kann die Analyse der wechselseitigen
Beeinflussung von ‚Lebenswelt‘, ‚Habitus‘ und ‚Lebensweise‘ zu einer stärkeren Subjekt-
zentrierung der soziologischen Gesundheitsforschung beitragen und Impulse für eine
sozialisationstheoretisch fundierte Lebenslaufperspektive geben.
3 Handlungsorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 51

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Die Agency-Perspektive umfasst mikrosoziologische Handlungstheorien, die die
Bedingungen und Wirkungen sozialen Handelns in den Blick nehmen.
▶ Mit dem ‚normativen‘, dem ‚individualistischen‘ und dem ‚interpretativen‘ Para-
digma können drei theoretische Ausrichtungen innerhalb der Handlungstheorie
unterschieden werden.
▶ Die jüngere Debatte in der Soziologie hat gezeigt, dass die Agency-Perspektive mit
der gleichzeitigen Betrachtung struktureller Handlungsvoraussetzungen (‚Struktur‘)
verknüpft werden muss.
▶ Das Habituskonzept von Bourdieu ermöglicht eine theoretische Verknüpfung von
Agency und Struktur.
▶ Handlungstheorien ergänzen die gesundheitsbezogene Lebenslaufperspektive, in-
dem sie in einer subjektorientierten Perspektive die biografische Entwicklung von
Handlungsfähigkeit in den Blick nehmen.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Was bedeutet Agency im Kontext von Gesundheit und Krankheit?
▶ In welchen Grundannahmen unterscheiden sich die drei handlungstheoretischen
Paradigmen?
▶ Warum erscheint eine Verknüpfung von Agency und Struktur für die Analyse von
Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken geboten?
▶ Warum ist der Bourdieusche Habitusbegriff geeignet, als „Scharnier“ zwischen
Agency und Struktur zu fungieren?

Leseempfehlungen

t Miebach, B., 2014: Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung. 4. Auflage.


Wiesbaden: Springer VS.
Ausführliche und verständliche Einführung in verschiedene Handlungstheorien.

t Abels, H. & A. König, 2010: Sozialisation. Soziologische Antworten auf die Frage, wie
wir werden, was wir sind, wie gesellschaftliche Ordnung möglich ist und wie Theorien
der Gesellschaft und der Identität ineinanderspielen. Lehrbuch. Wiesbaden: Springer VS.
Kompakte und kurzweilige Einführung in unterschiedliche Sozialisationstheorien.
52 Stefanie Sperlich

t Bauer, U., 2013: Sozialisation und Ungleichheit. Eine Hinführung. 2. überarbeitete


Auflage. Wiesbaden: Springer VS.
Überzeugender Rück- und Ausblick auf die Theorieentwicklung ungleichheitsorientierter
Sozialisationsforschung.

t Cockerham, W.C., 2005: Health lifestyle theory and the convergence of agency and
structure. Journal of Health and Social Behavior 46: 51-67.
Gute Bilanzierung der Agency-Struktur-Debatte in der soziologischen Gesundheitsfor-
schung.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://de.wikipedia.org/wiki/Symbolischer_Interaktionismus
Erläuterung des symbolischen Interaktionismus

Web http://en.wikipedia.org/wiki/Structure_and_agency
Überblick über die Struktur-Agency-Thematik

Literatur

Abels, H. & A. König, 2010: Sozialisation. Soziologische Antworten auf die Frage, wie wir werden,
was wir sind, wie gesellschaftliche Ordnung möglich ist und wie Theorien der Gesellschaft und
der Identität ineinanderspielen. Lehrbuch. Wiesbaden: Springer VS.
Bauer, U., 2013: Sozialisation und Ungleichheit. Eine Hinführung. 2. überarbeitete Auflage. Wies-
baden: Springer VS.
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Bird, C.E. & P.P Rieker, 2008: Gender and health: the effects of constrained choices and social
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in: K.M Bolte & E. Trutner (Hrsg.), Subjektorientierte Arbeits- und Berufssoziologie. Frankfurt/
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3 Handlungsorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit 53

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Lüdtke, H., 1990: Lebensstile als Dimension handlungsproduzierter Ungleichheit. Eine Anwendung
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Mead, G.H., 1968 (1934): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Miebach, B., 2014: Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung. 4. Auflage. Wiesbaden:
Springer VS.
Parsons, T., 1968: The structure of social action Band. 1 & 2. New York: The Free Press.
Schütz, A., 1974 (1932): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende
Soziologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Siegrist, J., 2005: Medizinische Soziologie. 6. Auflage. München: Elsevier.
Sperlich, S. & A. Mielck, 2003: Sozialepidemiologische Erklärungsansätze im Spannungsfeld zwischen
Schicht- und Lebensstilkonzeptionen. Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften, 2: 165-179.
Veenstra, G. & P.J. Burnett, 2014: A relational approach to health practices: towards transcending
the agency-structure divide. Sociology of Health & Ilness 36: 187-198.
Villa, P.-I., 2007: Der Körper als kulturelle Inszenierung und Statussymbol. Aus Politik und
Zeitgeschichte 18: 18-25. http://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30500/koerperkult-und-
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54 Stefanie Sperlich

Weber, M., 1922: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen:
Mohr Siebeck.
Williams, G.H., 2003: The determinants of health: structure, context and agency. Sociology of
Health and Illness 25: 131-154.
Williams, S.J., 1995: Theorising class, health and lifestyle: can Bourdieu help us? Sociology of Health
and Illness 17: 577-604.
Die quantitative Analyse von Gesundheit
und Krankheit 4
Siegfried Geyer

4 Die quantitative Analyse von Gesundheit


und Krankheit

Überblick
▶ Wie werden quantitative Daten zu Gesundheit und Krankheit erhoben?
▶ Welche Auswahlverfahren stehen zur Datensammlung zur Verfügung?
▶ Wie werden in standardisierten Untersuchungen Fragen und Antworten formuliert?
▶ Wozu können in Studien zu Gesundheit und Krankheit Prozessdaten verwendet
werden?

1 Einleitung

In der Soziologie von Gesundheit und Krankheit wird der größte Teil der Daten durch ver-
schiedene Arten der Befragung gewonnen; für die Untersuchung spezifischer Erkrankungen
werden zusätzlich andere Datenquellen verwendet. Forschung, die mit quantifizierenden
Methoden arbeitet, ist darauf abgestellt, zu zählen, zu messen und zu klassifizieren. Dabei
werden die Daten nach einheitlichen Standards und Schemata erhoben, um Vergleichbarkeit
herzustellen und um statistische Verfahren anwenden zu können. Die Ergebnisse sollen
damit nachvollziehbar, überprüfbar, für andere replizierbar und auf andere Populationen
verallgemeinerbar werden.
Ein weiterer Aspekt der quantifizierenden Vorgehensweise ist die Möglichkeit, große
Fallzahlen zu erheben, was in der Forschung zu Gesundheit und Krankheit essentiell ist.
Wenn eine Studie nicht die subjektive Gesundheit (Jylhä 2009) in den Mittelpunkt stellt,
sondern manifeste Erkrankungen im Bevölkerungsrahmen, müssen große Fallzahlen er-
reicht werden. Selbst bei den am häufigsten auftretenden Erkrankungen wie Herzinfarkt,
Diabetes, Depression oder Krebserkrankungen ist es nicht sinnvoll, mit kleinen Fallzahlen
zu arbeiten. Die erforderlichen Stichprobengrößen bewegen sich oftmals im vierstelligen
Bereich (Micheelis & Reich 1999), um genügend Erkrankungsfälle für Analysen zur
Verfügung zu haben. In derartigen Studien überlappt sich die soziologische Forschung

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
56 Siegfried Geyer

mit Epidemiologie, Psychologie und verschiedenen Subdisziplinen der Medizin, sodass


gemeinsam verwendete Methoden gefunden werden müssen.
Typische, in diesem Rahmen behandelte soziologische Themen beziehen sich z. B.
auf die soziale Ungleichverteilung von Krankheiten (Richter & Hurrelmann 2006), auf
Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit oder Arbeitsbelastungen und Erkrankungs-
risiken (McCausland & Theodossiou 2006) oder auf regionale Einflüsse auf Gesundheit
und Krankheit (Dragano et al. 2007). In diesem Kapitel werden die quantifizierenden und
standardisierten Zugangswege zu Daten in ihren Möglichkeiten und Grenzen beschrieben.

2 Zugang zu Daten: Befragungsarten

Beim persönlichen Interview sitzen sich Interviewer und Befragte direkt gegenüber und
treten in Kontakt. Damit können spontan auftretende Verständigungsschwierigkeiten
beseitigt werden, ein weiterer Vorteil liegt jedoch in der Möglichkeit, zusätzliches Material
flexibel einzusetzen, z. B. Karten für Sortieraufgaben, Bilder, Tests, Vignetten (Fallbeispie-
le) oder Filme. Das Standardinstrument war lange Zeit der Fragebogen auf Papier, der
mittlerweile mehr und mehr durch die computergestützte Befragung abgelöst wird. Das
Fragenprogramm ist auf einem Computer installiert, was die Anwendung von Filterfra-
gen erleichtert, Fehlerquellen bei der Eingabe verringert und es ermöglicht, unmittelbar
nach dem Ende des Interviews einen korrigierten Datensatz zur Verfügung zu haben. Die
Flexibilität persönlicher Interviews geht dabei nicht verloren, denn Zusatzmaterialien
können weiter verwendet werden, durch die Präsentation von Filmsequenzen und Fotos
ergeben sich sogar mehr Optionen. Während lange Zeit in einer Studie immer nur eine
Methode der Datenerhebung angewandt wurde, werden zunehmend Elemente verschiede-
ner Herangehensweisen eingesetzt. So können persönliche Interviews durch telefonische
ergänzt werden, oder sie werden mit Selbstausfüllerfragebögen kombiniert (Kurth 2007,
Geyer et al. 2007).
Interviewerschulungen sind für die Qualität der erhobenen Daten von zentraler Be-
deutung. Lange Zeit wurde das Training darauf abgestellt, Interviewer auf eine eher
passiv-neutrale Haltung zu trainieren, dies wird jedoch als eher teilnahmslos empfunden,
und in der Literatur wird ein freundlich-unterstützender Stil empfohlen (Schwarz 1998).
Interviewer sind damit keine Quelle unerwünschter Befragungseffekte, sondern eine we-
sentliche Determinante einer guten Datenqualität (Sinibaldi et al. 2013).
Die schriftliche Befragung war aufgrund ihrer Anwendungsökonomie lange Zeit das
Standardverfahren in den Sozialwissenschaften. Die Fragebögen werden meist per Post
verschickt, sie können jedoch auch persönlich verteilt werden. Dies wird insbesondere bei
der Befragung von Patienten praktiziert, sodass nur der Rücklauf organisiert werden muss.
Diese Art der Datensammlung galt aufgrund geringer Rücklaufquoten lange als ineffizient
und aufgrund der zu erwartenden Verzerrungen für wissenschaftliche Studien als wenig
geeignet. Dillman entwickelte eine Reihe von Maßnahmen zur Steigerung des Rücklaufs,
die er unter dem Namen „Taylored Design Method“ zusammenfasste (Dillman et al. 2014).
4 Die quantitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 57

Sie zielen auf die Erhöhung des Aufmerksamkeitswerts sowie auf die Wahrnehmung von
Relevanz und können in Abhängigkeit von der untersuchten Zielgruppe Rücklaufquoten
von über 80 % erbringen:

t Fragebögen sollen als gebundenes Heft mit einem interessanten, aber neutralen Deck-
blatt gestaltet werden.
t Das Beantworten des Fragebogens soll durch ein graphisches Design erleichtert wer-
den, das im Hinblick auf die potentiellen Befragten optimiert ist. Dies bezieht sich auf
eine nicht zu dichte Platzierung der Fragen, auf einen Verzicht auf Verzweigungs- und
Tabellenfragen sowie auf die Anpassung der Schriftgröße an die Lesefähigkeiten der
Befragten. Ein häufiger Fehler ist die Verwendung von 10-Punktschrift bei der Befragung
Älterer, obwohl eine 14- oder 16-Punktschrift angemessen wäre.
t Der Fragebogen sollte idealerweise zwischen 12 und 16 Seiten lang sein. Lange Frage-
bögen erhöhen die Bearbeitungszeit und die Chance der Bearbeitung sinkt, zu kurze
Fragebögen (< 4 Seiten) signalisieren Irrelevanz.
t Der Fragebogen sollte eine Erklärung der Identifikationsnummer sowie Erläuterungen
enthalten, dass die Angaben vertraulich behandelt werden. Die Annahme, dass mit
Identifikationsnummern versehene Fragebögen den Rücklauf verringern, ließ sich
empirisch nicht bestätigen (Kundig et al. 2011).
t Interessante Themen sollen am Anfang des Bogens platziert werden. Fragen, die nicht
zum Thema gehören, werden die Rücklaufquote eher verringern.
t Der Fragebogen sollte von einem Anschreiben einer bekannten, bzw. anerkannten
Persönlichkeit begleitet sein.
t Ausschöpfungssteigernd haben sich Anerkennungen erwiesen. Dies kann ein kleiner
Geldbetrag sein, aber auch z. B. Kugelschreiber, Gutscheine oder anderes. In jedem Fall
sollten sie mit der ersten Aussendung des Fragebogens verschickt werden.
t Zunächst soll die Befragung angekündigt werden, wenige Tage später soll der eigentliche
Fragebogen mit einer detaillierten Erläuterung verschickt werden. Etwa eine Woche
später folgt eine Dankespostkarte mit der Erinnerung, dass die Rücksendung des Bo-
gens noch aussteht. Etwa eine bis drei Wochen später folgt die zweite Versendung des
Fragebogens und eine detaillierte Erläuterung des Studienziels, und eine weitere Woche
später erfolgt ein Abschlusskontakt per Post oder telefonisch.

Insgesamt hat die Anwendung der von Dillman formulierten Regeln zur Rücklaufoptimie-
rung gezeigt, dass ein häufig als defizitär beurteiltes Befragungsverfahren so verbessert
werden kann, dass damit aussagekräftige Daten gewonnen werden können.
Für telefonische Befragungen gibt es mit der fast vollständigen Abdeckung Deutsch-
lands mit Telefonen gute Voraussetzungen (ADM Arbeitskreis Deutscher Markt- und
Sozialforschungsinstitute 2014). Mit der steigenden Zahl von Anschlüssen, die nicht mehr
in Verzeichnissen gelistet sind, entstand die Notwendigkeit, andere Wege der Stichpro-
benauswahl zu finden, auch die zunehmende Zahl von Personen, die ausschließlich über
das Mobiltelefon erreichbar sind, veränderte die Methodik der Stichprobenziehung. Der
58 Siegfried Geyer

Zugang zu Studienpopulationen wird zudem durch den Anstieg des telefonischen Mar-
ketings erschwert, die Ausschöpfungsquoten sanken in den letzten Jahren kontinuierlich.
Telefoninterviews sind trotzdem ein guter Zugang zu wissenschaftlichen Daten, der durch
Möglichkeiten einer zentralen Organisation gute Kontrollen von Datenqualität und Aus-
schöpfungsquoten eröffnet. Sie haben zudem Vorteile im Hinblick auf die ökonomische
Erhebung von Daten:

t Wegezeiten und Reisekosten für Interviewer entfallen


t Umzüge führen nicht mehr zum Ausschluss von Befragten
t Bei Mehrfachbefragungen können auch weit entfernt wohnende Personen eingeschlos-
sen werden.

Die Stichprobenziehung wird zunehmend automatisiert, indem Zufallszahlen generiert


und in Abhängigkeit von einem Stichprobenplan automatisch ausgewählt werden. Die
Fragen sind auf einem Computer implementiert; sie werden vorgelesen und die Antworten
werden eingegeben. Fehlersuchroutinen erleichtern die Datenkorrektur und verringern
den Anteil fehlender Werte. Dies reduziert die Erhebungszeit und unmittelbar nach dem
Ende der Erhebungsphase liegt ein auswertbarer Datensatz vor. Dies macht eine zeitnahe
Präsentation von Wahl- und Meinungsumfragen möglich.
Bei der Wahl von telefonischen Interviews als Datenerhebungsmethode und bei der
Interpretation von Daten müssen einige Restriktionen berücksichtigt werden:

t Material, das für persönliche Interviews konzipiert wurde, ist nicht verwendbar.
t Die Fragebogenkonstruktion muss vereinfacht werden, um die Komplexität zu unter-
suchender Inhalte zu reduzieren. Es müssen deshalb vorwiegend kategoriale Antwort-
formate verwendet werden.
t Mehrstufige, verbal differenzierte Skalen sind kaum verwendbar. Eine Ausnahme sind
allgemein verwendete Abstufungen, deren Kenntnis vorausgesetzt werden kann, z. B.
Schulnoten.
t Die Präsentationszeit von Informationen ist kürzer als bei anderen Verfahren der
Datenerhebung, ebenso verkürzen sich die Zeiten zwischen Fragen und Antworten.
t Die Reliabilität ist bei telefonischen Befragungen niedriger als bei Datenzugängen, die
eine längere Präsentationszeit erlauben.

Der Erfolg von Telefonsurveys hängt von der Zahl der Versuche zur Kontaktaufnahme ab,
eine Vorbereitung durch eine schriftliche Ankündigung ist ebenfalls hilfreich. In empiri-
schen Studien wurde gezeigt, dass die optimale Zahl von Versuchen bei vier bis fünf liegt.
Darunter ist die Ausschöpfung zu niedrig, darüber ist der zusätzliche Nutzen in Form
erzielter Interviews gering (Blasius & Reuband 1995, Knesebeck et al. 2001).
Auch bei Onlinebefragungen ist die Dichte der Internetversorgung von Haushalten eine
zentrale Voraussetzung für die Forschung, mittlerweile ist aber auch hier eine ausreichende
Versorgung mit Anschlüssen erreicht. Onlinebefragungen ermöglichen es, visuelle Hilfsmit-
4 Die quantitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 59

tel wie Tondokumente, Filme oder Fotos einzubinden. Der Zeitpunkt des Ausfüllens kann
von den Befragten frei gewählt werden, und Filterführungen sind komfortabel steuerbar, und
Datenprüfungsroutinen können einprogrammiert werden. Zusätzlich kann eine Vielzahl
von Verhaltensweisen der Befragten registriert werden, z. B. Abbrüche, Unterbrechungen,
Wartezeiten sowie Latenzzeiten zwischen Präsentation einer Frage und Antwortabgabe. Die
Anwendung von Onlinebefragungen erfordert jedoch infrastrukturelle Voraussetzungen,
die für die Nutzung für eine einzige Studie nicht rentabel sind.
In Onlinestudien können die gleichen Frageformate verwendet werden wie in posta-
lischen Befragungen. Hinzu kommt als Vorteil die Möglichkeit, die Daten während der
laufenden Befragung zu prüfen und den Datensatz kontinuierlich aufzubauen. Im Vergleich
zu anderen schriftlichen Verfahren muss für Onlinebefragungen ein Zugangscode mitge-
teilt werden (sofern die Rekrutierung nicht vollkommen offen erfolgt). Es ist möglich und
sinnvoll, den Fortschritt der Befragung als Prozentwert oder mittels grafischer Darstellung
anzuzeigen, um den Befragten die Möglichkeit zu geben, die erforderliche Zeit zu schätzen
(Dillman et al. 2014). Probleme von Onlinebefragungen liegen in der Herausforderung, die
Grundgesamtheit zu bestimmen sowie darin, einen hohen Rücklauf zu erreichen. Wenn
die Rekrutierung von Befragten über eine Webseite, also über Selbstselektion, stattfindet,
ist es nicht möglich, die Grundgesamtheit zu definieren, und damit ist aufgrund der
Selbstselektion die Aussagekraft der erhobenen Daten fraglich. Zufallsstichproben sind
dann möglich, wenn die Grundgesamtheit bekannt, die Adressen verfügbar und sofern
ein Internetzugang vorhanden ist (Tourangeau et al. 2013).
Responseraten in Websurveys sind problematisch, weil hier die Teilnahmequoten im
Vergleich zu allen anderen Befragungsformen durchgängig niedriger sind. In Zeiten generell
sinkender Antwortbereitschaft wird die Ausbreitung von Websurveys mit einer beschleu-
nigten Verringerung der Teilnahmeraten verbunden sein, und dies gilt auch dann, wenn
den Befragten mehrere Optionen zur Beantwortung eröffnet werden. Das zweite Problem
sind Abbrüche während des Interviews. Dies kommt in anderen Datenerhebungsverfahren
eher selten vor, in Websurveys ist dies besonders problematisch, da die Befragung nach einer
Unterbrechung häufig nicht wieder aufgenommen wird. In einer Vergleichsstudie wurden
im Telefoninterview 98 % der begonnenen Interviews zu Ende geführt, im Internetsurvey
waren es nur 52 % (Fricker et al. 2005). Internetbefragungen können derzeit nur für eng
umgrenzte Gruppen empfohlen werden. Dies könnten z. B. Patientinnen und Patienten
sein, deren Merkmale bekannt sind und die nach einem Krankenhausaufenthalt befragt
werden. Ein weiteres Beispiel ist die Untersuchung von Selbsthilfegruppenmitgliedern, die
auf der Basis der Mitgliederlisten kontaktiert werden. Für Bevölkerungssurveys ist dieser
Zugang derzeit nicht sinnvoll, dies kann sich mit Fortschritten der Methodenentwicklung
jedoch ändern.
60 Siegfried Geyer

Tab. 1 Merkmale der beschriebenen vier Erhebungsmethoden in vergleichender Betrachtung


Persönliches Schriftliche Telefonische Onlinebefragung
Interview Befragung Befragung
Infrastruktur- Niedrig: Niedrig Hoch: Surveylabor Mittel: Program-
anforderungen Program- und Programmie- mierung des elek-
für die Durch- miertes Fra- rung des Fragepro- tronischen Frage-
führung geprogramm gramms erforderlich programms und
erforderlich Serverkapazitäten
erforderlich
Zeitaufwand der Hoch: Reise- Niedrig: Be- Mittel: Interviews Niedrig
Durchführung kosten und fragte füllen müssen am Telefon
Interview- selbst aus durchgeführt werden
zeiten
Schulungsaufwand Hoch: Keine Mittel: Schulung Keine
für die Durch- Schulung der der Interviewer
führung Interviewer
Dateneingabe Computer Fragebogen, Elektronisch Elektronisch, online
oder Scannen der
Fragebogen Fragebögen
Fehlerrisiko bei Mittel bis Mittel bis Mittel Sehr gering
Dateneingabe hoch hoch
Kosten der Sehr hoch: Niedrig: Hoch: Sehr niedrig
Durchführung Interviewer- Frage- Interviewerzeiten
zeiten bogendruck,
Versendung,
Porto
Gesamtkosten Sehr hoch Mittel Hoch Niedrig

Quelle: eigene Darstellung

3 Studientypen

Der bei der quantitativen Erhebung von Daten am häufigsten verwendete Typ ist die
Querschnittstudie. Dabei werden alle interessierenden Merkmale einmal und gleichzeitig
erhoben. Dies erlaubt nur die Untersuchung korrelativer Zusammenhänge, weil die inte-
ressierenden Variablen keine zeitliche Ordnung aufweisen. Veränderliche Merkmale wie
Einstellungen, subjektive Einschätzungen oder Lebensqualitätsmaße gelten nur für den
jeweiligen Messzeitpunkt und dürfen im Hinblick auf ihre Ausprägungen nicht auf die
Zeiten vor oder nach der Datenerhebung extrapoliert werden.
Methodisch anspruchsvoller sind Längsschnittstudien, die in mehreren Varianten
durchgeführt werden können. In der ersten werden die gleichen Instrumente zu meh-
reren Zeitpunkten an unterschiedlichen Stichproben angewandt. Im Prinzip handelt es
sich um mehrere nacheinander durchgeführte Querschnitte, es ist jedoch möglich, bei
gleichbleibenden Alterskohorten, aber an unterschiedlichen Personen Veränderungen
4 Die quantitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 61

zu untersuchen. Ein Beispiel ist die Untersuchung des Auftretens von Herzinfarkten bei
Männern im Alter zwischen 50 und 55 Jahren zu zwei – 10 Kalenderjahre auseinander
liegenden – Zeitpunkten. Damit können Effekte untersucht werden, die für bestimmte
Zeitperioden das Krankheitsgeschehen beeinflussen, z. B. wirtschaftliche Rahmenbedin-
gungen oder Arbeitslosigkeitsrisiken.
Bei der zweiten Variante von Langzeitstudien werden die gleichen Personen mehrfach
mit den gleichen Instrumenten befragt. Eine der bekanntesten Studien in Deutschland
ist das Sozio-Ökonomische Panel (Haisken-DeNew & Frick 2005). In Gesundheitsstudien
können zusätzlich gesundheits- oder krankheitsbezogene Endpunkte entweder gemeinsam
oder getrennt von den wiederholt erhobenen Merkmalen erfasst werden. Damit wird es
möglich, sowohl intraindividuelle als auch populationsbezogene Veränderungen abzubil-
den. Ein Problem dieser Untersuchungsanlage ergibt sich, wenn Befragte aus der Studie
ausscheiden, was bei selektiven Ausfällen zu Verzerrungen in den Ergebnissen führen
kann. Um die soziodemografischen Eckpunkte von Panelstudien zu erhalten, können
neue Befragte rekrutiert werden.

4 Die Ziehung von Stichproben

Eine Voraussetzung für die Gewinnung aussagekräftiger Daten sind geeignete Stichproben.
Dies kann sich auf spezifische Personengruppen beziehen, wenn entsprechende Fragestel-
lungen bearbeitet werden sollen. So könnte die Bewältigung einer Brustkrebserkrankung in
Abhängigkeit von der Qualität persönlicher Beziehungen untersucht werden. Ein anderes
Beispiel könnten Karriereverläufe von Patientinnen und Patienten mit angeborenen Herz-
fehlern in Abhängigkeit von der Erkrankungsschwere sein. In all diesen Fällen wäre vorab
zu klären, für welche Personengruppe eine Studie Aussagen machen soll. Teilnehmerinnen
und Teilnehmer wären so auszuwählen, dass die Ergebnisse nicht durch Auswahleffekte
beeinträchtigt werden, z. B. wenn nur Patienten einer spezifischen Praxis untersucht werden,
oder wenn man sie über Zeitungsinserate rekrutiert, was mit großer Wahrscheinlichkeit
zu unerwünschten Selbstselektionseffekten führen wird. Bei speziellen Gruppen können
stattdessen alle Patientinnen und Patienten, die in einem bestimmten Zeitintervall erkrankt
sind, angesprochen werden. Es können auf der Basis von Behandlungslisten Zufallsstich-
proben gezogen werden, oder eine Studie kann eine Totalerhebung anstreben, wenn die
Grundgesamtheit gut dokumentiert, nicht zu groß und eingrenzbar ist.
Bei Aussagen über ganze Populationen geht es üblicherweise um die Ziehung von Zu-
fallsstichproben. Im Hinblick auf Auswahlmöglichkeiten optimal sind Einwohnermelde-
amtsstichproben, sofern offiziell registrierte Personen mit Wohnsitz eingeschlossen werden
sollen. In diesem Fall haben alle potentiellen Teilnehmerinnen und Teilnehmer die gleiche
Auswahlwahrscheinlichkeit, die Stichprobenziehung verläuft nach einem kontrollierten
Verfahren, und Ausfallprozesse können aufgedeckt werden (ADM Arbeitskreis Deutscher
Markt- und Sozialforschungsinstitute 2014, Schulte 1997).
62 Siegfried Geyer

Wenn Zufallsstichproben nicht erreichbar sind, werden oft Quotensamples gezogen. Für
spezifische Merkmale werden Vorgaben gemacht, z. B. gleich große Anteile an Männern
und Frauen, gleich große Altersgruppen für vorgegebene Intervalle, vorgegebene Anteile
von Befragten mit spezifischen Qualifikationen. Auf die Verteilung der resultierenden
Stichproben kann nicht auf eine wie auch immer definierte Grundgesamtheit geschlossen
werden und andere, nicht explizit betrachtete Merkmale können die Ergebnisse beeinflus-
sen. Diese Probleme ergeben sich in verschärfter Form beim sogenannten Schneeballver-
fahren. Ausgehend von mehreren Personen einer definierten Zielgruppe werden andere
kontaktiert und befragt, jedoch ist es nicht möglich, aus den Angehörigen verschiedener
Verkehrskreise auf eine Population zu schließen. Wenn die Grundgesamtheit schwer zu
definieren ist, werden auch Personen rekrutiert, die gerade verfügbar sind. Diese Gelegen-
heitsstichproben werden in Studien immer wieder verwendet, sie sind jedoch zur Erkennt-
nisgewinnung ungeeignet. Da die Befragten sich in die Stichproben „hineinselegieren“,
kann über Nichtteilnehmerinnen und Nichtteilnehmer keine Aussagen gemacht werden.
Darüber hinaus ist es nicht bekannt, auf welche Grundgesamtheit sich eine solche Studie
bezieht, und Verzerrungen können nicht geschätzt werden (Tourangeau et al. 2013, ADM
Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute 2014).
Sind Stichproben einmal gezogen, geht es um die Frage, ob die Ausfälle und Verwei-
gerungen zu systematischen Verzerrungen führen. Dabei ist zwischen neutralen und
systematischen Ausfällen zu unterscheiden, wobei die Zugehörigkeit zu einer der beiden
Kategorien nicht immer eindeutig ist. Neutrale Ausfälle ergeben sich üblicherweise aus
nicht bearbeiteten oder falschen Adressen, nicht aufgefundenen Straßen und Häusern, aus
Umzügen oder dem Tod von Befragten. Systematische Fehler ergeben sich häufig aus Ver-
weigerungen, nicht Erreichbaren, erkrankten Personen sowie aus Fälschungen von Daten.

5 Frage- und Antwortformate

Sozialwissenschaftliches Messen ist mit Fehlern und Ungenauigkeiten behaftet. Die Kon-
sequenz liegt nicht in der Aufgabe einer systematischen Vorgehensweise bei Befragungen,
sondern in der Entwicklung von Methoden, die auf die Reduzierung von Fehlern gerichtet
sind. Für die Formulierung von Surveyfragen bedeutet dies, dass Regeln über die For-
mulierung von Fragen angewandt werden und dass die Antwortformate im Hinblick auf
einheitliche Verständlichkeit optimiert werden (Tourangeau et al. 2000, Sudman et al. 1996).
Befragten müssen die zur Beantwortung von Fragen relevanten Informationen verfügbar
sein, sie müssen in der Lage sein, sie auch abzurufen und in ein vorgegebenes Format zu
übertragen, letztlich muss das Frageverständnis von Forschern und Befragten überein-
stimmen, um Fehlinterpretationen auszuschließen.
Fragen sollten nicht komplex, sondern eindeutig und einfach sein. So ist die folgende
zu beurteilende Aussage ungeeignet: „ Bei einer Reform des Gesundheitswesens sollte die
gesetzliche Krankenversicherung bei ambulanten Behandlungen nur die medizinische
Grundversorgung finanzieren, die Versicherten sollten einen Eigenanteil an den Behand-
4 Die quantitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 63

lungskosten tragen, und die Ärztevergütung sollte auf Kopfpauschalen umgestellt werden.“
Eigentlich handelt es sich hier um drei Fragen, deshalb sollte die obige Formulierung auch
entsprechend modifiziert werden.
Fragen sollten präzise sein, die Präzision sollte aber nicht wieder zu mangelnder Ver-
ständlichkeit führen. Es ist ebenfalls nicht sinnvoll, Befragten Rechenoperationen aufzu-
geben wie in der folgenden Frage: „Bitte erinnern Sie sich an die Zahl Ihrer Arztkontakte
im letzten halben Jahr: Wie hoch ist der Anteil der Facharztbesuche in Prozent?“. Hier wäre
es sinnvoll, die Befragten die Zahl der Arztbesuche nennen zu lassen und dann die Zahl
der Facharztbesuche zu ermitteln.
Fragen und Antworten müssen inhaltlich zusammenpassen. Im folgenden Beispiel
stehen Frage- und Antwortlogik im Widerspruch: „Das Ereignis war für mich vollkommen
unvorhersehbar. Antwortformat (Fünfpunktskala): Trifft nicht zu/ trifft wenig zu/ trifft mit-
telmäßig zu/ trifft ziemlich zu/ trifft sehr zu“. Es sollte entweder der Fragestamm geändert
oder das Antwortformat auf „ja/ nein“ verändert werden.
Beim Gebrauch von Antwortskalen hat sich eine Vielzahl von Formaten eingebürgert,
wie z. B. 2-, 3-, 4-, 5-, 7- und 10-Punkteskalen, die entweder mit oder ohne verbale Quan-
tifizierer verwendet werden. In der Mehrzahl der Studien zu gesundheitlichen Themen
werden Instrumente verwendet, deren Skalenbreiten zwischen 3 und 11 Kategorien variieren,
und hier dominieren Fünfpunktskalen (Sitzia 1999). Die Präferenz für ein Format wird
meist nicht begründet, sondern folgt einer häufig geübten und nicht hinterfragten Praxis.
Werden verbale Quantifizierer verwendet, sollten die Begriffe semantisch gleichabständig
sein. Für die deutsche Sprache liegt nur eine einzige Studie vor, die sich auf drei Beur-
teilungsdimensionen bezieht (Rohrmann 1978). Es sind Häufigkeit mit den Abstufungen
„nie/ selten/ gelegentlich/ oft/ immer“, Intensität mit den Abstufungen „nicht/ wenig/
mittelmäßig/ sehr“ sowie Bewertung mit den Abstufungen „stimmt nicht/ stimmt wenig/
stimmt mittelmäßig/ stimmt ziemlich/ stimmt sehr“. Zusätzlich zu verbalen Abstufungen
werden Antwortskalen mit Zahlenwerten unterlegt. Üblicherweise sind es positive Zahlen
von „1“ bis „5“, aber es gibt eine breite Variation, z. B. solche mit Nullpunkt oder bipolar
angelegte Skalen mit negativen Werten (-2/-1/0/+1/+2). Es gibt nur wenige Vergleichsstu-
dien zu den Effekten numerischer Quantifizierer. In einer früheren Arbeit (Schwarz et al.
1991) wurden Skalen, die von negativen numerischen bis zu positiven Werten reichten, mit
Skalen verglichen, die nur positive Werte enthielten. Es zeigte sich, dass negative Werte
gemieden wurden, denn die Mehrzahl der Nennungen lag im positiven Bereich. Unter
der Bedingung positiver Skalenwerte gab es dagegen eine gleichmäßigere Verteilung der
Antworten (Moors et al. 2014). Die Autoren dieser Studien schließen aus ihren Ergebnissen,
dass Befragte Schwierigkeiten haben, negative Werte zu interpretieren; sie meiden sie daher
und platzieren ihre Nennungen im positiven Bereich der Antwortskala, was zu verzerrten
Antwortverteilungen führen kann. Wenn die Ergebnisse aus den Methodenstudien zur Ska-
lenverwendung zusammengefasst werden, ergeben sich die folgenden Entscheidungsregeln:

t In Antwortskalen sollte jeder Skalenpunkt verbal bezeichnet sein


64 Siegfried Geyer

t Beim Einsatz von Antwortskalen sollten semantisch gleichabständige Begriffe verwen-


det werden.
t Für Standardanwendungen sind Fünfpunktskalen meist die beste Lösung.
t Vierpunktskalen zur Vermeidung der Nutzung von Mittelkategorien werden ihr Ziel
verfehlen und führen mit großer Wahrscheinlichkeit zu Zustimmungstendenzen in
Form extremer Antworten.
t Skalen mit weniger als fünf Punkten sind wenig reliabel und mit Unsicherheiten in der
Verwendung behaftet.

6 Sekundärdaten und ihre Anwendung

Bei der Untersuchung der am häufigsten auftretenden Erkrankungen reichen große


Stichproben nicht immer aus, um nach Subgruppen getrennte Analysen durchzuführen.
Die Erhebung großer Stichproben ist kostspielig, insbesondere wenn sie mit ärztlichen
Untersuchungen kombiniert werden sollen (Micheelis & Schiffner 2006).
Wenn Populationsdaten gesammelt werden sollen, geraten Surveys auch deshalb an
Grenzen, weil die Wahrscheinlichkeit einer Teilnahme mit der Schwere der Erkrankung,
bzw. mit dem Grad der selbst eingeschätzten gesundheitlichen Beeinträchtigung abnimmt
(Hoffmann et al. 2004). In diesen Fällen ist es durchaus sinnvoll, mit Sekundärdaten zu
arbeiten, also mit Daten, die ursprünglich nicht für Forschungszwecke gesammelt wur-
den. In der Soziologie wurde dies im Zusammenhang mit der Entwicklung von Sozial-
indikatoren betrieben (Infrastrukturkommission & Kommission zur Verbesserung der
Informationellen Infastruktur zwischen Wissenschaft und Statistik 2001). Auch in der
Forschung zu Gesundheit und Krankheit nahm die Verwendung von Sekundärdaten in
den letzten Jahren kontinuierlich zu (Swart et al. 2014). Als Quellen wurden insbesondere
Daten von gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV), der Renten- und Pflegeversiche-
rung sowie von Schuleingangsuntersuchungen verwendet. Daneben können Registerdaten
einbezogen werden, z. B. solche zu spezifischen Erkrankungen, z. B. Krebs- und Herzin-
farktregister (Jaunzeme et al. 2014). Die genannten Datenarten werden auch unter dem
Begriff „Prozessdaten“ gefasst. Sie entstehen bei routinemäßigen Abläufen und werden zu
unterschiedlichen Zwecken gesammelt, was dann auch mit spezifischen Begrenzungen der
Aussagekraft verbunden ist. Sekundäranalysen können auch mit Surveydaten durchgeführt
werden, die entweder einzeln oder in Kombination analysiert werden können. Beispiele
hierfür sind z. B. der Bundesgesundheitssurvey (Bellach et al. 1998) oder die Deutschen
Mundgesundheitssurveys (Micheelis & Bauch 1991, Micheelis & Reich 1999, Micheelis &
Schiffner 2006).
Die Analysen von Primär- und Sekundärdaten unterscheiden sich hinsichtlich der
anwendbaren statistischen Verfahren nicht, jedoch sind für die Datenprüfung besondere
Vorgehensweisen erforderlich. Bei Sekundärdaten ist zu klären, welche Daten überhaupt
gesammelt wurden. So liegt das Einkommen in GKV-Daten z. B. nicht auf Haushaltsebene
vor, sondern individuell, für mitversicherte Familienangehörige fehlen diese Informationen.
4 Die quantitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 65

Weiterhin ist zu klären, wozu die Daten gesammelt wurden. Bei GKV-Daten sind es pri-
mär Abrechnungszwecke; dies bedeutet z. B., dass Erkrankungen, die von den Betroffenen
selbst behandelt wurden, nicht dokumentiert sind. Der Zeitpunkt der Datensammlung
ist ebenfalls relevant, weil die Codierungen über die Zeit geändert worden sein können.
Ein augenfälliges Beispiel ist der Wechsel von ICD-9 zu ICD-10 in den 1990er Jahren.
Schließlich ist es notwendig, die Daten zu validieren. Dies kann mittels interner und
externer Validierungen geschehen.
Bei internen Validierungen werden die Daten auf Plausibilität überprüft (IGES Institut
GmbH 2012). So kann ein Patient nicht gleichzeitig die Diagnose Diabetes Typ I und Dia-
betes Typ II haben, ebenfalls können für den gleichen Erkrankungsfall keine spezifischen
und unspezifischen Diagnosekategorien verwendet werden. Die Untersuchung von Wi-
dersprüchen kann auch den Vergleich von Diagnosen und Medikamentenverschreibungen
beinhalten, sofern Medikamente indikationsspezifisch sind. Weitere Überprüfungen
können sich auf die Plausibilität der Anstiege von Verordnungen richten oder auf das
„Verschwinden“ chronischer unheilbarer Erkrankungen über den Zeitverlauf.
Bei externen Validierungen werden Sekundärdaten mit Informationen aus anderen
Quellen abgeglichen. Hier kommen wieder Surveydaten in Betracht (IGES Institut GmbH
2012). Sekundär- und Surveydaten sollten jedoch nicht unkritisch zur wechselseitigen
Validierung verwendet werden, da in Surveys die Teilnahmebereitschaft mit dem Grad
der Beschwerden sinkt; die Erkrankungshäufigkeiten werden in Befragungsstudien daher
eher unterschätzt. Trotz der Unterschiede, die hier nur kurz erörtert werden können, sind
Sekundärdaten eine wesentliche Quelle der Datengewinnung, deren Bedeutung in den
kommenden Jahren noch zunehmen wird. Mit zunehmender Verfügbarkeit und erhöhten
Verarbeitungskapazitäten wird ihre Bedeutung steigen, und damit auch das Wissen über
Möglichkeiten und Grenzen ihrer Brauchbarkeit (Swart et al. 2014).

7 Abschließende Bemerkungen

In den vorangegangenen Abschnitten wurde eine Übersicht über standardisierte, quan-


tifizierende Methoden der Datensammlung gegeben. Sie erlauben es, große Zahlen von
Befragten nach einheitlichen Kriterien zu untersuchen. Dabei sind die Grenzen zur rein
epidemiologischen Forschung fließend, die soziologische Perspektive beinhaltet jedoch nicht
die Betrachtung von Gesamtbevölkerungen, sondern sie differenziert, indem spezifische
Untergruppen betrachtet werden, die in den meisten Fällen nach sozialstrukturellen Merk-
malen stratifiziert sind. Damit wird der Blick frei auf soziale Unterschiede von Erkrankungs-
risiken, von Krankheitsverläufen oder auch auf Unterschiede in der Inanspruchnahme von
Präventionsmaßnahmen oder in der Übernahme von Verhaltensweisen. Auf der Mikroebene
geht es z. B. um Einflüsse sozialer Faktoren wie Arbeitslosigkeit, soziale Beziehungen oder
soziale Netzwerke. Die Grenzen von statistischen Ansätzen werden dann erreicht, wenn
es darum geht, kleine Untergruppen zu betrachten, differenzierte Handlungsgründe zu
verstehen oder wenn einmalige Fälle untersucht werden sollen. Statistisch-quantifizierende
66 Siegfried Geyer

Ansätze kommen auch dann an ihre Grenzen, wenn extreme Fälle auftreten, die außerhalb
der statistischen Normalität liegen. Da standardisiert-quantifizierende Verfahren auch
nur auffinden können, was im Raster des Messinstrumentariums sichtbar wird, bleibt
Unerwartetes oft unbemerkt. In diesen Fällen ist es sinnvoll, eher qualitative Verfahren
anzuwenden, weil sie dafür sensitiver sind (siehe Ohlbrecht in diesem Band).
Die dargestellten Methoden sind jedoch nicht statisch, und in den nächsten Jahren wird
es einige Herausforderungen für die Methodenentwicklung geben: Gesundheitssoziologi-
sche Studien (z. B. die Lebensverlaufsforschung) verwenden zunehmend längsschnittliche
Designs, da die Begrenzungen von Querschnitten zunehmend sichtbarer werden. Die
technische Entwicklung macht es möglich, Daten nonreaktiv über verschiedene Arten von
Sensoren zu sammeln, Fragebögen nicht nur über Computer, sondern auch über Smart-
phones anzuwenden und eine zunehmende Zahl von Materialien (z. B. Filmsequenzen,
Bilder, 3-D-Applikationen) einzusetzen. Die technischen Möglichkeiten ermöglichen auch
zunehmend die Verwendung sehr großer Datensätze, wie es im Abschnitt zu Sekundärda-
tenanalysen dargestellt wurde. Ein derzeit hochaktuelles Thema ist die Weiterentwicklung
von Websurveys, um die oben beschriebenen Zugangsprobleme zu lösen.
Für die Soziologie von Gesundheit und Krankheit wird in den kommenden Jahren
auch die Verknüpfung von Prozess- und Befragungsdaten aktuell werden. Sie verbindet
Stränge, die derzeit noch getrennt verfolgt werden, die Verbindung von Befragungs- und
Prozessdaten wirft jedoch rechtliche Fragen des Datenschutzes auf, die geklärt werden
müssen. Forschungsmethoden sind damit auch weiterhin ein Gebiet für soziologische
Entwicklungsarbeit, das kontinuierlich neue Herausforderungen bereithält.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Daten können mittels persönlicher Interviews, mit schriftlichen Befragungen, tele-
fonischen Befragungen sowie mittels Internetsurveys erhoben werden.
▶ Für die Gewinnung von Stichproben sind die verschiedenen Varianten von Zufalls-
ziehungen die beste Wahl.
▶ Für standardisierte Befragungen können als Antwortformat Fünfpunkteskalen mit
verbaler Bezeichnung eines jeden Skalenpunktes empfohlen werden.
▶ Für Fragestellungen zu Gesundheit und Krankheit können auch Sekundärdatenquellen
verwendet werden, weil sie üblicherweise große Fallzahlen umfassen.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Aus welchen Gründen werden standardisierte Erhebungsverfahren auch in absehbarer
Zukunft die Sammlung von Daten dominieren?
4 Die quantitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 67

▶ Welches der hier vorgestellten Verfahren zur Erhebung von Primärdaten wird in
den kommenden Jahren für Forscherinnen und Forscher am attraktivsten sein?
▶ Warum nahm die Verwendung von Prozessdaten in der Gesundheitsforschung in
den letzten Jahren so stark zu?
▶ Welche Vor- und Nachteile haben Daten, die auf Befragungen basieren, im Vergleich
zu routinemäßig erhobenen Informationen (z. B. GVK-Daten)?

Leseempfehlungen

t ADM Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute, 2014: Stichpro-


benverfahren in der Umfrageforschung. Wiesbaden: VS-Verlag.
Kurzgefasste und aktuelle Darstellung derzeit verwendeter Stichprobenverfahren.

t Porst, R., 2011: Fragebogen. Ein Arbeitsbuch. Wiesbaden: VS-Verlag.


Sehr praxisorientiertes Wissen zur Konstruktion von Fragebögen.

t Schnell, R., P.B. Hill & E. Esser, 2013: Methoden der empirischen Sozialforschung.
München, Wien: Oldenbourg.
Eines der Standardwerke zu sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden in deutscher
Sprache.

t Schuman, H., 2008: Method and Meaning in Polls and Surveys. Cambridge, London:
Harvard University Press.
Grundlagenorientierte Darstellung zum Thema, die auch für Fortgeschrittene sehr in-
formativ ist.

t Swart, E., P. Ihle, H. Gothe & D. Matusiewicz, 2014: Routinedaten im Gesundheitswesen.


Handbuch Sekundärdatenanalyse: Grundlagen, Methoden und Perspektiven. Bern: Huber.
Derzeit die einzige aktuelle deutsche Quelle zur Arbeit mit Prozessdaten.

t Tourangeau, R., F.G. Conrad & M.P. Couper, 2013 : The science of web surveys. New
York: Oxford University Press.
Umfassende Darstellung von Websurveys; sie deckt alle wesentlichen Themen ab.
68 Siegfried Geyer

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.gesis.org/forschung/umfragemethodik und


http://www.gesis.org/publikationen
Internetquellen zu Methodenaufsätzen.

Web http://www.gesis.org/publikationen/zeitschriften/mda
Internetquelle zu einer frei zugänglichen Methodenzeitschrift.

Web http://www.epidata.dk/download.php
Freie Statistiksoftware zur Datenanalyse.

Web http://poq.oxfordjournals.org
Für neuere Forschungsmethoden wird die Zeitschrift „Public Opinion Quarterly“
empfohlen. Sie ist unter diesem Link erreichbar, leider oft nur an Universitäten an
denen empirische Forschungsmethoden gelehrt werden.

Literatur

ADM Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute, 2014: Stichprobenverfahren


in der Umfrageforschung 2. Auflage. Wiesbaden: VS-Verlag.
Bellach, B.M., H. Knopf & W. Thefeld, 1998: Der Bundesgesundheitssurvey 1997/ 98. Das Ge-
sundheitswesen 60: 59-68.
Blasius, R. & K.-H. Reuband, 1995: Telephoninterviews in der empirischen Sozialforschung:
Ausschöpfungsquoten und Antwortqualität. ZA-Nachrichten: 64-87.
Dillman, D., J.D. Smyth & L.M. Christian, 2014: Internet, phone, mail, and mixed-mode surveys:
the tailored design method (4. ed.). New York: Wiley.
Dragano, N., M. Bobak, N. Wege, A. Peasey, P. Verde, R. Kubinova, S. Weyers, S. Moebus, S.
Möhlenkamp, A. Stang, R. Erbel, K.-H. Jöckel, J. Siegrist & H. Pikart, 2007: Neighbourhood
socioeconomic status and cardiovascular risk factors: a multilevel analysis of nine cities in the
Czech Republic and Germany. BMC Public Health 7: 255.
Fricker, S., M. Galesic, R. Tourangeau & T. Yan, 2005: An experimental comparison of web and
telephone surveys. Public Opinion Quarterly 69: 370-392.
Geyer, S., K. Norozi, M. Zoege, R. Buchhorn & A. Wessel, 2007: Life chances after surgery of
congenital heart disease: The influence of cardiac surgery on intergenerational social mobil-
ity. A comparison between patients and general population data. Journal of Cardiovascular
Prevention and Rehabilitation 14: 128-134.
Haisken-DeNew, J.P. & R. Frick, 2005: DTC- Desktop Companion to the German Socio- Economic
Panel Study (SOEP), Version 8- September 2005. Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaft
Berlin, Königin-Luise-Str. 5, 14195 Berlin, Germany. http://www.diw.de/english/sop/.
Hoffmann, W., C. Terschüren, R. Holle, P. Kamtsiuris, M. Bergmann, S. Kroke, 2004: Zum Problem
der Response in epidemiologischen Studien in Deutschland (Teil II). Das Gesundheitswesen
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4 Die quantitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 69

IGES Institut GmbH, 2012: Bewertung der Kodierqualität von vertragsärztlichen Diagnosen. Eine
Studie im Auftrag des GKV-Spitzenverbands in Kooperation mit der BARMER GEK. Berlin:
IGES Institut GmbH.
Infrastrukturkommission & Kommission zur Verbesserung der Informationellen Infastruktur
zwischen Wissenschaft und Statistik, 2001: Wege zu einer besseren informationellen Infra-
struktur. Baden-Baden: Nomos.
Jaunzeme, J., Y. Marx, E. Swart & S. Geyer, 2014: Gesundheitsbefragungen und Aggregatdaten.
S. 214-222 in: E. Swart, P. Ihle, H. Gothe & D. Matusiewicz (Hrsg.), Routinedaten im Gesund-
heitswesen. Handbuch Sekundärdatenanalyse: Grundlagen, Methoden und Perspektiven.
Bern: Huber.
Jylhä, M., 2009: What is self-rated health and why does it predict mortality? Towards a unified
conceptual model. Social Science & Medicine 69: 307-316.
Knesebeck O v.d., V. Hüfken & P. Dübbert, 2001: Stichprobenrealisierung bei einer bundesweiten
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Die qualitative Analyse von Gesundheit
und Krankheit 5
Heike Ohlbrecht
5 Die qualitative Analyse von Gesundheit und Krankheit

Überblick
▶ Was ist das Spezifische an der qualitativen Forschungsstrategie?
▶ Welche Bedeutung haben qualitative Methoden im Bereich der Erforschung von
Gesundheit und Krankheit?
▶ Welche Anwendungsfelder zeichnen sich ab?
▶ Welche zukünftigen Herausforderungen stellen sich?

1 Einleitung

Qualitative Methoden sind aus der Erforschung von Gesundheit und Krankheit inzwischen
nicht mehr wegzudenken (Schaeffer & Müller-Mundt 2002, Albrecht et al. 1999, Bourgeault
et al. 2010). Ihre Etablierung hat aufgrund der Dominanz epidemiologischer und standar-
disierter evidenzbasierter Forschung in Medizin und Gesundheitswissenschaften länger
gedauert als etwa in der Bildungs-, der Ungleichheits- oder der Sozialarbeitsforschung. Der
gewachsene Stellenwert qualitativer Forschungsstrategien und die verstärkte Nachfrage nach
qualitativen Erhebungs- und Auswertungsverfahren im Feld „Gesundheit“ bzw. „Krank-
heit“ erklärt sich unter anderem aus dem säkularen und demografisch bedingten Wandel
im Krankheitsspektrum, etwa der Zunahme chronischer und psychischer Krankheiten
und den damit verbundenen neuen Anforderungen an die gesundheitliche Versorgung,
sowie nicht zuletzt aufgrund veränderter und individualisierter Lebensweisen. Denn die
veränderten Lebensstile, Ansprüche und Erwartungen, die verstärkte Wahrnehmung
neuer Problemlagen wie etwa die gesundheitliche Situation im Beruf (Keupp & Dill 2010),
Lebensqualität in der work-life-Balance und neue Perspektiven im Dritten Lebensalter
(Höpflinger 2014) verlangen nach einer interpretativen Forschungsstrategie.
Eine besondere Qualität der qualitativen Gesundheitsforschung liegt in dem struktu-
rellen Nachweis des Zusammenhangs zwischen Aspekten des säkularen gesellschaft lichen
Wandels auf der einen und den biographischen und oft gesundheitsbezogenen riskanten

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
72 Heike Ohlbrecht

Anpassungsstrategien der Menschen an diese Veränderungen auf der anderen Seite (von
Kardorff & Ohlbrecht 2007). Bei der Bezeichnung „qualitative Methoden“ handelt es sich
um einen Oberbegriff für eine Vielzahl verschiedener Ansätze, die eint, dass sie sich an
einer interpretativen Methodologie orientieren, deren Grundannahme ist, dass jegliche
soziale Ordnung auf den interpretativen Leistungen der Handelnden beruht (Wilson 1970).
Eine weitere zentrale Grundannahme der meisten qualitativen Verfahren liegt in der
rekonstruktiven Methodologie begründet, deren Basis die „gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit“ (Berger & Luckmann 1969) ist. Aufgabe empirischer Forschung ist es,
die Wirklichkeit zu „rekonstruieren“, welche die Akteure/innen in und mit ihren sozialen
Handlungen vollziehen. Aufgrund der Prinzipien qualitativer Forschung, wie etwa der
Analyse impliziter und/oder latenter Bedeutungsgehalte und eines vorrangig deutenden
und sinnverstehenden Zugangs „zu der interaktiv ‚hergestellt‘ und in sprachlichen wie
nicht-sprachlichen Symbolen repräsentiert gedachten sozialen Wirklichkeit.“ (v. Kardorff
1995: 4), zeichnet sich qualitative Forschung durch eine Offenheit für Erfahrungswelten,
ihre Inhalte und ihre „Gestalt“, für die ihnen zugrunde liegenden Konstruktionsprinzipien
und durch die Reflexivität des Forschers/der Forscherin aus. Letztendlich ist die Bezeich-
nung interpretative Sozialforschung viel geeigneter um die Spezifik qualitativer Methoden
einzufangen. Bei der folgenden Darstellung steht keine Einführung in einzelne Methoden
der qualitativen Forschung im Vordergrund – diese kann man den einschlägigen Metho-
denbüchern (z. B. Flick et al. 2015) entnehmen – sondern es wird auf Entwicklungslinien,
Anwendungsfelder und Leistungsfähigkeit qualitativer Forschung in der Analyse von
Gesundheits- und Krankheitsphänomenen fokussiert.

2 Geschichte und Hauptlinien qualitativer Forschung zu


Gesundheit und Krankheit

Die qualitative Wende (Mayring 1989) in den Sozialwissenschaften, also der Trend zu
qualitativen Erkenntnismethoden, vollzog sich in den 70er Jahren des letzten Jahrhun-
derts aufgrund der Einsicht, dass soziales Handeln durch die beteiligten Akteure in einer
gemeinsam geteilten wie herzustellenden Sinnwelt stattfindet, die Relevanzhorizonte
für Handlungsstrategien sich aus der Lebenswelt und ihren Sinnprovinzen ergeben und
subjektive Wahrnehmungen und Sichtweisen verstanden werden müssen. Qualitative
Methoden gab es selbstverständlich schon davor, ihre Tradition reicht weit zurück – man
denke beispielsweise nur an den großen Einfluss der Chicagoer Schule bis weit in die
30er Jahre des letzten Jahrhunderts – jedoch geriet die qualitative Forschung durch die
Entwicklung der quantitativen Forschung und die administrative Nachfrage nach Kenn-
ziffern immer stärker in eine Randposition (Seipel & Rieker 2003). Dies gilt besonders
für die Gesundheitsforschung, in der eine (meist nur metaphorische) Orientierung am
naturwissenschaftlichen Wissenschaftsideal als Goldstandard für objektive und verallge-
meinerbare Forschungsergebnisse gilt. Von der Renaissance qualitativer Methoden ab ca.
den 70er Jahren konnte die qualitative Gesundheitsforschung zunächst nicht profitieren,
5 Die qualitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 73

sodass Schaeffer bemerkte, dass die Gesundheitsforschung „fast unberührt [an]mutet von
der Expansion qualitativer Forschung.“ (Schaeffer 2002: 13). Dies hat sich in der letzten
Dekade nachhaltig verändert, sodass eine starke Diversifizierung und Etablierung quali-
tativer Methoden im Feld der Gesundheitsforschung zu beobachten ist. Die Wegbereiter
der neuen Anerkennung qualitativer Methoden sind in folgenden Forschungsbereichen zu
sehen, die hier schlaglichtartig in vier Themenbereichen vorgestellt werden sollen:

2.1 Analysen der Auswirkungen medizinischer und pflegerischer


Institutionen auf Patienten, Personal und Interaktionsordnungen
(Arzt-Patient-Umwelt)

Angestoßen durch Goffmans Analysen zur Struktur totaler Institutionen und ihrer Wirkung
für die Identitätsbildung der „Insassen“ wie des Personals (Goffman 1961) entwickelten sich
breite Forschungsaktivitäten. Christa und Thomas Fengler untersuchten 1980 das soziale
Alltagsleben in psychiatrischen Anstalten und zeigten auf, dass die je eigene Logik von
Großanstalten, deren innere Ordnung und ihr geheimer Lehrplan dem obersten Leitprin-
zip der Herstellung eines reibungslosen Ablaufs von Funktionseinheiten unterliegen. Die
Wirkungen dieser übermächtigen Funktionsabläufe auf die dort untergebrachten Menschen
zeigen sich in Anpassungsdruck, Kolonisierung der Lebenswelt und erzwungener Loyalität.
Bald schlossen sich weitere qualitative Studien zum Alltag und zur sozialen Organisation
versorgender Einrichtungen sowie zu deren Auswirkungen auf die Patienten an (Glaser &
Strauss 1974). Die mangelnde Patientenorientierung in Kliniken und anderen Institutionen,
als auch die Inhumanität der Krankenbehandlung, die in jener Zeit weitgehend blind für
Patientenpartizipation und -selbstbestimmung war, wurde zum Schwerpunkt qualitativer
Forschung. In diesem Zusammenhang gerieten die spezifischen Interaktions- und Kom-
munikationsformen, wie die Arzt-Patientenkommunikation und die Analyse von Therapie-
gesprächen (Wolff 1986), sowie die Untersuchung von Arbeitsabläufen und Interaktionen
im Krankenhaus (Siegrist 1978) und in der Pflege in den Blick, sodass Versorgungsdefizite
benannt werden konnten. Bis dato tabuisierte Themen wie z. B. der Umgang mit todkran-
ken Patienten und ihren Angehörigen wurden von Anselm Strauss und Barney Glaser
(1974) aufgegriffen und führten dazu, dass auf Grundlage ihrer Studie, die mittlerweile
zu den klassischen qualitativen medizinsoziologischen Studien zählt, nicht nur ein neues
Forschungsprogramm (Grounded Theory) begründet wurde, sondern sich in der Folge
auch der Umgang mit sterbenden Patienten nachhaltig veränderte (Glaser & Strauss 1974).

2.2 Analysen von Zuschreibungsprozessen im Zusammenhang


mit Krankheit

Die Analyse der gesellschaftlichen Reaktionsformen und Zuschreibungsprozesse auf


psychische Krankheiten und die Aushandlung des Umgangs mit der Abweichung von der
Normalität in der Interaktion findet sich in zahlreichen qualitativen Studien, die durch
74 Heike Ohlbrecht

die psychiatriekritischen Analysen zu Beginn der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts
angestoßen wurden. Es ist kein Zufall, dass ganz wesentliche Beiträge der qualitativen
Forschung zu Gesundheit und Krankheit am Beispiel der Psychiatrie entstanden sind,
weil dort das Zusammenspiel zwischen der Beeinträchtigung körperlicher, geistiger und
seelischer Funktionen auf der einen und Störungen der sozialen Ordnung auf der anderen
Seite so exemplarisch deutlich werden kann. Thomas Scheff (1966) arbeitete die Zuschrei-
bungsprozesse, die mit der Diagnosestellung einer psychischen Störung verbunden sind,
als einen Konflikt in der Definition der sozialen Realität heraus. Eine Zuschreibung als
„krank“ oder auch „psychisch krank“ hat beispielsweise zur Folge, dass Verhaltensweisen,
die sonst als unauffällig normalisiert worden wären, plötzlich zu Symptomen werden und
als diese kategorisiert werden. Garfinkel (1967) zeigte anhand seiner Untersuchungen der
Regelstrukturen des Alltagslebens die Brüchigkeiten eben dieser Strukturen auf. Standen
anfangs in diesem Forschungsfeld stark Fragen der Stigmatisierung und/oder Etikettierung
im Vordergrund, rücken zunehmend die Folgen der Stigmatisierung im Hinblick auf soziale
Integration und individuellen Status in den Vordergrund (Goffmann 1961, Smith 1976).

2.3 Analysen des Lebens mit chronischer Krankheit und Behinderung

Ein großes Untersuchungsfeld qualitativer Forschung war von Beginn an die Erforschung der
Bewältigung von Krisen im Lebenslauf, von Behinderungen und chronischen Krankheiten.
Angestoßen durch die medizinsoziologischen Arbeiten um die amerikanische Forscher-
gruppe um Anselm Strauss entwickelte sich eine nachhaltige Diskussion der Auswirkungen
von schweren Erkrankungen auf die Lebensplanung und Biographie der Betroffenen und
das professionelle Arbeitsbündnis von Ärzten, Pflegern, Patienten und Angehörigen und
die damit verbundenen – sehr häufig außermedizinischen – Arbeitsleistungen (Corbin &
Strauss 1988). Schütze griff in Deutschland die Überlegungen zum Trajektkonzept nach
Anselm Strauss auf und entwickelte das grundlagentheoretische Konzept der Verlaufskurve,
welches den Blick auf biographisch relevante Erleidensprozesse öffnete (Schütze 1995, siehe
auch Schaeffer & Haslbeck in diesem Band). Unter dem Begriff Trajekt (Verlaufskurve) ist
die verzahnte Arbeitsleistung (auf drei Ebenen: Biographiearbeit, alltagsbezogener Arbeit
und krankheitsbezogener Arbeit) von Patienten/Patientinnen sowie ihren Angehörigen
im Zusammenspiel mit den Ärzten/Ärztinnen (Pflegekräfte) zu verstehen, welche einge-
bunden ist in einen Kontext ausgehandelter institutioneller Regelordnungen. Studien zur
Alltagssituation und Biographie von psychisch Erkrankten, häufig mit ethnografischem
Forschungsdesign, folgten (Hildenbrand 1983, Riemann 1987) und zeigten den gesell-
schaftlichen Umgang sowie die Bewältigung von chronischer (psychischer) Krankheit auf.
5 Die qualitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 75

2.4 Studien zu Patientenkarrieren

Parallel zu diesen Themen gerieten Fragen der Typisierung verschiedener Bearbeitungs-


und Bewältigungsverläufe von Krankheiten in den Fokus. Es schlossen sich Studien zum
Vergleich von Patientenkarrieren, häufig mit biographischem oder fallrekonstruktivem
Ansatz, an sowie die Rekonstruktion von typischen Versorgungsverläufen von Patienten
und Patientinnen (Schaeffer 2002b, Gerhardt 1984, 1999). Diese Studien zeigten, dass
die Begriffe der Kranken-, Patienten- und Sterbekarriere neu und offener gefasst werden
müssen (Gerhardt 1995), da der bis dahin dominierende normative Patientenbegriff die
Möglichkeiten der aktiven Mitgestaltung nicht ausreichend berücksichtigte und zu einem
Diskurs der „strukturellen Stigmatisierung der Behinderten und der universellen Chan-
cenlosigkeit der chronisch Kranken“ (ebenda: 316) führte.
Qualitative Forschung hat in der soziologischen Forschung zu Gesundheit und Krank-
heit eine durchaus lange und erfolgreiche Tradition, diese wurde jedoch viele Jahre kaum
wahrgenommen bzw. viel stärker in anderen Wissenschaftsbereichen anerkannt. Quali-
tative Methoden führten – trotz der vielschichtigen Studien und Erfolge – aufgrund der
Dominanz standardisierter und epidemiologischer Forschung ein Schattendasein in der
Gesundheitsforschung. Erst in den letzten Jahren vollzieht sich nun im Bereich der Ge-
sundheitswissenschaften, und hier im Besonderen in der Medizinsoziologie, die sich in
Deutschland anders als in den USA erst seit kurzem den qualitativen Forschungsansätzen
öffnet, eine immer stärkere Etablierung qualitativer Sozialforschung. Wir befinden uns
daher heute in der Phase der Etablierung und Ausdifferenzierung qualitativer Forschung.
Die Kombination von quantitativen und qualitativen Verfahren (mixed-methods-designs)
begründen dabei einen neuen Trend. Eine Schwierigkeit dieser Designs liegt jedoch im
unklaren Umgang mit Forschungsparadigmen und in der z. T. mangelnden Begründung
der Kombination qualitativer und quantitativer Strategien in der Forschungsfrage. Bis vor
einigen Jahren hatten qualitative Methoden eher den Status von erkundenden Verfahren,
die im Vorfeld der standardisierten-quantitativen Methoden ihren Platz einnahmen, dies
hat sich in den letzten Jahren – auch aufgrund einer mangelnden Tiefenschärfe quantita-
tiver Verfahren – verändert.

3 Zur neuen Bedeutung qualitativer Forschungsansätze

Qualitative Forschung hat durch ihre Hinwendung zur Patientenperspektive, durch die
Stärkung des Lebensweltbezugs, im Aufzeigen struktureller Probleme von Krankenhäu-
sern, Heimen und Praxen sowie in der Analyse der Interaktionssituationen von Beratung,
Behandlung und Pflege ihre Leistungsfähigkeit bewiesen (Schaeffer & Müller-Mundt
2002). Qualitative und quantitative Forschungsstrategien stehen dabei in einem spezifi-
schen Ergänzungsverhältnis, welches nicht hierarchisch zu denken ist. Die subjektiven
Perspektiven, die beispielsweise entscheidend z. B. die Arzt/Ärztin-Patient/Patientin-Kom-
76 Heike Ohlbrecht

munikation und die Inanspruchnahme von Leistungen sowie die Zufriedenheit mit dem
Versorgungssystem rahmen, können durch qualitative Verfahren stärker berücksichtigt
werden. Die neuen Herausforderungen, die mit dem Wandel im Krankheitsspektrum und
mit dem Gestaltwandel (Schaeffer 2002a), sowie der damit verbundenen Ausdehnung
der Verlaufsdauer von chronischen Krankheiten verbunden sind, erfordern einen Blick
auf die gesamte Lebensspanne (Dragano & Siegrist 2006) und eine prozessanalytische
Perspektive (Schütze 2008). Die Analysen der Entstehung und Bewältigung chronischer
Krankheiten und psychosomatischer Beschwerden folgen nicht dem tradierten Denkmodell
der Pathogenese, vielmehr sind in ihrer Entwicklung mehrere, auch nicht-medizinische
Ursachen, bedeutsam. Chronische Krankheiten können daher nicht vorrangig – wie es
derzeit im Bereich der Gesundheitsforschung noch der Fall ist – unter pathophysiologischen
Gesichtspunkten betrachtet und verstanden werden (vgl. Schaeffer 2009). Der Begriff der
Krankheit ist inzwischen unschärfer geworden, die ambivalente Dynamik medizinischen
Fortschritts führt beispielsweise zu „gesünderen“ chronisch Kranken (Aronowitz 1998).
Viele Erkrankungen haben heute eine offenere Verlaufsdynamik, so dass das Leben mit
bedingter Gesundheit, bzw. das Leben unter der Bedingung andauernden Krankseins,
vielfältige Herausforderungen bereithält. Auch bei der Erforschung von Gesundheit, well-
being oder bei der Beurteilung von Lebensqualität werden qualitative Herangehensweisen
immer bedeutsamer. Dies betrifft besonders Fragen wie Gesundheit mit der modernen
Lebensweise verknüpft ist, welches Verständnis von Gesundheit Menschen in unterschied-
lichen sozialen Milieus leitet, wie die Gesellschaft Körper sozial konstruiert und damit die
Frage „wie sehr uns die Gesellschaft unter die Haut geht“ (Villa 2008: 215), hier kann die
interpretative Sozialforschung einen entscheidenden Beitrag leisten.

4 Aktuelle Forschungsfelder im Bereich Gesundheit


und Krankheit

Qualitative Gesundheitsforschung umfasst ein breites Spektrum an Themen und Frage-


stellungen, wobei sowohl grundlagenwissenschaftliche Aspekte behandelt werden (z. B.
Konstruktion von Leib/Körper), sehr häufig aber auch eine starke Anwendungsorientie-
rung vorhanden ist (z. B. qualitative Evaluationsforschung); einige Schwerpunkte seien
hier exemplarisch benannt, die sich idealtypischer Weise auf drei Ebenen differenzieren
lassen (siehe Abb. 1).
5 Die qualitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 77

Individuum Gesundheitssystem Gesellschaft


Verlaufskurven & Bewältigung Versorgungsforschung Demografischer Wandel
Besonderheiten im Krankheits- Patientenorientierung; Inan- Umgang mit medizinischem
verlauf; Auswirkungen von spruchnahmeverhalten; Patien- Fortschritt; Veränderung des
Krankheit auf die Identität, tenzufriedenheit; Schnittstellen Krankheitsspektrums; neue He-
biographische Arbeit im Versorgungssystem; Versor- rausforderungen am Beginn und
gungsalltag Ende des Lebens

Subjektive Gesundheit Arzt-Patienten-Verhältnis Partizipation und Gesundheit


Einfluss auf Inanspruchnahme Kommunikation & Interaktion; Soziale Ungleichheit; Gesund-
des med. Systems, Interaktionen Partizipation; Rollenverständ- heitschancen; soziale Determi-
und Heilungsprozess nis; Verhältnis Lebenswelt & nanten der Gesundheit, soziale
Expertise Teilhabe

Alltags- und Laientheorien Professionsforschung Soziale Repräsentationen


Tradierung von Gesundheits- Neues Rollenverständnis; Migration und Gesundheit, ge-
und Krankheitsbildern; sub- Gestaltung von sellschaftliche und milieu-spe-
jektive Kontrollüberzeugungen Interaktionsprozessen zifische Vorstellungen von Ge-
sundheit und Krankheit
Abb. 1 Ausgewählte Forschungsfelder qualitativer Methoden
Quelle: eigene Darstellung

4.1 Qualitative Beteiligungsforschung, insbesondere Arzt/Ärztin und


Patient-/Patientinnen-Verhältnis, Partizipationsforschung

Um die spezifischen Anforderungen an eine gelingende Interaktion zwischen professi-


onellen Akteuren/innen und Patienten/innen und die möglichen Paradoxien in dieser
– sehr häufig asymmetrischen – Konstellation zu untersuchen, um zu erforschen wie sich
beispielsweise Vertrauensprozesse abspielen, Professionen abgrenzen, welche Rolle die
neue Mündigkeit wie auch Formen der Partizipation des Patienten/der Patientin (bei-
spielsweise auch durch internetbasiertes Informationsmanagement) spielen etc. eignen
sich qualitative Verfahren, beispielweise ethnografische Ansätze, in besonderer Weise.
Die neuen Modelle partnerschaftlicher Beteiligung von Patientinnen und Patienten an der
Entscheidungsfindung über zu wählende Therapie- und Behandlungsmethoden, wie etwa
das „shared decision-making“, erzeugen einen gesteigerten Kommunikationsbedarf und
erfordern die Konstruktion wechselseitiger Anschlussfähigkeit zwischen Alltagswissen
und lebensweltlicher Einbettung einerseits und ärztlichem Wissen, den dazugehörigen
professionellen Routinen und institutionellen Praktiken, andererseits (v. Kardorff 2012).
Dass dies in der Praxis nicht ohne Reibungsverluste zu erreichen ist und oftmals an Grenzen
stößt, zeigen differenzierte qualitative Studien (z. B. Kreher et al. 2009). Diese qualitativen
Studien richten ihren Blick nicht nur darauf, warum Menschen einen Arzt aufsuchen,
ob diese die Instruktionen des Arztes einhalten etc., sondern fragen auch danach, was
78 Heike Ohlbrecht

während einer Konsultation vor sich geht, welche Aushandlungsordnung sich zeigt und
welche Wirkmächtigkeit Behandlungspläne in der jeweiligen Lebenspraxis entfalteten.

4.2 Versorgungsforschung und Inanspruchnahmeverhalten

In den neuen partizipativen Konzepten in der Versorgungslandschaft wie patient-cente-


red-care, shared decision-making, Patienten- und Patientinnenschulungen etc. bildet sich
zum einen der Wandel gesellschaftlicher Rahmenbedingungen – z. B. eine Veränderung
der Informations- und Mitbestimmungskultur – ab, zum anderen gehen die Konzepte
mit der Idee der Verbesserung von Behandlungsadhärenz, Behandlungsergebnissen
und Lebensqualität u. a. durch Information, Anleitungen zum Selbstmanagement und
die Vermittlung von Coping-Strategien zur Stärkung von Selbstwirksamkeit und zur
Reduktion von Stresserleben und Ängsten einher. Inwiefern diese Ansätze zu einer Ver-
besserung der Schnittstellenproblematik und zu einer verbesserten Inanspruchnahme
führen und welche Rolle subjektive Theorien in diesem Zusammenhang spielen, steht im
Zentrum verschiedener qualitativer Studien (Herrmann et al. 2013). Untersuchungen zur
Versorgungssituation von bestimmten Patientengruppen, wie z. B. alten Menschen oder
obdachlosen chronisch kranken Jugendlichen (Flick 2007, Röhnsch & Flick 2015) weisen
auf ein breites qualitatives Forschungsspektrum hin.

4.3 Subjektive Gesundheit und subjektive Theorien

Angesichts gerade auch der Zunahme psychischer Erkrankungen und Befindlichkeitsstö-


rungen sowie psychosomatischer Beschwerden werden Fragen der subjektiven Bewertung
von Gesundheit und Laientheorien zu den Ursachen und Konsequenzen von Erkrankungen
immer bedeutsamer. Die subjektiven Vorstellungen über Gesundheit und Krankheit, mithin
die Antwort auf die Frage „Wann fühlen wir uns gesund/ wann fühlen wir uns krank?“, be-
dingt erst den Zugang zur medizinischen Versorgung. Derzeitige Forschungsbemühungen
konzentrieren sich darauf zu erfassen, wie das Befinden, d. h. die subjektive Wahrnehmung
eines Krankheitswerts und/oder des Krankheitsgeschehens, den Heilungs- und Auseinan-
dersetzungsprozess mit der Krankheit beeinflusst (z. B. Stamer et. al. 2010). Die Bedeutung
subjektiver Krankheitstheorien für den biographischen Umgang mit einer Erkrankung und
für den Erfolg der medizinischen Behandlung zeigen die qualitativen Untersuchungen in
diesem Bereich auf (vgl. Faltermaier & Brütt 2013, siehe auch Faltermaier in diesem Band).

4.4 Lebenslaufperspektive und soziale Teilhabe

Chronisch kranke Menschen sind nicht auf die Krankenrolle reduzierbar, sie sind kranke
Gesunde oder gesunde Kranke (Akashe-Böhme & Böhme 2005) und aktiv handelnde Per-
sonen, die auf Behandlungsprozesse Einfluss nehmen. Sie kennen ihre körperlichen und
5 Die qualitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 79

seelischen Reaktionen auf Krankheitsanzeichen, Medikamente und Behandlungsformen


am besten. Damit werden sie zu Experten/-innen in eigener Sache und sind als Partner
von den Fachkräften anzuerkennen (Schaeffer 2009, Corbin & Strauss 1993). Daraus folgt,
dass die temporalen Besonderheiten des Krankheitsgeschehens (Verlaufskurve) und die
subjektive Realität des Erlebens, also die Krankheitserfahrungen im medizinisch-thera-
peutischen Versorgungssystem, stärker zu berücksichtigen sind. Die qualitative Gesund-
heitsforschung kann gerade in diesem Bereich auf eine besonders lange und intensive
Forschungstradition zurückblicken, die durch neue Untersuchungen für ausgewählte
Krankheitsbilder ein immer differenzierteres Bild zeichnet (Detka 2011, Werwick 2012).
Sehr häufig steht hier das „Bestreben des giving voice [im Vordergrund] – dem Patienten
und der Geschichte seiner Krankheit die Möglichkeit zu geben, gegen die Zugangsweisen
der Medizin, die eigene Krankheit mit einem Sinn zu versehen und zu bewältigen.“ (Flick
2002: 213). Die vorliegenden biographieanalytischen und/oder fallrekonstruktiven Arbeiten
zeigen die Auswirkungen chronischer Krankheiten auf die Identität auf (Charmaz 1991,
Lucius-Hoene 1997, Ohlbrecht 2006) und verdeutlichen die Auswirkungen von Krankheiten
und Behinderungen auf die Teilhabechancen an der Gesellschaft, wie z. B. für den Bereich
der Erwerbstätigkeit (v. Kardorff & Ohlbrecht 2014).

5 Stand und Herausforderungen für qualitative Methoden


in der Erforschung von Gesundheit und Krankheit

Trotz zunehmender Etablierung, verstärkter Forschungsbemühungen, Schulenbildung


und Didaktisierung qualitativer Gesundheitsforschung zeigt sich ein Nachholbedarf auf
Ebene der Methodenentwicklung. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Verbreitung
qualitativer Methoden und die Methodenkompetenz in der Ausbildung in den Pflege-
und Gesundheitswissenschaften, in Medizin, Psychologie und Rehabilitationspädagogik
usw. höchst unterschiedlich sind. In der Soziologie finden sich dafür in der Regel bessere
Voraussetzungen, da die qualitativ-interpretative Forschung in der universitären Lehre
inzwischen gut verankert ist. Eine Reihe von Methodentreffen und -schulungen tragen zur
Professionalisierung im Bereich der qualitativen Forschung bei. Für die qualitative Gesund-
heitsforschung ist insbesondere das Methodentreffen am Zentrum für Sozialweltforschung
und Methodenentwicklung der Universität Magdeburg zu nennen. Darüber hinaus gibt es
Bemühungen die kleinteilige und tendenziell isolierte Forschungslandschaft im Bereich der
qualitativen Gesundheitsforschung zu überwinden und eine Professionalisierung qualitativer
Gesundheitsforschung zu fördern, z. B. das DFG-Netzwerk qualitative Gesundheitsforschung.
Auf Seiten der Erhebungsmethoden lässt sich derzeit eine Dominanz von sprachzen-
trierten Methoden wie Interviews (z. B. Leitfadeninterviews, narrative Interviews und
Experteninterviews) beobachten. Neben den vielen Vorteilen, die qualitative Interviews
bieten, wie z. B. das „Eindringen in die mentale Lebenswelt“ (Flick 2002: 204), die Offen-
heit und Alltagsnähe sowie den eher pragmatischen Vorteilen, wie gute Vorbereitung,
Handhabbarkeit und Vergleichbarkeit, können sprachzentrierte Methoden jedoch nur
80 Heike Ohlbrecht

die sprachlich zugänglichen Sinnschichten erfassen, während die vor- und parasprachli-
chen Bedeutungsebenen zumeist unthematisiert bleiben müssen (Peter 2008). Bei vielen
Fragestellungen, wie z. B. bei der Analyse von Krankheitserfahrungen und Krankheitsbe-
wältigung, ist der Zugang über offene Interviews z. B. durch auf Erzählungen abzielende
narrative Interviews ein erfolgversprechender Weg (Lucius-Hoene 2008, Charmaz 1991).
Darüber hinaus sollte, wie in den letzten Jahren immer mehr zu beobachten ist, die Vielfalt
an qualitativen Erhebungsmethoden genutzt werden (Schütze 2013). Stehen beispielsweise
Interaktionsmuster zwischen Arzt/Ärztin, Pfleger/Pflegerin und Patienten/innen im Vor-
dergrund oder geht es um Deutungsmuster von Gruppen, Professionalisierungsprobleme
im Gesundheitswesen oder Schnittstellenprobleme im Versorgungsalltag sind auch andere
Erhebungsmethoden gefragt. Qualitative Methoden halten ein breites Spektrum spezifischer,
forschungsgegenstandsangemessener Erhebungsmethoden bereit: Hier sind eine Vielfalt
an Interviewverfahren, Beobachtungsverfahren teilnehmender wie nicht-teilnehmender
Art vorhanden und es ist die Erhebung natürlicher (im Sinne von nicht allein durch die
Forscher initiierter) Dokumente, wie z. B. Tagebücher, Patientenakten, Beratungsgesprä-
che, Bilder, Think aloud-Protokolle etc. sowie Gruppendiskussionen, Videoanalysen u. a.
denkbar sowie Ansätze einer partizipativen Gesundheitsforschung.
Hinsichtlich der Methoden der Auswertung qualitativer Daten konstatierte Schaeffer (2002)
eine marginale Relevanz von Verfahren der Bildinterpretation, der Konversationsanalyse, der
qualitativen klinischen Forschung und der qualitativen Evaluationsforschung im Bereich der
Gesundheitsforschung im deutschsprachigen Raum. Tendenziell trifft diese Einschätzung
auch heute noch zu, wenn auch eine größere Pluralität in den Methoden zu beobachten ist.
Insgesamt lässt sich eine größere Öffnung für ein breitgefächertes Auswertungsvorgehen
konstatieren, in einigen Bereichen, wie für die Versorgungsforschung, als einem der größten
Felder drittmittelfinanzierter qualitativer Gesundheitsforschung beispielweise, lässt sich
eine nahezu ausschließliche Präferenz für die qualitative Inhaltsanalyse feststellen. Dies ist
u. a. darin begründet, dass sie für qualitative Interviews eine ökonomische und stark for-
malisierte Auswertungsstrategie vorstellt, die auch Nicht-Sozialwissenschaftler/-innen eine
gute Orientierung bietet und auch deshalb über einen hohen Bekanntheitsgrad innerhalb
der Versorgungsforschung und Medizin verfügt (im Übrigen auch bei den Gutachtern und
Gutachterinnen in diesem Feld), durch Software-Programme wie MAXQDA unterstützt
wird und eine Brücke schlägt zwischen quantitativ und qualitativ ausgerichteter Forschung
(Karbach et. al. 2012). Dennoch ist anzustreben, dass das breite Spektrum qualitativer
Auswertungsverfahren beispielsweise Diskurs- und Konversationsanalyse, Sequenzanalyse,
dokumentarische Interpretation, hermeneutische Verfahren, Grounded Theory etc. vermehrt
ausgeschöpft wird. Die Pluralität von Datentypen und die Triangulation von verschiedenen
Methoden tragen dazu bei, dass die Erkenntnischancen qualitativer Forschung, die u. a.
in der Suche nach Neuem liegen, im Anspruch Lebenswelten von innen heraus, aus der
Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben, eingelöst werden (Flick et al. 2015: 14).
So lassen sich zwar eine Hinwendung zu qualitativen Methoden bei der Erforschung von
Gesundheit und Krankheit konstatieren sowie eine immer stärker werdende Präferenz für
mixed-methods-Designs, allerdings wird das Potenzial qualitativer Forschung in all der
5 Die qualitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 81

Vielfalt bisher (noch) nicht ausgeschöpft. Dies gilt nicht zuletzt für die aktive Einbeziehung
der betroffen Menschen in die Forschung, sei es durch Konzepte der Aktionsforschung oder
den sogenannten „Member-check“, Vorgehensweisen, die mit ganz eigenen methodischen
und forschungsethischen Problemen verbunden sind.

6 Schlussfolgerungen

Qualitative Methoden sind aufgrund ihrer Prinzipien in besonderer Weise geeignet, Phä-
nomene von Gesundheit und Krankheit wie z. B. Krankheitsprozesse und Gesundheitsver-
halten als Konstruktionsleistungen zu sehen, in die Interpretationen der Beteiligten und
darauf bezogene Handlungsstrategien eingehen. Daher haben sie – wenn auch verspätet
– ihre Etablierung im Bereich der Gesundheitsforschung erzielt, dies gilt es auszubauen,
die Methodenvielfalt weiter auszuschöpfen und die qualitative Methodenkompetenz zu
stärken. Zukünftige Forschungsfelder liegen in der qualitativen Beteiligungsforschung, hier
a) in den Settingansätzen der Gesundheitsförderung und b) in der Analyse der Arzt-Pati-
enten-Interaktion mit Blick auf Patientenorientierung und Partizipation. Darüber hinaus
stellen die qualitative Professionsforschung, Analysen des medizinischen Diskurses sowie
Studien zur sozialen Konstruktion von neuen Krankheitsbildern (z. B. ADHS, siehe auch
die Disability Studies) und qualitative Untersuchungen zu sozial ungleichen Gesundheit-
schancen Forschungsdesiderate dar.
Für die empirische Forschung stellt sich im Allgemeinen die Herausforderung, dass
sich durch den gesellschaftlichen Wandel hin zur Wissensgesellschaft eine wachsende Re-
flexivität auf Seiten der Forscher und Forscherinnen und zunehmend auch auf Seiten der
„Erforschten“ verzeichnen lässt; auch diese haben ihre Deutungen und Annahmen über
den Forschungsprozess, seine Ziele und Ergebnisse (der mündige Patient/Patientin und der
mündige Forschungsteilnehmer/Forschungsteilnehmerin). Daher rücken Fragen nach der
Legitimität und Autorität sowohl der Wissenschaft als auch des Wissenschaftlers „und die
Um- oder Neupositionierung des Forschers vom „allwissenden Analytiker“ hin zum „zuge-
lassenen Teilnehmer“ bei der Generierung stets nur partiellen Wissens…“ (Clarke 2012: 29) in
den Vordergrund empirischer Forschung. Hier kann vor allem die qualitative Forschung, zu
deren Grundannahmen zählt, dass Forscher wie die „Forschungsobjekte“ ohnehin beidseitig
den Forschungsprozess beeinflussen, die Forschungsergebnisse als beidseitige Konstrukti-
onsleistung aufzeigen und zu neuen Varianten partizipativer Forschung beitragen.
Eine spezifische Herausforderung für die qualitative Gesundheitsforschung liegt des
Weiteren darin, dass an ihr unterschiedliche Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen
beteiligt sind – Ärzte, Psychologen, Therapiewissenschaftler, Rehabilitationswissenschaft-
ler, Sozialpädagogen etc. – die auf der Grundlage unterschiedlicher disziplinärer und
professioneller Traditionen agieren. Daraus begründet sich die Notwendigkeit zur Ent-
wicklung transdisziplinärer Perspektiven und zur Vernetzung unterschiedlicher Akteure
und Forschungsperspektiven sowie einer Verständigung über die Standards qualitativer
Forschung. Die Fähigkeiten zu angemessenem Handeln im Forschungsprozess, d. h. auch
82 Heike Ohlbrecht

die Fähigkeit zur Zurückstellung des eigenen Vorwissens, das methodisch kontrollierte
Fremdverstehen, umfasst mehr als instrumentelles Methodenwissen. Die Vermittlung
von qualitativer Forschung ist nur zu einem geringen Teil methodisch-technisches Er-
lernen von Planungs-, Erhebungs- und Auswertungsprozeduren. Es handelt sich hierbei
einerseits um eine spezifische Haltung des Feldforschers im Forschungsprozess (Girtler
2002), die durch Offenheit, Reflexivität etc. gekennzeichnet ist und andererseits um die
erkenntnistheoretische Fundierung im interpretativen Paradigma, d. h. soziale Wirklich-
keit kann erstens zureichend nur als sinnhaft durch Kommunikation und Interaktion der
Menschen konstituiertes Gebilde begriffen werden und zweitens kann soziale Wirklichkeit
nur auf dem Wege der Rekonstruktion kollektiver Deutungsmuster verstanden werden (v.
Kardorff 1995: 7). Gelingt es diesen Herausforderungen zu begegnen und gelingt es, die
Diskussion von Qualitätsstandards und der Geltungsbegründung qualitativer Studien in
der Gesundheitsforschung offensiv zu führen, kann der Erfolg qualitativer Methoden in
der Erforschung von Gesundheit und Krankheit ausgebaut werden.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Aufgrund ihres deutenden und sinnverstehenden Ansatzes eignen sich qualitative
Methoden in besonderer Weise, um Phänomene von Gesundheit und Krankheit
zu erforschen.
▶ Aufgrund der Veränderungen im Krankheitsspektrum, der veränderten Versorgungs-
landschaft und des Gestaltwandels von chronischer Krankheit werden qualitative
Methoden immer bedeutsamer.
▶ Neue Anwendungsfelder zeigen sich in der qualitativen Beteiligungs- und Partizipa-
tionsforschung, insbesondere in der Analyse der Arzt-Patienten-Interaktion sowie
in der Erforschung subjektiver Theorien.
▶ Die große Vielfalt an qualitativen Erhebungs- und Auswertungsmethoden wird derzeit
im Bereich der Erforschung von Gesundheit und Krankheit noch nicht ausgeschöpft.
▶ Zu den Herausforderungen für die qualitative Forschung gehört die Stärkung der
Methodenkompetenz, der Ausbau der Methodenvielfalt, die Entwicklung transdiszip-
linärer Perspektiven und die Diskussion der Verknüpfung mit quantitativer Forschung.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Warum ist die Bezeichnung interpretative Sozialforschung angemessener als ein
Oberbegriff wie qualitative Methoden?
▶ Warum erlangen die qualitativen Methoden eine neue Bedeutung bei der Erforschung
von Gesundheit und Krankheit?
5 Die qualitative Analyse von Gesundheit und Krankheit 83

▶ Welche Forschungsthemen im Bereich Gesundheit und Krankheit eignen sich in


besonderer Weise für qualitative Methoden?
▶ Inwiefern hat die qualitative Forschungsstrategie dazu beigetragen die Patienten- und
Akteursorientierung zu stärken?
▶ Welche qualitativen Methoden der Erhebung- und Auswertung dominieren aus
welchen Gründen den Bereich der qualitativen Gesundheitsforschung?

Leseempfehlungen

t Bourgeault, I., R. Dingwall & R. De Vries, 2010: The Sage Handbook of Qualitative
Methods in Health Research. London: Sage
Das Handbuch bietet eine umfassende Einführung in Theorien, Ansätze, interdisziplinäre
Perspektiven sowie Erhebungs- und Auswertungsverfahren qualitativer Gesundheits-
forschung. Unter Einbezug von Fallmaterial wird die Leistungsfähigkeit qualitativer
Gesundheitsforschung unter Beweis gestellt und aktuelle Herausforderungen diskutiert.

t Schaeffer, D. & G. Müller-Mundt (Hrsg.), 2002: Qualitative Gesundheits- und Pflege-


forschung. Bern: Verlag Hans Huber.
Der zunehmenden Bedeutung qualitativer Methoden in der Gesundheits- und Pflege-
forschung trägt dieses Buch Rechnung und bietet Einblicke in zentrale methodologische
Traditionen (Ethnographie, Grounded Theory, Fallrekonstruktion etc.) und führt anhand
von Forschungsbeispielen in diese Methoden ein.

t Corbin, J.M. & A.L. Strauss, 1993: Weiterleben lernen. Chronisch Kranke in der Familie.
München: Piper.
Diese Studie zählt bereits zu den Klassikern der medizinsoziologischen Forschung. Die
Verläufe chronischen Krankseins, die sich von dem medizinischen Krankheitsverlauf un-
terscheiden, die Auswirkungen der Erkrankung auf die Biographie- und Identitätsarbeit
wie auch insbesondere auf die Partnerschaft werden beleuchtet. Darüber hinaus werden
die Eigendynamik chronischer Krankheiten und das interaktive Krankheitsgeschehen
anhand des Modells der Verlaufskurve fallanalytisch dargestellt.

t Glaser, B.G. & A. Strauss, 1974: Interaktion mit Sterbenden. Beobachtungen für Ärzte,
Schwestern, Seelsorger und Angehörige. Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht.
Dieses Buch ist ein klassischer Text der medizinsoziologischen Forschung, der unseren
Umgang mit todkranken Patienten nachhaltig veränderte, indem sich unser Blick auf
Sterbeprozesse und gleichzeitig damit einhergehende typische Handlungsmuster sowie
Interaktionsverläufe zwischen Professionen und Patienten sowie Angehörigen veränderte.
Anhand ihrer gegenstandsbezogenen Theoriebildung (Grounded Theory) arbeiteten die
Autoren das Konzept der Bewusstheitskontexte heraus und verdeutlichten die Bedeutung
84 Heike Ohlbrecht

von strukturellen Merkmalen von sozialen Welten (Arenen) wie z. B. dem Krankenhaus,
als permanente Aushandlungsnetzwerke und Interaktionsordnungen.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.qualitative-gesundheitsforschung.de
Die Homepage des DFG-Netzwerkes „Qualitative Gesundheitsforschung“ informiert
über Tagungen, Publikationen und Forschungsaktivitäten.

Web http://www.krankheitserfahrungen.de
Diese Internetseite basiert auf Interviewstudien einer Forschergruppe der Universitäten
Freiburg und Göttingen. Hier erzählen Menschen von ihrem Leben zwischen Gesund-
heit und Krankheit, von ihren Erfahrungen mit der Medizin, von Veränderungen in
ihrem Alltag und von Unterstützung, die sie erhalten.

Web http://www.uni-magdeburg.de/zsm/
Das Zentrum für Sozialweltforschung und Methodenentwicklung (ZSM) der Universität
Magdeburg richtet jährlich den bundesweiten Workshop zur qualitativen Bildungs-,
Beratungs- und Sozialforschung aus.

Web http://www.qualitative-forschung.de/methodentreffen/
Das Methodentreffen in Berlin ist die größte Jahresveranstaltung zu qualitativen
Forschungsmethoden im deutschsprachigen Raum.

Literatur

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umzugehen. München: C.H. Beck
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Geschichte der Soziologie von Gesundheit
und Krankheit 6
Thomas Gerlinger
6 Geschichte der Soziologie von Gesundheit
und Krankheit

Überblick
▶ Welche Veränderungen kennzeichnen die Geschichte der Soziologie von Gesundheit
und Krankheit?
▶ Welche Themenverschiebungen haben sich in der jüngeren Zeit eingestellt?
▶ Welcher gesellschaft liche Wandel kommt im Themenwandel zum Ausdruck?
▶ Welche Herausforderungen stellen sich für die Soziologie von Gesundheit und
Krankheit?

1 Einleitung

Die Soziologie von Gesundheit und Krankheit ist ein im deutschen Wissenschaftssystem
bisher wenig gebräuchlicher, aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum übernomme-
ner Begriff. Im Folgenden wird darunter die Beschreibung und Erklärung jener sozialen
Phänomene verstanden, die auf den Erhalt, die Gefährdung und die Wiederherstellung
von Gesundheit sowie für die Bewältigung gesundheitlicher Beeinträchtigungen von In-
dividuen und Populationen Einfluss nehmen. Sie umfasst sowohl die Wahrnehmungen
und das Handeln individueller Akteure (Mikroebene) als auch die von diesen geschaffenen
Institutionen und gesellschaft lichen Strukturen, durch welche die Gesundheit von Indi-
viduen und Populationen beeinflusst wird (Meso- und Makroebene).
Damit umfasst die Soziologie von Gesundheit und Krankheit ein sehr breites Spekt-
rum von Gegenstandsbereichen. Medizinsoziologie, die in Deutschland weit verbreitete
Bezeichnung, ist aus dieser Perspektive eine Teildisziplin der Soziologie von Gesundheit
und Krankheit. Sie befasst sich mit demjenigen Ausschnitt dieser sozialen Aspekte, die für
die Krankenversorgung und für medizinische Interventionen zur Krankheitsvermeidung
relevant sind. Der Begriff „Gesundheitswissenschaften“ bezeichnet demgegenüber die Ge-
samtheit derjenigen Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit dem Gegenstand „Gesundheit“
befassen. Dazu zählen neben der Soziologie vor allem Medizin, Psychologie, Pädagogik,

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
90 Thomas Gerlinger

Politikwissenschaft und Ökonomie. Je nach Themenschwerpunkt weist die Soziologie zu


jeder dieser Disziplinen große Überschneidungsbereiche auf.
Im Folgenden kann es nicht darum gehen, näher auf die Befunde aus diesen Analysefel-
dern einzugehen. Vielmehr sollen der Wandel von Problemperspektiven und die Verschie-
bung von Themen sowie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieses Wandels im
Mittelpunkt stehen. Der folgende Abschnitt geht zunächst auf jene Forschung über soziale
Bezüge von Gesundheit und Krankheit ein, die der Etablierung der Soziologie als einer
eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin vorausgeht. Die anschließende Darstellung
konzentriert sich auf die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg.

2 Soziologie der Krankheitsentstehung: Die Anfänge

Beobachtungen und Analysen des Zusammenhangs von Gesellschaft und Gesundheit bzw.
Krankheit wurden lange vor der Herausbildung der Soziologie als wissenschaftlicher Dis-
ziplin durchgeführt und reichen weit in die Geschichte sozialen Denkens zurück. Bereits
bei Hippokrates und den Philosophen der griechischen und römischen Antike finden sich
Betrachtungen über Gesundheit und Krankheit, die sich um eine Verallgemeinerung von
Alltagsbeobachtungen bemühen, ebenso in der mittelalterlichen Scholastik und Philoso-
phie, vor allem mit dem Ziel, um Erkenntnisse für die Regeln eines gesundheitsgerechten
Verhaltens zu ermitteln. In der frühen Neuzeit und während der Industrialisierung werden
diese Beobachtungen nicht nur systematisiert, sondern tritt ein weiterer Aspekt hinzu: Sie
dienen nun dazu, organisierte Anstrengungen zu unternehmen, um Krankheitsquellen zu
erkennen, auszuschalten und so die öffentliche Gesundheit zu verbessern. Durch systema-
tische Beobachtungen gewonnene Erkenntnisse über Krankheitsentstehung werden in den
Dienst der entstandenen oder im Entstehen begriffenen National- und Territorialstaaten
gestellt (Labisch 1992).
Im gesamten 19. Jahrhundert waren die sozialen Ursachen der Krankheitsentstehung
und deren Vermeidung ein bedeutendes Thema der Gesellschaftsanalyse. Davon zeugen
etwa die Arbeiten von Engels über die „Lage der arbeitenden Klasse in England“, Virchows
Analysen über die Lebensbedingungen in Oberschlesien oder die Untersuchungen der ent-
stehenden Hygienebewegung in Frankreich und Deutschland über die sozialen Ursachen
von Krankheiten. Diese Analysen wurden nicht von der Soziologie, die sich erst gegen Ende
des 19. Jahrhunderts als eine eigenständige wissenschaftliche und akademische Disziplin
zu etablieren begann vor allem von der sich herausbildenden Sozialmedizin getragen. Über
mehrere Jahrzehnte blieb Emil Durkheims klassische Untersuchung über den Selbstmord
die einzige wirkungsmächtige Untersuchung, aus der Feder eines Soziologen stammende
Untersuchung über den Zusammenhang von Gesellschaft und Gesundheit.
6 Geschichte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit 91

3 Dominanz der Medizinsoziologie

Die Soziologie von Gesundheit und Krankheit etablierte sich erst nach dem Zweiten
Weltkrieg als ein eigenständiger Gegenstand soziologischer Analyse. In den Nachkriegs-
jahrzehnten stand sie unter der Dominanz der Medizinsoziologie: Die Soziologie der auf
die organisierte professionelle Krankenversorgung spezialisierten Akteure, Institutionen
und Interaktionen war in dieser Zeit das vorherrschende Thema. Verschiedene Gründe
trugen dazu bei. Von besonderer Bedeutung war sicherlich, dass mit den Arbeiten Talcott
Parsons zur Medizinsoziologie (Parsons 1958) ein international ausstrahlungskräftiger
Bezugspunkt für die wissenschaftliche Debatte existierte. Die große Wirkung, die Parsons
in diesen Jahren entfalten konnte, ist nicht allein darauf zurückzuführen, dass er seine
Theorie der Arzt- und der Patientenrolle in einen gesellschaftstheoretischen Rahmen
einfügte und die Medizinsoziologie für die soziologische Theoriebildung anschlussfähig
machte. Noch wichtiger dürfte gewesen sein, dass er in seiner strukturfunktionalistischen
Handlungstheorie bereits das vorgefundene – als ausdifferenziertes Teilsystem gedachte
– Krankenversorgungssystem in den Mittelpunkt rückte. Parsons interessierte vor allem
die Frage, unter welchen Bedingungen es seine Funktion – die Wiederherstellung der
aufgrund von Krankheit eingeschränkten Leistungsfähigkeit von Individuen – optimal
erfüllen kann, und nicht das Problem, wie die gesellschaftlichen Teilsysteme dem Ziel
der Gesunderhaltung von Individuen oder Populationen Geltung verschaffen können.
Insofern fügten sich die theoretischen Grundannahmen seiner Medizinsoziologie in die
gesellschaftliche Wahrnehmung des Gesundheitswesens seiner Zeit gut ein.
Insofern widerspiegelt sie auch den seit den 1950er-Jahren in den westlichen Gesell-
schaften forcierten Aufstieg der individual-kurativen Medizin, der von der Entwicklung
neuer technischer Diagnose- und Therapieverfahren und vom Fortschrittsoptimismus
des Zeitgeistes getragen wurde. Diese Entwicklung lenkte das Interesse auf die Analyse
des ausdifferenzierten Teilsystems der Krankenbehandlung und nicht etwa auf die Frage
nach den gesellschaftlichen Bedingungen für die Erhaltung von Gesundheit. Dies gilt
nicht zuletzt auch für die Bundesrepublik Deutschland. Hier kam hinzu, dass nach dem
Nationalsozialismus und seinen Verbrechen bevölkerungsbezogene Strategien der Gesund-
heitssicherung einstweilen diskreditiert waren und zunehmend ins Hintertreffen gerieten.
Vor allem in Anschluss an Parsons standen seit den späten 1950er-Jahren Probleme
der professionellen Krankenversorgung im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, insbe-
sondere das Krankenhaus als Versorgungsinstitution und hier wiederum die Soziologie
des Arzt-Patient-Verhältnisses (Rohde 1962). Jedoch blieb die Anzahl der Untersuchungen
insgesamt eher gering. Zwar fanden neben den gesellschaftlichen Aspekten der Kranken-
versorgung auch Ursachen der Krankheitsentstehung Beachtung (König & Tönnesmann
1958, Pflanz 1962), allerdings erlangte epidemiologische Forschung, seinerzeit an wenigen
Instituten für Sozialmedizin angesiedelt, keinen großen Stellenwert. Insbesondere Analysen
zur gesundheitlichen Ungleichheit konnten in Zeiten der „nivellierten Mittelstandsgesell-
schaft“ (Schelsky) als verzichtbar gelten. Soziale Aspekte der Krankheitsentstehung und
Krankheitsbewältigung wurden vereinzelt auch von Seiten der Medizin thematisiert, so
92 Thomas Gerlinger

etwa von Alexander Mitscherlich oder Thure von Üexkull, aber insgesamt blieben diese
Impulse schwach.

4 Medizinkritik – Institutionalisierung der Medizinsoziologie –


Ausdifferenzierung von Forschungsthemen

Für die Entwicklung der Soziologie von Gesundheit und Krankheit stellten der von der
Studentenbewegung ausgehende Kulturwandel in Gesellschaft, Universität und Wissen-
schaft eine bedeutende Weichenstellung dar. Die Modernisierung und Expansion des
Hochschul- und Wissenschaftssystems schufen neue Rahmenbedingungen für soziologi-
sche Forschung, die sich auch auf die Gesundheits- und Krankheitssoziologie auswirkten
und dort bis heute spürbar sind.

4.1 Kritik an Medizin und Gesundheitssystem

Dieser Wandel betraf vor allem das Gesundheitssystem und die Medizin selbst. Zunächst
war es der kritische Impetus des Zeitgeistes, der sich auch in diesen Bereichen bemerkbar
machte. So entstanden in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren zahlreiche Publikati-
onen, die sowohl das staatliche Handeln in der Gesundheitspolitik als auch die Ausrichtung
der Gesundheitsdienste und der Medizin einer grundsätzlichen Kritik unterzogen – eine
Kritik, deren wissenschaftliche Provenienz und politischen Konsequenzen durchaus he-
terogen waren. Mit Blick auf das Gesundheitssystem und die Gesundheitspolitik richtete
sie sich auf die Mängel im System der Krankenversorgung – vor allem die unzureichende
Vernetzung der unterschiedlichen Segmente des Versorgungssystems, die Defizite in der
psychosozialen Versorgung, die individual-kurative Ausrichtung der Gesundheitsdienste
und den geringen Stellenwert der Krankheitsprävention (z. B. von Ferber 1971). Aber auch
die pathogenen gesellschaftlichen Verhältnisse selbst und die Unfähigkeit des Staates, die
soziale Ungleichheit in der Krankheitsverteilung zu verringern, waren wichtige Elemente
der Kritik. Der Medizin wiederum wurden ihre einseitig naturwissenschaftliche Ausrich-
tung, die selbst betriebene Befestigung ihrer Dominanz im System der gesundheitlichen
Versorgung, nicht zuletzt die Überformung ärztlichen Handelns durch monetäre Interessen
und eine Stabilisierung pathogener gesellschaftlicher Verhältnisse vorgehalten.
Die seinerzeit sehr selbstbewusst und massiv vorgetragene Kritik setzte große Hoffnungen
in die Anwendung soziologischer Erkenntnisse auf die Medizin. Eines ihrer wichtigsten
Motive bestand darin, wie es im Editorial des Argument-Sonderbandes „Kritik der bür-
gerlichen Medizin“ hieß, durch die Einbeziehung von Wissenschaftsdisziplinen wie der
Soziologie „die Medizin auf eine Weise zum Untersuchungsgegenstand zu machen, der sie
… ihrem Selbstverständnis …, nämlich Naturwissenschaft zu sein, entzieht“ (Kritik der
bürgerlichen Medizin 1970: 1). Diese Kritik, gebündelt vorgetragen auf dem Marburger
Kongress „Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt“ im Jahr 1973 (Deppe et al. 1973),
6 Geschichte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit 93

formulierte Probleme des Gesundheitswesens und der Medizin, die in der Folgezeit
Schwerpunkte gesundheits- und medizinsoziologischer Forschung wurden und zu einem
erheblichen Teil noch heute Wissenschaft und Politik beschäftigen (s. u.). Manches von
dieser Kritik an Medizin, Gesundheitsdiensten und Gesundheitspolitik hat Ivan Illich
aufgenommen und wenige Jahre später – allerdings versehen mit einer deutlich zivilisati-
onskritischen Wendung – mit großer internationaler Resonanz reformuliert (Illich 1977).

4.2 Institutionalisierung der Medizinsoziologie und


Ausdifferenzierung von Forschungsthemen

Zu Beginn der 1970er-Jahre wurden im Zuge der Reform der Medizinerausbildung an


zahlreichen medizinischen Fachbereichen Institute und Professuren für Medizinische
Soziologie eingerichtet, deren Inhaber in den folgenden Jahrzehnten Träger medizin- und
gesundheitssoziologischer Forschung waren. Institutionell wurde soziologische Forschung
über Gesundheit und Krankheit damit zunächst eng an die Medizinische Soziologie ange-
bunden. Diese Entwicklungen führten in der Folgezeit zu einem deutlichen Aufschwung
und zu einer Ausdifferenzierung der einschlägigen Forschung. Ein Schwerpunkt blieb die
Soziologie des Krankenhauses und des Arzt-Patient-Verhältnisses, für welche die Arbeiten
Goffmans und Freidsons wichtige Impulse lieferten (siehe Bittlingmayer in diesem Band).
Insbesondere die Kommunikation zwischen Arzt und Patient, häufig mit Blick auf die
Arbeits- und Versorgungssituation im Krankenhaus, aber auch die Wahrnehmung medi-
zinischer Einrichtungen durch die Patienten wurden nun zum Untersuchungsgegenstand
(z. B. Siegrist 1978, Raspe 1983). Normativer Hintergrund vieler dieser Untersuchungen
war die Frage nach den Möglichkeiten humaner Krankenbehandlung in bürokratischen
Organisationen. Die einschlägigen Analysen förderten vielfältige Defizite in der Patien-
tenversorgung zu Tage, u. a. die Verbreitung asymmetrischer Verbalhandlungen in der
Arzt-Patient-Kommunikation, insbesondere die Diskrepanz zwischen den Informations-
bedürfnissen von Patienten und der Informationsvermittlung durch Ärzte. Als wichtige
Ursachen wurden die Arbeitsorganisation und die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus,
aber auch Mängel in der ärztlichen Ausbildung herausgearbeitet.
Daneben bildete sich der Typus einer Gesundheitssystemforschung heraus, deren Auf-
merksamkeit sich nicht primär auf die Mikroprozesse der Krankenversorgung, sondern auf
die institutionelle Konfiguration ihrer Einrichtungen und auf die gesellschaftspolitischen
Makrobedingungen der Krankenversorgung richtete (siehe Wendt in diesem Band). Die
bereits in den frühen 1970er-Jahren konstatierten Mängel in der Organisation der medizini-
schen Versorgung wurden nun einer eingehenden Analyse unterzogen. Im Zusammenhang
mit der Diskussion von Alternativen entwickelten sich auch Ansätze einer international
vergleichenden Gesundheitssystemforschung. Seit Mitte der 1970er-Jahre zogen die Aus-
wirkungen der einsetzenden Kostendämpfungspolitik auf die medizinische Versorgung
eine wachsende Aufmerksamkeit auf sich. Allerdings suchte diese Forschungsrichtung
zunächst nur in Ausnahmefällen den Bezug zur sozial- und politikwissenschaftlichen
Theoriebildung. In engem Zusammenhang mit der Analyse der Versorgungsinstitutionen
94 Thomas Gerlinger

und unter Anknüpfung an Freidsons Arbeiten (1970, 1979) wurde auch die Soziologie der
ärztlichen Profession zum Forschungsgegenstand. Wichtige Themen waren die Stellung
des niedergelassenen Arztes als Unternehmer sowie die Grundlagen und Auswirkungen
der institutionalisierten Machtstellung der Ärzteschaft.
Auch wenn die Forschungsfragen weiterhin überwiegend der Perspektive der professi-
onellen Krankenbehandlung verhaftet blieben, gewannen jenseits dieses Problemkreises
angesiedelte Themen an Bedeutung. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang besonders
erwähnenswert. Zum einen richtete sich das Interesse soziologischer Forschung verstärkt
auf die Problemwahrnehmung und die Handlungspotenziale der Patienten – und zwar
nicht in ihrer Rolle als Objekte in den Institutionen der Krankenversorgung, sondern als
potenziell autonome Akteure im Prozess der sozialen Bewältigung von – zumeist chronischen
– Erkrankungen (z. B. Badura & von Ferber 1981, Trojan 1986, Gerhardt 1986). Auch sie
knüpfte an die Kritik der frühen 1970er Jahre an, die sich auf die Vernachlässigung psycho-
sozialer Aspekte des Krankseins, auf die Geringschätzung der rehabilitativen Versorgung
und auf die Expertendominanz im Versorgungsprozess richtete. Diese Forschungsrichtung
erhielt nun wichtige Impulse aus der Gesundheitsbewegung. In engem Bezug zum Thema
„Selbsthilfe“ stand auch die wachsende Aufmerksamkeit für den Zusammenhang zwischen
Krankheitsbewältigung und „sozialer Unterstützung“ (z. B. Badura 1981).
Zum anderen wandte sich die soziologische Forschung zu Gesundheit und Krankheit
stärker den gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen von Krankheit zu. Neben der
Rolle kritischer Lebensereignisse gewann vor allem der Einfluss der Arbeitsbedingungen
auf die Krankheitsentstehung an Bedeutung. Die einschlägige soziologische Forschung
interessierte sich – unter dem Einfluss der Stressforschung – für die psychosozialen Ge-
sundheitsbelastungen der Arbeit, insbesondere mit Blick auf den Herzinfarkt. Sie konnte
an die Forschungen zur Humanisierung der Arbeit in den Arbeitswissenschaften und der
Arbeitssoziologie anknüpfen. Jedoch spielten sozialepidemiologische Untersuchungen und
sozialwissenschaftliche Aspekte der Prävention in der Soziologie von Gesundheit und
Krankheit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bis in die frühen 1980er-Jahre noch
eine untergeordnete Rolle.

4.3 Rückwirkungen soziologischer Entwicklungstrends auf die


Soziologie von Gesundheit und Krankheit

Bereits seit den 1950er-Jahren hatten sich soziologische Forschungsinstitute vereinzelt mit
gesundheitssoziologischen Themen befasst (z. B. König & Tönnesmann 1958). Nun war
es die starke Ausweitung und Ausdifferenzierung soziologischer Forschung im Zuge des
Hochschulausbaus, die Einfluss auf die Entwicklung der Soziologie von Gesundheit und
Krankheit nahm. Dies geschah in zweierlei Hinsicht: Zum einen wurden im Verlauf dieses
Wandels neue gesundheitsrelevante Themen Gegenstand soziologischer Forschung; zum
anderen wurden theoretische Ansätze aus der Soziologie auf den Gegenstand Gesundheit
angewandt und trugen dazu bei, neue Perspektiven auf den sozialen Umgang mit Ge-
sundheit und Krankheit zu entwerfen. Dies geschah aus unterschiedlichen Perspektiven.
6 Geschichte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit 95

Zu Beginn der 1970er-Jahre schlug sich die Renaissance marxistischer Theoriebildung


auch in der Soziologie von Gesundheit und Krankheit nieder. Die Kategorien der Marxschen
politischen Ökonomie wurden in einer Reihe von Analysen auf das Gesundheitswesen
angewendet, um die Interessen von Staat, Kapital, Ärzten, Pflegekräften und Patienten
und die daraus erwachsenden Widersprüche im Gesundheitssystem zu analysieren (z. B.
Ripke 1970). Gegenüber der Medizin mündete diese Kritik in den Vorwurf, gesellschaftliche
Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern und gesellschaftliche Ursachen der Krankheits-
entstehung zu stabilisieren.
Der seit Parsons prominenteste Versuch einer gesellschaftstheoretischen Interpretation
von Medizin und Krankenversorgung geht auf Niklas Luhmann zurück (1990). Luhmann
begreift das Gesundheitssystem als ein autopoietisches Funktionssystem der Gesellschaft,
dessen Operationen sich an einer binären Codierung orientieren und das sich entlang dieser
Codierung ausdifferenziert. Durch die Selbstreproduktion und Ausdifferenzierung entlang
eines eigenen Codes sei das System der Krankenbehandlung wie andere Funktionssyste-
me einer externen Steuerung nicht zugänglich. Die für das Krankenbehandlungssystem
charakteristische binäre Codierung sieht Luhmann in der Unterscheidung von „krank“
und „gesund“. Allerdings weise es gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilsystemen
eine Besonderheit auf: Während üblicherweise der Positivwert die Anschlussfähigkeit der
Operationen des Systems sichere, der Negativwert lediglich der Kontingenzreflexion diene,
also zur „Vorstellung, es könnte auch anders sein“ (Luhmann 1990: 186), verhalte es sich
im Krankenbehandlungssystem umgekehrt. Hier orientierten sich die Operationen des
Systems am Wert „krank“, nicht am Wert „gesund“. Nur Krankheit löse Operationen aus,
sei also der Positivwert, „Gesundheit“ der Negativwert. Die Eigendynamik dieser binären
Codierung begünstige damit eine Hypostasierung von „Krankheit“.
Bezog sich diese Perspektive vor allem auf das System der organisierten Krankenversor-
gung, so erlangten mit Blick auf das individuelle Gesundheits- und Krankheitsverhalten
– im Anschluss an Berger und Luckmann – vor allem konstruktivistische Ansätze große
Bedeutung. Im Zentrum steht hier die Überlegung, dass es letztlich die Wahrnehmungen
und Deutungen der Individuen, also ihre kognitiven Konstruktionen, sind, die ihr Handeln
lenken. Mit Blick auf das Gesundheits- und Krankheitsverhalten rücken damit die subjek-
tiven Gesundheits- und Krankheitstheorien in den Mittelpunkt, also die Symptomtoleranz
und die Symptomdeutung sowie die Einschätzung von Krankheitsursachen und die Be-
wertung der eigenen Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf den Erhalt der Gesundheit
und die Bewältigung von Krankheit (siehe Schaeffer und Haslbeck in diesem Band). Die
betreffende Forschung hat herausgearbeitet, dass die gesundheits- und krankheitsbezoge-
nen Deutungen eng mit der individuellen Sozialisationserfahrung und Lebensgeschichte
verknüpft sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch typische Unterschiede z. B. in
Abhängigkeit von Geschlecht, von Schichtzugehörigkeit oder kulturellem Hintergrund
feststellen (z. B. Gawatz & Novak 1993). Konstruktivistische Ansätze fanden aber nicht
nur Anwendung auf die Gesundheits- und Krankheitskonstruktionen von Individuen,
sondern auch auf die Medizin als Instanz der Krankheitsdefinition. Hier rückten die
bisweilen fragwürdigen Versuche der Medizin in den Mittelpunkt, atypische Symptome
96 Thomas Gerlinger

oder Abweichungen von Normwerten zu behandlungsbedürftigen Krankheitsbildern


zusammenzuführen (z. B. Herrmann 1997).

5 Perspektivenwechsel: Public Health und


Gesundheitswissenschaften – Salutogenese und
Gesundheitsförderung

In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre begann sich ein Perspektivenwechsel in der Dis-
kussion durchzusetzen, der mit den Begriffen „Public Health“, „Salutogenese“ und „Ge-
sundheitsförderung“ verbunden ist und in den 1990er Jahren in die Etablierung der
Gesundheitswissenschaften in der deutschen Hochschul- und Wissenschaftslandschaft
mündete. In diesem Wandel verdichteten sich unterschiedliche Entwicklungen, die sich
zum Teil bereits in den 1970er Jahren angedeutet hatten: die im Angesicht des Bedeutungs-
zuwachses chronischer Erkrankungen wahrgenommenen Grenzen einer vornehmlich
naturwissenschaftlich-kurativen Individualmedizin, eine einsetzende Wiederbelebung
des Präventionsgedankens, die im Zuge des Wertewandels wachsende Bedeutung von
Gesundheit als einem „Selbstverwirklichungswert“ und – nicht zuletzt – ein Wandel des
wissenschaftlichen Gesundheits- und Krankheitsverständnisses, in dem, anknüpfend an
sozialpsychologische Forschungen in den USA (z. B. Bandura 1977, Antonovsky 1987, Syme
1992) Gesundheit als eine gelungene Balance zwischen soziogenen Anforderungen und
Belastungen einerseits und individuellen Handlungsressourcen andererseits interpretiert
wird. Eine derartige Deutung lenkt die Aufmerksamkeit darauf, die Schaffung von Kontext-
bedingungen, also von gesundheitsförderlichen Verhältnissen in der sozialen Lebenswelt
der Individuen, mit der Stärkung individueller Bewältigungsmöglichkeiten (enabling,
empowerment) zu verknüpfen (z. B. Berkman & Syme 1979). Gerade mit Blick auf die ge-
sundheitlichen Belastungen in der Arbeitswelt sind diese Interpretationen weiterentwickelt
und empirisch untermauert worden, so etwa im Anforderungs-Kontroll-Modell (Karasek
& Theorell 1990) oder im Modell der Gratifikationskrisen (Siegrist 1996)
Public Health stellt einen grundlegenden Perspektivenwechsel auf Gesundheit und Krank-
heit dar. Nicht mehr die medizinische Bekämpfung individueller Erkrankungen, sondern
der Erhalt und die Förderung der Gesundheit von Populationen stehen im Zentrum dieser
Perspektive (z. B. Rosenbrock et al. 1994). Mit den in diesem Kontext entwickelten Konzep-
ten einer „New Public Health“ ging ein Wandel wissenschaftlicher Erkenntnisinteressen
einher: Nun gewann die Frage an Bedeutung, wie Strategien der Gesundheitssicherung
unter Beteiligung der Betroffenen entwickelt werden, die Besonderheiten ihrer Lebenswei-
se und ihres sozialen Umfeldes respektieren sowie vorwiegend mit nicht-medizinischen
Instrumenten intervenieren. Public Health und Gesundheitswissenschaften haben damit
ein starkes sozialwissenschaftliches Standbein.
6 Geschichte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit 97

6 Jüngere Entwicklungen

Die Soziologie von Gesundheit und Krankheit hat auch in den zurückliegenden Jahren
erhebliche Veränderungen durchlaufen, die den Verwendungszweck, die institutionelle
Struktur und die thematischen Schwerpunkte der Forschung betreffen. Ein wichtiger
Anstoß für diese Veränderungen geht von der wachsenden Bedeutung von Wissenschaft
als Medium der Politikberatung aus, ein Prozess, der sich auch im Gesundheitswesen
niederschlägt. Hier stellen vor allem die Ausdifferenzierung von Versorgungs-, Vergü-
tungs- und Finanzierungsformen sowie die Wahrnehmung neuer Aufgaben auf dem Gebiet
der Prävention und Gesundheitsförderung durch die Gesetzliche Krankenversicherung
für viele Akteure (z. B. Ministerien, Krankenkassen) neue Handlungsanforderungen mit
oftmals ungewissen Auswirkungen auf die Entwicklung von Ausgaben, Inanspruchnahme
und Versorgungsqualität dar. Die Akteure sind vor diesem Hintergrund stark an wissen-
schaftlich fundierten Evaluationen interessiert, um ihre Ungewissheit zu reduzieren und
zugleich valide Informationen für die Definition ihrer Interessen, Ziele und Handlungs-
strategien zu erhalten.
Vor diesem Hintergrund hat die Anwendungsorientierung gesundheitssoziologischer
Forschung an den Hochschulen in Gestalt drittmittelfinanzierter (Auftrags)-Forschung
spürbar an Bedeutung gewonnen. Sie wird noch durch den parallelen staatlichen Rückzug
aus der Hochschulfinanzierung verstärkt, weil dieser die Abhängigkeit der Hochschulen
von der Drittmitteleinwerbung erhöht. Der wachsende Bedarf an wissenschaftlicher
Politikberatung und Legitimationsbeschaffung findet seinen Ausdruck aber auch im
Bedeutungszuwachs von außerhalb der Hochschule angesiedelter Forschung: Eine Reihe
von Akteuren verfügt mittlerweile über eigene wissenschaftliche Institute, an denen ge-
sundheitssoziologische Fragen bearbeitet werden, und auch private und stiftungseigene
Forschungseinrichtungen haben an Bedeutung gewonnen. In Verbindung mit diesen
Veränderungen, aber beileibe nicht durch sie allein herbeigeführt, hat sich auch das von
der Soziologie von Gesundheit und Krankheit bearbeitete Themenspektrum gewandelt.
Neue Forschungsfelder sind hinzugekommen oder haben ein stärkeres Gewicht erlangt,
andere werden vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und gesundheitspolitischer Ver-
änderungen unter veränderten Fragestellungen bearbeitet.
In der Gesundheitssystemforschung kristallisierten sich in den 1990er-Jahren neue
Themen und Fragestellungen heraus, die sich in erster Linie aus den beschleunigten
Wandlungsprozessen in den Gesundheitssystemen Deutschlands und anderer Länder
Europas ergaben. Das Forschungsinteresse richtete sich nun auf die Charakterisierung des
sich neu herausbildenden Steuerungssystems und auf den mit dem Umbau des Gesund-
heitssystems einhergehenden Wandel der Funktionen, Interessen und Handlungsorien-
tierungen wichtiger Akteure (z. B. Wendt 2013; Rosenbrock & Gerlinger 2014). Da auch
die Gesundheitssysteme anderer Länder Reformprozessen unterliegen, hat das Interesse
an internationalen Gesundheitssystemvergleichen deutlich zugenommen (z. B. Wendt
2013; siehe auch Wendt in diesem Band). Im Vordergrund steht dabei zum einen die Frage
nach der Entwicklungsrichtung und dem Verhältnis von Heterogenität, Konvergenz und
98 Thomas Gerlinger

Divergenz von Gesundheitssystemen, zum anderen die Frage nach der Eignung fremder
Systemkomponenten für hiesige Reformen der Finanzierungs-, Versorgungs- und Regu-
lierungsstrukturen.
Andere Untersuchungen gehen der Frage nach, ob und auf welche Weise sich im Zuge
des Wandels der Regulierung im Gesundheitssystem die Handlungsorientierungen ein-
zelner Akteure verändern. Die Aufmerksamkeit richtete sich hier insbesondere auf die
Krankenkassen (z. B. Bode 2003) und die Krankenhäuser bzw. Krankenhausärzte (z. B.
Vogd 2011; siehe auch Wilkesmann in diesem Band). Diese Forschungsrichtung knüpft
stark an organisationssoziologische Diskussionsstränge an, zum Teil auch unter Rückgriff
auf systemtheoretische Interpretationen.
Zu den Feldern der Soziologie von Gesundheit und Krankheit, die etwa seit Mitte der
1990er Jahre einen rasanten Aufstieg erlebt haben, zählt die Versorgungsforschung. Im
Mittelpunkt steht dabei die Analyse von Versorgungsprozessen der Leistungsfähigkeit von
Teilsektoren, sowie einzelnen Institutionen der Versorgung (siehe Pfaff und Pförtner in
diesem Band). Der Aufschwung der Versorgungsforschung steht in engem Zusammenhang
mit dem erwähnten Wandel der Gesundheitspolitik und dem Interesse der Akteure, valide
Informationen über Kosten und Nutzen von Leistungen und Versorgungseinrichtungen zu
erhalten. Gesundheitssoziologische Fragestellungen spielen vor allem bei der Evaluation
neuer Versorgungsformen (z. B. Hausarztmodelle, Disease-Management-Programme)
eine Rolle.
Versorgungsforschung unterwirft die medizinisch-pflegerische Leistungserbringung
einer rigorosen Effektivitäts- und Effizienzkontrolle. Sie hat zahlreiche Qualitätsmängel
offengelegt und vielfältige Anstöße für die Verbesserung von Versorgungsprozessen und für
die Modernisierung von Strukturen gegeben. Ihre methodischen Standards befähigen sie
zu einer im Vergleich zu den frühen 1970er Jahren oftmals weit präziseren Bewertung und
Kritik von Versorgungsprozessen und -strukturen. Allerdings ist ihre Perspektive auf die
Versorgungspraxis eine andere – und oftmals auch eingeschränkter – als diejenige, welche
die frühere Kritik einnahm. Einer großen Zahl der einschlägigen Studien ist nicht mehr
die Frage nach den Grenzen der kurativen oder pflegerischen Versorgung und den daraus
sich ergebenden Präventionsanforderungen das zentrale Anliegen, sondern die nach den
Defiziten von Medizin und Pflege bei der Wahrnehmung ihres Versorgungsauftrages. In
der Konsequenz geht es primär zumeist darum, die Rationalität der kurativen Intervention
zu steigern, nicht darum, ihre Rolle zu hinterfragen.
Mit der partiellen Rückbesinnung auf den Stellenwert der Krankheitsvermeidung
und der Erweiterung der Krankenkassenaufgaben um Felder der nicht-medizinischen
Prävention und der Gesundheitsförderung erfuhr die Präventionsforschung eine deutli-
che Aufwertung. Auch angesichts rigiderer Qualitätsanforderungen spielt hier die Frage
eine wichtige Rolle, wie einschlägige Projekte beschaffen sein müssen, um dauerhafte
gesundheitsgerechte Verhaltensänderungen zu ermöglichen. Insbesondere sind dafür die
Erfolgsbedingungen komplexer Interventionen von Interesse, die dem wechselseitigen
Zusammenhang von Verhaltens- und Verhältnisänderung Rechnung tragen. Neben dem
6 Geschichte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit 99

Setting „Arbeit“ zieht die Schule als Ort von Prävention und Gesundheitsförderung eine
wachsende Aufmerksamkeit auf sich.
Im Zuge des Aufstiegs von Public Health erlebte auch die lange Zeit vernachlässigte
und rückständige Sozialepidemiologie in Deutschland eine Renaissance (siehe Lampert in
diesem Band). Der Ausbau sozialepidemiologischer Forschung an den Hochschulen schuf
Kapazitäten zur Rezeption der internationalen Forschungsentwicklung. Die international
vergleichende Sozialepidemiologe leistet bereits seit geraumer Zeit wichtige Beiträge zum
Verständnis gesundheitlicher Ungleichheiten und ihrer gesellschaftlichen Determinanten.
Dabei ist sie u. a. – z. B. unter Bezugnahme auf die Wohlfahrtsstaatstypologie Esping-An-
dersens – um eine Verknüpfung von sozialepidemiologischer und Wohlfahrtsstaatsfor-
schung bemüht. Gleichzeitig nahmen der Bund, die Länder und zahlreiche Kommunen
den Aufbau einer Gesundheitsberichterstattung in Angriff.
Das zunehmende Interesse an epidemiologischen Fragen und der Bedeutungszuwachs
einer feministisch inspirierten Soziologie mündeten bereits in den 1980er-Jahren in die
Etablierung einer Frauengesundheitsforschung. In den Mittelpunkt rückten zunächst
die Spezifika des Morbiditätsspektrums von Frauen, hier insbesondere der als „Wider-
spruch von Morbidität und Mortalität“ charakterisierte Sachverhalt, dass Frauen zwar
eine deutlich längere Lebenserwartung, aber auch eine größere Krankheitshäufigkeit als
Männer aufweisen. Mittlerweile hat unter dem Begriff „Gender Health“ ein Wandel in
der Perspektive auf Frauengesundheit eingesetzt. „Gender Health“ geht davon aus, dass
die sozialen und biologischen Unterschiede der Geschlechter auch geschlechtsspezifische
Präventionsansätze und Versorgungsweisen erfordern (Kolip & Altgeld 2005; siehe auch
Kuhlmann in diesem Band). Dabei beschränkt sich die „Gender Health“-Perspektive nicht
auf Frauen, sondern schließt die Gesundheit von Männern ein.
Gesellschaftliche und gesundheitspolitische Veränderungen haben auch ein neues
Interesse am Patienten entstehen lassen. Es richtet sich auf die Ermittlung und Berück-
sichtigung der multiplen Erwartungen und Bedürfnisse der Patienten sowie die Stärkung
ihrer Handlungsressourcen und Partizipationschancen (Ewert 2013). Schließlich ist das
Arzt-Patient-Verhältnis von ungebrochener Aktualität für die Soziologie von Gesundheit
und Krankheit (siehe Borgetto in diesem Band). Die Aufmerksamkeit konzentriert sich
angesichts der fortschreitenden Ökonomisierung des Versorgungsgeschehens und der
Debatten über Rationierung im Gesundheitswesen auf die Frage, nach welchen Krite-
rien Ärzte im Spannungsfeld von medizinischem Versorgungsbedarf und monetärem
Anreiz Behandlungsentscheidungen treffen, welche ethischen Dissonanzen aus diesem
Spannungsfeld für sie erwachsen und wie sich unter diesen Bedingungen die Bewertung
der medizinischen Versorgungsinstitutionen durch den Patienten verändert (z. B. Kühn
2005, Vogd 2011).
100 Thomas Gerlinger

7 Fazit

Die Soziologie von Gesundheit und Krankheit unterlag in den letzten Jahrzehnten einer
zunehmenden Ausdifferenzierung von Themenfeldern. Neben der in den Nachkriegsjahr-
zehnten zunächst dominierenden Analyse der organisierten Krankenversorgung haben
zahlreiche andere Themen an Bedeutung gewonnen, nicht zuletzt die bevölkerungs-(gruppen)
bezogene Beschreibung und Analyse der Krankheitsverteilung und Krankheitsentstehung
unter Einschluss der Determinanten gesundheitlicher Ungleichheit. Mit Blick auf die
Soziologie der Krankenversorgung haben vor allem Effizienz- und Qualitätsfragen eine
erhebliche Aufwertung erfahren. Diese Verschiebung und Ausdifferenzierung ist Ausdruck
des Wandels in der Wahrnehmung und Bewertung gesundheitsbezogener Problemla-
gen. Mit dieser thematischen Ausdifferenzierung ist die Soziologie von Gesundheit und
Krankheit vielfältiger – man könnte auch sagen: unübersichtlicher geworden. Die Über-
schneidungsflächen mit anderen Disziplinen sind zahlreicher und größer geworden. Bei
der empirischen Analyse hat der Rückgriff auf soziologische Theoriebildung in den letzten
Jahren an Bedeutung gewonnen. Die wechselseitige Zurkenntnisnahme von Befunden,
Debatten und Theorien trägt diesen Entwicklungen noch nicht ausreichend Rechnung.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Die Soziologie von Gesundheit und Krankheit etablierte sich erst in den Nachkriegs-
jahrzehnten als eigenständiger Teilbereich der Soziologie.
▶ Bis in die 1980er-Jahre befasste sie sich vor allem mit Fragen der organisierten
Krankenbehandlung.
▶ Die Soziologie von Gesundheit und Krankheit ist gekennzeichnet durch eine Aus-
differenzierung von Themenfeldern, bei denen Fragen der bevölkerungsbezogenen
Krankheitsverteilung und -entstehung sowie Fragen der Prävention an Bedeutung
gewonnen haben.
▶ Die Soziologie von Gesundheit und Krankheit ist vielfältiger geworden, ebenso die
Überschneidungen mit anderen Disziplinen.
▶ Die interdisziplinäre Zurkenntnisnahme von Befunden, Debatten und Theorien
bleibt noch hinter diesen Entwicklungen zurück.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Welche gesellschaftlichen Entwicklungen haben den Wandel von Themenfeldern
und Problemperspektiven der Soziologie von Gesundheit und Krankheit begünstigt?
6 Geschichte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit 101

▶ Inwiefern wird die Soziologie von Gesundheit und Krankheit gesellschaftlichen


Herausforderungen gerecht, inwiefern nicht?
▶ Welchen Themenfeldern sollte sich die Soziologie von Gesundheit und Krankheit
stärker zuwenden?
▶ Welche theoretischen Konzepte könnten sich dafür eignen?

Leseempfehlungen

t Freidson, E., 1970: Professional Dominance. The Social Structure of Medical Care.
Chicago: Aldine Publishing Company.
Dieses Werk ist eine wegweisende Analyse zur Rolle der Ärzteschaft in der Krankenver-
sorgung – ein Klassiker.

t Deppe, H.U., 1987: Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar. Zur Kritik der Gesund-
heitspolitik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Dieses Buch enthält eine sehr gute Darstellung der Entwicklung der Gesundheitsbewegung
und ihrer Kritik an der Gesundheitspolitik

t König, R. & M. Tönnesmann (Hrsg.), 1958: Probleme der Medizinsoziologie. Sonderheft 3


der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Dieser Sammelband steht am Anfang der Medizinsoziologie in Deutschland und verdeut-
licht die Problemwahrnehmungen am Ende der 1950er-Jahre.

t Kühn, H., 1993: Healthismus. Eine Analyse der Präventionspolitik und Gesundheits-
förderung in den USA. Berlin: edition sigma.
Hierbei handelt es sich um eine exzellente Analyse der Widersprüche von Präventions-
politik, die keineswegs nur die USA betreffen.

t Labisch, A., 1992: Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit. Frank-
furt/M., New York: Campus.
Dies ist eine unverzichtbare Einführung in die geschichtliche Herausbildung des Denkens
über Gesundheit und Krankheit.

t Vogd, W., 2011: Zur Soziologie der organisierten Krankenbehandlung. Weilerswist:


Velbrück Wissenschaft.
Dieses Buch enthält interessante theoriegeleitete Analysen zur Krankenbehandlung.

t Wendt, C., 2013: Krankenversicherung oder Gesundheitsversorgung? Gesundheitssys-


teme im Vergleich, 3. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
Dies ist eine exzellente Analyse des Wandels von Gesundheitssystemen im internationalen
Vergleich.
102 Thomas Gerlinger

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.forum-gesundheitspolitik.de
Hier finden sich aktuelle Informationen über ein breites Spektrum gesundheits-
politischer und -soziologischer Themen. Die Seite enthält sowohl eigene Analysen der
Autoren als auch zahlreiche Hinweise auf Quellen und Literatur.

Web http://www.commonwealthfund.org
Dies ist eine Webseite mit sehr guten Informationen über Entwicklungen von Ge-
sundheitssystemen.

Literatur

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San Francisco: Jossey-Bass.
Badura, B. & C.v. Ferber (Hrsg.), 1981: Selbsthilfe und Selbstorganisation im Gesundheitswesen. Die
Bedeutung nicht-professioneller Sozialsysteme für Krankheitsbewältigung, Gesundheitsvorsorge
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Untersuchungen in Akutkrankenhäusern. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.
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Vergleich, 3. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
II
Die soziale Produktion
von Gesundheit und Krankheit
Globalisierung und Gesundheit
Oliver Razum und Kayvan Bozorgmehr
7
7 Globalisierung und Gesundheit

Überblick
▶ Welches sind die großen Gesundheitsprobleme weltweit?
▶ Was ist Globalisierung und wie hängt sie mit Gesundheit zusammen?
▶ Welche Rolle spielen dabei die wirtschaftlichen Verhältnisse?
▶ Welche Ansätze werden zur Verbesserung der globalen Gesundheit diskutiert?

1 Einleitung

Globalisierung bezeichnet die verschiedenen Prozesse, durch die geografisch getrennt


lebende Bevölkerungen in engeren Kontakt kommen, wodurch sich eine Weltgesellschaft
herausbildet (Giddens & Sutton 2014). Globalisierung führt einerseits zu einer Zentrali-
sierung von Macht und Einfluss, etwa bei multinationalen Konzernen oder bei National-
staaten übergreifenden politischen Zusammenschlüssen wie der Europäischen Union (EU)
oder den Vereinten Nationen (UN). Deren Entscheidungen haben sozial weit reichende
Konsequenzen auch in geografisch entfernt liegenden Gesellschaften. Gleichzeitig entsteht
„von unten“ aus Bevölkerungsgruppen heraus ein Drang zur Dezentralisierung mit einer
zunehmenden Orientierung an eigenen Identitäten und Kulturen; diese müssen nicht mehr
im klassischen Sinne „lokal“ sein aufgrund vereinfachter, schneller und kostengünstiger
Kommunikation und Mobilität (Scholte 2008). Dies betrifft auch soziale Bewegungen
und andere Organisationsformen der Zivilgesellschaft, die damit ihrerseits geografische
Begrenzungen überwinden können. Beide Entwicklungen stellen eine direkte Bedrohung
für nationale Identitäten und Organisationsformen dar (Giddens & Sutton 2014).
Die Globalisierung ist kein homogener Prozess; vielmehr verstärkt sie in ihrer derzeitigen
hegemonialen Form vorhandene Ungleichheiten und ungleiche Machtverhältnisse (Gid-
dens & Sutton 2014). In letzter Instanz ist der Globalisierungsprozess aber „handgefertigt“
(Burawoy 2001). Globalisierung und ihre Folgen sind somit von einzelnen Menschen, von
sozialen Bewegungen und von Gesellschaften beeinflussbar.

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
108 Oliver Razum und Kayvan Bozorgmehr

2 Der Zusammenhang zwischen Globalisierung und Gesundheit

Die Globalisierung hat direkte und indirekte Auswirkungen auf die Gesundheit von Bevöl-
kerungen weltweit. Untersucht man diese aus einer Public-Health-Perspektive, so spricht
man von „Global Health“ und fasst darunter diejenigen Determinanten von Gesundheit
sowie Maßnahmen zu ihrer Sicherstellung, die Ländergrenzen und Verantwortungsbereiche
von Nationalstaaten überschreiten (Koplan et al. 2009). Wir geben einen kurzen Überblick
über Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheiten in einer zunehmend globalisierten
Welt. Anschließend beleuchten wir anhand von drei Fallbeispielen die verschiedenen Di-
mensionen der Globalisierung von Gesundheit, ihrer Determinanten sowie der Ansätze
zur Verbesserung von Gesundheit weltweit. Hierbei orientieren wir uns an den drei sich
teilweise überlappenden politisch-sozialen Handlungsräumen (governance spaces) von
globaler Gesundheit nach Kickbusch & Cassar Szabo (2014):

1. Global Health Governance: umfasst Organisationen mit direktem Bezug zu globaler


Gesundheit wie die Weltgesundheitsorganisation WHO sowie Maßnahmen, welche die
Gesundheit direkt betreffen. Hierzu gehören beispielsweise Krankheitskontrollprogram-
me sowie Programme zur Behebung gesundheitlicher Ungleichheiten (Verbesserung
von Gesundheitssystemen, Überwinden von Zugangsbarrieren, etc.)
2. Global Governance for Health: umfasst grenzübergreifende Organisationen und Maß-
nahmen außerhalb des Gesundheitssektors, die jedoch einschneidende Auswirkungen
auf (nationale) Gesundheit haben, etwa über Finanzpolitik (beispielsweise Austeritäts-
programme oder Maßnahmen zur Reduzierung von Armut).
3. Governance for Global Health: umfasst nationale Strategien und Maßnahmen, die auf
globale Gesundheit wirken.

Krankheitslast weltweit
Armut macht krank – dieser Zusammenhang ist gleichermaßen intuitiv einleuchtend wie
auch wissenschaftlich gut belegt. Er gilt aber nicht nur auf der Ebene des Individuums:
Gesundheitliche Risiken sind ungleich über die Bevölkerungen und Bevölkerungsgruppen
unserer Welt verteilt. Kindersterblichkeit (Todesfälle vor dem 5. Lebensjahr), Komplikationen
und Todesfälle im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt sowie übertragbare
Krankheiten wie Tuberkulose, HIV und Malaria betreffen in überdurchschnittlichem
Maße die ärmeren Länder. 2013 starben weltweit geschätzt 6,3 Mio. Kinder unter 5 Jahren,
häufig an vermeidbaren Folgen von Infektionskrankheiten wie Lungenentzündung oder
Durchfall und aufgrund von Frühgeburtlichkeit. Die Hälfte aller kindlichen Todesfälle
ereigneten sich im sub-saharischen Afrika, wo aber nur 25 % aller Geburten weltweit
stattfinden (Liu et al. 2015). Die Ungleichheit bei der Kindersterblichkeit gehört immer
noch zu den eindrücklichsten Belegen gesundheitlicher Ungerechtigkeit weltweit, trotz
erfreulicher Fortschritte in den vergangenen Jahren.
7 Globalisierung und Gesundheit 109

Die ärmeren Entwicklungsländer leiden daneben auch unter den Folgen des sogenann-
ten gesundheitlichen Übergangs. Neue Risikofaktoren wie z. B. das Rauchen, veränderte
Ernährungsgewohnheiten und Bewegungsmangel treten keineswegs nur in wohlhabenden
Ländern auf. Sie lassen die Krankheitslast durch chronische, nichtübertragbare Erkran-
kungen wie beispielsweise Herz-Kreislaufkrankheiten und Krebserkrankungen weltweit
ansteigen (GBD 2013 Mortality and Causes of Death Collaborators 2015). Ärmere Länder
sind somit einer zweifachen Krankheitslast ausgesetzt, einerseits durch die „unfinished
agenda“ der Infektionskrankheiten sowie der Kinder- und Müttersterblichkeit, anderer-
seits durch die neu auftretenden „Zivilisationskrankheiten“. Sie müssen sich den auch
bei uns bekannten Herausforderungen aufgrund des veränderten Lebensstils und der
demografischen Alterung stellen, darunter ein steigender Bedarf an Präventions- und
Therapiemaßnahmen für chronische Erkrankungen sowie an pflegerischer Versorgung.

Infobox 1. Krankheitslast

Krankheitslast und gesundheitliche Ungleichheit sind messbar. Die WHO setzt dazu
eine Methodik ein, mit deren Hilfe die „Bedeutung“ eines Gesundheitsproblems, der
Burden of Disease, gemessen wird. Der Burden of Disease wird in Form von verlorenen
gesunden Lebensjahren ausgedrückt. Er wird global, regional oder auf Länderebene
angegeben und kann u. a. nach Alter und Geschlecht stratifiziert werden. Auch wenn
der zugrunde liegende methodische Ansatz bis heute umstritten ist, so ermöglicht es
die Abschätzung des Burden of Disease doch, anhand von transparenten Kriterien die
enormen weltweiten gesundheitlichen Ungleichheiten zu verdeutlichen und bei der Pri-
oritätensetzung zu helfen (GBD 2013 Mortality and Causes of Death Collaborators 2015)

2.1 Global Health Governance

Fallbeispiel 1: Epidemien und ihre Kontrolle


Die Bedeutung der Global Health Governance illustrieren wir am Beispiel des Ebola-Aus-
bruchs 2013-15 in Westafrika, dem größten bisher beobachteten Ausbruch dieser Krankheit
(WHO Ebola Response Team 2014, siehe Infobox 2). Ebola ist eine Viruserkrankung mit
hoher Letalität, das heißt, ein großer Anteil der Erkrankten verstirbt. Die Nichtregie-
rungsorganisation (NGO) Médecins Sans Frontières (MSF), die in der Region bereits seit
Langem bei der Behandlung und Kontrolle von Ebola und verwandter Erkrankungen aktiv
ist, warnte bereits früh vor diesem Ausbruch. Sie wies insbesondere darauf hin, dass die
personell unterbesetzten und schlecht ausgestatteten Gesundheitssysteme der betroffenen
Länder nicht in der Lage seien, den Ausbruch unter Kontrolle zu bekommen. Die WHO,
deren Aufgabe u. a. die grenzübergreifende Koordination von Hilfs- und Kontrollmaß-
nahmen bei derartigen Krankheitsausbrüchen ist, reagierte erst spät. Trotz der Arbeit
von MSF kam es zu Tausenden von Erkrankungs- und Todesfällen, bevor wirksame und
110 Oliver Razum und Kayvan Bozorgmehr

flächendeckende Maßnahmen umgesetzt wurden. Die WHO wurde deshalb internati-


onal heftig kritisiert. Ihr wurde vorgeworfen, aufgrund interner Organisationsmängel
ihre Führungsrolle nicht ausreichend wahrgenommen zu haben. Gleichzeitig wurde aber
auch deutlich, dass die WHO angesichts ihres breiten Spektrums an Aufgaben deutlich
unterfinanziert ist (Gostin & Friedman 2014).

Infobox 2. Ebola

Ebola wird – wie viele andere bedeutende Infektionskrankheiten – durch Viren her-
vorgerufen. Viren sind (anders als Bakterien) keine Lebewesen, sondern winzige
Partikel, die aus einem Strang Erbmaterial in einer Eiweißhülle bestehen. Sie können
sich nur in lebenden Zellen vermehren, beispielsweise in Körperzellen von Menschen.
Viruserkrankungen können daher – anders als bakterielle Erkrankungen – nicht mit
Antibiotika behandelt werden.
Ebola ist eine hoch infektiöse Zoonose, also eine Krankheit, die von Tieren (in
diesem Fall von Fledermäusen, Affen und anderen Wildtiere) auf Menschen übertra-
gen wird. Die weitere Ausbreitung erfolgt von Mensch zu Mensch, beispielsweise bei
traditionellen Beerdigungsriten für an Ebola Verstorbene oder in Krankenhäusern mit
schlechter Hygiene.

Die finanzielle Unterstützung aus Europa und den USA zur Kontrolle des Ebola-Ausbruchs
war unzureichend. Dort nahm die Öffentlichkeit Ebola nur vereinzelt als Symptom für die
katastrophale Unterausstattung der betroffenen Gesundheitssysteme wahr (Zyska-Menhorn
2014). Vielmehr wurde Ebola als bedrohliche, mysteriöse Tropenkrankheit gesehen und
eine Einschleppung und Ausbreitung befürchtet. Tatsächlich blieb es aber in Europa und
den USA bei vereinzelten Fällen, die in technisch aufwändigen (und teuren) Isolierstationen
wirksam abgeschirmt werden konnten.
Ebola ist eine Krankheit der ärmeren Länder und geradezu ein Symptom für dysfunk-
tionale Gesundheitssysteme. Gleichzeitig ist Ebola ein eindrücklicher Beleg auch dafür,
dass Krankheit Armut schafft: Durch die vielen Erkrankungen und Todesfälle kam die
Wirtschaft der betroffenen Länder über Monate nahezu zum Stillstand, mit langfristigen
negativen Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung. Der Ebola-Ausbruch zeigt auf, welche
wichtige Rolle die WHO im Bereich Global Health Governance spielt oder – nach einer
internen Reorganisation und einer Erhöhung ihres Budgets – spielen sollte. Gleichzeitig
belegt der Ausbruch die wichtige und wirksame Rolle zivilgesellschaftlicher Organisati-
onen, in diesem Fall der NGO MSF, im Bereich von Global Health. Negative Folgen der
Globalisierung lassen sich also durchaus auch „von unten“ bekämpfen.
Global Health Governance ist jedoch selbst unter optimalen Bedingungen konfliktge-
laden. So besteht u. a. ein Potenzial für Konflikte zwischen lokaler und weltweiter gesund-
heitlicher Prioritätensetzung, wie das Beispiel der Polio-Eradikation zeigt (siehe Infobox
7 Globalisierung und Gesundheit 111

3). Der WHO gelang es, die Weltgemeinschaft auf das Ziel der vollkommenen Beseitigung
der Kinderlähmung und ihres Erregers „einzuschwören“. Dafür stellten viele Staaten und
NGOs über Jahrzehnte größere Geldbeträge bereit.

Infobox 3. Poliomyelitis

Poliomyelitis (Polio; Kinderlähmung) ist eine hoch ansteckende Viruserkrankung. In den


1950er-Jahren führte sie zu alljährlichen Ausbrüchen in den Industrieländern, so auch
1952 in Deutschland mit 10.000 Fällen und 800 Todesfällen, überwiegend unter Kindern
und jungen Erwachsenen. Die Krankheit wird vor allem unter schlechten hygienischen
Bedingungen übertragen. Seit 1955/1962 gibt es zwei wirksame Impfstoffe gegen Polio.
Zu Beginn der 1980er-Jahre traten weltweit jährlich immer noch geschätzte 350.000
Polio-Fälle auf. 1985 beschloss die WHO die Ausrottung (Eradikation) der Polio bis
zum Jahr 2000, also die vollständige Beseitigung des Erregers. Eradikation bedeutet:
Es treten keine Fälle mehr auf und die Impfung ist nicht mehr erforderlich. Das Ziel
wurde bis 2015 nicht erreicht. Es erkranken weiterhin Menschen an Polio, und selbst
wenn dies nicht mehr der Fall sein sollte, muss die Impfung nach augenblicklichem
Kenntnisstand fortgeführt werden (Razum 2002, Müller et al. 2015).

Durch die Intensivierung von Impfprogrammen kam es zu einer massiven Senkung der
Fallzahl auf nur noch wenige Hundert Fälle pro Jahr (laut WHO weltweit nur noch 416
Fälle im Jahr 2013). Das Überwinden einzelner nationalstaatlicher Interessen zu Gunsten
eines gemeinsamen Ziels kann als ein positives Beispiel für die Herausbildung wirksamer
Global Health Governance und von einer Weltgesellschaft interpretiert werden. Ein globa-
les Programm wie die Polio-Ausrottung läuft aber in Gefahr, lokale Kulturen, Interessen
und Befürchtungen nicht ausreichend zu berücksichtigen. Das zeigte sich dramatisch in
bestimmten Regionen Nigerias und Pakistans, in denen es Zweifel an der Bedrohlichkeit
der Erkrankung sowie Gerüchte über vom „Westen“ beabsichtigte Nebenwirkungen der
Impfung gab. Das führte zur Ablehnung der Impfprogramme bis hin zur Ermordung von
Impfpersonal und bis heute zum Fortbestehen der Polio-Ausbreitung in den betreffenden
Gebieten (Müller et al. 2015). Global Health Governance darf also den Blick für lokale
Prioritäten und kulturelle Besonderheiten nicht verlieren.

2.2 Global Governance for Health

Fallbeispiel 2: Wirtschaftskrisen und Gesundheit


Faktoren wie niedriges Einkommen und geringe Bildung sind mit schlechter Gesund-
heit assoziiert. Soziale Determinanten der Gesundheit lassen sich nicht nur innerhalb
eines Landes betrachten oder beeinflussen, vielmehr bestehen weltweit Zusammenhänge
112 Oliver Razum und Kayvan Bozorgmehr

zwischen ihnen. Das zeigt das Beispiel der Auswirkungen von Wirtschaftskrisen auf die
Gesundheit. Seit 2008 ringen zahlreiche europäische Länder mit den gesellschaftlichen
Folgen der Wirtschaftskrise, die 2007 am US-amerikanischen Hypothekenmarkt ihren
Ursprung nahm. Durch staatliche verordnete Rettungspakete für Banken wurde aus einer
Krise am Finanzmarkt eine Staatsschuldenkrise. An deren Folgen zeigt sich eindrücklich,
dass die Interessen des deregulierten Finanzsektors sowie des Nationalstaates letztendlich
gegenüber den Interessen der Bevölkerung überwiegen.
Auswege aus der Schuldenkrise werden primär im Abbau von Sozialleistungen ge-
sucht – der Zusammenhang mit Gesundheit wird dabei offensichtlich. Dabei setzen
Nationalstaaten ihren Einfluss zur Stärkung einer marktdominanten Globalisierung ein
und schaffen „globale“, d. h. Territorien übergreifende Räume, in denen demokratischer
Einfluss aus dem einzelnen Nationalstaat heraus nicht mehr gegeben ist. Den Raum dafür
schaffen aber die Staaten selbst durch ihre gesetzgebende Kraft – eine paradoxe Situation,
in der Volksvertreter die ihnen vom Volk übertragene Macht nutzen, um den politischen
Handlungsraum des Nationalstaats – und somit die Volkssouveränität – in essentiellen
gesellschaftlichen Lebensbereichen einzugrenzen.
Die Finanzkrise weitete sich zu einer Weltwirtschaftskrise aus, die mit steigender Arbeits-
losigkeit, Kaufkraftverlusten und sinkenden Realeinkommen einherging (National Bureau
of Economic Research 2010). Die Auswirkungen der oft rapide sinkenden Wirtschaftsleis-
tung auf die Bevölkerungsgesundheit sind jedoch komplex und keineswegs uniform. Die
Erfahrungen aus früheren Krisen zeigen, dass einer Wirtschaftskrise nicht automatisch
Gesundheitseinbußen folgen müssen. So sinken in Zeiten ökonomischer Krisen bedingt
durch die niedrigere Wirtschaftsaktivität beispielsweise die Zahl der Verkehrsunfälle und
der damit verbundenen Todesfälle (Stuckler et al. 2012, Suhrcke & Stuckler 2012).
Das Ausmaß negativer gesundheitlicher Konsequenzen wird hingegen vor allem durch
die Art der politischen Reaktion, die Leistungsfähigkeit sozialer Sicherungssysteme und
das Ausmaß der sozialen Kohäsion einer Gesellschaft bestimmt. Makrostrukturelle
Bestimmungsfaktoren, das Ausmaß prä-existierender sozialer Ungleichheit sowie das
Verhältnis zwischen Arbeit und Gesundheit (siehe die Beiträge von Wendt, Lampert und
Dragano in diesem Band) spielen eine wesentliche Rolle in der Vermittlung der gesund-
heitlichen Effekte von Wirtschaftskrisen. So stieg in früheren wie auch der aktuellen Krise
in europäischen Ländern die Arbeitslosigkeit rasant an. Als unmittelbare Folge kam es zu
erhöhten Suizidraten und (in früheren Krisen) zu einem Anstieg der Mortalitätsrate an
Herz-Kreislauferkrankungen. Insbesondere bei Suiziden waren Anstiege nur dann weit über
der jeweiligen länderspezifischen Rate zu verzeichnen, wenn es keine effektiven sozialen
Sicherungsmaßnahmen gab, die die Folgen der Arbeitslosigkeit auffangen konnten (Stuckler
et al. 2009). Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und
Gesundheit in Ländern, die in Zeiten ökonomischer Krisen die sozialen Sicherungsnetze
„aktiv“ aushöhlen.
Um die Phase sinkender wirtschaftlicher Aktivität schneller zu überwinden, schlugen
zahlreiche Staaten eine harte Sparpolitik ein. Deren Ziel ist, staatliche Ausgaben und
Neuverschuldung zu reduzieren, den öffentlichen Haushalt zu konsolidieren und dadurch
7 Globalisierung und Gesundheit 113

– so die keineswegs gut belegte Annahme – wirtschaftliches Wachstum anzuregen. Diese


auch als „Austeritätspolitik“ bekannte Haushaltskonsolidierung wurde z. B. in England
eingeschlagen. In vielen EU-Ländern (z. B. in Griechenland, Irland, Portugal und Spanien)
ging diese Form der Krisenreaktion jedoch auf strikte Vorgaben externer, internationaler
Kreditgeber wie der Europäischen Kommission, der europäischen Zentralbank sowie des
Internationalen Währungsfonds (IWF) zurück.
Ihre indirekte Wirkung auf Gesundheit entfaltet diese Form der Krisenbewältigung über
den politisch induzierten relativen Mangel an öffentlichen Gütern, dem eine kriseninduzierte,
erhöhte Nachfrage gegenübersteht (Schmucker 2013). So gingen in England Haushaltskür-
zungen besonders auf Kosten vulnerabler und schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen
(Menschen mit Behinderungen, Erkrankte, Arbeitslose, Kinder und ältere Personen)
wodurch bereits bestehende gesundheitliche Ungleichheiten erhöht wurden (Reeves et al.
2013). In Griechenland und Spanien kam es aufgrund der extrem hohen Arbeitslosigkeit,
gepaart mit Einschnitten in soziale Sicherungssystemen und einer damit verbundenen
Zunahme existentieller Not, zu einer erhöhten Inzidenz psychischer Beschwerden sowie
zu einer Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustands (Karanikolos et al. 2013).
Durch von außen vorgegebene Kürzungen des Gesundheitsetats kann das Gesundheits-
system in dieser Situation nicht adäquat auf die steigende Nachfrage reagieren. Auch wenn
niedrigere Gesundheitsausgaben nicht per se negative Konsequenzen haben müssen, z. B.
wenn sie mit einer Steigerung der Effizienz des Systems einhergehen (Mladovsky et al. 2012),
wirken sich allein fiskalpolitisch orientierte Kürzungen negativ aus. Um den Bedingungen
der Kreditgeber nachzukommen, kürzte Griechenland die öffentlichen Gesundheitsaus-
gaben binnen kurzer Zeit um 30 % auf die willkürlich festgelegte Obergrenze von 6 % des
Bruttoinlandprodukts (Kentikelenis et al. 2014). Eine entsprechende Kürzung (30 % der
öffentlichen Gesundheitsausgaben) in Deutschland hätte z. B. im Jahr 2012 Einsparungen
von ca. 100 Milliarden Euro entsprochen. Gepaart mit höheren Zuzahlungen für Gesund-
heitsleistungen kam es in Griechenland zu einer starken Abnahme von Arztbesuchen aus
finanziellen Gründen, vor allem bei über 65-Jährigen, bei Frauen und bei Menschen mit
niedrigem Sozialstatus (Kentikelenis et al. 2014).
Daneben gibt es auch nachweisbare Effekte auf die Verbreitung von Infektionskrank-
heiten. Durch die Beendigung öffentlich finanzierter Nadelaustauschprogramme für Sub-
stanzabhängige kam es in Griechenland zu einem 17- bis 20-fachen Anstieg der Inzidenz
gemeldeter HIV-Infektionen (Karanikolos et al. 2013). Globale Wirtschaftskrisen können
somit in einzelnen Ländern die Vulnerabilität gegenüber Infektionserkrankungen erhöhen
und deren Übertragungs-, Behandlungs- oder Mortalitätsraten beeinflussen (Suhrcke et
al. 2011).
Die Auswirkungen nationaler Austeritätsmaßnahmen enden ihrerseits wiederum nicht
an den Grenzen der davon betroffenen Staaten. So beeinflussen eingefrorene Gelder der
Entwicklungszusammenarbeit auch Gesundheitssysteme afrikanischer Länder (Kirigia et al.
2011). Zunehmende weltweite Unterschiede in Wohlstand und wirtschaftlicher Entwicklung,
aber auch Konflikte innerhalb oder zwischen Ländern begünstigen Migration und Flucht
(siehe Spallek & Razum in diesem Band). Durch die europäischen Austeritätsmaßnahmen
114 Oliver Razum und Kayvan Bozorgmehr

werden vulnerable Bevölkerungsgruppen wie Asylsuchende und Flüchtlinge zunehmend


marginalisiert. Das spanische Gesundheitssystem beispielsweise, das einst allen Menschen
unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus Zugang zur Versorgung gewährte und somit
menschenrechtskonform handelte, schließt aufgrund einer im Zuge der Wirtschaftskrise
umgesetzten Reform des Gesundheitswesens schätzungsweise 150.000-300.000 papierlose
Migrantinnen und Migranten von der Gesundheitsversorgung aus (Garcia 2012).
Negative gesundheitliche Konsequenzen von Wirtschaftskrisen sind also kein „natür-
liches“ Phänomen, sondern politisch determiniert und somit modifizierbar. Sie sind nicht
zuletzt dadurch bedingt, dass Krisenreaktionen zumeist fiskalpolitisch motiviert sind
und die gesundheitlichen Auswirkungen wirtschaftlicher Entscheidungen nicht berück-
sichtigt oder ignoriert werden. Das Beispiel Wirtschaftskrise verdeutlicht die Bedeutung
von grenzübergreifenden Organisationen und Maßnahmen außerhalb des Gesundheits-
sektors, die einschneidende Auswirkungen auf (nationale) Gesundheit haben können.
Und es unterstreicht, wie wichtig es ist, die Gesundheitsperspektive im politisch-sozialen
Handlungsraum der Global Governance for Health auf europäischer sowie weltweiter
Ebene nachhaltig zu stärken.

2.3 Governance for Global Health

Fallbeispiel 3: Globale Gesundheitsstrategie der Bundesregierung


Nationale Gesundheitsstrategien bieten eine Möglichkeit, auf grenzübergreifende Determi-
nanten der Gesundheit Einfluss zu nehmen. Die globale Gesundheitsstrategie der Bundes-
regierung (Bundesgesundheitsministerium 2013) ist ein Beispiel für Governance for Global
Health, also für eine nationale Maßnahme, die auf globale Gesundheit wirkt. Ähnliche
Strategien wurden auch bereits in anderen Ländern formuliert, so z. B. 2006 in der Schweiz
sowie (als staatenübergreifende Strategie) im Jahr 2010 seitens des Europäischen Rats. Das
spiegelt die zunehmende Bedeutung „globaler“ Gesundheit als eigenständiges Politikfeld
wider. Dadurch entsteht ein zunehmender Druck auf Staaten, auf Herausforderungen zu
reagieren und Maßnahmen und Handlungsprinzipien ihrer globalen Gesundheitspolitik
nach innen (zwischen verschiedenen ministerialen Ressorts) sowie nach außen (für Bür-
gerinnen und Bürger oder andere Länder) zu kommunizieren und transparent zu machen.
Die wesentlichen Inhalte der deutschen Strategie lassen sich wiederum entlang der beiden
anderen politisch-sozialen Handlungsräume (governance spaces) strukturieren. So zielt die
Bundesregierung zum einen auf den Schutz vor grenzübergreifenden Gesundheitsgefahren
(z. B. Seuchen) sowie den Ausbau intersektoraler Kooperation in Wechselwirkung mit ande-
ren Politikbereichen (Global Governance for Health). Zum anderen treibt sie die Stärkung
von Gesundheitssystemen weltweit voran, den Ausbau der Gesundheitsforschung und der
Gesundheitswirtschaft sowie die Stärkung der globalen Gesundheitsarchitektur (Global
Health Governance). Dabei soll die WHO – als leitende und koordinierende Instanz der
globalen Gesundheit – eine maßgebliche Rolle spielen, um global geltende Normen und
7 Globalisierung und Gesundheit 115

Standards zu setzen und als Forum gestärkt werden, in dem bindende Entscheidungen für
alle Akteure der globalen Gesundheitspolitik getroffen werden können.
Aus dem Strategiepapier lassen sich auch Deutschlands vielfältige Aktivitäten in
wichtigen multilateralen Foren der globalen Gesundheitsarchitektur erkennen, so z. B.
im Gemeinsamen Programm der UN zu HIV/AIDS (UNAIDS), beim Kinderhilfswerk
(UNICEF) oder im Internationalen Krebsforschungszentrum (IARC). Darüber hinaus
ist Deutschland an mehreren so genannten globalen Gesundheitsinitiativen beteiligt, die
sich im Sinne des New Public Management zumeist aus staatlichen und nicht-staatlichen,
privaten Akteuren und Geldgebern zusammensetzen, so z. B. dem Globalen Fonds zur
Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria (GFATM) und der Globalen Impfalli-
anz (GAVI Alliance). Weiterhin beteiligt sich die Bundesregierung im Bereich der Global
Governance for Health an Initiativen der so genannten G-Formate (G-7, G-8, G-20) sowie
an multilateralen UN-Foren, die zwar kein direktes Mandat für die Gesundheit haben,
jedoch wichtige Determinanten beeinflussen. Dazu gehören z. B. das UN-Entwicklungs-
programm (UNDP) und der UN-Bevölkerungsfonds (UNDP). Um in diesen verschiedenen
Foren effektive Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit der Menschen weltweit
herbeizuführen, sind Handlungsprinzipien und Normen von großer Relevanz, die das
Wirken staatlicher Akteure in diesen Foren leiten.
Die Bundesregierung sieht die Handlungsprinzipien ihrer globalen Gesundheitspolitik
als wertebasiert: Sie fördert das Recht eines jeden Menschen auf ein Höchstmaß an physi-
scher und psychischer Gesundheit. Sie strebt Gesundheitssysteme an, die auf Universalität,
Zugänglichkeit zu Versorgung von guter Qualität, Gleichbehandlung, und Solidarität
basieren. Weiterhin zielt sie darauf ab, die Teilhabe der Zivilgesellschaft zu fördern und
die Rolle des Staates bei der Regulierung des Gesundheitssektors zu stärken, um effektive
Kooperationen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren zu ermöglichen.
Auch wenn das Strategiepapier ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Rolle Deutschlands
in der globalen Gesundheit ist, werden einige Schwächen deutlich. So gibt es kein klar ope-
rationalisiertes Verfahren, welches sicherstellt, dass die aus globaler Gesundheitsperspektive
wichtigen Normen und Werte in die Handlungsrealität anderer Ministerien und Ressorts
Eingang finden. Die Berücksichtigung der (globalen) gesundheitlichen Auswirkungen von
politischen Maßnahmen im Sinne von „Health in all policies“ bleibt somit in der deutschen
Politik zunächst unverbindlich. Allzu offensichtlich wird dies bei der Fortführung der – aus
gesundheitspolitischer Sicht desaströsen – Austeritätsmaßnahmen als Krisentherapie, die
nicht zuletzt auch vom deutschen Finanzministerium maßgeblich propagiert werden. Ebenso
offensichtlich ist die Diskrepanz zwischen den Ambitionen einer kohärenten deutschen
globalen Gesundheitspolitik und dem Umgang mit Flüchtlingen an Außengrenzen der
EU oder im eigenen Land. Die Gesundheitsversorgung dieser Menschen bleibt zunächst
ordnungspolitisch und nicht gesundheitspolitisch determiniert.
Ungeachtet dieser und weiterer Schwachstellen der globalen Gesundheitsstrategie der
Bundesregierung (Bozorgmehr et al. 2014) bieten solche nationalen Strategiepapiere einen
wichtigen Ausgangspunkt zur Weiterentwicklung der Governance for Global Health – einem
Bereich, in dem globale Gesundheit sozusagen „vor der eigenen Haustür“ stattfindet. Hier
116 Oliver Razum und Kayvan Bozorgmehr

zeigt sich auch explizit, wie Burawoys Konzept der „Manufaktur des Globalen“ (Burawoy
2001) Anwendung finden kann, um die Rechenschaftspflicht von Regierungen hinsichtlich
den gesundheitlichen Folgen ihres Handelns (oder Nichthandelns) zu erhöhen.

3 Schlussfolgerungen

Gesundheit ist ein Menschenrecht, das zwar weltweit gültig, aber noch keineswegs für
alle Menschen umgesetzt ist. Der Gesundheitssektor wird durch vorherrschende Glo-
balisierungsprozesse vor zahlreiche Herausforderungen gestellt und kann das Problem
von Armut und (gesundheitlicher) Ungleichheit nicht allein lösen. Hierzu bedarf es auch
Änderungen in der Wirtschaftspolitik, verstärkter Maßnahmen der sozialen Sicherung
sowie dem Empowerment von benachteiligten Bevölkerungsgruppen (Global Governance
for Health). Die nationale deutsche Strategie (Governance for Global Health) muss hierzu
noch wirksamere Beiträge leisten als bisher und gleichzeitig Organisationen mit direktem
Bezug zu globaler Gesundheit wie die WHO (Global Health Governance) stärken. Die
drei hier vorgestellten politisch-sozialen Handlungsräume von Global Health müssen
eng verzahnt werden, um ihre Wirksamkeit zur Verbesserung der Gesundheit weltweit
entfalten zu können.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Gesundheitliche Risiken sind weltweit ungleich verteilt. Kindersterblichkeit (Todesfälle
vor dem 5. Lebensjahr) sowie Komplikationen und Todesfälle im Zusammenhang
mit Schwangerschaft und Geburt beispielsweise betreffen in überdurchschnittlichem
Maße ärmere Bevölkerungsgruppen und ärmere Länder.
▶ Globalisierung hat direkte und indirekte Auswirkungen auf die Gesundheit von
Bevölkerungen weltweit; sie trägt dazu bei, dass sich Gesundheitsprobleme nicht
mehr nur lokal lösen lassen.
▶ Die drei politisch-sozialen Handlungsräume von globaler Gesundheit sind: Glo-
bal Health Governance (umfasst Organisationen mit direktem Bezug zu globaler
Gesundheit und Krankheitskontrollprogramme); Global Governance for Health
(umfasst grenzübergreifende Maßnahmen außerhalb des Gesundheitssektors mit
Auswirkungen auf Gesundheit, etwa Austeritätsprogramme) und Governance for
Global Health (umfasst nationale Strategien, die auf globale Gesundheit wirken).
7 Globalisierung und Gesundheit 117

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Sind Seuchen gesellschaftlich „gemacht“ oder rein biologische Phänomene?
▶ Welche Bedingungen sind notwendig, damit die Weltgesundheitsorganisation WHO
ihre globale Rolle und Aufgaben effektiv wahrnehmen kann?
▶ Wie lässt sich die Gesundheit von Bevölkerungen eher verbessern – durch individu-
elle Verhaltensänderungen oder durch grundlegende Änderung der Verhältnisse?
▶ Wie beurteilen Sie das Konzept der Bundesregierung (2013) zur Gestaltung der
globalen Gesundheitspolitik?
▶ Welche weiteren Globalisierungsprozesse können die Gesundheit (positiv wie nega-
tiv) beeinflussen und durch welche Maßnahmen ließen sich negative Auswirkungen
vermeiden?

Leseempfehlungen

t Razum, O., H. Zeeb, O. Müller & A. Jahn (Hg.), 2014: Global Health. Gesundheit und
Gerechtigkeit. Bern: Verlag Hans Huber.
Das deutschsprachige Buch zu den unterschiedlichen Aspekten von Global Health, dar-
gestellt aus Public-Health-Sicht.

t Amzat, J. & O. Razum, 2014: Medical sociology in Africa. Cham: Springer.


Eine Einführung in die Medizinsoziologie aus afrikanischer Perspektive und mit Beispielen
überwiegend aus afrikanischen Ländern.

t Deutsche Plattform für Globale Gesundheit, 2014: Globale Gesundheitspolitik – für alle
Menschen an jedem Ort. Grundlagen für eine künftige ressortübergreifende Strategie
für globale Gesundheit. Frankfurt/Main: Medico International.
Eine alternative Vision für eine globale Gesundheitspolitik Deutschlands mit einem
stärkeren Blick auf Gerechtigkeit und Solidarität.

t Website: https://www.ghwatch.org
Die NGO Global Health Watch erstellt alternative Weltgesundheitsberichte. Die jeweils
aktuellste Ausgabe findet sich dort.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://who.int
Website der Weltgesundheitsorganisation WHO.
118 Oliver Razum und Kayvan Bozorgmehr

Web http://www.medico.de, http://www.bukopharma.de


Beispiele für NGOs im Bereich Global Health.

Web https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/Literatur-zum-Thema.122125.0.html#c96057
Ausführliche Literaturübersicht zum Thema Global Health auf der Plattform des
Instituts für Public Health am Universitätsklinikum Heidelberg.

Film http://seattleglobalist.com/2013/04/25/global-health-films-to-get-you-inspired/12545
30 ausgewählte Filme mit Bezug zu Global Health.

Film http://saludthefilm.net
Ein weiterer empfehlenswerter Film: „Salud: the Film“.

Literatur

Bundesministerium für Gesundheit, 2013: Konzept der Bundesregierung: Globale Gesundheitspolitik


gestalten – gemeinsam handeln – Verantwortung wahrnehmen. Berlin.
Bozorgmehr, K., W. Bruchhausen, W. Hein, M. Knipper, R. Korte, O. Razum & P. Tinnemann, 2014:
The global health concept of the German government: strengths, weaknesses, and opportunities.
Global Health Action 7: 23445.
Burawoy, M., 2001: Manufacturing the global. Ethnography 2: 147-159.
Garcia, R.A., 2012: Spanish doctors protest against law that excludes immigrants from public
healthcare. British Medical Journal 345: e5716.
GBD 2013 Mortality and Causes of Death Collaborators, 2015: Global, regional and national age-sex
specific all-cause and cause-specific mortality for 240 causes of death, 1990-2013: A Systematic
Analysis for the Global Burden of Disease Study 2013. The Lancet 385: 117–171.
Giddens, A. & P.W. Sutton, 2014: Essential concepts in sociology: globalization. Cambridge: Polity
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Kentikelenis, A., M. Karanikolos, A. Reeves, M. McKee & D. Stuckler, 2014: Greece’s health crisis:
from austerity to denialism. The Lancet 383: 748-753.
Kickbusch, I. & M.M. Cassar Szabo, 2014: A new governance space for health. Global Health Action
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Kirigia, J.M., B.M. Nganda, C.N. Mwikisa & B. Cardoso, 2011: Effects of global financial crisis
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Wasserheit, 2009: Towards a common definition of global health. The Lancet 373: 1993-1995.
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regional, and national causes of child mortality in 2000-13, with projections to inform post-2015
priorities: an updated systematic analysis. The Lancet 385: 430-440.
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Mladovsky, P., D. Srivastava, J. Cylus, M. Karanikolos, T. Evetovits, S. Thomson & M. McKee, 2012:
Policy Summary 5: Health policy responses to the financial crisis in Europe. World Health
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Soziale Ungleichheit und Gesundheit
Thomas Lampert
8
8 Soziale Ungleichheit und Gesundheit

Überblick
▶ Welche gesellschaft liche Relevanz kommt dem Zusammenhang zwischen der sozialen
und gesundheitlichen Lage zu?
▶ Wie stark sind die sozialen Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung
ausgeprägt?
▶ Wie lässt sich die sozial ungleiche Verteilung der Erkrankungsrisiken und Gesund-
heitschancen erklären?
▶ Welche weiteren Anforderungen stellen sich an die Erforschung gesundheitlicher
Ungleichheit?

1 Einleitung

Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt und verfügt über umfassende
Systeme der sozialen Sicherung und der medizinischen Versorgung. Gleichzeitig ist eine
erhebliche Ungleichheit der Lebensbedingungen und sozialen Teilhabechancen festzustel-
len, die in den vergangenen Jahren eher zu- als abgenommen hat. Zu verweisen ist unter
anderem auf die hohe, in bestimmten Bevölkerungsgruppen steigende Armutsbetroffenheit,
die fortschreitende Konzentration des Privatvermögens, die Zunahme überschuldeter
Haushalte, die Ausweitung von prekären Beschäftigungsverhältnissen, den wachsenden
Anteil älterer Menschen mit unzureichender Altersvorsorge sowie den nach wie vor stark
ausgeprägten Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen
(BMAS 2012, Destatis & WZB 2013).
Die Erforschung und Diskussion der Auswirkungen von Armut und sozialer Ungleichheit
auf die Gesundheit hat in Deutschland eine lange Tradition. Im Grunde reicht diese bis zu
Rudolf Virchow und Salomon Neumann zurück, die bereits in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts auf die gesellschaft lichen Ursachen von Krankheit und vorzeitiger Sterblich-
keit hingewiesen und staatliche Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit gefordert haben

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
122 Thomas Lampert

(Mielck 1994). Im Mittelpunkt standen damals weit verbreitete Infektionserkrankungen


wie Tuberkulose, Cholera und Diphterie sowie die hohe Säuglings- und Kindersterblich-
keit. Mit den beiden Weltkriegen kam diese Forschungstradition zunächst vollends zum
Erliegen und wurde erst in den 1980er Jahren wieder aufgegriffen als sich abzeichnete, dass
auch die inzwischen im Krankheitsspektrum vorherrschenden chronischen Erkrankungen
und Beschwerden in engem Zusammenhang mit den Lebensbedingungen stehen und in
der Bevölkerung sozial ungleich verteilt sind.
Ausgehend von den USA, Großbritannien und Skandinavien hat sich anschließend auch
in Deutschland eine eigenständige Forschungsrichtung etabliert, die sich schwerpunktmäßig
mit der Analyse der sozialen Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung sowie
der Erklärung der dadurch zum Ausdruck kommenden gesundheitlichen Ungleichheit
befasst (Berkman & Kawachi 2000, Mielck & Bloomfield 2001). Mittlerweile liegt eine
große Zahl aussagekräftiger Studien vor, die in weitreichender Übereinstimmung zeigen,
dass viele Erkrankungen, Gesundheitsbeschwerden und Risikofaktoren bei Personen
mit niedrigem sozialen Status, gemessen zumeist über Bildung, berufliche Stellung und
Einkommen (siehe Infobox 1), verstärkt auftreten. Außerdem schätzen sie ihren allge-
meinen Gesundheitszustand und ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität schlechter
ein und unterliegen einer erhöhten vorzeitigen Sterblichkeit (Mielck 2000, 2005, Richter
& Hurrelmann 2009).

Infobox 1. Messung des sozialen Status

Mit dem Begriff des sozialen Status, dem im englischen Sprachraum der Begriff des
sozioeconomic status (SES) entspricht, wird die individuelle Position in einem durch
soziale Ungleichheit gekennzeichneten Gesellschaftsgefüge beschrieben (Duncan 1961,
Geißler 2006). Gemessen wird der soziale Status zumeist über die Indikatoren Bildung,
berufliche Stellung und Einkommen, die entweder einzeln oder als mehrdimensionaler
aggregierter Index betrachtet werden. In vielen gesundheitswissenschaftlichen Studien
wird ein vom Robert Koch-Institut entwickelter Statusindex eingesetzt, der auf An-
gaben der Studienteilnehmer zu ihrer schulischen und beruflichen Qualifikation, zur
beruflichen Stellung sowie zum Netto-Äquivalenzeinkommen, d. h. dem nach Anzahl
und Alter der Haushaltsmitglieder bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen,
basiert (Lampert et al. 2013a).

Im Folgenden werden zunächst ausgewählte empirische Befunde zum Ausmaß und


Erscheinungsbild der sozialen Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung
in Deutschland dargestellt und dabei auch kurz auf die für die Forschung verfügbaren
Datengrundlagen (siehe Infobox 2) eingegangen. Anschließend werden mögliche Er-
klärungsansätze für diese Unterschiede diskutiert und mehrere Modelle beschrieben,
die eine integrative Betrachtung und Systematisierung der einzelnen Erklärungsansätze
8 Soziale Ungleichheit und Gesundheit 123

unterstützen. Zum Abschluss werden mögliche Forschungsperspektiven aufgezeigt und


Schlussfolgerungen für die politischen Bemühungen zur Verringerung der gesundheitli-
chen Ungleichheit formuliert.

2 Soziale Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung

Die subjektive Einschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes ist ein in vielen bevöl-
kerungsrepräsentativen Studien eingesetzter Indikator zur Feststellung der Krankheitslast
und des daraus resultierenden Versorgungsbedarfs. Sie hat sich zudem als Prädiktor für
die fernere Lebenserwartung erwiesen, und zwar auch bei Kontrolle für objektive Gesund-
heitsindikatoren (Idler & Benyamini 1997, De Salvo et al. 2006).
Nach Daten der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell“ 2009 ist der Anteil der
Männer und Frauen, die ihren allgemeinen Gesundheitszustand nur als mittelmäßig,
schlecht oder sehr schlecht bewerten, in der niedrigen Statusgruppe höher als in der
mittleren und insbesondere als in der hohen Statusgruppe. Dieser Gradient zeichnet
sich bei beiden Geschlechtern in allen Altersgruppen deutlich ab (siehe Abb. 1). Nach
Kontrolle für Alter ergibt sich für Männer aus der niedrigen im Verhältnis zu denen aus
der hohen Statusgruppe ein um den Faktor 3,9 erhöhtes Risiko, den eigenen allgemeinen
Gesundheitszustand als mittelmäßig bis sehr schlecht zu bewerten. Bei Männern aus der
mittleren Statusgruppe ist dieses Risiko 1,9-fach erhöht. Für Frauen aus der niedrigen
und mittleren Statusgruppe betragen die entsprechenden altersadjustierten Odds Ratios
3,5 bzw. 2,0 (Lampert et al. 2013b).
Auch im Auftreten chronischer Krankheiten und Beschwerden sind statusspezifische
Unterschiede zu beobachten. Dies zeigten bereits die Ergebnisse der Deutschen Herz-Kreis-
lauf-Präventionsstudie (DHP), die zwischen 1984 und 1991 durchgeführt wurde. Ein erhöhtes
Erkrankungsrisiko in der niedrigen Statusgruppe wurde unter anderem für Herzinfarkt,
Schlaganfall, Diabetes mellitus, chronische Bronchitis und Magengeschwüre berichtet
(Helmert & Shea 1994, Helmert 2003). Die Ergebnisse der GEDA-Studie bestätigen diese
Befunde. Für die Jahre 2009 und 2010 wurde gezeigt, dass 45-jährige und ältere Männer
aus der niedrigen im Verhältnis zu gleichaltrigen Männern aus der hohen Statusgruppe
ein um den Faktor 2,3 erhöhtes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall haben. Bei Frauen
mit niedrigem Sozialstatus ist das Herzinfarktrisiko 2,9-fach und das Schlaganfallrisiko
2,2-fach erhöht.
124 Thomas Lampert

Abb. 1 Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes („mittelmäßig“, „schlecht“


oder „sehr schlecht“) nach Sozialstatus bei 18-jährigen und älteren Männern und
Frauen, Datenbasis: Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell 2009 (n=21.136)
Quelle: Lampert et al. (2013b)

Die GEDA-Daten weisen außerdem auf deutliche statusspezifische Unterschiede in Bezug


auf Hypertonie, Angina pectoris, Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz,
chronische Lebererkrankungen, Osteoporose, Arthrose und Arthritis hin (Lampert 2011).
Auch für viele Krebserkrankungen, z. B. Lungenkrebs, Magenkrebs und Darmkrebs, wird
ein verstärktes Vorkommen in den niedrigen Statusgruppen festgestellt, wie Auswertungen
mit Daten von gesetzlichen Krankenkassen zeigen (Geyer 2008). Ein umgekehrter sozialer
Gradient, also ein erhöhtes Erkrankungsrisiko in den höheren Statusgruppen, ist nur für
sehr wenige Erkrankungen zu beobachten. Dies gilt insbesondere für allergische Erkran-
kungen (Elvers 2005, Schäfer et al. 2001) und zum Teil auch für Brustkrebs bei Frauen,
wobei die für Deutschland vorliegenden Befunde in dieser Hinsicht nicht eindeutig sind
(Geyer 2008).

Infobox 2. Datengrundlagen für Analysen der gesundheitlichen Ungleichheit

Die Datenbasis für Analysen der gesundheitlichen Ungleichheit hat sich in den vergan-
genen Jahren kontinuierlich verbessert. Zu verdanken ist dies unter anderem den im
Rahmen des Gesundheitsmonitorings des Robert Koch-Instituts durchgeführten Studien
„Gesundheit in Deutschland aktuell“ (GEDA), „Studie zur Gesundheit Erwachsener
8 Soziale Ungleichheit und Gesundheit 125

in Deutschland“ (DEGS) und „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen
in Deutschland“ (KiGGS), die regelmäßig bundesweit repräsentative Gesundheitsdaten
bereitstellen. Daneben sind eine Reihe weiterer Gesundheitssurveys wie der „Bertels-
mann Gesundheitsmonitor“, der „Epidemiologische Suchtsurvey“ (ESA) des Instituts
für Therapieforschung, die „Drogenaffinitätsstudie“ (DAS) der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung und die von der Weltgesundheitsorganisation koordinierte
Studie „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC) zu nennen. Auch mehrere
epidemiologische Studien wie die Study of Health in Pomerania (SHIP), die Heinz Nixdorf
Recall Studie und künftig auch die Nationale Kohorte (NAKO) bieten weitreichende
Analysemöglichkeiten. Gleiches gilt für sozialwissenschaftliche Surveys wie das So-
zio-oekonomische Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, das
Nationale Bildungspanel (NEPS) und den Deutschen Alterssurvey (DEAS) des Deutschen
Zentrums für Altersforschung sowie bestimmte amtliche Statistiken, insbesondere den
Mikrozensus und die Statistik Leben in Europa (EU-SILC), die beide vom Statistischen
Bundesamt verantwortet werden. Hinzuweisen ist ferner auf Analysemöglichkeiten, die
sich über die Abrechnungsdaten der Sozialversicherungsträger, z. B. der Gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) und der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV),
erschließen. Viele der genannten Datenquellen stehen als Public bzw. Scientific Use
Files zur Verfügung oder können auf der Basis von Kooperationsvereinbarungen für
wissenschaftliche Zwecke genutzt werden.

Der Einfluss sozialer Ungleichheit schlägt sich darüber hinaus in der psychischen Ge-
sundheit nieder. Männer und Frauen mit niedrigem sozialen Status sind deutlich häufiger
von psychischen Störungen betroffen, was sich auch am gleichzeitigen Auftreten mehrerer
Störungsbilder festmachen lässt. Eine nach Störungsgruppen differenzierende Betrachtung
ergab statusspezifische Unterschiede im Auftreten affektiver, somatoformer und Angststö-
rungen (Lampert et al. 2005). Aktuelle Betrachtungen sind mit Daten der GEDA-Studie
möglich, die unter anderem auf ein erhöhtes Risiko für Depressionen in der unteren Sta-
tusgruppe hindeuten (Abb. 2). Nach Adjustierung für Alter lässt sich die Aussage treffen,
dass Männer und Frauen mit niedrigem im Vergleich zu denen mit hohem Sozialstatus ein
um den Faktor 2,3 bzw. 1,6 erhöhtes Erkrankungsrisiko haben (Lampert 2013).
126 Thomas Lampert

Abb. 2 12-Monats-Prävalenz für Depressionen nach Sozialstatus bei 18-jährigen und älteren
Männern und Frauen, Datenbasis: Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell 2009 und
2010 (gepoolter Datensatz; n=43.024)
Quelle: Lampert et al. (2013)

Noch deutlicher fallen die Unterschiede zwischen den Statusgruppen aus, wenn Krank-
heitsfolgen wie krankheitsbedingte Frühberentungen betrachtet werden. Nach Daten
der Deutschen Rentenversicherung Bund nimmt das Risiko einer krankheitsbedingten
Frühberentung mit abnehmender beruflicher Qualifi kation sukzessive zu (Hagen et al.
2011). Beispielsweise haben Männer und Frauen mit niedriger beruflicher Qualifi kation
im Vergleich zu denen mit hohem Qualifikationsniveau ein um den Faktor 7,2 bzw. 5,6
erhöhtes Risiko, wegen einer Herz-Kreislauf-Erkrankung vorzeitig berentet zu werden.
Auch Frühberentungen aufgrund von Muskel- und Skeletterkrankungen sowie psychischen
Erkrankungen sind in der niedrigen Qualifi kationsgruppe weitaus häufiger.
Das verstärkte Auftreten von Krankheiten und Gesundheitsbeeinträchtigungen in den
niedrigen Statusgruppen geht mit einer höheren Mortalität einher (Lampert et al. 2007,
Lampert & Kroll 2014). Mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels für die Jahre 1995 bis
2005 konnte hierzu gezeigt werden, dass Männer, deren Einkommen weniger als 60 % des
mittleren Einkommens beträgt, ein im Verhältnis zur höchsten Einkommensgruppe um das
2,7-fach erhöhte Mortalitätsrisiko haben. Bei Frauen der niedrigsten Einkommensgruppe
beträgt das relative Mortalitätsrisiko 2,4. Bezogen auf die mittlere Lebenserwartung bei
Geburt bedeutet dies einen Unterschied von 10,8 Jahren bei Männern und 8,4 Jahren
bei Frauen (Tabelle 1). Werden nur die bei guter oder sehr guter Gesundheit verbrachten
8 Soziale Ungleichheit und Gesundheit 127

Lebensjahre berücksichtigt, fallen die Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen


mit 14,3 bzw. 10,2 Jahren sogar noch größer aus (Lampert et al. 2007).

Tab. 1 Lebenserwartung bei Geburt und gesunde Lebenserwartung bei Geburt


nach Einkommen (in Jahren). Datenbasis: Sozio-oekonomisches Panel und
Periodensterbetafeln 1995-2005 (n=32.500)
Lebenserwartung Gesunde Lebenserwartung
bei Geburt bei Geburt*
Männer Frauen Männer Frauen
Netto-Äquivalenzeinkommen**
<60 % 70,1 76,9 56,8 60,8
60-<80 % 73,4 81,9 61,2 66,2
80-<100 % 75,2 82,0 64,5 67,1
100-<150 % 77,2 84,4 66,8 69,1
>=150 % 80,9 85,3 71,1 71,0

* Anzahl der Lebensjahre, die bei guter oder sehr guter Gesundheit verbracht werden.
** Anteil vom mittleren Netto-Äquivalenzeinkommen.
Quelle: Lampert et al. (2007)

3 Ansätze zur Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheit

Während der Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit mittlerweile als empi-
risch gesichert angesehen werden kann, stellt dessen Erklärung nach wie vor eine große
Herausforderung dar. Ansetzen muss die Erklärung an den Mechanismen und Prozessen,
die für die ungleiche Verteilung des Krankheits- und Sterbegeschehens verantwortlich
sind. Diskutiert werden unter anderem soziale Unterschiede in Bezug auf die Arbeitsbe-
dingungen, die Wohnsituation, die soziale Sicherung, die soziale Integration und Teilha-
be, das Gesundheitsverhalten, das Stressgeschehen, die Verfügbarkeit von sozialen und
personalen Ressourcen sowie die Inanspruchnahme von Angeboten und Leistungen der
Gesundheitsversorgung (Mielck 2005, Richter & Hurrelmann 2009). In den letzten Jahren
wurden mehrere umfassende Erklärungsmodelle entwickelt, die Zusammenhänge und
Schnittstellen zwischen den einzelnen Erklärungsansätzen aufzeigen und zur Systemati-
sierung der vorliegenden Forschungsbefunde und Erkenntnisse beitragen.
Thomas Elkeles und Andreas Mielck (1997) haben zur Erklärung der gesundheitlichen
Ungleichheit ein hierarchisches Mehrebenenmodell vorgeschlagen, das zwischen einer
Makro-, Meso- und Mikroebene unterscheidet, wobei die jeweils höhere Ebene die Vo-
raussetzungen auf den nachgeordneten Ebenen vorgibt (Abb. 3, vgl. Mielck 2000, 2005).
Ausgangspunkt ist auf der Makroebene die Struktur ungleicher Verteilung von Wissen,
Macht, Geld und Prestige sowie daraus resultierende soziale Vor- und Nachteilsbedin-
128 Thomas Lampert

gungen. Damit wird unterstrichen, dass die statusbildenden Ungleichheitsdimensionen


nach wie vor für die Lebenssituation und die Lebensqualität in modernen Gesellschaften
ausschlaggebend sind und den nachhaltigsten Einfluss auf die Gesundheit und Lebenser-
wartung ausüben. Auf der „vermittelnden“ Mesoebene richtet sich der Blick auf gesund-
heitliche Belastungen und Ressourcen, die in verschiedenen Lebenskontexten relevant sein
können. Der Ressourcenbegriff wird dabei nicht nur auf die Stressbewältigung bezogen,
sondern in Richtung gesundheitsrelevanter Handlungskompetenzen und Kontrollmög-
lichkeiten erweitert. Neben der Bilanz aus Belastungen und Ressourcen werden in der
gesundheitlichen Versorgung, vor allem im Hinblick auf Unterschiede in der Qualität von
Prävention, Kuration und Rehabilitation, sowie im individuellen Gesundheitsverhalten
zentrale Vermittlungsinstanzen von gesundheitlichen Wirkungen sozialstruktureller
Bedingungen gesehen. Betrachtet wird letztlich das strukturelle Problem gesundheitlicher
Ungleichheit, das die interindividuellen Unterschiede in der Morbidität und Mortalität
auf der gesellschaft lichen Ebene widerspiegelt.

Abb. 3 Modell zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit nach Elkeles und Mielck (1997)
und Mielck (2000, 2005)

Die Grundannahme des Modells legt nahe, dass die in der Gesellschaft bestehende sozi-
ale Ungleichheit im Krankheits- und Sterbegeschehen der Bevölkerung einen Ausdruck
findet, weil die Angehörigen der sozial benachteiligten Gruppen stärkeren gesundheit-
8 Soziale Ungleichheit und Gesundheit 129

lichen Belastungen ausgesetzt sind, über geringere Bewältigungsressourcen verfügen,


sich in geringerem Maße gesundheitsbewusst verhalten und zum Teil auch schlechter
gesundheitlich versorgt werden. Außerdem werden Prozesse gesundheitsbedingter sozi-
aler Mobilität thematisiert. Zwar vertreten Elkeles und Mielck die Auffassung, dass diese
unter den gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland nur wenig
zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen. Da sie aber als eine gravierende
Ausprägungsform gesundheitlicher Ungleichheit aufzufassen sind, sollten sie nach Ansicht
der Autoren nicht außer Acht gelassen werden und als Gradmesser der Sozialpolitik und
der sozialstaatlichen Sicherungssysteme dienen.
Eine wichtige Referenz für die internationale Diskussion stellt das Erklärungsmodell von
Johan Mackenbach (2006) dar. Diesem Modell zufolge wird der Einfluss des sozialen Status
auf die Gesundheit über eine Vielzahl materieller, psychosozialer und verhaltensbezogener
Faktoren und Einflusspfade vermittelt. Das Modell berücksichtigt, dass die intermediären
Mechanismen sich gegenseitig beeinflussen können. Hervorgehoben wird unter anderem der
Einfluss der materiellen Lebensbedingungen auf psychosoziale Belastungen und Ressourcen
und in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Einkommensarmut, materieller
Deprivation sowie nachteiligen Arbeits- und Wohnbedingungen verwiesen. Eine weitere
zentrale Annahme des Modells stellt die Beeinflussung des Gesundheitsverhaltens durch
materielle und psychosoziale Faktoren dar. Als Beispiele hierfür werden Zusammenhänge
zwischen einem geringen Einkommen und einem ungünstigen Ernährungsverhalten sowie
zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und dem Tabakkonsum angeführt.
Auch Mel Bartley (2004) vertritt die Auffassung, dass die Erklärung der gesundheitlichen
Ungleichheit an den genannten materiellen, psychosozialen und verhaltensbezogenen Faktoren
ansetzen sollte. Gegenüber den beiden vorgenannten Modellvorschlägen zeichnet das Modell
von Bartley aus, dass zudem die Bedeutung des Lebensverlaufs und des sozialen Wandels
Berücksichtigung finden. Nach Bartley ist die Einbeziehung der zeitlichen Dimension, und
zwar sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene, für das Verständnis
der gesundheitlichen Ungleichheit unerlässlich. Sie betont in diesem Zusammenhang, dass
Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und insbesondere der Ausgestal-
tung der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen (siehe dazu den Beitrag von Wendt in diesem
Band) sich auf die intermediären Mechanismen, also die materiellen Lebensbedingungen,
die psychosoziale Situation und das Gesundheitsverhalten, auswirken und somit das Aus-
maß und Erscheinungsbild der gesundheitlichen Ungleichheit prägen. Die Einbeziehung
der Lebensverlaufsperspektive erachtet sie für notwendig, da sich nur so erschließt, wie
Menschen mit den ungleichen strukturellen Vorgaben umgehen und unter welchen Vor-
aussetzungen sich diese mittel- bis langfristig auf die Gesundheit auswirken. Damit macht
das Modell von Bartley noch deutlicher als die Modelle von Mackenbach sowie Elkeles und
Mielck, dass die Integration von strukturellen und individuellen Erklärungsansätzen eine
wesentliche Voraussetzung ist, um die sozial ungleiche Verteilung der Gesundheitschancen
und Erkrankungsrisiken zu verstehen und deren Veränderung über die Zeit zu erklären.
Hinzuweisen ist darüber hinaus auf die WHO-Kommission „Social Determinants of
Health“, die in den Jahren 2005 bis 2008 einen umfassenden Bericht zum Ausmaß und zu
130 Thomas Lampert

den Ursachen der gesundheitlichen Ungleichheit weltweit vorgelegt hat (WHO 2008). Die
Arbeit der Kommission, die von Sir Michael Marmot geleitet wurde, orientierte sich an
einem konzeptionellen Rahmen, der verdeutlichen sollte, wie die sozialen Unterschiede in
der Gesundheit und Lebenserwartung zustande kommen und der damit zugleich Ansatz-
punkte für politische Interventionen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit
aufzeigt (Abbildung 4). Wie in dem Modell von Bartley wird die Bedeutung der strukturellen
Rahmenbedingungen, insbesondere des sozioökonomischen und politischen Kontextes
sowie auch der sozialen und kulturellen Werte innerhalb einer Gesellschaft, hervorgehoben.
Als vermittelnde Mechanismen werden neben materiellen, psychosozialen und verhaltens-
bezogenen Faktoren auch der soziale Zusammenhalt und biologische Faktoren benannt.

Abb. 4 Konzeptioneller Rahmen der WHO-Kommission „Social Determinants of Health“


(WHO 2008, Solar & Irwin 2007)

4 Diskussion und Schlussfolgerungen

Mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand lässt sich festhalten, dass die Auswirkungen
der sozialen Ungleichheit auf die Gesundheit empirisch gut belegt sind. Zu verdanken ist
dies neben zahlreichen Studien und Forschungsprojekten auch der Gesundheitsberichter-
stattung auf Bundes- und Länderebene, die regelmäßig aktuelle Daten und Informationen
zu diesem Thema bereitstellt. Die Etablierung als eigenständige Forschungsrichtung kann
zudem an der Einrichtung von Lehrstühlen und Arbeitsgruppen an Hochschulen und
außeruniversitären Forschungsinstitutionen sowie an den Arbeitsschwerpunkten der
gesundheitswissenschaft lichen Fachgesellschaften festgemacht werden. Ebenso lassen eine
8 Soziale Ungleichheit und Gesundheit 131

Vielzahl von Kongressen und Fachtagungen sowie mehrere Sonder- und Schwerpunkt-
hefte von Fachzeitschriften darauf schließen, dass die gesundheitliche Ungleichheit auch
weiterhin ein zentrales Thema der Forschung sein wird.
Für die künftigen Forschungsbemühungen sind neben den bereits angesprochenen wei-
tere Perspektiven auszumachen, die auch mit Blick auf die Erklärung der gesundheitlichen
Ungleichheit von Bedeutung sind. Dazu zählt unter anderem die Analyse zeitlicher Entwick-
lungen und Trends, für die allerdings lange Zeit nur eine eingeschränkte Datengrundlage zur
Verfügung stand. Die vorliegenden Ergebnisse, die vor allem auf Basis der Gesundheitssurveys
des Robert Koch-Instituts und des SOEP gewonnen wurden, sprechen dafür, dass sich die
beobachtete gesundheitliche Ungleichheit über die Zeit als überaus stabil erwiesen und zum
Teil noch zugenommen hat (Kroll 2010, Lampert et al. 2013b). Auch über den Mikrozensus,
die HBSC-Studie und andere Datenquellen eröffnen sich zunehmend Möglichkeiten für
Trendanalysen. Aufschlussreich sind Trendanalysen vor allem dann, wenn Bezüge zu ge-
samtgesellschaftlichen Entwicklungen, wie z. B. dem sozialen Wandel, der demografischen
Alterung oder der Internationalisierung der Bevölkerung, hergestellt werden.
Eine weitere wichtige Forschungsperspektive stellen lebensphasenbezogene Betrachtungen
dar. Lange Zeit galt das Interesse der sozialepidemiologischen Forschung vorwiegend dem
mittleren Erwachsenenalter, weil die Arbeitswelt als zentraler Entstehungsort der gesund-
heitlichen Ungleichheit galt. Seit etwa 10-15 Jahren ist das Kindes- und Jugendalter stärker
in den Mittelpunkt gerückt, da mehr und mehr deutlich wurde, dass sich der Einfluss des
sozialen Status auf die Gesundheit bereits in jungen Jahren abzeichnet (Hurrelmann et al.
2003, Richter 2005, Lampert et al. 2010). Das höhere Lebensalter hingegen wird seltener
untersucht, sodass zumindest in Deutschland bislang nur wenig über das Ausmaß der
gesundheitlichen Ungleichheit bei älteren Menschen gesagt werden kann. Analysen zur
Situation im höheren Lebensalter werden dadurch erschwert, dass insbesondere sehr alte
Menschen in viele Studien nicht einbezogen werden oder die Fallzahlen sehr gering sind.
Seit einigen Jahren ist ein verstärktes Interesse an Lebensverlaufsanalysen zu verzeichnen,
die Aufschluss über die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen einer benachteiligten
Lebenslage versprechen (Berkman et al. 2014, Dragano & Siegrist 2009). Außerdem lässt
sich die wichtige Frage nach der Wirkungsrichtung klären und damit berücksichtigen, dass
die gesundheitliche Ungleichheit zumindest zum Teil darauf zurückzuführen sein könnte,
dass langandauernde Erkrankungen und Gesundheitsprobleme die Bildungs-, Erwerbs- und
Einkommenschancen vermindern. Für Lebensverlaufsanalysen sind Längsschnitt- und
Kohortenstudien erforderlich, die zunehmend zur Verfügung stehen. Neben dem SOEP
ist auf die inzwischen als Kohortenstudie weitergeführte KiGGS-Studie, das Nationale
Bildungspanel und künftig auch die Nationale Kohorte zu verweisen.
Die soziale Ungleichheit erschließt sich nicht nur über den individuellen sozialen Status,
sondern auch über regionale Unterschiede, die z. B. auf Ebene der für Deutschland ausge-
wiesenen Raumordnungsregionen oder der Kreise und kreisfreien Städte betrachtet werden
können (siehe dazu Sundmacher in diesem Band). Die vorliegenden Studien weisen darauf
hin, dass die Sozialstruktur und Qualität der Wohnumgebung die Lebensbedingungen und
Teilhabechancen der Menschen nachhaltig prägen und auch unabhängig vom individuel-
132 Thomas Lampert

len sozialen Status einen Einfluss auf die Gesundheit haben (Kroll & Lampert 2011, Maier
et al. 2014). Voraussetzung für solche Mehrebenenanalysen ist eine Verknüpfung von in
Bevölkerungsstudien erhobenen Individualdaten mit regionalen Indikatoren, wie sie z. B.
über die INKAR-Datenbank (Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung)
des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung bereitgestellt werden.
Nicht zuletzt stellt der internationale Vergleich eine Herausforderung für die sozialepi-
demiologische Forschung dar. Besondere Bedeutung kommt Vergleichen zwischen den 28
Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den 34 Mitgliedstaaten der OECD zu. Die
vorliegenden Studien machen deutlich, dass in allen Ländern soziale Unterschiede in der
Morbidität und Mortalität bestehen, deren Ausmaß und Erscheinungsbild aber je nach
Wohlfahrtsregime und konjunktureller Entwicklung variieren. Internationale Vergleiche
sind häufig mit der Schwierigkeit verbunden, dass die zugrunde gelegten Daten aus un-
terschiedlichen Quellen stammen und große methodische Unterschiede aufweisen. Eine
bessere Grundlage für vergleichende Betrachtungen ergibt sich über europaweite bevöl-
kerungsbezogene Erhebungen, die mit gleicher Methodik durchgeführt werden, wie z. B.
EU-SILC oder den Europäischen Gesundheitsinterviewsurvey (EHIS).
Die Forschungsperspektiven, die weiteren Aufschluss darüber versprechen, wie die
sozialen Unterschiede in der Morbidität und Mortalität zustande kommen und unter den
gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen immer wieder reproduziert werden,
müssen sich letztlich an der Frage ausrichten, was getan werden kann, um die gesundheit-
liche Ungleichheit zu verringern. Anders als z. B. in Großbritannien, Schweden und den
Niederlanden sind in Deutschland bislang keine umfassenden politischen Strategien und
Aktionsprogramme zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit auf den Weg
gebracht worden. Allerdings wurden in den letzten Jahren vermehrt Handlungsempfehlun-
gen formuliert, unter anderem von der Gesundheitsministerkonferenz (GMK 2010, 2011)
und dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen
(SVR 2006, 2010). Auf Praxis- und Akteursebene ist auf den von der BZgA koordinierten
Kooperationsverbund „Gesundheitliche Chancengleichheit“ zu verweisen, der auf die
Vernetzung von Projekten und Initiativen der soziallagenbezogenen Gesundheitsförderung
und Identifizierung von Beispielen guter Praxis zielt (BZgA 2010). Bezüglich gesetzlich
verankerter Maßnahmen kann die Novellierung des §20 SGB V im Jahr 2000 als eine
erste Weichenstellung angesehen werden. Dadurch sind die gesetzlichen Krankenkassen
zu primärpräventiven Leistungen angehalten, die „den allgemeinen Gesundheitszustand
verbessern und insbesondere einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit
von Gesundheitschancen erbringen“ (GKV Spitzenverband 2010). Neue Impulse könnten
von dem geplanten Präventionsgesetz ausgehen, das Anfang 2016 in Kraft treten soll. Der
vorliegende Gesetzesentwurf macht zumindest deutlich, dass für die angestrebte Stärkung
der Prävention und Gesundheitsförderung unter anderem settingbezogenen Ansätze, die
auch mit Blick auf die Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit von großer Bedeutung
sind, ein hoher Stellenwert eingeräumt wird.
Angesichts der bisherigen Bemühungen und auch der Erfahrungen aus anderen Ländern
ist aber zu berücksichtigen, dass die Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit nicht
8 Soziale Ungleichheit und Gesundheit 133

alleinige Aufgabe der Gesundheitspolitik und der Akteure im Gesundheitswesen sein


kann. Vielmehr bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Strategie, die ressortübergreifend,
unter weiterer Beteiligung z. B. der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Sozial-, Familien- und
Bildungspolitik, entwickelt und abgestimmt wird. Ebenso kommt es auf die Einbeziehung
der in den jeweiligen Politik- und Praxisfeldern tätigen Akteure an, die für die Umsetzung
vieler Maßnahmen zuständig sind und den direkten Kontakt zu den Gruppen und Personen
haben, die erreicht werden sollen.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Personen mit niedrigem sozialen Status schätzen ihren allgemeinen Gesundheitszu-
stand schlechter ein, sind häufiger von chronischen Krankheiten und Beschwerden
betroffen und unterliegen einer höheren vorzeitigen Sterblichkeit.
▶ Die Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheit muss sowohl auf individueller als
auch auf gesellschaftlicher Ebene ansetzen. Zu berücksichtigen sind unter anderem
soziale Unterschiede in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, die Wohnsituation, die
soziale Sicherung, die soziale Integration und Teilhabe sowie die gesundheitsbezo-
gene Versorgung.
▶ Soziale Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung werden inzwischen
durch eine Vielzahl empirischer Studien belegt. Darüber hinausgehende Forschungs-
perspektiven betreffen die Analyse zeitlicher Entwicklungen und Trends, lebenspha-
sen- und lebensverlaufsspezifische Betrachtungen, die Einbeziehung regionaler
Unterschiede und sozialräumlicher Untersuchungen sowie internationale Vergleiche.
▶ Die Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit kann nicht alleinige Aufgabe
der Gesundheitspolitik und der Akteure im Gesundheitswesen sein, sondern erfor-
dert gesamtgesellschaftliche und damit politikbereichsübergreifende Bemühungen.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Wie sind die sozialen Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung unter
dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Chancengerechtigkeit zu bewerten?
▶ Welchen Erklärungsansätzen kommt unter den gegebenen gesellschaftlichen Rah-
menbedingungen die größte Bedeutung zu?
▶ Welche Möglichkeiten zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit ergeben
sich über Prävention, Gesundheitsförderung und medizinische Versorgung?
▶ Inwieweit können internationale Vergleiche zum Verständnis gesundheitlicher
Ungleichheit beitragen und Anknüpfungspunkte für deren Reduzierung aufzeigen?
134 Thomas Lampert

Leseempfehlungen

t Wilkinson, R. & K. Pickett, 2009: The spirit level: why more equal societies almost
always do better. London: Penguin Books.
In diesem Buch wird die gesellschaftliche und politische Relevanz des Themas sehr an-
schaulich beschrieben.

Für eine Einführung in die Grundlagen und Methoden:


t Berkman, L.F., I. Kawachi & M. Glymour (Hrsg.), 2014: Social epidemiology (2. Aufl.).
New York: Oxford University Press.
t Klemperer, D., 2015: Sozialmedizin – Public Health – Gesundheitswissenschaften. Lehr-
buch für Gesundheits- und Sozialberufe. 3., überarbeitete Auflage. Bern: Hogrefe Verlag.

Der aktuelle Forschungstand wird umfassend dargestellt in:


t Richter, M. & K. Hurrelmann (Hrsg.), 2009: Gesundheitliche Ungleichheit. Grund-
lagen, Probleme, Perspektiven. 2., aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften.
t Schott, T. & C. Hornberg (Hrsg.), 2010: Die Gesellschaft und ihre Gesundheit. 20 Jahre
Public Health in Deutschland: Bilanz und Ausblick einer Wissenschaft. Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.sozialepidemiologie.de

Web http://www.gesundheitliche-chancengleichheit.de

Web http://www.armut-und-gesundheit.de

Web http://www.health-inequalities.eu
8 Soziale Ungleichheit und Gesundheit 135

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Gerechtigkeit und Gesundheit
Georg Marckmann
9
9 Gerechtigkeit und Gesundheit

Überblick
▶ Welche moralische Bedeutung haben Gesundheit und Krankheit?
▶ Welche Fragen der Gerechtigkeit stellen sich bei der Organisation eines Gesund-
heitssystems?
▶ Welche Strategien gibt es zum Umgang mit begrenzten Mitteln im Gesundheitswesen
und wie sind diese aus ethischer Sicht zu bewerten?
▶ Welche Kriterien zeichnen eine gerechte Verteilung begrenzt verfügbarer Gesund-
heitsressourcen aus?

1 Einleitung

„Die Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ Dieser dem deutschen
Philosophen Arthur Schopenhauer zugeschriebene Aphorismus verdeutlicht, dass die
Gesundheit eine besondere Bedeutung für die Menschen hat. Aus diesem Grund wirft die
Verteilung begrenzter Ressourcen im Gesundheitswesen nicht nur ökonomische, sondern
auch ethische Fragen auf, genauer: Fragen der Gerechtigkeit. Diesen Fragen widmet sich der
vorliegende Beitrag, vor allem hinsichtlich einer gerechten Gestaltung des Gesundheitswe-
sens, aber auch mit einem Blick auf die allgemeinere Verteilung von Gesundheitschancen
in unserer Gesellschaft. Die Sozialwissenschaften können dabei einen wichtigen Beitrag
leisten, die gesellschaft lichen Strukturen und Prozessen zu erforschen, die den Gesund-
heitszustand der Menschen beeinflussen. Sie schaffen damit die Voraussetzungen, um
sozial bedingte Ungleichheiten der Gesundheitschancen zu identifizieren und Perspektiven
für eine verbesserte Gesundheitsgerechtigkeit zu entwickeln. Im Gesundheitswesen kann
mit sozialwissenschaft lichen Methoden zum einen untersucht werden, wie die Akteure
die aktuelle Verteilungssituation einschätzen und wie sie mit den begrenzt verfügbaren
Ressourcen umgehen. Zum anderen können unterschiedliche Personengruppen danach
befragt werden, welche Kriterien für eine gerechte Verteilung von Ressourcen maßgeblich

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_9, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
140 Georg Marckmann

sind. Der vorliegende Beitrag bietet für die sozialwissenschaftlichen Forscher im Gesund-
heitsbereich einen gerechtigkeitsethischen Hintergrund.

2 Die moralische Bedeutung der Gesundheit

Die wohl prominenteste Theorie zum Verhältnis von Gesundheit und Gerechtigkeit hat
der US-amerikanische Bioethiker Norman Daniels entwickelt (Daniels 2008). Er greift
dabei auf das von John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit begründete Prinzip der
Chancengleichheit zurück (Rawls 1975). Daniels verwendet einen biologisch-funktionalen
Krankheitsbegriff, um die Bedeutung der Gesundheitsversorgung für die Chancenvertei-
lung zu begründen. Er definiert Krankheit als Abweichung von der normalen funktionalen
Organisation eines typischen Mitglieds einer Spezies. Eine Beeinträchtigung der normalen
arttypischen Funktionsfähigkeit durch Krankheit und Behinderung schränkt die Chancen
eines Individuums ein – und zwar im Verhältnis zu dem Anteil am normalen Spektrum
an Lebenschancen, der dem Individuum aufgrund seiner Fähigkeiten und Begabungen
bei Gesundheit zur Verfügung gestanden hätte.
Aus gerechtigkeitsethischen Gründen ist es nun geboten, diejenigen Voraussetzungen –
sofern möglich – zur Verfügung zu stellen, die die normale arttypische Funktionsfähigkeit
und damit eine faire Chancengleichheit aufrechterhalten oder wiederherstellen können.
Daniels liefert damit gute ethische Argumente für einen allgemeinen Zugang zur Gesund-
heitsversorgung und den Ausgleich sozial bedingter Ungleichheiten im Gesundheitszu-
stand. Einwände richten sich aber gegen die normative Unbestimmtheit der arttypischen
Funktionsfähigkeit und des normalen Spektrums an Lebenschancen.

3 Sozioökonomische Ungleichheiten der Gesundheitschancen

Verschiedene empirische Studien belegen, dass sozioökonomische Ungleichheiten – bedingt


durch Unterschiede in Bildung, Einkommen und sozialem Status – einen wesentlichen
Einfluss auf den Gesundheitszustand und damit die Verwirklichung von Lebenschancen
haben (vgl. Mielck 2005) (siehe auch Lampert in diesem Band). Sie lassen sich ethisch über
zwei verschiedene Argumentationslinien bewerten. Sofern die sozialen Ungleichheiten
selbst eine Ungerechtigkeit darstellen, sind auch die damit verbundenen gesundheitlichen
Diskrepanzen ungerecht. Alternativ kann die Argumentation am besonderen morali-
schen Status des Gutes Gesundheit ansetzen (siehe oben). Damit sprechen überzeugende
gerechtigkeitsethische Argumente dafür, nicht nur einen allgemeinen, einkommens-
unabhängigen Zugang zur medizinischen Versorgung zu gewährleisten, sondern auch
bevölkerungsbezogene Maßnahmen zu ergreifen, die darauf abzielen, diejenigen sozialen
Ungleichheiten und Benachteiligungen zu reduzieren, die nachweislich mit schlechteren
Gesundheitschancen verbunden sind.
9 Gerechtigkeit und Gesundheit 141

4 Gerechtigkeit im Gesundheitswesen

Fragen der Verteilungsgerechtigkeit ergeben sich im Gesundheitswesen auf zwei Ebe-


nen (Kersting 2008). Auf der Systemebene stellt sich zunächst die Frage, nach welchen
Grundprinzipien eine gerechte Gesundheitsversorgung zu organisieren ist: Sollen die
Gesundheitsgüter auf einem freien Markt oder im Rahmen eines zentral organisierten
öffentlichen Gesundheitswesens verteilt werden? Sofern man sich für eine – zumindest
teilweise – staatlich regulierte Gesundheitsversorgung entschieden hat, ergibt sich auf einer
nachgeordneten Ebene ein zweites Gerechtigkeitsproblem: Nach welchen Verfahren und
Kriterien können die begrenzt verfügbaren Mittel innerhalb des Systems gerecht verteilt
werden?
Zunächst sei die Frage erörtert, ob und ggf. inwieweit die Verteilung von Gesundheitsres-
sourcen dem freien Markt überlassen werden sollte. Die Attraktivität einer marktorientierten
Verteilung liegt darin, dass – unter Bedingungen eines vollkommenen Wettbewerbs – die
Güter effizient produziert und nach den Präferenzen der Konsumenten, ausgedrückt in
ihrer Zahlungsbereitschaft, verteilt werden. Damit könnten viele schwierige Entscheidun-
gen über Verfahren und Kriterien der Verteilung von Gesundheitsleistungen vermieden
werden, Versicherte und Patienten würden ihren individuellen gesundheitsbezogenen
Präferenzen auf dem freien Markt Ausdruck verleihen.
Ökonomische und gerechtigkeitsethische Argumente sprechen jedoch dagegen, die Ver-
teilung von Gesundheitsgütern allein dem freien Markt zu überlassen. Den ökonomischen
Argumenten zufolge weisen die Märkte für Gesundheitsgüter Eigenschaften auf, die zu einem
Marktversagen führen (Breyer et al. 2013, Passon & Siegel 2010). Wesentliche Gründe dafür
liegen in der eingeschränkten Konsumentensouveränität und Informationsasymmetrien
zwischen Arzt und Patient. Patienten befinden sich häufig in einer existentiellen Notlage,
die es ihnen erschwert oder unmöglich macht, verschiedene Angebote zu vergleichen und
eine rationale Auswahl zu treffen. Informationen über Qualität und Preise medizinischer
Leistungen sind überdies nur sehr eingeschränkt verfügbar. Ohne staatliche Regulierung
kann deshalb keine optimale Allokation erreicht werden.
Die gerechtigkeitsethischen Argumente setzen an der moralischen Relevanz der Gesundheit
als ein besonders fundamentales Gut an, das alle Menschen benötigen, um ihre Lebenspläne
zu verwirklichen (Kersting 2008). Auf einem freien Markt werden Gesundheitsleistungen
vor allem nach der individuellen Zahlungsfähigkeit verteilt, was aufgrund der ungleichen
Einkommensvoraussetzungen zu einer ungerechten Verteilung von Gesundheitsgütern
führen würde. So lässt sich die Gewährleistung einer medizinischen Grundversorgung
im Rahmen eines solidarisch finanzierten öffentlichen Gesundheitswesens unabhängig
vom Einkommen begründen: Es ist gerechter, allen Bürgern einen begrenzten Zugang
zu wichtigen Gesundheitsleistungen zu ermöglichen als nur einem Teil der Bevölkerung
unbegrenzten Zugang zu allen verfügbaren Leistungen.
142 Georg Marckmann

5 Strategien zum Umgang mit begrenzten Mitteln


im Gesundheitswesen

Die solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung im Bereich der gesetzlichen Kran-


kenversicherung in Deutschland steht vor erheblichen Herausforderungen: Aller Vor-
aussicht nach wird sich die Diskrepanz zwischen medizinisch sinnvoll Machbarem und
solidarisch Finanzierbarem in den kommenden Jahren weiter vergrößern. Die Nachfrage
nach Gesundheitsleistungen steigt durch medizinisch-technische Innovationen und die
demographische Entwicklung (wachsender Anteil älterer Menschen mit chronischen Er-
krankungen). Dem stehen begrenzte finanzielle Ressourcen gegenüber, u. a. auch bedingt
durch den demographischen Wandel, da der steigende Altenquotient die Einnahmesituation
der umlagefinanzierten gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) schwächt. Es besteht
folglich ein Bedarf an medizinisch rationalen und ethisch vertretbaren Strategien, wie
mit der zunehmenden Mittelknappheit im Gesundheitswesen umgegangen werden kann.
Grundsätzlich bieten sich hier drei Optionen (Marckmann 2007): (1) Effizienzsteigerungen
(Rationalisierungen), (2) eine erhöhte Mittelzuweisung an das Gesundheitswesen und (3)
Leistungsbegrenzungen (Rationierungen) (siehe Abb. 1).

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Abb. 1 Bedingungen der Mittelknappheit im Gesundheitswesen und Strategien zum Umgang


mit der Mittelknappheit
Quelle: Marckmann 2007
9 Gerechtigkeit und Gesundheit 143

5.1 Effizienzsteigerungen (Rationalisierungen)

Es ist allgemein anerkannt und mit vielen Beispielen belegt, dass im deutschen Gesundheits-
wesen noch erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven vorhanden sind, deren Mobilisierung
eine prioritäre, andauernde Verpflichtung der Gesundheitspolitik und aller Akteure im
Gesundheitswesen darstellt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die US-amerikanische,
vom American Board of Internal Medicine (ABIM) begründete „Choosing Wisely“ Initia-
tive, bei der verschiedene Fachgesellschaften sich auf jeweils 5 Maßnahmen verständigen
(sog. Top-5-Listen), die bei bestimmten Erkrankungen unterlassen werden sollten, um
Überversorgung zu reduzieren (www.choosingwisely.org). Die Initiative wird inzwischen
auch in Deutschland unter dem Motto „Gemeinsam Klug Entscheiden“ diskutiert (Strech
et al. 2014). Wirtschaftlichkeitsreserven lassen sich aber nicht allesamt und schon gar nicht
sofort ausschöpfen, da die notwendigen Rationalisierungen methodisch aufwändig sind
(vgl. die evidenzbasierte Leitlinienentwicklung) und häufig strukturelle Veränderungen
im Versorgungssystem erfordern (vgl. die bessere Verzahnung von ambulanter und stati-
onärer Versorgung oder die Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung). Ratio-
nalisierungen reduzieren deshalb nur mit zeitlicher Latenz und ohne Erfolgsgarantie den
Mittelverbrauch. Zudem erlauben sie in der Regel nur einmalige, im Ausmaß begrenzte
Einsparungen, während medizinische Innovationen und demographischer Wandel die
Ausgaben anhaltend in die Höhe treiben. Trotz aller Bemühungen werden Rationalisie-
rungen deshalb ein weiteres Auseinanderklaffen von Machbarem und Finanzierbarem
nicht verhindern können.

5.2 Erhöhung der Mittel im Gesundheitswesen

Verschiedene ethische Argumente sprechen dafür, bei einer Erhörung der Gesundheits-
ausgaben eher zurückhaltend zu sein: Der Gesundheitssektor konkurriert mit anderen
Bereichen und moralisch relevanten Gütern wie z. B. Bildung, Umweltschutz, Bekämp-
fung von Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot oder innere Sicherheit um begrenzte
öffentliche Finanzmittel. Eine weitere Erhöhung der Gesundheitsausgaben kann deshalb
nur mit Einschränkungen (‚Opportunitätskosten‘) in anderen sozialstaatlichen Bereichen
erkauft werden. Dies wäre nicht nur ethisch problematisch, sondern hätte auch negative
Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung, da z. B. Bildung eine wesentliche
Determinante des Gesundheitszustands darstellt. Zudem weisen viele medizinische Ver-
fahren einen abnehmenden Grenznutzen auf: Der (oft geringe) Nutzengewinn durch neue
Behandlungsverfahren erfordert überproportional hohe Ausgaben. Eine Obergrenze der
Gesundheitsausgaben lässt sich aus diesen Argumenten jedoch nicht ableiten, sondern muss
vielmehr normativ festgelegt werden. Die Mittelknappheit im Gesundheitswesen beruht
folglich auf Wertsetzungen, die zum einen vom medizinischen Entwicklungsstand und der
ökonomischen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft abhängen, zum anderen aber auf die
144 Georg Marckmann

grundlegende Frage verweisen, wie viel wir bereit sind, für die medizinische Versorgung
im Vergleich zu anderen Gütern auszugeben.

5.3 Leistungsbegrenzungen (Rationierungen)

Wenn Effizienzsteigerungen den Kostenanstieg nicht ausreichend kompensieren können und


eine weitere Erhöhung der Gesundheitsausgaben ethisch und ökonomisch nicht vertretbar
ist, verbleibt als Alternative nur die Begrenzung des Leistungsumfangs („Rationierung“).
Eine Rationierung liegt vor, wenn einem Patienten (vorübergehend oder dauerhaft) eine
medizinische Maßnahme aus Kostengründen vorenthalten wird, die diesem im Vergleich zu
alternativen Maßnahmen einen Nutzengewinn geboten hätte (Ubel & Goold 1998). Einen
Nutzen haben diejenigen Maßnahmen, die die Lebenserwartung und/oder die Lebensqua-
lität des Patienten verbessern. Empirischen Studien zufolge sind Rationierungen bereits
heute im deutschen Gesundheitswesen an der Tagesordnung (vgl. z. B. Strech et al. 2009).
In Abhängigkeit von der Verteilungsebene kann man zwei Formen der Leistungsbe-
grenzung unterscheiden (siehe Abb. 2). Explizite Leistungsbegrenzungen erfolgen oberhalb
der individuellen Arzt-Patient-Interaktion nach ausdrücklich festgelegten, allgemein
verbindlichen Regeln und können entweder zum generellen Ausschluss von Leistungen
(Begrenzung des Leistungskatalogs) oder zur Einschränkung von Indikationen (z. B. kos-
tensensible Leitlinien, Marckmann 2015) führen. Bei impliziten Leistungsbegrenzungen
erfolgt die Zuteilung hingegen im Einzelfall durch die Leistungserbringer – gegebenenfalls
unter Beteiligung der Patienten. Implizite Leistungsbegrenzungen resultieren aus Budge-
tierungen und finanziellen Anreizen.
Explizite Leistungsbegrenzungen weisen aus ethischer Sicht verschiedene Vorteile auf: Sie
sichern transparente und konsistente Verteilungsentscheidungen und erhöhen dadurch die
Akzeptanz bei Versicherten und Patienten. Zudem entlasten explizite Leistungsbegrenzungen
das Arzt-Patient-Verhältnis, da die Zuteilungsentscheidungen nicht im Einzelfall getroffen
werden müssen, sondern allgemein verbindlichen Vorgaben folgen. Entscheidungs- und
Interessenskonflikte auf ärztlicher Seite lassen sich auf diese Weise reduzieren. Implizite
Leistungsbegrenzungen bieten demgegenüber eine größere Flexibilität, um auf die Beson-
derheiten des Einzelfalles eingehen zu können. Da für die Zuteilungsentscheidungen im
Einzelfall keine allgemein verbindlichen Regeln vorgegeben sind, besteht aber die Gefahr,
dass medizinische Leistungen nach intransparenten, von Patient zu Patient und Arzt zu
Arzt wechselnden Kriterien verteilt werden. Allokationsentscheidungen sollten deshalb
nach Möglichkeit explizit auf der Grundlage klar definierter Regeln erfolgen, implizite Leis-
tungsbegrenzungen werden sich aber aus pragmatischen Gründen nicht vermeiden lassen.
9 Gerechtigkeit und Gesundheit 145

    



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Abb. 2 Formen und Instrumente der Leistungsbegrenzung (Rationierungen)


Quelle: Marckmann 2007

6 Priorisierung im Gesundheitswesen

Wenn Leistungseinschränkungen im Gesundheitswesen unvermeidlich sind, sollte vorab


geklärt werden, welche Leistungen und Leistungsbereiche der Gesundheitsversorgung
wichtiger und weniger wichtig sind. Dieses Vorgehen, bei dem die relative Vorrangigkeit von
medizinischen Maßnahmen, Indikationen, Patientengruppen oder ganzen Versorgungsbe-
reichen bestimmt wird, bezeichnet man als Priorisierung (Zentrale Ethikkommission 2000).
Das Ergebnis einer Priorisierung kann in der Aufstellung einer Rangordnung von Di-
agnose-Maßnahmen-Kombinationen innerhalb eines bestimmten Versorgungsbereichs
bestehen (sogenannte vertikale Priorisierung), wie sie in Schweden zum Beispiel für
Herzkranke und Schlaganfallpatienten entwickelt wurde (Raspe & Meyer 2009). Denkbar
ist auch, dass im Rahmen einer horizontalen Priorisierung verschiedenen Versorgungs-
bereichen eine unterschiedliche Wichtigkeit zugeordnet wird. Im Ergebnis erlaubt eine
Priorisierung Aussagen darüber, was im Gesundheitswesen wichtiger und weniger wichtig
ist. Die resultierenden Prioritäten bieten dann zwei verschiedene Anwendungsperspekti-
ven im Gesundheitswesen: Zum einen können die Versorgungsbereiche mit einer hohen
Priorität ausgebaut werden (z. B. die ambulante Versorgung älterer Menschen), womit die
Priorisierung Grundlage für eine verbesserte Versorgungsqualität sein kann. Zum anderen
können Leistungen in denjenigen Bereichen der Versorgung eingeschränkt werden, denen
146 Georg Marckmann

nur eine geringe Wichtigkeit zukommt, weil zum Beispiel die Maßnahmen den Patien-
ten nur einen geringen Nutzengewinn bieten. In diesem Fall, den man als Rationierung
bezeichnen kann, leisten Prioritäten einen Beitrag zu einer gezielten Ausgabenkontrolle
im Gesundheitswesen.
Priorisierungen stellen damit keine Einbahnstraße zur Rationierung dar, sondern bieten
aus ethischer Sicht die Chance, Versorgungsqualität und Gesundheitsausgaben nach klar
vorgegebenen Kriterien explizit gegeneinander abzuwägen und so zu einem optimalen
Einsatz knapper Gesundheitsressourcen beizutragen. Wenn Rationierungen unvermeid-
lich sind, sollte diesen eine explizite Priorisierung gedanklich und zeitlich vorausgehen
(Raspe 2001). Im Gegensatz zu anderen Ländern (zur Übersicht vgl. Marckmann 2009b)
gibt es in Deutschland bislang noch keinen breiten gesellschaftspolitischen Diskurs über
Prioritäten im Gesundheitswesen. In wissenschaftlichen Kreisen wird hingegen vermehrt
darüber nachgedacht, wie Priorisierungen in einer ethisch vertretbaren Art und Weise
durchgeführt werden können (z. B. Diederich et al. 2011, Wohlgemuth & Freitag 2009),
zudem hat die Bundesärztekammer erneut eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die das Thema
Priorisierung aus Sicht der Ärzteschaft weiterentwickeln soll (Raspe & Schulze 2013).

7 Gerechte Grenzen der Gesundheitsversorgung

Sowohl bei expliziten als auch impliziten Leistungsbegrenzungen stellt sich die Frage, wie
die Grenzen der Gesundheitsversorgung auf eine gerechte Art und Weise gezogen werden
können. Dabei ist zwischen formalen und materialen Verteilungskriterien zu unterscheiden.
Während die formalen Kriterien die Bedingungen eines fairen Verfahrens zur Leistungs-
begrenzung definieren, markieren die materialen Kriterien die ethischen Maßstäbe, an
denen sich die Verteilung inhaltlich orientieren sollte. Zu den formalen Kriterien einer
gerechten Verteilung gehören (Daniels & Sabin 2002, Emanuel 2000):

t Transparenz: Patienten und Versicherte sollten über Leistungsbegrenzungen und die


zugrunde liegenden Kriterien informiert sein.
t Konsistenz: Grundsätzlich sollten bei allen Patienten die gleichen Zuteilungsregeln
und -kriterien angewendet werden, sodass Patienten in vergleichbaren medizinischen
Situationen auch gleich behandelt werden, sofern dem nicht individuelle Patientenprä-
ferenzen entgegenstehen.
t Legitimität: Verteilungsentscheidungen sollten durch demokratisch legitimierte Ins-
titutionen erfolgen.
t Begründung: Jede Leistungsbegrenzung sollte auf einer nachvollziehbaren, relevanten
Begründung beruhen, die den betroffenen Patienten und Versicherten zugänglich ist.
t Evidenzbasierung: Jedes Allokationsschema sollte die verfügbare wissenschaftliche
Evidenz hinsichtlich des gesundheitlichen Nutzens und der zu erwarteten Kosten
berücksichtigen.
9 Gerechtigkeit und Gesundheit 147

t Partizipationsmöglichkeiten: Da sich gerechte Leistungsbegrenzungen nicht direkt aus


einer ethischen Theorie ableiten lassen, sollten für Bürger und Patienten Möglichkeiten
zur Partizipation am Entscheidungsprozess zur Verfügung stehen.
t Minimierung von Interessenkonflikten: Allokationsentscheidungen unter Knappheits-
bedingungen sollten so geregelt sein, dass sie Interessenkonflikte möglichst vermeiden.
t Widerspruchsmöglichkeiten: Im Einzelfall sollten Patienten, denen der Zugang zu einer
von ihnen gewünschten Leistung verwehrt wird, Widerspruchsmöglichkeiten offen stehen.
t Regulierung: Durch eine freiwillige oder staatliche Regulierung sollte sicher gestellt sein,
dass diese Kriterien eines fairen Entscheidungsprozesses auch tatsächlich eingehalten
werden.

Folgende materiale Verteilungskriterien, die sich auch im politischen Prozess der Prioritä-
tensetzung in verschiedenen Ländern durchsetzen konnten (für eine Übersicht vgl. Marck-
mann 2009b), scheinen ethisch am besten begründbar (Zentrale Ethikkommission 2007):

t Medizinische Bedürftigkeit: Vorrang sollten diejenigen Patienten genießen, die am meisten


der medizinischen Hilfe bedürfen, gemessen am Schweregrad ihrer Erkrankung und
der Dringlichkeit der Behandlung.
t Erwarteter medizinischer Nutzen: Darüber hinaus ist aber auch der zu erwartende
individuelle medizinische Nutzen zu berücksichtigen. Leistungsbegrenzungen sollten
diese zunächst bei denjenigen Maßnahmen und Indikationen ansetzen, die für den
Patienten nur einen geringen Nutzengewinn bieten.
t Kosten-Nutzen-Verhältnis: Bei Zuteilungsentscheidungen unter Knappheitsbedingungen
ist auch das Verhältnis von Ressourcenaufwand zu erwartetem medizinischem Nutzen
hinzuzuziehen.

Als Metakriterium ist überdies der Evidenzgrad des erwarteten Nutzens und der entstehenden
Kosten zu berücksichtigen: Maßnahmen, deren Nutzen durch Studien nur schlecht belegt
ist, sollten eine geringere Priorität haben. Zu den aus ethischer Sicht nicht akzeptablen
Kriterien gehören Alter, Geschlecht, sozialer Status, Zahlungsfähigkeit oder der Versicher-
tenstatus des Patienten. Ethisch am ehesten vertretbar erscheint eine Kombination der drei
Verteilungskriterien, die neben dem Schweregrad der Erkrankung und der Dringlichkeit
der Behandlung den erwarteten medizinischen Nutzen und das Kosten-Nutzen-Verhältnis
der Maßnahmen berücksichtigt. Die große ethische Herausforderung besteht dabei darin,
das relative Gewicht der drei Kriterien bei der Mittelverteilung zu bestimmen, da sich
dieses nicht aus einer übergeordneten ethischen Theorie ableiten lässt. Vergleichsweise
unkontrovers dürfte die Maxime sein, zunächst auf solche Leistungen zu verzichten, die
– im Vergleich zur kostengünstigeren Alternative – dem Patienten nur einen geringen
Nutzengewinn bei erheblichen Zusatzkosten bieten (Buyx et al. 2011, Marckmann 2009a).
148 Georg Marckmann

8 Schlussfolgerungen

Aufgrund der besonderen moralischen Bedeutung der Gesundheit sollten sozioökonomisch


bedingte Ungleichheiten in den Gesundheitschancen nach Möglichkeit ausgeglichen und
ein allgemeiner, gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung gewährleistet werden. Trotz
des zunehmenden finanziellen Drucks durch medizinische Innovationen und den demogra-
phischen Wandel, sprechen ökonomische wie gerechtigkeitsethische Argumente dafür, ein
zumindest teilweise staatlich organisiertes und solidarisch finanziertes Gesundheitssystem
aufrecht zu erhalten. Eine Begrenzung der Gesundheitsausgaben ist auch aus ethischer
Perspektive grundsätzlich gerechtfertigt, mehr Geld ins System ist auf Dauer keine Lösung.
Dies bedeutet: Der verantwortungsvolle Umgang mit begrenzten Gesundheitsressourcen
wird uns als medizinische, ethische und ökonomische Herausforderung auf absehbare Zeit
erhalten bleiben. Dies erfordert zum einen noch verstärkte Bemühungen um eine Elimi-
nation von Über- und Fehlversorgung, zum anderen die Entwicklung von Instrumenten
für ethisch vertretbare Leistungseinschränkungen. Diesen sollten ein öffentlicher und
fachlicher Diskurs über Prioritäten in der Gesundheitsversorgung vorausgehen.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Gesundheit ist gerechtigkeitsethisch relevant, weil sie eine Grundvoraussetzung für
die Realisierung von Lebenschancen und damit für eine faire Chancenverteilung
darstellt.
▶ Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, sozial bedingte Unterschiede in den Gesundheit-
schancen auszugleichen und einen allgemeinen, gleichen Zugang zur Gesundheits-
versorgung zu gewährleisten.
▶ Die primär und dauerhaft gebotenen Rationalisierungsbemühungen werden nicht
ausreichen, um den zunehmenden Kostendruck im Gesundheitswesen durch medi-
zinische Innovationen und die Alterung der Bevölkerung ausreichend zu kompensie-
ren. Damit werden Leistungseinschränkungen („Rationierungen“) unausweichlich.
▶ Priorisierungen, d. h. die Bestimmung der relativen Wichtigkeit von medizinischen
Maßnahmen, Indikationen, Patientengruppen oder ganzen Versorgungsbereichen,
stellen die Voraussetzung für eine bedarfsorientierte Ressourcenallokation im Hin-
blick auf Gesundheit und Krankheit dar.
▶ Unvermeidliche Leistungseinschränkungen sollten nach ethisch gut begründeten
formalen (→ faires Entscheidungsverfahren) und materialen (→ inhaltliche Begrün-
dung der Entscheidung) Kriterien erfolgen.
9 Gerechtigkeit und Gesundheit 149

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Bitte erläutern Sie die moralische Bedeutung der Gesundheit und überlegen Sie,
welche Konsequenzen sich daraus außerhalb der Gesundheitsversorgung ergeben.
Bitte nennen Sie drei konkrete Beispiele, in denen Sie Handlungsbedarf sehen.
▶ In einem vergleichsweise reichen Land wie Deutschland wäre es eigentlich nahe-
liegend, dem steigenden Bedarf an Gesundheitsleistungen mit einer Erhöhung der
Gesundheitsausgaben zu begegnen: Bitte überlegen Sie, welche Argumente dafür
und dagegen sprechen und begründen Sie am Ende Ihre eigene Position.
▶ Gemäß dem Prinzip der Nutzenmaximierung wäre es geboten, die begrenzt ver-
fügbaren Gesundheitsressourcen so einzusetzen, dass der größtmögliche Nutzen
resultiert. Bitte erörtern Sie, welche gerechtigkeitsethischen Argumente gegen eine
rein Effizienz-orientierte Allokation sprechen.
▶ Bitte überlegen Sie sich drei konkrete Beispiele, wie sozialwissenschaftliche For-
schung einen Beitrag zu den gerechtigkeitsethischen Fragen im Zusammenhang
mit Gesundheit und Krankheit leisten können.

Leseempfehlungen

t Daniels, N., 2008: Just health: Meeting health needs fairly. Cambridge University Press,
Cambridge.
Das Standardwerk mit der international prominentesten Theorie zum Verhältnis von
Gesundheit und Gerechtigkeit.

t Diederich, A., C. Koch, R. Kray & R. Sibbel (Hrsg.), 2011: Priorisierte Medizin. Ausweg
oder Sackgasse der Gesundheitsgesellschaft? Wiesbaden: Gabler Verlag.
Dieser Sammelband bietet einen Einblick in Forschungsergebnisse zur Priorisierung aus
Deutschland.

t Friedrich, D.R., S. Stumpf & K. Alber, 2012: Stakeholderpartizipation und Priorisierung


– eine Betrachtung des normativen Status quantitativer und qualitativer Methoden.
Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 106(6): 412-417.
Die Autoren diskutieren, mit welchen Methoden die Öffentlichkeit und betroffenen Stake-
holder in die Priorisierungen einbezogen werden können und was aus ethischer Sicht die
Stärken und Schwächen dieser Methoden sind.

t Marckmann, G., 2009: Priorisierung im Gesundheitswesen: Was können wir aus den
internationalen Erfahrungen lernen? Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität
im Gesundheitswesen 103(2): 85-91.
Dieser Beitrag bietet einen schnellen Überblick über wichtige internationale Erfahrungen
mit der Priorisierung im Gesundheitswesen.
150 Georg Marckmann

t Strech, D., K. Börchers, D. Freyer, A. Neumann, J. Wasem & G. Marckmann, 2008:


Ärztliches Handeln bei Mittelknappheit. Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie.
Ethik in der Medizin 20(2): 94-109.
Der Artikel bietet ein Beispiel für qualitative Forschung zur Mittelknappheit im Ge-
sundheitswesen. Im Fokus der Interviews stand die Frage, wie Ärzte die Mittelknappheit
wahrnehmen und mit ihr im Alltag umgehen.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.priorisierung-in-der-medizin.de
DFG Forschergruppe „Priorisierung in der Berücksichtigung der Gesetzlichen Kran-
kenversicherung (GKV).

Web http://www.svr-gesundheit.de
Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.

Web http://www.gerechte-gesundheit.de
Gerechte Gesundheit: Das Portal zur Verteilungsdebatte (Presseagentur Gesundheit).

Film https://www.youtube.com/watch?v=FqQ-JuRDkl8
Humorvoller Videoclip zur Choosing Wisely Initiative von James Mc Cormack.

Literatur

Breyer, F., P. Zweifel & M. Kifmann, 2013: Gesundheitsökonomik. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag.
Buyx, A.M., D.R. Friedrich & B. Schöne-Seifert, 2011: Ethics and effectiveness: rationing healthcare
by thresholds of minimum effectiveness. BMJ 342:d54.
Daniels, N., 2008: Just health: Meeting health needs fairly. Cambridge: Cambridge University Press.
Daniels, N. & J.E. Sabin, 2002: Setting limits fairly. Oxford: Oxford University Press.
Diederich, A., C. Koch, R. Kray & R. Sibbel (Hrsg.), 2011: Priorisierte Medizin. Ausweg oder Sack-
gasse der Gesundheitsgesellschaft? Wiesbaden: Gabler Verlag.
Emanuel, E.J., 2000: Justice and managed care. Four principles for the just allocation of health care
resources. Hastings Center Report 30(3): 8-16.
Kersting, W., 2008: Gerechtigkeitsethische Überlegungen zur Gesundheitsversorgung. S. 23-47
in: O. Schöffski & J.-M. von der Schulenburg (Hrsg.), Gesundheitsökonomische Evaluationen.
Berlin: Springer-Verlag.
Marckmann, G., 2007: Zwischen Skylla und Charybdis: Reformoptionen im Gesundheitswesen aus
ethischer Perspektive. Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 12(1): 96-100.
Marckmann, G., 2009a: Nutzenmaximierung mit gerechtigkeitsethischen Einschränkungen: Pers-
pektiven einer ethisch vertretbaren Kosten-Nutzen-Bewertung. Das Gesundheitswesen 71: 2-8.
9 Gerechtigkeit und Gesundheit 151

Marckmann, G., 2009b: Priorisierung im Gesundheitswesen: Was können wir aus den internationalen
Erfahrungen lernen? Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen
103(2): 85-91.
Marckmann, G. (Hrsg.), 2015: Kostensensible Leitlinien. Evidenzbasierte Leistungssteuerung für
eine effiziente und gerechte Gesundheitsversorgung. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche
Verlagsgesellschaft.
Mielck, A., 2005: Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Einführung in die aktuelle Diskussion.
Bern: Verlag Hans Huber.
Passon, A. & M. Siegel, 2010: Das Marktmodell im Gesundheitssystem. S. 112-133 in: K.W. Lauterbach,
M. Lüngen & M. Schrappe (Hrsg.), Gesundheitsökonomie, Management und Evidence-based
Medicine Stuttgart: Schattauer.
Raspe, H., 2001: Müssen, können und dürfen wir in unserer medizinischen Versorgung Prioritäten
setzen? Kommentar zur Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärzte-
kammer „Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenver-
sicherung (GKV)“. S. 327-342 in: L. Honnefelder & C. Streffer (Hrsg.), Jahrbuch für Wissenschaft
und Ethik. Band 6. Berlin: Walter de Gruyter.
Raspe, H. & T. Meyer, 2009: Priorisierung: Vom schwedischen Vorbild lernen. Deutsches Ärzteblatt
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notwendig und hilfreich. Deutsches Ärzteblatt 110(22): 1091-1096.
Rawls, J., 1975: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Strech, D., M. Danis, M. Löb & G. Marckmann, 2009: Ausmaß und Auswirkungen von Rationierung
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Deutsche Medizinische Wochenschrift 134: 1261-1266.
Strech, D., M. Follmann, D. Klemperer, M. Lelgemann, G. Ollenschlager, H. Raspe & M. Notha-
cker, 2014: When Choosing Wisely meets clinical practice guidelines. Zeitschrift für Evidenz,
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Ubel, P.A. & S.D. Goold, 1998: ‚Rationing‘ health care. Not all definitions are created equal. Archives
of Internal Medicine 158(3): 209-214.
Wohlgemuth, W.A. & M.H. Freitag (Hrsg.), 2009: Priorisierung in der Medizin – Interdisziplinäre
Forschungsansätze. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten
(Zentrale Ethikkommission), 2000: Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der
Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Müssen und können wir uns entscheiden? Deutsches
Ärzteblatt 97(15): 1017-1023.
Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten
(Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer, 2007: Priorisierung medizinischer
Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Deutsches Ärzteblatt
104(40): 2750-2754.
Migration und Gesundheit
Jacob Spallek und Oliver Razum
10
10 Migration und Gesundheit

Überblick
▶ Was ist Migration und warum ist Migration für die Gesundheit relevant?
▶ Welche Erklärungsmodelle für den Zusammenhang zwischen Migration und Ge-
sundheit gibt es?
▶ Welches sind die zentralen Elemente der Erklärungsmodelle?
▶ Welche Rolle spielen andere (soziale) Faktoren beim Zusammenhang zwischen
Migration und Gesundheit?

1 Einleitung

Deutschland ist seit vielen Jahren ein Einwanderungsland. In den vergangenen vier Jahr-
zehnten ist die Bevölkerung in Deutschland nur deshalb gewachsen, weil Menschen zuge-
wandert sind. Ohne Zuwanderung hätte Deutschland heute rund 11 Millionen Einwohner
weniger (Berechnungen auf Basis von Destatis. Zahlen für 2013: aktuelle Bevölkerung
82,3 Mio., ohne Wanderung 71,6 Mio., Differenz rund 10,8 Mio. Menschen. Siehe Medi-
endienst Integration 2015). Angesichts des Alterns der autochthonen (nicht zugewander-
ten) Bevölkerung hätte eine solche Rückwärtsentwicklung negative wirtschaft liche und
gesellschaft liche Konsequenzen.
Unter Migration versteht man die vorübergehende oder dauerhafte Verlegung des
Lebensmittelpunktes über Staatsgrenzen hinweg. Migration kann freiwillig und geplant
geschehen, etwa, um die eigene wirtschaft liche Lage zu verbessern oder Familienangehöri-
gen nachzureisen. Migration kann aber auch aufgrund von politischer Verfolgung, Krieg,
Hunger, Umweltkatastrophen oder anderen Ereignissen erfolgen, dann oft ungeplant und
unfreiwillig. Seit 1960 ist die Anzahl von MigrantInnen weltweit stetig gestiegen. Heute
sind weltweit rund 200 Millionen Menschen MigrantInnen, das entspricht 3,5 Prozent der
Weltbevölkerung (IOM 2005, UN 2013). Mehr als die Hälfte der MigrantInnen ist weiblich
(IOM 2005). Migration ist ein weltweites Phänomen, aus Gründen der Themeneingren-

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
154 Jacob Spallek und Oliver Razum

zung bezieht sich dieses Kapitel aber hauptsächlich auf den Kontext der Migration nach
Deutschland und andere westeuropäische Länder.
In Deutschland hat jeder fünfte Einwohner einen Migrationshintergrund (Statistisches
Bundesamt 2014), bei Neugeborenen ist der Anteil noch höher (Razum et al. 2008). Der
deutsche Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ schließt nicht nur Menschen
ein, die selbst zugewandert sind, sondern auch deren Nachkommen (Kinder, in manchen
Definitionen auch Enkelkinder). Dieser Definition liegt die Überlegung zugrunde, dass
Menschen noch lange nach der Migration durch die Kultur des Herkunftslandes geprägt
sein können. Diese Prägung kann von Generation zu Generation weitergegeben werden
(„kulturelle Vererbung“). Es kann aber auch schnell ein Prozess der Akkulturation (also der
Anpassung an die Kultur des Ziellandes der Migration) einsetzen – Verallgemeinerungen
sind hier nicht möglich. Auch biologische Eigenschaften wie die Hautfarbe werden an die
Nachkommen weitergeben. Es gibt keine klaren Definitionen, nach wie vielen Generationen
Nachfahren von Zuwanderern keinen „Migrationshintergrund“ mehr haben.
In diesem Kapitel zeigen wir anhand der gängigen Erklärungsmodelle und ausgewählter
empirischer Belege, dass Frauen und Männer mit Migrationshintergrund, im Folgenden für
eine bessere Lesbarkeit „Migranten“ genannt, im Vergleich zur autochthonen (nicht-migrier-
ten) Bevölkerung in einer gesundheitlich besonderen Situation sind. Wir nennen weitere
wichtige Faktoren, insbesondere den sozialen Status, und methodische Aspekte, die für
die valide Beschreibung und Interpretation der Gesundheit von Migranten wichtig sind.

2 Gesundheitsrisiken von Migranten:


Erklärungsmodelle und empirische Belege

Diverse empirische Arbeiten zeigen gesundheitliche Unterschiede zwischen Menschen


mit und ohne Migrationshintergrund. Eine Übersicht über empirische Ergebnisse aus
Deutschland liefern Razum et al. (2008), internationale Perspektiven finden sich u. a. bei
Rechel et al. (2013) oder Razum & Samkange-Zeeb (2014). Die Gruppe der Menschen
mit Migrationshintergrund ist dabei in sich sehr heterogen, z. B. nach Herkunftsland,
Migrationsgrund, -zeitpunkt, Alter, Geschlecht, sozialem Status. Damit einhergehend ist
auch die gesundheitliche Situation der Migranten sehr unterschiedlich und nicht verall-
gemeinernd beschreibbar.
Um den Zusammenhang zwischen Migration und Gesundheit in seiner Komplexität
zusammenfassend darstellen und übergeordnete Mechanismen, die zur besonderen ge-
sundheitlichen Situation von Migranten beitragen, benennen zu können, wurden über die
letzten Jahre verschiedene Modelle entwickelt. Dazu gehören unter anderem das Modell
des „gesunden Migranten“, das Modell des gesundheitlichen Übergangs und das Lebens-
laufmodell zu Migration und Gesundheit (eine Übersicht der verschiedenen Modelle findet
sich u. a. bei Razum 2009, Spallek et al. 2011).
10 Migration und Gesundheit 155

Das Modell des „gesunden Migranten“ (Healthy Migrant Effect)


Dieses Modell postuliert, dass überwiegend besonders gesunde und aktive Menschen
migrieren. Daher ist zu erwarten, dass Migranten zumindest zum Zeitpunkt der An-
kunft im Zielland überdurchschnittlich gesund sind. Das Modell hat allerdings mehrere
Schwachpunkte: Ein offensichtlicher ist, dass Migranten eine besonders gesunde Auswahl
aus der Allgemeinbevölkerung des Herkunftslandes darstellen, ihre Gesundheit aber in
der klassischen Migrationsforschung mit der Bevölkerung des Ziellandes der Migration
verglichen wird. Das erscheint wenig sinnvoll, denn es gibt große Unterschiede in der
Gesundheit zwischen Nationen, vor allem zwischen ärmeren und reicheren Ländern. Be-
sonders deutlich wird dies bei chronischen, nichtübertragbaren Erkrankungen mit langen
Latenzzeiten, deren Risiko durch frühere Expositionen im Herkunftsland mit beeinflusst
wird – diese Expositionen waren möglicherweise ganz anders als die der Mehrheitsbevöl-
kerung im Zielland der Migration (Razum 2009).

Modell des gesundheitlichen Übergangs


Den Einschränkungen des Healthy Migrant Effect trägt das Modell des gesundheitlichen
Übergangs Rechnung. Es definiert die Migration aus einem ärmeren in ein wohlhabenderes
Land (entsprechend dem klassischen Muster der Arbeitsmigration) als einen gesundheitli-
chen Übergang in hoher Geschwindigkeit. Die Erkrankungshäufigkeit und Sterblichkeit an
Infektionskrankheiten sowie an Problemen in der Schwangerschaft, bei der Geburt und in
der Kindheit sinkt in der migrierten Bevölkerungsgruppe gegenüber dem Herkunftsland
sehr schnell, da die hygienischen Bedingungen und die Behandlungsmöglichkeiten im
Zielland besser sind. Morbidität und Mortalität chronischer, nichtübertragbarer Erkran-
kungen wie Herzinfarkt und vieler Krebsarten (beispielsweise Brustkrebs und Darmkrebs)
bleiben dagegen über Jahre oder Jahrzehnte niedriger als in der Mehrheitsbevölkerung.
Der erste Teil der Erklärung ist, dass Migranten häufig aus südlichen Ländern mit niedri-
gen Raten an diesen Erkrankungen kommen. Die niedrigeren Raten sind wahrscheinlich
durch einen „gesünderen“ Lebensstil bedingt. Der zweite Teil der Erklärung liegt in den
langen Latenzzeiten zwischen „ungesunder“ Lebensweise und dem Auftreten der betref-
fenden Erkrankungen – sie liegen bei vielen Jahren oder gar Jahrzehnten. Daher können
Migranten auch Jahre nach der Zuwanderung noch gesundheitliche Vorteile aufweisen,
selbst wenn sie sozioökonomisch benachteiligt sind – ein (scheinbares) Paradox (Razum
2009, Razum & Twardella 2002).

Lebenslaufmodel
Abgeleitet aus dem Modell des gesundheitlichen Übergangs erweitert das Lebenslaufmodel
die bisherigen Modelle durch eine Lebenslaufperspektive (Spallek et al. 2011). Die Mehrheit
der Modelle zu Migration und Gesundheit wies den entscheidenden Nachteil auf, dass sie
die zeitliche Komponente bei der Wirkung von Einflussfaktoren auf die Gesundheit ver-
nachlässigen. Der diese Komponente explizit aufnehmende Lebenslaufansatz versucht zu
beschreiben, wie zum einen Expositionen in kritischen Perioden im Lebenslauf und zum
anderen Risikoakkumulationen über den gesamten Lebenslauf gesundheitliche Outcomes
156 Jacob Spallek und Oliver Razum

beeinflussen. Ziel ist es dabei, sowohl biologische als auch verhaltens- und psychosoziale
Prozesse zu identifizieren und zu erklären, die während des Lebensverlaufs eines Indi-
viduums oder über Generationen wirken und die Ausprägung von Erkrankungs- und
Mortalitätsrisiken beeinflussen (Lynch & Davey Smith 2005). Dieser Ansatz hat auch neue
Erkenntnisse zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten geliefert (zum Beispiel Davey
Smith 2008). So kann sich das soziale Umfeld beispielsweise auf den Schwangerschaftsver-
lauf (Auftreten von Stress, Komplikationen) und die geburtlichen Outcomes auswirken.
Dies kann wiederum das Risiko für Krankheiten im Erwachsenenalter beeinflussen (zum
Beispiel niedriges Geburtsgewicht und das Risiko für Adipositas; Barker 1998). Der Zusam-
menhang zwischen sozialer Position und Gesundheit begründet sich im Lebenslaufmodell
dadurch, dass für die Krankheit relevante Expositionen im Verlauf des Lebens und aus
verschiedenen Lebensbereichen durch soziale Prozesse gebündelt werden.

Angewendet auf die gesundheitliche Situation von Migranten bedeutet das: Die jeweilige
individuelle und soziale Situation führt zu einer Clusterung negativer und positiver Fak-
toren über die Zeit und auf verschiedenen Ebenen. Zu welchem Zeitpunkt die Belastungen
auftreten und welche Bedeutung sie für die Entstehung von Krankheiten haben, hängt
vom jeweiligen Gesundheitsproblem und den kritischen Phasen für seine Ausprägung
im Lebensverlauf ab. Folglich erklärt sich die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit
aus einem Wechselspiel zwischen der Akkumulation von Risiken und der Prägung in
für die Krankheitsentstehung kritischen Phasen. Vor diesem Hintergrund werden auch
biologische Einflussfaktoren auf die Gesundheit als Teil der sozialen Prozesse gesehen,
da im Rahmen des Lebenslaufansatzes das Körperliche und das Soziale als „wechselseitig
konstitutiv“ betrachtet werden. Das bedeutet, dass „Aspekte der Körperlichkeit soziale
Entwicklungsverläufe in gleicher Weise beeinflussen können wie soziale Erfahrungen
verkörperlicht werden.“ (S. 324, Davey Smith 2008) Beispielsweise kann soziale Benachtei-
ligung zu einer verzögerten körperlichen oder mentalen Entwicklung von Kindern führen,
eine verzögerte körperliche oder mentale Entwicklung im weiteren Lebenslauf die Ursache
sozialer Benachteiligung sein.
Migranten haben oft andere lebensgeschichtliche Expositionen als die nicht migrierte
Bevölkerung. Für manche Erkrankungen, gerade auch für chronische Erkrankungen wie
Krebs, wird das Risiko des Auftretens in späteren Lebensphasen – nach langer Latenzzeit
– zum Teil schon durch Expositionen in der frühen oder frühesten Kindheit determiniert.
Daher ist eine Untersuchung des gesamten Lebenslaufes von Migranten erforderlich, um
ihre Gesundheitsrisiken (wie beispielsweise Krebsrisiken) verstehen zu können. Eine Mo-
mentaufnahme zu einem Zeitpunkt nach der Migration reicht hierzu nicht aus (Lynch &
Davey Smith 2005, Spallek & Razum 2008, Spallek et al. 2011).
Der Lebenslauf von Migranten lässt sich in drei Abschnitte unterteilen: die Phase (1)
vor, (2) während und (3) nach dem Migrationsereignis. In allen drei Phasen wirken Expo-
sitionen auf die Gesundheit der Migranten (s. Abbildung 1), die sowohl akut als auch erst
im späteren Lebenslauf Einfluss auf die Gesundheit nehmen können. Eine besondere Rolle
können Migrationsgründe, wie z. B. Katastrophen, einnehmen. Eine besonders kritische
10 Migration und Gesundheit 157

Phase stellt der Migrationsprozess dar, in der verschiedene gesundheitliche Expositionen


auftreten können (s. Abbildung 1). Ein klassisches Beispiel für die zum Teil sehr lange
Zeit zwischen Exposition und Auftreten der Krankheit im späteren Lebenslauf ist die
Beeinflussung des Risikos für das metabolische Syndrom im Erwachsenenalter durch
unterschiedliche perinatale und frühkindliche Programmierung des Stoffwechsels (sog.
Barker-Hypothese; Barker 1998). Ein weiteres Beispiel ist die Beeinflussung von Krebsri-
siken durch die Exposition gegenüber Infektionen (z. B. Hepatitis-Viren und Leberkrebs,
Humane Papillomviren und Zervixkarzinom, Helicobacter pylori und Magenkrebs). Durch
eine im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung unterschiedlichen Expositionen in allen drei
Abschnitten (1-3) entsteht die besondere gesundheitliche Exposition von Migranten. Alle
drei Abschnitte müssen daher bei der Betrachtung der Gesundheit von Migranten zumin-
dest mitgedacht werden, auch wenn nicht immer verlässliche Daten über den gesamten
Lebenslauf verfügbar sind.
Auch die Nachkommen von Migranten, die sogenannte zweite und dritte Generati-
on, befinden sich mehrheitlich noch in einer besonderen gesundheitlichen Situation, da
biologische oder durch das Verhalten bedingte Faktoren der ersten Migrantengeneration
(sozial oder biologisch) vererbt werden können. Genetisch determinierte Faktoren werden
von den Eltern an die Kinder weitergegeben (z. B. ein dunklerer Hauttyp) und können
in Unterschieden in Krankheitsrisiken (z. B. niedrigere Risiken für Hautkrebs) oder in
der gesundheitlichen Lage (u. a. durch Diskriminierung) resultieren. Neben genetischen
Faktoren können Kinder von ihren Eltern auch diverse andere Eigenschaften und Ver-
haltensweisen übernehmen. Kulturelle Überzeugungen, gesundheitliches Verhalten (z. B.
Ernährungs-, Rauch- und Alkoholkonsumverhalten), reproduktives Verhalten oder die
Einstellung zu körperlicher Aktivität werden durch den Lebensstil der Eltern beeinflusst.
Spezifische Traditionen können dabei über Generationen anders sein als in der deutschen
Mehrheitsbevölkerung. Auch die sozioökonomische Situation der Eltern determiniert die
Lebenssituation des Nachwuchses. Wohnsituation, Ernährung und Umwelt sowie Bildung
und Bildungschancen der Kinder sind bestimmt durch die sozioökonomische Situation
der Eltern. Durch Akkulturation- oder Segregationseffekte – Akkulturation bezeichnet
hier das Zuwenden zu der Kultur der Mehrheitsgesellschaft im eigenen Geburtsland, Seg-
regation die Zuwendung zur Kultur des Herkunftslandes der Eltern – und das Fehlen der
Expositionen aus dem Herkunftsland der Eltern unterscheiden sich die Nachfahren der
Zuwanderer aber auch von ihren Eltern und stellen somit eine eigene Bevölkerungsgruppe
mit einer möglicherweise anderen gesundheitlichen Situation dar.
Die Nachkommen befinden sich oft in einer Situation „zwischen den Kulturen“, also
zwischen kultureller Prägung des Geburtslandes ihrer Eltern und ihres eigenen Ge-
burtslandes. Dies führt zu unterschiedlichen Prozessen, die sich in einem Kontinuum
zwischen Betonung der Kultur des elterlichen Geburtslandes bis hin zur Betonung des
eigenen Geburtslandes bewegen. Unter gesundheitlichen Gesichtspunkten wirken aber
nicht nur Prägung und Biologie der Eltern auf die Nachkommen, auch die Nachkommen
wirken durch ihre Rolle als Mittler auf die gesundheitliche Situation der Eltern. Kinder
von Migranten übernehmen beispielsweise die Rolle des sprachlichen oder kulturellen
158 Jacob Spallek und Oliver Razum

Übersetzers, wenn es um den Zugang zu gesellschaft lichen Einrichtungen wie z. B. die


Inanspruchnahme gesundheitlicher Versorgung geht.

Abb. 1 Verschiedene Expositionen im Lebenslauf auf die Gesundheit von Migrantinnen und
Migranten
Quelle: adaptiert nach Spallek et al. 2011

Erhöhte oder niedrigere Risiken der Zuwanderer können über die Generationen oder
in jüngeren Altersgruppen konvergieren, sich also den durchschnittlichen Risiken der
Allgemeinbevölkerung annähern. Dieses zeigt sich z. B. an den Krebsrisiken der jüngeren
Geburtskohorten für Brustkrebs oder Lungenkrebs in Studien bei türkischen Zuwanderern
in Hamburg (Spallek et al. 2009), aber auch in Studien zu Krebsrisiken von der Nachfahren
von Zuwanderern in den Niederlanden (Stirbu et al. 2006) oder in Britisch-Columbia, Ka-
nada (Au et al. 2004). In der Hamburger Studie fand sich bei Frauen der ersten Generation
ein signifi kant niedrigeres Risiko für eine Brustkrebserkrankung als bei nicht-migrierten
Frauen. In den folgenden Generationen von Frauen mit türkischem Migrationshintergrund
zeigt sich aber, dass dieser Risikovorteil schwindet. Als eine mögliche Ursache hierfür wird
eine Anpassung im reproduktiven Verhalten und damit verbunden auch der Brustkrebsri-
siken an die nicht-migrierte Bevölkerung diskutiert. Beim Lungenkrebsrisiko zeigt sich der
Trend, dass dieses den Anpassungen in der Rauchprävalenz über die Generationen folgt.
Die Türkei war zu dem Zeitpunkt der Einwanderung der ersten Generation türkischer
Zuwanderer durch hohe Rauchprävalenzen bei Männern und deutlich niedrigeren bei
den Frauen geprägt, was einen Trend von hohen Lungenkrebsraten bei den männlichen
türkischen Zuwanderern und im Vergleich zu deutschen Frauen niedrigeren bei den tür-
kischen Zuwandererinnen nach sich zieht. Aufgrund der sich anpassenden und steigenden
Rauchprävalenz unter den weiblichen Nachkommen der türkischen Zuwanderer gibt es
jetzt Anzeichen für einen Anstieg der Lungenkrebsraten in dieser Bevölkerungsgruppe.
10 Migration und Gesundheit 159

3 Die Rolle weiterer (sozialer) Faktoren

Die Erklärungsmodelle machen die besondere gesundheitliche Situation von Migranten in


ihrer Komplexität deutlich. Migration trägt ohne Frage zur gesundheitlichen Heterogenität
der Bevölkerung bei, innerhalb derer Migranten gesundheitliche Vor- und Nachteile im
Vergleich zur Bevölkerung ohne Migrationshintergrund haben. Vielfach wird argumentiert,
dass gesundheitliche Nachteile von Migranten gegenüber der Mehrheitsbevölkerung weit-
gehend eine Folge der sozialen Schichtung seien. Migranten gehören überdurchschnittlich
häufig (aber natürlich keineswegs immer) einer niedrigen Sozialschicht an. Es ist bekannt,
dass sozioökonomische Benachteiligung mit einem höheren Erkrankungs- und Sterberisiko
assoziiert ist, unabhängig vom Migrationshintergrund. Es gibt eine Reihe theoretischer
Ansätze und Modelle, die versuchen, die sozioökonomischen Unterschiede in der Ge-
sundheit zu erklären. Zu den klassischen Ansätzen gehören unter anderem die Erklärung
durch Selektionsprozesse, die „Verursachungshypothese“ (Erklärung der Unterschiede
durch strukturelle und materielle sowie kulturell-verhaltensbezogene Faktoren) oder auch
der psychosoziale Erklärungsansatz. Daraus sind Modelle zur Erklärung gesundheitlicher
Ungleichheit entstanden, die die verschiedenen Ansätze aufgriffen und miteinander ver-
knüpften. Diese sollen hier jedoch nicht vertiefend erläutert werden. (Eine ausführliche
Beschreibung der Modelle findet sich zum Beispiel bei Richter & Hurrelmann 2006, Bauer
et al. 2008, siehe auch Lampert in diesem Band.)
Migranten haben oft eine weniger gute Ausbildung und eine schlechtere materielle
Ausstattung als die Mehrheitsbevölkerung. Das äußert sich beispielweise in einer höheren
Arbeitslosenquote und im Durchschnitt schlechter bezahlten Tätigkeiten. Hinzu kommen
(zumindest bei Männern mit Migrationshintergrund) schichtspezifische gesundheitsschädliche
Verhaltensweisen wie beispielsweise eine höhere Raucherquote (Razum et al. 2008). Migranten
sind zwar bei ihrer Einreise oft jung und gesund; oft leben und arbeiten sie aber über Jahre
und Jahrzehnte unter ungünstigeren Bedingungen als die Mehrheitsbevölkerung. Diese
chronischen Belastungen können mit schlechterer Gesundheit, besonders in zunehmendem
Alter, assoziiert sein (Schott & Razum 2013). Nicht-migrierte Arbeitnehmer, die ähnliche
Tätigkeiten ausführen, sind allerdings gesundheitlich auch ähnlich belastet. Es handelt sich
hierbei also eher um ein schichtspezifisches als ein migrationsspezifisches Phänomen. Eine
ähnliche Argumentationslinie gilt für die im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung nach der
Einwanderung oftmals durchschnittlich kleineren und weniger gut ausgestatteten Woh-
nungen. Über die Schichtzugehörigkeit hinausgehende materielle Nachteile können sich
bei Migranten zudem durch transnationale finanzielle Ressourcenflüsse ins Herkunftsland
ergeben, wenn kompensatorisch dazu geringere Investitionen im Zuzugsland getätigt werden.
Der soziale Status beeinflusst wie bei allen Menschen auch die Gesundheit von Migranten.
Er hat einen Einfluss auf die Migration und er beeinflusst in der Rolle den Zusammenhang
zwischen Migration und Gesundheit. Abbildung 2 zeigt eine vereinfachte Darstellung
dieses Zusammenspiels. Ohne Einbeziehung des sozialen Status, der neben Einkommen
und Bildung auch weitere Dimensionen wie Gender, soziales Kapital etc. umfasst, ist die
Analyse der gesundheitlichen Situation von Migranten somit nicht möglich, da viele
160 Jacob Spallek und Oliver Razum

Wirkpfade der Migration auf die Gesundheit durch den soziale Status verstärkt oder
abgeschwächt werden können und auch die Migration an sich, z. B. darin wer migriert,
durch den sozialen Status beeinflusst wird.

Abb. 2 Zusammenspiel von Migration, Gesundheit und sozialem Status


Quelle: eigene Darstellung

3.1 Biologisches Geschlecht und Gender

Ein sozialer Faktor, der bei der Erklärung der gesundheitlichen Situation von Migranten ein
hohes, oft vernachlässigtes Erklärungspotential hat, ist das Geschlecht. Das gilt sowohl für
das biologische als auch für das soziale Geschlecht (Gender). Im Gegensatz zur allgemeinen
Wahrnehmung von Migration als der Zuwanderung von arbeitssuchenden Männern ist die
internationale Migration der heutigen Welt weiblich (De Leon Siantz 2013): Mehr als die
Hälfte der internationalen Migranten sind Frauen (IOM 2005). Bisher gibt es nur wenige
Studien, die diesen Aspekt zentral zum Untersuchungsgegenstand haben (Binder-Fritz
& Rieder 2014). Dabei hat Migration gerade bei Frauen oft erhebliche soziale als auch
gesundheitliche Folgen. Im Herkunftsland können geschlechtsbedingte Unterschiede in
Expositionen und der gesundheitlichen Situation bestehen, die sich noch lange nach der
Migration auswirken können. Als ein extremes Beispiel seien hier Genitalbeschneidungen
angeführt (Sauer & Neubauer 2013). Gender und biologisches Geschlecht beeinflussen zu-
dem, wer migriert und warum. Die legalen, sozialen und finanziellen Voraussetzungen und
Gründe für eine Migration unterscheiden sich je nach Herkunftsland zum Teil erheblich
zwischen den Geschlechtern. Der Migrationsprozess selbst stellt Frauen vor andere Her-
ausforderungen und Gefahren als Männer, z. B. beim Risiko sexueller Gewalt/ Ausbeutung.
Im Zielland der Migration ändern sich schließlich nicht nur die Einkommenssituation,
10 Migration und Gesundheit 161

die Autonomie und der soziale Status der Frauen (und der Männer), sondern insbesondere
auch die Rolle als Frau in der Gesellschaft und Familie. Migration in westliche Länder
kann für Frauen mehr Freiheit, neue Möglichkeiten und Empowerment bedeuten, zugleich
unterliegen Frauen besonderen Risiken für Ausbeutung, Isolation, Diskriminierung und
Stigmatisation während und nach dem Migrationsprozess (Jolly & Reeves 2005).

3.2 Diskriminierung

Unter Diskriminierung versteht man die Benachteiligung oder Herabwürdigung von


Gruppen oder Personen, die gemeinsame Merkmale (wie beispielsweise Aussehen, Religion
oder Einkommen) aufweisen. Ein bekanntes Beispiel ist die systematische Ausgrenzung von
Menschen mit dunkler Hautfarbe, unter anderem in den USA bis Mitte und in Südafrika
bis Ende des 20. Jahrhunderts. Heute lässt sich ein „neuer“ oder kultureller Rassismus be-
obachten, der auf (vermeintlicher oder tatsächlicher) kultureller Andersartigkeit aufbaut
und nicht mehr sichtbare biologische Merkmale in den Vordergrund stellt (Giddens &
Sutton 2014). Beispielsweise kann es dabei um die Frage gehen, inwieweit sich Menschen
mit Migrationshintergrund aus Sicht der Mehrheitsbevölkerung „assimilieren“ müssen –
wohingegen sich in der Wissenschaft zunehmend die Ansicht durchsetzt, man müsse „[…]
sich von der Vorstellung eines dominanten Integrationsparadigmas … verabschieden…“
(Pries 2003, S. 33-34). Vielmehr gibt es verschiedene mögliche Inkorporationspfade, die
auch partiell sein können – Formen, „welche in einigen klassischen Modellen [der Integ-
ration] noch als ‚abweichend‘ oder ‚rückständig‘ aufgefasst werden“ (ebd.). Beide Formen
des Rassismus können eine Rolle spielen, wenn Menschen mit Migrationshintergrund
diskriminiert werden. Umgekehrt kann es aber in Gruppen mit Migrationshintergrund
auch zu ethnischer Selbstausgrenzung kommen, etwa durch Verbote der Heirat außerhalb
der eigenen Ethnie oder dem sozialen Druck zum Festhalten an bestimmten Lebensstilen
und Werten (Giddens & Sutton 2014).
Wahrgenommene Diskriminierung hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit
der Betroffenen, und zwar sowohl in psychischer als auch in körperlicher Hinsicht. Das
lässt sich auch für Migranten in Deutschland nachweisen, wobei Gruppen mit erkenn-
baren Merkmalen wie dunkle Hautfarbe stärker betroffen sind (Schunck et al. 2014).
Die Bekämpfung von Rassismus und der Abbau von Diskriminierung sind somit auch
gesundheitsrelevante Interventionen.

3.3 Konzept der stärkeren sozialen Kohäsion unter Migranten

Menschen gleicher Herkunft oder Ethnie geben sich gegenseitig in der Diaspora oft in
besonderem Maße soziale Unterstützung. Exemplarisch ist hier die Reziprozität unter
türkischen Migranten in Deutschland zu nennen (White 1997) Aus einem starken so-
zialen Zusammenhalt resultieren auch gesundheitliche Vorteile (Wilkinson & Marmot
2003). Ist der Zusammenhalt in der Migrantenbevölkerung stärker ausgeprägt als in der
162 Jacob Spallek und Oliver Razum

Mehrheitsbevölkerung, so könnten daraus gesundheitliche Vorteile für die Migranten


gegenüber der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund resultieren. Bislang gibt es aber
kaum empirische Studien, die diesen Zusammenhang bei Migranten untersuchen.

4 Artefakte und mangelhafte Datenlage

4.1 Artefakte

Gesundheitliche Vorteile von Migranten wie beispielsweise eine niedrigere Sterblichkeit


als in der Mehrheitsbevölkerung könnten auch – zumindest teilweise – ein der Datenlage
geschuldetes Artefakt sein. So können Migranten „statistisch unsterblich“ sein, wenn sie das
Zuzugsland verlassen, ohne sich abzumelden. Sie verbleiben im dortigen Bevölkerungsregister
als „lebendig“ gemeldet, auch wenn sie mittlerweile im Herkunftsland verstorben sind (dies
wird in der Regel nicht an die Bevölkerungsregister im Zuzugsland gemeldet). Das führt
zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Sterberate (Ringbäck Weitoft et al. 1999). Das
Phänomen einer niedrigen Sterblichkeit von Migranten findet sich aber auch in Studien, in
denen eine Verzerrung durch „statistische Unsterblichkeit“ ausgeschlossen werden kann
(Abraido-Lanza et al. 1999, Razum 2009, Singh & Hiatt 2006). Daher ist anzunehmen, dass
höchstens ein Teil des beobachteten Vorteils durch Artefakte zustande kommt.

4.2 Mangelhafte Datenlage

Erklärungsmodelle zur gesundheitlichen Situation von Migranten werden in einem iterati-


ven Prozess aus empirischen Daten und Konzepten und Erklärungen entwickelt. Konkret
bedeutet das: Um vorhandene Konzepte und Erklärungen zu verbessern, müssen sie an
empirischen Daten gemessen und gegebenenfalls angepasst werden. Das setzt empirische
Daten von guter Qualität und hoher Validität voraus. Diese Voraussetzung wird jedoch
nur in Grenzen erfüllt (Razum et al. 2008). Die Datenlage zur Gesundheit von Menschen
mit Migrationshintergrund wird insbesondere in Deutschland, aber auch international,
meist als unzureichend empfunden. Migrationssensible oder -spezifische Daten sind nicht
in ausreichendem Maße verfügbar oder sie liegen nur verstreut vor. Detaillierte gesund-
heitsbezogene Informationen, beispielsweise aufgeschlüsselt nach Herkunftsländern oder
Altersgruppen der Migranten, fehlen oft ganz. Die amtlichen Statistiken in Deutschland
differenzieren meist nur zwischen deutscher und nichtdeutscher Staatsangehörigkeit. Damit
können weder Aussagen über einzelne Herkunftsländer noch über eingebürgerte Migranten
getroffen werden, da beide Gruppen über eine deutsche Staatsangehörigkeit verfügen. Zudem
fehlen in vielen Datenquellen Angaben zum Sozialstatus, sodass nicht zwischen Einflüssen
des Migrationshintergrundes und Einflüssen einer (mit einem Migrationshintergrund oft
einhergehenden) sozioökonomischen Benachteiligung unterschieden werden kann.
10 Migration und Gesundheit 163

5 Schlussfolgerungen

Aus soziologischer Sicht ist Migration bzw. ein Migrationshintergrund ein wichtiger Faktor
für die Beschreibung der gesundheitlichen Ungleichheit einer Bevölkerung. Migranten
sind – wie Empirie und Erklärungsmodelle zeigen – in einer besonderen gesundheitli-
chen Situation. Dies betrifft nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch noch das ihrer
Nachkommen. Der Zusammenhang zwischen Migration und Gesundheit ist dabei mul-
tidimensional. Migrationshintergrund fungiert als eine Art Surrogat für eine Vielzahl von
dahinterstehenden Mechanismen und Prozessen. Migration beeinflusst die Gesundheit
und die Gesundheit beeinflusst, wer migriert.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Migration ist ein wichtiger Faktor für die Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit
in Einwanderungsgesellschaften wie z. B. Deutschland.
▶ Migranten befinden sich in einer besonderen gesundheitlichen Situation, mit Vor-
und Nachteilen.
▶ Die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund ist höchst heterogen. Allge-
meingültige Aussagen sind nur schwerlich möglich.
▶ Der Zusammenhang zwischen Migration und Gesundheit ist mehrdimensional,
weitere (soziale) Faktoren müssen bei der Interpretation beachtet werden.
▶ Erklärungsmodelle versuchen die Komplexität des Zusammenhangs abzubilden. Die
zentralen Modelle beziehen den gesundheitlichen Übergang durch die Migration
ein und haben eine Perspektive auf den gesamten Lebenslauf der Migranten (vor,
während und nach der Migration).

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Was ist ein/e Migrant/in? Was ist ein Mensch mit „Migrationshintergrund“?
▶ Was ist das „Lebenslaufmodell“ im Kontext der Gesundheit von Migranten und
welche Konstrukte enthält es?
▶ Sind alle Migranten in Deutschland sozial/ gesundheitlich benachteiligt?
▶ Ist Gleichheit bei gesundheitlichen Outcomes wie beispielsweise Sterblichkeit ein
Maß für (gesundheitliche) Gerechtigkeit?
164 Jacob Spallek und Oliver Razum

Leseempfehlungen

t Bhopal, R., 2014: Migration, ethnicity, race, and health in multicultural societies. 2nd
Edition. Oxford University Press: New York.
Ein Standardwerk zu Methoden, Theorien und Empirie der Forschung zu Migration
und Gesundheit mit einem Schwerpunkt auf den britischen und europäischen Kontext.

t Razum, O., H. Zeeb, U. Meesmann, L. Schenk, M. Bredehorst, P. Brzoska, T. Dercks, S.


Glodny, B. Menkhaus, R. Salman, A.C. Saß, R. Ulrich, H. Neuhauser & U. Brucks, 2008:
Migration und Gesundheit. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des
Bundes. Berlin: Robert Koch-Institut.
Der erste ausführliche Bericht zur gesundheitlichen Lage von Migranten in Deutschland.

t Razum O., A. Reeske & J. Spallek, 2011: Gesundheit von Schwangeren und Säuglingen
mit Migrationshintergrund. Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main.
Eine aktuelle Übersicht über die besondere gesundheitliche Lage von Nachkommen von
Migranten in den ersten Lebensjahren.

t Schenker, M.B., X. Castaneda & A. Rodriguez-Lainz, 2014: Migration and health. A


research methods handbook. University of California Press: Oakland.
Ein Buch explizit zu den besonderen methodischen Herausforderungen bei der Erfor-
schung von Migration und Gesundheit, aus einer amerikanischen Perspektive aber mit
internationalen Beiträgen.

t Spallek J., 2012: Migrantengesundheit: Die Sicht der Life-Course-Epidemiologie am


Beispiel von Krebs bei türkischen Zuwanderern. Beltz Juventa: Weinheim und Basel.
Eine ausführliche Beschreibung des Lebenslaufansatzes im Kontext Migration und Ge-
sundheit mit empirischen Ergebnissen zu Krebsrisiken von Kindern und Erwachsenen
mit türkischem Migrationshintergrund.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Film Diverse Spielfilme von Fatih Akin, insbesondere „Gegen die Wand“ (Jugend-Drama)
und „Auf der anderen Seite“ (Ehe-Drama).

Film http://www.gangsterlaeufer.de
Dokumentarfilm von Christian Stahl über einen libanesischen Jugendlichen in Berlin.

Film http://neuland-film.ch/
Dokumentarfilm von Anna Thommen über junge Flüchtlinge in der Schweiz.
10 Migration und Gesundheit 165

Literatur

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Arbeit und Gesundheit
Nico Dragano
11
11 Arbeit und Gesundheit

Überblick
▶ Wie beeinflusst die Arbeit die Gesundheit?
▶ Welche Prozesse auf der gesellschaft lichen Makro- und Meso-Ebene beeinflussen
das Auftreten von Arbeitsbelastungen?
▶ Welchen Beitrag leistet die Soziologie zur Erklärung von Zusammenhängen zwischen
Arbeit und Gesundheit?

1 Einleitung

Die Soziologie hat sich von Beginn an intensiv mit der gesellschaft lichen Realität der Arbeit
beschäft igt und ist dabei notwendigerweise auch mit Fragen der Gesundheit in Berührung
gekommen. Notwendigerweise deshalb, weil zwischen der Arbeit, die ein Mensch ausübt,
und seiner Gesundheit ein ausgeprägter Zusammenhang besteht. Ein frühes historisches
Beispiel für eine soziologisch orientierte Auseinandersetzung mit dieser Dualität ist
Friedrich Engels Bericht über die Lage der arbeitenden Klasse in England (Engels 1845).
Neben einer ökonomischen Analyse der frühkapitalistischen Wirtschaft thematisiert
Engels dort ausführlich die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen von schlechten
Arbeitsbedingungen einerseits, und die von armutsbedingten Erkrankungen als Folge
von Hungerlöhnen andererseits.
Wenn auch unter stark veränderten Vorzeichen, so sind die Arbeitsbedingungen
auch heute noch eine entscheidende Einflussgröße für die Gesundheit von Männern und
Frauen im Erwachsenenalter. Die Bedeutung der Arbeit für die Gesundheit findet ihren
Widerhall auch auf der gesellschaft lichen Ebene. So haben sich in der Auseinandersetzung
mit Problemen der Arbeitsgesundheit zahlreiche gesellschaft liche Normen, Institutionen
und Systeme herausgebildet. Ein Teil dient dem Schutz der Beschäftigten vor krankma-
chenden Arbeitsbedingungen, wie z. B. die Arbeitsschutzgesetze. Ein anderer Teil ist der
sozialen Sicherung zuzuordnen, etwa der Gesundheitsversorgung von Beschäftigten oder

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_11, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
168 Nico Dragano

der Kompensation von Einkommensverlusten infolge von Krankheiten. Ferner zeigt sich
die Relevanz der Arbeit für die Gesundheit auch im öffentlichen Diskurs, in dem Themen
rund um die Qualität der Arbeit regelmäßig eine hohe Aufmerksamkeit erhalten.
Schon diese kurze Ausführung deutet an, wie breit gefächert das Thema dieses Kapitels
ist. Daher soll hier nicht ins Detail gegangen werden. Vielmehr wird ein Überblick über
zentrale Aspekte bei der Beschäftigung mit der arbeitsbezogenen Gesundheit gegeben. Ziel
ist es, eine Orientierung speziell zu soziologischen Fragestellungen zu geben. Die akademi-
sche Auseinandersetzung mit der Arbeitsgesundheit ist zwar genuin interdisziplinär und
vereint neben der Medizin zahlreiche natur-, ingenieur- und gesellschaftswissenschaftliche
Disziplinen, soziologische Expertise ist aber ein unverzichtbarer Teil dieses Kanons. Sie ist
bei der Analyse von Zusammenhängen auf individueller Ebene ebenso gefragt, wie bei der
Erklärung von Phänomenen auf der Meso- und Makroebene. Der Aufbau dieses Kapitels
folgt dann auch dem Weg von der Mikro- auf die Makro-Ebene. Da ein Grundverständ-
nis der Vorgänge auf der individuellen Ebene nötig ist, um übergeordnete Phänomene zu
verstehen, wird zuerst diese Ebene behandelt. Der Überblick beginnt aber zunächst mit
einer epidemiologischen Darstellung zur arbeitsbezogenen Gesundheit in Deutschland.

2 Basisdaten zur Arbeitsgesundheit

In Deutschland waren im Jahr 2014 rund 42 Millionen Personen erwerbstätig (Statisti-


sches Bundesamt 2015). Es ist nur ansatzweise möglich, den Gesundheitsstatus einer solch
großen Anzahl von Menschen zusammenfassend zu beschreiben. Einer der geläufigsten
Indikatoren hierfür sind die Fehlzeiten, d. h. die Abwesenheit vom Arbeitsplatz aufgrund
einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Für Deutschland meldet das Statistische
Bundesamt im Jahr 2013 einen durchschnittlichen Krankenstand von 3,8 % bei einer
durchschnittlichen Zahl von jährlich 9,5 Arbeitsunfähigkeitstagen je Beschäftigtem (Statis-
tisches Bundesamt 2015). Bezogen auf ihren Anteil an allen Arbeitsunfähigkeitstagen sind
Muskel-Skelett-Erkrankungen laut Fehlzeitenreport 2014 die häufigsten Diagnosen (rund
20 %) (Badura et al. 2014). Es folgen Verletzungen, Atemwegserkrankungen und psychische
Erkrankungen. Zu letztgenannten ist anzumerken, dass ihre Bedeutung in den letzten
Jahren stark gestiegen ist. So berichtet beispielsweise die Krankenkasse DAK-Gesundheit,
dass bei ihren Versicherten die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Krankheiten von
1997 bis 2014 um etwa das Dreifache angestiegen ist (Marschall et al. 2015).
Der Vorteil des Indikators Fehlzeiten ist sein unmittelbarer Bezug zur Arbeit. Dem
stehen einige Nachteile gegenüber. Hierzu zählt die Unsicherheit, ob sich hinter jeder
Krankschreibung auch tatsächlich ein korrekt diagnostizierter Krankheitsfall verbirgt. Für
Deutschland kommt das Problem hinzu, dass keine zentrale Erfassung erfolgt, sondern jede
Krankenkasse die Daten getrennt erhebt und auswertet. Daher müssen weitere Datenquellen
herangezogen werden. Wichtige Informationen liefern Statistiken zur gesundheitsbedingten
Frühberentung, die eine schwerwiegende Folge einer eingeschränkten arbeitsbezogenen
Gesundheit darstellt. Im Jahr 2013 mussten insgesamt rund 175.000 gesetzlich Versicherte
11 Arbeit und Gesundheit 169

aus gesundheitlichen Gründen eine solche Frührente (sog. ‚Erwerbsminderungsrente‘)


antreten (Deutsche Rentenversicherung Bund 2014). Bei den Diagnosen stehen die psy-
chischen Erkrankungen an der Spitze: Sie machen 36 % der Diagnosen bei den Männern
und sogar 49 % bei den Frauen aus. Weitere häufige Diagnosen bei beiden Geschlechtern
sind Muskel-Skelett-Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krankheiten des Ner-
vensystems und Neubildungen (Tumore).
Neben amtlichen Statistiken geben auch Daten aus Surveys Auskunft über den Gesund-
heitszustand der Erwerbstätigen. Eine wichtige Datenquelle für europäische Vergleiche ist
der European Working Conditions Survey, dessen letzte Welle im Jahr 2010 durchgeführt
wurde (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 2012).
Von den rund 35.000 befragten Beschäftigten aus den EU-27 Ländern gaben ca. 22 % einen
schlechten Gesundheitszustand an (Deutschland ca. 20 %). Diese Angabe ist mit Vorsicht
zu interpretieren, da sie auf einer subjektiven Einschätzung beruht. Sie demonstriert aber
gemeinsam mit den oben angeführten Routinedaten, dass ein nicht unerheblicher Teil der
Erwerbstätigen gesundheitliche Probleme hat und die Beschäftigung mit den Hintergrün-
den dieser Erkrankungen eine wichtige Aufgabe ist.

3 Arbeitsbelastungen und Gesundheit: die individuelle Ebene

Der Blick auf die Anzahl von Erkrankungen in der Erwerbsbevölkerung verrät aber nur
wenig über die Ursachen dieser Erkrankungen, da diese ja durchaus außerhalb der Arbeit
liegen können. Insofern muss auf individueller Ebene geklärt werden, in welcher Form die
Arbeit an der Entstehung von Erkrankungen beteiligt ist.
Bevor einzelne Arbeitsbelastungen und ihre gesundheitlichen Folgen thematisiert
werden, soll mit dem Belastungs-Beanspruchungs-Modell ein einfaches Analyseschema
vorgestellt werden, welches in der arbeitswissenschaftlichen Literatur und im praktischen
Arbeitsschutz in Deutschland häufig verwendet wird, und das die Begrifflichkeit in diesem
Bereich prägt (Rohmert & Rutenfranz 1975, Nowak 2006). Unter dem Oberbegriff Belas-
tung werden im Modell alle Einflüsse gefasst, die im Zusammenhang mit der Arbeit auf
die Person einwirken. Erweist sich eine Arbeitsbelastung dann als Einflussfaktor für die
Entstehung einer Krankheit, kann sie auch als arbeitsbezogener Risikofaktor bezeichnet
werden. Die Beanspruchung meint hingegen die körperliche oder psychische Reaktion
auf eine Belastung – ist also deren Folge. Aus der Vielfalt der Belastungen ergibt sich eine
ebenso große Vielfalt an möglichen Reaktionen, die von harmlosen Symptomen bis hin
zu tödlichen Erkrankungen reichen.
Die dritte Größe im Modell sind die modifizierenden Faktoren. Sie haben einen Einfluss
darauf, wie stark die Beanspruchung durch eine Belastung ausfällt. Ist dieser Einfluss positiv,
dann schützt der Modifikator vor den Folgen einer Belastung. Schutzfaktoren (oder ‚Res-
sourcen‘) liegen zum Teil in der Person selbst begründet, denn bestimmte Charakterzüge,
Erfahrungen oder Einstellungen können den Umgang mit Belastungen erleichtern. Andere
Ressourcen liegen außerhalb der Person, wie z. B. technische Schutzsysteme, arbeitsme-
170 Nico Dragano

dizinische Vorsorge aber auch soziale Ressourcen wie sozialer Rückhalt. Modifikatoren
können aber auch negative Folgen haben und die Wirkung von Belastungen verstärken.
In solchen Fällen spricht man von ‚Vulnerabilität‘ (Anfälligkeit für eine Erkrankung).
Auch die Vulnerabilität wird sowohl durch individuelle Merkmale, wie z. B. bestehende
Vorerkrankungen, als auch durch Umweltfaktoren, wie z. B. einen Mangel an sozialer
Unterstützung, beeinflusst.
Um das Modell mit Leben zu füllen, werden im Folgenden einige Arbeitsbelastungen
beispielhaft vorgestellt. Eine national oder international einheitliche Klassifizierung der
Arbeitsbelastungen existiert bislang nicht, deshalb folgt die Darstellung einer groben
Gliederung in zwei Blöcke. Den ersten Block bilden physische Belastungen, die in direkter
Form auf den Organismus einwirken. Den zweiten Block bilden psychosoziale Belastungen,
deren Wirkung sich über den Umweg der psychischen Verarbeitung entfaltet.

3.1 Physische Belastungen

Als erste Gruppe der physischen Arbeitsbelastungen können Unfallrisiken angeführt werden,
die von großer Bedeutung sind, da ihre Folgen gravierend sein können. Tödliche Unfälle
passieren heute jedoch seltener als noch vor wenigen Jahrzehnten. So wurden im Jahr 2011
in den EU-27 Ländern 1,2 fatale Unfälle je 100.000 Beschäftigte gemeldet, während es im
Jahr 1994 noch 3,2 auf 100.000 waren (Statisches Bundesamt 2015). Wesentlich häufiger
sind nicht-tödliche Unfälle: 2013 wurden 874.514 meldepflichtige Unfälle gezählt (DGUV
2015). Dahinter verbergen sich unterschiedliche Zwischenfälle wie Transportunfälle, Verlet-
zungen durch Maschinen oder Werkzeuge, Nadelstichverletzungen oder Stürze. Prinzipiell
ist mit fast jedem Beruf ein gewisses Unfallrisiko verbunden, die Gefahr zu verunglücken
ist aber bei bestimmten Tätigkeiten deutlich erhöht. Ein Risiko ist insbesondere dann
gegeben, wenn die Tätigkeit den Umgang mit Maschinen, Werkzeugen, schweren Lasten
oder Transportmitteln erfordert und wenn die Gefahr von Stürzen besteht (Europäische
Kommission 2009). Zu den besonders gefährdenden Berufen gehören Berufe im primären
Sektor, im Bau- und Transportgewerbe, in der Metallerzeugung und -verarbeitung sowie
einzelne Dienstleistungsberufe.
Ebenfalls weit verbreitet sind ergonomische Belastungen bei denen die Beanspruchung
durch eine arbeitsbedingte Fehlbelastung des Muskel-Skelett-Apparates entsteht (Schlick et
al. 2010). Beispiele sind das Tragen schwerer Lasten, die Arbeit in ungünstigen Körperpo-
sitionen wie sie z. B. bei Überkopf-Montagen vorkommt, langes Stehen oder langes Sitzen.
Die daraus folgenden Beanspruchungen sind typischerweise Muskel-Skelett-Erkrankungen
(z. B. chronische Rückenschmerzen, Gelenkverschleiß, Bandscheibenvorfälle). Zu nennen
sind aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, deren Entstehung durch chronischen Be-
wegungsmangel, etwa infolge langen Sitzens, befördert wird (Bernardo et al. 2013). Die
einzelnen Belastungen treffen Berufsgruppen in unterschiedlicher Häufigkeit. Während
klassische Fehlbelastungen in manuellen Berufen häufig auftreten, sind Faktoren wie langes
Stehen oder Sitzen auch in der Dienstleistungsbranche verbreitet.
11 Arbeit und Gesundheit 171

Die dritte Obergruppe bilden Umgebungsbelastungen, zu denen sowohl klimatische


als auch physikalisch-chemische Expositionen (Einwirkungen) sowie Lärm gerechnet
werden (Schlick et al. 2010, Nowak 2006). Klimatische Belastungen hängen vor allem mit
der Umgebungstemperatur und Feuchtigkeit am Arbeitsplatz zusammen. Eine dauerhafte
Arbeit unter kalten und feuchten Bedingungen ist beispielsweise mit einem erhöhten Ri-
siko für Atemwegserkrankungen assoziiert (Dembe et al. 2014). Physikalisch-chemische
Einwirkungen entstehen im Kontakt mit Chemikalien, Schwermetallen oder Strahlungs-
quellen, die insbesondere im produzierenden Sektor häufig vorkommen. Als Beispiele
für gesundheitliche Folgen können Tumorerkrankungen, Atemwegserkrankungen und
Allergien angeführt werden (Nowak 2006). Ein weiterer Faktor ist Lärm und die von ihm
ausgehenden Hörschäden. Lärm ist weit verbreitet und findet sich nicht nur an Produk-
tionsarbeitsplätzen, sondern auch an zahlreichen Dienstleistungsarbeitsplätzen, z. B. in
Kindergärten oder Schulen.

3.2 Arbeitszeitbezogene Belastungen

Arbeitszeitbezogene Belastungen sind bereits am Übergang zu den psychosozialen Belas-


tungen zu verorten, da sie sowohl unmittelbar auf den Organismus einwirken, als auch
psychisch vermittelte Nebenwirkungen haben. Die bekannteste Belastung aus dieser Gruppe
ist die Schichtarbeit und hier speziell die Nachtarbeit. Gerade letztere kann aufgrund ihrer
irritierenden Wirkung auf den Schlaf-Wach-Rhythmus körperliche Beanspruchungen zur
Folge haben (Schlick et al. 2010). Entsprechend wird dauerhafte Schichtarbeit als Risikofak-
tor für eine ganze Reihe von Erkrankungen eingestuft (Harrington 2001). Darüber hinaus
ist auch die Dauer der täglichen Arbeitszeit in den Fokus der Forschung gerückt. Erste
Studienergebnisse legen nahe, dass lange Arbeitszeiten ein eigenständiger Risikofaktor für
Erkrankungen wie Herzkrankheiten, Diabetes oder Depressionen sein könnten (Kivimäki
et al. 2015, Virtanen et al. 2012).

3.3 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Arbeitsstress

Psychosoziale Arbeitsbelastungen werden hier als Sammelbegriff für eine ganze Reihe von
Situationen verwendet, deren verbindendes Element es ist, dass sie eine psycho-physiologische
Beanspruchung provozieren können. Die wohl bekannteste Form einer solchen Beanspru-
chung ist die Stressreaktion. Der Stressbegriff, so wie er im wissenschaftlichen Diskurs
verwendet wird, bezeichnet ein komplexes psycho-biologisches System, dessen Aufgabe
die schnelle Mobilisierung des Körpers angesichts einer Bedrohung ist (Fink 2000). Diese
Mobilisierung wird durch ein Zusammenspiel neuronaler und hormoneller Prozesse (z. B.
Cortisol oder Adrenalin) gesteuert und beeinflusst wichtige Systeme, wie das Herz-Kreis-
lauf-System oder den Stoffwechsel (Rensing et al. 2006). Die natürliche Stressreaktion erfüllt
eine wichtige evolutionäre Funktion, nämlich die der Vorbereitung auf Kampf oder Flucht
angesichts einer Gefahr. Stress kann sich aber auch gegen die Gesundheit wenden. Das ist
172 Nico Dragano

dann der Fall, wenn die Stressreaktion entweder traumatisch stark ausfällt oder wenn sie
über einen langen Zeitraum immer wieder auftritt, ohne dass eine nachhaltige Erholung
oder Auflösung der Situation eintritt. Infolge einer Überlastung des Stresssystems können
dann emotionale, kognitive sowie körperliche Beeinträchtigungen, bis hin zu schweren
körperlichen und psychischen Erkrankungen, auftreten (Rensing et al. 2006, Angerer et
al. 2014). Über die Stressbelastung hinaus sind noch weitere gesundheitliche Folgen von
psychischen Belastungen bekannt. So können sie, insbesondere bei einer langen Einwirkung,
zu Erschöpfungszuständen führen und somit die Widerstandskraft des Körpers insgesamt
schwächen. Auch sind Verhaltensänderungen in psychischen Belastungssituationen nicht
unüblich. Beispielsweise fällt es vielen Menschen schwer, Sport zu treiben, wenn sie zugleich
ein hohes Arbeitspensum bewältigen müssen (Nyberg et al. 2013).
Die sich anschließende Frage ist, wie ein arbeitsbedingter Faktor beschaffen sein muss,
damit die genannten Effekte ausgelöst werden. Da die biologische Funktion des Stresssys-
tems die Reaktion auf eine bedrohliche oder mindestens herausfordernde Situation ist,
muss die Belastung folglich als Bedrohung oder Herausforderung wahrgenommen werden.
Abgesehen von wenigen Ausnahmen, handelt es sich bei typischen psychosozialen Belas-
tungen im Arbeitsleben aber nicht um akut lebensbedrohliche Situationen, sondern eher
um latent bedrohliche Umstände, wie eine konstante Überforderung, eine sinnentleerte
Arbeit oder eine Gefährdung der materiellen Basis durch drohenden Arbeitsplatzverslust.
Nichtsdestotrotz können auch niedrigschwellige, dafür aber chronische Aktivierungen
ausreichen, um die Gesundheit zu schädigen (Siegrist 1996).
Auf der Suche nach konkreten arbeitsbezogenen Belastungen hat man versucht, die vielen
möglichen Quellen zu systematisieren und zu kategorisieren. Als zentrale Dimension hat
sich dabei die Quantität der Arbeit (auch: Arbeitslast) herausgestellt (Antoniou & Cooper
2005). Diese wird im Arbeitsalltag durch den Umfang und die Zahl der Arbeitsaufgaben,
Zeitdruck, Konzentrationsanforderungen, Lernanforderungen, Unterbrechungen und
ähnliche Umstände bestimmt. Bedenklich wird eine hohe Arbeitslast dann, wenn sie
chronisch auftritt und somit die Selbstregulation der Person herausfordert sowie ihre
Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft bedroht.
Jedoch ist argumentiert worden, dass eine hohe Quantität der Arbeit nicht unbedingt
problematisch sein muss. So wird eine Person, die ihre Arbeit liebt und dort viele positive
Erfahrungen macht, vermutlich wenig Belastung empfinden. Denn gerade im Bereich der
psychischen Verarbeitung können Modifikatoren die Wahrnehmung von Belastungen
beeinflussen (Lazarus & Folkman 1984). Aus diesem Grund erfassen viele theoretische
Modelle zum Arbeitsstress sowohl die Seite der quantitativen Anforderungen als auch die
Seite der möglichen Ressourcen und Vulnerabilitäten.
Eines der populärsten Arbeitsstressmodelle, das nach diesem Schema funktioniert,
ist das ‚job strain‘ Modell von Robert Karasek (auch: Anforderungs-Kontroll-Modell). Es
beruht auf der Beobachtung, dass der wahrgenommenen Kontrollierbarkeit einer Situation
eine zentrale Bedeutung dabei zukommt, ob die Situation als Bedrohung empfunden wird
(Karasek & Theorell 1990). Laut Karaseks Modell entsteht Stress vor allem dann, wenn
11 Arbeit und Gesundheit 173

eine Person hohe quantitative Anforderungen bewältigen muss aber nur wenig Kontrolle
über die Arbeitsabläufe und -gestaltung hat.
Einen anderen Schwerpunkt setzt das ebenfalls breit rezipierte Modell beruflicher Gra-
tifikationskrisen (Siegrist 1996), in dem die für den Arbeitseinsatz erhaltene Belohnung
hervorgehoben wird. Beschäftigte, die für ihre Arbeit eine angemessene monetäre Beloh-
nung, immaterielle Anerkennung und Karriereoptionen erhalten, empfinden laut diesem
Modell Belastungssituationen seltener als problematisch. Im Umkehrschluss wirkt niedrige
Belohnung in Kombination mit hoher Anforderung als Stressor.
Mit beiden Modellen wurde weltweit eine große Zahl von Studien durchgeführt, die
die Annahmen bestätigen und zeigen, dass zum Teil schwerwiegende gesundheitliche
Folgen drohen (Siegrist 2015, Wahrendorf & Dragano 2014). Trotzdem stehen sie hier nur
exemplarisch für viele weitere Modelle (Antoniou und Cooper 2005), um zu demonstrie-
ren, dass ein theoretischer Rahmen nötig ist, um sich der Untersuchung der komplexen
psychosozialen Belastungen zu nähern. Theoretische Modelle erlauben zudem, die infolge
des Wandels der Arbeitswelt neu auftretenden Belastungen in bestehende Kategorien ein-
zuordnen und so deren potentielle Gefährlichkeit zu bewerten. Beispiele sind die derzeit
diskutierten Trends zur Entgrenzung oder das Phänomen der ständigen Erreichbarkeit
dank mobiler Kommunikationstechnik.
Über die klassischen Arbeitsstressmodelle hinaus, gibt es weitere gut untersuchte
psychosoziale Belastungen. Ein Bereich, in dem häufig Belastungen auftreten, ist der der
sozialen Interaktionen am Arbeitsplatz, sei es mit Kolleginnen oder Kollegen, Vorgesetzten
oder Kunden. Hierzu zählen auch Aspekte wie übergeordnete Kommunikationsstile in
Unternehmen, wie sie beispielsweise das Modell der organisationalen Gerechtigkeit in den
Mittelpunkt stellt (Kivimäki et al. 2003). Konflikthafte Interaktionen (und hier insbesondere
extreme Formen wie Mobbing oder Diskriminierung) sind in der Lage Stressreaktionen
auszulösen, da sie typischerweise als Bedrohung wahrgenommen werden (Rensing et al.
2006). Auch zu diesen Stressoren liegen Studien vor, die überwiegend zeigen, dass soziale
Konflikte am Arbeitsplatz das Risiko zu erkranken erhöhen (Einarsen & Nielsen 2015).
Ebenfalls kann der Erwerbsstatus Auslöser von Beanspruchungen sein. Zu den starken
Einzel-Stressoren zählt die Arbeitsplatzunsicherheit (Ferrie et al. 1998). Es ist gut belegt, dass
Beschäftigte, die Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes haben, überdurchschnittlich
häufig unter Stresssymptomen leiden (Sverke et al. 2002). Angesichts der großen Bedeutung
der Arbeit für das Einkommen und die soziale Teilhabe ist dies damit zu erklären, dass
der Verlust der Arbeit eine fundamentale Bedrohung der Lebensgrundlage und sozialen
Einbindung darstellt. Des Weiteren werden auch Formen von atypischer Beschäftigung, wie
Leiharbeit, befristete Verträge oder Teilzeitarbeit, in Zusammenhang mit gesundheitlichen
Beanspruchungen gebracht (Ferrie et al. 2008, Westerlund et al. 2004).
174 Nico Dragano

4 Von der individuellen zur strukturellen Ebene:


gesundheitliche Ungleichheit und Arbeit

Eine soziologische Betrachtung der Arbeitsgesundheit geht aber über die Betrachtung
von individuellen Belastungs-Beanspruchungs-Kombinationen hinaus und analysiert die
strukturellen Hintergründe der Gesundheit im Kontext von Arbeit und Erwerb. Neben der
Beschäftigung mit einzelnen Faktoren auf der Meso- und Makro-Ebene, die im nächsten
Unterkapitel behandelt wird, ist die strukturelle Ungleichverteilung von arbeitsbezogenen
Risiken in der Erwerbsbevölkerung ein zentraler Forschungsgegenstand.
Das allgemeine Phänomen der sozialen Ungleichheit von Krankheit und Sterblichkeit wird
in diesem Buch wiederholt thematisiert (siehe Lampert in diesem Band). Die statistischen
Befunde zeigen, dass diese Ungleichheit auch in der Bevölkerung im Erwerbsalter evident
ist. So ist sowohl die Sterblichkeit als auch die Erkrankungs- und Unfallwahrscheinlich-
keit bei Angehörigen manueller Berufe im Vergleich zu nicht-manuellen Berufen erhöht
(Mackenbach et al. 2008, Dalstra et al. 2005, Marsh et al. 2013). Aber auch innerhalb von
Organisationen scheinen Erkrankungsrisiken der betrieblichen Hierarchie zu folgen – mit
höheren Erkrankungsraten in den unteren Hierarchiestufen (Stringhini et al. 2011).
Auch wenn sicher nicht alle Gründe für ungleiche Gesundheitschancen in der Arbeits-
welt selbst zu suchen sind, scheint eine ungleiche Verteilung von Arbeitsbelastungen einen
Anteil zu haben. Zwar ist eine sozial ungleiche Verteilung von Risiken bislang nicht für alle
Arten von Arbeitsbelastungen untersucht worden, für einzelne Gruppen wie Unfallgefahren
oder ergonomischen Belastungen liegen jedoch empirische Hinweise auf eine Häufung
in Gruppen mit niedrigerem beruflichen Status vor (Toch et al. 2014). Zu psychosozialen
Belastungen existieren ebenfalls Studien, die eine Ungleichverteilung von Faktoren, wie
einem geringen Handlungsspielraum, fehlender Kontrolle über die Arbeitsabläufe oder
geringer Belohnung, nahe legen (Hoven & Siegrist 2013).
Darüber hinaus muss auf die Bedeutung des Einkommens für die Entstehung von
gesundheitlicher Ungleichheit hingewiesen werden, denn die Erwerbsarbeit stellt für
die Mehrzahl der Erwerbstätigen und ihre Familien die Haupteinkommensquelle dar.
Zugleich ist ein geringes Einkommen mit spezifischen Gesundheitsrisiken assoziiert,
wobei für weiterführende Informationen auf andere Beiträge in diesem Buch verwiesen
wird. Es soll lediglich angemerkt werden, dass ein niedriges Erwerbseinkommen und eine
hohe Arbeitsbelastung häufig zusammen auftreten, da beides tendenziell eher in Berufen
mit geringen Qualifikationsanforderungen oder einer geringen Stellung im betrieblichen
Machtgefüge auftritt.
Im Sinne einer Lebenslaufperspektive sollten sozial ungleich verteilte arbeitsbezogene
Risikofaktoren zudem in Zusammenhang mit Belastungen in anderen Lebensphasen
gesehen werden. Denn es sind vor allem Jugendliche aus ärmeren Familien mit niedriger
Bildung, die – bedingt durch die sozial differentiellen Bildungschancen – Berufe mit hohen
Belastungen und niedrigem Einkommen ergreifen müssen (Dragano & Wahrendorf 2014).
Gerade diese Menschen haben häufig bereits während Kindheit und Adoleszenz besondere
gesundheitliche Belastungen erlebt. Somit setzt sich die gesundheitliche Benachteiligung
11 Arbeit und Gesundheit 175

fort und Risiken kumulieren im Verlauf des Lebens (Dragano 2007). Am anderen Ende des
Altersspektrums wirken Arbeitsbelastungen auch über die Berentung hinaus. Zunächst
sind Personen mit einfachen und schlechter bezahlten Berufen deutlich häufiger von
gesundheitsbedingter Frühberentung betroffen und damit bereits zu Beginn der Rente
chronisch krank (Krokstad & Westin 2004). Hinzu kommt, dass sich die gesundheitliche
Wirkung von belastenden Arbeitsbedingungen, nicht selten erst im höheren Alter zeigt
(Wahrendorf et al. 2013), so dass sozial ungleiche Belastungen während des Erwerbslebens,
auch im höheren Lebensalter noch zu gesundheitlicher Ungleichheit führen können.

4.1 Die Meso-Ebene

Damit ein Muster gesundheitlicher Ungleichheit auf individueller Ebene entstehen kann,
muss es Kräfte auf der gesellschaftlichen Ebene geben, die dieses erzeugen. Die Betrachtung
solcher Hintergrundfaktoren ist aber nicht exklusiv mit dem Thema der gesundheitlichen
Ungleichheit verknüpft, sondern führt weiter zu der allgemeinen Frage, welche Prozesse
und Strukturen einen Einfluss auf das Belastungsgeschehen in den Betrieben haben. An-
gefangen mit globalen ökonomischen Trends, bis hin zum Verhalten von Arbeitgebern,
gibt es hier eine ganze Fülle von Themen, die im Interessenbereich der Soziologie liegen.
Allerdings ist festzuhalten, dass eine systematische Untersuchung von Makro-Meso-Mikro
Verbindungen im Themenfeld der Arbeitsgesundheit bislang eher sporadisch erfolgt und
die Theoriebildung entsprechend unterentwickelt ist.
Im Zentrum des Interesses steht die Frage, warum Arbeitsbelastungen auftreten und
warum manche Gruppen von Beschäftigten häufiger oder seltener davon betroffen sind
als andere. Das Vorkommen von Belastungen erklärt sich nämlich nicht alleine durch die
Art des ausgeübten Berufs – oder genauer – durch die Arbeitsinhalte, die nötig sind, um
diesen Beruf auszuüben. Beispielsweise erfordert die Arbeit als Internistin den Umgang
mit potentiell ansteckenden Patienten. Jedoch ist es durchaus gestaltbar, ob in Folge dieses
Umgangs auch tatsächlich ein Infektionsrisiko entsteht. Durch Schutzmaßnahmen, Hygi-
ene, Impfungen oder eine entsprechende Ausbildung kann die Belastung gering gehalten
und gesundheitliche Folgen vermieden werden.
Da sowohl die Arbeitsgestaltung als auch die konkrete Umsetzung des Arbeits- und
Gesundheitsschutzes primär in der Verantwortung der Arbeitgeber liegt, muss das Han-
deln der Akteure im Betrieb nachvollzogen werden. Den Rahmen des Verhaltens geben die
rechtlichen Grundlagen vor. Beispielsweise verpflichtet das deutsche Arbeitsschutzgesetz
die Arbeitgeber in umfassender Weise für den Schutz der Beschäftigten zu sorgen. Das
beinhaltet z. B. die regelmäßige Messung von Belastungen im Rahmen einer Gefährdungs-
beurteilung, die routinemäßige Aufklärung der Beschäftigten über Gesundheitsgefahren
sowie die Verpflichtung, Maßnahmen zu ergreifen, um die Arbeit gesundheitsförderlich
zu gestalten (Schlick et al. 2010). Diesen Anforderungen kommen die Betriebe jedoch in
unterschiedlichem Umfang nach. Faktoren, die darauf einen Einfluss haben, sind beispiels-
weise die Ausbildung und das Wissen der Akteure (Sczesny et al. 2014). Die Umsetzung der
beschriebenen Maßnahmen benötigt Expertise, die aber nicht immer vorhanden ist. Dies
176 Nico Dragano

trifft besonders auf klein- und mittelgroße Betriebe zu, in denen es oft keinen institutiona-
lisierten Arbeitsschutz gibt und in denen den Verantwortlichen oft das nötige Fachwissen
fehlt, um bei der Arbeitsgestaltung gesundheitliche Belange zu berücksichtigen (Sczesny et
al. 2014). Ein weiterer, bislang kaum untersuchter Aspekt ist der der bewusst oder billigend
in Kauf genommenen Verstöße gegen Gesetze und Vorschriften. Da der Arbeitsschutz
Kosten verursacht, gibt es einen entsprechenden Anreiz, diese zu vermeiden. In diesem
Zusammenhang spielen wahrscheinlich auch die betrieblichen Machtverhältnisse, wie sie
sich z. B. im Vorhandensein einer Mitarbeitervertretung äußern, eine Rolle.
Dies leitet über zu weiteren sozialen Faktoren, nämlich den sozialen Beziehungen und
dem sozialen Klima im Betrieb. Gruppennormen und -verhalten haben einen nicht un-
wesentlichen Einfluss auf den Umgang mit Gefahren. So ist beispielsweise in der Unfall-
forschung festgestellt worden, dass das ‚Sicherheitsklima‘ in einem Betrieb einen starken
Einfluss darauf hat, welche Risiken die einzelnen Beschäftigten eingehen und inwieweit
Arbeitsschutzvorschriften eingehalten werden (Zohar 2010).

4.2 Die Makro-Ebene

Um nun den Weg durch die Ebenen zu komplettieren, ist festzuhalten, dass die Meso-Ebene
wiederum in übergeordnete Zusammenhänge auf der Makro-Ebene eingebettet ist. Zen-
trale gesellschaftliche Institutionen und Systeme, wie das Gesundheitssystem, die soziale
Sicherung, die Wirtschaftsverfassung, der gesetzliche Rahmen für Arbeit – im weitesten
Sinne – sowie die Arbeitsschutzgesetzgebung sind hier ebenso zu nennen wie globale
gesellschaftliche oder technische Entwicklungen und Trends.
Diese Rahmenbedingungen und Trends bestimmen in erheblichem Maße die Situation
in den Betrieben und damit die allgemeinen Arbeitsbedingungen (Bambra 2011, Fenwick
& Tausig 1994). Als Beispiel kann nochmals das Sicherheitsklima im Betrieb dienen. Hier
ist es denkbar, dass äußere Bedingungen, wie ein steigender Kostendruck durch globale
Konkurrenz, die Vernachlässigung von Sicherheitsstandards provoziert. Die Einflüsse sind
insgesamt aber äußerst vielschichtig und komplex. Zudem kann die Wirkung nicht nur
negativ, sondern auch positiv sein. Beispiele hierfür sind eine Verbesserung des gesetzli-
chen Arbeitsschutzes oder technische Innovationen, die gefährliche Tätigkeiten ersetzen.
In letzter Zeit sind verschiedene Versuche unternommen worden, einzelne Mikro-Me-
so-Makro-Verbindungen empirisch zu untersuchen. Mithilfe internationaler Datensätze
konnten so Hinweise auf konkrete Assoziationen gefunden werden. So scheinen nationale
Regelungen zur sozialen Sicherung, zu Arbeitnehmerrechten oder zur Vereinbarkeit von
Familie und Beruf mit dem individuellen Erleben von Belastungen wie Arbeitsstress,
einer gestörten Work-Life-Balance oder Arbeitsplatzunsicherheit zusammen zu hängen
(Bambra 2011, Dragano et al. 2011, Lunau et al. 2014). Auch gibt es Anzeichen dafür, dass
die Ausprägung der sozialen Ungleichheit von Gesundheit bei Erwerbstätigen davon
abhängt, welches wohlfahrtsstaatliche Programm ein Land verfolgt (Eikemo et al. 2008).
Die ebenen-übergreifenden Verbindungen verlaufen natürlich nicht nur top-down von
der Makro- zur Mikro-Ebene. Vielmehr sind die Einflüsse wechselseitig und die modernen
11 Arbeit und Gesundheit 177

Wohlfahrtsstaaten sind nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den gesundheitlichen


Bedürfnissen einer modernen Erwerbsbevölkerung entstanden. Subsysteme, wie die
Krankenversicherung und die Invaliditätsrente, beziehen sich explizit auf die Frage der
medizinischen Versorgung und sozialen Absicherung von Beschäftigten im Falle von
Krankheiten. Zudem ist auch der organisierte Arbeits- und Gesundheitsschutz als Teil des
Wohlfahrtsstaates zu betrachten. Weitere in Bezug auf die Arbeitsgesundheit zu nennende
Institutionen in Deutschland sind die Erwerbsminderungsrente, die Rehabilitation in
der gesetzlichen Sozialversicherung, sowie die Unfallversicherung und die sie tragenden
Berufsgenossenschaften. Auch auf politischer Ebene haben sich zahlreiche Strukturen
gebildet, die sich explizit oder implizit mit Fragen der Arbeitsgesundheit beschäftigen.

5 Schlussfolgerungen

Eine soziologisch interessierte wissenschaftliche Analyse kann einen wichtigen Beitrag zur
Aufklärung der komplexen Verbindungen zwischen Arbeit und Gesundheit leisten, denn
jede Form der Arbeit ist in einen größeren gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Daher
sind einzelne Phänomene, wie z. B. das Auftreten eines arbeitsbedingten Risikofaktors, nie
in der isolierten Betrachtung alleine fassbar. Die Liste der möglichen Forschungsfragen
ist somit lang und sie reicht von Aspekten des Verhaltens der betrieblichen Akteure auf
der Mikro- und Meso-Ebene bis hin zur Betrachtung von ebenen-übergreifenden Zu-
sammenhängen und globalen Prozessen des gesellschaftlichen Wandels. Der Beitrag der
Soziologie beschränkt sich aber nicht auf die Beschäftigung mit Grundlagen. Vielmehr
hat die Auseinandersetzung mit der Arbeitsgesundheit praktische und politische Impli-
kationen. So war beispielsweise die präzise theoretische Beschreibung von psychosozialen
Arbeitsbelastungen ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer besseren Wahrnehmung
der Thematik im Rahmen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes. Die moderne betriebli-
che Gesundheitsförderung hat sich sogar überhaupt erst in Auseinandersetzung mit der
Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung von Fragen der Arbeitsgesundheit heraus
gebildet. Die Gesundheitsförderung sieht den Arbeitsplatz als Lebenswelt und Versuche die
Gesundheit zu verbessern, müssen sich der Komplexität dieser Lebenswelt annähern, um
erfolgreich zu sein. Um ein Beispiel aus einem der vorangegangenen Kapitel aufzugreifen:
Wenn Unfälle vermieden werden sollen, reicht es eben nicht, den Beschäftigten Vorgaben
zum Tragen von Schutzkleidung zu machen. Darüber hinaus muss sichergestellt werden,
dass die Vorgaben auch verstanden werden und im Arbeitsalltag durchführbar sind (Zohar
2010). Damit werden soziale Interaktionen und Rahmenbedingungen zu einem zentralen
Interventionsfeld im Betrieb. Die Beschäftigung mit der Makro-Ebene zeigt zudem, dass
Arbeitsgesundheit eine politische Frage ist. Auf politischer Ebene werden zahlreiche Rah-
menbedingungen gesetzt, die das Geschehen in den Betrieben beeinflussen. Die Forschung
zu ebenen-übergreifenden Zusammenhängen steht zwar derzeit noch am Anfang, sie hat
aber bereits gezeigt, dass sich Zusammenhänge auch empirisch nachweisen lassen. Insofern
ist die Auseinandersetzung mit der Arbeitsgesundheit in all ihren Facetten auch über 150
178 Nico Dragano

Jahre nach Engels Analyse noch eine Herausforderung für die Soziologie und es verbleiben
zahlreiche offene Fragen, auf die es in Zukunft Antworten zu finden gilt.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Arbeitsbelastungen gehören zu den wichtigsten Determinanten der Gesundheit im
Erwachsenenalter.
▶ Zusammenhänge auf individueller Ebene können mithilfe des Belastungs-Bean-
spruchungs-Modells beschrieben werden.
▶ Bei den Belastungen kann zwischen physischen Arbeitsbelastungen (Unfallrisiken,
ergonomische Belastungen, Umgebungsbelastungen, arbeitszeitbezogene Belastun-
gen) und psychosozialen Belastungen unterschieden werden.
▶ Das Auftreten von Belastungen ist variabel und hängt von Prozessen im Betrieb ab
(Meso-Ebene).
▶ Das Geschehen im Betrieb wird durch übergeordnete Strukturen und Prozesse,
wie globale Wirtschaftstrends, Gesetze oder Institutionen des Wohlfahrtsstaats
beeinflusst (Makro-Ebene).

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Welchen Beitrag hat die Arbeit an der Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit
und welche Prozesse wirken daran mit?
▶ Wie können Betriebe über gesetzliche Vorgaben hinaus dazu angehalten werden,
Arbeitsschutznormen umzusetzen und gesunde Arbeit zu gestalten?
▶ Welche Arbeitsbelastungen werden vor dem Hintergrund der globalen wirtschaft-
lichen Entwicklung in Zukunft wichtig sein?

Leseempfehlungen

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Ein einfach verständlicher Überblick zur Arbeitsmedizin.

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heitsmanagement in der Arbeitswelt. Ein Handbuch. Göttingen: Hogrefe.
Das Standardwerk zur betrieblichen Gesundheitsförderung.

t Bambra, C., 2011: Work, worklessness and the political economy of health. Oxford:
Oxford University Press
Theoretische und empirische Grundlagen zu ebenen-übergreifenden Zusammenhängen.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.baua.de/de/Startseite.html
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin stellt Ressourcen zum be-
trieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz zur Verfügung.

Web http://www.ilo.org/global/lang--en/index.htm
Die ‚International Labour Organisation‘ ist eine Agentur der Vereinten Nationen. Für
einen globalen Blick auf die Arbeitsgesundheit ist die Website eine wertvolle Quelle.

Web http://www.arbeit-und-gesundheit.de/
Informationen zum Arbeitsschutz finden sich im Magazin „Arbeit und Gesundheit“
der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung.

Web http://www.inqa.de
Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) nennt sich eine vom Bund geförderte
Plattform für Behörden, Unternehmen, Verbände und Wissenschaftler.

Literatur

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Gendersensible Perspektiven auf Gesundheit
und Gesundheitsversorgung 12
Ellen Kuhlmann
12 Gendersensible Perspektiven

Überblick
▶ Welche Rolle spielen die Kategorien „Sex“ und „Gender“ im Gesundheitssystem?
▶ Warum ist es wichtig Geschlechterunterschiede nicht nur zu dokumentieren, son-
dern zu erklären und einen Gender Bias in den Versorgungskonzepten zu erkennen?
▶ Welchen Beitrag leisten sozialwissenschaft liche Ansätze in diesem Kontext?
▶ Welche geschlechterspezifischen Effekte macht die Evaluation der Konzepte „Inan-
spruchnahme“ und „Zugang“ zur Gesundheitsversorgung sichtbar?
▶ Wie können geschlechterspezifische Barrieren im Zugang zur Versorgung auf der
Makro-, Meso- und Mikroebene des Gesundheitssystems sichtbar gemacht werden
und welche Ansatzpunkte für gendersensible Interventionen zeigen sich?

1 Einleitung

Die Bedeutung der Geschlechterkategorie für Fragen von Gesundheit und Krankheit
wird kaum mehr in Abrede gestellt und auch die Datenlage hat sich in den letzten Jahren
erheblich verbessert. Doch bleiben die Studien allzu oft bei der Aufschlüsselung der Daten
nach Frauen und Männern stehen, ohne die sozialen Dimensionen der Genderkategorie
zu berücksichtigen. Sie lassen uns deshalb mit den Fragen allein, warum sich Frauen und
Männer unterscheiden, welchen Anteil das Gesundheitsversorgungssystem selbst an
diesen Differenzen hat und wie die Ungleichheiten zu verringern wären (Kuhlmann &
Annandale 2012). Hier setzt dieser Beitrag an. Ziel ist es, die Leserinnen und Leser für die
Komplexität von Genderfragen zu sensibilisieren und Möglichkeiten für die Umsetzung
eines Mainstreaming-Ansatzes aufzuzeigen.
Es besteht zwar ein allgemeiner Konsens darüber, dass sowohl biologische als auch so-
ziale Dimensionen von Geschlecht relevant sind für das Verständnis von Gesundheit und
Krankheit. Doch endet dieser Konsens meist dann, wenn es um die empirische Umsetzung
dieser Erkenntnis in Forschungsfragen, Methoden und Datenanalysen sowie die Entwicklung

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_12, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
184 Ellen Kuhlmann

konkreter Interventionsstrategien im Gesundheitssystem geht. Hier sind theoriegeleitete


Konzepte allein deshalb wichtig, um gegen die Reduktion komplexer Zusammenhänge auf
eine einfach zu erfassende (und statistisch zu bearbeitende) „sex“ Kategorie gewappnet zu
sein. Es ist nur allzu verlockend, gesundheits- und krankheitsbezogene Daten nach den
zwei Gruppen „Frauen“ und „Männer“ zu sortieren, statt sich auf die Komplexität der
Lebenszusammenhänge von Frauen und Männern einzulassen und damit die scheinbar
eindeutigen Aussagen bipolarer Analysen zu riskieren. Dabei geht es keineswegs nur um
Geschlechtertheorien. Vielmehr sind feldspezifische Theoriekonzepte mit Blick auf ihre
Bedeutung für gendersensible Forschungs- und Praxisansätze zu analysieren.
Die Konzepte „Inanspruchnahme“ von Gesundheitsleistungen und „Zugang“ zur Gesund-
heitsversorgung dienen im vorliegenden Beitrag als Illustration für diese Zusammenhänge
(Annandale et al. 2007, Kolip 2012). Diese beiden Konzepte sind vor allem interessant,
weil sich hieran zeigen lässt, dass die Sex-Gender Unterscheidung keine abstrakte Frage
wissenschaftlicher, feministischer Kontroversen ist, sondern die Interventionsstrategien
beeinflusst. Weiter wird deutlich, dass die stärker mit individuellen Verhaltensweisen be-
fasste Inanspruchnahmeforschung Geschlechterstereotype eher verstärkt, wohingegen die
Zugangsforschung differenziertere Ergebnisse und Erklärungen für Geschlechterunterschie-
de liefern kann. Unter Bezug auf ein nach drei Ebenen differenziertes Governancemodell
(Kuhlmann & Annandale 2015) werden Indikatoren für eine geschlechtervergleichende
Analyse entwickelt; methodische Basis ist die Auswertung von ausgewählter Sekundärli-
teratur. Anhand empirischer Ergebnisse werden Anwendung und Nutzen eines multi-level
Governance-Ansatzes des Zugangs zur Gesundheitsversorgung diskutiert.

2 Kategorien und Konzepte der Genderforschung

Die Sex-Gender Unterscheidung wurde eingeführt, um die Grenzen biologischer Erklä-


rungsmuster und Ansatzpunkte für soziale Interventionen sichtbar zu machen.

t „Sex“ bezeichnet die biologischen Dimensionen der Geschlechterkategorie.


t „Gender“ bezeichnet die sozialen (kulturellen, ökonomischen und lebensweltlichen)
Dimensionen der Geschlechterkategorie.

Die praktische Relevanz dieser Unterscheidung zeigt folgendes Beispiel, das der Website
des Projektes „gendered innovations“ entnommen ist. Eine Konferenz zu „Sex Differences
in Pain“ würde die biologischen Determinanten von Schmerzwahrnehmungen von Frauen
und Männern betrachten, wohingegen eine Konferenz zu „Gender Differences in Pain“
die sozio-kulturellen Annahmen über die Wahrnehmung von Schmerzen bei Frauen und
Männern thematisiert (http://genderedinnovations.stanford.edu/terms/sex.html).
12 Gendersensible Perspektiven 185

t Die Trennung in Sex und Gender ist eine analytische Hilfskonstruktion, aber im Bereich
von Gesundheit und Krankheit sind beide Dimensionen relevant; es geht also um das
Zusammenspiel.

Hierin liegt die größte Herausforderung, da sich kein stabiler Koeffizient bestimmen lässt
und auch scheinbar „natürliche“ Dimensionen von Gesundheit und Krankheit sozial kon-
struiert sein können. So haben Frauen vermutlich aufgrund biologischer Unterschiede ein
höheres Risiko für eine bestimmte Form des Lungenkrebs, aber auch geschlechterspezifische
Unterschiede im Rauchverhalten (z. B. kurze, tiefe Inhalationen) verstärken die Risiken
zuungunsten von Frauen (Payne 2004).

t Während sich die Geschlechterforschung in den Anfängen primär auf die Situation von
Frauen konzentrierte, betont die „Gender Mainstreaming“ Strategie geschlechterver-
gleichende Ansätze und die Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit.

Gender Mainstreaming bezeichnet die politische Strategie und zugleich auch ein Instrument
zur Umsetzung. International hat sich die Definition der WHO durchgesetzt: „[A] strategy
for making women’s as well as men’s concerns and experiences an integral dimension in
the design, implementation, monitoring and evaluation of policies and programmes in all
political, economic and social spheres, such that inequality between men and women is
not perpetuated” (WHO 2002: 6).
Die bereichsspezifische Anwendung und Verknüpfung mit existierenden Instrumen-
ten, wie z. B. Monitoring und Evaluation, sowie der Fokus auf geschlechtervergleichende
Daten (siehe Kolip & Hurrelmann 2015) machen das innovative Moment von Gender
Mainstreaming aus. So zeigen Untersuchungen mit Frauen und Männern mit gleichen
Erkrankungen oder vergleichbaren Bedarfslagen, dass entweder keine Unterschiede in
der Inanspruchnahme bestehen oder Männern in einigen Bereichen höhere Raten in der
Inanspruchnahme als Frauen haben (Hunt et al. 2012). Zugleich ist Gender Mainstreaming
schwer zu operationalisieren und wird zum Teil aufgrund der Nähe zu Managementkon-
zepten kritisch gesehen. Auch die Zusammenhänge zwischen der Sexkategorie und der
Genderkategorie sind in dem Mainstreamingkonzept nicht genauer benannt und bleiben
damit relativ beliebig. So wird es möglich, dass die biologische Dimension einseitig be-
tont wird, wie es im Bereich der sich neu entwickelnden Gendermedizin gegenwärtig zu
beobachten ist.

t Neben Gender Mainstreaming gewinnt zunehmend das Konzept der Intersektionalität


an Bedeutung, das die dynamische Verbindung unterschiedlicher Kategorien sozialer
Ungleichheiten (einschließlich gender) erfasst.

In der Analyse von Inanspruchnahme und Zugangsbarrieren ist dieser Ansatz relevant, da er
die Verhaltensweisen und Bedarfslagen spezifischer Gruppen von Frauen und Männern er-
fassen kann. Entsprechende Befunde können zur Verbesserung von Zielgruppenorientierung
186 Ellen Kuhlmann

und Bedarfsgerechtigkeit beitragen, ohne die Genderkategorie gegen andere Dimensionen


sozialer Ungleichheiten auszuspielen. Dieses Konzept stößt ebenfalls in der Operationali-
sierung an Grenzen und kann in der Praxis zur Marginalisierung von Frauengesundheit
und Genderfragen führen (Hankivsky & Cormier 2011, Kuhlmann & Annandale 2012).

3 Zugang zur Gesundheitsversorgung: ein gendersensibles


konzeptionelles Modell

Die Begriffe „Inanspruchnahme“, „Zugang“ und „Zugänglichkeit“ zum Versorgungssystem


sind nicht klar definiert und die geschlechterspezifische Datenlage hierzu ist lückenhaft
(Manierre 2015). Auffällig ist jedoch, dass sich gendersensible Konzepte zumeist auf den
Zugang zur Versorgung (z. B. Kolip 2012) sowie unterschiedliche Theoriekonzepte beziehen.
Demgegenüber hat die Inanspruchnahmeforschung mit dem Anderson Modell (Andersen
1968) einen vergleichsweise hohen Grad der Standardisierung erreicht, aber der Fokus auf
verhaltensbezogenen Ansätze lädt geradezu ein zu einer Reduktion auf die „sex“ Kategorie,
da Individuen gemeinhin nach ihrem biologischen Geschlecht (oder was dafür gehalten
wird) differenziert werden.
Annandale et al. (2007: 469) kritisieren, dass die Inanspruchnahme (utilisation) oft als
Synonym für Zugang (access) dient und Messungen auf Häufigkeiten reduziert werden. Die
Bedeutung der gefundenen Geschlechterunterschiede ist so kaum sinnvoll zu interpretieren.
Auch Kategorien wie „equality“ und „vulnerability“ sind nicht weiterführend, da sich Frauen
und Männer (biologisch und sozial) in den Bedarfslagen unterscheiden können (Annandale
et al. 2007, Wilkins et al. 2009). Zudem lässt sich aus diesen Ergebnissen keine „richtige“
Inanspruchnahme ableiten. So kann z. B. eine geringere Inanspruchnahme von Männern im
Vergleich zu Frauen auf Unterversorgung von Männern, aber ebenso auf Überversorgung von
Frauen hinweisen. Die komplexen Determinanten der Nutzung von Versorgungsangeboten
sind mit einem weiter gefassten, auf den Zugang fokussierten Ansatz besser zu erfassen.
Basierend auf einem qualitativen Review der Literatur haben Annandale et al. (2007)
ein genderspezifisches Analysemodell mit folgenden Determinanten entwickelt: „Zugang“
beinhaltet Inanspruchnahme (utilisation, help-seeking, letzteres eher auf qualitative Aspekte
der Inanspruchnahme bezogen) und Zugänglichkeit (accessibility) sowie strukturelle Be-
dingungen der Institutionen und Organisationen, politische Steuerungsinstrumente (z. B.
Gatekeeper-Modelle) und Ausbildungen und Einstellungen der professionellen Akteure/
Gesundheitsberufe.
Ein gendersensibles Konzept muss diese unterschiedlichen Ebenen des Zugangs und ihre
Zusammenhänge erfassen, und hier bieten insbesondere die multi-level Governanceansätze
weiterführende bereichsspezifische Theorieangebote (Brown & Harrison 2013). „Governan-
ce“ geht davon aus, dass die „Regulierung“ des sozialen Sektors weitaus komplexer ist als
„Regieren“, verstanden als die hierarchische Steuerung durch den Staat (Government). Ein
„multi-level“ Ansatz kann vor allem die makro- und mikropolitischen Regulierungsformen,
aber auch die Ebenen der internationalen und lokalen Steuerung verbinden.
12 Gendersensible Perspektiven 187

Tab. 1 Gendersensible Kategorien und Indikatoren für die Analyse des Zugangs zur
Gesundheitsversorgung
Governance Mainstreaming/ Intersektionalität
Integration von sex-gender

Makroebene: t Ökonomische Variablen/ t Berücksichtigung gruppen-


Gesundheitssystem/ Eigenbeteiligung an Ver- spezifischer Bedarfslagen
-politik/-reformen; sorgungsleistungen in Bedarfsplanung und
soziale Sicherungssysteme t Legislative Vorgaben/ Vergütungssystemen
Gleichstellungspolitik
t Umsetzung von Gender
Mainstreaming in den
Gesundheitsreformen

Mesoebene: t Evaluation, Monitoring, t Gruppenspezifische


Organisationen; performance-basierte In- Angebote, z. B. für ältere
Management; dikatoren für Genderfragen Menschen, MigrantInnen
Professionen/Fachkräfte t bedarfsgerechte Angebote t Kompetenzerwerb/ Integra-
für Frauen und Männer tion in die Ausbildung
t Ort, Zeit und Gestaltung
eines Angebotes und
verfügbare Informa-
tionen;Gendersensibilität/
Geschlechterstereotype der
Professionellen
t Kompetenzerwerb/ Integra-
tion von Genderfragen in
die Ausbildung der Gesund-
heitsprofessionen

Mikroebene: t Geschlechterstereotype t Kulturelle und religiöse


NutzerInnen t „doing gender“ Normen
t geschlechtlich geprägte t sexuelle Identitäten
Identitäten t krankheits- und altersspez.
t biologisch bedingte Krank- Bedarf
heitsunterschiede und
Bedarfslagen
Quelle: eigene Darstellung

Der Governance-Ansatz kann institutionelle und politische Rahmenbedingungen, ak-


teurszentrierte Aspekte und individuelle verhaltensbezogene Bedingungen integrieren
und hierdurch kontextbezogen (Versorgungsbereich, Krankheitsbild, Nutzergruppe, etc.)
auf die Anforderungen von Genderanalysen reagieren (Kuhlmann & Annandale 2015).
Hinzu kommt die stärkere Prozessorientierung der Governancetheorien (z. B. wie werden
Screening-Angebote durchgeführt, an welchen Orten, mit welchen Eigenkosten, etc.), statt
188 Ellen Kuhlmann

nur statistische Häufigkeiten zu zählen. Tabelle 1 gibt einen Überblick über Kategorien und
Indikatoren für die Erfassung von sex-gender Dimensionen des Zugangs zur Versorgung.
Für jede der drei Analyseebenen ist zunächst nach biologischen Faktoren zu fragen,
die Unterschiede im Inanspruchnahmeverhalten und/oder spezifische Zugangsbarrieren
für Frauen oder Männern (sex-Kategorie) erzeugen (Wilkins et al. 2009). Die Fragen
müssen grundsätzlich in Bezug zu epidemiologischen Daten entwickelt und Ergebnisse
in diesem Rahmen interpretiert werden. Aber selbst bei ähnlichen Inanspruchnahme-
raten muss Gender berücksichtigt werden. So können in der Gruppe der Frauen andere
Faktoren (z. B. Zweifel an gesundheitlichem Nutzen oder hohe psychische Belastung) als
in der Gruppe der Männer (z. B. Angst vor Stigmatisierungen und Konflikte mit dem
männlichen Geschlechterstereotyp) für niedrige Inanspruchnahmeraten verantwortlich
sein. Die Interventionsstrategien müssen auf diese spezifischen Bedingungen für Frauen
und Männer reagieren.

4 Fallbeispiele: Zugang zum Versorgungssystem durch


die Genderbrille

4.1 Systemebene (Makroebene)

Das deutsche Gesundheitssystem zeichnet sich im internationalen Vergleich durch eine


hohe Versorgungsdichte und Qualitätsstandards sowie niedrige Zugangsbarrieren aus (hohe
Wahlfreiheit der NutzerInnen, kaum Wartelisten). Dennoch gibt es systembedingte Barri-
eren, die unterschiedliche Zugangschancen für Frauen und Männer erzeugen. Zu nennen
sind hier die steigenden Zuzahlungen und finanziellen Belastungen der Nutzerinnen und
Nutzer. Der Europäische Gesundheitsbericht (WHO 2010: 96) nennt z. B. einen Eigenanteil
von 13 %, womit Deutschland eine mittlere Position im europäischen Vergleich einnimmt.
Hier liegt es auf der Hand, dass Frauen als Gruppe aufgrund der Einkommensdifferenzen
häufiger und stärker als Männer von einem steigenden Eigenanteil an den gesundheitsbe-
zogenen Kosten betroffen sind. Dies gilt nochmals verstärkt für die Gruppe der Älteren, da
Frauen insgesamt niedrigere Renten beziehen und häufiger von Altersarmut betroffen sind.
Daten aus den USA zeigen, dass die Einführung verbesserter sozialer Gesundheits-
leistungen in unteren sozialen Gruppen geschlechterdifferenzierend wirkt und Männer
mehr als Frauen davon profitieren (Mertzel 2000). Ebenfalls kann die Einführung von
Gatekeeping-Modellen Geschlechterunterschiede produzieren. Im deutschen Gesund-
heitssystem ist „Gatekeeping“ durch das Recht auf Wahlfreiheit der Leistungsanbieter
begrenzt. Dennoch weisen Reformmodelle eindeutig in diese Richtung. Ein Beispiel ist
die Einführung freiwilliger, aber auf Anreizsystemen basierender Hausarztmodelle; hier
übernehmen die Hausärztinnen und -ärzte die Rolle der „Gatekeeper“ insbesondere für
die kostenintensive fachärztliche Versorgung.
Obschon einige Daten auf den Abbau sozialer Ungleichheiten im Vergleich zu Systemen
mit höherer Wahlfreiheit hinweisen, werden höhere Zugangsbarrieren und längere Warte-
12 Gendersensible Perspektiven 189

zeiten auch für Frauen aus Gatekeeping-Systemen, wie z. B. Portugal, berichtet (Fernandes
et al. 2010); auch im National Health Service in England sind geschlechterspezifische
Barrieren zuungunsten von Frauen dokumentiert (Wilkins et al. 2009).
Systembedingte Geschlechtsunterschiede setzen sich in den Reformmodellen an den
Schnittstellen zwischen Gesundheitssystem und Organisation/Management fort. So ana-
lysierten Krämer et al. die Behandlung von Diabetes auf Basis einer Kohortenstudie und
fragen nach der Nutzung strukturierter Behandlungsprogramme, die seit der Gesund-
heitsreform 2002 als Disease-Management-Programme (DMPs) für Diabetes und andere
ausgewählte chronische Erkrankungen im deutschen Gesundheitssystem eingeführt wurden.
Die Teilnahme an den DMPs ist freiwillig, aber wird – ähnlich wie die Hausarztmodelle
– mit spezifischen Anreizsystemen für die Patientinnen und Patienten, wie auch für die
Ärzteschaft gefördert. Krämer et al. fanden bei einem Anteil von 80 % DMP-Nutzung in
der Gruppe der Männer im Vergleich zu Frauen häufiger schlechte Blutzuckerwerte und
„significantly fewer GP and medical specialist appointments, a lower number of medica-
tions, and longer rehabilitation stays“ (2012: 362). Folglich kann das DMP für Diabetes auf
die Geschlechterunterschiede nicht reagieren oder produziert sie zum Teil selbst.

4.2 Organisation und Professionen (Mesoebene)

Mit der Einführung von New Public Management hat die Bedeutung des Qualitätsmanage-
ments zugenommen. Doch trotz Gender Mainstreaming-Politik bleiben die Reformkonzepte
überwiegend „geschlechterneutral“, und geschlechterspezifische Effekte werden nicht
systematisch evaluiert. Die deutlichsten Belege für Zugangsbarrieren und evidenzbasierte
Daten hat hier die Arzneimittelverordnungsforschung erbracht, die geschlechterdifferenzie-
rendes Verordnungsverhalten der Ärzteschaft nachgewiesen hat (Janshen & Glaeske 2005).
Auch in anderen Therapiefeldern und bei der Diagnostik werden Zugangsbarrieren durch
stereotypisierende Wahrnehmungen und Verhaltensweisen der Ärzteschaft erzeugt und
sind somit vom Gesundheitssystem selbst zu verantworten (Kuhlmann & Annandale 2015).
Möglicherweise müssen Frauen bei einigen Krankheitsbildern häufiger als Männer
eine ärztliche Konsultation in Anspruch nehmen, um das gleiche Ergebnis zu erzielen.
Die Herzerkrankungen bieten hierfür Belege und sind der unter Genderaspekten am
besten untersuchte Bereich. So belegen deutsche und internationale Daten, dass Frauen
mit KHK seltener evidenzbasiert behandelt werden, seltener invasive Diagnostik erhalten,
seltener und anders über präventive Maßnahmen (z. B. Raucherentwöhnungsprogramme)
aufgeklärt werden, um nur einige Beispiele zu nennen (Adams et al. 2008, Fernandes et al.
2010, Janshen und Glaeske 2005). Zusammenfassend wurde festgestellt: „Cardiovascular
disease in women is especially overlooked, and the prevalence of risk factors are rising”
(Lancet 2013: 572).
Die in einigen Bereichen und Gruppen höhere Inanspruchnahme von Frauen könnte
also eine strategische Reaktion auf Defizite des Versorgungssystems und der Ärzteschaft
sein, und ist folglich ein Managementproblem. In eine ähnliche Richtung weisen auch die
zuvor zitierten Befunde zur Diabetes Behandlung (Krämer et al. 2012), obschon die Gründe
190 Ellen Kuhlmann

und Bedingungskonstellationen hier unterschiedlich sind und eher Unterversorgung in


der Gruppe der Männer zu vermuten ist.
Die Verbindungen von systembezogenen und individuellen, verhaltensbezogenen
Aspekten werden auch in anderen Versorgungssektoren und Krankheitsbildern relevant,
wie eine US-amerikanische Studie (Golden 2014) zeigt. Die Untersuchung berücksichtigt
Zusammenhänge zwischen Gender und Ethnizität in der Inanspruchnahme. Die Daten
zeigen, dass individuelle Faktoren wie die Identitätskonzepte der afro-amerikanischen
Frauen die Inanspruchnahme von reproduktiven Versorgungsleistungen ebenso beein-
flussen wie die Wohnregion und die Erfahrungen mit den Leistungsanbietern.

4.3 NutzerInnen und Inanspruchnahmeverhalten (Mikroebene)

Kulturelle und soziale Faktoren beeinflussen die Inanspruchnahme von Gesundheits-


leistungen und in diesem Kontext werden auch Geschlechterstereotype relevant. Deren
Bedeutung wurde vor allem für „geringfügige“ Erkrankungen und niedrigschwellige
gruppenspezifische Präventionsangebote (z. B. Volkshochschulkurse) nachgewiesen.
Tempel und Jung (2013: 32) fanden in den Gesundheitskursen der Volkshochschu-
len einen Frauenanteil von 85 % und in den Kursen der Krankenkassen von 76 % sowie
Hinweise auf eine verbesserten Erreichbarkeit von Männer durch Einzelberatungen zu
Gesundheitsthemen anstelle der gängigen Kursangebote. Die Unterschiede könnten ein
Ergebnis der primär auf die Bedürfnisse von Frauen zugeschnittenen Kurse sein. Folglich
liegen auch hier Defizite in der Organisation der Angebote vor, die ein Geschlecht – in
diesem Fall Männer – benachteiligen und den Zugang einschränken.
Geschlechterstereotype und Geschlechteridentitäten können die Inanspruchnahme in
allen Bereichen des Versorgungssystems beeinflussen (MacLean et al. 2010), aber neuere
Studien und differenziertere Analysen widerlegen hier die These einer durchgängig höheren
(in den Geschlechterstereotypen verankerten) Inanspruchnahme der Frauen (Tabelle 2).
Weiter sind methodische Probleme zu berücksichtigen. Temple und Jung heben am
Beispiel der höheren Inanspruchnahmeraten von Vorsorgeuntersuchungen bei Frauen auf
„beachtliche Differenzen“ zwischen den in Surveys ermittelten Mustern und den Daten
der Krankenkassen hervor. Bei den Kassendaten liegt „die Nutzungsintensität beider Ge-
schlechter gar nicht so weit auseinander. Impfangebote werden von Männern und Frauen
mehr oder weniger gleich stark nachgefragt“ (2013: 32). Hier ist ein Bias im Sinne eines
sozial erwünschen Antwortverhaltens zu vermuten, demzufolge sich Frauen in den Surveys
stärker als Männer als „hilfesuchend“ und „präventionsbewusst“ präsentieren (dürfen).
Interessant ist in diesem Zusammenhang die abnehmende Stärke der Geschlechterunter-
schiede in neueren Daten (GEDA 2010, 2011). Die deutschen Befunde zeigen eher ähnliche
Muster der Inanspruchnahme von Frauen und Männern, wenn tatsächliche Aktivitäten
und Versorgungsdaten als Grundlage dienen und wenn es sich um ernste Erkrankungen
und um die Krankenhausversorgung handelt; internationale Daten stützen diese These
(GEDA 2010, 2011, Hoebel et al. 2012, Hunt et al. 2012, Mertzel 2000).
12 Gendersensible Perspektiven 191

Hoebel et al. werteten Daten der GEDA-Studie 2009 und 2010 aus und fanden, dass etwa
die Hälfte aller anspruchsberechtigten Männer und Frauen in Deutschland innerhalb der
letzten zwei Jahre am Gesundheits-Check-up teilnahm: „Während sich die Teilnahmequo-
ten von Männern und Frauen im Alter bis 54 Jahre nicht unterschieden, beteiligten sich
Männer ab 55 Jahren häufiger am Gesundheits-Check-up als gleichaltrige Frauen“ (2013:
680). Die Varianzen zwischen niedrigem und hohem sozialen Status sind bei Männern
mit 11 % deutlich stärker ausgeprägt als bei Frauen (5 %). Die höhere Inanspruchnahme in
der Gruppe der älteren Männer steht in Kontrast zum männlichen Geschlechterstereotyp.
Im internationalen Vergleich beschreiben Roy und Chaudhuri (2012) Unterschiede in
der Inanspruchnahme von älteren Frauen und Männer nach geopolitischer Lage. Wäh-
ren in westlichen Ländern häufig Frauen im Vergleich zu Männern höhere Nutzerraten
aufweisen, kehrt sich die Relation in anderen Regionen der Welt um – insbesondere in
ressourcenschwachen Ländern (Intersektionalität). Geopolitische Unterschiede spielen
auch in Deutschland eine wichtige Rolle, wie der Ost-West Vergleich belegt: „Besonders bei
den Männern im Osten Deutschlands ist – bei vergleichbarem Alter – mit einer höheren
Krankenhausinanspruchnahme zu rechnen“ (RKI 2009: 217).

Tab. 2 Ausgewählte geschlechtervergleichende Befunde zur Inanspruchnahme von


Versorgungsangeboten
Studien Sektor/Angebot Geschlecht Intersektionalität
Surveydaten Arztbesuch in 97 % Frauen und 88 % Männer krankheitsspezifische
(Thode et al. den letzten 12 hatten Arztkontakt in den letzten Faktoren: bei Verletzun-
2004) Monaten 12 Monaten gen höhere Arztkon-
takte der Männer
Surveydaten Arztbesuch in Frauen 92 %, Männer 85 % Alter: Unterschiede
(GEDA 2010) den letzten 12 am höchsten in den
Monaten jüngeren Gruppen bis
44 Jahre, Bias durch
Gynäkologie
Teilnahme- Krankenhaus- Bei altersstandardisierten Raten Ost-West Unterschiede
daten aufenthalt höhere Inanspruchnahme der
(RKI 2009) Männer im Osten im Vergleich
zu Frauen
Kohorten Diabetes Männer: weniger Haus- und ---
Studie (n=1146) Behandlung/ Facharztkontakte, Arzneiverord-
(Krämer et al. DMP Teilnahme nungen, Krankenhausaufenthalte
2012) (80 %) & stationäre Rehabilitation; und
schlechtere Blutwerte
Bezugnahme Impfangebote Ähnliche Inanspruchnahme bei ---
auf Kranken- Frauen und Männern
kassendaten
(Temple & Jung
2012)
192 Ellen Kuhlmann

Studien Sektor/Angebot Geschlecht Intersektionalität


Surveydaten Krebsfrüh- Frauen 80 %, Männer 53 % Inanspruchnahme
(GEDA 2010) erkennung steigt mit Bildungssta-
gesamt, Inan- tus; Geschlechterunter-
spruchnahme schiede am stärksten in
jüngster Gruppe (Bias
durch Gynäkologie)
Surveydaten Früherkennung Frauen 33 %, Sozialer Status, Bildung
(GEDA 2010) Hautkrebs Männer 34 %
Darmspiegelung Frauen 58 %,
Männer 59 %
Teilnahme- Gesundheits- Volkshochschule 85 % Frauen; Veranstalter/Organi-
daten (Temple kurse GKV 76 %; Hinweise auf sation hat Einfluss auf
& Jung 2012) steigende Rate der Männer bei geschlechterspezifische
Einzelberatungen Teilnahmeraten
GEDA 2010, Gesundheits- Bis 55 Jahre kaum Unterschiede, steigende Rate bei älte-
2011, Teil- checks ab 55 Jahre höhere Rate bei ren Männern; Varian-
nahmedaten Männern zen im Sozialstatus sind
(Hoebel et al. bei Männern mehr als
2013) doppelt so hoch wie bei
Frauen
Teilnahmeda- Brustkrebs --- Türkische Frauen zei-
ten (Berens et Screening gen bis 65 Jahre höhere
al. 2014) Teilnahmeraten als
deutsche, danach kehrt
sich Befund um
Quelle: eigene Darstellung

Weitere Hinweise auf die Intersektionalität der Genderkategorie liefern Unterschiede in-
nerhalb der Gruppe der Frauen. So zeigt der Vergleich von Teilnahmeraten an Brustkrebs
Screening bei türkischen Frauen in Deutschland mit derjenigen nicht-türkischer Frauen
eine höhere Teilnahme türkischer Frauen, aber in der Gruppe der über 65-Jährigen kehrt
sich die Relation um (Berens et al. 2013). Das Ergebnis mahnt zur Vorsicht vor stereotypi-
sierten Annahmen, die grundsätzlich höhere Zugangsbarrieren für „vulnerable“ Gruppen
vermuten.

5 Schlussfolgerungen

Das Geschlecht ist eine wichtige Determinante, um gesundheits- und krankheitsbezo-


gene Daten zu verstehen. Doch belegen die Beispiele, dass Geschlechterdifferenzen nur
im Kontext sozio-kultureller Einflussfaktoren (Gender Kategorie) interpretiert werden
können und keine konstante Determinante sind, wie die „sex“-Kategorie vermuten ließe.
So zeigen die Daten zur Inanspruchnahme kein konsistentes Muster, aber widerlegen die
12 Gendersensible Perspektiven 193

These der durchgängig höheren Raten bei Frauen. Vielmehr sind die Befunde abhängig
von der Methode sowie von sektorspezifischen Angeboten, dem Krankheitsbild, dem Alter
und gruppenspezifischen Bedarfslagen.
Ein theoriegeleitetes Konzept (multi-level governance) des Zugangs zu Versorgungsleis-
tungen kann demgegenüber relevante geschlechterspezifische Dimensionen bedarfs- und
angebotsbezogen erfassen. Dabei zeichnen sich drei Ebenen für Interventionen ab:

t die Verringerung institutioneller Zugangsbarrieren, insbesondere auch prospektiv


durch Gender Mainstreaming-Konzepte bei der Entwicklung und Implementation
von Reformmodellen;
t die Sensibilisierung der Organisationen und der Professionellen für Genderfragen und
die systematische Verknüpfung mit neuen Managementinstrumenten;
t das Erkennen und die Verringerung von Geschlechterstereotypen und „doing gender“
der NutzerInnen, die zu unerwünschtem Inanspruchnahmeverhalten führen können.

Das vorgestellte Modell (siehe Tabelle 1) kann als ein einfach anzuwendendes Instrument
zunächst einen Überblick über Zugangsbarrieren für bestimmte Gruppen von Frauen/
Mädchen und Männern/Jungen liefern. Auf dieser Basis können die Kategorien präzisiert
werden für die Entwicklung, Implementation und Evaluation gendersensibler Versor-
gungsangebote.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Geschlechterspezifische Daten zeigen einen deutlichen Anstieg in der Gesundheits-
forschung, aber komplexe soziale Determinanten und systembasierte Einflussfaktoren
bleiben nach wie vor marginal.
▶ Daten zur Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung zeigen Unterschiede zwi-
schen den Geschlechtern, aber keine konsistenten Muster und bieten somit keine
Ansätze für Interventionen.
▶ Ein multi-level governance-basierter Ansatz kann Zugangsbarrieren zur Versorgung
identifizieren und das Zusammenspiel von „sex-gender“ und anderen sozialen Un-
gleichheitskategorien erfassen (Intersektionalität).
▶ Die Befunde weisen auf Interventionsmöglichkeiten auf drei Ebenen hin: Verringe-
rung institutioneller Zugangsbarrieren, Gendersensibilisierung der Organisationen
und der Professionellen, und Erkennen von Geschlechterstereotypen und „doing
gender“ der NutzerInnen bei der Inanspruchnahme von Leistungen.
194 Ellen Kuhlmann

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Nennen Sie Beispiele für geschlechterspezifische Zugangsbarrieren im Gesundheits-
system. Welche Gruppe bzw. Gruppen sind primär davon betroffen? Wie können
methodische Faktoren (gender bias) die Daten zur Inanspruchnahme von Gesund-
heitsleistungen beeinflussen?
▶ Nennen Sie Beispiele für organisationsbezogene (Mesoebene) Zugangsbarrieren mit
potentiell geschlechterdifferenzierenden Effekten.
▶ Nennen Sie Möglichkeiten für gendersensible Interventionen zur Verringerung von
Zugangsbarrieren.

Leseempfehlungen

t Annandale, E., J. Harvey, D. Cavers & M. Dixon-Woods, 2007: Gender and access to
healthcare in the UK: A critical interpretive synthesis of the literature. Evidence and
Policy 3: 463–486.
Dieser Artikel stellt einen gendersensiblen theoretischen Ansatz vor.

t Hunt, K., J. Adamson & P. Galdas, 2012: Gender and help-seeking: Towards gender-com-
parative studies. S. 241–255 in: E. Kuhlmann & E. Annandale (Hrsg.), The Palgrave
Handbook of Gender and Healthcare, 2nd ed. Palgrave: Basingstoke.
Dieser Beitrag widerlegt mit empirischen Ergebnissen stereotype Annahmen insbesondere
von geringeren Inanspruchnahmeraten der Männer im Vergleich zu Frauen und macht
krankheitsbezogene Faktoren in der Inanspruchnahme sichtbar.

t Kolip, P. & K. Hurrelmann (Hrsg.), 2015: Geschlecht, Gesundheit und Krankheit, 2.


Auflage. Bern: Huber.
Das Handbuch gibt den bisher umfassendsten Überblick über Themenfeder, Diskussio-
nen und Anwendungsbereiche der gesundheitswissenschaftlichen Genderforschung im
deutschsprachigen Raum.

t Kuhlmann, E. & E. Annandale (Hrsg.), 2012: The palgrave handbook of gender and
healthcare, 2nd ed. Palgrave: Basingstoke.
Das Handbuch bietet einen Überblick über die internationalen Forschungsergebnisse und
Debatten der gendersensiblen Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung.
12 Gendersensible Perspektiven 195

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://genderedinnovations.stanford.edu/terms/sex.html
Das Projekt „Gendered Innovations“ stellt methodische Anregungen, Definitionen und
empirische Fallbeispiele vor.

Web http://www.euro.who.int/en/health-topics/health-determinants/gender
Die WHO stellt aktuelle Daten und Berichte zu Gender, Frauen- und Männerge-
sundheit vor.

Web http://gender-summit.com/gs-results2
Nützlicher Überblick über Gender Mainstreaming Aktivitäten in Europa, insbesondere
in Bezug auf Wissenschaft und Exzellenz.

Web http://www.rki.de
Das Robert-Koch-Institut (RKI) stellt gesundheitsbezogene Daten zusammen und folgt
einer Gender Mainstreaming-Policy.

Web http://gesundheitsamt.bremen.de/info/gbe
Der Report illustriert die Möglichkeiten regionaler Berichterstattung mit Schwerpunkt
auf der Frauengesundheit.

Literatur

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Regionale Variationen in der Gesundheit und
Gesundheitsversorgung 13
Leonie Sundmacher
13 Regionale Variationen in der Gesundheitsversorgung

Überblick
▶ Was versteht man unter regionalen Variationen in der Gesundheit und Gesund-
heitsversorgung?
▶ Was besagt die Hypothese medizinischer Behandlungsstile (medical practice style
hypothesis)?
▶ Warum betrachtet man regionale Variationen in effektiver, präferenzsensitiver und
angebotssensitiver Versorgung?
▶ Was sind versorgungssensitive Gesundheitsergebnisse?

1 Einleitung

Die Analyse regionaler Variationen in Gesundheit und Versorgung ist ein interdiszipli-
näres Forschungsfeld, in dem sich Soziologen, Mediziner, Pflegewissenschaft ler, Public
Health-Experten, Geographen und Ökonomen im Wesentlichen vier Fragestellungen
widmen: Wie entstehen regionale Variationen in Gesundheit und Versorgung? Welches
Ausmaß haben diese Variationen? Welche regionalen Variationen in Gesundheit und
Versorgung sind nicht gewollt? Mit welchen Strategien kann man ungewollte regionale
Variationen reduzieren?
Warum dieses Forschungsfeld interessant ist und welche Erkenntnisse gewonnen werden
können, illustriert man am besten anhand eines Beispiels: Abbildung 1 zeigt die Verteilung
von Krankenhausaufenthalten infolge von Herzinsuffizienz, also einer verminderten Pump-
leistung des Herzens, bei Frauen im Jahr 2012 auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte.
Je dunkler die Schattierung eines Kreises desto höher ist der Anteil von Krankenhausfällen
an der Bevölkerung. Die niedrigsten Raten liegen unter 370 Krankenhausaufenthalte pro
100 000 Einwohner während die höchsten Werte über 551 Aufenthalte betragen. Unter-
schiede in der Altersverteilung zwischen den Kreisen wurden berücksichtigt. Der erste Blick
lässt erkennen, dass die Rate insbesondere im Osten Deutschlands relativ hoch ist. Doch

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_13, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
198 Leonie Sundmacher

welche Schlüsse lassen sich aus dieser Beobachtung ziehen? An dieser Stelle ist es sinnvoll,
dem Missverständnis vorzubeugen, dass das Ziel der regionalen Gesundheitsforschung die
Darstellung von Krankheitsraten oder Anbieterdichten in geografischen Karten ist – es
ist nur das Mittel zum Zweck. Die Darstellung von Krankheitsraten in einer Karte erlaubt
die Beurteilung des Ausmaßes der Variationen und die Identifikation von Clustern, aber
ohne Theorie kann keine Aussage darüber getroffen werden, wie Variationen entstehen
oder ob diese ungewollt sind oder nicht.

Abb. 1 Krankenhausaufenthalte bei Frauen infolge von Herzinsuffizienz


Quelle: eigene Darstellung auf Grundlage der Diagnosestatistik des Jahres 2012
13 Regionale Variationen in der Gesundheitsversorgung 199

Im Falle der Krankenhausaufenthalte infolge von Herzinsuffizienz wird geschätzt, dass


circa 60 Prozent dieser Hospitalisierungen bei rechtzeitiger und kontinuierlicher am-
bulanter Behandlung hätten vermieden werden können.1 Die übrigen 40 Prozent liegen
außerhalb des Einflussbereichs des ambulanten Sektors, können aber zu einem nicht exakt
bestimmbaren Anteil auf Unterschiede in sozioökonomischen Kontextfaktoren, Lebensstil
und Gesundheitsverhalten, lokale Krankenhausstrukturen und Präferenzen der Patienten
zurückgeführt werden (Sundmacher et al. 2015). Die Rate sogenannter ambulant-sensitiver
Krankenhausfälle wird also erhoben, um die regionale Qualität des ambulanten Sektors
einschätzen zu können und liefert in der dargestellten Karte erste Indizien dafür, dass
die kontinuierliche Versorgung von Patienten in einigen Regionen gestärkt werden sollte.
Eine weiterführende Analyse sollte die Bedeutung der Kontextfaktoren, die außerhalb des
Einflussbereichs des ambulanten Sektors liegen ermessen und die Pfade analysieren, auf
denen die Patienten ins Krankenhaus gelangt sind, um zu einer informierten Beurteilung
des Versorgungsgeschehens zu gelangen und dieses schließlich zu verbessern.
So vielfältig und interdisziplinär das Feld der regionalen Gesundheitsforschung ist, so
unterschiedlich sind die Ansätze und Blickwinkel auf die zentralen Forschungsfragen.
Verbindendes Element ist das Anliegen, mit gegebenen regionalen Ressourcen die best-
möglichen Gesundheitsergebnisse zu erzielen und sicherzustellen, dass der (medizinische)
Versorgungsbedarf der Patienten erfüllt wird. Abbildung 2 skizziert das Zusammenspiel
wesentlicher Determinanten von Gesundheit im Raum.

     

  
   

  





  
  

Abb. 2 Das Zusammenspiel wesentlicher Determinanten von Gesundheit im Raum
Quelle: eigene Darstellung

1 Sundmacher, L; Fischbach, D, Naumann, C, Augustin, U & Faisst, C: Which hospitalisations are ambu-
latory care-sensitive, to what degree, and how could the rates be reduced? Results of a group consensus
study with German providers. Health Policy, DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.healthpol.2015.08.007
200 Leonie Sundmacher

Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf der Analyse der Rolle von regionalen Variationen in
(medizinischer) Versorgung bei der Produktion von Gesundheit, welche – wie in Abbildung 2
illustriert – nicht ohne Berücksichtigung von Lebensstilen, Präferenzen, sozioökonomischen
und sozialen Faktoren betrachtet werden kann. Anschließend werden Forschungsergebnisse
zum direkten Einfluss von physischer Umgebung wie Erholungsflächen oder Umwelt und
räumlichen sozioökonomischen und sozialen Faktoren auf Gesundheit skizziert.

2 Regionale Variationen in der Versorgung

Von der medizinischen Versorgung vor Ort wird erwartet, dass sie im direkten und
kontinuierlichen Austausch mit der Forschung steht und ihren Patienten immer effekti-
vere Behandlungen bietet, die auf dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse
basieren. Diese Erwartungen sind verbunden mit der Vorstellung von der Medizin als
präzise Wissenschaft, die für den Großteil aller Behandlungssituationen eindeutige
Empfehlungen mit kalkulierbarem Risiko abgeben kann (Andersen & Mooney 1990).
Während das grundsätzliche Vertrauen in die Fortschritte medizinischer Forschung und
Versorgung in der Bevölkerung besteht, weicht das Image der Halbgötter in Weiß vermehrt
der realistischeren Einschätzung einer gut ausgebildeten, engagierten Ärzteschaft, die im
Berufsalltag zwischen mit Unsicherheit verbundenen Behandlungsalternativen wählen,
den Zusatznutzen medizinischer Innovationen kritisch einschätzen, den medizinischen
Forschungsstand neben der praktischen Arbeit aktiv verfolgen und kommerziellen Ein-
flüssen standhalten muss (siehe dazu auch die Beiträge von Richter & Hurrelmann sowie
Wilkesmann in diesem Band).
Die Hypothese der medizinischen Behandlungsstile (medical practice style hypothesis)
beruht auf der grundsätzlichen Beobachtung, dass Mediziner unterschiedlich entschei-
den. Je nach Ausbildung, Wissensstand, verfügbarer Evidenz, persönlichen Präferenzen,
Erfahrungen, kulturellen Prägungen und Möglichkeiten bevorzugen Ärzte bestimmte
Behandlungsalternativen gegenüber anderen und die unterschiedlichen Behandlungsstile
können zu regionalen Variationen in der medizinischen Versorgung führen. Diese The-
orie wurde in den 1930er Jahren von einem britischen Kinderarzt namens Alison Glover
begründet, der eine deutlich erhöhte regionale Rate der Entfernung von Gaumenmandeln
bei Kindern (Tonsillektomien) auf das Wirken eines einzigen Schularztes zurückführen
konnte. Als der Schularzt seinen Arbeitsplatz wechselte, sank die Rate der Entfernung von
Gaumenmandeln wieder auf ein durchschnittliches Niveau (Wennberg 2005). Die moderne
Analyse von kleinräumigen Daten mit dem Ziel Variationen in der Gesundheitsversorgung
zu beschreiben, zu erklären und gegebenenfalls zu reduzieren, wurde in den 70er Jahren
von John Wennberg und Alan Gittelsohn angestoßen (Wennberg & Gittelsohn 1973). Ge-
nerell lässt sich die Erforschung von Variationen in Behandlungen auf allen Ebenen vom
einzelnen Arzt bis zum Gesundheitssystem vollziehen. Der Vergleich kleiner räumlicher
Einheiten hat jedoch den Vorzug, dass die Anzahl der Behandlungen in Einzugsgebieten
von beispielsweise Krankenhäusern in Bezug zur Gesamtbevölkerung und zu potentiellen
13 Regionale Variationen in der Gesundheitsversorgung 201

sozialen und sozioökonomischen Kontextfaktoren gesetzt werden kann (McPherson 1990).


Eine Voraussetzung ist die umfassende Erhebung administrativer Daten zu ambulanten
Behandlungen und stationären Prozeduren, die sich möglichst bis zur Ebene der Post-
leitzahlen zuordnen lassen. Der verbesserte Zugang zu ebendiesen kleinräumigen Daten
und die Verbreitung von Geoinformationssystemen (GIS) hat in den letzten Jahren zu
einer deutlichen Zunahme der regionalen Versorgungsforschung nicht nur in den USA,
sondern auch in Australien, Kanada, Spanien, Großbritannien und Deutschland geführt.
Ein hohes Maß an Unsicherheit, welche Behandlung in einer spezifischen klinischen
Situation effektiv die Gesundheit von Patienten verbessert führt in der Regel zu unter-
schiedlichen Behandlungsstilen, die wiederum in regionalen Variationen in der Versorgung
erkennbar werden. Ausgehend von der Annahme, dass einige Behandlungsstile effektiver
sind als andere und Variationen in der Versorgung zu Ineffizienzen führen können, ist ein
Teil der regionalen Variationen also nicht erwünscht. Die Schwierigkeit liegt allerdings
darin, ungewollte von angemessenen Variationen in der Gesundheitsversorgung zu unter-
scheiden. Schang et al. weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Fokus von
Entscheidungsträgern bei der Betrachtung von Karten oft auf Regionen mit sehr hohen
oder niedrigen Werten liegt, da intuitiv der Durchschnitt als Maßstab für eine angemessene
Versorgung herangezogen wird (Schang et al. 2014). Wissenschaftliche Untersuchungen
können einen systematischen Zusammenhang zwischen hohen, durchschnittlichen und
niedrigen und nicht angemessenen Versorgungsniveaus jedoch nicht bestätigen (Chassin
et al. 1987).
Ein differenziertes Bild ergibt sich, wenn man drei Kategorien von Versorgung unter-
scheidet, deren Variationen unterschiedliche, theoriegeleitete Interpretationen zulassen:
Effektive Versorgung (effective care), angebotssensitive Versorgung (supply-sensitive care)
und präferenzsensitive Versorgung (preference sensitive care).

2.1 Effektive Versorgung

Effektive Versorgung bezeichnet all diejenigen Therapien, deren Nutzen die Risiken
deutlich überwiegen, so dass jeder Patient mit dem entsprechenden medizinischen Bedarf
diese Therapie erhalten sollte, sofern keine Kontraindikation vorliegt (Wennberg 2011).
Beispiele für effektive Versorgung sind Betablocker nach Herzinfarkten, Grippeimpfungen
für ältere Patienten und regelmäßige Augenuntersuchungen bei Diabetikern. Sind effektive
Behandlungsmethoden bekannt, so erlaubt die Analyse von regionalen Variationen, die
Verbreitung dieses medizinischen Wissens einzuschätzen (A Dartmouth Atlas Project
Topic Brief 2007a).
US-amerikanische Studien zu Beginn der 2000er Jahre haben gezeigt, dass regionale
Variationen von effektiven Behandlungsmethoden beachtlich sind. Während 86 Prozent
der Patienten in New Hampshire im Jahr 2000 innerhalb von 24 Stunden nach einem
Herzinfarkt Betablocker erhielten (sofern keine Kontraindikation vorlag) waren es nur
50 Prozent in Alabama (Jencks et al. 2003). McGlynn et al. dokumentierten den Grad der
Unterversorgung für ein breiteres Spektrum effektiver Behandlungen in 12 US-Metropo-
202 Leonie Sundmacher

len. Innerhalb einer Telefonbefragung erhoben sie Daten zu 439 Qualitätsindikatoren für
dreißig Krankheitsbilder und zeigten, dass weniger als 55 Prozent aller Erwachsenen die
empfohlene effektive Behandlung erhielten (McGlynn et al. 2003). Baicker und Chandra
untersuchten unter anderem, ob US-amerikanische Regionen mit hohen Gesundheits-
ausgaben eine effektivere Versorgung aufwiesen. Sie konnten zeigen, dass ein Anstieg der
Gesundheitsausgaben in den Jahren 1995 bis 1999 für Medicare zwar mit mehr Versorgung
zum Ende des Lebens eines Patienten korrelierte, aber mit weniger effektiven Behandlungen
assoziiert war (Baicker & Chandra 2004).
Die Messung der Raten effektiver Behandlungen auf Grundlage von Daten, die routine-
mäßig im Gesundheitswesen erhoben werden ist allerdings mit Ungenauigkeiten verbunden.
Zum einen ist der genaue Versorgungsbedarf der Patienten für effektive Behandlungen
schwer einzugrenzen (siehe zum Beispiel Schang & De Poli 2014). Zum anderen wird die
Behandlung der Krankheit in den Routinedaten oft nicht ausreichend detailliert erfasst.
Die Unterversorgung von Patientenpopulationen mit effektiven Behandlungen wird
größtenteils auf einen Mangel von Infrastruktur zurückgeführt, die die Verbreitung und
Einhaltung von medizinischen Leitlinien unterstützt (Wennberg 2005). In Deutschland
sollen seit 2002 strukturierte Behandlungsprogramme, sogenannte „Disease Management
Programme“, die leitliniengerechte Behandlung chronisch kranker Menschen in der Ge-
setzlichen Krankenversicherung verbessern.

2.2 Angebotssensitive Versorgung

Angebotssensitive Versorgung bezeichnet Leistungen, deren Häufigkeit von der Dichte


der lokalen Versorgungsstruktur abhängt. Beispiele hierfür sind Hausbesuche, ambulante
diagnostische Untersuchungen und Krankenhauseinweisungen (Wennberg 2011, “A Dart-
mouth Atlas Project Topic Brief” 2007c). Das Konzept der angebotssensitiven Versorgung
steht im Zusammenhang mit „Roemer‘s Law“ und der darauf beruhenden Theorie der
angebotsinduzierten Nachfrage. In den frühen 1960er Jahren beobachtete Milton Roemer,
dass einmal geschaffene Kapazitäten unabhängig vom tatsächlichen Versorgungsbedarf
Inanspruchnahme schaffen. Diese Beobachtung fasst er in dem Satz „A built [hospital] bed
is a filled bed“ zusammen, der eine Situation beschreibt, in der ein Krankenhausbett allein
aus dem Grund genutzt wird, da es Kapazität bietet. Je höher der relative Versorgungsgrad
in einer Region, desto wahrscheinlicher ist demnach angebotssensitive Versorgung.
Eine Erklärung dafür, warum Patienten Leistungen in Anspruch nehmen für die sie
keinen notwendigen medizinischen Bedarf haben, bietet die ökonomische Theorie der
angebotsinduzierten Nachfrage. Laut dieser Theorie stehen Patient und Arzt in einem
Prinzipal-Agenten-Verhältnis. Der Patient, der Prinzipal, beauftragt den Arzt, seinen Agen-
ten, eine medizinische Behandlung zu seinem besten Nutzen zu wählen, da dem Patienten
die Ausbildung und Informationen fehlen um eine Entscheidung zu treffen. Im perfekten
Prinzipal-Agenten Verhältnis deckt sich das Interesse des Arztes mit dem des Patienten
und der Patient kann – trotz sogenannter Informationsasymmetrie – Entscheidungen
vertrauensvoll an den Arzt delegieren. Im imperfekten Prinzipal-Agenten Verhältnis ver-
13 Regionale Variationen in der Gesundheitsversorgung 203

folgt der Arzt zumindest teilweise eigene, in der Regel betriebswirtschaftliche Interessen.
Die bestehende Informationsasymmetrie zwischen Arzt und Patient erlaubt es ihm dann,
Leistungen zu erbringen, die der voll informierte Patient nicht gewählt hätte. Bei zuneh-
mender Dichte des lokalen Versorgungsangebots steigt der Wettbewerbsdruck zwischen
den Versorgern und der Arzt kann sein Einkommen stabilisieren, indem er Nachfrage
induziert. Es wird geschätzt, dass angebotssensitive Versorgung einen großen, wenn auch
nicht exakt bestimmbaren Teil des Ressourcenverbrauchs in hochentwickelten Gesund-
heitssystemen ausmacht. Eine Umverteilung von Ressourcen, die für angebotssensitive
Versorgung aufgebracht werden hin zu Regionen mit nicht erfülltem Versorgungsbedarf
würde Effizienzgewinne bedeuten.

2.3 Präferenzsensitive Versorgung

Präferenzsensitive Versorgung bezeichnet eine Situation, in der mehr als eine medizinisch
akzeptierte Vorgehensweise möglich ist und das richtige Vorgehen von den Präferenzen
des Patienten abhängt. (Wennberg 2011). Als Beispiel nennt das Dartmouth Atlas Project
die Alternativen von Mastektomie (komplette Entfernung der Brust) und Lumpektomie
(lokale Entfernung des Tumors) bei der Behandlung früher Stadien von Brustkrebs. Die
Folgen von Mastektomie können neben dem Verlust der Brust, die Notwendigkeit einer
Prothese oder wiederherstellende chirurgische Eingriffe beinhalten. Die Folgen von Lum-
pektomie können Bestrahlung oder Chemotherapie und das Leben mit dem Risiko der
Rückkehr des Tumors sein (“A Dartmouth Atlas Project Topic Brief” 2007b). Klinische
Studien haben gezeigt, dass die Überlebensrate bei beiden Behandlungsoptionen relativ
ähnlich ist, so dass die Entscheidung für eine Option von der persönlichen Gewichtung
der Eigenschaften der jeweiligen Eingriffe durch den Patienten abhängen sollte. Sollten
die Behandlungsergebnisse entlang mehrerer Dimensionen unterschiedlich und nicht
eindeutig vergleichbar sein, so sähe das Konzept des „Shared Decision Making“ vor, dass
der Arzt den Patienten über die Vor- und Nachteile sowie Eigenschaften der alternativen
Behandlungsoptionen informiert und beide Seiten die Entscheidung über die Behandlung
gemeinsam treffen (Klemperer 2005). Starke regionale Variationen in den Raten präferenz-
sensitiver Versorgung sowohl in den USA als auch in Deutschland deuten jedoch darauf
hin, dass die Überzeugung des jeweiligen behandelnden Arztes einen bestimmenden
Einfluss auf die Wahl von Behandlungsalternativen hat und Präferenzen von Patienten
nicht ausreichend berücksichtigt werden.
Beispiele für präferenzsensitive Eingriffe, deren regionale Variationen für den deut-
schen Kontext dargestellt wurden, sind die Entfernung der Gebärmutter, die Entfernung
der Prostata und Erstimplantation eines Kniegelenkersatzes (Bertelsmann Stiftung 2015).
Operationen zur Entfernung der Gebärmutter variieren regional bis zu Faktor drei. Die
Operationshäufigkeit von Frauen, die in Städten leben ist eher durchschnittlich und
unterdurchschnittlich. Die regionalen Raten bei der Entfernung von Prostata variieren
bis zum Sechsfachen, doch ein klares regionales Muster lässt sich nicht erschließen. Eine
204 Leonie Sundmacher

deutliche Konzentration von Erstimplantationen des Kniegelenksersatzes lässt sich hin-


gegen in Bayern erkennen.

2.4 Versorgungssensitive Gesundheitsergebnisse

Neben effektiver, angebots- und präferenzsensitiver Versorgung, existieren in der Literatur


noch Konzepte, die auf die regionale Analyse versorgungssensitiver Gesundheitsergebnisse
abzielen. Die grundlegende Annahme ist, dass bei einem gewissen Stand medizinischer
Forschung erhöhte Raten bestimmter Morbidität oder Mortalitäten auf ein lokales Defizit in
der Versorgung hinweisen. Dem in der Einleitung eingeführtem Konzept ambulant-sensi-
tiver Krankenhausfälle liegt beispielsweise die Annahme zugrunde, dass Krankenhausfälle
infolge bestimmter Diagnosen durch effektives Management chronischer Erkrankungen,
effektive Akutbehandlungen oder Immunisierungen im ambulanten Sektor vermieden
werden können (Weissman et al. 1992). Die Bewertung, welche Krankenhausfälle ambu-
lant-sensitiv sind, variiert zum Teil zwischen den Gesundheitssystemen und ist abhängig
von der hiesigen Organisation ambulanter Versorgung, den bevölkerungsrelevanten
Krankheiten, der Ausbildung von Ärzten und anderen Versorgern, Unterschieden in
Normen und Praktiken der ärztlichen Versorgung sowie in der Diagnosekodierung und
dem technischen Fortschritt in der Medizin (Faisst & Sundmacher 2014). Länderspezifische
und von Versorgern konsentierte Listen ambulant-sensitiver Krankenhausfälle existieren
für die USA, Kanada, UK, Spanien, Australien, Neuseeland und Deutschland.
Das ähnliche Konzept der „vermeidbaren Sterbefälle“ beruht auf der Untersuchung
solcher Sterbefälle, die bei angemessener Prävention, Versorgung oder Therapie in einer
bestimmten Altersgruppe hätten verhindert werden können. Obwohl vor allem bei der
Auswahl der Diagnosen, die als medizinisch behandelbar gelten, konkurrierende Ansichten
herrschen, und die Raten stark durch sozioökonomische Faktoren beeinflusst werden, wird
das Konzept dennoch regelmäßig in der regionalen Gesundheitsberichterstattung eingesetzt.
Im deutschen Kontext findet man hohe Raten versorgungssensitiver Gesundheitsergeb-
nisse insbesondere in den neuen Ländern und in ländlichen Räumen (Sundmacher 2013).

3 Regionale Variationen in Gesundheit:


Der Einfluss weiterer räumlicher Faktoren

Es existiert eine Vielzahl empirischer Studien, die räumliche Faktoren wie Parkanlagen,
Kriminalität, Lichteinflüsse in der Großstadt etc. auf Gesundheit beziehen, aber kaum eine
dieser Studien nennt explizit ihre Annahmen, warum dieser oder jene räumliche Faktor
(jenseits des Einflusses der Faktoren auf der individuellen Ebene) einen kausalen Einfluss
auf Gesundheit haben sollte. Dieser Mangel an theoriegeleiteter Forschung wird durch die
Möglichkeit ökologischer Fehlschlüsse, also falscher Rückschlüsse von Aggregatdaten auf
Individualdaten bei der Interpretation von Regressionsergebnissen, verschärft. Aus einer
13 Regionale Variationen in der Gesundheitsversorgung 205

Vogelperspektive auf die Literatur kann man räumliche Faktoren, die für die Produktion
von Gesundheit relevant sind, in die drei Domänen „physische Umgebung“, „sozioöko-
nomische Bedingungen“ und „soziale Faktoren“ einteilen.
Gesundheitsrelevante Beispiele für die physische Umgebung sind Parks und Grünflächen,
von denen angenommen wird, dass sie Spaziergänge, Sport und Wohlbefinden fördern
und somit die Gesundheit verbessern. Eine wachsende Anzahl von Studien beschäftigt
sich zudem mit dem Einfluss verschiedener Merkmale von Parks und Grünflächen, wie
Zugang, Größe und Gestaltung auf körperliche Bewegung. Kooshari et al. kritisieren
allerdings, dass eine Schwierigkeit bei der Erforschung des Zusammenhangs zwischen
Erholungsflächen und Gesundheit darin liegt, dass die meist als Querschnitt entworfenen
Korrelationsanalysen nicht den Rückschluss zulassen, ob besonders aktive Menschen gerne
in die Nähe von Erholungsflächen ziehen oder diese einen kausalen Einfluss auf körperliche
Aktivität haben. Langfristig angelegte longitudinale Studien könnten die Richtung des
Zusammenhangs feststellen (Koohsari et al. 2015). Zu der physischen Umgebung gehören
weiterhin Umweltbedingungen, Stadtplanung, öffentliche Infrastruktur und Erreichbarkeit
von Ressourcen, die zur Produktion von Gesundheit relevant sind.
Der Einfluss räumlicher sozioökonomischer Faktoren wurde u. a. von Warr et al. un-
tersucht, die zeigen, dass zusätzlich zu sozioökonomischen Charakteristika auf der Ebene
des Individuums oder Haushalts, kleinräumige Faktoren, wie Armut und Arbeitslosigkeit
erheblichen Einfluss auf Gesundheit haben. Sie vermuten, dass diese Faktoren psychoso-
ziale Reaktionen wie Stress, Ängstlichkeit und Depression auslösen, die wiederum eine
Verschlechterung des Gesundheitszustand bedingen (Warr et al. 2007).
Der Einfluss nachbarschaftlichen Sozialkapitals auf Gesundheit ist ein Bereich der
sich nicht gänzlich der regionalen Gesundheitsforschung zuordnen lässt, aber einige der
von Sozialkapitalforschern oft operationalisierten Faktoren wie Kriminalität und Ver-
einsmitgliedschaften sind georeferenziert. Verschiedene Studien konzentrieren sich in
ihrer Forschung beispielsweise auf räumliche soziale Faktoren wie Kriminalität und Angst
vor Kriminalität und systematisieren kausale Pfade, die psychischen Stress auslösen und
Krankheit verursachen können.
Der Lebensstil wird in der räumlichen Gesundheitsforschung in der Regel als das
Ergebnis von physischen sowie räumlichen sozioökonomischen und sozialen Faktoren
behandelt und wird als kausaler Mechanismus im Zusammenhang zwischen den Faktoren
und Gesundheit betrachtet. Ein interessantes Beispiel dafür, dass soziale Beziehungen, die
den Lebensstil beeinflussen, jedoch nicht unbedingt auf räumliche Nähe angewiesen sind
lieferte eine Studie, die im Jahr 2007 im New England Journal of Medicine veröffentlicht
wurde: Wenn ein enger Freund in der Studie adipös wurde, so stieg die Wahrscheinlichkeit,
dass der andere Studienteilnehmer selbst krankhaft übergewichtig wurde um 57 Prozent
– und zwar unabhängig von der räumlichen Distanz zwischen den Freunden.
206 Leonie Sundmacher

4 Schlussfolgerung

Regionale Variationen in der Gesundheitsversorgung sind der Schwerpunkt dieses Beitrags.


Ausgehend von der Hypothese medizinischer Behandlungsstile ist das Ausmaß regionaler
Variationen ein Hinweis auf die Unsicherheit in der medizinischen Behandlungsentschei-
dung. In dem vorliegenden Beitrag wurden drei Kategorien von Versorgung unterschieden,
deren regionale Variationen unterschiedliche Interpretationen zulassen. Effektive Versor-
gung bezeichnet diejenigen Therapien, deren Nutzen die Risiken deutlich überwiegen, so
dass jeder Patient mit dem entsprechenden medizinischen Bedarf diese Therapie erhalten
sollte, sofern keine Kontraindikation vorliegt. Zu angebotssensitiver Versorgung gehören
Leistungen, von denen angenommen wird, dass sie unabhängig vom tatsächlichen Versor-
gungsbedarf mit der regionalen Dichte der Anbieter (Ärzte, Krankenhäuser) korrelieren
und somit Potential für eine effizientere Ressourcenallokation bieten. Präferenzsensitive
Versorgung verlangt den aktiven Einbezug der Patienten in die Behandlungsentscheidung.
Betrachtet man versorgungssensitive Indikatoren, so wechselt man zwar die Perspektive
und nimmt Gesundheitsergebnisse ins Augenmerk, doch das Ziel die lokale Versorgung zu
beurteilen, bleibt bestehen. Diesen Indikatoren liegt nämlich die Annahme zugrunde, dass
bei einem gewissen Stand medizinischer Forschung erhöhte Raten bestimmter Morbidität
oder Mortalitäten auf ein lokales Defizit in der Versorgung hinweisen. Der Einfluss von
physischen Bedingungen und räumlichen sozioökonomischen und sozialen Faktoren auf
Gesundheit wurde in dem Beitrag nur einführend besprochen.
Die Forschung zu regionalen Variationen in der Gesundheitsversorgung und Gesundheit
ist eine wichtige Informationsquelle für die Beurteilung lokaler gesundheitspolitischer
Reformen. Ein interessantes Anwendungsfeld der regionalen Versorgungsforschung ist
beispielsweise die 2012 reformierte ambulante Bedarfsplanung, die den Selbstverwaltungs-
gremien im deutschen Gesundheitswesen Instrumente zur Regulierung der Niederlas-
sungen von Vertragsärzten in die Hand gibt. Regionale Versorgungsforschung kann den
Entscheidungsträgern systematische Informationen über Ressourcen und Versorgung
auf der Ebene kleiner Raumeinheiten zur Verfügung stellen (Ozegowski & Sundmacher
2012, Sundmacher & Ozegowski 2015). Für die noch junge Disziplin in Deutschland ist
es vor diesem Hintergrund allerdings wichtig, dass der theoriegeleiteten Dokumentation
von regionalen Variationen nachvollziehbare Interpretationen und wohlfundierte Hand-
lungsempfehlungen folgen.
13 Regionale Variationen in der Gesundheitsversorgung 207

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Die Hypothese medizinischer Behandlungsstile besagt, dass Mediziner je nach Aus-
bildung, Wissensstand, verfügbarer Evidenz, persönlichen Präferenzen, Erfahrungen,
kulturellen Prägungen und Möglichkeiten bestimmte Behandlungsalternativen
gegenüber anderen vorziehen.
▶ Zu angebotssensitiver Versorgung gehören Leistungen, von denen angenommen
wird, dass sie unabhängig vom tatsächlichen Versorgungsbedarf mit der regionalen
Dichte der Anbieter (Ärzte, Krankenhäuser) steigen.
▶ Präferenzsensitive Versorgung verlangt den aktiven Einbezug der Patienten in die
Behandlungsentscheidung.
▶ Versorgungssensitiven Gesundheitsergebnissen liegt die Annahme zugrunde, dass
bei einem gewissen Stand medizinischer Forschung erhöhte Raten bestimmter
Morbidität oder Mortalitäten auf ein lokales Defizit in der Versorgung hinweisen.
▶ Es existiert eine Vielzahl empirischer Studien, die räumliche Faktoren wie Parkanla-
gen, Kriminalität, Lichteinflüsse in der Großstadt etc. auf Gesundheit beziehen, aber
nur wenige dieser Studien nennen explizit ihre Annahmen, warum dieser oder jene
räumliche Faktor (jenseits des Einflusses der Faktoren auf der individuellen Ebene)
einen kausalen Einfluss auf Gesundheit haben sollte.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Auf einer Deutschlandkarte ist die Verteilung der Anteile von Patienten dargestellt,
die nach einem Herzinfarkt innerhalb von 24 Stunden Betablocker erhalten. Die
Raten variieren zwischen 30 und 80 Prozent. Sind diese Variationen angemessen?
▶ Angebotssensitive Versorgung beschreibt Leistungen, von denen angenommen wird,
dass sie unabhängig vom tatsächlichen Versorgungsbedarf der Patienten mit der regi-
onalen Dichte der Anbieter (Ärzte, Krankenhäuser) steigen. Warum sollten Patienten
Leistungen in Anspruch nehmen für die keine medizinische Notwendigkeit besteht?
▶ Diskutieren Sie mögliche Mechanismen, die dazu führen können, dass hohe Ar-
beitslosigkeit in der Nachbarschaft, unabhängig von der eigenen Situation, einen
Einfluss auf Gesundheit hat.
208 Leonie Sundmacher

Leseempfehlungen

t Andersen, T.F. & G. Mooney (Hrsg.), 1990: The challenges of medical practice variations,
London: The Macmillan Press Ltd.
Lehrbücher zur Analyse von regionalen Variationen in Gesundheitsversorgung gibt es
kaum. Dies ist ein sorgfältig kompiliertes Werk aus den 90er Jahren, das die Herausfor-
derungen von regionalen Variationen in Behandlungsstilen einführend unter die Lupe
nimmt. Sollte weiterführendes Interesse bestehen, so empfiehlt sich die Lektüre der in der
Literaturliste aufgeführten Artikel aus Fachzeitschriften.

t Skinner, J., 2011: Chapter two – causes and consequences of regional variations in health
care. Handbook of Health Economics: 45–93.
Ein ausführlicher und aktueller Beitrag zur ökonomischen Analyse von regionalen Va-
riationen in Gesundheit.

t Gatrell, A.C. & S.J. Elliott, 2009: Geographies of health – An introduction 2nd ed.,
Oxford: Blackwell Publishing.
Eine Einführung in die Gesundheitsgeographie, die den Einfluss räumlicher Bedingungen
auf Gesundheit differenziert bespricht.

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dartmouthatlas.org/downloads/reports/supply_sensitive.pdf.
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13 Regionale Variationen in der Gesundheitsversorgung 209

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Wennberg, J.E., 2011: Time to tackle unwarranted variations in practice. BMJ (Clinical research
ed.) 342: 1513.
Einflussfaktoren von Gesundheitssystemen auf
Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit 14
Claus Wendt
14 Einflussfaktoren von Gesundheitssystemen

Überblick
▶ Was sind makrostrukturelle Faktoren im Kontext von Krankheit und Gesundheit?
▶ Welchen Einfluss haben makrostrukturelle Faktoren auf Gesundheit und gesund-
heitliche Ungleichheit?
▶ Bei welchen Gesundheitssystemstrukturen ist ein Einfluss auf Gesundheit und
gesundheitliche Ungleichheit zu erwarten?
▶ Inwieweit unterscheiden sich Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich?

1 Einleitung

Forschung zum Gesundheitssystem einerseits und zu Gesundheit und gesundheitlicher


Ungleichheit andererseits fand über viele Jahre hinweg in strikt voneinander getrennten
Sphären statt. Während Einflüsse von Arbeit und Beruf auf die Gesundheit ebenso wie der
sozioökonomische Status und Verhaltensweisen wie sportliche Aktivität, Ernährung und
Tabak- und Alkoholkonsum gut erforscht sind (siehe dazu die Beiträge von Lampert und
Dragano in diesem Band sowie Richter & Hurrelmann 2009, Siegrist & Marmot 2006),
wissen wir nach wie vor nur wenig über den Einfluss von Makrostrukturen auf Krankheit
und Gesundheit.
Erst in jüngerer Zeit wurden Anstrengungen intensiviert, um den Einfluss von Ge-
sundheitssystemen und weiterer Makrostrukturen auf Gesundheit und gesundheitliche
Ungleichheit besser erfassen zu können. Dennoch liegen nur wenige Arbeiten vor, die sich
mit dieser Thematik befassen (Beckfield & Krieger 2009). In diesem Beitrag sollen zunächst
Makrofaktoren vorgestellt werden, bei denen ein Einfluss auf Gesundheit angenommen
werden kann. Zweitens werden Ergebnisse von Studien vorgestellt, die Makro- und Mi-
kroanalysen auf diesem Gebiet verbinden. Drittens wird der Fokus auf Strukturen des
Gesundheitssystems gelegt, bei denen ein Einfluss auf Gesundheit und gesundheitliche

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
212 Claus Wendt

Ungleichheit angenommen werden kann, und es werden Unterschiede zwischen Gesund-


heitssystemen im internationalen Vergleich vorgestellt.
In diesem Beitrag können nicht alle Makrostrukturen diskutiert werden, die einen
Einfluss auf Krankheit und Gesundheit haben. Hier könnte man mit guten Gründen mit
Maßnahmen beginnen, die teilweise unter dem Begriff „Old Public Health“ summiert
werden und z. B. Wasserver- und -entsorgung und verbesserte Wohnbedingungen umfas-
sen. Hinzu kommen Verkehrsinfrastruktur und Verkehrssicherheit, Umweltbelastungen
und viele weitere Rahmenbedingungen, die entweder direkt Gesundheit und Krankheit
beeinflussen oder Situationen begünstigen, die wie vor allem Kriege, Krisen und Katastro-
phen einen enormen Einfluss auf die Gesundheit vieler Menschen haben können. All diese
möglichen Faktoren in einem Text zu diskutieren kann nicht gelingen. Entsprechend trifft
dieser Beitrag nur eine Auswahl an möglichen Einflussfaktoren und konzentriert sich auf
solche Strukturen, die wie politische Strukturen und die Gesundheitspolitik einen Einfluss
auf das Gesundheitssystem haben und vor allem auf Strukturen des Wohlfahrtsstaates
und des Gesundheitssystems.

2 Makrostrukturen und Gesundheit

Der Einfluss von Makrostrukturen auf Gesundheit kann in Anlehnung an Wendt und
Kohl (2010) folgendermaßen dargestellt werden:

  
   
   
 

         




   

Abb. 1 Einfluss von Makrostrukturen auf den Gesundheitsversorgungsprozess


Quelle: Eigene Darstellung

Makrostrukturelle Faktoren wie die wirtschaft liche Situation und politische und gesell-
schaft liche Institutionen wirken sich auf Gesundheitsausgaben, Gesundheitspersonal,
Gesundheitsversorgung und Prävention und auf den Aufbau von Gesundheitssystemen
insgesamt aus (siehe zur Versorgungsgestaltung und -entwicklung Pfaff & Pförtner in diesem
Band). Vor allem an den Schnittstellen dieser Bereiche, also wie Gesundheitsausgaben in
Gesundheitspersonal und Gesundheitspersonal in Gesundheitsleistungen „transferiert“
14 Einflussfaktoren von Gesundheitssystemen 213

werden, haben unterschiedliche strukturelle Bedingungen einen weitreichenden Einfluss.


So lange Gesundheitssysteme auf Expansionskurs waren, als also vor allem in den 1960er
und den frühen 1970er Jahren die Infrastruktur der Gesundheitsversorgung ausgebaut
wurde, um gesundheitliche Probleme und Defizite in der Gesundheitsversorgung zu redu-
zieren, ist kaum ein Einfluss unterschiedlicher politischer Ausrichtungen, des jeweiligen
Gesundheitssystemtyps oder der Höhe der öffentlichen Finanzierung auf die Höhe und
den Anstieg der Gesundheitsausgaben zu erkennen. Erst als seit etwa Mitte der 1970er
Jahre Kostendämpfungsbemühungen zunehmend die Gesundheitspolitik bestimmten,
wurden gesundheitssystem- und länderspezifische Unterschiede deutlich.
Im Vergleich der OECD-Länder (Organization of Economic Cooperation and Develop-
ment) zeigt sich heute: Je höher der Anteil der öffentlichen Finanzierung, desto erfolgreicher
konnten die Gesamtausgaben für Gesundheit unter Kontrolle gehalten werden (Wendt &
Kohl 2010). Besonders steil verlief der Ausgabenanstieg in dem nach wie vor weitgehend
durch einen privaten Krankenversicherungsmarkt dominierten US-amerikanischen Sys-
tem. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt in den
USA heute bei etwa 17 %. Deutlich besser ist die Stabilisierung der Gesundheitsausgaben
in staatlichen Gesundheitssystemen wie dem britischen National Health Service (NHS)
gelungen. Bis Anfang der 2000er stiegen die Gesundheitsausgaben nicht über 7 % des
BIP und wurden – mit dem politischen Ziel, dass die Gesundheitsausgaben dem Durch-
schnitt der OECD-Länder angepasst werden sollten – bis 2012 auf 8,9 % abgehoben. In
Gesundheitssystemen mit einer Gesetzlichen Krankenversicherung sind es wiederum
häufig korporative Akteure, die innerhalb des gesetzlichen Rahmens das für die Gesund-
heitsversorgung vorgesehene Gesamtbudget aushandeln. Vor allem in den 1980er Jahren
war in Deutschland dieser Mechanismus der Kostenkontrolle vergleichsweise erfolgreich
(OECD Health Statistics 2014).
Vergleichende Gesundheitssystemanalysen können danach unterschieden werden, ob
der Fokus vor allem auf politischen Institutionen, Gesundheitspolitik und Akteurskon-
stellationen und ihren Folgen für Strukturen des Gesundheitssystems ausgerichtet ist
oder ob der Fokus auf institutionellen Arrangements des Gesundheitssystems bzw. des
Wohlfahrtsstaates und den damit verbundenen Konsequenzen für Gesundheitsversorgung,
Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit liegt (Marmor & Wendt 2012, siehe dazu
auch Pfaff & Pförtner in diesem Band). Besonders einflussreiche vergleichende Studien
haben sich lange Zeit vorzugsweise mit politischen Institutionen und Akteurskonstellati-
onen befasst. Immergut (1992, 2011) hat beispielsweise gezeigt, dass die Machtressourcen
organisierter Interessen alleine nicht ausreichen, um Gesundheitsreformen blockieren zu
können, sondern dass es dabei immer auf die durch politische Institutionen vorgegebe-
nen Vetooptionen ankommt (siehe auch Marmor & Wendt 2011, Steinmo & Watts 2011).
Der Einfluss von Akteuren im Gesundheitssystem und in der Gesundheitspolitik wurde
besonders systematisch im Rahmen des Bremer Sonderforschungsbereichs „Staatlichkeit
im Wandel“ untersucht. Im Mittelpunkt steht in einem der Teilprojekte die Frage nach
dem Wandel der Rolle des Staates und weiterer Akteure im Gesundheitssystem. Es wird
deutlich, dass nach wie vor staatlich dominierte Gesundheitssysteme (z. B. Großbritanni-
214 Claus Wendt

en, Dänemark, Schweden), Gesundheitssysteme, in denen korporative Akteure staatliche


Funktionen übernehmen (z. B. Deutschland, Frankreich, Österreich) und Gesundheits-
systeme mit privaten Akteuren und Wettbewerbsstrukturen (z. B. USA) klar voneinander
abgegrenzt werden können. Seit Anfang der 1990er Jahre hat allerdings eine Annäherung
stattgefunden und in staatlichen Gesundheitssystemen wurde der Wettbewerb ausgewei-
tet, in Deutschland wurde der Handlungsspielraum korporativer Akteure sowohl durch
staatliche Vorgaben als auch durch eine Stärkung des Wettbewerbs eingeengt und in
dem US-amerikanischen Gesundheitssystem stieg der Einfluss staatlicher Regulierung,
während der Anteil der privaten Finanzierung sank (Rothgang et al. 2010). Insgesamt ist
zu konstatieren, dass diese Form von Gesundheitssystemvergleichen geeignet ist, um den
Einfluss von Akteuren für die Herausbildung unterschiedlicher Strukturen im Gesund-
heitssystem zu erklären. Direkte Bezüge zu Gesundheit und gesundheitlicher Ungleichheit
können jedoch nicht hergestellt werden.
Ein Einfluss auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit kann demgegenüber in
Bezug auf unterschiedliche Strukturen von Wohlfahrtsstaaten, Gesundheitssystemen und
weitere gesundheitsbezogene Leistungen wie z. B. Public Health-Maßnahmen angekommen
werden. Ausgebaute Wohlfahrtsstaaten führen zu einem höheren Wohlstandsniveau und
reduzieren Ungleichheiten in den jeweiligen Gesellschaften und tragen dadurch zu einer
Verbesserung der Gesundheit und einer Reduzierung der gesundheitlichen Ungleichheit
bei (Eikemo et al. 2008). Auch wenn die Ergebnisse international vergleichender Studien
nach wie vor widersprüchlich sind, scheint eine Stärkung der Bildungschancen, Schutz
vor Armut, Förderung von Familien mit Kindern, eine finanzielle Absicherung bei Ar-
beitslosigkeit und im Alter wichtige gesundheitliche Risiken zu reduzieren, ohne direkt
auf eine Förderung der Gesundheit ausgerichtet zu sein. Aufgrund der starken Effekte auf
Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit, die bei Bildung, Einkommen und Beruf
nachgewiesen wurden (siehe Lampert in diesem Band), sollten nicht nur der Einfluss des
Wohlfahrtsstaates insgesamt (Bambra et al. 2014, Eikemo et al. 2008, Rathmann et al.
2015, Richter et al. 2015), sondern auch die Bedeutung von Bildungssystemen und spezi-
fischer sozialpolitischer Maßnahmen für Familien, bei Arbeitslosigkeit und im Alter für
Gesundheit genauer analysiert werden.
Gesundheitssysteme sind anders als andere soziale Sicherungssysteme explizit mit dem
Ziel entwickelt worden, einen Schutz im Krankheitsfall zu institutionalisieren. Weder eine
Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung noch eine Reduzierung der gesundheitlichen
Ungleichheit stand beim Aufbau von Gesundheitssystemen im Zentrum der Bemühungen.
Ein frühzeitiger Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung kombiniert mit
Behandlungsmethoden, medizinischen Geräten und Arzneimitteln auf einem möglichst
aktuellen Stand des wissenschaftlichen Fortschritts sowie Gesundheitsförderung und
Prävention stellen allerdings nicht nur einen individuellen Schutz dar, sondern sollten
auch die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt verbessern (Beckfield et al. 2013). Einen
ähnlichen „Nebeneffekt“ hat auch das in fast allen entwickelten Gesundheitssystemen
geltende Grundprinzip, dass die medizinische Hilfe an den gesundheitlichen Bedürfnissen
und nicht an den finanziellen Möglichkeiten auszurichten sei. Ein auf gesundheitliche
14 Einflussfaktoren von Gesundheitssystemen 215

Bedürfnisse ausgerichteter effektiver individueller Schutz im Krankheitsfall sollte auch zu


mehr Gleichheit der Gesundheitschancen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen beitragen.
Ein systematischer Nachweis dieses Zusammenhangs ist bisher nicht erbracht worden.
In einem Review-Artikel über Einflussfaktoren auf gesundheitliche Ungleichheit konnten
Beckfield & Krieger (2009) für die Zeit zwischen 1992 und 2008 nur neun Artikel identifi-
zieren, die den Einfluss des Gesundheitssystems analysieren, darunter nur einen einzigen
international vergleichenden Beitrag. Auf diesem Gebiet besteht somit ein erheblicher
Forschungsbedarf. Ein Analysemodell, das den Einfluss von Makrostrukturen bzw. von
institutionellen Bedingungen auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit adäquat
erfassen soll, müsste sowohl auf Public Health-Maßnahmen als auch auf Bereiche des
Gesundheitssystems ausgerichtet sein, bei denen ein möglichst enger Bezug zu Gesundheit
und gesundheitlicher Ungleichheit besteht, wie z. B. Umfang und Struktur der ambulanten
und stationären Versorgung, Prävention, Zugangsbarrieren zur Gesundheitsversorgung
und Kontinuität der Versorgung. Darüber hinaus wären die Arbeitsbedingungen, die
Absicherung bei Arbeitslosigkeit, im Alter und Unterstützungsleistungen für Familien in
die Analyse einzubeziehen (Beckfield et al. 2015).

3 Der Einfluss von Makrostrukturen auf Gesundheit und


gesundheitliche Ungleichheit: Ein Überblick über den
Forschungsstand

Ein innovatives Konzept zur Analyse relevanter Einflussfaktoren auf Gesundheit und gesund-
heitlicher Ungleichheit wurde von Nolte und McKee (2008, 2011) in die wissenschaftliche
Diskussion eingebracht. Dieses Konzept bezieht sich auf die „vermeidbare Sterblichkeit“,
also auf Todesfälle, die bei einer rechtzeitigen und effektiven Gesundheitsversorgung nicht
eintreten sollten. Für 2002/03 schätzen sie die „vermeidbare Sterblichkeit“ bei Männern
auf 23 % und bei Frauen auf 32 %. Dabei machen Nolte und McKee (2008, 2011) erhebliche
länderspezifische Unterschiede aus. Diese „Lücke der vermeidbaren Sterblichkeit“ habe sich
weiter vergrößert, da einige Länder die Sterblichkeit bei ischämischen Herzerkrankungen
um mehr als 20 % reduzieren konnten, während die Sterblichkeit in anderen Ländern
konstant blieb. Mackenbach et al. (2008) kommen in einem 22-Ländervergleich zu dem
Schluss, dass die gemessenen Unterschiede im Gesundheitszustand und in der Sterblichkeit
in erheblichem Ausmaß von Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung
abhängen. Weder Nolte und McKee (2008) noch Mackenbach et al. (2008) haben allerdings
in ihren vergleichenden Studien den Einfluss unterschiedlicher Gesundheitssysteme auf
Gesundheit und Ungleichheit direkt gemessen.
In den Fällen, in denen makrostrukturelle Faktoren direkt in die Analyse einbezogen
wurden, lag der Fokus in der Regel auf dem Einfluss von Wohlfahrtsstaaten und nicht
von Gesundheitssystemen. Conley & Springer (2001) kamen zu dem Schluss, dass vor
allem der „konservative Wohlfahrtsstaat“ und weniger der „sozialdemokratische“ oder
der „liberale“ Typ zu einer Reduzierung der Kindersterblichkeit beiträgt. Darüber hinaus
216 Claus Wendt

weisen die Autoren auf den Zusammenhang zwischen Gesundheitsausgaben und einer
Reduzierung der Kindersterblichkeit hin (siehe hierzu auch Reibling 2013). Da ausgebaute
Wohlfahrtsstaaten zu einer geringeren sozialen Ungleichheit führen, wurde angenommen,
dass über diesen Mechanismus auch die gesundheitliche Ungleichheit geringer werde.
Entsprechend bestand die Erwartung, dass die gesundheitliche Ungleichheit in sozialde-
mokratischen Wohlfahrtsstaaten besonders niedrig sei. Ein solcher Zusammenhang konnte
bisher jedoch nicht systematisch nachgewiesen werden (Mackenbach et al. 2008). Bambra
et al. (2014) konnten allerdings zeigen, dass die gesundheitliche Ungleichheit zwischen
arbeitslosen und erwerbstätigen Personen im „liberalen Wohlfahrtsstaat“ am stärksten
ausgeprägt ist. Eikemo et al. (2008) wiederum verweisen auf erste Anhaltspunkte dafür,
dass gesundheitliche Ungleichheit (gemessen über Selbsteinschätzungen der Gesundheit) in
Skandinavien besonders gering ist. Die Autoren finden allerdings in den angelsächsischen
Wohlfahrtsstaaten ähnliche Vorteile und nehmen an, dass der Grund hierfür nicht das
Wohlfahrtsstaats-Modell ist, sondern dass eine Erklärung darin zu sehen sei, dass die in
die Analyse einbezogenen skandinavischen und angelsächsischen Wohlfahrtsstaaten über
nationale Gesundheitssysteme verfügen würden.
Erste vergleichende Studien, die explizit das Gesundheitssystem als erklärende Variable
verwenden, haben wiederum Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit nicht direkt in
den Fokus genommen, sondern den Zugang zur Gesundheitsversorgung, die Inanspruch-
nahme medizinischer Leistungen oder die Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem. Dabei
wird nicht der Einfluss des allgemeinen Gesundheitssystemtyps analysiert, sondern es werden
spezifische institutionelle Regelungen in den Blick genommen. Reibling und Wendt (2011)
zeigen beispielsweise, dass Ungleichheiten zwischen Bildungsgruppen beim Zugang zur
fachärztlichen Versorgung umso geringer sind, je stärker der Zugang zum Arzt reguliert
ist. In mehreren Untersuchungen wurde außerdem gezeigt, dass in Bezug auf Gesundheit
und Gesundheitsversorgung die Solidarität innerhalb der Bevölkerung nach wie vor stark
ausgeprägt ist und auch die Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem auf einem hohen
Niveau ist (Gelissen 2002). Makrostrukturelle Faktoren, die für eine hohe Zufriedenheit
verantwortlich sind, sind das Niveau der öffentlichen Gesundheitsausgaben, die Dichte
an Gesundheitspersonal in der ambulanten Versorgung und vor allem die Erreichbarkeit
des Hausarztes, während zwischen der freien Arztwahl und der Zufriedenheit mit dem
Gesundheitssystem kein Zusammenhang besteht (Wendt et al. 2010, 2011).

4 Institutionelle Unterschiede von Gesundheitssystemen

Erste Studien verweisen auf einen Zusammenhang zwischen der institutionellen Ausgestal-
tung von Gesundheitssystemen und der Gesundheit und der gesundheitlichen Ungleichheit
in dem jeweiligen Land (Eikemo et al. 2008, Mackenbach et al. 2008, Nolte & McKee 2008).
Beckfield et al. (2015) haben ein theoretisches Konzept in die wissenschaftliche Diskussion
eingebracht, das zukünftig für eine systematische Analyse der institutionellen Effekte
auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit verwendet werden kann. Da systema-
14 Einflussfaktoren von Gesundheitssystemen 217

tisch-vergleichende Studien bisher weitgehend fehlen (Beckfield & Krieger 2009, Beckfield
et al. 2013), kann der folgende Überblick nur als ein erster Versuch gelesen werden, die
möglichen institutionellen Einflussfaktoren von Gesundheitssystemen zu erfassen. Die
Basis für diese Übersicht bilden Typologien, in denen grundlegende institutionelle Unter-
schiede von Gesundheitssystemen herausgearbeitet wurden, Studien zur Zufriedenheit der
Bevölkerung mit unterschiedlich institutionalisierten Gesundheitssystemen sowie zu den
Auswirkungen unterschiedlicher institutioneller Regelungen auf die Inanspruchnahme
von Gesundheitsleistungen.
Einen ersten wichtigen Einflussfaktor bilden die Gesundheitsausgaben, also die Res-
sourcen, die in einem Land in die Gesundheit der Bevölkerung investiert werden. In in-
ternational vergleichenden Studien werden in der Regel die Gesundheitsdaten der OECD
verwendet, die allerdings nur die Gesundheitsausgaben im engeren Sinne und nicht bspw.
Ausgaben für Public Health-Maßnahmen enthalten (OECD Health Statistics 2014). Zur
Analyse von Faktoren mit einem Einfluss auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit
sind Gesundheitsausgaben gemessen in US$ bzw. Euro pro Einwohner der geeignetere
Indikator, da dadurch gemessen wird, welcher Betrag im Durchschnitt in die Gesundheits-
versorgung der Bevölkerung investiert wird, während Gesundheitsausgaben gemessen als
Anteil des BIP vor allem zeigen, welcher Stellenwert der Gesundheitsversorgung in einem
Land zugebilligt wird (Wendt 2009). Zwei weitere zu berücksichtigende Indikatoren sind
der öffentliche Finanzierungsanteil und die privaten Selbst- und Zuzahlungen, also das
Ausmaß an Ressourcen, das bei einer Behandlung direkt durch den Patienten zu erbringen
ist. Beide Faktoren verweisen auf das Ausmaß an Solidarität in einer Gesellschaft bei der
Finanzierung und auf mögliche Zugangsbarrieren beim Zugang zu notwendigen Gesund-
heitsleistungen (Hacker 2004, Wendt 2009, Reibling 2010).
Finanzielle Ressourcen werden nicht direkt in Gesundheitspersonal „übersetzt“, sondern
Umfang und Struktur des Gesundheitspersonals, die mit den zur Verfügung stehenden
Ressourcen finanziert werden, hängen immer von den institutionellen Bedingungen und
Akteurskonstellationen ab. Während in Deutschland mit überdurchschnittlich hohen Ge-
sundheitsausgaben eine überdurchschnittlich hohe Personaldichte finanziert wird und in
Großbritannien umgekehrt niedrige Ausgaben mit einer geringen Dichte an Gesundheits-
personal einhergehen, sind die Gesundheitsausgaben in den USA weit überdurchschnittlich
hoch, während die Personaldichte unter dem Durchschnitt der 25 in die entsprechende
Analyse einbezogenen OECD-Ländern liegt (Wendt & Kohl 2010). Gesundheitssysteme
können einen stärkeren Fokus auf stationäre oder aber auf ambulante Versorgung richten
und insofern sollten Leistungsindikatoren aus beiden Sektoren des Gesundheitssystems
hinzugezogen werden. In entsprechenden vergleichenden Studien werden die Anzahl an
Allgemein- und Fachärzten und -ärztinnen, Apotheker/innen und des Krankenpflegeper-
sonals verwendet (Figueras et al. 2004, Wendt 2009, 2014, Reibling 2010, Rothgang et al.
2010). In internationalen Datensätzen der OECD und der WHO stehen darüber hinaus
Informationen zu Zahnärzten, Hebammen sowie für eine stärkere Differenzierung der
fachärztlichen Versorgung zur Verfügung. Die Wahl der Makroindikatoren hängt vor
allem davon ab, welche Gesundheitsindikatoren analysiert werden sollen. Bei Fragen
218 Claus Wendt

zur Gesundheit von Kindern sind Daten zu Hebammen, Kinderkrankenschwestern,


Kinderärzten und -ärztinnen hinzuzuziehen, während bei Fragen zur Zahngesundheit
Zahnärzte und -ärztinnen und ggf. Zahntechniker/innen gesondert auszuweisen wären.
Die Krankenhausbettendichte wurde in vergleichenden Analysen immer wieder als ein
zentraler Gesundheitssystemindikator verwendet (Bambra 2005). Aufgrund der politisch
gewollten kontinuierlich sinkenden Bettenzahl hat dieser Indikator in den letzten Jahren
allerdings nur bedingt das Leistungsniveau eines Gesundheitssystems widergespiegelt. Neue
Therapien, Umstrukturierungen – teilweise mit engeren Verbindungen zum Pflegesektor
– und neue diagnosebezogene Finanzierungsformen trugen zu durchschnittlich kürzeren
Krankenhausverweildauern und -bettenzahlen bei, ohne dass damit notwendigerweise
Qualitätsverluste bei der Gesundheitsversorgung verbunden sein müssen. Dieser Prozess
des Bettenabbaus hat sich in den letzten Jahren deutlich verlangsamt (OECD Health Stati-
stics 2014), und heute bietet sich die Krankenhausbettendichte als ein Leistungsindikator
mit hoher Relevanz für die Gesundheitsversorgung und die Gesundheit an.
Für die Einbeziehung weiterer Gesundheitssystemindikatoren ist eine umfassende
Recherche nationaler und internationaler Datensätze und weiterer Quellen erforderlich.
Hierzu gehören Informationen zu Prävention und Gesundheitsvorsorge, zu Medizintechnik
(Reibling 2010), zu den Übergängen zwischen den Sektoren der Gesundheitsversorgung
(vor allem zwischen ambulanter und stationärer Versorgung) und zu neuen Versorgungs-
konzepten wie z. B. Clinical Commissioning Groups in England oder Medizinischen Ver-
sorgungszentren in Deutschland. Smith et al. (2010) führen darüber hinaus die Qualität
der Gesundheitsversorgung und den Versorgungsprozess an, der bei einer Einschätzung
der Performanz von Gesundheitssystemen zu beachten sei. Ein wichtiger institutioneller
Indikator, der für die vergleichende Analyse von Gesundheitssystemen verwendet wurde,
ist darüber hinaus die Regulierung des Zugangs von Patienten zu Leistungserbringern. Hier
stehen sich Modelle der freien Arztwahl und des direkten Zugangs zu Fachärzten auf der
einen Seite und eine strikte Regulierung des Zugangs über Gatekeeper (Hausarztmodell)
mit einem Zugang zu Fachärzten nur mit Überweisung durch einen Hausarzt auf der an-
deren Seite gegenüber (Wendt 2009, Reibling 2010, Reibling & Wendt 2011). Für die Frage
der Versorgung und Versorgungsqualität ist darüber hinaus die Frage der Honorierung
der ärztlichen Profession relevant, da hierdurch Anreize für eine Ausweitung bzw. Redu-
zierung der ärztlichen Versorgung und grundsätzlich auch für ein hohes bzw. niedriges
Niveau der Qualität der Versorgung gesetzt werden können.
14 Einflussfaktoren von Gesundheitssystemen 219

Tab. 1 Institutionelle Charakteristika von Gesundheitssystemen, 2001


Gesundheitsausgaben und Index der Institutionelle
private Finanzierung Leistungs- Indikatoren
erbringungd)
THE a) je PHE b) Private Index Index am- Vergütung Index
Einwoh- in % von OOP c) stationärer bulanter Allgemein- Zugangs-
ner, US$ THE in % von Sektor Sektor ärztee) regulie-
THE rungf)
Belgien 2452 76,6 22,2 84,6 193,0 0 1
Dänemark 2561 82,7 15,9 105,2 53,7 1 3
Deutschland 2754 79,3 11,5 120,8 102,6 0 0
Finnland 1861 75,9 19,7 79,9 136,4 2 3
Frankreich 2649 78,3 7,5 90,2 163,7 0 0
Griechenland 2178 47,4 42,4 111,6 68,4 2 0
Großbritannien 2034 83,0 11,0 91,4 73,3 1 3
Irland 2151 73,6 12,5 107,0 80,1 1 2
Italien 2188 74,6 22,1 101,0 122,6 1 3
Luxemburg 3270 87,9 6,5 120,2 85,5 0 0
Niederlande 2525 62,8 8,7 109,2 42,0 1 3
Österreich 2898 75,7 17,0 109,9 120,2 0 1
Portugal 1685 71,5 23,2 68,6 74,3 2 3
Schweden 2409 84,9 15,1 109,1 73,8 2 2
Spanien 1617 71,2 23,9 91,2 110,4 2 3
Anmerkungen: a) THE: Total Health Expenditure (Gesamtausgaben für Gesundheit); b) PHE: Public
Health Expenditure (öffentliche Gesundheitsausgaben); c) OOP: Out-of-Pocket Payments (private
Selbst- und Zuzahlungen); d) Index: >100 überdurchschnittlich, <100 unterdurchschnittlich, siehe
Wendt und Kohl 2010; e) 0=Einzelleistungsvergütung, 1=Pro-Kopf-Pauschale, 2=Gehalt; f) Werte
zwischen 0=keine Zugangsregulierung und 3=starke Zugangsregulierung.

In Tabelle 1 sind Daten zu einigen der aufgeführten Indikatoren für 15 europäische Länder
aufgeführt. Bereits ein erster Blick auf die Tabelle verdeutlicht erhebliche Länderunterschie-
de. Die Gesamtausgaben (in US$ je Einwohner) reichen von 1.617 US$ in Spanien bis 3.270
US$ in Österreich, der öffentliche Finanzierungsanteil von 47,5 % der Gesamtausgaben in
Griechenland bis 87,9 % in Luxemburg und der Anteil privater Selbst- und Zuzahlungen
von 42,4 % in Griechenland bis 6,5 % in Luxemburg. Die Spannbreite des Niveaus an
Gesundheitspersonal (gemessen anhand eines Index der Leistungserbringung) reicht
im stationären Sektor von 68,6 in Portugal bis 120,8 in Deutschland und im ambulanten
Sektor von 68,4 in Griechenland bis 193,0 in Belgien. Bei der Vergütung niedergelassener
Allgemeinärzte dominiert jeweils in fünf Ländern die Einzelleistungshonorierung, die
Pro-Kopf-Honorierung bzw. ein festes Gehalt. Der niedrigste Wert der Zugangsregulierung
findet sich in Deutschland, Frankreich, Griechenland und Luxemburg, den höchsten Wert
weisen Dänemark, Finnland, Großbritannien, Italien, Niederlande, Portugal und Spanien auf.
220 Claus Wendt

Führt man auf Grundlage dieser Indikatoren eine Cluster-Analyse für 15 europäische
Gesundheitssysteme durch (Wendt 2009), erhält man folgende drei Gesundheitssystemtypen:

Gesundheitssysteme mit hohem Versorgungsniveau und schwach reguliertem


Zugang für Patienten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg,
Österreich)
In diesem Typus von Gesundheitssystemen besteht vor allem im niedergelassenen Bereich
ein hohes Niveau der Gesundheitsversorgung, und Patienten haben in der Regel Wahlfrei-
heit und einen direkten Zugang zu Allgemein- und Fachärzten. Die privaten Selbst- und
Zuzahlungen sind auf einem moderaten Niveau, und der hohe Anteil der öffentlichen
Finanzierung verdeutlicht, dass der Schutz im Krankheitsfall als eine öffentliche Aufgabe
verstanden wird. Dieses Modell ist allerdings mit deutlich überdurchschnittlichen Ge-
sundheitsausgaben verbunden.

Gesundheitssysteme mit universellem Deckungsgrad bei umfassender


Regulierung des Zugangs (Dänemark, Großbritannien, Irland, Italien,
Schweden)
In diesem Typus von Gesundheitssystemen hat die Absicherung im Krankheitsfall den
Status eines sozialen Staatsbürgerschaftsrechts. Allerdings ist der Zugang zur Gesundheits-
versorgung in hohem Ausmaß staatlich reguliert, und alle Bürgerinnen und Bürger müssen
sich in der Regel für einen längeren Zeitraum auf der Liste eines Hausarztes eintragen,
der ggf. an einen Facharzt überweist. Im niedergelassenen Bereich weist dieser Typus
ein deutlich unterdurchschnittliches Niveau an Leistungserbringern auf, das gilt jedoch
nicht für die Versorgung im Krankenhaus. Ein moderates Niveau an privaten Selbst- und
Zuzahlungen bedeutet nur leichte Zugangsbarrieren für niedrige Einkommensgruppen
sowie für Gruppen mit einer hohen Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Der
hohe öffentliche Finanzierungsanteil signalisiert eine umfassende Verantwortung des
Staates für die Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen.

Gesundheitssysteme mit niedrigem Gesundheitsbudget und strikter


Regulierung des Zugangs (Finnland, Portugal, Spanien)
Besonders für die südeuropäischen Gesundheitssysteme gilt, dass das Versprechen eines
nationalen Gesundheitssystems, Gesundheitsversorgung als ein soziales Staatsbürgerrecht
zu institutionalisieren, nur unvollständig umgesetzt wurde. Das zeigt sich an einem deut-
lich unterdurchschnittlichen Versorgungsniveau in der stationären Versorgung, einem
vergleichsweise hohen Anteil an privaten Selbst- und Zuzahlungen, der vor allem für die
unteren Einkommensgruppen eine erhebliche Zugangsbarriere bedeutet, sowie an einem
öffentlichen Finanzierungsanteil, der deutlich niedriger ist als in den beiden anderen Ge-
sundheitssystemtypen. Der Zugang zu Leistungserbringern wird noch stärker reguliert
als im zweiten Gesundheitssystemtyp. Das in diesen Ländern zur Verfügung gestellte
Gesundheitsbudget ist möglicherweise nicht ausreichend, um für alle Patientinnen und
Patienten den Zugang zu den erforderlichen Gesundheitsleistungen zu gewährleisten.
14 Einflussfaktoren von Gesundheitssystemen 221

Die Zuordnung von Ländern zu Gesundheitssystem-Typen ähnelt Wohlfahrtsstaats-Ty-


pologien. Es zeigt sich allerdings, dass der NHS britischer Prägung Ähnlichkeiten mit den
skandinavischen Gesundheitssystemen (außer Finnland) aufweist. Eine weitere vergleichende
Studie zeigt darüber hinaus, dass auch die mittel- und osteuropäischen Gesundheitssys-
teme mehr Ähnlichkeiten mit Ländern wie Dänemark und Großbritannien als mit den
Sozialversicherungssystemen von Deutschland und Frankreich aufweisen (Wendt 2014).
Neben der vergleichenden Gegenüberstellung ausgewählter Makrostrukturen können
Typologien (siehe hierzu auch Wendt et al. 2009, Reibling 2010, Beckfield et al. 2013, Bu-
reau et al. 2015) verwendet werden, um den Einfluss von Gesundheitssystem-Typen auf
Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit im Ländervergleich zu analysieren (z. B.
Borisova 2011, Maskileyson 2014, Olafsdottir et al. 2014).

5 Schlussfolgerungen

Es besteht nach wie vor ein erheblicher Forschungsbedarf, um den Einfluss von Makro-
strukturen auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit adäquat erfassen zu können.
Hierfür sind international vergleichende Studien erforderlich, um unterschiedliche insti-
tutionelle Bedingungen in die Analyse einbeziehen zu können. Internationale Datensätze,
die durch die OECD und die WHO zur Verfügung gestellt werden sowie internationale
Surveys zur Erfassung des Gesundheitszustandes wie z. B. der Survey of Health Ageing and
Retirement (SHARE) und der European Social Survey (ESS) bieten hierfür zunehmend
bessere Voraussetzungen.
Ein Analysemodell zur Untersuchung des Einflusses makrostruktureller Faktoren auf
Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit (Beckfield et al. 2015) kann darüber hinaus
zukünftig für international vergleichende Studien eine bessere theoretische Grundlage
bilden. Vorliegende Studien verweisen auf einen Einfluss des Wohlfahrtsstaates, z. B. dass
ausgebaute Wohlfahrtsstaaten die gesundheitliche Ungleichheit zwischen Arbeitslosen und
Erwerbstätigen reduzieren. Für die Identifizierung spezifischer institutioneller Regelungen,
die wiederum auf mögliche gesundheitspolitische Maßnahmen zur Reduzierung gesund-
heitlicher Ungleichheit verweisen, ist ein Fokus auf „den Wohlfahrtsstaat“ zu allgemein.
Mit ihrem Konzept der „vermeidbaren Sterblichkeit“ legen Nolte und McKee (2008,
2011) einen Fokus auf die Strukturen und Leistungen des Gesundheitssystems, durch die
die Sterblichkeit verringert werden kann. Bisher wurden in diese und weitere vergleichende
Studien zu Einflussfaktoren auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit Gesundheits-
systemindikatoren nicht systematisch integriert. Folgende Gesundheitssystemindikatoren,
deren Bedeutung u. a. für die Leistungsinanspruchnahme und die Zufriedenheit mit dem
Gesundheitssystem nachgewiesen wurde, dürften für Analysen der Gesundheit und der
gesundheitlichen Ungleichheit relevant sein: Gesundheitsausgaben (in US$ pro Einwohner),
der öffentliche Finanzierungsanteil und private Selbst- und Zuzahlungen, Gesundheits-
personal im ambulanten und stationären Sektor, Gesundheitsvorsorge und Prävention,
222 Claus Wendt

Regulierung des Zugangs zur medizinischen Versorgung, Honorierung der Ärzte sowie
Indikatoren zur sektoralen Trennung bzw. zu neuen integrierten Versorgungsformen.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Es existiert ein erheblicher Forschungsbedarf zum Zusammenhang von Gesund-
heitssystem, Gesundheit und gesundheitlicher Ungleichheit.
▶ Ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat reduziert die gesundheitliche Ungleichheit zwi-
schen Arbeitslosen und Erwerbstätigen; ansonsten konnte ein Einfluss des Wohl-
fahrtsstaates auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit nicht systematisch
nachgewiesen werden.
▶ Studien zum Einfluss des Gesundheitssystems auf Gesundheit sollten das Konzept
der „vermeidbaren Sterblichkeit“ berücksichtigen; die „Lücke der vermeidbaren
Sterblichkeit“ hat sich in den letzten Jahren vergrößert.
▶ Gesundheitssystemindikatoren mit hoher Relevanz für Gesundheit und gesundheitli-
che Ungleichheit sind z. B. der öffentliche Finanzierungsanteil und private Selbst- und
Zuzahlungen, Gesundheitsvorsorge und Prävention sowie die Zugangsregulierung
zur Gesundheitsversorgung.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Diskutieren Sie, ob die gesundheitliche Ungleichheit im „sozialdemokratischen
Wohlfahrtsstaat“ am niedrigsten ist.
▶ Aus welchem Grund eignet sich das Konzept der vermeidbaren Sterblichkeit, um
den Einfluss des Gesundheitssystems auf Gesundheit zu analysieren?
▶ Welche Gesundheitssystem-Typen können voneinander abgegrenzt werden?
▶ Welche Indikatoren sind geeignet, um im internationalen Vergleich den Einfluss
von Gesundheitssystemen auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit zu
analysieren?
▶ Erläutern Sie, warum die Honorierung der Ärzte und die Regulierung des Zugangs
von Patienten zur ärztlichen Versorgung für Fragen der Gesundheit und der gesund-
heitlichen Ungleichheit relevant sind.
14 Einflussfaktoren von Gesundheitssystemen 223

Leseempfehlungen

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Eine der systematischsten international vergleichenden Analysen zu gesundheitlicher
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Ein umfassender Überblick in zwei Bänden über einflussreiche vergleichende Analysen
zu Akteuren, Institutionen und Organisationsformen in Gesundheitspolitik und Ge-
sundheitssystemen.

t Nolte, E. & M. McKee, 2008: Measuring the health of nations: updating an earlier
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Eine einflussreiche Analyse zum Konzept der „vermeidbaren Sterblichkeit“.

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Eine umfassende vergleichende Analyse, wie sich die Rolle des Staates und weiterer Akteure
in Gesundheitssystemen im Zeitverlauf verändert.

t Wendt, C., 2009: Mapping european healthcare systems. A comparative analysis of


financing, service provision and access to healthcare. Journal of European Social Policy
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Ein Konzept zur Entwicklung von Gesundheitssystem-Typen, das u. a. zur Analyse des
Einflusses von Gesundheitssystemen auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit
verwendet werden kann.
224 Claus Wendt

Digitale Medien: Weblinks und Filme

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DFG Forschergruppe „Priorisierung in der Berücksichtigung der Gesetzlichen Kran-
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Web http://www.svr-gesundheit.de
Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.

Web http://www.gerechte-gesundheit.de
Gerechte Gesundheit: Das Portal zur Verteilungsdebatte (Presseagentur Gesundheit).

Web https://www.youtube.com/watch?v=FqQ-JuRDkl8
Humorvoller Videoclip zur Choosing Wisely Initiative von James Mc Cormack.

Web http://www.healsee.de/
DFG-Projekt mit innovativen Daten zum Entscheidungsverhalten im Krankheitsfall.

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III
Die soziale Konstruktion
von Gesundheit und Krankheit
Laienperspektiven auf Gesundheit
und Krankheit 15
Toni Faltermaier
15 Laienperspektiven auf Gesundheit und Krankheit

Überblick
▶ Welche Bedeutung hat das Alltagswissen und Alltagshandeln von Laien zur Erklä-
rung von Gesundheit und Krankheit in der Bevölkerung
▶ Welche Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen haben Laien, und wie bestimmen
diese ihren Umgang mit Gesundheit und Krankheit?
▶ Wie ist das Laiengesundheitssystem sozial organisiert?
▶ Welche Bedeutung hat das Laiengesundheitssystem für die professionelle Praxis?

1 Einleitung

Gesundheit und Krankheit stellen gleichzeitig gesellschaft liche und individuelle Phäno-
mene dar. Aus der Perspektive eines biopsychosozialen wissenschaft lichen Denkmodells
(vgl. z. B. Faltermaier 2005a) interagieren biologische, psychologische und soziologische
Systeme in komplexer Weise miteinander, um Gesundheit und Krankheit zu erklären. Es
ist eine der Grundannahmen der Gesundheitswissenschaften (Schott & Hornberg 2011,
Hurrelmann et al. 2012), dass diese multidimensionalen Phänomene nur durch mehrere
wissenschaft liche Disziplinen zu verstehen sind, dass Gesundheit und Krankheit besser
im Zusammenwirken verschiedener Fachrichtungen wie der Medizin, der Psychologie
und der Soziologie zu untersuchen sind als von einer allein.
Ein soziologischer Blick auf Gesundheit und Krankheit ist notwendig, weil diese auch
sozial konstruiert werden und weil Menschen im Umgang mit Gesundheit zutiefst von
sozialen Prozessen geprägt sind, sowohl wenn wir Menschen als Laien verstehen als auch
wenn wir dabei an ausgebildete und beruflich tätige Experten denken. Ein Blick in die
Geschichte zeigt schnell, wie stark sich der gesellschaft liche Umgang mit Gesundheit über
die Jahrhunderte hin (etwa seit dem Mittelalter) verändert hat und sich weiter verändert.
Ein Vergleich verschiedener Gesellschaftssysteme und Kulturen zeigt unterschiedliche
Herangehensweisen und große Differenzen in der sozialen Organisation um Gesundheit

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_15, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
230 Toni Faltermaier

und Krankheit, sowohl was die Ausrichtung und Bedeutung von professionellen Gesund-
heitssystemen betrifft als auch die sozialen Mikroprozesse des alltäglichen Umgangs. In
den meisten Gesellschaften wird die Gesundheit der Bevölkerung überwiegend in diesem
„popular sector“ der Gesundheitsversorgung aufrechterhalten (Chrisman & Kleinman
1983). Insofern ist es in vieler Hinsicht gerechtfertigt, von einer gesellschaftlichen Kons-
truktion von Gesundheit und Krankheit zu sprechen, wir denken und handeln in sozial
und kulturell geprägten Mustern – auch in gesundheitlichen Fragen. Wenn man so will,
ist es sogar das entscheidende Kriterium für die Qualität jeglichen professionellen Han-
delns, wie der gesunde oder kranke Mensch selbst darüber empfindet, denkt und handelt,
welche gesundheitlichen Auswirkungen von professionellen Maßnahmen Patienten und
medizinische Laien selbst wahrnehmen. Insofern ist die Laienperspektive unerlässlich für
jede soziologische (und psychologische) Untersuchung von Gesundheit und Krankheit.
Allerdings wird sie im Vergleich zur professionellen Perspektive oft übersehen und stark
unterschätzt, auch weil das Wissen von Laien im Vergleich zum Expertenwissen vielfach
als defizitär angesehen wird.
Die wissenschaftliche Untersuchung von Gesundheit und Krankheit hat sich lange Zeit
überwiegend aus einer naturwissenschaftlichen Sicht der Medizin dem kranken Körper
genähert und die psychischen und sozialen Prozesse vernachlässigt; die Versorgung kranker
Menschen wurde überwiegend als kurative Praxis im Kontext des existierenden professio-
nellen Gesundheitssystems konstruiert. Wie in alltäglichen und sozialen Zusammenhängen
mit Gesundheit und Krankheit umgegangen wurde, war lange Zeit sekundär, das Erleben
und Handeln des kranken und gesunden Menschen wurde als Gegenstand der Forschung
vernachlässigt (siehe auch Schaeffer & Haslbeck in diesem Band). Die Entwicklung der
Gesundheitswissenschaften und das Denken in einem biopsychosozialen Modell machten
es erst möglich, Gesundheit und Krankheit auch aus der Perspektive des betroffenen Indi-
viduums und von sozialen Gruppen zu sehen. Über in den 1970er Jahren neu entstehende
wissenschaftliche Disziplinen (wie z. B. die Gesundheitspsychologie oder Medizinsoziologie)
wurden psychische und soziale Phänomene bei Gesundheit und Krankheit zunehmend
untersucht und viele neue Erkenntnisse gewonnen (siehe auch Gerlinger in diesem Band).
So wurde auch allmählich erkennbar (z. B. aus kulturvergleichenden Untersuchungen),
dass neben dem medizinischen Gesundheitssystem immer auch ein „Laiengesundheits-
system“ (Levin & Idler 1981) existiert, das in jeder Gesellschaft unverzichtbare Leistungen
zur Aufrechterhaltung der Gesundheit der Bevölkerung erbringt (Chrisman & Kleinman
1983), die aber oft im Alltag versteckt und daher nicht offensichtlich sind.
Im folgenden Beitrag wird zunächst dargestellt, welche Bedeutung Laien im Umgang
mit Gesundheit im Alltag haben, dabei werden relevante wissenschaftliche Konzepte vor-
gestellt und exemplarisch Erkenntnisse von einschlägigen Forschungsrichtungen skizziert.
Dann wird in einem nächsten Schritt beschrieben, welche Rolle und Bedeutung Laien in
der professionellen Gesundheitspraxis haben oder haben könnten.
15 Laienperspektiven auf Gesundheit und Krankheit 231

2 Subjektive und soziale Konstruktion von Gesundheit und


Krankheit im Alltag: Laienwissen und Laienhandeln

Medizinische Laien haben zwar keine spezialisierte berufliche Ausbildung durchlaufen und
in der Regel auch nicht systematisch Wissen erworben, aber sie verfügen aus verschiedenen
Quellen und Lernprozessen über ein Alltagswissen von Gesundheit und Krankheit, das –
wie auch immer angemessen es gesehen werden kann oder nicht – das Alltagshandeln von
Menschen prägt (Flick 1998). In der Nachfolge von soziologischen und psychologischen
Klassikern (wie Serge Moscovici oder Fritz Heider) wird davon ausgegangen, dass Men-
schen sich in ihrem Alltag nicht grundsätzlich anders verhalten als Wissenschaftlicher,
wenn sie Wissen erwerben, daher versuchen sie auch, sich Phänomene und Erlebnisse des
Alltags zu erklären und schreiben Ereignissen Ursachen zu (kausale Attributionen) oder
entwickeln subjektive Theorien über Zusammenhänge, die – wenn sie sozial geteilt wer-
den – als soziale Repräsentationen bezeichnet werden. Mit dieser Grundannahme wurden
auch Phänomene von Gesundheit und Krankheit untersucht, beginnend in den 1960er
und 1970er Jahren, dabei spielte die Arbeit der französischen Soziologin Claudine Herz-
lich (1973) eine wichtige Rolle. Dabei wurde unter dem Oberbegriff der Gesundheits- und
Krankheitsvorstellungen eine Reihe von kognitiven Aspekten untersucht, die das Denken
von Laien über Gesundheit und Krankheit erfassen sollen (Faltermaier 2005b). Aus einer
sozialwissenschaftlichen Perspektive wurden über mehrere Dekaden in verschiedenen
Ländern qualitative und quantitative Untersuchungen zu Gesundheitsvorstellungen von
Laien durchgeführt, deren Konzepte und Erkenntnisse hier kurz zusammengefasst werden
sollen (zum Überblick, vgl. Faltermaier 2005b).

2.1 Subjektive Konzepte von Gesundheit

Nach einer Vielzahl von empirischen Studien in unterschiedlichen Ländern haben Laien
vielfältige subjektive Konzepte bzw. soziale Repräsentationen von Gesundheit erworben,
die sich dadurch auszeichnen, dass sie Gesundheit begrifflich zum einen positiv und/oder
negativ und zum anderen auf einer körperlichen, psychischen oder sozialen Dimension
bestimmen. Positive Bestimmungen von Gesundheit beziehen sich insbesondere auf das
eigene (Wohl-) Befinden, das im psychischen Sinn als innere Ausgeglichenheit, Zufrieden-
heit und Lebensfreude beschrieben wird, aber auch auf das körperliche Wohlbefinden, auf
eine innere Kraft und Stärke oder Harmonie. Gesundheit wird aber auch als Potential und
Reservoir an Energie beschrieben, als alltägliche Handlungsfähigkeit oder Leistungsfähigkeit
(Faltermaier 2005b). Die negativen Bestimmungen von Gesundheit beziehen sich auf die
Abwesenheit von Krankheit oder ein geringes Ausmaß an Beschwerden oder Schmerzen
ebd.). Repräsentative Studien (z. B. Blaxter 1990 in Großbritannien) deuten darauf hin,
dass in der Bevölkerung positive Begriffe von Gesundheit dominieren, wenn sie auf die
eigene Gesundheit bezogen wird, aber viele Menschen definieren ihre Gesundheit auch auf
mehreren Ebenen. Qualitativ-biographische Studien belegen zudem, dass Gesundheit von
Laien auch dynamisch als Prozess über den Lebenslauf verstanden wird, der Gesundheit
232 Toni Faltermaier

entweder als allmählichen Abbauprozess oder als regenerative Prozesse der ständigen
Reduktion und Regeneration fasst (Faltermaier & Kühnlein 2000).

2.2 Subjektive Theorien von Gesundheit

Laien besitzen zudem aber auch subjektive Theorien von Gesundheit, d. h. sie können – wie
vor allem qualitative Studien zeigen – verschiedene positive und negative Einflüsse auf ihre
Gesundheit benennen und teilweise in theoretisch-argumentativen Zusammenhängen
miteinander kombinieren (Faltermaier 2005b). Dazu gehören insbesondere Einflüsse aus
der Arbeitswelt und Familie (Risiken, Belastungen, Unterstützungen), aus der Umwelt sowie
durch den eigenen Lebensstil (riskantes Verhalten oder positives Gesundheitsverhalten).
Dabei setzen Menschen unterschiedliche Schwerpunkte, sie konzentrieren ihre Theorien
entweder mehr auf riskante Bedingungen, oder mehr auf Ressourcen, oder formulieren
auch Theorien der Interaktion und des Ausgleichs zwischen gesundheitlichen Risiken und
Ressourcen. Ein Teil der befragten Menschen vertritt auch schicksalhafte Theorien, die
Gesundheit vom Zufall, dem Schicksal oder dem Alter abhängig sehen (Faltermaier 2005b).

2.3 Subjektive Krankheitstheorien

Seit den 1960er Jahren wurden in einer eigenen Forschungsrichtung eine große Zahl von
Untersuchungen zu den subjektiven Theorien von Krankheiten (viele verbreitete körperliche
und psychische Erkrankungen) durchgeführt, wie sie aus der Sicht der betroffenen Men-
schen formuliert werden (vgl. Faltermaier & Brütt 2009). Dabei werden in der Forschung
in der Tradition des amerikanischen Gesundheitspsychologen Leventhal (vgl. z. B. Meyer,
Leventhal & Gutman 1985) verschiedene Aspekte unterschieden: das Bild von der Krankheit,
das sich Betroffene machen, die wahrgenommenen Ursachen sowie ihre Vorstellungen über
den Verlauf, die Dauer und die Folgen einer Krankheit. Erkrankte Menschen schreiben
ihre Krankheit kausal einer Vielzahl von genetischen, umweltbezogenen, körperlichen,
psychischen und sozialen Einflussfaktoren zu, die je nach Krankheit verschiedene Muster
zeigen. Dabei fällt auf, dass etwa verbreitete körperliche Erkrankungen wie z. B. Herzin-
farkt oder Krebs von den Laien vor allem durch psychosoziale Faktoren wie z. B. Stress,
Persönlichkeitsmerkmalen oder riskantem Verhalten erklärt werden. Auch schicksalhafte
Erklärungen oder Umweltfaktoren spielen aber z. B. bei Krebserkrankungen eine große
Rolle. Diese Forschungsrichtung hat bis heute die Vorstellungen von Betroffenen bei einem
großen Spektrum von körperlichen und psychischen Erkrankungen meist mit standardi-
sierten Instrumenten untersucht (vgl. Hoefert & Brähler 2009), um sie für die Vorhersage
des Umgang mit der Krankheit zu nutzen.
15 Laienperspektiven auf Gesundheit und Krankheit 233

2.4 „health literacy“

In einer anderen Tradition steht das Konzept des „health literacy“, im deutschen meist als
Gesundheitskompetenz übersetzt (Abel, Sommerhalder & Bruhn 2011). „Health literacy“
bezieht sich auf das verfügbare Wissen von Laien über Gesundheit und Krankheit, das hier
jedoch am Expertenwissen orientiert wird, d. h. ob gesunde Menschen oder Patienten z. B.
gesundheitsrelevante Informationen verstehen, Angebote des Gesundheitssystems kennen
und sie auch in Anspruch nehmen können. Patienten, die über „health literacy“ verfügen,
also gesundheitlich gebildet sind, sollen in der Lage sein, Maßnahmen von Professionellen
im Gesundheitssystem besser wahrzunehmen, also sich „compliant“ zu verhalten. Gesunde
Laien sollten dagegen über grundlegende Bildung, Alltagsfähigkeiten und auch Wissen
über Gesundheitsrisiken verfügen, um sich entsprechend gesundheitsgerecht verhalten zu
können (ebd.). Das Konzept der „health literacy“ muss insofern kritisch gesehen werden,
als die Vorstellungen und Kompetenzen von Laien ausschließlich am Wissen von Experten
und an deren Kriterien gemessen werden. Damit werden empirisch gut belegte Erkennt-
nisse der Gesundheitspsychologie (vgl. Faltermaier 2005a) vernachlässigt, dass Menschen
gesundheitsrelevante Informationen (Risiken, Belastungen, körperliche Änderungen,
Krankheiten) immer subjektiv wahrnehmen und konstruieren, also gesundheitsrelevante
Informationen nicht einfach übernehmen. Im Konzept der „health literacy“ wird aber
das Expertenwissen als Norm gesetzt, an dem sich Laienwissen zu messen habe, was das
stark erfahrungsnahe Wissen von Laien notwendig als defizitär erscheinen lässt (es muss
sich an das Expertenwissen anpassen) und kritische Einschätzungen von professionellen
Maßnahmen verunmöglicht. Damit steht dieses Konzept in Gegensatz zu einem subjekt-
wissenschaftlichen Ansatz, der mit der Rekonstruktion von Gesundheitsvorstellungen eine
in ihrem lebensweltlichen Kontext potentiell handlungsfähige Person unterstellen würde
und Wissen an ihrer lebensweltlichen Relevanz messen würde.

2.5 Gesundheitsverhalten und Gesundheitshandeln

Aus einer subjektwissenschaftlichen Perspektive sollte das Alltagshandeln von Laien im


Umgang mit Gesundheit und Krankheit vielmehr aus der subjektiven Eigenlogik konzipiert
und rekonstruiert werden, und dabei auch in ihrem sozialen und lebensweltlichen Kontext
verstanden werden. Das Konzept des Gesundheitshandelns (Faltermaier 2005a) wurde in
dieser Logik entwickelt und empirisch untersucht. Er orientiert sich an einer sozialwis-
senschaftlichen Tradition des sozialen Handelns und betont dabei ein meist bewusst und
an Zielen orientiertes subjektiv bedeutungsvolles Handeln, das immer in einem sozialen
Kontext erfolgt und in die Lebensweise einer Person oder Gruppe eingebettet ist (ebd.).
Das in der Gesundheitspsychologie sehr verbreitete und empirisch umfangreich un-
tersuchte Konstrukt des Gesundheitsverhaltens (Schwarzer 2004) folgt dagegen einer
Orientierung an Kriterien von Experten. Diese nehmen eine Einordnung und Normie-
rung des Laienverhaltens als riskant oder gesund vor und versuchen es empirisch durch
234 Toni Faltermaier

Prädiktoren vorherzusagen. Das alltägliche Verhalten wird dabei in der Regel entweder
auf ein empirisch belegtes Risikoverhalten für Krankheiten reduziert oder als Gesund-
heitsverhalten auf ihr Gegenteil. Daher orientiert man sich in dieser Forschungsrichtung
zumeist an den „Klassikern“ einer gesunden Bewegung, Ernährung und Entspannung und
versucht, in Modellen des Gesundheitsverhaltens vor allem kognitive Prädiktoren (wie
z. B. die Risikowahrnehmung oder Selbstwirksamkeitserwartung) empirisch zu belegen
(vgl. zum Überblick: Schwarzer 2004, Faltermaier 2005a). Wenn man sich aber nicht an
den epidemiologisch belegten Risikofaktoren für Krankheiten orientiert, dann bleibt es
wissenschaftlich zumeist unklar und strittig, welches Verhalten genau Menschen gesund
erhält und was unabhängig von ihrer sozialen und lebensweltlichen Lage ein adäquates
Gesundheitsverhalten oder ein gesunder Lebensstil sein soll.

2.6 Krankheitsverhalten

Das Konzept des Krankheitsverhaltens beschreibt, was Menschen, die sich als krank
wahrnehmen, im Umgang mit ihrer Krankheit oder deren Symptomen unternehmen (vgl.
Faltermaier 2005a). Damit wird ein breites Spektrum von Aktivitäten umschrieben; es
reicht von der ersten Wahrnehmung und Bewertung von körperlichen Veränderungen, der
Kommunikation darüber im sozialen Umfeld und der Erstellung einer „Laiendiagnose“,
über die Selbstbehandlung (z. B. über Selbstmedikation) einer Erkrankung im Laiensystem,
der Konsultation von anderen Laien (nahe Bezugspersonen) zur Abklärung von Beschwer-
den oder zum Suchen von Hilfe, bis hin zu der Entscheidung, ärztliche (oder andere)
Hilfen im professionellen System in Anspruch zu nehmen, wie dabei mitgearbeitet wird
(„compliance), wie mit Professionellen sozial interagiert (kommuniziert) wird und wie mit
Krankheiten im Alltag und in der Familie umgegangen wird (einschließlich der Pflege von
chronisch kranken oder beeinträchtigen Menschen). Bei allen diesen Aspekten, die man
den verschiedenen Phasen eines Krankheitsprozesses zuordnen kann, gibt es eigenständige
Forschung über die sozialen und psychischen Prozesse (ebd.). Besonders prominent sind
Untersuchungen zur Bewältigung von krankheitsbezogenen Belastungen (vgl. Faltermaier
2005a; siehe auch Schaeffer & Haslbeck in diesem Band9) oder zum alltäglich Umgang
mit chronischen Erkrankungen im sozialen Kontext. Die bereits genannten subjektiven
Krankheitstheorien gelten als wesentliche kognitive Prädiktoren für ein Krankheitsver-
halten und bestimmen mit, wie Menschen mit Professionellen interagieren, ob und wie
sie sich z. B. „compliant“ verhalten.

2.7 Laienvorstellungen und -handeln erklären soziale Unterschiede

Das Laienwissen und das Laienhandeln stellen einen wesentlichen Strang zur Erklärung
sozialer Unterschiede in Gesundheit und Krankheit dar, denn Unterschiede im Gesundheits-
und Krankheitsverhalten sind wichtige Determinanten einer gesundheitlichen Ungleichheit
(Mielck 2005; siehe auch Lampert in diesem Band). Wie sich Menschen zu ihrer Gesundheit
15 Laienperspektiven auf Gesundheit und Krankheit 235

verhalten oder wie sie präventiv aktiv werden, das ist nicht nur von Gesundheitsvorstel-
lungen („health beliefs“), sondern auch stark von soziodemographischen Variablen wie
Geschlecht, sozioökonomischer Status und Alter abhängig (Faltermaier 2005a). Bereits die
Inanspruchnahme des professionellen Systems der Gesundheitsversorgung bei Krankheit
oder für Vorsorgeuntersuchungen variiert nicht nur mit der Wahrnehmung von Symp-
tomen und von Gesundheitsrisiken, sondern auch zwischen Frauen und Männern (RKI
2014), verschiedenen sozialen Statusgruppen und mit dem Alter bzw. der Lebensphase. Es
zeigen sich etwa auch deutliche soziale Unterschiede im gesundheitlichen Lebensstil nach
dem Geschlecht: Männer weisen nicht nur eine deutlich höhere Prävalenz in verschiede-
nen Risikoverhaltensweisen über den ganzen Lebenslauf auf (RKI 2014), sie konstruieren
Gesundheit, Risiken und Belastungen subjektiv auch anders als Frauen und setzen sie im
alltäglichen Handeln anders um (Mullen 1992, Robertson 2006, Saltonstall 1993). Ähn-
liches zeigt sich auch im sozioökonomischen Status mit einer höheren Risikobereitschaft
in den niedrigeren Statusgruppen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich
soziale Unterschiede in Gesundheit und Krankheit wesentlich durch das Wissen und die
Vorstellungen von Laien sowie über ihre Handlungsweisen im Laiensystem erklären lassen
(Popay, Williams, Thomas & Gatrell 1998).

2.8 Das Laiengesundheitssystem

Das gesundheitliche Handeln im Laiengesundheitssystem ist wesentlich sozial organisiert.


Unterschiede im Gesundheits- und Krankheitshandeln basieren nicht nur auf Unterschieden
in den sozialen Repräsentationen von Gesundheit und Krankheit, sondern auch auf der
jeweiligen sozialen Organisation von gesundheitlichen Aktivitäten in den sozialen Mili-
eus. So sind die Akteure im Laiengesundheitssystem in verschiedene soziale Institutionen
und Rollen eingebunden. In zentralen gesellschaftlichen Institutionen wie der Familie,
der Arbeitswelt, der Kommune oder übergeordneten staatlichen Organisationen werden
gesundheitliche Fragen verhandelt und sozial organisiert. So sind im Mikrobereich der
Familie etwa gesundheitliche Leistungen vielfach geschlechtsspezifisch organisiert. Frauen
sind auf der Basis ihrer Geschlechtsrolle überwiegend für die Vermittlung von Gesund-
heitswissen und -einstellungen zuständig, sie übernehmen die Verantwortung für Aspekte
des Gesundheitshandelns (gesunde Ernährung), sie leisten einen Großteil der notwendigen
Pflegeleistungen im Krankheitsfall (Kinder, ältere und pflegebedürftige Angehörige) und
sind oft die „gatekeeper“ des Gesundheitssystems, d. h. sie vermitteln und motivieren Fa-
milienmitglieder zur Inanspruchnahme professioneller Leistungen. Zudem lässt sich etwa
zeigen, dass gesundheitliche Aktivitäten im sozialen Kontext der Familie sozial abgestimmt
und mit anderen Prioritäten abgeglichen werden. In ähnlich dominanter Weise wirkt die
betriebliche Organisation auf den Umgang der Mitarbeiter/-innen mit ihren gesundheit-
lichen Risiken und Ressourcen. Der betriebliche Gesundheitsschutz basiert nicht nur auf
Expertenhandeln und rechtlichen Vorgaben (Arbeitssicherheit, betriebsärztliche Dienste),
sondern auch auf ihrer informellen betrieblichen Organisation, aber z. B. Formen der
Überwachung durch Führungskräfte und Mitarbeiter/innen. Organisatorische Ressourcen
236 Toni Faltermaier

wie die Mitbestimmung der Mitarbeiter, Entscheidungsspielräume bei der Ausführung


der Arbeitstätigkeit oder die kollegiale Unterstützung wirken auch als gesundheitliche
Ressourcen, die bei ähnlichen Anforderungen oder Risiken gesundheitliche Vorteile mit
sich bringen. Schließlich werden gesundheitliche Belange auch am Wohnort und in der
Umgebung durch politisches oder administratives Handeln bestimmt, beispielweise die
politische Regelung des öffentlichen und privaten Verkehrs, die Gestaltung wohnortna-
her Natur- und Erholungsräume, die Emission von Schadstoffen in die Umwelt usw.. Sie
bestimmen auf vielfältige Weise mit, welchen gesundheitlichen Risiken die Bewohner/
innen ausgesetzt sind und welche Möglichkeiten für Regeneration und individuelles oder
soziales Gesundheitshandeln sie haben. Sie werden in der Regel durch Politiker/innen
oder Bürger/innen entschieden, also medizinischen Laien, die selten eine professionelle
Expertise haben. Ein weiteres Feld des Laiensystems ist die Arbeit von Selbsthilfegruppen.
Sie bestehen in großer Zahl bei verschiedenen Krankheiten und werden selbstverständlich
in kommunalen Settings organisiert. Sie demonstrieren ein kollektives Laienhandeln und
soziale Organisation im Umgang mit Krankheiten (Trojan & Kofahl 2011), werden zwar
oft durch Experten initiiert oder unterstützt, aber der Grundgedanke der Selbsthilfe ba-
siert auf den Vorteilen einer gegenseitigen sozialen Unterstützung von Laien auf der Basis
ähnlicher Betroffenheit.

3 Schlussfolgerungen für die professionelle Praxis:


Partizipation – Einbeziehung von Laienkompetenzen
und des Laiensystem

Nachdem die Bedeutung einer Laienperspektive auf Gesundheit und Krankheit unter
Betrachtung verschiedener Aspekte des Laienwissens und -handelns sowie ihrer sozialen
Organisierung beschrieben wurde, soll nun im nächsten Abschnitt noch kurz die Frage
nach den Schlussfolgerungen für die professionelle Praxis gestellt werden.
Grundsätzlich kann man auf dieser Basis die Forderung erheben, dass Professionelle
dieses Laienpotential sehr viel stärker wahrnehmen und für ihr professionelles Handeln
berücksichtigen sollten. Dazu brauchen sie eine Grundhaltung der Anerkennung von
Laien als in ihrer Lebenswelt (potentiell) kompetente Subjekte und der Kooperation zwi-
schen den Experten und den Nutzern von Leistungen. Statt einem oft paternalistischen
Verständnis von professioneller Allmacht sollte professionelles Handeln in Richtung eines
Empowerment gehen, also Menschen soweit wie möglich zu einem selbstbestimmten und
verantwortlichen Umgang mit ihrer Gesundheit befähigen. Diese Haltung müsste bereits
in der Ausbildung von Gesundheitsberufen gelegt werden (siehe auch Kälble & Borgetto
in diesem Band). Diese Grundlinie soll nun exemplarisch für verschiedene Praxisfelder
der Gesundheitsarbeit skizziert werden.
15 Laienperspektiven auf Gesundheit und Krankheit 237

3.1 Partizipation von Laien in der Prävention und


Gesundheitsförderung

Im Bereich der primären Prävention und Gesundheitsförderung gehört es inzwischen bereits


zu den Standards guter Praxis, dass sich Professionelle an den Prinzipien der Partizipation
und des Empowerment orientieren (Faltermaier & Wihofszky 2012; siehe auch Loss in die-
sem Band). Um Zielgruppen der Bevölkerung mit hohem Bedarf zu erreichen und an ihren
Bedürfnissen anzusetzen, bedarf es einer professionellen Praxis, die Menschen als Subjekte
ihres Lebens wahrnimmt und dabei ihre lebensweltlichen Kontexte berücksichtigt. Sie als
Subjekte wahrzunehmen bedeutet, ihre subjektiven Vorstellungen von Gesundheit und
Krankheit sowie ihre Alltagsaktivitäten und Kompetenzen im Umgang mit Gesundheit zu
kennen, zu respektieren und beim professionellen Handeln einzubeziehen. Das heißt auch,
dass nicht generell von einer Überlegenheit des Expertenwissen auszugehen ist, sondern es
immer darum gehen muss, dass Menschen Entscheidungen für mehr Gesundheit in ihrem
eigenen sozialen Umfeld treffen müssen und Änderungen in der eigenen Lebenswelt auch
umsetzen können müssen. In Hinblick auf die Nachhaltigkeit von Interventionen können
nur dann dauerhaft positive Effekte erreicht werden, wenn Menschen Veränderungen in
ihrem Alltag selbst umsetzen. Genau das meint das Prinzip des Empowerment.

3.2 Partizipation von Laien in der Patientenversorgung

Als zweiter Bereich soll die soziale Interaktion zwischen Arzt bzw. Professionellem und dem
Patienten bzw. Klienten angesprochen werden. Auch hier wäre es geboten, im sozialen
Austausch über Fragen von Gesundheit und Krankheit ein gegenseitiges Verständnis und
Respekt für die unterschiedlichen Formen des Wissens und differierende Handlungslogi-
ken herzustellen (Faltermaier & Brütt 2013). Letztlich lassen sich nur auf dieser Grundlage
soziale Beziehungen des Vertrauens aufbauen, die für jegliche Form der Zusammenarbeit
im Gesundheitssystem entscheidend sind. Ärzte, die bei ihren Patienten „compliance“ im
Sinne einer Mitarbeit bei einer erfolgreichen Behandlung erreichen wollen, sollten nicht
nur ihr Behandlungskonzept gut und verständlich kommunizieren, sondern z. B. auch
versuchen zu verstehen, welche subjektiven Vorstellungen Patienten von ihrer Krankheit
haben und diese dann in einem Dialog mit zu berücksichtigen (Faltermaier & Brütt 2013).
Dazu bedarf es auch eines Wissens über den lebensweltlichen Kontext der Patienten (z. B.
die aktuelle Situation des Patienten in Familie, Arbeit und die soziale Lage und Netzwerke),
der die Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung einer professionellen Intervention
besser einschätzen lässt. Im Ansatz der Gesundheits- oder Patientenberatung (Faltermaier
2004) oder im Konzept der partizipativen Entscheidungsfindung wird genau in diese Rich-
tung gegangen, dabei bedarf aber einer nicht nur formalen Umsetzung von Partizipation,
sondern sie sollte auf Basis einer tragfähigen Beziehung erfolgen.
Für Professionelle, die häufig sehr stark im medizinischen Gesundheitssystem sozialisiert
wurden, ist die Laienperspektive auch insofern bedeutsam, weil sie damit berücksichtigen
könnten, dass ihre Patienten durch ihre Inanspruchnahme professioneller Leistungen das
238 Toni Faltermaier

professionelle Gesundheitssystem in der Regel nur für einen begrenzten Zeitraum betre-
ten, dabei aber – abgesehen von den diagnostischen und therapeutischen Phasen in den
Institutionen – immer wieder in ihre Lebenswelt, damit in ihr Laiengesundheitssystem
wechseln und langfristig dort handeln müssen. Insofern sind alle Akteure, Leistungen und
Strukturen dieses Systems auch für die professionelle Praxis zu berücksichtigen, um einen
Transfer in den Alltag zu erreichen. Dabei kann es bei gesunden Menschen um das präven-
tive Gesundheitshandeln oder um die soziale Unterstützung und Beratung in alltäglichen
Gesundheitsproblemen gehen, bei akut kranken Menschen um das Krankheitsverhalten
und die Bewältigung von krankheitsbedingten Belastungen, bei chronisch kranken oder
behinderten Menschen um den alltäglichen Umgang mit der Krankheit, um Kontakte zu
Selbsthilfegruppen, um die Aktivierung von familiären Unterstützungen oder die Gestaltung
von professionellen und familiären Pflegeleistungen. Dabei geht es letztlich auch bei großen
Zukunftsthemen der gesundheitlichen Versorgung, wie z. B. der pflegerischen Versorgung
der älter werdenden Bevölkerung, darum, Modelle der Versorgung zu entwickelt, die das
Handeln und die Rationalität von Experten im professionellen System mit dem Handeln
und der subjektiven Rationalität von Laien im Laiengesundheitssystem verbinden.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Subjektive Konzepte und Theorien von Gesundheit und Krankheit sind Vorstellungen
von Laien, die ihr alltägliches Handeln im Umgang mit Gesundheit und Krankheiten
wesentlich bestimmen.
▶ In den Gesundheitswissenschaften werden die für die Erhaltung der Gesundheit
in der Bevölkerung zentralen Aktivitäten von Laien über die Konzepte des Ge-
sundheitsverhaltens, Gesundheitshandelns und der gesunden Lebensweise zum
Ausdruck gebracht.
▶ Das Laiengesundheitssystem umschreibt das im Alltag wirksame informelle soziale
System, das den Umgang mit Gesundheit und Krankheit außerhalb des professio-
nellen Gesundheitssystems organisiert.
▶ Gesundheitsvorstellungen und Gesundheitsverhalten stellen zentrale kognitive und
aktionale Bedingungen dar, die auch zur Erklärung der gesundheitlichen Ungleich-
heit beitragen.
▶ Die Laienkompetenz auf Seiten des gesunden oder kranken Menschen sollte in der
professionellen Praxis stärker berücksichtigt werden, weil sie ein wichtiges Moment
für eine Umsetzung professioneller Maßnahmen in den Alltag des Patienten/Kli-
enten darstellt.
15 Laienperspektiven auf Gesundheit und Krankheit 239

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Welche Bedeutung hat die Laienperspektive für die gesundheitliche Versorgung?
▶ Welche Forschungsfragen werden gestellt, um Gesundheitsvorstellungen von Laien
zu untersuchen?
▶ Welche Bedeutung hat die Laienperspektive in der Praxis der Prävention und Ge-
sundheitsförderung
▶ Wie können Professionelle im Gesundheitssystem mit dem Laienwissen und -han-
deln arbeiten?

Leseempfehlungen

t Faltermaier, T. (2005a). Gesundheitspsychologie. Grundriss der Psychologie, Band 21.


Stuttgart: Kohlhammer.
Das Lehrbuch gibt einen umfassenden Überblick über die Disziplin der Gesundheitspsy-
chologie und beschreibt dabei viele Theorie- und Forschungsfelder, die subjektive und
psychologische Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit untersuchen.

t Faltermaier, T. (2005b). Subjektive Konzepte und Theorien von Gesundheit und Krank-
heit. In R. Schwarzer (Hrsg.), Gesundheitspsychologie. Enzyklopädie der Psychologie
C/X/1 (S. 31-53). Göttingen: Hogrefe.
Überblicksartikel zu den aktuellen internationalen Forschungen über Gesundheits- und
Krankheitsvorstellungen

t Faltermaier, T. & Wihofszky, P. (2012). Partizipation in der Gesundheitsförderung: Sa-


lutogenese – Subjekt – Lebenswelt. In R. Rosenbrock & S. Hartung (Hrsg.), Handbuch
Partizipation und Gesundheit (S. 102-113). Bern: Huber.
Der Artikel beschreibt das Praxisfeld der Gesundheitsförderung und die konzeptionellen
Grundlagen des Grundprinzips der Partizipation, wozu neben dem Modell der Salutoge-
nese vor allem ein Ansatz am Subjekt und seiner Lebenswelt gehören.

t Schwarzer, R. (2004). Psychologie des Gesundheitsverhaltens (3. überarbeitete und


erweiterte Auflage). Göttingen: Hogrefe.
Das Standardwerk der Gesundheitspsychologie, das die zentralen Modelle zur Erklärung
des Gesundheitsverhaltens und ihre empirische Basis beschreibt.
240 Toni Faltermaier

Literatur

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health, health care, and the health professions. New York: Free Press.
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(Hrsg.), Handbuch der Beratung. Band 2: Ansätze, Methoden und Felder. Tübingen: DGVT-Verlag.
Faltermaier, T., 2005a: Gesundheitspsychologie. Grundriss der Psychologie, Band 21. Stuttgart:
Kohlhammer.
Faltermaier, T., 2005b: Subjektive Konzepte und Theorien von Gesundheit und Krankheit. S.
31-53 in R. Schwarzer (Hrsg.), Gesundheitspsychologie. Enzyklopädie der Psychologie C/X/1.
Göttingen: Hogrefe.
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Faltermaier, T. & P. Wihofszky, 2012: Partizipation in der Gesundheitsförderung: Salutogenese –
Subjekt – Lebenswelt. S. 102-113 in R. Rosenbrock & S. Hartung (Hrsg.), Handbuch Partizipation
und Gesundheit. Bern: Huber.
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Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf. Bern: Huber.
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von Patienten – Herausforderung für Medizin und Psychotherapie. Lengerich: Pabst Science
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Sozialwissenschaften.
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in BZgA (Hrsg.), Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Gamburg: Verlag für
Gesundheitsförderung.
Bewältigung chronischer Krankheit
Doris Schaeffer und Jörg Haslbeck
16
16 Bewältigung chronischer Krankheit

Überblick
▶ Welche Bedeutung kommt dem Wandel des Krankheitsspektrums zu?
▶ Welche Merkmale kennzeichnen chronische Krankheiten und welche Bewältigungs-
herausforderungen verursachen sie auf subjektiver Ebene?
▶ Wie stellt sich die Bewältigung chronischer Krankheit in den unterschiedlichen
Phasen des Krankheitsverlaufs dar?
▶ Welche Herausforderungen sind mit chronischen Krankheiten für das Gesund-
heitssystem verbunden?

1 Einleitung

Dem naturwissenschaft lich geprägten biomedizinischen Modell zufolge wird Krankheit


als Störung des Organismus und Abweichung von einer biologischen Norm betrachtet. In
Einklang damit richtet sich die Aufmerksamkeit auf Heilung und Wiederherstellung eines
als wünschenswert erachteten normativen organischen Zustands. Weitgehend außer Acht
bleiben soziale und subjektive Aspekte sowie die Frage, was es für das Individuum bedeutet
krank zu sein. Dagegen stehen in einer soziologischen Betrachtung soziale Einflussfaktoren
auf Krankheit – sowohl auf die Verursachung, die ungleiche Verteilung (Lampert in diesem
Band) wie auch die Bewältigungsmöglichkeiten – im Fokus. Zudem gilt das Interesse der
Frage, wie sich der Umgang mit Krankheit darstellt: Wie sie subjektiv erlebt wird, welche
Bewältigungsstrategien gesucht werden, wie die Bewältigung sozial ausgehandelt und
konstruiert wird, auf welche soziale Resonanz sie stößt und mit welchen Anforderungen
sie im sozialen Netz einhergeht. Diesen, sich auf subjektiver und sozialer Ebene stellenden
Herausforderungen bei der Krankheitsbewältigung widmet sich dieses Kapitel, das mit
Hinweisen zu den Konsequenzen für das Gesundheitssystem schließt. Es konzentriert
sich auf chronische Krankheiten, denen weltweit wachsende Bedeutung zukommt und die
vielfältige Herausforderungen auf subjektiver und sozialer Ebene aufwerfen.

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_16, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
244 Doris Schaeffer und Jörg Haslbeck

2 Bedeutung, Merkmale und Bewältigungsherausforderungen


bei chronischer Krankheit

Der Wandel des Krankheitsspektrums – die Verlagerung der Bedeutung von akuten hin
zu chronischen Krankheiten – gehört zu den großen gesellschaftlichen Herausforderun-
gen, der für die Gesundheitssysteme, aber auch die Erkrankten und ihr soziales Netz mit
zahlreichen Konsequenzen einhergeht.
Weltweit haben chronische, nichtübertragbare Krankheiten in den zurückliegenden
Jahrzehnten kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. In Europa sind sie an die Stelle der
Infektionskrankheiten getreten, die einst das Mortalitäts- und Morbiditätsspektrum do-
miniert haben. Sie machen heute etwa Zweidrittel der Krankheits- und Todesfälle aus und
sollen künftig sogar 80 % der Todesfälle verantworten (WHO 2011). Zu den wichtigsten
chronischen Krankheiten gehören Herz-Kreislauferkrankungen, bösartige Neubildungen,
Atemwegserkrankungen, Diabetes sowie Krankheiten des Bewegungs- und Stützapparates
(ebd.).
Anders als Akuterkrankungen sind chronische Krankheiten nicht heilbar und durch
Dauerhaftigkeit charakterisiert. 20 bis 30-jährige Verlaufsdauern sind heute keine Aus-
nahme mehr. Chronische Krankheiten beeinflussen oft das gesamte weitere Leben und
lassen weder die Biographie noch die Identität unberührt. Auf all diesen Ebenen fordern
sie den Erkrankten zahlreiche Anpassungs- und Lernprozesse ab (Charmaz 2000, Corbin
& Strauss 2004, Nittel & Seltrecht 2013, Schaeffer 2004). Viele dieser Prozesse treffen auf
eine Leerstelle im Erfahrungsrepertoire, dennoch müssen die Erkrankten so oder so mit
ihnen umgehen und Bewältigungsstrategien entwickeln.
Auch die Kranken- und Patientenrolle stellt sich bei chronischen Krankheiten anders
dar. Herkömmlicherweise wurde sie – so Talcott Parsons in seiner bis heute sehr wir-
kungsmächtigen Definition (1963) – als zeitlich befristeter Status beschrieben, der durch
eine akute Krankheit ausgelöst wird, durch die der Erkrankte vorübergehend außerstande
ist, seinen gesellschaftlichen Aufgaben und Rollenverpflichtungen nachzukommen. Mit
der Übernahme der Patientenrolle wird er davon entbunden und ist im Gegenzug nur
verpflichtet, an seiner Genesung mitzuwirken: das Medizinsystem aufzusuchen und die
dort erhaltenen Hinweise zu befolgen. Mit der Gesundung endet die Patientenrolle.
Dagegen sind chronische Krankheiten eben nicht vorübergehend und das hat Konse-
quenzen für die Kranken- und Patientenrolle. Auch sie ist nicht mehr zeitlich befristet und
begleitet die Erkrankten fortan. Sie ist zugleich anspruchsvoller geworden (Boyer & Lutfey
2010). Denn bei chronischen Krankheiten besteht die Aufgabe der Erkrankten nicht einzig
darin, ärztliche Hinweise zu befolgen. Vielmehr müssen sie über Jahre oder Jahrzehnte
hinweg einen irreversiblen und wechselhaften Zustand mit Phasen bedingter Gesundheit
und Phasen von Krankheit managen. Damit werden Selbstbeobachtung, Monitoring von
Symptomen, Selbststeuerung und Selbstmanagement konstante Aufgaben der Erkrankten
(Schaeffer 2004, 2015). Sie stoßen allerdings auf Kompetenz- und Wissensdefizite, wie Un-
tersuchungen zur Gesundheitskompetenz zeigen (ebd., Sørensen et al. 2015). Information,
16 Bewältigung chronischer Krankheit 245

Beratung und Wissens- und Kompetenzvermittlung (etwa der Selbstmanagement- und


Problemlösungsfähigkeit) haben daher enorm an Bedeutung gewonnen.
Selten bleiben chronische Krankheiten auf körperliche Beschwerden begrenzt, sondern
haben psychische, soziale und ökonomische Konsequenzen, die im Wechselspiel mit kör-
perlichen Beeinträchtigungen stehen. Aus dieser für chronische Krankheiten typischen
Komplexität erwachsen zahlreiche Herausforderungen für die Krankheitsbewältigung und
die Versorgung: Denn allein mit den Mitteln der Medizin sind chronische Krankheiten
nicht zu bewältigen – trotz aller Erfolge in Teilbereichen. Sie erfordern eine multiprofessi-
onelle koordinierte Versorgung, die aus einem Kontinuum an aufeinander abgestimmten
langfristigen Hilfen besteht.
Zugleich zeichnen sich chronische Krankheiten durch eine besondere Verlaufsdynamik
aus, wie der Soziologe Anselm Strauss in dem von ihm mit Juliet Corbin entwickelten
Trajektkonzept (Verlaufskurvenkonzept) herausgearbeitet hat (Corbin & Strauss 2004,
Corbin et al. 2009, Strauss & Glaser 1975, Strauss et al. 1997). Typisch für chronische
Krankheiten ist die wechselnde Abfolge von krisenhaften, instabilen und stabilen Phasen,
die dem Verlauf die Form einer langfristig nach unten weisenden Kurve geben. Das meist
unkalkulierbare Auf und Ab stellt die Erkrankten auf eine harte Probe und erfordert stets
neue (und andere) Anpassungs- und Bewältigungsleistungen. Für die Familie und für das
Gesundheitssystem ist die Wechselhaftigkeit chronischer Krankheiten ebenfalls folgen-
reich, weil die Betreuung und Versorgung fortlaufend an neue Bedingungen anzupassen
ist. Im Trajektkonzept gilt das Interesse daher den verlaufsdynamischen Besonderheiten
chronischer Krankheit sowie den zur Bewältigung nötigen Aushandlungs- und Interak-
tionsprozessen. Denn alle an der Krankheitsbewältigung beteiligten Akteure agieren auf
der Basis unterschiedlicher Situationseinschätzungen, Annahmen und Orientierungen.
Diese müssen sorgfältig aufeinander abgestimmt werden, soll der Krankheitsverlauf nicht
außer Kontrolle geraten.1
Chronische Krankheiten beeinflussen immer auch das Familienleben und den sozialen
Kontext des Erkrankten. Sie stellen eingefahrene Routinen und Interaktionsmuster in
Frage, fordern Rollenumschichtungen und verlangen Familien eine Reihe an neuen und
meist ungewohnten Aufgaben ab, die oft zusätzlich zum Alltag bewältigt werden müssen.
Dabei zeigen Familien eine enorme Anpassungsbereitschaft, wie viele Studien zeigen (Bü-
scher & Schnepp 2014, Gallant et al. 2007, Levine et al. 2010, Perrig-Chiello & Höpflinger
2012). Zugleich neigen sie dazu, ihre adaptive Kompetenz zu überlasten. Vor allem in den
Spätstadien chronischer Krankheit, wenn sich Funktionseinschränkungen und Pflege-
bedürftigkeit hinzugesellen, treten mit der Zeit Überforderungen auf (Schaeffer & Moers
2014; Weingarten 2013). Denn schlussendlich werden chronische Krankheiten mit ihren
oft jahrzehntelangen Verläufen vornehmlich Zuhause, also außerhalb des Versorgungs-
wesens bewältigt (Corbin & Strauss 2004, Gerson & Strauss 1975). Dort sind vor allem
die Angehörigen die eigentlichen Hilfeinstanzen. Sie stellen weite Teile der Versorgung

1 Neben dem Trajektkonzept existieren weitere Theorieansätze, dazu exemplarisch Schaeffer (2009).
246 Doris Schaeffer und Jörg Haslbeck

sicher, werden aber im Gesundheitssystem oft weniger als Ressource, sondern eher als
Störfaktor wahrgenommen.
Obgleich chronische Krankheiten weitgehend Zuhause bewältigt werden, erfordern sie
zwischenzeitlich die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems. Immer gehen sie mit ei-
nem im Lauf der Zeit steigenden und komplexer werdenden Versorgungsbedarf einher. Für
dessen Bewältigung müssen die Erkrankten unterschiedliche Versorgungseinrichtungen
und Dienste anlaufen. Dabei wechseln sie zwischen unterschiedlichen Versorgungsarten
und -bereichen hin und her und können am Ende meist auf lange Patientenkarrieren
zurückblicken (Borgetto in diesem Band), gekennzeichnet durch Versorgungsbrüche und
Diskontinuitäten. Für die Erkrankten sind solche Patientenkarrieren überaus belastend,
mindern die Lebensqualität und können auch durch Angehörige kaum vermieden werden.
Obschon sie vielfach die Versorgung koordinieren, gilt für sie im Prinzip das gleiche wie
für die Erkrankten: Oft fehlt es ihnen an Wissen und Kompetenz, um sich problemlos im
intransparenten Versorgungswesen zu bewegen (Jordan et al. 2010, Schaeffer & Moers
2014, Schoen et al. 2009). Häufig ist es vom Zufall abhängig, ob und wann sie in der Ins-
tanzenvielfalt des Gesundheitssystems die richtige Stelle finden. Irrwege und langes Suchen
(durch bessere Information) zu vermeiden und eine koordinierte integrierte Versorgung
herzustellen, gehört seit langem zu den großen Herausforderungen im Gesundheitswe-
sen – sei es auf nationaler oder internationaler Ebene (IOM 2012, Nolte & McKee 2008,
Schaeffer & Ewers 2006, Wagner et al. 2001).
Um zu tragfähigen Konzepten für eine bedarfs- und bedürfnisgerechte Versorgung zu
gelangen ist erforderlich, den Herausforderungen auf subjektiver Ebene mehr Aufmerk-
samkeit zu schenken. Das gilt für die Praxis wie die Forschung: Zwar existiert mittlerweile
eine reichhaltige Forschung über chronische Krankheiten, sie ist aber – wie seit langem
kritisiert wird – vorwiegend der Expertensicht verhaftet und schenkt der Sichtweise der
Erkrankten zu wenig Beachtung (Conrad 1990, Kralik et al. 2010, Schaeffer 2009, 2015,
Thorne & Paterson 2000). Diese steht nachfolgend im Zentrum, wenn auf der Basis eigener
und literaturgestützter Forschungsbefunde dargestellt wird, wie chronische Krankheiten
aus Patientensicht erlebt und bewältigt werden (siehe Abbildung 1 in Abschnitt 3).

3 Bewältigung chronischer Krankheit in den unterschiedlichen


Phasen des Krankheitsverlaufs

3.1 Vor der Diagnose

Meist haben chronische Krankheiten eine längere Vorlaufzeit, in der sich zunächst un-
scheinbare, dann immer deutlichere Krankheitssymptome einstellen. Trotz Verunsiche-
rung versuchen die Erkrankten meist zunächst, diese Anzeichen so lange als möglich zu
normalisieren oder zu verdrängen. Über kurz oder lang werden die körperlichen oder
psychischen Vorboten jedoch so störend, dass Normalisierungs- oder Vermeidungsstra-
tegien nicht mehr greifen und eine diagnostische Abklärung erforderlich wird. Spätestens
16 Bewältigung chronischer Krankheit 247

jetzt begeben sich die Erkrankten in das Versorgungswesen – in der Hoffnung auf rasche
Klarheit über ihre Situation. Meist aber führt sie der Weg bis zur gesicherten Diagnose über
zahlreiche Instanzen und kann sich über Wochen und manchmal Monate hinziehen. Die
damit einhergehende Unsicherheit wird von den Erkrankten und ihren Familien durch-
gängig als sehr belastend und zermürbend empfunden (Charmaz 2000, Müller-Mundt
2005, Schaeffer & Moers 2009).

3.2 Krankheitsbeginn

Kann endlich eine Diagnose gestellt werden, wird dies als Erleichterung und zugleich
als Schock erlebt. Denn fast immer kommt die Diagnose aus Sicht der Erkrankten einem
„plötzlichen Absturz aus dem normalen Leben“ gleich (Haslbeck & Schaeffer 2011: 46), ruft
zahlreiche Irritationen hervor und ist zunächst kaum zu verarbeiten (Corbin & Strauss 2004,
Schaeffer 2004, Schaeffer & Moers 2014). „Life is out of control“, so beschreibt es Charmaz
(2000: 280) treffend, dass die Erkrankten vorübergehend in einen Zustand von Ohnmacht
und Handlungsunfähigkeit versetzt werden. Daher wird der Erhalt der Diagnose oft zu
einer biografischen Zäsur (Bury 2002, 2009, Pierret 2003, Williams 2000).
Angesichts des Schocks der Diagnose trudeln die Erkrankten meist längere Zeit getrieben
von der Suche nach Antworten auf die Frage, wie sie mit der Diagnose das auf sie zukom-
mende Leben gestalten und ihm Sinn verleihen sollen. Eine Antwort auf diese Sinnfragen
zu finden, ist für sie in dieser Phase oft dringlicher als die direkte Krankheitsbewältigung
(Schaeffer & Moers 2009). Diese delegieren sie oft an den Arzt, überantworten sich ihm
und dem Gesundheitssystem und fügen sich oft fraglos in die traditionelle Patientenrolle,
in der Hoffnung die Krankheitskrise so in den Griff zu bekommen.

3.3 Restabilisierung – Renormalisierung?

In der sich anschließenden Phase setzt meist eine erste vorsichtige Entspannung ein. Der
Gesundheitszustand konsolidiert sich und die eingeschlagene Therapie beginnt zu greifen.
In dieser Zeit beginnen die Erkrankten langsam wieder aus dem Zustand des Schocks und
existenziell irritierten Handelns herauszufinden. Zugleich drängt sich ihnen mit Macht
die Frage auf, wie das durch die Krankheit irritierte Leben fortan zu gestalten ist. So
unterschiedlich die dabei gefundenen Antworten sind, fast immer sind sie dadurch cha-
rakterisiert, dass die Erkrankten bestrebt sind, die Wiederherstellung von Normalität zu
ermöglichen und ihr aus der Balance geratenes Leben wieder ins Lot zu bringen (Charmaz
2000, Morse & Johnson 1991, Schaeffer & Haslbeck 2013): „Ich mach absolut alles, was
die gesagt haben, absolut. Ich nehme die Medikamente absolut pünktlich, vollständig und
ordentlich. … Ich will wieder mein vorheriges normales Leben führen können“. 2

2 Die Interviewzitate in diesem Kapitel stammen aus einer Studie der Autoren zum Selbstmanagement von kom-
plexen Medikamentenregimen (s. Haslbeck 2010, Haslbeck & Schaeffer 2011, Schaeffer & Müller-Mundt 2012).
248 Doris Schaeffer und Jörg Haslbeck

Exemplarisch zeigt dieses Zitat, wie sehr chronisch Erkrankte in dieser Phase bemüht
sind, aktiv zur Verbesserung ihres Gesundheitszustands beizutragen (ebd., Haslbeck 2010).
Auch Therapiehinweise werden dann eher unhinterfragt akzeptiert und befolgt. Dieses
Verhalten der Erkrankten entspricht vermeintlich ganz dem Bild des verantwortungs-
bewussten und ko-produktiven Patienten, der bestrebt ist, sich vorbildlich als Patient zu
verhalten und die an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen, um den erreichten Progress
unter keinen Umständen zu gefährden. Allerdings folgen die Erkrankten hier eher dem
vertrauten Muster des Umgangs mit Akuterkrankungen: Sie hoffen auf rasche Renorma-
lisierung und übersehen nicht, was Chronizität faktisch bedeutet. Das wird ihnen meist
erst in der sich anschließenden Phase deutlich.

3.4 Auf und Ab der Krankheit

In der anschließenden Phase wird den Erkrankten bewusst, dass die Hoffnung auf Rück-
kehr zum gewohnten „normalen“ Leben einem Trugschluss gleicht und die Krankheit
eben nicht vorübergehend, sondern dauerhaft ist und sie sich mit ihr arrangieren müssen.
Vielfach macht sich, ausgelöst durch diesen Verlust von Hoffnung, Enttäuschung und Er-
nüchterung breit, und in Reaktion darauf werden sie in dieser Phase von vorbildlichen zu
normalen Patienten (Schaeffer & Moers 2009). Noch immer erfüllen sie die an sie gestellten
Erwartungen als Patient und verhalten sich aus Sicht der Gesundheitsprofessionen meist
problemlos, beginnen aber großzügiger mit den an sie gestellten Anforderungen umzu-
gehen, etwa das Therapieregime zu hinterfragen oder zu modifizieren, stillschweigend in
das Medikamentenregime einzugreifen, zusätzliche Expertise hinzuzuziehen etc.
Auch das Verhältnis der Erkrankten zum Gesundheitssystem verändert sich: Es wird
nüchterner. Denn bei den zahlreichen (Lern-)Herausforderungen, sich mit Chronizität
zu arrangieren, eine eigene Haltung zur Krankheit zu entwickeln und diese in den Alltag
zu integrieren – in dieser Phase aus ihrer Sicht wichtige Aufgaben –, sehen sie sich relativ
wenig unterstützt. Zugleich wird ihnen immer deutlicher, wie „ahnungslos“ sie der Krank-
heit und dem Krankheitsmanagement gegenüberstehen. Daher beginnen sie intensiv, sich
„kundig zu machen“ und zu informieren. Unterstützung und Begleitung erwarten sie dabei
von den Gesundheitsprofessionen und hier vor allem von ihrem Arzt. Allerdings stoßen
sie mit ihren Bemühungen oft nicht auf die gewünschte Resonanz. Auch dazu ein Zitat:
„Ich habe das bei den Ärzten angesprochen, (..) die konnten nur sagen ‚Du musst dir selbst
Schritte überlegen, wie Du das machst‘“.
Nicht selten sehen sie sich auf sich selbst verwiesen, stoßen an Zeitgrenzen und fühlen
sich mit ihren Belangen und Nöten bagatellisiert. Und doch benötigen die Erkrankten gerade
in dieser Phase Unterstützung bei ihren Bemühungen, die Krankheit im Alltag handhabbar
zu machen: Vermittlung von Information und Wissen (über die Krankheit, Therapien,
Strukturen des Gesundheitssystems etc.) sowie Förderung der Selbstmanagement- und
Gesundheitskompetenz, um chronisch Erkrankte zu befähigen, ihre Krankheitssituation
selbst kompetent managen zu können, sind in dieser Phase wichtige Aufgaben der Ver-
sorgung. Dabei sind Maßnahmen notwendig, die den Erkrankten bei der Lösung der sich
16 Bewältigung chronischer Krankheit 249

ihnen stellenden Probleme behilflich sind, mögen diese Probleme aus Expertensicht auch
banal erscheinen. Geschieht dies nicht, geraten Patienten- und Versorgungswirklichkeit
in Dissonanz zueinander, was zu weiteren Versorgungsproblemen führen kann.

3.5 Beginn der Abwärtsentwicklung

Früher oder später beginnt die Abwärtsentwicklung – eine Phase, die für die Erkrankten
meist schwer zu verarbeiten ist. Sie kündigt das Nahen des Lebensendes an, was trotz
aller Auseinandersetzung mit der eigenen Situation Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit
hervorruft und zuweilen auch Frustration und Bitterkeit auslöst. Hinzu kommt, dass
diese Phase selten abrupt, sondern eher schleichend einsetzt, begleitet von neuen Krisen
und Zustandsverschlechterungen unklarer Ursache, die schwer zuzuordnen sind und als
verunsichernd erlebt werden. Vom sozialen Umfeld werden sie oft kaum registriert und das
ist für die Erkrankten besonders belastend, weil sie sich unverstanden fühlen, aber nicht
mehr die nötige Energie haben, um korrigierend einzugreifen. Zunehmend sind sie in dieser
Phase darauf angewiesen, dass ihre Situation und Erwartungen ohne lange Erklärungen
verstanden werden. Geschieht das nicht, fühlen sie sich doppelt unverstanden und dies
erklärt, weshalb sie in dieser Phase vielfach zu kritischen, aber auch überforderten Patienten
werden, die von Enttäuschung geprägte Kritik am Gesundheitssystem anzumelden haben.
Denn auch im Gesundheitswesen fühlen sie sich in ihrer Vulnerabilität nicht hinreichend
gesehen. Oft lässt sich in dieser Zeit beobachten, dass sich die professionellen Akteure
stillschweigend zurückziehen, was nicht nur im Widerspruch zu den Patientenwünschen,
sondern auch zum Versorgungsbedarf steht: Gerade weil die Ressourcen und Selbstma-
nagementpotenziale der Erkrankten mit Voranschreiten der Krankheit sukzessiv weniger
werden, bedarf es in dieser Phase einer Intensivierung der professionellen Unterstützung
und einer protektiven, gleichwohl nicht de-automisierenden Versorgung.

3.6 Abwärtsentwicklung und Sterben

Mit dem Eintritt der Abwärtsentwicklung nähert sich das Lebensende und gewinnt der
Krankheitsverlauf meist nochmals an Dynamik und Komplexität. Durch den medizinischen
und pharmakologischen Fortschritt verläuft diese Phase zwar langsamer als früher (Ewers
2014), doch insgesamt steigen die Handlungsanforderungen, aber auch die Einschränkungen
der Handlungsfähigkeit und die Vulnerabilität der Erkrankten. Sie sind aufgrund des nun
oft rasch voran schreitenden Verlusts ihrer körperlichen Integrität und Autonomie fast
vollständig auf die Unterstützung anderer verwiesen. Damit einhergehend werden sie in
dieser Phase immer mehr zu leidenden und erduldenden Patienten. Dies zu akzeptieren,
ist für die Erkrankten meist überaus schwer.
Ebenso schwierig ist für sie, dass sie zunehmend von der Hilfe anderer abhängig sind
und diese stellvertretend für sie agieren. Das gilt umso mehr, wenn die Versorgungssi-
tuation als unsicher und instabil empfunden wird. Denn oft hat sie zu diesem Zeitpunkt
250 Doris Schaeffer und Jörg Haslbeck

krisengeschüttelten Charakter, weil die Versorgung am Lebensende aller Veränderungs-


bemühungen zum Trotz in Deutschland weiterhin durch zahlreiche Strukturdefizite ge-
kennzeichnet ist (Schaeffer & Ewers 2013). Die daraus erwachsene Unsicherheit ist für die
Erkrankten sehr belastend. Sie benötigen und wünschen sich eine protektive Versorgung,
die ihnen hinreichend Sicherheit bietet – eine Erkenntnis, die in Zeiten der Präferenz von
Autonomie und Eigenverantwortung weiter Bedeutung hat. Die nachfolgende Abbildung
stellt die beschriebene Entwicklung des Verlaufs chronischer Krankheit aus Patientensicht
noch einmal überblickartig dar:

Phasen Krankheits- Erleben der Bewältigungshandeln Krankheits- Patienten-


geschehen Krankheits- management rolle
situation
Im Vor- Erste Krankheits- Irritation und Normalisierung der Abwarten
feld der symptome Beunruhigung Krankheitssymptome bzw. kognitive
Diagnose Vermeidung
Mani- Krisenhafte Zuspit- Biographische Schockbedingte Irri- Orientie- Passiver
festation zung der Krank- Zäsur tation der Handlungs- rungslosigkeit Patient
chro- heitssymptome; fähigkeit: „Trudeln“
nischer Diagnosestellung
Krankheit
Restabili- Beginn der Lang- Erleichterung, Langsame Wie- Hohe Com- Vorbild-
sierung zeitbehandlung Hoffnung auf dererlangung der pliance, aber: licher und
verbunden mit Renormalisierung Handlungsfähigkeit, Umgang mit aktiver
Umstellungs- und des durch die Herauskristallisie- chronischer Patient
Anpassungserfor- Krankheit irritier- rung einer Bewälti- Krankheit
dernissen ten Lebens gungsstrategie wie mit
einer Akut-
erkrankung
Leben im Wechsel von Erkennen der Oberflächliche An- „Großzügi- „Nor-
Auf und relativer Stabilität, Bedeutung von passung des Bewälti- gere“ Compli- maler“
Ab der erneuter Instabilität Chronizität: Irrita- gungshandelns an die ance Patient
Krankheit mit Krisen, und tion der Hoffnung Krankheitsrealität,
abermaliger Resta- auf Rückkehr zur unter Beibehaltung
bilisierung – stän- Normalität, Leben der entwickelten Be-
dige Veränderung lernen mit und wältigungsstrategie
der Bewältigungs- trotz chronischer
anforderungen Krankheit
Einsetzen Sich sukzessiv Überforderung, Rettungsversuche der Wechselhafte Wandel
der Ab- beschleunigende Verunsicherung, nicht mehr tragfähi- Compliance zum „kri-
wärtsent- Krankheitsdynamik Verzweiflung, gen Bewältigungsstra- mit tendenzi- tischen“
wicklung und rasch steigende, Verbitterung, tegie und beharrliches eller Vernach- Patienten
zugleich komplexer Kampf um Lebens- Festhalten am Bild lässigung des
werdende Bewälti- perspektiven trotz des handlungsfähigen Krankheits-
gungsanforderun- Progredienz der Patienten managements
gen Krankheit
Beschleu- Voranschreitender Angst, trichter- Endgültiger Verlust Erdulden Leidender
nigung Verlust der körperli- förmige Verengung der Handlungsfä- Patient
der Ab- chen und psychi- der Lebens- higkeit
wärtsent- schen Integrität perspektive
wicklung
u. Sterben

Abb. 1 Verlauf des Bewältigungshandelns bei chronischer Krankheit


Quelle: Schaeffer & Moers 2009: 127
16 Bewältigung chronischer Krankheit 251

5 Herausforderungen für das Gesundheitssystem

Die Veränderung des Krankheitsspektrums wirft auch für das Gesundheitssystem zahl-
reiche Herausforderungen auf, um bei chronischer Krankheit und Multimorbidität eine
bedarfs- und bedürfnisgerechte, ja patientenzentrierte Versorgung sicherstellen zu können.
Welche Elemente sie aufweisen muss, soll abschließend erörtert werden.
Einerseits muss die Versorgung den objektiven Merkmalen dieser heute dominanten
Krankheiten gerecht werden, also langfristig und multiprofessionell ausgerichtet sein und
auf Sicherung von Autonomie, Erhaltung der (verbliebenen) Gesundheit und Teilhabe
zielen. Die Versorgung sollte daher präventiv angelegt sein, zudem vorrangig ambulant
unter Einbeziehung pflegender Angehöriger erfolgen, integrierten und kontinuierlichen
Charakter haben und folglich auf einer engen Kooperation aller beteiligten Gesundheits-
professionen basieren (Nolte et al. 2014, SVR 2009, 2014, Wagner et al. 2001). Angesichts der
veränderten Patientenrolle kommt außerdem der Information, Beratung und Förderung
der Gesundheits- und Selbstmanagementkompetenz sowie der Partizipation wachsende
Bedeutung zu. Wiewohl eine solche Versorgung seit langem gefordert wird, ist die Reali-
sierung, trotz mancher Fortschritte, bis heute vor etliche Hürden gestellt.
Andererseits muss die Versorgung den subjektiven Konsequenzen chronischer Krankheit
und den Folgen, die sie im Leben der Erkrankten nach sich ziehen, größere Beachtung schen-
ken und patientenzentrierten Charakter aufweisen (Berwick 2009, Haslbeck et al. 2012, 2015,
IOM 2012). Wie zu sehen war, werfen chronische Krankheiten vielfältige, unterschiedlich
gelagerte Bewältigungsherausforderungen auf, die sich wechselseitig durchdringen. Dadurch
steht das Leben mit chronischer Krankheit stets in Gefahr, aus der Balance zu geraten. Dies zu
vermeiden und der Problemsicht der Erkrankten und ihren Familien (besser) zu entsprechen,
gehört zu den wichtigen und vernachlässigten Aufgaben der Versorgungsgestaltung. Zugleich
sind chronische Krankheiten für die Erkrankten mit vielen existentiellen Irritationen und
negativen Begleitphänomenen verbunden. Psycho-soziale und kommunikative Unterstützung
sind daher weitere wichtige Elemente der Versorgung. Ebenfalls benötigen die Erkrankten
Unterstützung bei den vielfältigen ihnen abverlangten Lernprozessen. Auch Wissens- und
Kompetenzförderung spielt daher eine wichtige Rolle (Coulter 2012).
Wichtig ist zudem, Verlaufsgesichtspunkten bei der Versorgungsgestaltung größere
Beachtung zu schenken. So sind zu Beginn des Krankheitsverlaufs aus Patientensicht kurze
Wege zur Diagnose wünschenswert, und alsdann Unterstützung bei der Verarbeitung der
Diagnose und der durch sie verursachten biografischen Zäsur. In der darauf folgenden
Phase erwarten die Erkrankten Unterstützung bei der Wiederherstellung von Normalität,
müssen aber zugleich darauf eingestellt werden, dass die Krankheit bleibt und sie diese in
ihren Alltag integrieren müssen. Später benötigen und wünschen sie sich eine autonomie-
förderliche Versorgung, die auf Förderung der Informations-, Gesundheits- und Selbstma-
nagementkompetenz und Empowerment setzt. In den Spätphasen chronischer Krankheit
wiederum ist eine protektive, gleichwohl autonomieerhaltende Versorgung erforderlich, die
der zunehmenden Vulnerabilität der Erkrankten entspricht und Rückhalt, Sicherheit und
„Schutz“ gewährleistet. Strategien wie Case Management gewinnen dann an Stellenwert.
252 Doris Schaeffer und Jörg Haslbeck

Die Umsetzung all dieser für eine bedarfs- und bedürfnisgerechte sowie patienten-
zentrierte Versorgung konstitutiven Elemente stellt eine in vielen Ländern inzwischen
angegangene, aber noch nicht befriedigend gelöste Aufgabe dar – nicht zuletzt, weil die
Veränderung des Morbiditätsspektrums weiter voranschreitet und sich dadurch auch die
subjektiven Herausforderungen der Krankheitsbewältigung sowie die Patientenrolle weiter
verändern. Erforderlich ist außerdem nach wie vor, die Forschung über die mit chronischen
Erkrankungen einhergehenden Herausforderungen zu intensivieren und dabei subjektiven
Aspekten mehr Bedeutung beizumessen.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Chronische Gesundheitsbeeinträchtigungen unterscheiden sich in mehrfacher
Hinsicht von Akutkrankheiten. Sie werfen zahlreiche Bewältigungs- und Versor-
gungsherausforderungen auf subjektiver Ebene auf, die in den Spätphasen zusehends
komplexen Charakter erhalten.
▶ Die Patientenrolle ist bei chronischer Krankheit sehr anspruchsvoll, weil die Er-
krankten stärker als bei Akuterkrankungen in ihrer Selbstmanagementkompetenz
gefordert sind.
▶ Information, Kompetenzförderung und partizipative Versorgungsgestaltung spielen
daher eine wichtige Rolle, stoßen in den Spätstadien der Krankheit aber an Grenzen.
▶ Die an die Erkrankten gestellten Bewältigungsanforderungen verändern sich im
Verlauf chronischer Krankheit immer wieder und das gilt auch für ihren Umgang
mit der Krankheit, den Bewältigungserfordernissen und auch der Patientenrolle –
dies oft gegenläufig zur Krankheitsentwicklung.
▶ Im Gesundheitssystem ist deshalb Verlaufsgesichtspunkten bei chronischer Krankheit
größere Aufmerksamkeit zu schenken und das Erleben der Erkrankten stärker zu
beachten (patientenzentrierte Versorgung).

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Sammeln Sie Beispiele für soziale und psycho-soziale Konsequenzen chronischer
Krankheit?
▶ Erklären Sie folgende Termini: Gestaltwandel chronischer Krankheiten, veränderte
Patientenrolle und biographische Zäsur.
▶ Welche Merkmale kennzeichnen das Verlaufskurvenkonzept, welche Aspekte be-
leuchtet es und warum ist es relevant für eine bedarfs- und bedürfnisorientierte bzw.
patientenzentrierte Versorgung?
16 Bewältigung chronischer Krankheit 253

▶ Diskutieren Sie, inwieweit sich der Umgang der Erkrankten mit den krankheitsbe-
dingten Herausforderungen und der Patientenrolle im Verlauf der Krankheit ändern
– überlegen Sie auch, welche Konsequenzen daraus für die Gesundheitsprofessionen
und die Versorgungsgestaltung erwachsen.

Leseempfehlungen

t Corbin, J.M. & A.L. Strauss, 2004. Weiterleben lernen – Verlauf und Bewältigung
chronischer Krankheit (Vol. 2., überar). Bern: Huber.
Ein Klassiker der patientenzentrierten Gesundheitsforschung von den Mitbegründern
der Grounded Theory, der eine umfassende Analyse der Verläufe chronischen Krankseins
beinhaltet.

t Coulter, A. & R. Fitzpatrick, 2000. The patient’s perspective regarding appropriate


health care. S. 454-464 in: G.L. Albrecht, R. Fitzpatrick & S.C. Scrimshaw (Eds.), The
handbook of social studies in health & medicine. London: Sage.
Ein wissensbasiertes Plädoyer für Partizipation in der Gesundheitsversorgung einschließ-
lich einer Analyse aktueller, sich aus Patientensicht stellender Probleme sowie zukünftiger
Chancen bzw. Grenzen der Patientenbeteiligung.

t Schaeffer, D. (Hrsg.), 2009: Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf. Bern:


Huber.
Eine systematische Bündelung von Theorieansätzen aus unterschiedlichen Wissenschafts-
disziplinen über chronische Krankheiten, deren Bewältigung im Fokus der Lebenslauf-
perspektive untersucht wird.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.healthtalk.org
Diese auf Forschungsbefunden basierende englische Webseite bietet umfassenden
Einblick in das Erleben chronischer Krankheit von Erwachsenen, Kindern und Ju-
gendlichen sowie Fachpersonen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen (Audio- und
Videobeiträge).

Web http://www.krankheitserfahrungen.de
Unter folgendem Link finden sich Erfahrungen von Menschen mit chronischen Krank-
heiten, die in Videos und Interviews von ihrem Leben zwischen Gesundheit und
Krankheit berichten (deutsches Pendant zu healthtalk.org).
254 Doris Schaeffer und Jörg Haslbeck

Web http://www.health.org.uk/areas-of-work/programmes/family-patient-centred-care/
Die Health Foundation (UK) stellt Informationen zu patienten- und familienzentrierter
Versorgung zusammen und bündelt Forschungsbefunde zu Selbstmanagementförderung,
partizipativer Entscheidungsfindung und Koproduktion von Gesundheit.

Web http://blog.careum.ch
Im Blog der Careum Stiftung (CH) wird regelmäßig über Gesundheitskompetenz,
Patient Empowerment und Selbstmanagementförderung bei chronischer Krankheit
geschrieben und diskutiert.

Literatur

Berwick, D.M., 2009: What “patient-centered” should mean: confessions of an extremist. Health
Affairs 28: 555-565.
Boyer, C.A. & K.E. Lutfey, 2010: Examining critical health policy issues within and beyond the
clinical encounter: patient-provider relationships and help-seeking behaviors. Journal of Health
and Social Behavior 51: 80-93.
Büscher, A. & W. Schnepp, 2014: Die Bedeutung von Familie in der pflegerischen Versorgung. In:
Schaeffer, D./Wingenfeld, K. (Hg.): Handbuch Pflegewissenschaft. Studienausgabe. Weinheim:
Juventa, 469-487.
Bury, M., 2009: Chronische Krankheit als biografischer Bruch, S. 75-90 in: D. Schaeffer (Hrsg.),
Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf. Bern: Hans Huber.
Bury, M., 2002: Sociological theory and chronic illness: current perspectives and debates. Österrei-
chische Zeitschrift für Soziologie 27: 7-22.
Charmaz, K., 2000: Experiencing chronic illness. S.277-292 in: G. Albrecht & S. Scrimshaw (Hrsg.),
Handbook of social studies in health and medicine. London: Sage.
Conrad, P., 1990: Qualitative research on chronic illness: a commentary on method and conceptual
development. Social Science & Medicine 30: 1257-1263.
Corbin, J.M. & A.L. Strauss, 2004: Weiterleben lernen – Verlauf und Bewältigung chronischer
Krankheit (Vol. 2., überar). Bern: Huber.
Corbin, J., B. Hildenbrand & D. Schaeffer, 2009: Das Trajektkonzept. S. 55-74 in: D. Schaeffer (Hrsg.),
Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf. Bern: Huber.
Coulter, A., 2012: Patient engagement – what works? The Journal of Ambulatory Care Management
35: 80-89.
Ewers, M., 2014: Pflege und Versorgung am Ende des Lebens. S. 561-580 in: D. Schaeffer & K. Win-
genfeld. Handbuch Pflegewissenschaft, Studienausgabe. Weinheim: Juventa.
Gallant, M.P., G.D. Spitze & T.R. Prohaska, 2007: Help or hindrance? How family and friends
influence chronic ollness self-management among older adults. Research on Aging 29: 375-409.
Gerson, E.M. & A.L. Strauss, 1975: Time for living: problems in chronic illness care. Social Policy
6: 12–18.
Haslbeck, J., 2010: Medikamente und chronische Krankheit. Selbstmanagementerfordernisse im
Krankheitsverlauf aus Sicht der Erkrankten. Bern: Huber.
Haslbeck, J. & D. Schaeffer, 2011: Selbstverantwortung im Gesundheitswesen, diskutiert am Medi-
kamentenmanagement aus Sicht chronisch kranker Patienten. Das Gesundheitswesen 73: 44-50.
16 Bewältigung chronischer Krankheit 255

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Gesunde Körper – Kranke Körper
Markus Schroer und Jessica Wilde
17
17 Gesunde Körper – Kranke Körper

Überblick
▶ Welche Körperbilder liegen den modernen Gesundheitsvorstellungen zu Grunde
und inwiefern prägen diese den Umgang des Individuums mit seinem Körper?
▶ Was ist das charakteristische Krankheitspanorama gegenwärtiger Gesellschaften
und wie lässt sich soziologisch erklären, dass das Individuum seinem Körper und
dessen Gesundheit immer mehr Bedeutung beimisst?
▶ Was ist unter Normalisierung von Gesundheit zu verstehen und wie hängt diese mit
der Produktion und Exklusion marginalisierter Körper zusammen?

1 Einleitung

Das folgende Kapitel fragt nach den Erkenntnissen der Körpersoziologie zum Thema
Gesundheit und Krankheit. Dabei zeigt sich, dass der Körper weit über den spezielleren
Bereich der Soziologie von Gesundheit und Krankheit hinaus thematisch wird und auf
vielfältigen Ebenen mit gesundheits- und krankheitsbezogenen Phänomenen verschränkt
ist. Von Körperbildern, denen historisch wandelbare Vorstellungen über Gesundheit und
Krankheit zu Grunde liegen, über gesundheitsbezogene Körperpraktiken in der Spät- bzw.
Postmoderne bis hin zu körperzentrierten Ausschlussprozeduren erweist sich der gesunde
oder kranke Körper als von gesellschaft lichen Bedeutungen und Wertungen durchzogen,
die analytisch aufgeschlüsselt werden.

2 Körper, Krankheit und Gesundheit im Wandel

Die Frage danach, was der Körper sei, wird von den Sozialwissenschaften mit dem Hinweis
auf die sozio-kulturelle Konstruiertheit dieser scheinbar natürlichen Entität beantwortet.

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_17, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
258 Markus Schroer und Jessica Wilde

Der Körper ist das, was in verschiedenen Zeitaltern, Gesellschaften und Kulturen jeweils
darunter verstanden wird (Schroer 2005: 25). Wie vor allem das Werk Michel Foucaults
gezeigt hat, ist der Körper kein natürlicher Fixpunkt, sondern hat eine Geschichte (siehe
auch Bittlingmayer in diesem Band). Diese historische und kulturelle Relativität bezieht sich
dabei nicht nur auf die verschiedenen Bedeutungen, die dem Körper in unterschiedlichen
Epochen jeweils zugeschrieben werden. Selbst als biologisch-physiologische Einheit unterliegt
der Körper historischen Transformationen, in dem er etwa Krankheitsresistenzen entwickelt
und auch wieder verliert (Sarasin 2001: 11). Ähnlich verhält es sich mit Krankheiten: Nicht
nur kann sich der kulturelle Bedeutungsgehalt einer jeweiligen Krankheit über die Jahre
hinweg ändern, wie Susan Sontag am Beispiel Krebs und Tuberkulose aufgezeigt hat (Sontag
1981). Krankheiten können auch zeit-, milieu- und gesellschaftstypisch auftreten, wie etwa
die Neurasthenie oder die Hysterie, oder – wie im Fall von Typhus oder Pocken – ihren
Status als gravierendes gesellschaftliches Problem verlieren, indem sie durch medizinische
Fortschritte nahezu zum Verschwinden gebracht werden.
Der körper- und der gesundheitssoziologische Blick treffen sich in der Einsicht, dass
körperliche Erkrankungen und körperliche Gesundheit nicht als rein biologische, natürliche
Tatsachen zu behandeln sind. Genauso wie unter Körper, wird auch unter Gesundheit und
Krankheit – selbst im Wissenschaftsbereich – in unterschiedlichen Epochen und soziokul-
turellen Kontexten jeweils unterschiedliches verstanden (Labisch 1992). Für die Fülle an
Krankheitsdefinitionen, die die Medizingeschichte hervorgebracht hat, lässt sich dabei eine
Korrelation mit dem Wandel von Körperbildern feststellen (Winau 1982). Krankheitskon-
zepte transportieren immer auch eine bestimmte Vorstellung vom Körper, sei es das Bild
vom Körper als (defekter) Maschine oder sei es das Bild vom Körper als eines komplexen
Systems, dessen Stabilität gefährdet ist, sollte es sein Verhältnis zur Umwelt nicht regulieren
können (Martin 1998). Mit der Herausbildung der modernen, naturwissenschaftlichen
Medizin geht dabei eine übergreifende Entwicklungslinie einher, die als eine Auflösung
der Einheit oder auch Verschwinden des Körpers beschrieben werden kann (Winau 1982:
294f.). Dem modernen Verständnis von Krankheit als Störung des Gewebes von Organen
gerät der Körper aus dem Blickfeld: „[K]rank wird nicht mehr der ganze Körper, sondern
krank wird nur noch ein Organ.“ (Winau 1982: 294) Der mit der Anatomie beginnende
grenzauflösende Blick ins Körperinnere findet seine Fortsetzung in der Zellpathologie
und schließlich in der Molekularbiologie, die Krankheiten in immer kleineren Einheiten
(Zellen, Chromosomen) lokalisieren. Für das moderne Körper- und Krankheitskonzept
existiert der kranke Körper im Grunde nicht, es gibt nur noch kranke Zellen oder defekte
Gene in einem ansonsten gesunden Körper (Winau 1982: 295).
Die moderne naturwissenschaftliche Medizin führte aber noch auf andere Weise zu
einem Verschwinden des Körpers. Zwar richtet sich der klinische Blick des Arztes auf den
Körper als Sitz der Krankheit (Foucault 1993), doch in der Definition der Krankheit als
weitgehend körperliches, natürliches Phänomen löst sich der Zusammenhang von Körper
und Selbst auf: Der Körper wird von der Person des Patienten, sein kranker Körper von
seinem sozialen Körper getrennt (Rittner 1982: 40f.). Die Trennung von Körper und Person
in der medizinischen „Konstruktion des ‚Nur-Körpers‘“ (ebd.: 41) entspricht dabei dem Ver-
17 Gesunde Körper – Kranke Körper 259

hältnis, das der moderne Mensch generell zu seinem Körper einnimmt: Die rationalisierte,
zivilisierte Gesellschaft ruht auf einer allgemeinen Distanzierung der modernen Subjekte
ihrem Körper gegenüber, die die Marginalisierung oder auch Ruhigstellung des Körpers in
einer sich modernisierenden Gesellschaft als Idealfall ansieht. Körperliche Affekte müssen
unterdrückt und kontrolliert, das Selbst von lästigen körperlichen Regungen fern gehalten
werden, da sie einen Störfaktor im Interaktionsablauf darstellen. Dieses instrumentelle
Verhältnis dem Körper gegenüber wirkt sich auch auf das Gesundheitsbewusstsein aus:
„Im Krankheitsfall wird der Körper abgegeben wie das Auto in der Werkstatt“ (ebd.: 42).
Der Patient „wird zum Ignorant gegenüber seinem eigenen Körper, den er (…) nur noch in
Termini eines defekten Mechanismus begreifen kann: als lästiges Nicht-Funktionieren, als
ein ärgerliches Aussetzen“ (ebd.: 42), das dem modernen Menschen schmerzlich bewusst
macht, das sein Körper eben doch nicht durchgehend als schweigsame, unproblematisch
gegebene Grundlage seines Handelns verfügbar gemacht werden kann.
Dieser Haltung auf Seiten der Kranken korrespondiert auf ärztlicher Seite eine Um-
gangsweise mit dem Patienten, die dem nahekommt, was Erving Goffman als eine „‚Unper-
sonen‘-Behandlung“ (Goffman 2009: 97) beschrieben hat. Patienten fühlen sich zuweilen
behandelt, „als seien sie überhaupt nicht da, als Objekte, die keines Blickes würdig sind“
(ebd.). Ärzte haben nicht das mit dem kranken Körper untrennbar zusammenhängende
Selbst im Blick, sondern richten ihre Aufmerksamkeit auf die Krankenakte, die den Pa-
tienten auf Formeln wie etwa „die Niere auf Zimmer 3“ oder „der Tumor auf Station 2“
reduziert. Doch was von Patienten als verletzende Gleichgültigkeit empfunden werden
kann, ist für die Interaktion durchaus von funktionalem Wert, erlaubt doch die Tren-
nung von Körper und Selbst beiden Seiten, die sonst mit dem sozial kodierten Körper
verbundenen Scham- und Peinlichkeitsgefühle zu unterdrücken. Goffman schärft den
Blick für die interaktionsstrukturellen Probleme, die etwa bei der ärztlichen Berührung
des nackten Körpers oder gynäkologischen Untersuchungen auftreten – Interaktionen,
die nur spannungsfrei funktionieren können, wenn der Arzt in der Lage ist und auch das
Recht hat, den Körper unter natürlichen und nicht sozialen Vorzeichen zu behandeln,
und wenn der Patient gelernt hat, wie man sich als bloßer Körper verhält (Goffman 1980:
46ff.). Diese dem Patienten abgeforderte Minimierung des Selbst stellt dabei keine geringe
Leistung dar, werden wir doch gerade im Krankheitsfall und in der Erfahrung von Schmerz
schlagartig auf unsere Leibhaftigkeit zurückgeworfen und dadurch daran erinnert, dass
wir – leibphänomenologisch gesprochen – nicht nur Körper haben, sondern auch Körper
sind, dass also die Person nicht ohne weiteres vom Körper abgekoppelt werden kann.
Die Geschichte der Körper- und Krankheitsbilder hat aber auch ganzheitliche Konzepte
von Gesundheit aufzuweisen, die Zweifel an der Gültigkeit der cartesianischen Trennung
zwischen Körper und Geist artikulieren. In ganzheitlichen Konzeptionen rücken die Indi-
viduen als psychosomatische Subjekte in den Blick (Greco 1993), die in einem komplexen
Austauschverhältnis mit ihrer Umwelt stehen. Bei Gesundheit und Krankheit handelt es sich
nach diesem Modell nicht um rein physiologische Zustände eines individuellen Körpers.
Vielmehr erstreckt sich Gesundheit als eine Art „generalisierter Code“ (Brunnett 2013:
164) auf sämtliche Lebensbereiche, von Arbeit über Familie, Wohnen und Freizeit bis hin
260 Markus Schroer und Jessica Wilde

zu Nahrung und Kleidung, die alle daraufhin befragt werden können, inwiefern sie für das
psychosomatische Subjekt krankmachende Stoffe oder Stressoren bereithalten. Gesundheit
zieht als Thema in den Alltag ein, wird weit über die engen Bereiche von Gesundheits-
politik und Medizin hinaus zum gesellschaftlichen Gesprächsstoff in Familien, sozialen
Netzwerken und Medien und übersetzt sich in ein breites Panorama von körperbezogenen
Praktiken: Körper werden im Namen ganzheitlicher Gesundheit hygienisch gepflegt, in
Bewegung gehalten, trainiert, entspannt, ausgewogen ernährt und mit ausreichendem und
erholsamen Schlaf versorgt.
Zentrales Schlagwort dieser „neuen Kultur der Gesundheit“ (Brunnett 2006, Martin
1998) ist neben Ganzheitlichkeit das der Selbstverantwortung. Bereits mit Anbruch der
Moderne galt Gesundheit als eine in der Verantwortung des Subjekts liegende Angelegenheit:
Das moderne Individuum hatte es durch Einhalten hygienischer Standards selbst in der
Hand, Krankheiten abzuwehren (Sarasin 2011: 19). Der gesunde Körper wird im Zuge des
Rationalisierungsprozesses nicht länger als gottgewolltes Fatum hingenommen, sondern
zu einer Sache der Gestaltung, zu einem durch rationale, diätetische Lebensführung er-
langbarem Gut. In Folge einer fortschreitenden „Individualisierung des Körpers“ (Schroer
2005: 17) muss sich das Individuum seiner Gesundheit und seines Körpers zunehmend
selbst annehmen. Körperbezogene Selbsttechnologien wie Wellness oder Fitnesstraining
(Duttweiler 2003), körperliche „Do-It-Yourself-Aktivitäten“ (Bauman 1995: 229) wie Joggen
oder Diäten ersetzen nun den panoptischen Drill, dem die Körper in den Foucaultschen
Disziplinarinstitutionen noch ausgesetzt waren (Bauman 1995: 229). Die Disziplinartech-
nologien des 19. und 20. Jahrhunderts richten sich auf den Körper als Träger ansteckender
Krankheiten, der räumlich isoliert, überwacht und kontrolliert werden muss, um die
Vermischung mit den gesunden Bevölkerungsanteilen zu unterbinden (Foucault 2009:
36f.). Als „gefährliche Körper“ (Schroer 2005: 39) stellen die Kranken eine Bedrohung der
sozialen Ordnung dar, auf die die Disziplinarmacht mit der Einrichtung von „Einschlie-
ßungsmilieus“ (Deleuze 1993: 255) wie dem Krankenhaus oder der psychiatrischen Anstalt
antwortet (siehe auch Bittlingmayer in diesem Band).
Mit dem viel beschworenen Ende der Disziplinargesellschaft (Deleuze 1993) kommt
es jedoch zu einer Verschiebung in den Machttechnologien: Fremdkontrolle wird zur
Selbstkontrolle, die Sorge um sich wird zu einer alltäglichen Sorge um den eigenen Körper.
Das biopolitische Gebot, die Gesundheit der gesamten Bevölkerung zu stärken (Foucault
2009) und die Notwendigkeit der Disziplinierung der Kranken durch sozialmedizinische
Institutionen wie die Familie oder die Klinik (Foucault 2003a) wird nun ergänzt um die
Betonung einer auf das Individuum übergegangenen Pflicht, gesund zu sein (Greco 1993).
Dieser Aufgabe kommt das Individuum durch ein breites Repertoire an Körperpraktiken
nach, die alle darauf abzielen, die Fitness des Körpers zu stärken – von der morgendlichen
Yoga-Übung, über den Einkauf im Biosupermarkt bis hin zum abendlichen Entspannungs-
tee. Ging es der Disziplin um die Abwehr der Gefahr, die der kranke Körper darstellte,
geht es im neuen Körperregime darum, die Abwehrkräfte und die Resilienz der Körper
zu stärken (Bröckling 2012). Nicht mehr der Umgang mit dem kranken Körper wird zum
17 Gesunde Körper – Kranke Körper 261

Gegenstand von Machttechnologien, sondern die Fähigkeit der Körper, gar nicht erst krank
werden und zum Arzt gehen zu müssen.
Der individualisierte, aus dem disziplinierenden Zugriff der Medizin entlassene Körper
darf dabei aber nicht als befreiter, glücklicherer Körper missverstanden werden. Vielmehr
sind die in den vielen Ratgebern und Magazinen enthaltenen Wissensbestände rund um
das Thema Gesundheit und Fitness als neue „Kontrollformen mit freiheitlichem Ausse-
hen“ (Deleuze 1993: 255) zu betrachten, die das Individuum nach wie vor in ein normativ
durchsetztes, machtgestütztes Verhältnis zu seinem Körper setzten. Selbstverantwortung
ist zudem ein zutiefst ambivalentes Unterfangen, impliziert sie doch, dass es sich bei
Krankheit um ein individuelles Versagen und Verschulden handelt. Der kranke Körper
ist einer, in den nicht genug investiert, an dem nicht genug gearbeitet wurde und dessen
Besitzer nicht genug Willensstärke oder Gesundheitsbewusstsein bewiesen hat. Dies hat
zur Folge, dass die gesellschaftlichen, strukturell bedingten Ursachen psychosomatischer
Leiden nicht mehr als solche erkannt und infolgedessen kollektiv bearbeitet werden können
(Bauman 1997: 190f.).

3 Der flexible Fitnesskörper und das ausgebrannte Selbst –


Gesundheit im Namen der Anpassung

Entgegen der These von der zunehmenden Irrelevanz des Körpers in der modernen Ge-
sellschaft haben wir es gegenwärtig – analog zur Herausbildung einer neuen Kultur der
Gesundheit – mit einem Bedeutungszuwachs des Körpers zu tun, der sich gesellschafts-
theoretisch herleiten lässt. Körper- und Gesundheitskult scheinen nicht nur zusammen-
zuhängen, sondern auch auf dieselben gesellschaftstrukturellen Ursachen zurückzugehen:
Mit dem Übergang zur postindustriellen oder auch spätmodernen Gesellschaft wird der
Körper als Arbeitskraft freigesetzt, um in den Bereichen Freizeit und Konsum neue Be-
deutung zu erlangen. Gefragt ist nicht mehr der „Arbeitskörper der Industriegesellschaft“,
sondern der „Fitnesskörper der Mediengesellschaft“ (Klein 2010: 459), der durch Sport und
Bewegung die krankmachende „Körperruhigstellung“ (ebd.: 459) auszugleichen vermag,
die den Berufsalltag in der Informations- und Kommunikationsgesellschaft prägt. Für
das solchermaßen freigesetzte Individuum rückt der Identitätsaufbau mehr denn je ins
Zentrum der Bemühungen (Bauman 1995: 229ff.). Der Körper gilt als Aushängeschild, als
„Visitenkarte des Selbst“ (Klein 2010: 459) und wird umso mehr gepflegt und umsorgt,
je mehr er zur Darstellung der Persönlichkeit genutzt wird. Dabei fallen wir bei unserer
Identitätsarbeit vor allem deshalb auf unseren Körper zurück, weil er in Zeiten der Verflüs-
sigung althergebrachter Zugehörigkeiten noch ein „sichtbares Moment von Kontinuität“
darstellt (Bauman 1995: 229). In einer fragmentierten, kontingenten und pluralisierten Welt
ist der Körper der scheinbar letztverbleibende „konstante Faktor unter den proteischen
und unberechenbaren Identitäten“ (ebd.) und wird somit zur Einheitschiffre in einer sich
zunehmend differenzierenden Gesellschaft. Die „Kultivierung des Körpers“ (ebd.) – dar-
unter auch die obsessive, fast schon ängstliche Aufmerksamkeit gegenüber allem, was dem
262 Markus Schroer und Jessica Wilde

Körper schaden oder krank machen könnte – lässt sich somit identitätstheoretisch erklären:
Je höher die Bedeutung des Körpers für unsere Selbstkonstitution, desto mehr achten wir
auf seine Gesundheit, versuchen wir ihn zu verschönern, fit zu halten, zu verschlanken
und am Altern zu hindern. Doch diese Arbeit am Körper, die zugleich auch ein Kampf
gegen den Körper ist (Schroer 2005: 34), ist letztlich zum Scheitern verurteilt und kann
sogar selbstzerstörerische Züge annehmen, wie etwa im Fall von Essstörungen (Gugutzer
2005). Fitness, genauso wie der Identitätsaufbau, bleibt ein unabschließbarer, permanent
zu bewerkstelligender Prozess und somit als Ziel unerreichbar (Bauman 1997: 190f).
Fitness ist dabei ein Kernelement in der gegenwärtigen Codierung von Gesundheit.
Fitness bedeutet, den Körper in „in Aufnahme- und Reizbereitschaft“ zu halten (Bauman
1997: 188), „nicht einzurosten“, nicht „zu erschöpfen“ (ebd.: 184). Lustlosigkeit, Apathie
und Depression – verstanden als Unfähigkeit auf Reize zu reagieren (ebd.: 188) – rücken
damit verstärkt in das Krankheitsprofil spätmoderner Individuen ein. Sie sind sympto-
matisch für einen vielfach diagnostizierten „Wandel des Krankheitspanoramas“ (Rittner
1982: 45), der sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat: Wurden mit der Entdeckung
von Antibiotika die klassischen Infraktionskrankheiten nahe völlig verdrängt, treten nun
psychosomatische Krankheiten in den Vordergrund, die auf das Problem einer Überbean-
spruchung des Organismus durch die gesellschaftlichen Verhältnisse verweisen (ebd.: 45).
Das 21. Jahrhundert ist demnach nicht länger ein bakterielles, noch ein virales, sondern ein
neuronal bestimmtes Zeitalter, in dem Krankheiten wie Burnout oder ADHS die Skala der
zeittypischen pathologischen Phänomene anführen (Han 2010: 7). Fitness wird in diesem
Zusammenhang zur ultimativen Prophylaxe gegen Krankheit, da der durchtrainierte, hin
und wieder mit Wellness-Entspannungskuren versorgte Körper besser in der Lage ist,
Belastungen auszuhalten.
Spuren dieses neuen Verständnisses von Gesundheit als Belastbarkeit der Individuen
finden sich in so unterschiedlichen zeitdiagnostischen Bezügen wie der Rede von der
„Streß-Gesellschaft“ (Rittner 1982: 47), der „Müdigkeitsgesellschaft“ (Han 2010), dem
„erschöpften Selbst“ (Ehrenberg 2008) oder dem „flexiblen Menschen“ (Opitz 2010).
Ursächlich angeführt werden hier die allgemeine Beschleunigung gesellschaftlicher
Abläufe sowie die Subjektivierung und Flexibilisierung von Arbeit im gegenwärtigen
Kapitalismus, der den Subjekten Anpassungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft unter
Einsatz der ganzen Person abfordert. In der krank machenden Leistungsgesellschaft haben
Fitnessstudios und Bürotürme das Spital und das Gefängnis aus Foucaults Disziplinarge-
sellschaft abgelöst. Nicht mehr das disziplinargesellschaftliche „Nicht-Dürfen“, sondern
das leistungsgesellschaftliche „entgrenzte Können“ ist das Gebot der Stunde (Han 2010:
20). Die Kehrseite einer solchen Aktivgesellschaft ist eine breit gestreute „Schaffens- und
Könnensmüdigkeit“ (Han 2010: 23), deren Ursachen und psychosomatische Symptomatik
Gegenstand aktueller medizinisch-psychologischer Debatten ist. Vor allem die sogenannte
„Volkskrankheit“ Burnout ist in den letzten Jahren zu einem medienwirksam inszenierten
gesundheitsbezogenen Thema avanciert (Brunnett 2013, Kury 2012, Neckel & Wagner 2013).
Folgt man der International Classification of Diseases (www.icd-code.de), handelt es sich
bei Burnout unter anderem um einen „Zustand totaler Erschöpfung“, der mit „Stress“,
17 Gesunde Körper – Kranke Körper 263

„[k]örperliche[r] oder psychische[r] Belastung“ und „Mangel an Entspannung oder Freizeit“


zusammenhängt und insgesamt in die Kategorie „Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten
bei der Lebensführung“ eingeordnet wird. Von soziologischer Seite aus wird vor allem die
Zeitgebundenheit von Burnout betont, das in dieser Hinsicht gleichsam die Nachfolge der für
das 19. und frühe 20. Jahrhundert als typisch erachteten Neurasthenie antritt (Kury 2012).
Bei Burnout und Erschöpfung handelt es sich jedoch nicht nur um gesellschaftlich
induzierte „psychische Infarkte“ (Han 2010: 22). Auch der Körper spielt eine zentrale Rolle
in Zeiten der Flexibilisierung von Arbeit und Leben (Opitz 2010: 143). Der Körper des
flexiblen Menschen ist ein „Objekt der Optimierung“, der durch präventive Strategien,
Wellness und Fitness-Training „gegen einen immer drohenden somatischen Leistungsabfall“
immunisiert werden muss, um „Phasen der Inaktivität“, wie sie etwa im Krankheitsfalle
eintreten, „unbedingt zu vermeiden“ (ebd.: 143). Der „gut trainierte Körper mit ausreichen
Spannkraft“ (ebd.) wird zum „physisch sichtbaren Ausweis von Flexibilitätsgeist“ (ebd.)
und somit zum Inklusionsfaktor, gelten doch Gesundheit und Fitness als Ausweis von Em-
ployability – eine Kategorie, aus der dann alle übergewichtigen, alten und unbeweglichen
Körper herausfallen (ebd.). Im Falle von Burnout und anderen psychosomatischen Leiden
führt die Erkrankung an der Gesellschaft jedoch nicht zu einer Kritik dieser pathogenen
Verhältnisse. Die Lebensentwürfe der Gegenwart folgen vielmehr auch hier einer „Ideologie
der Eigenverantwortung“ (Neckel & Wagner 2013: 8). Es liegt in der Pflicht des flexiblen
Menschen, durch „Selbsttechniken der Erschöpfungsvermeidung“ (ebd.) den Körper vor
dem Ausbrennen zu bewahren. Die allgemeine Schaffensmüdigkeit wird dann nicht den
gesellschaftlichen Verhältnissen angelastet, sondern als „nicht-schaffen-Können“ (Brun-
nett 2013: 172) auf die Schwäche des eigenen, verkörperten Selbst zurückgeführt, was den
Leidensdruck noch weiter erhöht.
Welche Körperbilder, welche Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit zeichnen sich
in der Diagnose eines gesellschaftlich grassierenden Ausbrennens körperlich-psychischer
Energien ab? Körpersoziologisch von Interesse ist hier vor allem die Feststellung eines
Umbruchs in der Körpermetaphorik, der mit einem Wandel von Gesundheitsvorstellun-
gen einhergeht (Martin 1998). Die dem industriellen Maschinenzeitalter angehörende
Bildsprache vom „Körper als Maschine“ wird überlagert von einem „neuen Modell des
im steten Wandel und dauernder Anpassung begriffenen Körpers“ (ebd.: 522), der sich in
einem empfindlichen Verhältnis zu seiner Umwelt befindet. In einer ständig sich wan-
delnden, chaotischen Umwelt ist es nicht der Körper mit „maschinenähnliche[r] Solidität
und Massivität“, der gesund bleibt, sondern der „flexible Körper“ (ebd.: 521f.), der fluide
und wandelbar ist und auf Umweltreize zu reagieren vermag. Gesundheitsvorstellungen
kreisen um das Schlanke und Agile (ebd.: 522), um „flinke Männer und Frauen mit re-
aktionstüchtigen Immunsystemen und unverwüstlichen Persönlichkeiten“ (ebd.: 523).
Galt ehemals der gesunde Körper als ein mit sich selbst identischer Körper, der im
Krankheitsfalle von einem „Identitäts- und Integritätsverlust“ bedroht war (Lenzen 2010:
885) und daher möglichst schnell wieder in seinen normalen Ausgangszustand zurückzu-
versetzen war, zeichnet sich hier ein Gesundheitsverständnis ab, das es dem Körper erlaubt,
eine „veränderliche und formbare Identität zu haben.“ (Martin 1998: 519) Gesundheit wird
264 Markus Schroer und Jessica Wilde

umgepolt von Stabilität und Regelmäßigkeit (an denen man noch das normale Funktionieren
einer „gesunden“ Maschine erkennen konnte) auf Bewegung und dynamischen Wandel.
Dem Körper werden Eigenschaften abgefordert, die der flexible Kapitalismus auch seinen
Subjekten abfordert: Die Bereitschaft, innerhalb kurzer Zeiträume sich auf andere Orte
und Arbeitsplätze einzulassen, soziale Bindungen möglichst unverbindlich zu gestalten,
um jeder Zeit auf Abruf zur Verfügung stehen zu können. Analog dazu ist der gesunde
Körper derjenige, der es schafft, auf Invarianzen und Turbulenzen flexibel zu reagieren
und sich den veränderten Umständen durch Reorganisation anzupassen. Körper- und Ge-
sundheitsvorstellungen greifen hier mit den Identitätsvorstellungen einer postmodernen,
individualisierten Gesellschaft ineinander, die den Akzent auf Identitätsentwürfe legt, die
nicht mehr zwangsweise dem Gebot der Kontinuität und Kohärenz gehorchen.

4 Der normale und der pathologische Körper –


Über Normalisierung und Exklusion

Im Anschluss an zentrale Gedanken im Werk von Michel Foucault schreibt Philipp Sarasin
(2001: 16), dass „die härtesten Differenzdiskurse in der Moderne ihren Ausgangspunkt
immer beim Körper [nehmen]“. Eine körpersoziologische Betrachtung von Gesundheit und
Krankheit muss sich daher auch immer die Frage nach den Ausschlusspraktiken stellen,
die mit der Definition normaler, gesunder Körper einhergehen. Das Werk Foucaults steht
dabei wie kein anderes für eine machtkritische Analyse der Exklusionsmechanismen, die
über den Körper organisiert werden. Die moderne Herrschaftsform ist die einer „Somokra-
tie“, „für die die Pflege des Körpers, die körperliche Gesundheit, die Beziehung zwischen
Krankheit und Gesundheit (…) zu den Zielsetzungen des staatlichen Eingreifens gehört.“
(Foucault 2003b: 58) Kranke Körper werden im Rahmen dieser Regierungsprogrammatik
in der Disziplinarinstitution des Krankenhauses kontrolliert und überwacht und die Be-
völkerung zum Gegenstand einer „medizinische[n] Polizei“ (Foucault 2009: 91) gemacht,
die aktiv in die Lebensprozesse des Gesellschaftskörpers eingreift, um dessen Gesundheit
zu erhalten und im Niveau zu heben (Foucault 2003a: 23f., 2009: 87ff.).
Foucaults Pointe ist nun gerade, dass man diese Eingriffe im Namen der Gesundheit
missverstehen würde, beschriebe man sie als Ausdruck einer humanistisch gesinnten
Haltung dem menschlichen Individuum gegenüber. Sein machtkritischer Blick auf die
Klinik (Foucault 1993) richtet sich vielmehr auf die aus der medizinischen Grenzziehung
zwischen dem gesunden und dem kranken Körper hervorgehenden marginalisierten Körper,
die als das Andere, das Deviante aus dem Gesellschaftskörper ausgeschlossen werden. Die
von der medizinischen Grenzziehung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen
ausgehende Machtwirkung besteht darin, „die Anormalen“ (Foucault 2008) und mit ihnen
ihre Korrekturbedürftigkeit überhaupt erst diskursiv zu erzeugen. Die moderne Medizin
ist dabei mit Vehemenz um eine klar gezogene Linie zwischen dem Normalen und dem
Pathologischen bemüht (Bauman 1997: 189). Die Unterscheidung sucht sie als statistischen
Durchschnitt zu errechnen und als Norm zu verkünden, die in Folge jede Eigentümlichkeit,
17 Gesunde Körper – Kranke Körper 265

die außerhalb der festgesetzten Normalitätsgrenzen liegt, als Abnormalität erscheinen lässt
(Bauman 1997: 191, Link 2006: 52f.). Bei medizinischem Wissen handelt es sich somit um
ein normativ durchsetztes Macht-Wissen im Sinne einer Normalisierungstechnologie, die
ausgehend von einer anfänglich gesetzten Norm das Normale und Anormale überhaupt
erst zu kennzeichnen in der Lage ist (Foucault 2009: 88ff.). In der Folge zielt die Norma-
lisierungsstrategie darauf ab, das Anormale dem normativen Modell anzugleichen oder,
sollte dieser Versuch fehlschlagen, es aus der Gesellschaft auszusondern.
Die mit der Medikalisierung einhergehende Normalisierung lässt das Gesundheits- und
Körperverständnis nicht unberührt. In Gesundheitsvorstellungen sind unausweichlich
immer auch normative Aspekte enthalten (Labisch 1992: 16), genauso wie die „Normali-
tät des Körpers (…) unmerklich in eine Normativität, eine Wertbezogenheit des Körper
über[geht]“ (ebd.). Beispiele für diese machtgestützte Produktion „normaler“ Körper sind
vielfältig. Insgesamt ließe sich der westliche, angloamerikanische, junge Mann anführen,
der – „normal im Gewicht und mit Erfolgen im Sport“ (Goffman 1975: 158) – die herrschende
Körper- und Identitätsnorm darstellt, der gegenüber sich jeder (und jede) augenblicksweise
für „unvollkommen“ oder „inferior“ halten muss (ebd.: 158). Gesundheit kann mithin ge-
nauso wie Schönheit, Jugendlichkeit und Sportlichkeit zur Identitätsnorm werden, die bei
Nicht-Erreichen Stigmatisierungsprozesse nach sich zieht. In der Konstruktion des normalen
Körpers überschneidet sich also die Kategorie Gesundheit mit einem breiten Spektrum an
sozialen Kategorien wie Klasse, Geschlecht oder Ethnizität. Für erstere Kategorie bietet
die Stadtforschung anschauliche Beispiele, galten doch die dicht besiedelten, ärmeren
Viertel der Städte im 18. und 19. Jahrhunderts als Brutstätten nicht nur von Verbrechen
und Lasterhaftigkeit, sondern auch von Krankheiten (Lindner 2004). Seuchenherd und
Sündenpfuhl wurden in der kollektiven Imagination gleichgesetzt, wobei es der bourgeoise
Körper war, der von der Angst vor der kontaminierenden Berührung mit dem „vulgäre[n]
Körper“ (Lindner 2004: 26) besonders affiziert war.
Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Ethnizität wurde vielfach am Beispiel der
Immigration in die USA Anfang des 20. Jahrhunderts aufgezeigt (Lüthi 2009). Wie Lüthi
an der ärztlichen Screening-Praxis auf Ellis Island aufzeigen konnte, ging die vordergrün-
dig auf klinischen Kriterien basierende Selektion von gesunden/kranken new immigrants
mit einem Normierungsprozess einher, der – ausgehend vom Modell des männlichen,
weißen, amerikanischen Körpers – den Migranten als den anderen, inferioren Körper
erscheinen ließ (Lüthi 2009: 97f). Die Körper der Migranten waren in den populären Be-
drohungsphantasien somit nicht nur Träger von Krankheiten wie Typhus, Cholera oder
Polio, sondern sie waren auch anormale, marginalisierte Körper. Als „invading bodies“
wurden sie als eine Gefahr für den Gesellschaftskörper und die Nation wahrgenommen
(Lüthi 2009: 22). Die Angst vor dem mobilen kranken Körper, der in das Körperinnere der
Gesellschaft einzudringen versucht, ist dabei keinesfalls ein Relikt moderner Ängste vor
dem Fremden. Wie man nicht zuletzt am jüngsten Ausbruch von Ebola im vergangenen
Jahr sehen konnte, ist der riskante Körper in Bewegung immer noch Anlass kollektiver
Ängste, die sich in politisch-rechtlichen Sicherheitsregimen niederschlagen (Bröckling
2012). Die Ärzte auf Ellis Island sind nun allerdings ersetzt worden durch Sicherheitstech-
266 Markus Schroer und Jessica Wilde

nologien wie das Thermo-Screening, das an den Flughäfen den menschlichen Verkehr an
der Außengrenze des Gesellschaftskörpers bewacht.
Bietet Ellis Island ein Beispiel dafür, wie sich die medikalisierte Sicht auf den Körper
mit rassistischen Elementen verschränken kann, handelt es sich bei den gegenwärtigen
biomedizinischen Praktiken und Diskursen um eine eugenische Normalisierungsstrate-
gie (Junge 2007). Im Zuge biomedizinischer Fortschritte ist der gesunde Körper auch auf
der molekularbiologischen Ebene gestaltbar geworden. Die Verantwortung für die eigene
Gesundheit erstreckt sich nun auch auf die Verantwortung für zukünftige Generationen.
Durch „normalitätsproduzierende Technologien“ (ebd.: 173) wie der pränatalen Diagnos-
tik oder der humangenetischen Beratung trägt die Medizin dazu bei, neue Definitionen
von Anomalien und „unerwünschten Körpern“ zu produzieren. Die eugenische Vision
dieses neuen Normalisierungsprinzips, das „Heilung mit Verhinderung“ verbindet, ist
die „nichtbehinderte und gesunde Bevölkerung“ genauso wie der „reine und makellose
Körper“ (ebd.: 172).
Was lässt sich aus Foucaults Kritik an Normalisierungstechniken in Bezug auf das
Thema Gesundheit und Krankheit lernen? In seiner Konzeption von Normalisierung als
einer Technik mit produktiven Machtwirkungen bezieht sich Foucault auf einen Klassiker
der Medizingeschichte: auf den Text „Das Normale und das Pathologische“ des Wissen-
schaftsphilosophen Georges Canguilhem (Foucault 2008: 71f.). Von Canguilhem übernimmt
Foucault die Doppeldeutigkeit des Begriffs normal, der sich neben der üblichen Vorstellung
eines Durchschnittswertes auch auf eine Norm im Sinne eines Bewertungsprinzips bezieht
(Canguilhem 2009: 282). Und ganz ähnlich wie Foucault wendet sich Canguilhem gegen
die mit dem Begriff des Normalen einhergehende Vorstellung einer „vollkommenen Form“
(Canguilhem 2009: 282), der jede Abweichung nur als „Fehler“, „Defekt“ oder „Unrein-
heit“ (ebd.: 284) gelten kann. Wie auch die um eine Relativierung des Normalen bemühte
Soziologie (z. B. Goffman 1975: 160ff.), entkleidet er die Anomalie der ihr zugeschriebenen
Pathologie: Als lebendige Form kommt ihr wie alle anderen Formen auch ein vitaler Wert
zu und verdient daher unsere Anerkennung im breiten Panorama diverser Lebensformen.
In den Worten Canguilhems: „Alle lebendigen Formen sind „normalisierte Monstren“.“
(ebd.: 292) Das Anormale ist nicht die Abwesenheit von Normen, ist somit auch keine
Bedrohung der Ordnung, sondern lediglich eine andere Ordnung, die Anwesenheit an-
derer Normen (ebd.: 303). Aus Canguilhems Argumentation lässt sich somit ein Plädoyer
gewinnen für die Anerkennung von Alterität in Form jener marginalisierten Körper, der
die Gesellschaft mit Angst und Argwohn begegnet. Dieses Plädoyer richtet Canguilhem
auch an seine eigene Zunft: Mediziner müssen zu unterscheiden lernen zwischen der (an
sich normalen) Anomalie und der pathologischen Krankheit, die tatsächlich Gesundheit
und Leben bedroht. In allgemeinerer Hinsicht erlaubt uns Canguilhems Richtschnur, die
vielen Vorstellungen über Gesundheit und Krankheit kritisch auf die darin eingelassenen
soziokulturellen Wertvorstellungen hin zu befragen, die sich immer auch in Verkörpe-
rungsprozessen niederschlagen.
17 Gesunde Körper – Kranke Körper 267

5 Schlussfolgerungen

Wie das Kapitel zeigen konnte, werden die Themen Gesundheit und Krankheit im Rah-
men körpersoziologischer Erkenntnis und Fragestellungen weit über die Soziologie von
Gesundheit und Krankheit hinaus beschreibbar. Vor allem die für die Körpersoziologie
relevante gesellschaftstheoretische Fokussierung gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen
ermöglicht es, Erklärungen für gegenwärtige Gesundheitsvorstellungen anzubieten, die
am Körper bzw. den diversen Körperpraktiken ablesbar sind. Gesundheit und Krankheit
sind somit immer auch als verkörpert zu begreifen und analysieren.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Vorstellungen über Körper, Gesundheit und Krankheit sind soziokulturell und
historisch variabel und müssen in ihrer sozialen Konstruiertheit betrachtet werden.
▶ Das Körperbild der modernen Medizin und das Körperverhältnis moderner Sub-
jekte verhalten sich analog zueinander: Körper werden im Zuge fortschreitender
Rationalisierung und Zivilisierung als ein von der Person abgetrennter Gegenstand
begriffen, der unterdrückt, gesteuert, manipuliert werden kann.
▶ Mit dem Übergang zur postindustriellen Gesellschaft nehmen die individualisierten
Subjekte ein neues Verhältnis ihrem Körper gegenüber ein: Körperpraktiken stehen
im Zeichen der Identitätsarbeit sowie einer neuen Kultur der Gesundheit, die den
Akzent auf körperbezogene Selbsttechnologien legt.
▶ Psychosomatische Krankheiten wie zum Beispiel Depression sind die Signatur der
Gegenwartsgesellschaft und gehen mit einem Wandel der Körper- und Gesundheits-
vorstellungen einher: Gesund ist der wandelbare, resiliente und anpassungsfähige
Körper, der im flexiblen Kapitalismus zum Inklusionsfaktor wird.
▶ Die medizinische Grenzziehung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen
führt in der modernen Gesellschaft zur Produktion und Exklusion von marginalisier-
ten, „anormalen“ Körpern. Medikalisierungsprozesse sind daher eine Form der Nor-
malisierung, in der sich Gesundheit mit Achsen sozialer Ungleichheit überschneidet.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Inwiefern kann man von kranken und gesunden Körpern als sozialen Konstruktionen
sprechen? Handelt es sich hierbei nicht um natürliche Gegebenheiten?
▶ Was hat der neue Körper- und Gesundheitskult mit Identität zu tun?
268 Markus Schroer und Jessica Wilde

▶ Warum führt das psychosomatische Leiden der Individuen an den gesellschaftlichen


Verhältnissen nicht zu einer Kritik dieser Verhältnisse?
▶ Wenn in der Definition des normalen und gesunden Körpers immer auch soziale
Differenzen eine Rolle spielen, was sind dann aktuell vorherrschende Körperbilder
und wen schließen sie aus?

Leseempfehlungen

t Lupton, D., 1994: Medicine as culture. Illness, disease and the body in western societies.
London u. a.: Sage Publications.
Das Buch widmet sich einer genuin soziokulturellen Perspektive auf medizinisches Wissen
und macht den Konstruktionscharakter von Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen
deutlich.

t Mol, A., 2002: The body multiple. Ontology in medical practice. Durham: Duke Uni-
versity Press.
Bei diesem Buch handelt es sich um eine ethnografische Studie im Umkreis von Science
Studies und Akteur-Netzwerk-Theorie, die sowohl Krankheit als auch Körper ihres Status
als scheinbar objektive Gegebenheiten entkleidet, indem sie sie als vielfach vermittelte
und artikulierte Entitäten beschreibt, die beim Durchlaufen der institutionellen Abläufe
im Krankenhaus eine ständige Transformation erfahren.

t Rose, N., 2007: Politics of life itself. Biomedicine, power, and subjectivity in the twenty-
first century. Princeton: Princeton University Press.
Der Band bietet in Anknüpfung an gegenwärtig aktuelle Diskurse über Biomacht und
Biopolitik eine kritische Diskussion der jüngsten Entwicklungen im Feld der Molekular-
biologie, unter anderem im Hinblick auf das sich unter biomedizinischem Vorzeichen
wandelnde Verständnis von Krankheit und Körper.

t Turner, B., 1996: The body and society. Explorations in social theory. London u. a.: Sage
Publications.
Der Band bietet eine körpersoziologische Thematisierung von Krankheit, indem er den
kranken Körper unter sozialtheoretischem Vorzeichen als Störung der sozialen Ordnung
begreift und Krankheiten als jeweils epochen- und gesellschaftstypische Artikulationen
gesellschaftlicher Krisen darstellt.

t Villa, P., 2008: Schön normal: Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst.
Bielefeld: transcript Verlag.
Das Buch widmet sich einem breiten Spektrum an Körpermodifikationen und situiert
dieses Phänomen im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen, im Zuge derer die Arbeit
am Körper zunehmend zu einer ‚Technologie des Selbst‘ wird, die unter machttheore-
17 Gesunde Körper – Kranke Körper 269

tischem Vorzeichen sowohl als Selbst-Ermächtigung wie auch als Selbst-Unterwerfung


gelesen werden kann.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

TV Serie „The Knick“ (Cinemax, 2014)


Portrait der frühen Anfänge der Chirurgie im New Yorker Knickerbocker Hospital zu
Beginn des 20. Jahrhunderts, das ein breites Spektrum gesundheitsbezogener Themen
abdeckt, von Rassentrennung in Krankenhäusern über sanitäre Missstände New Yorker
Mietshäuser bis hin zu Typhoid Mary.

Film „Crash“ (USA 1996)


Film des kanadischen Regisseurs David Cronenberg, der in fast all seinen Filmen Trans-
formationen und Metamorphosen des Körpers in den Mittelpunkt stellt. In diesem Film
geht es um die obsessive Suche nach der sexuellen Verschmelzung des menschlichen
Fleisches mit dem Stahl und Chrom der Autos durch willentlich herbeigeführte Unfälle.

Film „Schmetterling und Taucherglocke“ (FR, USA 2007)


Nach einem Schlaganfall kann der Chefredakteur einer Modezeitschrift nur noch sein
linkes Augenlid bewegen. Dem Zuschauer wird vermittelt, was es heißt, nur noch auf
diese äußerst reduzierte Weise kommunikativ an seiner Umwelt teilhaben zu können.

Literatur

Bauman, Z., 1995: Ansichten der Postmoderne. Hamburg: Argument-Verlag.


Bauman, Z., 1997: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen. Ham-
burg: Hamburger Edition.
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der Gefahrenabwehr, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag.
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R. Anhorn, F. Bettinger & J. Stehr (Hrsg.), Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit. Eine
kritische Einführung und Bestandsaufnahme. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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270 Markus Schroer und Jessica Wilde

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Dritter Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Dritter Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Suhrkamp.
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Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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(Hrsg.), Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Medikalisierung sozialer Prozesse
Claudia Peter und Carolin Neubert
18
18 Medikalisierung sozialer Prozesse

Überblick
▶ Was bezeichnet Medikalisierung: einen analytischen Begriff, ein heuristisches Kon-
zept oder eine normative Medizinkritik?
▶ Kann man Medikalisierungstendenzen immer eindeutig als negativ oder positiv
bewerten?
▶ Was ist der Unterschied zwischen einer Medikalisierung sozialer Prozesse und einer
Sozialisierung medizinischer Prozesse?

1 Einleitung

Die Bezeichnung Medikalisierung kommt in den 1960er und 1970er Jahren zunächst
im englischsprachigen Raum, vor allem in den USA, auf, wo sie bis heute eine eigene
Forschungstradition in Gang hält. Prominent wird sie vor allem durch die Arbeiten von
Peter Conrad. Im deutschsprachigen Raum rezipiert man den Begriff medicalization zwar,
aber eine eigene Forschungstradition, die sich im vergleichbaren Maße diesem Konzept
zuordnet, gibt es bisher nicht.

2 Der Begriff „Medikalisierung“

Ihre Anfänge nahm die Forschung mit Untersuchungen zur medicalization of deviance
durch Pitts (1968) und Conrad (1975) und wurde schnell in einen engen Zusammenhang
mit sozialer Kontrolle (Zola 1972) gebracht. Der Begriff medicalization beschreibt ein
prozessuales Geschehen: „Medicalize“ meint, so Conrad (2007: 5), etwa „to make medical“,
ist aber nicht mit Übermedikalisierung gleichzusetzen. Selbst eine scheinbar eindeutige
Krankheit ist nicht eo ipso ein medizinisches Problem, sondern zunächst eine Entität, die

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_18, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
274 Claudia Peter und Carolin Neubert

interpretiert werden muss. Diese Entität kann als Krankheit definiert, aber auch ander-
weitig erklärt werden. Der Prozess, etwas zu einem medizinischen Faktum zu machen,
trifft sowohl für ‚reale‘ Krankheiten wie Epilepsie, als auch für uneindeutigere Phänomene,
wie Alkoholismus oder Akne, zu.
In der Analyse des Prozesses, wie Entitäten zu medizinischen Problemen werden, kommt
es darauf an, zunächst die Vielzahl der Akteure und Aktanten (im Sinne Bruno Latours,
dass auch Dinge, wie zum Beispiel Rollstühle, den Situations- und Handlungszusammen-
hang mitprägen) zu erfassen und ihr komplexes Zusammenspiel detailliert zu untersuchen,
die diesen Prozess zu einem medizinischen werden lassen. Dabei sind die Ärzte oft nicht
(mehr) die einzigen oder entscheidenden Akteure, weshalb Conrad die Bezeichnung me-
dical imperialism von Illich (1976) ablehnt, da medicalization heute mehr bedeutet als die
Annexion neuer Probleme durch die Mediziner und die medizinische Profession (Conrad
2007: 6). So nennt er als Beispiel für die Medikalisierung des Alkoholismus, dass hier eine
soziale Bewegung, die der Anonymen Alkoholiker, der entscheidende Akteur war, wäh-
rend die Ärzte erst sehr spät diese Sichtweise des Phänomens als Krankheit übernahmen.
Medikalisierung kann sich, so sieht man an diesem Beispiel, sogar überwiegend nicht
im Versorgungssystem abspielen, sondern in anderen Arenen wie Selbsthilfegruppen,
Vereinigungen, politischen Debatten, dem Internet oder in Subkulturen. Aber auch die
Individuen als Konsumenten und Pharmafirmen sind mächtige Akteure, welche ihren
Beitrag zur Entwicklung jener Dynamiken leisten.
Als Resümee zur rund 40-jährigen Forschung zu Medikalisierungsprozessen listet
Conrad (2007) vor dem Hintergrund der Weiterentwicklung der Medizin (in den USA)
die wichtigsten Charakteristika auf:

1. Rückkopplung auf allgemeine Einstellungen: Er verweist auf Erkenntnisse von Barsky und
Boros (1995), dass Medikalisierung als veränderte Deutung der konkreten Problematik
auch auf weitere allgemeine Einstellungen zurückwirken kann. Mit der favorisierten
Festschreibung als behandelbares Problem werden diese Symptome anders wahrge-
nommen und eingeordnet. Ihre soziale Tolerierbarkeit sinkt, weil Möglichkeiten der
Verhinderung dieser Symptome zur Verfügung stehen. Oft werden die medizinischen
Möglichkeiten dann im unkritisch-konsumatorischen Stil genutzt. Der Einsatz von
Ritalin ist dafür ein bekanntes Beispiel.
2. Medikalisierung kann bei den einzelnen Phänomenen graduell verschieden ausgeprägt
sein: Voll medikalisierte Phänomene wie das Sterben oder Gebären (Gegenteil: natural
childbirth) oder bestimmte psychische Erkrankungen können von partiell medikalisier-
ten Phänomenen wie Sucht oder Menopausebeschwerden und wenig medikalisierten
Phänomenen wie Sexsucht oder Missbrauch unterschieden werden.
3. Medikalisierungsprozesse entwickeln sich in einem Zwischenraum von unterstützenden
und hemmenden Kontextbedingungen (siehe Tab. 1), die ihrerseits historischen und
anderen Veränderungen unterworfen sind.
18 Medikalisierung sozialer Prozesse 275

Tab. 1 Einflussfaktoren auf Medikalisierungsprozesse


Unterstützende Faktoren für zunehmende Begrenzende Faktoren für Medikalisierung
Medikalisierung
t (Unter-)Stützung durch die Mediziner t Konkurrierende Definitionen und
t Entdeckung neuer Ätiologien Deutungen
t Verfügbarkeit und Nutzen medizinischer t (zu) hohe Kosten für Diagnostik,
Behandlungsmöglichkeiten Behandlungen und Pflege
t Anerkennung als Krankenkassenleistung t Fehlende Unterstützung und Akzeptanz
t Individuen oder (Interessen-)Gruppen als in der medizinischen Profession
Promotoren der neuen Deutungen bzw. t Grenzen der Versicherbarkeit und
Definitionen Finanzierbarkeit im Schadensfall
t Fehlende Amortisierung innerhalb der
Lebensspanne von Patienten
Quelle: angepasst nach Conrad (2007: 7)

4. Medikalisierungen sind reversible und multidimensionale Prozesse: Abhängig von


medizinischen Definitionen und Kategorien, die dem Erkenntniswandel der Medizin
unterliegen, ändern sich die Praktiken der Medikalisierung. So wie Phänomene zu
medizinischen Problemen gemacht werden können, können sie auch wieder aus dem
Zuständigkeitsbereich der Medizin geraten. Wurde die Onanie im 19. Jh. pathologi-
siert, gilt sie heute als nichtbehandlungsbedürftiger Bestandteil normalen sexuellen
Verhaltens. Die Neurasthenie als eine im 19. Jh. gängige Beschreibung für einen ner-
vösen Zustand, der mit hoher Reizbarkeit und Erschöpfung einhergeht, wurde durch
andere Krankheitsbezeichnungen abgelöst, denen veränderte Ätiologien unterliegen
und andere Therapieregime folgen. Die frühneuzeitliche Theorie der krankmachenden
Miasmen ist überholt und heute nur noch medizinhistorisch interessant. Menschen mit
Sinnesbehinderungen werden nicht mehr marginalisiert und pathologisiert, sondern
Behinderung wird derzeit als gesellschaftliches Problem angesehen, dass zur Schaffung
gleichberechtigter Teilhabechancen auffordert.

3 Kritik des Medikalisierungsansatzes: pro und contra

Mit der Forschungstradition ist von Anfang an eine lebhafte Kontroverse verbunden, wie
sehr diese Bezeichnung als analytischer Begriff, als heuristisches Konzept oder nur als
medizinkritisches Labelling trägt. Conrad selbst nimmt wichtige Kritikpunkte in seinem
2007 erschienenen Buch auf, das aber weiterhin zweifelsohne die Tragfähigkeit des An-
satzes verteidigen will.
276 Claudia Peter und Carolin Neubert

3.1 Pro-Argumente für den Medikalisierungsansatz

Als Hauptaufgabe der studies of medicalization formuliert er, dass diese Studien ein neues
Verständnis von sozialen Prozessen erzeugen sollen im Hinblick darauf, wie diese an der
kulturellen Produktion und Rezeption von medizinischem Wissen beteiligt sind (ebd.:
10). Da Medikalisierungen als Prozesse von längerer Dauer zu verstehen sind, ergibt sich
für das Untersuchungsdesign, dass zum einen längere Zeiteinheiten untersucht und zum
anderen Veränderungen der Akteurskonstellationen, der Diskursinhalte und alltagswelt-
lichen Praktiken analysiert werden müssen. Nach Conrad (ebd.: 13) bieten sich deshalb
sozialkonstruktivistische (oder wissenssoziologische), aber auch foucaultianische Ansätze
bzw. Kombinationen von beidem an (siehe auch Bittlingmayer in diesem Band).
Obwohl zunächst wertneutral gemeint, werden in den ersten Dekaden der studies of
medicalization fast nur negative Medikalisierungen entdeckt, bis sich seit den 1990er
Jahren die Diskussion kritisch mit diesem einseitigen Befund auseinandersetzt. Auch
Conrad räumt ein, dass viele ältere Studien eine Schlagseite haben und zu wenig komplex
angelegt waren. Die neueren komplexeren Arbeiten verabschieden sich vom Bild des pas-
siven Patienten, vom „medical dupe“ (Navarro 1976). Neben Patienten und Medizinern
kommen weitere Gruppen und Rezeptionsmodi in den Blick und es wird entdeckt, dass
Medikalisierungsprozesse widersprüchlich ablaufende und mehrdimensionale Prozesse sind.
„Both articulate consumers and managed care incentives may promote as well as constrain
medicalization“, so Conrad (2007: 11) über das Wechselspiel zwischen Patienten-Konsument
und Pflege. Als hilfreich und nicht hilfreich zugleich, wie Broom und Woodward (1996) es
nennen, ist mit den Worten von Riessman (1983) Medikalisierung ein „two-edged sword“.
Vermehrt finden sich nun Studien, die positive Effekte beschreiben oder zumindest mit
einem ambivalenten Fazit enden.
Als hier letztgenanntes einleuchtendes Beispiel, die Analysen komplexer anzulegen,
verweist Conrad (2007: 12) auf die stärkere Akzeptanz und Verbreitung alternativer Me-
dizin oder ganzheitlicher Ansätze, die die Medizin selbst verändert haben. So kann dieser
Prozess als Deprofessionalisierung der Schulmedizin gedeutet werden, ist aber nicht mit
Demedikalisierung gleichzusetzen, weil sowohl medikalisierende wie demedikalisierende
Effekte damit verbunden sind.

3.2 Contra-Argumente gegen den Medikalisierungsansatz

Diesen pro-Argumenten zur Fortentwicklung des Konzeptes stehen viele contra-Argumente


gegenüber, die es generell in Frage stellen. Das häufigste Argument zielt darauf, dass mit
diesem Ansatz eine Übergeneralisierung verbunden ist, die zu verallgemeinernd und zu
vereindeutigend ist, da er verschiedenen gesellschaftlichen und sozialen Trends das gleiche
Muster unterstellt, z. B. wenn Conrad (2007) von einer medicalization of society spricht, in
der human conditions in treatable disorders verwandelt werden.
18 Medikalisierung sozialer Prozesse 277

Man kann deshalb die Frage aufwerfen, ob diese Medikalisierungsthese in der Tradition
der philosophischen Rationalismuskritik bzw. der soziologischen Technikkritik steht. Die
Gefahr einer Komplexitätsreduktion widersprüchlicher und uneinheitlicher Tendenzen
zu einem eindeutigen Trend besteht hier in vergleichbarer Art und Weise, wie sie auch
bei den in der kritischen Sozialforschung beliebten Gesellschaftsdiagnosen besteht, die
aber aufgrund der Vielfalt an Aussagen und ihrer Vielzahl insgesamt wiederum beliebig
wirken. Als streng analytisches Ergebnis können sie in aller Regel deshalb nicht gelten.
Ihre Funktion besteht eher im Aufwerfen kritischer Fragen, in der Sensibilisierung für
widersprüchliche Facetten sozialen Lebens, im Angebot brauchbarer Begrifflichkeiten und
im „Außenbezug“, d. h. in der Anschlussfähigkeit der Diskussion über den inner circle von
Wissenschaftlern hinaus (Bogner 2012). Schaden nehmen diese Selbstdeutungsangebote,
wenn sie allzu selbstüberzeugt vorgetragen und die Beurteilungsgrundlagen nicht trans-
parent gemacht werden. Dann zeigt sich eine soziologische deformation professionelle, die
ironischerweise das in sich trägt, was sie selbst kritisiert. Der Sozialforscher schreibt sich
eine Kompetenz, auf dem hohen Ross sitzend, zu, die er den paternalistischen Ärzten in
der Vergangenheit gern zum Vorwurf gemacht hat: Diagnosen über andere zu verhängen,
anstatt sie mit ihnen auszuhandeln.
Wie Bogner (2012) überzeugend dargestellt hat, tragen derart generalisierte „Diagnosen“
oft sehr wenig für die innerwissenschaftliche Weiterentwicklung bei und veralten so schnell,
wie sie aktuell sein wollen. Als heuristisches Konzept kann die Medikalisierungsthese
deshalb am ehesten auf der Mikro- und Mesoebene gesellschaftlicher Wandlungsprozesse
wissenschaftliche Früchte tragen. Sinnvoll wäre deshalb eine Enthaltsamkeit, Totalur-
teile aussprechen zu wollen, und sich stattdessen den konkret empirisch erforschbaren
Phänomenen oder Prozessen zuzuwenden und sie in akribischen, Details und Nuancen
schätzenden Analysen bottom-up zu untersuchen.

4 Analyse der Medikalisierung sozialer Phänomene

Als eine der Ersten, die auch positive Aspekte von Medikalisierungen thematisierten und
eher eine normative Korrektur dieses Konzeptes im Blick hatten, wendeten sich Broom und
Woodward (1996) den sozialen Dynamiken und Folgeeffekten auf der mikrosoziologischen
Ebene zu, während Parens (2013) vor allem die implizit gebliebenen Vorannahmen der
bisherigen soziologischen Medikalisierungsbeiträge offenlegte.

4.1 Konstruktionsfehler in der soziologischen Theoretisierung


von Medikalisierung

Wenn man die von vornherein rein negative Auslegung von Medikalisierung als neuere
Spielart einer vorurteilsbehafteten Medizinkritik einmal beiseitelässt, dann kann man
Parens (2013) darin folgen, dass ein Prozess nur dann negativ bewertet werden kann, wenn
278 Claudia Peter und Carolin Neubert

die Medizin alle Wirklichkeitsdeutungen anderer Akteursgruppen negiert bzw. beherrscht


oder nur negative Konsequenzen für die Patienten(gruppen) zu beobachten sind. Was
aber in dieser abstrakten Formulierung so überzeugend erscheint, stellt sich mit Blick auf
konkrete soziale Prozesse oder Phänomene nicht so selbstevident dar. Parens (2013: 29)
führt aus, dass viele Phänomene, die als Beispiele in den Studien herangezogen werden,
wie Schüchternheit oder Angstzustände, eine Melange aus sozialen und biologisch-natürli-
chen Prozessen sind. Somit sind schon die vorherige Einordnung der Phänomene als ‚rein
medizinisch‘ oder ‚rein sozial‘ zum einen unnötige normative Vorbewertungen und zum
anderen eher soziologische Konstrukte, die so gerade nicht in der Empirie wiederzufinden
sind und damit diese nicht angemessen abbilden.
Erkennt man, dass vorzeitige Abstrahierungen zu „reinen Phänomenen“ zu logischen
Fehlschlüssen führen, so wird der Blick dafür geschärft, was es bedeutet, wenn sozial-na-
türliche Phänomene ausschließlich oder dominant medizinisch bearbeitet werden. Dann
nämlich erscheint Medikalisierung als soziale Reaktionsweise, dieses Phänomen gerade nicht
als soziales Problem behandeln zu können oder zu müssen, als Externalisierung von sozial
Problematischem: Medikalisierung ist dann vor allem Nichtsozialisierung des Phänomens.
Für diese Nichtsozialisierung, diese Nichtthematisierung als sozial Problematisches, kann
es viele Gründe geben: Gesellschaftlich können (noch) keine Lösungen oder Spielräume
angeboten werden, innerhalb derer das Phänomen gedeutet, bearbeitet oder toleriert werden
kann oder der Weg, es als medizinisches Problem zu ‚behandeln‘, ist einfacher, als es als
soziales Problem gesellschaftlich zu verhandeln. Denkt man beispielsweise an viele entstel-
lende Anomalien, die keine Funktionseinschränkung bedeuten, dann werden diese zumeist
nur deshalb operativ korrigiert, weil die Toleranzfähigkeit der Gesellschaftsmitglieder noch
überfordert und die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft noch nicht ausgebildet ist. Prinzi-
piell könnte man mit bestimmten Anomalien, Behinderungen oder Krankheitssymptomen
leben, wenn die gesellschaftliche Akzeptanz gegeben wäre oder Schutzräume vorhanden
wären. In dieser Betrachtungsweise stellt sich Medikalisierung eher als ‚Lösung bis auf
Weiteres‘ dar, solange diese Art von Sozialisierung des Phänomens noch nicht möglich ist
und Diversität noch nicht als gesellschaftliche Ressource präferiert wird.
Parens zeigt im Weiteren auf, dass viele bisherige soziologische Interpretationen von
Medikalisierungstendenzen auf Vorannahmen beruhen, die entweder falsch, naiv oder
selbst normativ gefärbt sind. So hinterfragt er, wie Soziologen, die in aller Regel kaum über
medizinisches Wissen verfügen und nicht in der klinischen Praxis sozialisiert wurden,
zu solch vorschnell getroffenen Unterscheidungen wie wirklichen und nichtwirklichen
medizinischen Zuständen, wie rein körperlichen oder rein psychischen Symptomen
(als Reproduktion des Körper-Geist-Dualismus) oder natürlicher bzw. nichtnatürlicher
Symptome kommen. Viele Unterscheidungen seien durch implizite moralische Bewer-
tungen grundiert und die abgeleiteten Konzepte seien oft laienhafte Verständnisse eines
Medizinbildes, wie es sich diese Soziologen selbst fabriziert haben. Er plädiert deshalb für
eine stärkere Aneignung medizinischen Wissens und eine engagiertere Teilnahme im Feld
durch die Sozialforscher, um damit erst die Voraussetzungen zu erlangen, als Sozialforscher
fundierte Kritik üben zu können.
18 Medikalisierung sozialer Prozesse 279

4.2 Die Standpunktgebundenheit bei der Bewertung


von Medikalisierungseffekten

Schließlich zeigt er am Beispiel der (vermeintlichen) Medikalisierung des weiblichen


Körpers durch moderne Reproduktionsmedizin (Parens 2013: 33) auf, wie komplex die
Folgeketten negativer und positiver Effekte von Medikalisierung gedacht werden müssen.
Soll man diesen medizinischen Fortschritt per se als einen „unnatürlichen“ Eingriff in die
„natürliche“ Funktionalität des weiblichen Körpers begreifen oder soll man ihn gerade
aus diesem Grunde begrüßen? Für die zweite Sichtweise spräche, so Parens, dass die
Selbstbestimmung der Frauen durch eben jene Praktiken gesteigert wurde und werden
könne: Einerseits kann Schwangerschaft ermöglicht werden, wo ohne Behandlung von
Unfruchtbarkeit oder Vorerkrankungen keine entstehen würde, und andererseits kann sie
selbstbestimmt und unabhängig von scheinbar natürlichen (oder besser: zufälligen) Um-
ständen, wie Alter oder biologischer Gesundheit, herbeigeführt (oder verhindert) werden.
Die sozialen Gestaltungs- wie Entscheidungsspielräume der Frauen haben sich durch
diese reproduktionsmedizinischen Optionen in den letzten Dekaden vervielfacht. Mit
diesem Beispiel, an dem sich wohlmöglich schon die Geister scheiden werden, demons-
triert er, dass es zum einen nicht immer so klar ist, ob etwas eine positive oder negative
Folge bedeutet und zum anderen, dass die Beurteilung davon abhängt, wie weit der Kreis
um mögliche Effekte, Konsequenzen oder Folgen gezogen wird. Wird beispielsweise der
Effektkreis von Kontrazeptiva auf den weiblichen Körper und deren Gesundheit beschränkt,
so fällt das Urteil höchstwahrscheinlich ambivalent aus, bezieht man aber die sozialen
Folgen der historisch nachhaltigen Veränderung der Geschlechterverhältnisse und andere
Konsequenzen ein, dann scheinen die positiven Effekte zu überwiegen – zumindest aus
Sicht der (meisten) Frauen, aber wahrscheinlich nicht aus Sicht aller Männer. Was bei
der Beschreibung von Medikalisierungstrends deshalb vonnöten ist, sind erstens eine
Transparenz des Standpunktes, von dem aus ein Trend beurteilt wird, zweitens die genaue
Eingrenzung und Benennung der untersuchten Reichweite der Folgen und Effekte sowie
drittens eine Begründung des Urteils, warum etwas positiv oder negativ bewertet wird.
An dieser Stelle sei auch auf das Instrument der Abschätzung nichtkausaler Fol-
geketten verwiesen, wie sie sich in der Wissenschafts- und Risikoforschung etabliert
haben. Abschätzungen intendierter wie nichtintendierter Folgen werden dort generell
nicht mehr in Urteilen von ‚positiv‘ oder ‚negativ‘ artikuliert, sondern zumeist als Ab-
wägungsbilanzen mit qualitativen Ausführungen (Peter & Funcke 2013). Wenn sich die
Medikalisierungsstudien hier inspirieren lassen würden, gewännen sie an Komplexität
und argumentatorischer Güte.
280 Claudia Peter und Carolin Neubert

5 Medikalisierung als gesellschaftlich stellvertretende


Integration neuer Phänomene

Mit einem letzten Beispiel verweist Parens auf die mögliche sozialintegrierende Funktion
des Medizinsystems, mit der man Medikalisierung auch als gesellschaftliche Stellvertre-
tung zur Integration neuer Phänomene ansehen könnte (Parens 2013: 33). So diffundiert
medizinisches Wissen und therapeutisches Praxiswissen in den Alltag der Patienten und
verbreitet sich auf diese Weise als veralltäglichtes Wissen auch in lebensweltliche Bereiche,
die nur scheinbar weit von der Medizin entfernt sind.

5.1 „Die Medizin“ als sozialer Akteur

„Die Medizin“ kann deshalb auch als sozialer Akteur angesehen werden, der immer inner-
halb gesellschaftlicher Wechselwirkungen und Dynamiken agiert, für den kein jenseitiges
artifizielles Territorium reserviert bleibt: Bildlich gesprochen residiert die Medizin nicht
vor den Toren der Stadt, sondern bewegt sich immer in ihrer Mitte. Denkt man beispiels-
weise an Menschen mit chronischer Erkrankung, so ist deren Alltag von vorbeugenden
oder therapierelevanten Übungen durchzogen, treffen diese wöchentlich ihre Therapeuten,
die sie zum Teil langjährig kennen, oder gehen zur Kontrolle und Behandlung in ihre
„Heimatklinik“.

5.2 Soziale Integration von Phänomenen durch medizinische


Bezeichnung

Bei wenig bekannten, wenig erforschten oder neu entdeckten Krankheiten, wie z. B. seltenen
Krankheiten oder angeborenen Fehlbildungen, wird durch die Klassifizierung der vorher
nicht zuordnungsbaren Symptome eine Behandlung ermöglicht bzw. kann eine Behandlung
überhaupt erst in Aussicht gestellt werden. Betroffene derart seltener Symptome tauschen
vor allem Ungewissheit und Unverstandensein gegen Handlungsmöglichkeiten und neues
Vertrauen ein, weil nun erstens therapiert werden kann und sie zweitens ihr Leiden durch
eine klare Diagnosestellung einordnen können. Mit anderen Worten: Um diese Leiden
handhabbar zu machen, müssen sie von der Medizin klassifikatorisch beschrieben werden.
Auch auf diese Weise, durch die Benennung dieser Phänomene, wird dazu beigetragen,
ihnen einen Platz im gesellschaftlichen Raum zuzuweisen (als Krankheit).
Langfristig betrachtet können sich auch dadurch Verständnis, Akzeptanz und Kenntnis
sowohl bei den Betroffenen, ihren Angehörigen und in der Bevölkerung in Bezug auf diese
Phänomene entwickeln. Was im Diffusen verbleibt, wird für Laien dagegen nur schwer
fassbar und findet deshalb nur schwer gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Würdigung.
Auch wenn damit das (für manche furchteinflößende) Spektrum an Krankheiten erweitert
wird, so bedeutet das vor allem für die Betroffenen, zu wissen, woran sie sind, d. h. auch
bis zu einem gewissen Grade normalisiert worden zu sein. Auch hier zeigt sich wieder,
18 Medikalisierung sozialer Prozesse 281

dass die Bewertung vom Standpunkt abhängt: Was für den einen eine negative Tendenz
ist (z. B. die unaufhaltsame Vervielfältigung medizinischer Diagnosemöglichkeiten),
ist für den anderen positiv (z. B. endlich therapiert werden zu können). Zuletzt wollen
wir uns deshalb der Beziehung zuwenden, die hierbei die entscheidende Rolle spielt, die
Arzt-Patienten-Beziehung. Was kann die Medikalisierungsdebatte zur Erforschung dieser
Praxis beitragen?

6 Medikalisierung auf der Ebene der Arzt-Patient-Beziehung

Arzt-Patienten-Beziehungen auf ihre Dominanzverhältnisse und Kommunikationsmus-


ter zu untersuchen, ist ein klassischer Topos medizinsoziologischer Analysen. Mit dem
Wandel des ärztlichen Status vom paternalistischen „Halbgott in weiß“ zum deliberativen
Akteur (Bogner 2013, Peter 2013) auf der einen und dem „autonomen Patienten“ auf der
anderen Seite ändern sich sowohl die Aushandlungsformen als auch -inhalte, wie beide
den Diagnose- und Therapieweg bestimmen und was zum Gegenstand von Verhandlung
werden kann. Auf dieser Ebene kann deshalb Medikalisierung als Ko-Konstruktion eines
gemeinsamen ‚Produktes‘ angesehen werden, das sowohl von den beiden Akteursseiten
kreiert wird, als auch durch das spezifische Interaktionsmuster zwischen beiden Akteuren
eine bestimmte Prägung erhält.

Konstruktive Medikalisierung als kollaborative Konstruktion


Diese neuen Trends aufnehmend, nach denen sich die Typen von Medizinern und Patienten
und ihre Begegnungsformen pluralisiert haben, verstehen Broom und Woodward (1996)
Medikalisierung als Konstruktionsleistung der Arzt-Patienten-Beziehung. Als constructive
medicalization bezeichnen sie den gemeinsamen Findungsprozess, in der die Krankheit
kollaborativ konstruiert wird.
Sie widmen sich vor allem auch der Patientenperspektive, die beim bisherigen Me-
dikalisierungsdiskurs oft unterbelichtet geblieben ist. Am Beispiel des chronic fatigue
syndrom (CFS) arbeiten sie heraus, dass die Patienten in Bezug auf die zunächst unklaren
Unwohlseinszustände explizit nach medizinischen Erklärungen suchen. Als medicalizing
experience beschreiben die Autorinnen den Prozess, der ganz zu Beginn einer Krankheit
steht: die Wahrnehmung bestimmter Symptome über einen längeren Zeitraum und die
Einordnung jener in einen erklärungsbedürftigen Grenzbereich. An dieser Schwelle wird
es für die meisten Menschen notwendig, sich einem Arzt anzuvertrauen, um sich auf diese
Weise Klarheit zu verschaffen. Sie suchen, mit anderen Worten, gezielt nach medizinischen
Erklärungen und Einordnungen und fordern hier konkret, so könnte man sagen, eine
‚Medikalisierung ihres Empfindens‘ ein (Broom & Woodward 1996: 369).
Selbst wenn von den Ärzten kein medizinisches Labelling der Symptomatik, keine
Fallsubsummierung unter eine Diagnose, vorgenommen wird und der Arzt seine Inter-
pretation nicht dominant durchsetzt, so sieht man an diesem Beispiel, dass trotzdem eine
282 Claudia Peter und Carolin Neubert

Medikalisierung im Sinne Conrads einsetzt: Etwas wird zu einem medizinischen Ding


gemacht (to make medical). Uneindeutige Phänomene – als sowohl sozial wie auch biolo-
gisch-natürlich bedingte – werden in den Zuständigkeitsbereich der Medizin importiert,
d. h. auf medizinischem Wege „behandelt“, wenn prinzipiell vielleicht auch alternative
Umgangsweisen zur Verfügung gestanden hätten.

7 Schlussfolgerungen

Zwei Aspekte sind an der Medikalisierungsdebatte auffällig. Aus diesem Grund sollen als
Letztes Rahmenbedingungen von Forschung, d. h. genauer: die Präferenz für bestimmte
Forschungsthemen, in den Blick genommen werden. Erstens ist die geistige Heimat dieser
Debatte die USA, zweitens sind bevorzugt uneindeutige oder neue Phänomene untersucht
worden.
Gerade da, wo subjektive Wahrnehmung und Deutung der Symptomatik und objektive
Befundung bzw. Beurteilbarkeit auseinanderklaffen und sich eine Deutungsdiskrepanz
auftut, ergibt sich die Frage, wie dieses Dilemma verhandelt wird. Wie geht man mit
Patienten um, die eine Diagnose, aber keinen Leidensdruck und keine Symptomatik
haben? Wie geht man mit Patienten um, die leiden, bei denen man aber keine Ursache
finden kann? Einerseits kann festgestellt werden, dass diese dilemmatischen Situationen
in aller Regel bisher eher als medizinische Konstellationen reformatiert werden, als dass
diese Uneindeutigkeiten lebensweltlich normalisiert oder derartige Irritationen dort ge-
sellschaftlich verträglich integriert werden könnten. In aller Regel ist das Medizinsystem
reagibler, als die Gesellschaft integrativ ist. Die in Deutschland beginnende Integrations-
und Inklusionsdebatte kann in dem Zusammenhang auch als Versuch verstanden werden,
derartige Risiken gesellschaftlich (re-)organisieren zu wollen, also auch Sozialrecht und
Bildungsinstitutionen als weitere Akteure/Arenen einzubeziehen.
Vor allem aber ist das o. g. Dilemma eine Frage des Verhältnisses, wie hier Rechte und
Pflichten zueinander stehen. Wie viel Fürsorgepflicht für die Gesundheit Anderer haben
wir, wie solidarisch müssen oder wollen wir sein? Was können wir, im Gegenzug, von dem
so Unterstützten erwarten, wie sehr muss sich der Einzelne um seine Gesundheit sorgen,
was darf der Kranke erwarten und wo bleibt er mit seinem Leid allein? Das sind Fragen, die
Themen wie Verteilungsgerechtigkeit und menschliche Solidarität berühren und die sich
in jeweils unterschiedlichen Modellen in die national organisierten Versorgungssysteme
eingeschrieben haben.
Die USA ist unter den hochentwickelten Ländern, das meint hier den reichen Ländern
mit hohem medizinischen Versorgungsniveau, das Land, welches am weitesten (bisher)
die Kosten für die Gesundheitsvorsorge und Krankenversorgung individualisiert hat,
während Deutschland als Gegenmodell gelten kann, in dem in der Krankenversorgung
ein sehr weit reichendes und breit aufgestelltes Solidarprinzip verwirklicht wurde. Wäh-
rend Deutsche ein hohes Anspruchsniveau zeigen, mit Leistungen aus dem gemeinsamen
Topf unterstützt werden zu wollen, haben zwar Amerikaner auch einen hohen Anspruch
18 Medikalisierung sozialer Prozesse 283

– je nach sozialer Schicht –, aber sie individualisieren die Risiken der Ungerechtigkeit,
dass Krankheit jeden treffen kann und Therapie teuer ist. Während in Deutschland die
Verhandlung der Kostenverteilung ein immer wiederkehrendes politisches Ritual ist und
somit trotz allen Unwissens, was wie viel konkret kostet, ein Bewusstsein der Bürger
wachgehalten wird, mutiert das individualisierte Risiko bei den Amerikanern zu einem
alle erfassenden Unbehagen, von der Medizin (zu) abhängig oder (zu) beherrscht zu wer-
den. Verschiebt die amerikanische Gesellschaft etwas in die Medizin, was gesellschaftlich
debattiert werden müsste?
„Medikalisierung“ sagt deshalb mindestens so viel über die Gesellschaft aus, die dieses
Wort braucht, als dass damit schon wissenschaftlich gesehen klar wäre, was in einem
solchen Prozess genau vor sich geht. Es ist ein Schlagwort, das den eben beschriebenen
Empfindungen Ausdruck verleiht. Als Fachbegriff taugt es dagegen nicht, aber als Anlass,
solide medizinsoziologische Studien durchzuführen.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Entitäten oder Phänomene müssen zunächst zu medikalisierten Phänomenen gemacht
werden, sie sind es nicht schon eo ipso.
▶ Die studies of medicalization untersuchen, welche Akteure und Aktanten an der
Medikalisierung beteiligt sind und auf welche Weise sie zusammen- oder gegenei-
nander spielen.
▶ Sie wollen ein neues Verständnis von sozialen Prozessen erzeugen, die sich in der
kulturellen Aneignung und Verbreitung medizinischen Wissens zeigen.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Eine besondere Schwierigkeit ist, analytische Aussagen von normativen Aussagen
bei Medikalisierungsuntersuchungen zu trennen und transparent zu machen.
▶ Die normative Bewertung ist standpunktgebunden. Verschiedene Akteure und gleiche
Trends in verschiedenen Medizinbereichen usw. bewerten Medikalisierung jeweils
unterschiedlich. Kann man dann überhaupt Gesamtaussagen treffen?
▶ Die Reichweite der sozialen Folgen und Effekte von Medikalisierung ist bisweilen
schwer abschätzbar, aber entscheidend für die Bewertung.
▶ Sollte zu einer Medikalisierung sozialer Prozesse auch eine Sozialisierung medizi-
nischer Prozesse zukünftig als die zweite Seite der Medaille hinzu gedacht werden?
284 Claudia Peter und Carolin Neubert

Leseempfehlungen

t Parens, E., 2006: Surgically shaping children: technologies, ethics, and the pursuit of
normality. Baltimore: John Hopkins University Press.
Beispiel für die Medikalisierung von Kindern, die mit starken anatomischen Anomalien
geboren wurden, die chirurgisch heutzutage angeglichen werden können, aber eine starke
Motivation erfordern, die Therapiestrapazen und -dauer zu bewältigen.

t Wagner, D., 2013: Leben. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.


Beispiel für ein medikalisiertes Leben vor und nach einer Lebertransplantation – aus
Sicht des Patienten retrospektiv als Roman geschrieben.

t Der Blog „Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf: http://www.wolfgang-herrndorf.


de/2010/04/daemmerung
Beispiel für das stark medikalisierte Leben nach Diagnosestellung einer tödlichen Er-
krankung (Glioblastom) und die Gestaltung des verbleibenden Lebens bis zum Tod – aus
Sicht des Patienten synchron als Blog geschrieben.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Dokumentarfilme zur Verflechtung von Politik und Gesundheitswirtschaft in den USA:


Film Big Bucks, Big Pharma: Marketing Disease and Pushing Drugs (2006), Producer &
Editor: Ronit Ridberg
http://topdocumentaryfilms.com/big-bucks-big-pharma

Film Off Label (2012), Directors: Donal Mosher, Michael Palmieri


http://www.imdb.com/title/tt2354247/

Film https://www.youtube.com/watch?v=PcPGRMR2NAQ
Beispiele zur Medikalisierung von mentalen Zuständen von Kindern als AD(H)S

Literatur

Barsky, A.J. & J.F. Boros, 1995: Somatization and medicalization in the era of managed care. Journal
of the American Medical Association, 274, 1931-1934.
Bogner, A., 2012: Gesellschaftsdiagnosen. Ein Überblick. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
Bogner, A., 2013: Das individualisierte Risiko und die Grenzen des Wissens. Ungewissheit und
Gewissheitsäquivalente im Bereich der vorgeburtlichen Diagnostik. S. 347-372 in: C. Peter &
D. Funcke (Hrsg.), Wissen an der Grenze. Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in
der modernen Medizin, Frankfurt: Campus.
18 Medikalisierung sozialer Prozesse 285

Broom, D. h. & V. Woodward, 1996: Medicalisation reconsidered: towards a collaborative approach


to care. Sociology of Health and Illness 18(3): 357-378.
Conrad, P., 1975: The discovery of hyperkinesis: notes on the medicalization of deviant behavior.
Social Problems 23: 12-21.
Conrad, P., 2007: The medicalization of society. On the transformation of human conditions into
treatable disorders, Baltimore: John Hopkins University Press.
Illich, I., 1976: Medical nemesis. New York: Pantheon.
Navarro, V., 1976: Medicine under capitalism. New York: Prodist.
Parens, E., 2013: On good and bad forms of medicalization. Bioethics 27(1): 28-35.
Peter, C., 2013: ‚Handeln unter Ungewissheit‘ als heute typische Konstellation medizinischen
Handelns. S. 115-137 in: J. Estermann J.Page & U. Streckeisen (Hrsg.), Alte und neue Gesund-
heitsberufe. Zürich: LIT.
Peter, C. & D. Funcke (Hrsg.), 2013: Wissen an der Grenze. Zum Umgang mit Ungewissheit und
Unsicherheit in der modernen Medizin, Frankfurt: Campus.
Pitts, J., 1968: Social Control: The Concept. International Encyclopedia of Social Sciences 14. New
York: Macmillan.
Riessman, C.K., 1983: Women and medicalization: a new perspective. Social Policy 14 (summer): 3-18.
Zola, I.K., 1972: Medicine as an institution of social control. S. 404-414 in: P. Conrad (Hrsg.), The
sociology of health and illness. Critical perspectives. New York: Worth.
Soziale Folgen der Biomarker-basierten und
Big-Data-getriebenen Medizin 19
Peter Dabrock
19 Biomarker-basierte und Big-Data-getriebene Medizin

Überblick
▶ Was zeichnet die klassische Reparaturmedizin aus?
▶ Welche Entwicklung setzt mit Biomarker-basierter Medizin und Biobanken ein?
▶ Warum entsteht mit der sog. personalisierten Medizin ein präventiver Imperativ?
▶ Kann man Big Data als große Rehybridisierungsmaschine bezeichnen?
▶ Welche sozialen Folgen zeitigt die Biomarker-basierte und Big-Data-getriebene
Medizin?

1 Einleitung

Man muss kein radikaler Konstruktivist sein, um sich einzugestehen, dass Gesundheit
und Krankheit keine fi xen Entitäten darstellen, sondern in einem komplexen Deutungs-
geschehen zwischen individuellen, soziokulturellen und bio- wie medizintechnologischen
Bedingungen Gestalt gewinnen und ständigen Transformationen ausgesetzt sind. In
jüngster Zeit hat der medizinische Fortschritt eine Dynamik erreicht, der nachgesagt wird,
sie komme einem qualitativen Sprung gleich. Begründet wird diese Interpretation mit der
Konvergenz zweier zunächst getrennt voneinander verlaufener Entwicklungen: den bio-
wissenschaft lichen Fortschritten mit ihren mehr oder minder erfolgreichen Einflüssen auf
eine naturwissenschaft lich sich verstehende Medizin einerseits, die intensive und extensive,
derzeit fast alle Lebens- und Sozialbereiche überdeterminierende Datafizierung, die das
Label „Big Data“ erhalten hat, andererseits. Im Folgenden sollen anhand der Genealogie
dieser Amalgamierung die sozialen Folgen dieser modernen Medizin skizziert werden.

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_19, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
288 Peter Dabrock

2 Der Ansatz der klassischen Reparaturmedizin

Wenn es stimmt, dass Auffassungen von Gesundheit und Krankheit immer in einen
bestimmten Praxiskontext eingebettet sind, dann trägt der normative Kontext der mo-
dernen naturwissenschaftlich orientierten Medizin dazu bei, dass Gesundheit vor al-
lem als Abwesenheit von Krankheit aufgefasst und Krankheit primär an körperlichen
Ausfallerscheinungen festgemacht wird. Vor allem im 19. und 20. Jahrhundert sah die
Biomedizin ihre Aufgabe darin, den menschlichen Körper wieder in den Zustand nor-
maler Funktionstüchtigkeit zu versetzen. Von diesem Verständnis ist auch das klassische
Gesundheitssystem geprägt. Dessen vorwiegend pathozentrisch-kurativer Ansatz schreibt
sich noch in einigen Hochtechnologien der gegenwärtigen Biomedizin fort: Transplanta-
tionsmedizin, regenerative Medizin einschließlich der Versuche von Stammzellbasierung
oder Mitochondrienersatztherapie und schließlich auch technik-basierte Assistenzsysteme,
ambient-assisted-living genannt.
Zwar ist schon lange historisch belegt, dass die größten Zugewinne an Lebenserwar-
tung in den letzten 170 Jahren nicht durch Fortschritte auf dem Gebiet der naturwissen-
schaftlichen Medizin erzielt worden sind, sondern durch allgemeine Verbesserungen der
Lebensverhältnisse, der Ernährung und Bildung, durch Hebung des Einkommens, besser
kalkulierbare Sicherheit infolge der Entwicklung des Versicherungssystems und vor allem
durch intensivierte Hygiene (McKeown 1982). Ebenso hat sich zwar in gesundheitspoli-
tisch (Ottawa-Charta) und -wissenschaftlich betriebener (New) Public Health die Einsicht
durchgesetzt, dass durch die Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten, die Unter-
stützung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen, die Entwicklung persönlicher
Kompetenzen und die Neuorientierung der Gesundheitsdienste die Fixierung auf den
Krankheitsbegriff aufgebrochen werden kann (siehe Loss et al. in diesem Band). Gesund-
heitsförderung und Prävention sollten daher stärker die Gesundheitspolitik, aber auch
die Einstellung der Individuen zu ihrem Leib und ihrem Wohlbefinden prägen können.
Dennoch bleibt semantisch und ideologisch und schlicht auch unter Berücksichtigung
des gesellschaftlichen finanziellen Ressourceneinsatzes bis in die Gegenwart hinein die
auf Reparatur und Kuration zielende naturwissenschaftliche Medizin das Maß vieler
evaluativer und normativer Zuschreibungsmuster individueller und sozialer Provenienz
im Umgang mit Krankheit und Gesundheit. Für diese prädominante Deutung lassen sich
semantisch allerlei Gründe anführen, die zwischen Transzendenzverlust und Diesseits-
fixierung der Neuzeit und Moderne und ihrem im Gefolge von Descartes und Bacon
entwickelten Maschinen-Verständnisses des für sich selbst als geistlos beurteilten, aber
reparaturfähigen Körpers zu situieren sind – ganz zu schweigen von Strukturprozessen,
als deren Epiphänomene solche semantische Transformationen häufig angesehen werden.
19 Biomarker-basierte und Big-Data-getriebene Medizin 289

3 Genetische Ansätze als erste In-Frage-Stellung des Vorrangs


der Reparaturmedizin

Seit einigen Jahrzehnten hat diese semantische und auch forschungspolitische Dominanz
des Modells der kurativen Reparaturmedizin aber an Schlagkraft eingebüßt (siehe Richter
& Hurrelmann in diesem Band). Nicht zuletzt, aber vor allem im Umfeld der globalen
Initiativen zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms kam es zu einem Hype, wo-
nach die Kenntnis der genetischen Grundlagen eine Revolution der Biomedizin bewirken
könne. Obwohl wissenschaftstheoretische Studien zur Uneindeutigkeit des Gen-Begriffs
(Fox-Keller 2002) und eine schon laienhafte Beobachtung der wissenschaftlichen Fort-
schritte im Bereich der Zellbiologie und der molekularen Medizin die Haltlosigkeit eines
deterministisch wirkenden Schemas „ein Gen – eine Ausprägung“ hätte demonstrieren
können, hielt es sich doch im medial inszenierten kulturellen Gedächtnis enorm lange
und intensiv – teils bis in die Gegenwart.
Die monogenetisch, dominant vererbte und spätmanifeste Krankheit Chorea Huntington
wurde geradezu zum Symbol eines Genozentrismus und genetischen Exzeptionalismus,
demzufolge die Gene die individuellen Identitätskonstruktionen und das gesellschaftliche
Miteinander maßgeblich bestimmen würden (Lemke 2004). Was von den Wissenschaft-
saffinen als prädiktive medizinische und biographische Chance, die knappe, noch zur
Verfügung stehende Zeit sinnvoll zu nutzen, gepriesen wurde, wurde von manch beweg-
tem Kritiker nicht nur als Freiheitsverlust für einige Wenige, sondern als Menetekel eines
ganzen Zeitalters gebrandmarkt. Diese Horrorvision traf schon deshalb nicht zu, weil
schnell deutlich wurde, dass zum einen ein inverses Verhältnis zwischen der Penetranz
monogenetischer Erkrankungen und ihrer Quantität herrschte, und zum anderen jenseits
dieser kleinen Gruppe von so verursachten Krankheiten ein hochkomplexes Gewebe aus
verschiedensten Krankheitsursachen, angefangen von nicht nur monogenetischen, son-
dern vor allem polygenetischen Vererbungen und multifaktoriellen Krankheitsätiologien
in Kombination mit – seit den Fortschritten in Epigenetik und in Systemmedizin immer
klarer zu Tage tretenden – intra- und extraorganismischen Umweltexpositionen, Verhal-
tens- und Ernährungsweisen zu konstatieren ist.
Trotz dieser schon seit vielen Jahren wissenschaftlich gesicherten Kontextualisierung
genetischen Wissens hat es das Horrormärchen des genetischen Exzeptionalismus bis in die
jüngere deutsche Gesetzgebung geschafft, als noch im Jahre 2009 das Gendiagnostikgesetz
verabschiedet wurde und exzeptionell genetische Informationen zu Tabuzonen in den
Bereichen Versicherungswesen und Arbeitsrecht erklärt wurden. Ohne Zweifel besitzen
manche genetische Informationen starke prädiktive und damit auch potentiell stigmati-
sierende und diskriminierende Kraft. Deshalb war es im Prinzip sinnvoll, den Umgang
mit solch intensiv prädiktiven Informationen rechtlich zu regeln. Aber es hätte nicht der
Bezug zu einem naturwissenschaftlichen – im Übrigen hoch umstrittenen – Konzept
„Gen“ (Müller-Wille & Rheinberger 2009) sein müssen, der das rechtliche Regelungsregime
auf den Plan ruft, sondern eben schlicht und einfach die prädiktive Kraft und die daraus
erwartbare identitäre Eingriffstiefe einer biomedizinischen Information unabhängig
290 Peter Dabrock

von der gewählten Methode: Besitzen doch manche genetische Informationen, vor allem
solche multifaktorieller genetischer Verursachungselemente, nur eine geringe prädiktive
Kraft, während manch nicht-genetische Information dagegen eine existentielle und soziale
Eingriffstiefe sondergleichen bedeutet wie beispielsweise ein positiver AIDS-Test. Aber
diese langanhaltende Fixierung auf die Genetik zeigt stereotyp die individuellen und ge-
sellschaftlichen Ängste vor starker Prädiktion als Angst vor imaginiertem Freiheitsverlust.

4 Biomarker-basierte Medizin und Biobanken

Weil im Unterschied zur medial inszenierten kulturellen Deutung der prädiktiven Kraft
„der“ Gene Ernüchterung eingetreten war und der Weg von der Genetik zu holistischeren
Ansätzen, die nicht mehr einzelne Gene, sondern gleich das ganze Genom im Zusammenspiel
mit anderen Funktionssystemen, medizinisch im Bereich der Systembiologie und -medi-
zin verortet, in den Blick nahmen, wurde die Suche nach Prädikatoren nicht aufgegeben,
sondern ausgeweitet. Zu diesem Zwecke rückte der Begriff der Biomarker in das Zentrum
des Interesses (Hüsing et al. 2008). Darunter versteht man alle biologischen Indikatoren,
angefangen von genetischen Informationen bis hin zu klassischen anamnetischen Beobach-
tungen, die auf einen gegebenen oder künftigen pathologischen Prozess schließen lassen.
Mit Hilfe dieser Kategorie steigerte sich zum einen die Komplexität diagnostischer, aber
eben auch prädiktiver Prozesse, weil nicht mehr allein Gene für die Prädiktion ursächlich
zeichnen sollten, sondern eine Vielzahl sehr unterschiedlicher biologischer Indikatoren.
Dass deshalb – quasi zeitgleich – die Erweiterung der Berücksichtigung biologischer
Marker zur Krankheitserkennung eine neue Aufmerksamkeit für bereits vorhandene
Probensammlungen (vor allem in Pathologien), aber auch eine Bereitschaft weckte, sowohl
krankheitsspezifische als auch generische Sammlungen von biologischem Material und
Daten aufzubauen, überrascht nun gar nicht. Diese Sammlungen, genannt Biobanken,
rückten Anfang bis Mitte der 2000er Jahre in das Zentrum wissenschaftlicher Interessen.
Nach der Ernüchterung gegenüber dem ursprünglichen Genozentrismus war klar, dass
nur eine große, in der Regel nicht in einem Forschungszentrum allein vorhaltbare Zahl
von Proben und Daten hinreichend sein würde, um statistisch valide Aussage zu Krank-
heitsätiologien herleiten zu können.
Gerade im Bereich der generischen oder auch populationsbezogenen Biobanken, für die
paradigmatisch die UK-Biobank steht, wurde aber schnell deutlich, dass seit Jahrzehnten
etablierte Prinzipien des Datenschutzes, namentlich die Datensparsamkeit und die Zweck-
bindung der Datensammlung, kaum noch effektiv aufrecht zu erhalten waren. Denn die
Sammlungen erfolgen mit dem Ziel, einer sich entwickelnden Forschung Proben und Daten
zur Verfügung zu stellen, obwohl die konkreten Forschungsziele noch nicht bekannt sind.
Für den Vorteil dieses medizinischen Fortschritts untergräbt man die in Reaktion auf die
menschenverachtenden Humanexperimente im Dritten Reich entwickelte Idee des informed
consent, wonach die Zustimmung zu einer Probenabgabe nur dann erfolgen soll, wenn der
Proband oder Patient über den konkreten Zweck und eben nicht über eine sehr allgemeine
19 Biomarker-basierte und Big-Data-getriebene Medizin 291

Zielsetzung der Probengewinnung informiert worden ist. Eine so generelle Angabe, wie die
Ermöglichung des medizinischen Fortschritts, würde in anderen Datenschutzkontexten
nie akzeptiert. Dennoch wird ein solches Vorgehen eines broad consent beworben oder
eine Prozeduralisierung des Dilemmas, eine Freigabe von Proben und Daten ohne präzise
Zweckbindung zu fordern, qua Ethikkommissionen vorgeschlagen.
Der gesellschaftliche Preis jedoch ist hoch: Das Prinzip des informed consent, das
Vertrauen in die medizinische Forschung generiert hat und seit Jahrzehnten trägt, weil
es als Umsetzungsform des modernitätstypischen Selbstbestimmungsgedankens im Be-
reich medizinischer Forschung und Klinik gilt, wird zugunsten eines utilitären Kalküls
angegriffen. Zwar gäbe es theoretisch Modelle, analog zu den default-Einstellungsoptionen
beim Smartphone, auch gespendete Proben nur für bestimmte Forschungszwecke oder
-kontexte (zum Beispiel Länder, an die die Proben weitergereicht werden dürfen) freizuge-
ben. Solche Verfahren werden dynamic consent genannt. Vor diesem – gar nicht so hohen
– Aufwand, der die Vertrauenswürdigkeit der beteiligten Institutionen steigern könnte,
schreckt (derzeit) ein großer Teil der Forschung jedoch (noch) zurück.

5 Personalisierte Medizin und der soziale Druck des


präventiven Imperativs

Die Weiterentwicklung der Biomarker-basierten Medizin, gestützt durch das neue Tool
der Biobanken, führte zu einem neuen Hype, der sogenannten individualisierten oder
personalisierten Medizin. Sie trat mit dem zum Teil maßlosen Versprechen auf, für quasi
jeden Patienten eine individuelle Therapie entsprechend seinem biologischen Make-up
bereitzustellen (Vollmann et al. 2015). Nun hätte der nüchterne Blick auf die nahezu
unübersehbare Diversifizierung der verschiedenen biologischen und biomedizinischen
Forschungsgebiete, zunehmend durch bioinformatische und systemische Verfahren forma-
tiert, davor warnen können, hinter diesem Label sehr viel mehr als eine große Image- und
Werbekampagne vorwiegend der Pharmaindustrie vermuten zu können. Bestenfalls war
es möglich geworden, Stratifizierungen einzelner Patientengruppen (beispielsweise nach
Stark-, Schwach- und Normalmetabolisierer bestimmter Medikationen) vorzunehmen,
jedoch noch lange keine echte Individualisierung.
Spätestens mit diesem neuen medizinischen Versprechen spielt sich auch in der geho-
benen Medizin-Semantik offiziell eine neue, schon länger von verdachtshermeneutisch
agierenden Kritikern des Medizinsystems diagnostizierte Dominanz eines biomedizinisch
interpretierten Präventionsgedankens in den Umgang mit Gesundheit und vor allem mit
(der Vermeidung von) Krankheitsdurchbrüchen ein. Tests, vor allem genetische, aber auch
andere Biomarker-basierte, werden zu einem Inbegriff dieses biomedizinisch fundierten
Präventionsansatzes und durchbrechen die pathozentrische Logik nicht. Weil sie sich
zudem an ein eher gebildetes Milieu richten, schreiben sie zudem eine Tendenz fort, die
als Präventionsdilemma (Bauer 2005) bezeichnet wird: Von Präventionsangeboten profi-
tieren vor allem, die sie am wenigsten benötigten, während umgekehrt diejenigen, die sie
292 Peter Dabrock

am ehesten bräuchten, sich nicht angesprochen fühlen, so dass sich die gesundheitliche
Ungleichheit verstärkt (siehe die Beiträge von Lampert und Marckmann in diesem Band).
Zwar hat der biomedizinische Präventionsansatz seit der technischen und der darauf
folgenden rechtlichen Ermöglichung von Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik
schon lange reproduktive Entscheidungen geprägt, nun aber greift er auch auf den post-
natalen Bereich über. Im Zuge einer deutlichen Beschleunigung der Analyseverfahren
und Reduktion der Kosten wird das Gesundheitsbewusstsein vieler Menschen affiziert
und transformiert (Deutscher Ethikrat 2013). Symptomatisch zeigt sich solche Ansprech-
barkeit auf die erwähnte Entwicklung zum Beispiel am Angelina-Jolie-Effekt (Evans et
al. 2014): Nachdem bekannt wurde, dass sich die Schauspielerin Angelina Jolie aufgrund
der Diagnose, eine für eine Brustkrebserkrankung hochpenetrante Genmutation im Gen
BRCA 1 zu besitzen, einer beidseitigen Mastektomie unterzogen hatte, vervielfachten sich
in den zuständigen Versorgungszentren entsprechende Anfragen, analog durchgreifende
Therapien durchzuführen.
Generalisiert formuliert: Mit der biotechnologischen Möglichkeit, eigenverantwortlich
bestimmte präventive Maßnahmen durchführen zu können, scheint – auch medial in-
szeniert – der Druck zu wachsen, sich diesen Möglichkeiten nicht zu entziehen. Aus dem
Bereich pränataler Diagnostik ist dieser Trend bekannt. Postnatal entsteht jedenfalls durch
das individuell verfügbare Wissen um eigene Risikowerte ein bisher psychologisch-identi-
tätstheoretisch, aber auch sozialrechtlich, gesundheitsökonomisch und ethisch noch nicht
hinreichend verarbeiteter hybrider Status, der vielfach als „healthy ill“ (Hubbard 1993)
bezeichnet wird: Einerseits lassen sich zu einem Zeitpunkt t nach dem biomedizinischen
Modell Symptome einer Krankheit nicht identifizieren, andererseits sind Betroffene – je nach
prädiktiver Kraft eines Tests – einem hohen Risiko ausgesetzt, im Laufe einer bestimmten
Zeitspanne an einer ggf. lebensbedrohlichen Krankheit zu erkranken. Zumindest von ei-
nem subjektiven oder gesellschaftsrelativen Krankheitsbegriff wird man kaum eine echte
krankheitsrelevante Betroffenheit leugnen können, die der von vielen schwerwiegenden
manifesten Erkrankungen gleichkommt.

6 Big Data als große Rehybridisierungsmaschine

Während diese Form der prädiktiv orientierten Prävention schon ein hohes Maß, vor allem
medizinisch induzierter und damit solide gebildeter Partizipation der Betroffenen erfordert,
sorgt der jüngste Trend in der Nutzung medizinischer Daten für eine bisher unbekannte
Form der Partizipation derjenigen, die solche Daten zur Verfügung stellen (ob man sie
noch Patienten oder Probanden oder Konsumenten oder – wie es gerade euphemisch
en vogue ist – schlicht „citizens“ nennen sollte, sei dahingestellt): Nicht mehr allein im
Kontext klassischer Medizin und biomedizinischer Forschung erhebt sich dieser Ruf nach
Bürgerbeteiligung (erkennbar in immer intensiveren Versuchen von Patientenbewegun-
gen, unter anderem social media gestützt massiven Einfluss auf Forschungsprozesse zu
nehmen), sondern im Gefolge des derzeit nahezu sämtliche Lebensbereiche aufrüttelnden
19 Biomarker-basierte und Big-Data-getriebene Medizin 293

Big-Data-Trends kommt es zu einer Vermischung von (im engeren Sinne) medizinisch und
damit primär ärztlich erhobenen und ausgewerteten Daten auf der einen und von den Be-
teiligten „freiwillig“ zur Verfügung gestellten Informationen über die eigenen Sport- und
Wellnessaktivitäten auf der anderen Seite. Sogenannte Wearables und Fitness-Apps bieten
unter teils fadenscheinigen Incentives (wie Ranking-Positionen oder kleinen Boni) die
Möglichkeit, eine Vielzahl an biomedizinischen Daten zu sammeln und ggf. auch für die
ärztliche Behandlung, aber auch für die Einordnung des eigenen Krankenversicherungsri-
sikoprofils zur Verfügung zu stellen („zu nutzen“ wäre wohl eine zu naive Formulierung).
Dass Big Data neben einer möglichen Intensivierung sämtlicher klassischer Medizinberei-
che (Nuffield Council 2015, Langkafel 2014) auch bedeutet, dass eine Vielzahl dieser Daten
diesseits und jenseits des klassischen Gesundheitssystems, oftmals sehr intransparent und
vielfach von einem oder mehreren der großen kalifornischen Datenoligarchen verwendet
und weitergereicht wird, ist vielen Verbrauchern und Patienten, aber offensichtlich auch
politischen Verantwortungsträgern nicht bewusst. So reicht die Google-Tochter 23-and-me
genetische Make-ups ihrer Klienten – konform mit Geschäftsbedingungen, die bekann-
termaßen von kaum jemandem komplett gelesen werden – ungefragt an Pharmafirmen
weiter. Google selbst steigt zwar (noch) nicht aktiv in den Versicherungsmarkt, jedoch
bereits in das Providergeschäft dieses Marktes ein.
Big Data hält einerseits enorme Vorteile für die Krankheitsbekämpfung bereit (Raghupathi
& Raghupathi 2014), indem die vor allem in der Onkologie genutzte Biomarker-basierte
Medizin durch die immer stärker anwachsende Datenmenge mit Hilfe immer komple-
xerer Algorithmen und schnellerer Rechnerkapazitäten völlig unerwartete Korrelationen
untersuchen kann, die dann als Hypothesen die Grundlage für eine kausale Analytik
bereitstellen können. Zugleich werden diese Datenberge nie mehr abgetragen: Das Netz
vergisst nicht mehr. Bis in die Vergangenheit hinein können deshalb im Prinzip struk-
turierte und unstrukturierte, krankheitsspezifische und gesundheitsrelevante Daten aus
völlig unterschiedlichen Kontexten – angefangen von persönlichen klinischen Akten
über Forschungs- und Public-Health-Daten bis hin zu von Usern von Fitness-Apps und
Wearables – zusammengetragen werden.
Natürlich spricht gegen eine solche Praxis in Deutschland und der EU derzeit der
Datenschutz. Wie weit und ob dieser mit seinen Prinzipien und Instrumentarien aber auf
Dauer noch trägt, darf bezweifelt werden. Zwei globale Trends unterlaufen seine Effektivität:
Einerseits haben verschiedene Versuche schon vor der eigentlichen Big-Data-Revolution
gezeigt, dass das Versprechen der Anonymisierung von Patienten- und Probandendaten
immer schwerer einzuhalten ist. Der proof-of-principle ist gelungen, dass selbst aus epide-
miologischen Studien mit anonymisierten Daten Individuen reidentifiziert werden konnten
(Braun et al. 2009). Mit Hilfe von Big-Data-Anwendungen wird dieser derzeit noch einen
intensiven Aufwand benötigende Weg immer leichter zu gehen sein. Andererseits fahren
immer mehr der großen Forschungsförderer wie die NIH in den USA oder die Royal So-
ciety in UK eine sogenannten „open data policy“. Das bedeutet, dass Forschungsprojekte
ihre Rohdaten im Netz zur Verfügung stellen müssen – eine wahre Fundgrube gerade
für die in immer mehr Lebensbereiche (z. B. die Biotechnologie- ebenso wie die Versiche-
294 Peter Dabrock

rungsbranche) drängenden großen kalifornischen Datenoligarchen, die über die besten


Big-Data-gestützten Verfahren verfügen.
Datenschutz und Privatheit dürften immer schwerer zu realisieren sein, insbesonde-
re wenn aufgrund der kurzfristigen Incentives viele Menschen „eigenverantwortlich“
bereit sind, ihre de facto nicht mehr löschbaren, sondern auf Dauer analysierbaren und
wieder- und weiterverwertbaren Daten den großen Daten verarbeitenden Unternehmen
zur Verfügung zu stellen. Setzt sich dieser Trend fort, wird die Biomarker-basierte und
Big-Data-getriebene Medizin zu einem, allerdings angesichts der erkennbar nicht abneh-
menden Bedeutung von Gesundheits- und Langlebigkeitssehnen entscheidenden, Element
in einer vom Datenkapitalismus dominierten Welt.

7 Soziale Folgen der Biomarker-basierten und Big-Data-


getriebenen Medizin

Wie die gerade skizzierte komplexe Genealogie zu deuten und welche, neben den bereits
erwähnten, sozialen Folgen daraus für die Gegenwart und die absehbare Zukunft abzuleiten
sind, ist nicht ausgemacht. Dennoch erscheint es möglich, einige recht plausible Trendan-
gaben zu machen. Für die Gegenwart ist zunächst zu konstatieren, dass sich neben dem
klassischen Paradigma der biomedizinischen Reparaturmedizin eine unter dem Schlagwort
der 4-P-Medizin (prädiktiv, präventiv, personalisiert, partizipativ) rubrizierte Medizin
nicht nur etabliert hat, sondern gegenüber der ersten semantisch die Dominanzposition
eingenommen hat. Möglich wurde dieser Positionswechsel, weil im Big-Data-Zeitalter die
schon mit der Genetik gemachten, dann in der Frühphase der Genomik und der sogenannten
personalisierten respektive individualisierte Medizin wiederholten und mit unterschiedlichen
Gründen jeweils weitgehend leer gebliebenen Versprechungen eine deutlich realistischere
Basis erhalten haben. Mit Hilfe der Big-Data-Methoden kann die Stratifizierungsdynamik
der Biomarker-basierten Medizin inzwischen so differenziert vorangetrieben werden, dass
sie je nach Krankheitsgebiet spürbar in die Nähe des Versprechens einer biomedizinischen
Individualdiagnostik und -therapie gerät.
In der Folge dieser Entwicklung werden demnächst nicht nur im Bereich einiger Krebs-
erkrankungen, sondern bis hinein in die Sektoren sogenannter Volkskrankheiten und
chronischen Krankheiten immer mehr Menschen sich als healthy ills charakterisieren
können oder müssen. Was dies für deren somatisches und psychisches Selbstwertgefühl,
mit allen Auswirkungen für ihre sozialen Nahbeziehungen wie für ihr berufliches wie
gesellschaftliches Engagement bedeutet – ganz zu schweigen von den gesundheitsökono-
mischen und sozialrechtlichen Implikationen – lässt sich kaum abschätzen. Ein Volk von
bio- und medizintechnisch fabrizierten Hypochondern erscheint weder volkswirtschaftlich
noch soziologisch erstrebenswert.
Insbesondere die an sich ja Krankheiten verhindern sollende Präventionschance trans-
formiert sich sozial- und individualpsychologisch schnell zum Präventionsimperativ. Dieser
Sog ist in allerlei distanzierten Deutungen eines neoliberalen Gesellschaftskurses, teils
19 Biomarker-basierte und Big-Data-getriebene Medizin 295

generell, teils mit Bezug auf eine gesundheitsbezogene Perfektionslogik kritisiert worden. In
den moderaten Varianten, die den Präventionsimperativ nicht gleich als Präventionszwang
auslegen, wird jedenfalls konstatiert, dass diejenigen, die sich diesem Imperativ verweigern,
sozial in Beweislastigkeit für ihr normabweichendes Verhalten geraten. Gerade wenn die
an der bedingungslos zuerkannten Würde orientierte Verfassungswirklichkeit (zumindest
in diesem Lande) robust bleibt, wird ein solcher Präventionsimperativ nicht über formale
Sanktionen von statten gehen, und auch starke Formen informeller Sanktionen dürften
(vorerst) abgewehrt werden. Ankerkennungsentzüge, Stigmatisierungen und schwer
nachweisbare Diskriminierungen dürften dagegen – je nach gesellschaftlichem Erwar-
tungstrend – ein eher leichteres Spiel bekommen. Der massive Rückgang von Menschen
mit Down-Syndrom aufgrund der pränatalen Testregime stellt das krasseste Beispiel für
einen solchen normalisierungswütigen Trend dar. Im Bereich postnataler Biomarker-ba-
sierter Testung werden natürlich nicht solch selektive Effekte um sich greifen. Dass aber
die sozialpsychologisch bekannte Identifizierung von statistischer Normalisierungslogik
und sozialer Normerfüllung gerade im Grenzbereich von Medizin und Körperkultivierung
durch die skizzierten medizinischen und vor allem Daten-getriebenen Selbstvermessungs-
verfahren gefördert wird, muss keineswegs nur in einer verdachtshermeneutischen Prognose
behauptet werden. Dass gesundheitliche Ungleichheit gemäß dem Deutungsangebot des
Präventionsdilemmas verstärkt werden könnte, gilt es zudem sorgsam zu beobachten.
Beunruhigend erscheint vor allem die Transformation des Partizipationsaspektes durch
das Zusammenwachsen der Logiken von 4-P-Medizin und datengetriebenen Selbsttra-
cking-Aktivitäten. Während der Präventionsbegriff ursprünglich die Konnotation der
aufgeklärten, politisierten Selbstermächtigung zum Zwecke der Gemeinwohlförderung
mit sich führte und führt, scheint diese Vision in der skizzieren Melange – wenn nicht
absehbar gegengesteuert wird – nahezu in ihr Gegenteil verkehrt. Tatsächlich strahlen
die Vermessungsmöglichkeiten eigener (Körper-)Aktivitäten und ihre Vernetzung mit
gesundheitsbezogenen Daten, subsumiert unter dem Schlagwort eines „quantified self“
eine solche Attraktivität aus, dass man darin geradezu eine stereotype Realisierung dessen
erkennen kann, was schon seit Jahrzehnten unter Stichworten wie religionssubstitutiver
Körperkult oder Healthism diagnostiziert wird (Gugutzer & Böttcher 2012).
Wie wenig hier – diesseits eines philosophisch anspruchsvollen Konzeptes von Selbst-
bestimmung – ein Freiheitsgewinn durch Partizipation zu erwarten ist, zeigt sich daran,
dass die – wenn nicht politisch gegengesteuert wird – zunehmend intransparente Weiter-
verwertung von gesundheitsbezogenen, eben auch persönlich qua self-tracking gesam-
melten Daten sich gegen die Datengeber wenden kann. Was vordergründig als gesteigerte
Möglichkeiten der Partizipation erscheint, entpuppt sich dann als Selbst-Reifizierung
(Selke 2014): Schwächen Versicherte nicht ihre eigene Position, wenn sie mit kleinen Bo-
ni-Versprechen wie Fitnesskursen oder verbesserten Tarifen ihren Krankenversicherungen
mit dem für sie Wichtigsten, nämlich Daten, versorgen und so den auf der bisherigen
Versicherungslogik der großen Zahl aufruhenden Risikopool eigenmächtig kleinteiliger
machen? Oder wenn sie gar nicht merken, wie sie zu Produkten einer global agierenden
Datenindustrie werden, die in ihren politischen Ambitionen höchst fragwürdig agiert,
296 Peter Dabrock

indem sie beispielsweise einerseits beim Konsumenten auf Transparenz setzt, andererseits
aber selbst höchst intransparent vorgeht? Weil sie überwiegend im Silicon Valley lokalisiert
ist, entzieht sich diese Datenindustrie zudem weitgehend dem, global betrachtet, strengen
europäischen Datenschutzregime und gewinnt mit kleinsten Incentives größte Einblicke in
die intimsten, eben auch krankheits- und gesundheitsrelevanten Seiten der Datennutzer.
Hier wächst offensichtlich zusammen, was nicht zusammengehört.
Systemtheoretisch bedeutet dies: Gerade wenn man die sozialen Folgen der Biomar-
ker-basierten und Big-Data-getriebenen Medizin abschätzen will, wird man den größeren
Kontext einer dem systemtheoretischen Ansatz ganz fremd erscheinenden Rehybridisie-
rungstendenz ernst nehmen müssen. Daten können zwischen ehedem operativ geschlossen
wirkenden Funktionssystemen so perfekt hin und her geschoben werden, dass derart
schnell zwischen vermeintlichen differenten Codes gewechselt werden kann, sodass die
operative Schließung auf dem Papier, aber in der Perspektive der betroffenen Personen
und Organisationen kaum noch wirksam ist. Für den Bereich der hier skizzierten Medizin
bedeutet dies, dass technisch alle Voraussetzungen gegeben sind, dass Forschung, Public
Health, klassische Medizin, Fitness- und Wellnesstrends in einem nie gekannten Maße in
der Selbst- und Fremdwahrnehmung der jeweiligen Akteure im Feld, einschließlich der
skizzierten ökonomischen Interessen der Daten-verarbeitenden Unternehmen, engstens
zusammenrücken.
Auf der Ebene der identitätskonstruktiven Deutung der Selbstsorge der Individuen sowie
der interpersonalen wie gemeinschaftlichen Fortschreibung dieser Arbeit im mikrosozialen
Bereich gewinnt man den Eindruck, dass zahlreiche, der von nicht wenigen lange Jahre, als
verdachtshermeneutische Spekulation abgetanen biopolitischen und -sozialen Großthe-
orien (Folkers & Lemke 2014) sich zunehmend bewahrheiten. Viele Menschen verbuchen
ihre körperbezogenen, gesundheitssensiblen und krankheitspräventiven Aktivitäten als
Freiheitsgewinn, fügen sich jedoch selbstdisziplinierend in ein größeres Ganzes ein, das
nicht mehr – wie von Foucault beschrieben – biopolitisch derart zu begreifen ist, dass der
Souverän den Volkskörper seiner Untertanen zu stärken gedenkt, sondern dass die Indi-
viduen als betriebswirtschaftliches Produkt (daten-)ökonomischer Interessen kategorisiert
und vernetzt werden können. Die biosoziale Gouvernementalisierungsthese, wonach anstelle
eines äußeren Zwangs ein innerer Drang die vor allem präventive Selbstbeobachtung und
Eigenverantwortung steuert, muss also noch schnöder, nämlich ökonomisch und nicht
politisch geschrieben werden.
Um die eigene Perspektivlosigkeit bei gesellschaftlichen Problemlagen zu kaschieren,
reagiert der Kammerton politischer Korrektheit gewöhnlich mit der Forderung, die betrof-
fenen Individuen müssten befähigt, „empowered“, werden. Für die skizzierte Entwicklung
der Biomarker-basierten und Big-Data-getriebenen Medizin wird dabei vor allem an die
Befähigung zum verantwortlichen, sprich: nüchternen Umgang mit genetischen Tests und
ihrer begrenzten Aussagekraft, aber auch ein sensibleren Umgang mit medizinischen und
gesundheitsbezogenen Daten im Sinne einer vorsorglichen Datensparsamkeit angemahnt.
Politisch wird dann – wider besseres Wissen – litaneiartig der Schutz vor Diskriminierung,
Stigmatisierung sowie eine wirksame Umsetzung der Datenschutzprinzipien eingefordert
19 Biomarker-basierte und Big-Data-getriebene Medizin 297

und vor wachsender sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit gewarnt. Angesichts der
globalen Dynamik, die heute und morgen die Medizin prägen wird, erscheinen diese
Forderungen, aus dem Geiste systematischer Überforderung geboren, wie symbolische
Kapitulationsanzeigen, dass den Verantwortlichen wenig einfällt. Es gibt jedenfalls zu
denken, dass im internationalen Diskurs zu den Folgen von Big Data in der Medizin
zunächst konstatiert wird, dass die alten Datenschutzregime nicht mehr greifen, dass
Appelle an das Individuum zum verantwortlichen Umgang mit Gesundheitsdaten zwar
nicht völlig verkehrt sind, aber doch recht folgenlos bleiben (Enserink et al. 2015). Denn
der Einzelne kann überhaupt nicht mehr Souverän der eigenen Daten sein. Das gegenwär-
tige und kommende Problem im Umgang mit medizinischen Daten im Big-Data-Zeitalter
wird nur dann an der Wurzel gepackt werden, wenn auf höchster internationaler Ebene
effektive und nicht nur Camouflage-Regelungen den Einfluss der Datenökonomie politisch
begrenzen. Ohne solche durchgreifenden Regulierungen droht nach Auffassung renom-
mierter Autoren (paradigmatisch Morozov 2013) der Verlust realer Freiheit und (politisch
verstandener) Partizipation. Wenn ausgerechnet das Sehnen nach Gesundheit durch die
Nutzung der mit self-tracking zusammengewachsenen 4-P-Medizin diese normative
Grundlage des Menschseins gefährdet, wäre dies eine düstere Aussicht für die mit diesen
Methoden gewonnenen Lebensjahre.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Die heutige Biomarker-basierte und Big-Data-getriebene Medizin dürfte das Ver-
ständnis von Gesundheit und Krankheit, individueller und sozialer Identität wie
Gesellschaft nachhaltig verändern.
▶ Prädiktion, selbstdisziplinierende Prävention, biomedizinisch verstandene Perso-
nalisierung und bioökonomische Partizipation prägen diese neue Medizin und ihre
personale und gesellschaftliche Rezeption.
▶ Insbesondere durch die Big-Data-Dynamisierung kommt es nicht nur zur erheblichen
Gefährdung von Datenschutzstandards, sondern auch sachlich zu einer Hybridisie-
rung ursprünglich differenzierter Sektoren und damit verbundenen Informationen
sowie zu einer weiterführenden Einordnung dieses Trends in eine weitgehend un-
regulierte Datenökonomie.
▶ Traditionelle empowerment-Ansätze werden nicht ausreichen, um in dieser komplexen
Dynamik, in der die moderne Medizin nur ein – wenn auch gewichtiges – Puzzlestück
ist, wirkliche Freiheit als gesellschaftspolitische Entscheidungsfähigkeit zu wahren.
▶ Im Grunde würde nur eine Regulierung auf höchster internationaler Ebene den
Risiken begegnen können, die mit der Biomarker-basierten und vor allem Big-Da-
ta-getriebenen Medizin für den Einzelnen wie für die Gesellschaft erscheinen.
298 Peter Dabrock

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Was macht den Unterschied zwischen klassischen Präventionsansätzen und den bio-
medizinisch basierten, auf prädiktiven Tests aufruhenden Präventionsstrategien aus?
▶ Welche Chancen, welche Risiken bietet die Biomarker-basierte und Big-Data-ge-
triebene Medizin?
▶ Wo liegen neben den Chancen die individuellen und sozialen Risiken, wenn jemand
Gesundheits- oder Fitness-Apps nutzt?
▶ Welche Governance-Strategien sind möglich oder nötig, um den Nutzen der Bio-
marker-basierten und Big-Data-getriebenen Medizin möglichst intensiv zu steigern
und Schäden möglichst gering zu halten?

Leseempfehlungen

t Enserink, M., G. Chin, B. Wible & B. Jasny (Hrsg.), 2015: Special issue: the end of pri-
vacy. Science 347: 453-580.
Dieses Science-Sonderheft gibt einen umfassenden Einblick in die technischen, juristischen,
ethischen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen, wie Privatheit im Big-Data-Zeit-
alter herausgefordert und wie sie zu schützen und zu fördern ist.

t Folkers, A. & T. Lemke (Hrsg.), 2014: Biopolitik: Ein Reader. Berlin: Suhrkamp.
In diesem mit einer ausgezeichneten Einleitung versehenen Band finden sich Zentral-
texte der wichtigsten biopolitischen Ansätze versammelt, die – oftmals vor Jahrzehnten
entwickelt – der Biomarker-basierten und Big-Data-getriebenen Medizin ein kritisches
Deutungspotential entgegenstellen können.

t Morozov, E., 2013: Smarte neue Welt: Digitale Technik und die Freiheit des Menschen.
München: Blessing.
Ohne ein technikfeindliches Plädoyer zu halten, weist Evgeny Morozov wie kaum ein
anderer auf die hohen, freiheitsgefährdenden Ambivalenzen der digitalen Technik hin.
Sie betreffen auch den Medizin- und Gesundheitssektor.

t Nuffield Council on Bioethics, 2015: The collecting, linking and use of data in biomedical
research and health care: ethical issues. URL: http://nuffieldbioethics.org/wp-content/
uploads/Biodata-Single-A4-PDF.pdf.
Ein fachlich ausgezeichneter und zudem verständlich geschriebener Überblick über die
Möglichkeiten der Datennutzung in der Biomedizin, der ethische, rechtliche und sozial-
wissenschaftliche Reflexionen einschließt.
19 Biomarker-basierte und Big-Data-getriebene Medizin 299

t Vollmann, J., V. Sandow, S. Wäscher & J. Schildmann (Hrsg.), 2015: The ethics of per-
sonalised medicine: critical perspectives. Farnham, Burlington: Ashgate.
Ein interdisziplinäres Kompendium, dessen sämtliche Artikel den schillernden Begriff
der personalisierten Medizin entmythologisieren.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.drze.de
Das beste webbasierte, deutschsprachige Informationsportal über den aktuellen Stand
der medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen und ethischen, psychologischen,
rechtlichen und sozialen Folgen im Bereich von Biomedizin und -wissenschaft.

Film „Gattaca“, USA 1997, 106 Minuten, Produktion: Danny DeVito, Regie und Buch:
Andrew Niccol
In retrofuturistischem Ambiente wird eine Gesellschaft entworfen, in der alle gesell-
schaftlichen Kommunikationen und Institutionen – von der Partnerwahl über die
Reproduktion hin zur Berufswahl und Verbrechensbekämpfung – durch genetische
Testung mit ihren Inklusions- und vor allem Exklusionsmechanismen bestimmt sind.
Sieht man diesen Film nicht mehr mit der Brille des genetischen Exklusivismus, sondern
ersetzt diesen durch die Möglichkeiten der Biomarker-basierten und Big-Data-getrie-
benen Medizin, erscheint dieser Klassiker aktueller denn je.

Literatur

Bauer, U., 2005: Das Präventionsdilemma. Potentiale schulischer Kompetenzförderung im Spiegel


sozialer Polarisierung. Wiesbaden: VS Verlag.
Braun, R., W. Rowe, C. Schaefer, J. Zhang & K. Buetow, 2009: Needles in the haystack: Identifying
individuals present in pooled genomic data. PLoS Genet. 5: e1000668.
Deutscher Ethikrat, 2013: Zukunft der genetischen Diagnostik: Von der Forschung in die klinische
Anwendung. Berlin.
Enserink, M., G. Chin, B. Wible & B. Jasny (Hrsg.), 2015: Special Issue: The End of Privacy. Science
347: 453-580.
Evans, G.R., J. Barwell, D.M. Eccles, A. Collins, L. Izatt, C. Jacobs, A. Donaldson, A.F. Brady, A.
Cuthbert, R. Harrison, S. Thomas, A. Howell, the FH02 Study Group, RGC teams, Z. Miedzy-
brodzka & A. Murray, 2014: The Angelina Jolie effect: how high celebrity profile can have a major
impact on provision of cancer related services. Breast Cancer Research 16: 442.
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Fox-Keller, E., 2002: The century of the gene. Harvard: Harvard University Press.
Gugutzer, R. & M. Böttcher, (Hrsg.), 2012: Körper, Sport und Religion: Zur Soziologie religiöser
Verkörperungen. Wiesbaden: VS Verlag.
300 Peter Dabrock

Hüsing, B., J. Hartig, B. Bührlen, T. Reiß & S. Gaisser, 2008: Individualisierte Medizin und Gesund-
heitssystem: Zukunftsreport (Arbeitsbericht Nr. 126 des Büros für Technikfolgen-Abschätzung
beim Deutschen Bundestag). O. O.
Hubbard, R., 1993. Predictive genetics and the construction of the healthy ill. Suffolk University
Law Review 27: 1209-1224.
Langkafel, P. (Hrsg.), 2014: Big Data in der Medizin und Gesundheitswirtschaft: Diagnose, Therapie,
Nebenwirkungen. Heidelberg: medhochzwei.
Lemke, T., 2004: Veranlagung und Verantwortung: Genetische Diagnostik zwischen Selbstbestim-
mung und Schicksal. Bielefeld: Transcript.
McKeown, T., 1982: Die Bedeutung der Medizin: Traum, Trugbild oder Nemesis?. Frankfurt:
Suhrkamp.
Morozov, E., 2013: Smarte neue Welt: Digitale Technik und die Freiheit des Menschen. München:
Blessing.
Müller-Wille, S. & H.-J. Rheinberger, 2009: Das Gen im Zeitalter der Postgenomik: Eine wissen-
schaftshistorische Bestandsaufnahme. Frankfurt: Suhrkamp (edition unseld).
Nuffield Council on Bioethics, 2015: The collecting, linking and use of data in biomedical research
and health care: ethical issues. URL: http://nuffieldbioethics.org/wp-content/uploads/Bioda-
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Raghupathi, W. & V. Raghupathi, 2014: Big data analytics in healthcare: promise and potential.
Health Information Science and Systems 2: 3.
Selke, S., 2014: Lifelogging: Wie die digitale Selbstvermessung unsere Gesellschaft verändert. Berlin:
Econ.
Vollmann, J., V. Sandow, S. Wäscher & J. Schildmann (Hrsg.), 2015: The Ethics of Personalised
Medicine: Critical Perspectives. Farnham, Burlington: Ashgate.
Die mediale Konstruktion von Gesundheit
und Krankheit 20
Constanze Rossmann
20 Die mediale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit

Überblick
▶ Welche Rolle spielen die Medien im Alltag der Menschen?
▶ Wie werden Gesundheit und Krankheit in den Medien dargestellt?
▶ Welchen Einfluss haben Medien auf gesundheitsspezifische Vorstellungen, Einstel-
lungen und Verhaltensweisen?
▶ Welche Implikationen ergeben sich daraus für Theorie und Praxis?

1 Die Rolle der Medien im Alltag

Die deutschen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger verbringen einen Großteil ihrer Zeit
mit der Nutzung von Medien. Pro Tag wenden sie fast zehn Stunden für die Rezeption
audiovisueller, gedruckter und online verfügbarer Medieninhalte auf. Der größte Zeitanteil
entfällt auf Fernsehen (220 Minuten) und Hörfunk (187 Minuten). Dabei spielen nicht
nur Informationsangebote eine Rolle. Vielmehr entfiel im Jahr 2012 über die Hälfte der
gesamten Fernsehnutzungszeit auf Unterhaltungssendungen (sowohl fi ktional, zum Bei-
spiel Spielfi lme und Serien, als auch nonfi ktional, zum Beispiel Game- oder Castingshows;
Media Perspektiven 2014). Hinter den beiden „Medienschwergewichten“ fällt die Nutzung
der übrigen Medien deutlich ab. CDs und andere Tonträger werden durchschnittlich 35
Minuten am Tag genutzt, Zeitungen 23 Minuten, Bücher 22, Zeitschriften nur 6 und Vi-
deos/DVDs 5 Minuten. Die Internetnutzung ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen,
von durchschnittlich 13 Minuten im Jahr 2000 auf 166 Minuten im Jahr 2014. Die Nut-
zungszahlen schlagen sich auch in den Tagesreichweiten der Medien nieder. Während die
Reichweite der Tageszeitung stetig zurückgeht, ist sie bei Fernsehen und Hörfunk konstant
hoch (bei 86 bzw. 79 %) und beim Internet auf eine Gesamtreichweite von 75 % angestiegen
(van Eimeren & Frees 2012).
Am Beispiel des Internet lässt sich auch das gestiegene Interesse für mediale Gesundheits-
informationen veranschaulichen. So hat die Nutzung von Online-Gesundheitsangeboten in

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_20, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
302 Constanze Rossmann

den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Waren es im Jahr 2000 nur 7 % der deutschen
Bevölkerung ab 16 Jahren, die das Internet als Informationsquelle für Gesundheitsfragen
nutzten (Identity Foundation 2001), so stieg der Anteil im Jahr 2006 bereits auf 46 % der
Deutschen ab zehn Jahren an (Mohr 2007). Im Jahr 2012 informierten sich knapp drei
Viertel der deutschen Onliner ab 18 Jahren zumindest gelegentlich im Internet über Fragen
der Gesundheit (SKOPOS 2012). Auch im Vergleich mit dem persönlichen Arztgespräch
oder anderen interpersonalen Kontakten haben klassische Medien und Onlineangebote
an Bedeutung gewonnen. Unter Onlinenutzern rangieren Internet und Fernsehen als
Informationsquelle für Gesundheitsthemen sogar noch vor Freunden und Verwandten,
Ärzten und Apothekern (SKOPOS 2012).
Dies macht deutlich, wie wichtig Online- und Massenmedien für die Vermittlung von
Gesundheitsinformationen sind. Gerade dort, wo eigene direkte Erfahrungen und andere
Informationsquellen fehlen, haben sie das Potenzial, die Wahrnehmung von Gesundheit
und Krankheit zu beeinflussen. Dies bietet nun einerseits die Möglichkeit, die Medien
bewusst einzusetzen, um über Gesundheit und Krankheit aufzuklären. Andererseits birgt
die durch Journalisten (Informationsmedien), Produzenten, Regisseure (fiktionale Medien-
angebote) oder auch Laien (zum Beispiel in Online-Foren) vorgenommene Thematisierung
von Gesundheit in den Medien auch Risiken, etwa wenn bestimmte Themen überbetont
und andere, eigentlich wichtigere Themen vernachlässigt werden.
Mit ebendiesem Wechselspiel setzt sich das Forschungsfeld der Gesundheitskommu-
nikation auseinander, in das Erkenntnisse der Medizin und Gesundheitswissenschaften,
Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Wirtschaftswissenschaften, Politologie und Linguistik
genauso hineinspielen, wie die der Kommunikationswissenschaft (Hannawa et al. 2015).
Angesichts der Tatsache, dass sich dieser Beitrag mit der Bedeutung der Medien für Ge-
sundheit und Krankheit auseinandersetzt, steht die kommunikationswissenschaftliche
Perspektive in diesem Beitrag im Vordergrund. Gesundheitskommunikation wird dabei
verstanden als „jegliche Kommunikation über Gesundheit und Krankheit, die mit der
Intention einer Gesundheitsversorgung oder -förderung initiiert wird oder nebenbei in der
massenmedialen oder Alltagskommunikation stattfindet.“ (Rossmann et al. 2014: S. 81, für
eine ausführliche Diskussion des Begriffsverständnisses Baumann & Hurrelmann 2014)
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich zunächst mit der Frage, welchen Stellenwert
Gesundheitsthemen in den Medien haben und wie sie dargestellt werden. Der zweite Teil
widmet sich der Frage, ob und wie die Darstellung von Gesundheitsthemen in den Medien
die Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit und Gesundheitsverhalten beeinflusst.
Abschließend werden positive und negative Implikationen dieser Befunde diskutiert.
20 Die mediale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit 303

2 Darstellung von Gesundheit und Krankheit in den Medien

2.1 Stellenwert in den Medien

Zunächst stellt sich die Frage, welche Rolle Gesundheit und Krankheit in den Medien
generell spielen. Scherr (2014) kommt auf der Basis unterschiedlicher Sekundärdaten
(zum Beispiel Programmberichte der Landesmedienanstalten, IVW-Auflagenzahlen des
Zeitschriftenmarktes) zu dem Schluss, dass Gesundheitsthemen im Vergleich zu anderen
Themen in der deutschen Medienlandschaft eine vergleichsweise unbedeutende Rolle
spielen. So entfielen in den Jahren 2010 und 2011 lediglich 1 bis 4 % der Gesamtsendezeit
des Fernsehens auf Gesundheits- und Verbraucherthemen. Allerdings waren die Anteile
je nach Genre sehr unterschiedlich. Mit bis zu 43 % der Sendezeit im Jahr 2011 nahmen
Gesundheit und Verbraucherthemen in Magazinsendungen sogar einen relativ hohen
Stellenwert ein (Scherr 2014). Jandura und Rossmann (2009) stellten in ihrer Inhaltsana-
lyse von Boulevardmagazinen im Fernsehen fest, dass Gesundheit immerhin in zwei von
drei Sendungen angesprochen wird und in jedem zehnten Beitrag vorkommt. Auch auf
dem Zeitschriftenmarkt spielt das Thema Gesundheit eine vergleichsweise große Rolle
(Scherr 2014).
Solche Analysen beschränken sich jedoch meist auf die explizite Darstellung gesund-
heitsspezifischer Inhalte und lassen außer Acht, dass gesundheitsrelevante Informationen
häufig indirekt vermittelt werden, etwa wenn in der Werbung für ungesunde Lebensmittel
geworben wird, Protagonisten in Fernsehserien oder Spielfilmen Sport treiben oder wenn
im Dschungelcamp persönliche Krankheitsgeschichten verhandelt werden (zur Gesund-
heitsrelevanz von Unterhaltungsangeboten vgl. auch Lampert 2014). Bezieht man solche
Inhalte mit ein, dürfte der Anteil von Gesundheit und Krankheit in den Medien noch
deutlich höher liegen. Gleichzeitig wächst das Angebot an gesundheitsbezogenen Online-
inhalten und Smartphone-Apps (Rossmann & Karnowski 2014; siehe auch Dabrock in
diesem Band). Weltweit beschäftigen sich derzeit bereits gut 18 % der verfügbaren Apps
mit Gesundheit, Medizin, Sport, Essen und Lifestyle (Statista 2015).

2.2 Gesundheit und Krankheit in Informationsangeboten

Die Nutzung und Verfügbarkeit von Gesundheitsangeboten in Massenmedien und On-


lineangeboten birgt Potentiale und Risiken. Auf der einen Seite eignen sich die Medien
gut als Kanal für die Aufklärung über Gesundheitsthemen, auf der anderen Seite kann
die verzerrte Darstellung gesundheitsbezogener Inhalte auch zu einer verzerrten Wahr-
nehmung von Gesundheitsrisiken führen oder ungesunde Verhaltensweisen bestärken.
Tatsächlich lassen sich solche Verzerrungen in der Darstellung von Gesundheitsthemen
häufiger feststellen.
So sind bestimmte Themen und Erkrankungen im Vergleich zu ihrer tatsächlichen
Bedeutung in der medialen Berichterstattung überrepräsentiert, während andere, statis-
tisch bedeutsamere Krankheiten, unterrepräsentiert sind. Aspekte der Prävention finden
304 Constanze Rossmann

weniger mediale Aufmerksamkeit als medizinische Behandlungen (Stryker 2008) und


außergewöhnliche Risiken und Gefahren, die viele Menschen über einen kurzen Zeitraum
hinweg bedrohen (Ruhrmann & Guenther 2014). Entsprechend stellten Bomlitz und Brezis
(2008) fest, dass akute Gesundheitsbedrohungen wie SARS oder Bioterrorismus, die eine
vergleichsweise geringe Mortalitätsrate aufweisen, häufiger berichtet werden als alltägliche
Gefahren wie Bewegungsmangel oder Rauchen mit einer hohen Mortalitätsrate. Weitere
Studien deuten darauf hin, dass HIV/AIDS in den Medien mehr Aufmerksamkeit erfährt
als eigentlich häufiger verbreitete Krebs- und Herzerkrankungen, Brustkrebs wird häufiger
berichtet als Lungenkrebs, genauso entspricht die Häufigkeit der Berichterstattung über
Magersucht und Bulimie nicht ihrer tatsächlichen Verbreitung, und das Risiko, durch
Drogenmissbrauch, Verkehrsunfälle oder toxische Stoffe zu sterben, ist im Vergleich zum
Risiko durch Nikotinkonsum überrepräsentiert (im Überblick Fromm et al. 2011, Kline 2011).
Dies lässt sich damit erklären, dass der Gesundheits- und Medizinjournalismus den-
selben Regeln folgt, wie der Journalismus generell (Wormer 2014): Interessant ist, was
neu, überraschend und negativ ist, eine hohe Reichweite, geografische und soziale Nähe,
Betroffenheit, Prominenz und Emotionalisierung mit sich bringt und somit viele sog.
Nachrichtenfaktoren abdeckt. Diese Faktoren haben nicht nur einen Einfluss darauf,
was selektiert und berichtet wird, sondern auch wie die Beiträge aufbereitet werden (zur
Nachrichtenwerttheorie Staab 1990). So kann das Interesse an Sensationen und Dramen
durch die Überbetonung abweichender Ergebnisse, prominenter Akteure oder auffälliger
Missstände auch zu irreführenden Schlagzeilen führen (Stryker 2008, Shuchmann &
Wilkes 1997). Allerdings sind nicht nur Medizin- und Gesundheitsjournalisten für solche
Verzerrungen verantwortlich. Vielmehr lassen sich inhaltliche Mängel bereits in Presse-
mitteilungen feststellen, die von Forschungsinstitutionen an die Presse herausgegeben
werden, um über neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu berichten (Sumner et al. 2014).
Neben der Über- und Unterbetonung von Gesundheitsrisiken lassen sich in der Me-
dienberichterstattung weitere problematische Darstellungsmuster erkennen. Unter dem
Stichwort „Victim Blaming“ wird die Tendenz diskutiert, den Betroffenen die Schuld an
ihrem Leiden selbst zuzuschreiben (z. B. Krebserkrankungen, Übergewicht), wohingegen
soziale und politische Ursachen in der Berichterstattung vernachlässigt werden (Fromm et
al. 2011). Darüber hinaus neigen Medien zur sogenannten Medikalisierung von körperlichen
Problemen, d. h. eigentlich normale körperliche Prozesse werden als Gesundheitsproblem
deklariert, dem mithilfe von Medikamenten Abhilfe geleistet werden muss (zum Beispiel
Schlafprobleme, Menopause; Fromm et al. 2011, Kline 2011). Mit den Begriffen Professiona-
lisierung und Technologisierung beschreibt Kline (2011) außerdem die Beobachtung, dass
die Berichterstattung über Gesundheit und Krankheit von einem bestimmten Mainstream
von Medizinern bestimmt wird, während Experten, die mit ihren Meinungen am Rande
stehen, etwa auch Alternativmedizin, weniger häufig zu Wort kommen. Dabei werden
technologische und pharmazeutische Lösungen überbetont (Fromm et al. 2011).
Ein weiteres Problem entsteht vor allem im Online-Kontext. Das Internet bietet eine
fast grenzenlose Fülle an Informationen über Gesundheit und Krankheit, meist ohne
qualitativ hoch- und minderwertige Informationen voneinander abzugrenzen. Dies hat
20 Die mediale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit 305

nicht zuletzt damit zu tun, dass sich nicht nur Gesundheitsexperten zu medizinischen
Themen äußern, sondern auch Laien. Es gibt daher eine ganze Reihe an Initiativen, die
Qualität von Onlineangeboten zu prüfen und durch die Vergabe von Qualitätssiegeln zu
kennzeichnen. Doch auch solche Maßnahmen stoßen an ihre Grenzen, zumal sie voraus-
setzen, dass sie von den Nutzerinnen und Nutzern berücksichtigt werden (im Überblick
Rossmann & Karnowski 2014).

2.3 Gesundheit und Krankheit in Unterhaltungsangeboten

Die oben dargestellten Darstellungsmuster lassen sich auch in Unterhaltungsangeboten


wiederfinden. Spezifisch für Unterhaltungsangebote ist darüber hinaus die Beobachtung,
dass sich die Charaktere in Fernsehserien und Spielfilmen häufig ungesund verhalten: So
ernähren sie sich ungesund, konsumieren Drogen und Alkohol und treiben wenig Sport.
Dies zieht in der Regel jedoch keine negativen Konsequenzen nach sich. Vielmehr sind
die Charaktere überaus gesund, fit und schlank, wodurch die Gefahr steigt, dass sie den
Zuschauerinnen und Zuschauern als Rollenmodelle dienen, deren ungesundes Verhalten
nachgeahmt wird (siehe hierzu auch den Abschnitt zur sozial-kognitiven Lerntheorie
weiter unten; Fromm et al. 2011, Kline 2011).
Weitere Tendenzen, die im Zusammenhang mit der Darstellung von Gesundheitsthe-
men in Unterhaltungsangeboten auffallen, sind Stereotypisierung und Stigmatisierung.
So werden krebskranke Kinder etwa typischerweise als „mutige Kämpfer“ und ihre El-
tern als „unermüdliche Beschützer“ (Fromm et al. 2011: 63) gezeigt, Patienten, die unter
Schizophrenie leiden, werden häufig als gewalttätig porträtiert (Owen 2012) und adipöse
Charaktere werden als Verlierer dargestellt und lächerlich gemacht (Puhl et al. 2013). Im
Extremfall können solche negativen Stereotypisierungen zu einer Stigmatisierung be-
stimmter Personen- oder Patientengruppen beitragen, die sich auch in der Wahrnehmung
der Rezipienten niederschlagen kann (Puhl et al. 2013).

3 Einfluss der Medien auf Vorstellungen zu Gesundheit


und Krankheit

Eine Vielzahl von Studien, die sich mit dem Einfluss der Medien auf gesundheitsbezogene
Vorstellungen und Verhaltensweisen auseinandergesetzt haben, deutet darauf hin, dass die
verzerrte Darstellung von Gesundheit und Krankheit in den Medien auch zu einer verzerr-
ten Wahrnehmung und zu ungesundem Verhalten seitens der Nutzerinnen und Nutzer
beitragen kann. So kamen Nunez-Smith et al. (2008) im Rahmen eines Systematic Review
von insgesamt 173 Studien, die zwischen 1980 und 2006 veröffentlicht worden waren, zu
dem Schluss, dass erhöhter Medienkonsum bei Kindern und Jugendlichen in der Tat meist
negative Gesundheitsfolgen nach sich zieht. So deuteten 80 % der analysierten Studien auf
306 Constanze Rossmann

einen negativen Einfluss des Medienkonsums auf Tabakkonsums, Drogenmissbrauch,


Übergewicht und andere Verhaltensweisen hin.
Der Einfluss der Medien auf gesundheitsbezogene Vorstellungen, Einstellungen und
Verhaltensweisen kann anhand einer Vielzahl von Medienwirkungsansätzen beschrieben
werden, die an dieser Stelle nicht in aller Ausführlichkeit diskutiert werden können (für
einen umfassenden Überblick siehe Rossmann & Ziegler 2013, Walsh-Childers & Brown
2009). Daher seien an dieser Stelle drei Ansätze kurz skizziert, die für die Untersuchung
von Medienwirkungen im Gesundheitsbereich von zentraler Bedeutung sind.

3.1 Agenda-Setting

Der Agenda-Setting-Ansatz untersucht den Einfluss der Medienberichterstattung auf die


wahrgenommene Themenrelevanz in der Bevölkerung. Die Grundidee ist, dass die Me-
dienagenda die Publikumsagenda beeinflusst, das heißt Themen, über die Medien häufig
und an exponierter Stelle berichten, werden von der Bevölkerung als wichtiger erachtet,
als Themen, die in den Medien unterrepräsentiert sind (McCombs & Reynolds 2009).
Dies lässt sich nicht nur für politische Themen beobachten, sondern auch für Gesund-
heitsthemen. Entsprechend zeigten Dixon et al. (2014) etwa, dass sich die Thematisierung
von Hautkrebsprävention in den Medien in australischen Medien im Langzeitverlauf
(1994 bis 2007) deutlich in einer zunehmenden Relevanzzuschreibung des Themas in der
australischen Bevölkerung niederschlug. Auch Jones et al. (2006) bestätigten die Agen-
da-Setting-Funktion der Medienberichterstattung im Kontext von Brustkrebsscreenings.

3.2 Kultivierungseffekte

Die von George Gerbner begründete Kultivierungshypothese setzt sich mit dem Einfluss
des Fernsehens auf Realitätswahrnehmung, Einstellungen und Wertvorstellungen der Zu-
schauer auseinander (Gerbner & Gross 1976). Vielseher, so die Grundhypothese, nehmen
die Realität eher so wahr wie sie im Fernsehen dargestellt wird, während Wenigseher in
ihrer Realitätswahrnehmung der tatsächlichen Realität näher kommen. Eine ganze Reihe
von Kultivierungsstudien hat sich mit dem Einfluss des Fernsehens im Gesundheitskontext
auseinandergesetzt und liefert vielzählige Belege für einen zwar moderaten aber beständi-
gen Einfluss des Fernsehens auf gesundheitsspezifische Vorstellungen, Einstellungen und
Verhaltenseisen etwa im Kontext von Schönheitsoperationen, Rauchen, Ernährung und
psychischen Krankheiten (im Überblick Rossmann 2013).

3.3 Lerntheorie

Von zentraler Bedeutung für die Erklärung von Medienwirkungen im Gesundheitsbereich


ist auch die sozial-kognitive Lerntheorie (Bandura 1994). Die ursprünglich vor allem im
20 Die mediale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit 307

Kontext von Mediengewalt untersuchte Theorie postuliert, dass Rezipienten durch Beob-
achtung Verhaltensmuster medialer Protagonisten lernen (Lernen am Modell) und diese
unter bestimmten Umständen selbst einsetzen. Dies wird wahrscheinlicher, wenn das
Verhalten als lohnenswert dargestellt wird, die Medienfigur attraktiv ist und Rezipien-
ten sich mit ihr identifizieren können. Auf dieser Basis lässt sich erklären, wie sich das
Schönheitsideal attraktiver schlanker Medienfiguren auf das Körperbild der Zuschauer
niederschlägt. Während Medienakteure, die diesem Schönheitsideal entsprechen, als
erfolgreich dargestellt werden, werden weniger attraktive Figuren negativ dargestellt und
stigmatisiert. Entsprechend zeigt sich, dass Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und
Essstörungen in Folge des Medienkonsums vor allem dann auftreten, wenn eine starke
Anziehung zu einem schlanken Modell besteht (Schemer 2003).

4 Schlussfolgerungen: Implikationen für Theorie und Praxis

Medien spielen für die Vermittlung von Gesundheitsinformationen eine große Rolle. Ge-
sundheit und Krankheit nehmen als Medienthema einen zunehmend höheren Stellenwert
ein, gleichzeitig nutzen Rezipientinnen und Rezipienten Medieninhalte zunehmend häufiger,
um sich über Gesundheitsfragen zu informieren. Dieser Trend ist angesichts bestimmter
Darstellungsmuster kritisch zu bewerten. So neigen Medien zu Über- und Unterrepräsenta-
tion, Victim Blaming, Medikalisierung und Technologisierung, Fehlinformation, negativen
Rollenmodellen, Stereotypisierung und Stigmatisierung. Diese Darstellungsmuster können
bei den Nutzerinnen und Nutzern zu Wahrnehmungsverzerrungen und Fehlverhalten
führen. So ist es denkbar, dass sich die Überbetonung bestimmter Krankheiten in den
Medien in einer überzogenen Relevanzzuschreibung seitens der Nutzerinnen und Nutzer
niederschlägt (Agenda Setting). Die Art und Weise, wie Gesundheitsthemen im Fernse-
hen dargestellt werden, kann sich auf Vorstellungen und Einstellungen der Zuschauer
niederschlagen (Kultivierung) und nicht zuletzt deuten die Befunde der sozial-kognitiven
Lerntheorie darauf hin, dass ungesunde Verhaltensweisen, die als lohnenswert dargestellt
werden, gelernt und potenziell nachgeahmt werden.
Angesichts dieser Gefahren ist es einerseits wichtig, die mediale Darstellung von Ge-
sundheit und Krankheit durch bessere Ausbildung von Pressesprechern und Journalisten
zu verbessern, um so langfristig zu einer ausgewogeneren Berichterstattung beizutragen.
Andererseits müssen Rezipientinnen und Rezipienten durch frühzeitige Förderung von
Medien- und Gesundheitskompetenz für die beschriebenen Verzerrungs- und Wirkme-
chanismen sensibilisiert werden, um so ihre Beeinflussbarkeit durch die Mediennutzung
zu verringern.
Die Kenntnis potenzieller Medienwirkungen im Gesundheitsbereich kann jedoch
nicht nur vor negativen Wirkungen schützen, sondern auch positiv für Gesundheitsför-
derung und Prävention eingesetzt werden. Der beschriebene Agenda Setting-Effekt lässt
sich durch bewusste Themensetzung (etwa in gesundheitlichen Krisenfällen) nutzen,
um Aufmerksamkeit auf akut relevante Themen zu lenken. Auch die Erkenntnisse der
308 Constanze Rossmann

Kultivierungshypothese und Lerntheorie lassen sich nutzen, um durch die bewusste


Platzierung von Gesundheitsbotschaften in Unterhaltungsangeboten zu einem besseren
Gesundheitsverhalten beizutragen (Lampert 2014).
Trotz der beschriebenen Darstellungsmuster und Wirkungen sei jedoch abschließend
betont, dass Medien, wenn auch eine wichtige, so doch nicht die einzige Informationsquelle
für Gesundheitsinformationen darstellen. Wissen, Einstellungen und Verhalten werden
zu einem großen Teil durch Sozialisation im familiären und schulischen Umfeld sowie
durch interpersonale Kontakte (Freundeskreis, persönliche Kontakte mit Ärztinnen und
Ärzten) geprägt, weshalb negative Medienwirkungen im Gesundheitsbereich am besten
durch gesunde Vorbilder im eigenen Umfeld aufgefangen werden können.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Medien spielen für die Vermittlung von Gesundheitsinformationen eine wichtige
Rolle. Dabei sind sowohl Informations- als auch Unterhaltensangebote von Bedeutung.
▶ Die mediale Selektion und Aufbereitung von Gesundheitsinformationen unterliegt
Verzerrungsmechanismen, die problematische Darstellungsmuster zur Folge haben.
▶ Medien können gesundheitsspezifische Vorstellungen, Einstellungen und Verhal-
tensweisen beeinflussen. Dieser Einfluss kann negative Folgen nach sich ziehen, lässt
sich jedoch auch positiv in der Gesundheitsförderung und Prävention einsetzen.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Wodurch lässt sich erklären, dass die mediale Berichterstattung zu einer verzerrten
Auswahl und Darstellung von Gesundheitsinformationen neigt?
▶ Welche problematischen Darstellungsmuster lassen sich in der Berichterstattung
beobachten? Welche Beispiele fallen Ihnen hierzu ein?
▶ Wie werden Gesundheitsinformationen in fiktionalen Unterhaltungsangeboten
vermittelt? Nennen Sie hierzu Beispiele.
▶ Wie beeinflussen Medien gesundheitsspezifische Vorstellungen, Einstellungen und
Verhaltensweisen?
20 Die mediale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit 309

Leseempfehlungen

t Fromm, B., E. Baumann & C. Lampert, 2011: Gesundheitskommunikation und Medien.


Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer.
Eines der ersten Lehrbücher zum Thema Gesundheitskommunikation und Medien im
deutschsprachigen Raum, das einen hervorragenden Überblick über die Thematik gibt.

t Hurrelmann, K. & Baumann, E. (Hrsg.), 2014: Handbuch Gesundheitskommunikation.


Bern: Hans Huber.
Aktuelles, interdisziplinäres und sehr gut zusammengestelltes Handbuch zum Thema
Gesundheitskommunikation, u. a. mit Aufsätzen zur Gesundheitsrelevanz medialer
Unterhaltungsangebote (Claudia Lampert) und zu Gesundheit als Medienthema (Se-
bastian Scherr).

t Thompson, T.L., R. Parrott & J.F. Nussbaum, 2011: The Routledge handbook of health
communication. New York: Routledge.
Wichtigstes Handbuch zum Thema Gesundheitskommunikation aus dem US-amerika-
nischen Raum.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.netzwerk-gesundheitskommunikation.de
Webangebot des Netzwerks Medien und Gesundheitskommunikation mit aktuellen
Informationen zu Tagungen, Forschungsprojekten und aktueller Literatur im The-
menbereich, außerdem Herausgabe eines Newsletters zum Thema

Web http://www.dgpuk.de/fachgruppenad-hoc-gruppen/ad-hoc-gruppen/gesundheits-
kommunikation/
Webangebot der Ad-hoc-Gruppe Gesundheitskommunikation der Deutschen Gesell-
schaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) mit aktuellen In-
formationen zu Tagungen, Nachwuchsförderung, Publikationen und Selbstverständnis

Web http://health.icahdq.org/ohana/website/index.cfm?p=344509
Webangebot der Fachgruppe „Health Communication“ der International Commu-
nication Association

Web http://www.cdc.gov/healthcommunication/ScienceDigest/index.html
Health Communication Science Digest – monatliche Zusammenfassung und Archiv
aktueller Studien zum Thema Gesundheitskommunikation, herausgegeben von den
Centers for Disease Control and Prevention
310 Constanze Rossmann

Literatur

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Health 30: 202-204.
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sun-related news coverage on public attitudes and beliefs about tanning and skin cancer. Health
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Baumann (Hrsg.), Handbuch Gesundheitskommunikation. Bern: Hans Huber.
Demographischer Wandel, Altern und Gesundheit
Stefan Blüher und Adelheid Kuhlmey
21
21 Demographischer Wandel, Altern und Gesundheit

Überblick
▶ Welche Entwicklungstendenzen charakterisieren den demographischen Wandel in
Deutschland?
▶ Welche Bedeutung hat die demographische Entwicklung für Gesundheit und
Krankheit in Deutschland?
▶ Welche gesundheitsbezogenen Herausforderungen stellen sich für den Einzelnen?
▶ Welche Herausforderungen stellen sich für das System medizinischer und
pflegerischer Versorgung?

1 Einleitung

Der tiefgreifende Wandel der Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland hat vielfältige
Auswirkungen, die in individuellen Lebenswelten wie auch gesellschaft lich schon heute
spürbar sind. Zu den Bereichen, die als Herausforderung begriffen und diskutiert werden,
gehören die Auswirkungen des Altersstrukturwandels auf das Gesundheitsgeschehen und
die Krankheitsentwicklung sowie die zukünftige Gestaltung der Versorgung mit medizi-
nischen und pflegerischen Leistungen.
Der folgende Beitrag soll diesen Kontext näher beleuchten, indem zunächst grundle-
gende Tendenzen des demographischen Wandels skizziert und das Altern der Bevölkerung
beschrieben werden, daran anknüpfend mögliche Szenarien der Morbiditätsentwicklung
in alternden Gesellschaften dargestellt und schließlich gesundheitsbezogene Herausfor-
derungen in ihrer Bedeutung für individuelles Handeln und für das Versorgungssystem
diskutiert werden.

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_21, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
314 Stefan Blüher und Adelheid Kuhlmey

2 Entwicklungstendenzen des demographischen Wandels in


Deutschland

Die Bevölkerung Deutschlands ist demographisch eine der ältesten der Welt. Bereits nach
dem Jahr 2000 kam es zur so bezeichneten „demographischen Wende“, die dadurch ge-
kennzeichnet ist, dass in Deutschland erstmals mehr über 60-Jährige als unter 20-Jährige
leben (Walla et al. 2006). Demographische Veränderungen sind dabei historisch kein neues
Phänomen, doch veränderten sich die wesentlichen Einflussfaktoren im Verlaufe des 19.
und 20. Jahrhunderts: So war die Bevölkerungsentwicklung Mitte des 19. Jahrhunderts
noch von einer hohen Geburtenrate und gleichzeitig hoher Sterblichkeit, insbesondere
im Säuglings- und Kindesalter, gekennzeichnet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sank
die Sterbeziffer von Säuglingen und Kleinkindern deutlich, vor allem in Folge von hygie-
nischen Innovationen, Verbesserungen in der Ernährungssituation und der Entwicklung
von wirksamen Impfstoffen. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts ging im Zuge des rasanten
medizinischen Fortschritts – vor allem mit zunehmender Verbreitung von Antibiotika
– die Sterberate im mittleren Erwachsenenalter zurück. Der Zuwachs der Lebenserwar-
tung in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts schließlich beruhte vor allem auf
Erfolgen bei der Behandlung chronischer Erkrankungen. Die aktuell weitere Zunahme
der durchschnittlichen wie auch ferneren Lebenserwartung basiert zum Großteil auf
einer anhaltenden Verminderung der Sterblichkeit von Menschen, die bereits ein hohes
Lebensalter erreicht haben (Vaupel & Kistowski 2005).
Die hier skizzierten Entwicklungen führen insgesamt zu einem kontinuierlichen Prozess,
der in Deutschland als „dreifaches Altern“ beschrieben werden kann. Dreifaches Altern
bedeutet dabei, dass

1. die absolute Zahl Älterer (über 60-Jähriger) aufgrund steigender Lebenserwartung


zunimmt,
2. auch die relative Zahl Älterer, bezogen auf die Zahl Jüngerer, zunimmt, sodass im Zuge
der oben angesprochenen „demographischen Wende“ der Bevölkerungsanteil über
60-Jähriger den Anteil Jüngerer (unter 20-Jähriger) übersteigt. Der relativ sinkende
Anteil von Jüngeren verweist dabei auf das seit Jahrzehnten anhaltende Geburtendefizit
in Deutschland (derzeit unter 1,4 Kindern pro Frau, wobei das sog. „Bestanderhaltungs-
niveau“ bei 2,1 Kindern pro Frau läge), das im Verlauf der kommenden Jahrzehnte zu
einem deutlichen Absinken der Bevölkerungszahl insgesamt führen wird,
3. innerhalb der Gruppe Älterer der Anteil Hochaltriger (über 80-Jähriger) besonders
stark zunimmt.

Insbesondere die Zahl der Hochaltrigen wird in den nächsten Jahrzehnten so deutlich
zunehmen, dass Menschen über 80 Jahre zu dem am schnellsten wachsenden Teil der Bevöl-
kerung werden. So betrug im Jahr 2000 die Zahl der 80-jährigen und älteren Bevölkerung
in Deutschland rund 3,1 Mio. Das entsprach 3,9 % der gesamten Bevölkerung. Ihre Zahl
wird sich bis 2025 verdoppeln und im Jahr 2050 werden 9 bis 11 Mio. Menschen 80 Jahre
21 Demographischer Wandel, Altern und Gesundheit 315

und älter sein. Dies entspräche dann rund 12 % der Bevölkerung (Statistisches Bundesamt
2006). Bei den 100-jährigen und älteren Menschen wird dieser Trend noch stärker ausfallen:
Laut Sterbetafel des Statistischen Bundesamtes lebten im Jahre 2011 in Deutschland rund
13.500 Menschen, die 100 Jahre oder älter waren; damit hat sich ihre Zahl innerhalb der
letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Für die heute 60-Jährigen Frauen und Männer
wird ein Anstieg auf dann etwa 60.000 Hundertjährige prognostiziert – bei den heute
30-Jährigen auf 120.000, darunter etwa 90 % Frauen (Bomsdorf 2011). Vorstellungen von
einer maximalen Länge des menschlichen Lebens werden immer wieder diskutiert und
werden heute bei bis zu 120 Jahren angesetzt. Auch wenn diese Vorstellungen als nicht
gesichert gelten können, gibt es derzeit empirisch keinen Hinweis darauf, dass der fortge-
setzte Anstieg der Lebenserwartung abflacht.

3 Szenarien und Befunde zur Entwicklung von Gesundheit und


Krankheit in einer alternden Gesellschaft

Sind Gesellschaften, die durch ein höheres Durchschnittsalter der Bevölkerung charakte-
risiert sind, insgesamt von höherer Krankheitslast betroffen als durchschnittlich jüngere
Gesellschaften? Dies ist angesichts der sich wandelnden Altersstruktur eine Zukunftsfrage
von hoher Relevanz, sowohl für den Einzelnen – etwa mit Blick auf eigene Morbiditätsrisiken
– als auch gesamtgesellschaftlich mit Blick auf gesundheitsökonomische Entwicklungen.
Eine eindeutige Beantwortung dieser Frage scheint indes nicht ohne weiteres möglich: So
müssen in diesem Zusammenhang mindestens zwei unterschiedliche Szenarien zugrunde
gelegt werden, die die möglichen krankheitsbezogenen Entwicklungen in Gesellschaften des
langen Lebens modellhaft skizzieren: Die sogenannte „Medikalisierungs- oder Expansions-
these“ einerseits und die „Kompressionsthese“ andererseits. Beide Szenarien beantworten
dabei die Frage nach einer zukünftig zu erwartenden Krankheitslast in durchschnittlich
älteren Gesellschaften gegensätzlich. Die Medikalisierungsthese (vgl. Krämer 1992, 1999)
argumentiert, dass die Wahrscheinlichkeit von Morbidität, verbunden mit funktionellen
Einschränkungen und der Gefahr von Pflegebedürftigkeit, angesichts steigender Lebens-
erwartung zunimmt. Hohe Wahrscheinlichkeiten für altersassoziierte Erkrankungen
lassen in Gesellschaften mit wachsender Altenpopulation folglich eine insgesamt höhere
Krankheitslast und entsprechende Kostenexpansionen für medizinische und pflegerische
Leistungen erwarten.
Dieses Expansionsszenario steht als pessimistische Einschätzung dem Modell der
„Morbiditätskompression“ gegenüber, in dem Fries bereits 1980 auf die Möglichkeit einer
Verkürzung („Kompression“) von durch Krankheit und funktionelle Einschränkungen
gekennzeichnete Lebensphasen hingewiesen hat (Fries 1980, 2003). Eine grundlegende
Annahme bildet in diesem Zusammenhang die Vorstellung, wonach Alter und Krankheit
eben nicht zwangsläufig eng verbunden sind. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen viel-
mehr gesundheitsbezogene Chancen, durch geeignete Prävention, gesundheitsförderlichen
Lebensstil und adäquate Versorgungsstrukturen die Entstehung manifester Phasen von
316 Stefan Blüher und Adelheid Kuhlmey

(chronischen) Erkrankungen so weit hinauszuzögern, dass Einschränkungen von Funk-


tionalität und Lebensqualität – wenn überhaupt – erst in den letzten Phasen des Lebens
auftreten. Im Gegensatz zu den Annahmen der Medikalisierungsthese würde eine in
weiten Bevölkerungskreisen gelingende Kompression von Morbidität demnach auch bei
wachsender Altenpopulation keineswegs zwingend zu einer Zunahme der Krankheitslast
insgesamt führen.
Ein drittes Szenario kann gleichsam als Synthese von Expansions- und Kompressions-
vorstellungen gelten: Das Konzept der sogenannten „Bi-Modalität“ betont die Heteroge-
nität von Altern und den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken und Ressourcen.
Ausgangspunkt bildet die Überlegung, wonach die Chancen, die im Zuge des allgemeinen
Anstiegs der Lebenserwartung gewonnenen Lebensjahre in weitgehender Gesundheit
zu verbringen, ungleich verteilt sind. Dabei beeinflussen verhaltens-, verhältnis- und
versorgungsbezogene Faktoren – also etwa gesundheitsrelevante Verhaltensmuster, Le-
bensstile, sozio-ökonomische Lebenslagen und Zugangsmöglichkeiten zu medizinischer
Versorgung – über die Lebensspanne hinweg die Wahrscheinlichkeit für gesundes Altern.
Vor diesem Hintergrund betont das Modell der „Bi-Modalität“ die Möglichkeit von „Ge-
winnern“ und „Verlierern“ im Hinblick auf die Frage, wie sich Gesundheit und Krankheit
gesamtgesellschaftlich und vor allem auch in den höheren und höchsten Altersgruppen der
Bevölkerung verteilen. Mit anderen Worten: Bevölkerungsgruppen, die ein längeres Leben
in Gesundheit erreichen („Kompression von Morbidität“), stehen solchen gegenüber, die
vermehrt von chronischer Krankheit und funktionalen oder kognitiven Einschränkungen
betroffen sind („Expansion von Morbidität“).
Die Frage, welches der genannten Szenarien zur Morbiditätsentwicklung in alternden
Gesellschaften am wahrscheinlichsten ist, kann derzeit nicht abschließend beantwortet
werden. Vielmehr können empirische Befunde zur Expansions- wie auch zur Kompressi-
onsthese angeführt werden. So zeigt sich bei Betrachtung von hochgradig altersassoziierten
Erkrankungen, wie z. B. den Demenzen, mit Zunahme höherer und sehr hoher Altersgrup-
pen ein Anstieg der Gesamtprävalenz, somit der Krankheitslast insgesamt: Prognosen
zur Entwicklung der Zahl an Demenz Erkrankter in Deutschland gehen etwa von einem
Anstieg von aktuell rund 1,5 Mio. auf bis zu 3,02 Mio. im Jahre 2050 aus (vgl. Bickel 2012).
Diese Entwicklung verweist auf eine deutliche Morbiditätsexpansion, zumindest solange
keine wesentlichen Fortschritte – vor allem im Hinblick auf eine Absenkung altersspezifi-
scher Erkrankungsrisiken, etwa durch erfolgreiche Prävention – erzielt werden. Bezüglich
weiterer Befunde zur Krankheitsentwicklung in alternden Gesellschaften kann zudem
aus heutiger Sicht argumentiert werden, dass physische und psychische Vulnerabilitäten
mit den Lebensjahren zunehmen, mithin die Wahrscheinlichkeit für schwerwiegende,
zumeist chronische Erkrankungen, steigt. Vor allem jenseits des 80. Lebensjahres ist eine
höhere Krankheitslast und vermehrte Multimorbidität – also das Vorliegen mehrerer, sich
häufig bedingender und wechselseitig beeinflussender Erkrankungen – zu beobachten. Der
Deutsche Alterssurvey (vgl. Motel-Klingebiel et al. 2010) bietet in diesem Zusammenhang
längsschnittliche Daten zur Entwicklung des Krankheitsgeschehens in der jüngeren im
Vergleich zur älteren Bevölkerung. Betrachtet man den Zeitverlauf von 1996 über 2002
21 Demographischer Wandel, Altern und Gesundheit 317

bis 2008, so lässt sich hieraus zweierlei folgern: Die Krankheitslast, hier im Hinblick
auf Mehrfacherkrankungen, liegt in der Altenpopulation (über 65-Jährige) zu allen drei
Messzeitpunkten höher als bei den unter 65-Jährigen. Während etwa bei der jüngeren
Teilpopulation rund die Hälfte der Befragten im Jahre 2008 angab, an keiner oder maxi-
mal einer Erkrankung zu leiden, gilt dies nur für rund ein Viertel der über 65-Jährigen.
Gleichzeitig geben die Daten aber auch Hinweise auf Kompression von Morbidität: So
sind in beiden Teilgruppen vor allem die Anteile hochgradig Multimorbider (5 Erkrankun-
gen und mehr) im Zeitverlauf von 1996 bis 2008 rückläufig. Umgekehrt stieg der Anteil
der von Krankheit am geringsten belasteten Gruppe (0 bis 1 Erkrankung) bei Jüngeren
und Älteren an. Diese Tendenz unterstrich Fries bereits mit Befunden aus den 1980er und
1990er Jahren, wonach zwischen 1982 und 1992 ein Rückgang von Funktionseinbußen bei
65-Jährigen von 26,2 % auf 19,7 % zu verzeichnen war (Fries 2003). Auf eine im Vergleich zu
früheren Altengenerationen insgesamt verbesserte physische und psycho-soziale Vitalität
heute Älterer verwies auch Tews (1999) zu Beginn der 1990er Jahre mit seinem Konzept der
„Verjüngung des Alters“ im Rahmen des von ihm formulierten „Strukturwandel des Alters“.
Grundsätzlich ist zu betonen, dass die Lebensphase Alter keineswegs pauschal mit
Krankheit, körperlichem und geistigem Abbau und Funktionsverlusten gleichgesetzt
werden kann. Höhere Vulnerabilität kann, muss jedoch nicht zwangsläufig in Krank-
heit und Einschränkung münden. Bedeutsame Effekte, sowohl mit Blick auf den Erhalt
individueller Lebensqualität als auch hinsichtlich der Eindämmung von Krankheitslast
in gesamtgesellschaftlicher Perspektive, können durch Bemühungen im Zuge der oben
beschriebenen Kompression von Morbidität erzielt werden (vgl. auch Kuhlmey 2008).
Welche Herausforderungen stellen sich diesbezüglich für den Einzelnen wie auch für die
Strukturen medizinischer und pflegerischer Versorgung, um möglichst viele Lebensjahre für
möglichst viele Menschen in weitgehender Gesundheit, bei Erhalt von Selbstständigkeit und
Lebensqualität zu erreichen? Diese Frage steht im Mittelpunkt der beiden folgenden Abschnitte.

4 Gesundheitsbezogene Herausforderungen für Menschen


im höheren Lebensalter

Anknüpfend an die oben formulierte Überlegung, wonach es weitgehend offen ist, ob und
inwieweit die im Zuge gestiegener Lebenserwartung gewonnenen Jahre im Durchschnitt der
älteren Bevölkerung zukünftig eher in Gesundheit oder Krankheit verbracht werden, wird die
Möglichkeit der individuellen Gestaltbarkeit gesunden Alterns zu einem zentralen Thema.
In diesem Zusammenhang stellen im Lebensverlauf erworbene Ressourcen, biographische
Ereignisse und individuelles Gesundheitsverhalten wesentliche Dimensionen dar, die die
Chancen für gesundes Altern beeinflussen. Alle drei Dimensionen sind eng miteinander
verbunden und verweisen auf klassische Zielsetzungen von Gesundheitsförderung und
Prävention. So sind der Erwerb und der Erhalt von gesundheitsrelevanten Ressourcen im
Sinne der von Antonovsky formulierten Salutogenese (vgl. Antonovsky 1997) originäre
Aufgabe von Gesundheitsförderung. Gesundheitsrelevant können dabei physische, psy-
318 Stefan Blüher und Adelheid Kuhlmey

chische, soziale und auch ökonomische Ressourcen sein, indem sie Handlungsspielräume
erweitern oder aber – sofern unzureichend vorhanden – verengen und damit gleichzeitig
auch Möglichkeiten des Umgangs mit biographischen Ereignissen maßgeblich beeinflus-
sen. Umgekehrt können auch biographische Ereignisse ihrerseits Ressourcen oder Risiken
generieren, die zukünftige Handlungsspielräume mitbestimmen.
Aus einer präventiven Perspektive – in der Denktradition der Pathogenese – soll indi-
viduelles gesundheitsbezogenes Handeln das Ziel verfolgen, mögliche Gesundheitsrisiken
entweder von vornherein zu minimieren (Primärprävention) oder aber bereits manifeste
Erkrankungen im Sinne der Vorsorge frühzeitig zu erkennen, um Therapiechancen zu erhöhen
(Sekundärprävention). Gerade im höheren Lebensalter sind zudem Ansätze der Tertiärprä-
vention bedeutsam, die darauf abzielen, etwaige Komorbiditäten oder weitere Folgen von
bereits bestehenden Erkrankungen zu vermeiden (siehe Dietscher & Pelikan in diesem Band).
Sowohl aus Ressourcen- als auch aus Risikoperspektive betrachtet besteht eine zentrale
Herausforderung mit Blick auf gesundes Altern darin, möglichst frühzeitig gesundheits-
relevante Verhaltensweisen zu entwickeln und aufrecht zu erhalten, die geeignet sind,
Ressourcen zu stärken und drohende Funktionsverluste zu vermeiden oder zumindest zu
verzögern. Hierzu gehören Aspekte, die als Präventionsziele für die zweite Lebenshälfte
formuliert werden können:

t Bewegung und körperliche Aktivität fördern


t Mobilität und Selbstständigkeit erhalten
t Psychische Gesundheit erhalten
t Soziale Integration und Teilhabe fördern
t Bedarfsgerechte Ernährung; Fehlernährung vermeiden

Diese und weitere Zielsetzungen zu einem gesunden Altern wurden auch im Rahmen
eines Nationalen Gesundheitsziels „Gesund älter werden“ diskutiert und publiziert (vgl.
Thelen et al. 2012).
Das Altern einer Gesellschaft verändert die Möglichkeiten und Zielsetzungen von
Gesundheitsförderung und Prävention. So zielt Prävention im Alter vor allem auf eine
verbesserte Vitalität und Lebensqualität sowie den Erhalt von Autonomie. Auch wenn
durch Gesundheitsförderung und Prävention nicht immer eine Verhinderung, vor allem
chronischer Erkrankungen, erreicht werden kann, so ist dennoch häufig eine Verzögerung
möglich (Kruse 2002, Garms-Homolová 2008, Renner & Staudinger 2008, Walter 2008).
Empirische Befunde belegen die Wirksamkeit präventiver Maßnahmen auch im höheren
Alter. Demnach beeinflussen kontinuierliche Aktivitäten wie Radiohören oder Zeitunglesen
stark die kognitive Leistungsfähigkeit (Wilson et al. 1999). Kruse (2008) verweist auf die
positive Auswirkung von körperlicher Aktivität auf kognitive Fähigkeiten; so kann eine
erhöhte körperliche Aktivität zu einer spontanen Verbesserung der Gedächtnisleistung
um 35 % führen. Hamer und Chida (2009) untersuchten in einer Metaanalyse, inwieweit
körperliche Aktivität die Entwicklung neurodegenerativer Störungen beeinflusst. (n=163.797
davon erkrankten 3.219): Das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, war bei den kör-
21 Demographischer Wandel, Altern und Gesundheit 319

perlich Aktiven um 28 % geringer, an einer Alzheimer-Demenz zu erkranken sogar um


45 % geringer. Eine Französische Langzeitstudie (Ritchie et al. 2010) ergab zudem, dass
mehr als 30 % aller Demenz-Erkrankungen vermeidbar wären. Intellektuelle Stimulation,
Kombination aus psychomotorischem Training und Gedächtnistraining sowie körperlicher
Aktivität können das Demenzrisiko deutlich verringern oder verzögern. Der positive Effekt
körperlicher Aktivität auf die physische Gesundheit älterer Menschen (Rockhill et al. 2001,
Thompson et al. 2003) sowie Effekte einer fettarmen Ernährung und des Verzehrs von Obst
und Gemüse sind empirisch ebenso seit Längerem belegt (Renner & Staudinger 2008).
Ein besonderes Augenmerk ist im höheren Lebensalter immer auch auf den möglichen
Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu richten. Chronische Erkrankungen, Multimorbidität
und damit verbundene Zustände höchster Vulnerabilität erhöhen das Risiko von Hilfe- und
Pflegebedarf. Vor diesem Hintergrund zielen Maßnahmen zum Erhalt von Gesundheit im
Alter letztlich auch auf die Verhinderung oder zumindest Verzögerung von Pflegebedarf
und drohendem Verlust von Autonomie und Lebensqualität.

5 Herausforderungen für Strukturen medizinischer und


pflegerischer Versorgung

Im Rahmen des oben genannten Nationalen Gesundheitsziels „Gesund älter werden“ wird
auch die zentrale Bedeutung von angemessenen Versorgungsstrukturen für Gesundheit im
Alter betont. Vor allem chronisch kranke und multimorbide Patientinnen und Patienten
stellen dabei besondere Anforderungen an die (Weiter-)Entwicklung adäquater gesundheit-
licher und pflegerischer Versorgungsstrukturen (Sondergutachten des Sachverständigen-
rates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, SVR 2009). Die in diesem
Zusammenhang prinzipiell zu klärende Frage, was konkret unter adäquater und qualitativ
hochwertiger Versorgung älterer Menschen zu verstehen ist, soll hier nur schlaglichtartig
aufgegriffen werden. So kommen als versorgungsbezogene Qualitätskriterien messbare Ergeb-
nisse konkreter medizinischer oder pflegerischer Maßnahmen in Betracht, wie beispielsweise
eine wirksame medikamentöse oder nicht-medikamentöse Behandlung. Ein gutes Ergebnis
wirksamer Behandlung kann insbesondere bei chronisch mehrfach erkrankten älteren Men-
schen häufig darin gesehen werden, dass Krankheitsverläufe aufgehalten oder verlangsamt
und Folgeerkrankungen verhindert werden. Weitere entscheidende Qualitätsdimensionen
sind in personellen Aspekten der Versorgung (Personalschlüssel, Qualifizierung) sowie pa-
tientenseitig im Erhalt oder in einer Verbesserung von gesundheitsbezogener Lebensqualität
zu sehen. Insgesamt kann „gute Versorgung“ als eine an spezifischen – von Versorgern und
Versorgten gemeinsam festzulegenden – Zielen orientierte, individuenbezogene Versorgung
begriffen werden. Mit der Betonung einer individuenbezogenen Versorgung ist dabei nicht
nur das Alter der Patientin oder des Patienten als versorgungsrelevanter Aspekt angesprochen,
sondern auch das Geschlecht, der sozio-ökonomische Status und die Herkunft.
Die demographische Entwicklung und die daraus u. a. resultierende Zunahme chro-
nisch (mehrfach) erkrankter Patientinnen und Patienten mit häufig kleinen oder gar
320 Stefan Blüher und Adelheid Kuhlmey

fehlenden privaten Unterstützungsnetzen führt zu hochkomplexen Situationen, die ein


stark vernetztes Denken und Handeln aller am Versorgungsprozess Beteiligten erfordern.
Besonders augenfällig wird dies in der vielfach diskutierten Überleitungsproblematik an
der Schnittstelle von stationärer und ambulanter Versorgung. Der weiter zunehmende
Kosten- und Rationalisierungsdruck, der sich beispielsweise in der Krankenhausversorgung
in Form von Budgetierungen, Fallpauschalen und verkürzten Liegezeiten widerspiegelt,
birgt gerade für ältere Patientinnen und Patienten die Gefahr einer Unterversorgung nach
Entlassung. Eine nahtlose Weiterbehandlung oder -betreuung von besonders vulnerablen
Patientengruppen setzt notwendigerweise die koordinierte Zusammenarbeit unterschied-
licher Leistungserbringer voraus. Eine gelingende Kooperation ist somit als wichtiges
Qualitätsmerkmal für medizinische und pflegerische Versorgung, vor allem auch mit
Blick auf eine verbesserte Ausschöpfung von noch vorhandenen Gesundheitspotenzialen
älterer Menschen zu begreifen (Kuhlmey et al. 2011).
Zusammenarbeit im Sinne von Kooperation wird dabei allgemein als eine enge und
konstruktive Interaktion zwischen gleichberechtigten Partnern bzw. Organisationseinheiten
mit gemeinsamen Zielvorstellungen definiert (Zelewski 1994). Allerdings liegen zahlreiche
Erkenntnisse darüber vor, dass dieses zielgerichtete und gleichberechtigte Zusammen-
wirken unterschiedlicher Leistungserbringer oftmals noch nicht in erforderlicher Weise
realisiert wird. Neben hemmenden rechtlichen und strukturellen Kontextbedingungen
spielen hierfür Informationsdefizite, mangelnde Kenntnisse über die Kompetenzen des
jeweils anderen Gesundheitsberufs sowie unterschiedliche Qualifizierungsverläufe und
-kulturen eine wesentliche Rolle (Kuhlmey et al. 2011). Kooperationsdefizite entstehen
zudem durch Unterschiede in der Professionsentwicklung der einzelnen Gesundheitsberufe
(Rice et al. 2010, SVR 2007).

6 Schlussfolgerungen

Bedingt durch den demographischen Wandel und das Altern der Bevölkerung lautet eine
gesellschaftliche Kernfrage: Wird sich der Gewinn an Lebenszeit in ein Mehr an gesun-
den oder an kranken Lebensjahren übersetzen? Die Antwort auf diese Frage – so zeigt
die Analyse – ist nach wie vor unentschieden. Einerseits wächst die Zahl von Frauen und
Männern, deren Altern relativ gesund verläuft. Anderseits hat der Altersstrukturwandel
das Krankheitsgeschehen verändert und führt zu einer Zunahme vor allem chronischer
Krankheiten. Die Verbesserung der Gesundheit jedes Einzelnen im Lebensverlauf und der
Bevölkerung insgesamt ist von vielen Faktoren abhängig. Dazu zählen das persönliche
Gesundheitsverhalten und die Gesundheitskompetenzen des Einzelnen ebenso wie die
Verhältnisse einer Gesellschaft und ihres Gesundheitssystems, die sozialen Ressourcen,
die Menschen im Lebenslauf erwerben können, genauso wie biographische Ereignisse, die
sie zu bewältigen haben.
Darum erfordert die Auseinandersetzung mit Fragen von Gesundheit und Krankheit
im höheren Lebensalter einen äußerst differenzierten Blick. Nicht zuletzt ist in diesem
21 Demographischer Wandel, Altern und Gesundheit 321

Zusammenhang auch zu bedenken, dass dem Begriff „Gesundheit“ im höheren und höchs-
ten Lebensalter ein anderes Verständnis zugrunde gelegt werden sollte als in Kindheit,
Jugend oder mittlerem Erwachsenenalter. In den höheren Lebensjahren kann Gesundheit
nicht als Abwesenheit von Kranksein betrachtet werden, sondern als Grundlage für eine
Qualität des Lebens, die dem jeweiligen Altersabschnitt angemessen ist. Ein sehr hohes
Lebensalter ohne jegliche Funktionseinbußen ist eher eine theoretische Annahme. Eine
moderne Gesundheitsauffassung altersgewandelter Gesellschaften muss deshalb psycho-
soziale Komponenten, wie Fähigkeiten im Umgang mit Erkrankungen und Verlusten, den
Erhalt von Selbstbestimmung und das Streben nach Lebenssinn im Alter einbeziehen.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Deutschland erlebt ein dreifaches Altern der Bevölkerung; besonders bedeutsam für
die Entwicklung von Gesundheit und Krankheit ist dabei die starke Zunahme des
Anteils hochaltriger Menschen.
▶ Mögliche Szenarien zur Morbiditätsentwicklung in alternden Gesellschaften werden
von der „Expansions- oder Medikalisierungsthese“ einerseits und der „Kompressi-
onsthese“ andererseits bestimmt. Als Synthese gilt das Konzept der „Bi-Modalität“.
Offen ist derzeit noch, welches Szenario am wahrscheinlichsten ist.
▶ Gesundheitsförderung und Prävention stellen wichtige Bausteine für das Bestreben
dar, eine Kompression von altersassoziierten Erkrankungen zu erreichen.
▶ Herausforderungen für die Versorgung älterer Menschen beziehen sich auf spezi-
fische Qualitätsdimensionen bei der Behandlung und Pflege chronisch Erkrankter
und Multimorbider.
▶ In diesem Zusammenhang kommt einer möglichst engen Kooperation unterschied-
licher Gesundheitsberufe besondere Bedeutung zu.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Diskutieren Sie Ansätze einer lebenslangen Prävention mit Blick auf ihre Wirkungen
in den hohen Lebensjahren.
▶ Sammeln Sie Argumente für und gegen die Annahme der Kompressionsthese.
▶ Entwerfen Sie Szenarien aus Sicht verschiedener Gesundheitsakteure (Kassen,
Krankenhäuser, Ärzte, Pflegende, Betroffene) für medizinische und pflegerische
Maßnahmen in den sehr hohen Lebensjahren.
▶ Diskutieren Sie im Kontext des Begriffes „Versorgungsmix“ die künftig notwendige
Zusammensetzung und Qualifikation der Professionen im Gesundheitswesen.
322 Stefan Blüher und Adelheid Kuhlmey

Leseempfehlungen

t Doblhammer G., A. Schulz, J. Steinberg & U. Ziegler, 2012: Demografie der Demenz.
Bern: Verlag Hans Huber.
In diesem Handbuch sind Fakten, Definitionen und Daten zur Demenz aus demogra-
fischer Perspektive, verknüpft mit Erkenntnissen anderer Wissenschaftsdisziplinen,
zusammengetragen.

t Dräger D. & S. Blüher, 2011: Lebenswelt und Gesundheit älterer Menschen. S. 525-545
in: T. Schott & C. Hornberg (Hrsg.), Die Gesellschaft und ihre Gesundheit. Wiesbaden:
VS Verlag.
Der Beitrag nimmt eine theoretische Verortung von Gesundheit und Krankheit im höheren
Lebensalter im Kontext lebensweltlicher, struktureller und institutioneller Rahmenbe-
dingungen vor.

t Kuhlmey A. & C. Tesch-Römer, 2013 (Hrsg.), Autonomie trotz Multimorbidität im


Alter. Göttingen: Hogrefe Verlag.
Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich mit der Frage, wie alte Menschen trotz
Multimorbidität und Gesundheitseinbußen autonom und selbstbestimmt leben können.

t Seidel G., N. Schneider, S. Möller, U. Walter & M.-L. Dierks, 2013: Patientengerechte
Gesundheitsversorgung für Hochbetagte. Stuttgart: Kohlhammer.
Das Buch diskutiert theoretische Überlegungen und empirische Befunde zu den Anforde-
rungen einer adäquaten Gesundheitsversorgung aus Sicht alter und hochaltriger Menschen.

t Saß, A. C., Wurm, S. & C. Scheidt-Nave, 2010: Alter und Gesundheit. Eine Bestandsauf-
nahme aus Sicht der Gesundheitsberichterstattung. Bundesgesundheitsblatt 53: 404-416.
Der Artikel gibt einen Überblick zu altersassoziierten Gesundheitsproblemen auf Daten-
grundlage der Gesundheitsberichterstattung des Bundes.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://gesundheitsziele.de/cgi_bin/render.cgi?__cms_page= nationale_gz/gesund_


aelter
Informationen, Problemhintergründe, Zielstellungen und Umsetzungsmöglichkeiten
rund um das „Nationale Gesundheitsziel Gesund älter werden“.

Web http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/ Gesundheitsberichterstattung/


GBEDownloadsB/alter_gesundheit.pdf?__blob=publicationFile
Informationen, Themenhefte, Daten und Zahlen des Robert Koch Instituts bzw. der
Gesundheitsberichterstattung des Bundes zum Thema Alter und Gesundheit.
21 Demographischer Wandel, Altern und Gesundheit 323

Web http://www.bosch.stiftung.de/content/language1/downloads/ Memorandum_


Kooperation_der_Gesundheitsberufe.pdf
Ausführungen und Empfehlungen eines von der Robert Bosch Stiftung beauftragten
Expertengremiums zur Zukunft medizinischer und pflegerischer Versorgung. We-
sentlich ist hierbei die zunehmende Notwendigkeit der Kooperation unterschiedlicher
Gesundheitsberufe.

Web https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/
Bevoelkerungsvorausberechnung
Daten des Statistischen Bundesamtes zur demografischen Entwicklung in Deutschland.

Web http://www.deutsche_alzheimer.de/fileadmin/alz/pdf/factsheets/ infoblatt1_


haeufigkeit_demenzerkrankungen_dalzg.pdf
Informationen der Deutschen Alzheimergesellschaft zu Demenzerkrankungen als
Beispiel für eine in besonderem Maße altersassoziierte Erkrankung.

Literatur

Antonovsky, A., 1997: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit (Deutsche Herausgabe
von Alexa Franke). Tübingen: dgvt-Verlag.
Bickel, H., 2012: Epidemiologie und Gesundheitsökonomie. S. 18-35 in: C.-W. Wallesch & H. Förstl
(Hrsg.), Demenzen. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme.
Bomsdorf, E., 2011: Hundertjährige in Deutschland bis 2111 – ein unterschätztes Phänomen?! Ifo
Schnelldienst 17: 50-56.
Fries, J., 1980: Aging, natural death, and the compression of morbidity. New England Journal of
Medicine 303: 130-135.
Fries, J., 2003: Measuring und monitoring success in compressing morbidity. Ann Intern 139: 455-459.
Garms-Homolová, V., 2008: Prävention bei Hochbetagten. S. 263-275 in: A. Kuhlmey & D. Schaeffer
(Hrsg.), Alter, Gesundheit und Krankheit. Bern: Verlag Hans Huber.
Hamer, M. & Y. Chida, 2009: Physical activity and risk of neurodegenerative disease: a systematic
review of prospective evidence. Psychol Med, Cambridge University Press, 39: 3-11.
Krämer, W., 1992: Altern und Gesundheitswesen: Probleme und Lösungen aus der Sicht der Ge-
sundheitsökonomie. S. 563-580 in: P.B. Baltes & J. Mittelstraß (Hrsg.), Zukunft des Alterns und
gesellschaftliche Entwicklung. Berlin & New York: de Gruyter.
Krämer, W., 1999: Hippocrates und Sisyphus – die moderne Medizin als das Opfer ihres eigenen
Erfolges. S.389-393 in: W. Kirch & H. Kliemt (Hrsg.), Rationierung im Gesundheitswesen. Band
61. Regensburg: Roderer.
Kruse, A., 2002: Gesund Altern. Stand der Prävention und Entwicklung ergänzender Präventions-
strategien. Baden-Baden: Nomos.
Kruse, A., 2008: Psychologische Veränderungen im Alter. S. 15-32 in A. Kuhlmey & D. Schaeffer
(Hrsg.), Alter, Gesundheit und Krankheit. Bern: Verlag Hans Huber.
Kuhlmey, A., 2008: Altern – Gesundheit und Gesundheitseinbußen. S. 85-97 in: A. Kuhlmey & D.
Schaeffer (Hrsg.), Alter, Gesundheit und Krankheit. Bern: Verlag Hans Huber.
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Kuhlmey, A., D. Alscher, A. Büscher, G. Dielmann, M. Hopfeld, H. Höppner, G. Igl, U. Matzke


& A. Satrapa-Schill, 2011: Die Idee des Memorandums. Gesundheits- und Sozialpolitik (GuS)
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Motel-Klingebiel, A., S. Wurm & C. Tesch-Römer, (Hrsg.) 2010: Altern im Wandel. Befunde des
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IV
Die soziale Organisation
der gesundheitlichen Versorgung:
Politik, Professionen und Strategien
Gesundheitssystemgestaltung, Versorgungs-
gestaltung und Versorgungsentwicklung 22
Holger Pfaff und Timo-Kolja Pförtner
22 Gesundheitssystemgestaltung, Versorgungsgestaltung

Überblick
▶ Wie ist das deutsche Gesundheitssystem strukturiert?
▶ Welche Bedeutung hat die Strukturierung des Gesundheitssystems für die Versor-
gungsgestaltung?
▶ Was sind die Grundelemente der Versorgungsentwicklung und wie hängen sie
zusammen?

1 Einleitung

Das Gesundheits- und Versorgungssystem wird mit vielfältigen Herausforderungen kon-


frontiert, die oft mals eine Anpassung der Strukturen und Prozesse im Gesundheitswesen
erfordern. Diese Anpassung kann dabei reaktiv wie auch aktiv erfolgen. Reaktiv im Sinne
einer geplanten Gestaltung der Systeme an die neuen Aufgabenstellungen und aktiv im
Sinne einer Neugestaltung der Systeme, die auf einer Vision oder Idee basiert. Vor diesem
Hintergrund lassen sich drei Formen der Steuerung und Beeinflussung des Gesundheits-
wesens identifizieren: die Gesundheitssystemgestaltung, die Versorgungsgestaltung und
die Versorgungsentwicklung.
Während sich die Gesundheitssystemgestaltung auf die Makroebene des Gesund-
heitswesens bezieht, betrifft die Versorgungsgestaltung und -entwicklung die Meso- und
Mikroebene des Gesundheitswesens, die meist über gesetzgeberische Maßnahmen initiiert
werden (Top-Down-Prozesse) (vgl. Tab. 1). Von Versorgungsentwicklung sprechen wir,
wenn die Gestaltung schrittweise und innerhalb des Systems erfolgt (Bottom-Up-Prozesse).
Im Folgenden werden alle drei Begriffe eingeführt und erläutert.

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_22, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
328 Holger Pfaff und Timo-Kolja Pförtner

Tab. 1 Gestaltungsebenen
Gestaltung und Entwicklung Bereich & Akteure Ebene
Gesundheitssystemgestaltung Gesellschaftliches Gesundheitssystem Makroebene
Versorgungsgestaltung Organisationsnetzwerke, Versorgungs- Meso- und
organisationen & Interaktionssysteme Mikroebene
Versorgungsentwicklung Dienstleistung, Patienten, Laien, Personal, Meso- und
Qualität, Interorganisation und Gesundheits- Mikroebene
politik

2 Gesundheitssystemgestaltung

Gesundheitssystemgestaltung ist die aktive oder reaktive Formung der grundlegenden


Strukturen und Prozesse des Gesundheitswesens. Dies beinhaltet zum einen die Festle-
gung der Grundstruktur des Gesundheitswesens und zum anderen die Festlegung der
Gestaltungsprinzipien im Gesundheitswesen.

2.1 Festlegung der Grundstruktur des Gesundheitssystems

Im Rahmen der Gesundheitssystemgestaltung lassen sich verschiedene Typen und Modelle


der Gesundheitssysteme identifizieren. Ihre Anzahl variiert dabei in Abhängigkeit der
berücksichtigten Eigenschaften eines Gesundheitssystems (Wendt 2011, siehe auch Wendt
in diesem Band). Wird die Art der Finanzierung und Regulierung im Gesundheitswesen
berücksichtigt, lassen sich vier Modelle der Gesundheitssysteme unterscheiden (Stevens 2009):
das Beveridge-Modell, das Bismarck-Modell, das Semashko-Modell und das Markt-Modell.
Im europäischen Kontext wird zwischen dem Beveridge-Modell und dem Bismarck-Mo-
dell unterschieden. Das Beveridge-Modell steht für die staatliche Form der Gesundheitsver-
sorgung und geht auf William Henry Beveridge zurück, der Mitte des letzten Jahrhunderts
ein umfassendes System sozialer Sicherheit vorschlug. Charakteristisch für dieses Modell
ist, dass es der gesamten Bevölkerung einen universellen Zugang zum Gesundheitssystem
garantiert, durch Steuereinnahmen finanziert und durch den Staat verwaltet wird.
Das Bismarck-Modell steht für das Sozialversicherungs-Modell der Gesundheitsver-
sorgung wie es in Deutschland praktiziert wird. Es geht auf Otto von Bismarck zurück,
der 1883 die gesetzliche Krankenkasse einführte, um sozialen Unruhen zu begegnen
und den freiwilligen Versicherungen der Gewerkschaften den Boden zu entziehen. Das
Bismarck-Modell zeichnet sich durch eine von der Erwerbstätigkeit abhängige Versiche-
rungsform aus, die durch einkommensabhängige Beiträge der Versicherten finanziert und
durch öffentliche wie private Anbieter verwaltet wird.
Das Semashko-Modell, das in der früheren UdSSR praktiziert wurde, zeichnet sich
hingegen durch eine vollständig staatliche Lenkung der Verwaltung, Finanzierung und
Bereitstellung von Gesundheitsleistungen aus. Diesem Modell gegenüber steht das sogenannte
22 Gesundheitssystemgestaltung, Versorgungsgestaltung 329

Markt-Modell, das häufig den USA zugeschrieben wird. Bei diesem Modell existiert in der
Reinform keine staatliche Beteiligung in der Verwaltung, Finanzierung und Bereitstellung
von Gesundheitsleistungen, da maßgeblich private Versicherungs- und Leistungsanbieter
auf dem Markt auftreten. Die verschiedenen Modelle sind in ihrer Reinform kaum noch
vorzufinden und konvergieren zunehmend (Stevens 2009). So nehmen die Marktsysteme
Elemente des Sozialversicherungsmodells auf, während die staatlichen und Sozialversiche-
rungssysteme wettbewerbliche und marktorientierte Elemente einführen.

2.2 Festlegung der Gestaltungsprinzipien im Gesundheitswesen

Sind die politischen Grundentscheidungen getroffen, müssen die weiteren Strukturen über
Gestaltungsprinzipien festgelegt werden. Dies soll am Beispiel des deutschen Gesundheits-
systems und hier hauptsächlich am Beispiel der Finanzierung deutlich gemacht werden.
Das deutsche Gesundheitssystem ist über die Grundentscheidung für das Sozialversiche-
rungsmodell (Bismarck-Modell) hinaus das Ergebnis der Anwendung verschiedenster
Gestaltungsprinzipien (Simon 2013, Rosenbrock & Gerlinger 2014). Das Gesundheitssystem
kann auf verschiedenen Gestaltungsprinzipien beruhen (siehe Tab. 2). Diese werden im
Folgenden dargestellt und für Deutschland verglichen.
Dem Solidarprinzip der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) liegt zugrunde, dass
Versicherte in Abhängigkeit von ihrem beitragspflichtigen Einkommen Beiträge in die
GKV zahlen und nicht in Abhängigkeit von ihrem gesundheitlichen Bedarf (siehe hierzu
§1 SGB V und §3 SGB V). Dadurch bilden die Versicherten in der GKV eine Solidargemein-
schaft, in der das individuelle Erkrankungsrisiko und die damit einhergehenden Kosten
gemeinsam getragen werden. Das Solidarprinzip besagt konkret, dass die Gesunden für die
Kranken zahlen, die Reichen für die Armen, die Arbeitenden für die Nicht-Arbeitenden,
die Jüngeren für die Älteren und die Singles für die Familien. Das Gegenprinzip ist das
Individualprinzip, das in der Privaten Krankenversicherung (PKV) anzutreffen ist. Hier
muss jeder Versicherte für die von ihm verursachten Kosten im Prinzip selbst aufkommen.

Tab. 2 Prinzipien der Gestaltung von sozialversicherungsbasierten Gesundheitssystemen


hinsichtlich Finanzierung, Leistungsanspruch und Verwaltung
Prinzip Gegenprinzip
Solidarprinzip Individualprinzip
Subsidiaritätsprinzip Zentralitätsprinzip
Sachleistungsprinzip Kostenerstattungsprinzip
Bedarfsdeckungsprinzip Anspruchsprinzip, Verursachungsprinzip,
Übertragbarkeitsprinzip
Versicherungspflichtprinzip Versicherungsfreiheitsprinzip
Beitragsfinanzierungsprinzip Steuerfinanzierungsprinzip
Selbstverwaltungsprinzip Fremdverwaltungsprinzip,
Staatsprinzip
330 Holger Pfaff und Timo-Kolja Pförtner

Das System der GKV beruht zudem auf dem Prinzip der Subsidiarität, das Selbstbestimmung
und Selbstverantwortung ins Zentrum der Gesundheits- und Sozialpolitik stellt (siehe
hierzu §1 SGB V und §2 SGB V Absatz 1). So sollen die Versicherten selbst in Eigenverant-
wortung ihre Gesundheit erhalten und fördern. Dabei sind die Versicherten dem Prinzip
nach zur Selbsthilfe verpflichtet, bevor die Solidargemeinschaft der GKV greift. Auch auf
institutioneller Ebene greift das Subsidiaritätsprinzip in der Übertragung von staatlichen
Steuerungsaufgaben an untergeordnete Träger, die als öffentlich-rechtliche Körperschaften
eigenverantwortlich und unter Rechtsaufsicht agieren (siehe Selbstverwaltungsprinzip).
Das Gegenprinzip zum Subsidiaritätsprinzip ist das Zentralitätsprinzip, bei der die oberste
Steuerungsebene für alle Belange zuständig ist und keine Delegation der Verantwortung
auf die unteren Ebenen erfolgt.
Das Sachleistungsprinzip besagt, dass die erbrachten Leistungen den Leistungserbrin-
gern direkt von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden, ohne dass die Patienten
selbst in Vorkasse gehen müssen (siehe hierzu §2 SGB V Absatz 2). Das Gegenprinzip
zum Sachleistungsprinzip ist das Kostenerstattungsprinzip, das in weiten Teilen der PKV
verbreitet ist. Hier muss der Versicherte zunächst selbst für die Leistung aufkommen und
erhält im Anschluss das Geld (ganz oder teilweise) von seiner Versicherung zurück.
Das Bedarfsdeckungsprinzip besagt, dass Versicherte in der GKV einen gesetzlichen
Anspruch auf alle notwendigen Gesundheitsleistungen haben, die ihre Gesundheit er-
halten, wieder herstellen oder verbessern (siehe hierzu §70 SGB V). Ein Gegenprinzip ist
hierzu das Verursachungsprinzip. Bei diesem Prinzip wird bei Verschulden der Krankheit
nicht oder eingeschränkt bezahlt bzw. geleistet. Als weiteres Gegenprinzip fungiert das
Anspruchsprinzip, bei dem der Versicherte Anspruch auf irgendeine Form der Rückerstat-
tung seiner Einzahlungen, unabhängig vom Bedarf hat. Ein drittes Gegenprinzip ist das
Übertragbarkeitsprinzip, das mit einer Übertragung – zum Beispiel auf Familienmitglieder
– oder einer Verpfändung des Anspruchs auf Gegenleistung einhergeht.
Das Prinzip der Versicherungspflicht besagt, dass es für Bürger eine Verpflichtung
gibt, sich in der gesetzlichen Krankenversicherung zu versichern (siehe hierzu §5 SGB V).
Diese Pflicht geht mit der Verpflichtung einher, Beiträge in die GKV nach der wirtschaft-
lichen Leistungsfähigkeit zu entrichten. Ab einer gewissen Einkommenshöhe (Versiche-
rungspflichtgrenze) greift hingegen das Versicherungsfreiheitsprinzip, bei dem es den
Versicherten frei gestellt ist, ob sie in der GKV oder in der PKV versichert sein möchten
(siehe hierzu §6 SGB V).
Das Prinzip der Beitragsfinanzierung regelt die Finanzierung der Gesundheitsleistungen.
Die Finanzierung (etwa der GKV) ist hier durch einkommensabhängige Beitragszahlungen
(Versicherungsbeiträge) überwiegend von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sichergestellt.
Ein mögliches Gegenprinzip hierzu wäre die Steuerfinanzierung der Gesundheitsausgaben.
Ein weiteres Prinzip der Organisation von Gesundheitssystemen ist das Selbstver-
waltungsprinzip. Der Staat überträgt hierbei in Anlehnung an das Subsidiaritätsprinzip
die sozialen Aufgaben der GKV an weiterführende Organe. So bilden beispielsweise die
gesetzlichen Krankenversicherungen (Vertreter der Versicherten) und die Kassenärzt-
lichen bzw. Kassenzahnärztlichen Vereinigungen (Vertreter der Leistungserbringer)
22 Gesundheitssystemgestaltung, Versorgungsgestaltung 331

rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts (sog. mittelbare Staatsverwaltung).


Diese Körperschaften haben den Vorteil der hohen Fachkompetenz und besitzen eine
eigene Rechtsfähigkeit, wobei sie weiter der staatlichen Rechtsaufsicht unterliegen. Das
Gegenprinzip hierzu könnte man als Fremdverwaltungsprinzip oder als Staatsprinzip
bezeichnen. Der Staat würde in diesem Fall die Steuerungs- und Verwaltungsaufgaben
zentral erfüllen oder den Trägern der Sozialversicherung bzw. den Leistungserbringern
direkt Weisungen erteilen.
Betrachtet man die aufgeführten Prinzipien unter dem Aspekt der Gesundheitssys-
temgestaltung, so ergibt sich aus der Wahl der jeweiligen Prinzipien ein im Detail jeweils
anderes Gesundheitssystem. Im deutschen Gesundheitssystem finden sich durch die
private und gesetzliche Krankenversicherung zwei Formen der Systemgestaltung, die auf
gegensätzlichen Prinzipien beruhen und für Deutschland gestaltgebend sind.

3 Versorgungsgestaltung

Wir definieren Versorgungsgestaltung als expertenbasiertes, nicht partizipatives Design


der Strukturen und Prozesse der Kranken- und Gesundheitsversorgung. Die Gestaltung
kann dabei auf der Ebene des Netzwerks von versorgungsbezogenen (Selbstverwaltungs-)
Organisationen erfolgen (z. B. Ärztenetze, Klinikverbünde, Spitzenverband Bund der
Krankenkassen; KBV, BÄK, DKG), auf der Ebene der Organisationen (z. B. Arztpraxis,
Klinik, Krankenkasse) oder auf der Ebene der Interaktionssysteme (z. B. Arzt-Patient-In-
teraktionen) (vgl. Abb. 1).

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Abb. 1 Dimensionen der Versorgungsgestaltung


Quelle: eigene Darstellung
332 Holger Pfaff und Timo-Kolja Pförtner

3.1 Gestaltung der Interaktion von versorgungsbezogenen


Organisationen

Aufgrund der Fragmentierung des Gesundheitssystems und der damit einhergehenden


Vielfalt an spezialisierten Versorgungsorganisationen ist es notwendig, die Zusammen-
arbeit der verschiedenen Akteure zu koordinieren (Georg 2007). Zur Erreichung dieses
Ziels stehen verschiedene Mittel zur Verfügung, wie die Koordination durch den Markt,
durch Hierarchien, durch Netzwerke und durch sogenannte Clan-Prinzipien. Ein Beispiel
für die Versorgungsgestaltung auf Ebene der Kooperation von Versorgungsorganisationen
ist der gesetzgeberische Versuch, die integrierte Versorgung einzuführen und zu fördern
(Schaeffer & Ewers 2006). Neuere Ansätze zur Förderung der Kooperation zwischen Ver-
sorgungsorganisationen gehen in Richtung eines „value-based health care“ (Porter & Guth
2012), verantwortungsübergreifender Modelle (Pfaff & Schulte 2012) oder regionalen bzw.
populationsbezogenen Versorgungsstrukturen (Berwick et al. 2008).

3.2 Gestaltung von versorgungsbezogenen Organisationen

Die Optimierung der Qualität und Effizienz von Versorgungsorganisationen steht im


Mittelpunkt der Gestaltung von Versorgungsorganisationen. Hierzu gibt es eine Vielzahl
von Möglichkeiten der Gestaltung (Badura 1993). Diese reichen von gesetzlichen Vorgaben
der Finanzierung von Gesundheitsleistungen (z. B. DRG) (Augurzky et al. 2013) bis hin
zu Rahmenvorgaben bezüglich der Qualitätserbringung und -berichterstattung (Hensen
2014). Die Einführung des Fallpauschalen-Systems (DRG-System) in den Krankenhäusern
kann als ein Paradebeispiel für die Versorgungsgestaltung von Versorgungsorganisationen
angesehen werden, wobei der Gestaltungseffekt hauptsächlich indirekter Natur ist. Das
Fallpauschalen-System hat interne Restrukturierungen in den Krankenhäuser ausgelöst
und vielfältige Folgen generiert (Augurzky et al. 2013). Eine neue Form der Organisati-
onsgestaltung ist die Gestaltung der Versorgungsorganisationen nach dem Prinzip des
evidenzbasierten Managements. Dabei werden Versorgungsorganisationen so organisiert,
dass sie dem neuesten Wissen des (Disease-)Managements entsprechen (Sunol et al. 2014).
Eine weitere neuere Form der Gestaltung von Versorgungsprozessen in Organisationen
ist die Einführung von Elementen des Lean Managements (Hasle 2014).

3.3 Gestaltung von Interaktionssystemen

Die Gestaltung von Interaktionssystemen ist am wenigsten reguliert, weil Interaktionen im


Prinzip nur schwer zu gestalten sind. Versuche der Gestaltung der Interaktionsbeziehun-
gen in der Versorgung sind am ehesten im Bereich der Arzt-Patient-Interaktion zu finden
und hier insbesondere im Bereich der Methoden der partizipativen Entscheidungsfindung
(Shared Decision Making) (Scheibler et al. 2003). Versorgungsgestaltung in diesem Be-
reich versucht, über das Training von Leistungserbringern und Patienten sowie über eine
22 Gesundheitssystemgestaltung, Versorgungsgestaltung 333

Strukturierung der Entscheidungsprozesse und Nutzung von Entscheidungshilfen, die


Arzt-Patient-Interaktion konkret zu strukturieren (Härter et al. 2011).

4 Versorgungsentwicklung

Unter Versorgungsentwicklung verstehen wir die geplante Veränderung des Versor-


gungssystems und der damit verbundenen Versorgungsprozesse und -strukturen – unter
Einbeziehung, Federführung oder in Eigenregie der Akteure (Hasle & Moller 2007) – zum
Zwecke der medizinischen, sozialen und ökonomischen Verbesserung des bestehenden
Versorgungsystems. Die Versorgungsentwicklung unterscheidet sich in zwei Punkten von
der Versorgungsgestaltung. Erstens bezieht die Versorgungsentwicklung die beteiligten
Akteure mit in das Konzept ein und beschränkt sich nicht – wie die Versorgungsgestaltung
– allein auf die Dienstleistungsentwicklung. Zweitens ist die Versorgungsentwicklung im
Gegensatz zum Top-Down-Ansatz der Versorgungsgestaltung partizipatorisch ausgerichtet
und versucht die Versorgung gemeinsam mit den Beteiligten fortzuentwickeln und verfolgt
damit einen Bottom-Up-Ansatz.
Dies kann am Beispiel des Shared-Decision-Modells der Arzt-Patient-Interaktion deut-
lich gemacht werden (siehe auch Borgetto in diesem Band). Dieses Modell sieht zwar die
Einbeziehung des Patienten in den Entscheidungsprozess vor. Das Modell selbst ist jedoch
im Kern von Experten entwickelt worden und nicht in Zusammenarbeit mit Patienten. Man
muss also zwischen der Partizipation bei der Entwicklung der neuen Versorgungsmodelle
(partizipativer Forschungs- und Entwicklungsprozess) und der Partizipation in der Versor-
gungspraxis unterscheiden. Zu den zentralen Versorgungs- und Entwicklungselementen
gehören: Dienstleistung, Patient, Laien, Qualität, Versorgungsorganisationen, Kosten-
trägerorganisationen (z. B. Krankenkassen), Netzwerk von Versorgungsorganisationen,
Personal der Versorgungsorganisationen und Gesundheitspolitik. Die damit verbundenen
konkreten Entwicklungselemente sollen im Folgenden kurz charakterisiert werden.

4.1 Dienstleistungsentwicklung

Die Dienstleistungsentwicklung bezieht sich auf die Entwicklung und Verbesserung der
Dienstleistung, die in der Krankenversorgung am Patienten und in der Gesundheits-
versorgung am Bürger erbracht wird. Nach dem Throughput-Modell besteht diese aus
Kerndienstleistungen wie Diagnose-, Therapie-, Pflege- und Palliativdienstleistungen
(Gesundheitsleistung) und aus Kontextdienstleistungen wie Arzt-Patient-Interaktion und
Hoteldienstleistungen (Pfaff & Schrappe 2011). Die Dienstleistungsentwicklung der Ver-
sorgung wird häufig als Versorgungsgestaltung beschrieben und gilt als soziale Innovation
bzw. Versorgungsinnovation. Hierzu zählen z. B. telemedizinische Versorgungskonzepte,
Disease-Management-Programme oder Konzepte zur integrierten und Hausarzt-zentrierten
Versorgung (Härter & Koch-Gromus 2015).
334 Holger Pfaff und Timo-Kolja Pförtner

4.2 Patientenentwicklung

Unter dem Begriff der Patientenentwicklung verstehen wir die geplante und gezielte Ver-
besserung der Fähigkeiten und des Wissens des Patienten, zu seiner Gesundheit und seiner
eigenen Versorgung beizutragen. Ein wichtiger Bestandteil ist in diesem Zusammenhang
die Einbeziehung des Patienten in die Verbesserung des Versorgungssystems und der Ver-
sorgungsprozesse (Noest et al. 2014). Weitere wichtige Elemente der Patientenentwicklung
sind das Patientenempowerment (Faller 2011) und die Entwicklung der Gesundheitskom-
petenz (health literacy) (Dierks et al. 2012). Die Patientenentwicklung spielt insbesondere
bei chronischen Erkrankungen und Langzeiterkrankungen eine entscheidende Rolle, da
hier der Betroffene einen entscheidenden Einfluss auf den Therapieerfolg ausüben kann.
Aus diesem Grunde gilt es den Patienten „mitzuentwickeln“, damit der Betroffene die
Funktion des Ko-Managers im Therapieverlauf einnehmen kann (Pfaff & Schulte 2012).

4.3 Laienentwicklung: Entwicklung des Laienpotentials

Ein Problem des Gesundheitssystems ist die Macht- und Wissens-Diskrepanz zwischen
Experten (Arzt, Pflegekraft) und Laien (Patient, Angehörige, Freund). Will man im Sin-
ne der Idee der Ko-Produktion und des Ko-Managements die vorhandenen Potentiale
besser nutzen, muss auch das Laienpotential entwickelt werden (von dem Knesebeck &
Trojan 2007; siehe auch Faltermaier in diesem Band). Unter Laienpotential verstehen wir
hier die möglichen Wissensvorräte, Fähigkeiten und Beiträge der Laien zur Versorgung
und Verbesserung der Versorgung (Ferber & Badura 1983, Forschungsverbund 1987).
Der Begriff des Laien schließt den Patienten mit ein, aber eben auch die Angehörigen
und Freunde des Patienten sowie den Bürger an sich. Laienentwicklung ist damit immer
auch Patientenentwicklung. Laienentwicklung kann definiert werden als die Befähigung
der Laien, an der Kranken- und Gesundheitsversorgung mitzuwirken und für die eigene
Gesundheit und die Gesundheit anderer zu sorgen. Das Gebiet der Laienentwicklung ist
bisher vernachlässigt worden, obwohl ihre Relevanz durch die zunehmende Verlagerung
von Gesundheitsdienstleistungen in das Laiensystem (Stichwort: häusliche Pflege und
Palliativversorgung, Selbsthilfe etc.) immer bedeutsamer wird.

4.4 Personalentwicklung

Unter Personalentwicklung verstehen wir hier „Maßnahmen zur Vermittlung von Qua-
lifikationen, welche die aktuellen und zukünftigen Leistungen von Führungskräften und
Mitarbeitern steigern (Bildung), sowie Maßnahmen, welche die berufliche Entwicklung
von Führungskräften und Mitarbeitern unterstützen (Förderung)“ (Stock-Homburg 2013:
205). Diese Art der Qualifizierung ist die Voraussetzung für die Versorgungsentwicklung
und das damit verbundene Change Management (Gericke 2006). Das Change Management
22 Gesundheitssystemgestaltung, Versorgungsgestaltung 335

kommt insbesondere bei der Versorgungsgestaltung zum Tragen und unterstützt das
Personal bei der Anpassung und Mitgestaltung der Neuerungen.

4.5 Qualitätsentwicklung

Qualitätsentwicklung meint hier die geplante Verbesserung der Qualitätsergebnisse einer


Versorgungsorganisationen und/oder eines Versorgungsprozesses durch Anwendung von
Qualitätsmanagementtechniken und von Techniken der Personal- und Organisationsent-
wicklung (Steinbrucker 2011). Die Qualitätsentwicklung betrifft in Versorgungsorganisati-
onen zwei Ebenen: die Ebene der Organisation und die Ebene der Fachabteilungen. Jüngere
Untersuchungen zeigen, dass die Ebene der Organisation mit ihren organisationsweiten
Qualitätsmanagementmethoden wenig bewirkt im Vergleich zur Ebene der Fachabteilun-
gen (Sunol et al. 2014).

4.6 Organisationsentwicklung

Da die Versorgung meistens in Versorgungsorganisationen geschieht, ist die Organisa-


tionsentwicklung von besonderer Bedeutung im Rahmen der Versorgungsentwicklung.
Versorgungsorganisationen müssen sich ständig an die Gesetzgebung und die Wettbe-
werbsbedingungen anpassen. Die Organisationsentwicklung ist dabei Ausdruck dieser
Anpassungsleistung und bezieht sich auf die systematische Weiterentwicklung der Ver-
sorgungsorganisationen im Sinne einer Verbesserung der Strukturen und Prozesse in
der Organisation unter Einbeziehung der betroffenen Manager und Mitarbeiter (Koeck
1998). Die Organisationsentwicklung ist geplant und umfasst die Anwendung sozialwis-
senschaftlicher Methoden und Techniken, meist unter Anwendung eines Prozessberaters
(Change Agent) (Pfaff & Klein 2002).

4.7 Interorganisationsentwicklung

Die patientenbezogenen Versorgungsprozesse sind meist institutionenübergreifend or-


ganisiert. Die patientenorientierte Organisation dieser Prozesse setzt voraus, diese ver-
schiedenen Versorgungsorganisationen gemeinsam – orientiert an einem Ziel – zu ent-
wickeln, zum Beispiel zum Zwecke der Verbesserung der integrierten Versorgung. Unter
Interorganisationsentwicklung verstehen wir die Entwicklung der Beziehungen zwischen
den Versorgungsorganisationen, die bezüglich eines Versorgungsproblems vernetzt sind
oder sein sollten. Im Netzwerk der Organisationen unterscheiden wir zwischen Kernor-
ganisationen und unterstützenden Organisationen. Die Kernorganisationen erbringen die
Gesundheitsleistung direkt am Patienten (z. B. Krankenhaus, Arztpraxis, Pflegeheim). Sie
liegen entlang der Wertschöpfungskette und konstituieren die Versorgungskette. Die unter-
stützenden Organisationen helfen den Kernorganisationen bei der Aufgabenbewältigung
336 Holger Pfaff und Timo-Kolja Pförtner

am Patienten, sie sind aber selbst nicht direkt an der Erbringung der Gesundheitsleistung
beteiligt (z. B. Krankenkassen, Ärztekammer, Deutsche Krankenhausgesellschaft). Die
Interorganisationsentwicklung zielt zum einen darauf ab, die formalen und informalen
Beziehungen zwischen den für den Versorgungsprozess notwendigen Organisationen zu
verbessern. Zum anderen ist es das konkrete Ziel die Potenziale der inhaltlichen Zusam-
menarbeit dieser Organisationen bestmöglich auszuschöpfen etwa um die Vision einer
value-based health care realisieren zu können (Porter & Guth 2012).

4.8 Politikentwicklung

Politikentwicklung meint die kontinuierliche Verbesserung der Art und Weise, wie Politik
geplant, gemacht und gesteuert wird. In der Gesundheitspolitik bedeutet dies z. B. die Ein-
führung und Praktizierung von evidenzbasierter Gesundheitspolitik. Eine derart orientierte
Gesundheitspolitik versucht, nur solche Politiken und Maßnahmen zu verfolgen, für die
es empirische Belege hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gibt. Damit dies nicht in einer reinen
Top-Down-Gestaltung mündet, ist es wichtig, die evidenzbasierte Gesundheitspolitik durch
eine lernbasierte Komponente zu ergänzen. Bei dieser geht es darum, dass die politischen
Entscheidungsträger auf der Basis von datenbasierten Lern- und Evaluationsprozessen
neue Einsichten gewinnen, die zu einer kontinuierlichen Verbesserung der politischen
Entscheidungen führen.

4.9 Versorgungsentwicklung als Gesamtkunstwerk

Versorgungsentwicklung ist ein mehrdimensionaler und systemischer Prozess. Das hier


vorgestellte Konzept der Versorgungsentwicklung macht deutlich, dass die herkömmlichen
Maßnahmen der Versorgungsgestaltung zu kurz greifen. Sie setzen hauptsächlich nur an
einer Dimension an: der Dienstleistung und der Dienstleistungsentwicklung. Die anderen
Dimensionen werden im Rahmen des technokratischen Verständnisses von Gestaltung
vernachlässigt oder gar missachtet. Die Herausforderung in der Versorgungsentwicklung
besteht darin, a) auf allen aufgezeigten Ebenen gleichzeitig zu arbeiten und b) die verschie-
denen Entwicklungsaufgaben aufeinander abzustimmen und selbstbestimmt zu steuern.

5 Schlussfolgerungen

Wir haben es mit drei Formen der Steuerung und Beeinflussung des Gesundheitswesens zu
tun: Gesundheitssystemgestaltung, Versorgungsgestaltung und Versorgungsentwicklung.
Diese Formen sind komplementär zueinander. Die Gesundheitssystemgestaltung ist Sache
des Gesetzgebers und bezieht sich auf die Grundstrukturen und -prozesse des Gesund-
heitswesens. Die Versorgungsgestaltung betrifft hauptsächlich die Top-Down-Gestaltung
22 Gesundheitssystemgestaltung, Versorgungsgestaltung 337

des Versorgungssystems durch gesetzgeberische Maßnahmen und durch Entscheidungen


der Selbstverwaltungsorganisationen. Dieser Form der Top-Down-Steuerung der Versor-
gung wurde das Konzept der Versorgungsentwicklung gegenübergestellt. Das Konzept der
Versorgungsentwicklung ist holistisch und systemisch. Es betrachtet das gesamte Versor-
gungssystem und geht davon aus, dass das Herausgreifen eines oder zweier Elemente dieses
Systems nicht zu einer wirklichen Versorgungsentwicklung führen kann. Der wichtigste
Unterschied zwischen beiden Konzepten besteht darin, dass die Versorgungsentwicklung
ein Bottom-Up-Prozess ist, der auf die Selbstorganisation und die Selbstorganisationsfä-
higkeiten der Akteure im Versorgungssystem setzt. Die Grundlagen für diese Selbstorga-
nisationsfähigkeit zu schaffen, wird eine der großen Zukunftsaufgaben darstellen.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Es existieren drei Formen der Steuerung und Beeinflussung des Gesundheitswesens:
Gesundheitssystemgestaltung, Versorgungsgestaltung und Versorgungsentwicklung.
▶ Die Gesundheitssystemgestaltung obliegt dem Gesetzgeber und bezieht sich auf die
Grundstrukturen und -prozesse des Gesundheitswesens.
▶ Der Gesetzgeber hat die Regelung der Versorgungsgestaltung nach dem Subsidiari-
tätsprinzip in die Hand der jeweiligen Akteure gelegt.
▶ Versorgungsgestaltung ist das Design der Strukturen und Prozesse der Kranken-
und Gesundheitsversorgung nach dem Top-Down-Prinzip und bezieht sich auf die
Kooperation von Versorgungsorganisationen, die Versorgungsorganisation allein
und auf die Interaktionsbeziehungen in der Versorgung.
▶ Versorgungsentwicklung ist die geplante Veränderung des Versorgungssystems und
der damit verbundenen Versorgungsprozesse und -strukturen unter Einbeziehung,
Federführung oder in Eigenregie. Sie zeichnet sich durch einen Bottom-Up-Ansatz aus.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Was ist der Unterschied zwischen Versorgungsgestaltung und Versorgungsent-
wicklung?
▶ Welche Grundmodelle des Gesundheitssystems kann man unterscheiden?
▶ Wie kann man die Gestaltungsprinzipien nutzen, um das Bismarck-System des
Gesundheitswesens im Detail zu analysieren?
338 Holger Pfaff und Timo-Kolja Pförtner

Leseempfehlungen

t Busse, R., M. Blümel & D. Ognyanova, 2013: Das deutsche Gesundheitssystem: Akteure,
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Ein umfassendes Werk zur aktuellen Struktur des deutschen Gesundheitssystems mit
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Ein einführendes Standwerk zum Gesundheitssystem und zur Gesundheits- und Präven-
tionspolitik in Deutschland und der Schweiz.

t Simon, M., 2013: Das Gesundheitssystem in Deutschland. Eine Einführung in Struktur


und Funktionsweise. 4. Auflage. Bern: Huber.
Ein Lehrbuch zum Gesundheitswesen in Deutschland mit einer allgemein verständlichen
Einführung in die Struktur und Funktionsweise des deutschen Gesundheitssystems.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik
Das Gesundheitswesen in Deutschland. Ein Überblick durch die Bundeszentrale für
politische Bildung.

Web http://www.bmg.bund.de/themen/gesundheitssystem.html
Aktuelle Entwicklungen und Trends im deutschen Gesundheitssystem vom Bundes-
ministerium für Gesundheit..

Web http://www.gbe-bund.de
Aktuelle Daten, Informationen und Definitionen rund um das Thema Gesundheits-
system durch die Gesundheitsberichterstattung des Bundes.

Danksagung

Die Arbeit von Holger Pfaff wurde unterstützt durch den Caledonian Research Fund
(CRF) und der Royal Society of Edinburgh (RSE), welche einen Forschungsaufenthalt an
der Universität von Aberdeen im August 2014 und im März 2015 erlaubte.
22 Gesundheitssystemgestaltung, Versorgungsgestaltung 339

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Soziale Einflüsse auf die gesundheitliche
Versorgung 23
Jens Klein und Olaf von dem Knesebeck
23 Soziale Einflüsse auf die gesundheitliche Versorgung

Überblick
▶ Welche Modelle zur Analyse von sozialen Einflüssen auf die gesundheitliche Ver-
sorgung gibt es?
▶ Was sind Versorgungsungleichheiten?
▶ Wie stark sind Ungleichheiten im Zugang, in der Inanspruchnahme und in der
Qualität der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland ausgeprägt?
▶ Wie hängen soziale Ressourcen und Belastungen mit der gesundheitlichen Versor-
gung zusammen?

1 Einleitung

Die Auseinandersetzung mit den Einflüssen sozialer Faktoren auf Gesundheit und Krank-
heit bildet eines der zentralen Themen der Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Die
gesundheitsrelevanten Einflüsse zum Beispiel von sozialer Ungleichheit, sozialen Bezie-
hungen oder psychosozialen Arbeitsbelastungen konnten in zahlreichen nationalen und
internationalen Untersuchungen nachgewiesen werden (Berkman et al. 2014; siehe auch
die Beiträge von Lampert und Dragano in diesem Band). Im Zuge der sich entwickelnden
Versorgungsforschung (Pfaff et al. 2011) sind in den letzten Jahren auch soziale Einflüsse
auf die Kranken- und Gesundheitsversorgung verstärkt in den Fokus sowohl wissenschaft-
licher Untersuchungen als auch öffentlicher Diskussionen gerückt. Die Krankenversorgung
umfasst hierbei die Betreuung, Pflege, Diagnose, Behandlung und auch Nachsorge von
Patienten durch medizinische und nicht-medizinische Anbieter von Gesundheitsleistun-
gen. Der Begriff der Gesundheitsversorgung schließt darüber hinaus die Prävention und
Gesundheitsförderung ein.
Für eine soziologische Analyse der Versorgung und möglicher sozialer Einflüsse wurden
verschiedene Modelle entwickelt. Das systemtheoretisch orientierte Throughput-Modell
unterteilt das Versorgungssystem in die Elemente Input, Throughput, Output und Out-

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_23, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
342 Jens Klein und Olaf von dem Knesebeck

come (Pfaff et al. 2011; siehe auch Pfaff & Pförtner in diesem Band). Input beinhaltet die
Ebene des Patienten (Versorgungsbedarf, Inanspruchnahme), der Ressourcen (Geld) und
der Gesundheitsdienstleister (Auswahl, Qualifikation und Motivation des Personals).
Throughput bezieht sich auf die Verarbeitung des Inputs innerhalb des Systems durch eine
Kombination aus Gesundheitsleistung und deren Kontext in Form von Versorgungsstruk-
turen und -prozessen. Der Output beschreibt die konkret erbrachten Gesundheitsleistungen
(z. B. Behandlungs-, Diagnose- oder Beratungsleistung) und das daran anschließende
Outcome körperlicher, psychischer, verhaltensbezogener, sozialer und kultureller Art
wird durch Gewinn oder Verlust an Lebensjahren, Gesundheit, Wohlbefinden und/oder
Lebensqualität erfasst.
Ein zur Analyse von Versorgungsungleichheiten entwickeltes Schema unterteilt ver-
schiedene Dimensionen von Versorgung (Zugang, Inanspruchnahme und Qualität)
(Knesebeck et al. 2009). Zugang zur Versorgung wird dabei als ein systemischer Faktor
bzw. als ein Merkmal der Anbieterseite betrachtet, während Inanspruchnahme eher als
individueller Faktor auf der Seite des Patienten angesiedelt ist. Hinsichtlich der Qualität
von Versorgung ist darüber hinaus zwischen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität zu
unterscheiden (Donabedian 1988).
Das Verhaltensmodell zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen von Ander-
sen (Andersen 1995) unterscheidet prädisponierende (predisposing) und ermöglichende
(enabling) Faktoren sowie subjektiv und objektiv erhobene Bedarfsfaktoren als Einflüsse
auf das individuelle Inanspruchnahmeverhalten. Prädisponierende Faktoren beinhalten
unter anderem Bildung, den beruflichen Status und Indikatoren horizontaler Ungleich-
heit, während ermöglichende Faktoren sich verstärkt auf finanzielle Ressourcen und den
Versichertenstatus beziehen. In der aktuellen Version des Modells werden die drei Fak-
torenkomplexe nicht nur auf individueller, sondern auch auf kontextueller Ebene (z. B.
Umweltfaktoren, Krankenhausdichte, soziale Deprivation) betrachtet (Andersen et al.
2014). Als Outcomes sind hier der subjektiv empfundene und der ärztlich diagnostizierte
Gesundheitszustand, Patientenzufriedenheit und Lebensqualität definiert, welche wiederum
auf die individuellen und kontextuellen Charakteristika einwirken.
Im vorliegenden Beitrag werden soziale Einflüsse auf die gesundheitliche Versorgung
zunächst am Beispiel des Zusammenhanges zwischen sozialer Ungleichheit und Versor-
gung (Versorgungsungleichheit) erörtert, wobei zwischen Zugang, Inanspruchnahme
und Qualität unterschieden wird. Dabei wird auf relevante Konzepte und Indikatoren
eingegangen, bevor der Forschungsstand bezogen auf Deutschland dargestellt wird. Die
Ausführungen konzentrieren sich auf die vertikale Dimension sozialer Ungleichheit, die im
Allgemeinen durch die Indikatoren Bildungsabschluss, berufliche Position und Einkommen
erfasst wird (siehe Lampert in diesem Band). Für die Untersuchung von Ungleichheiten
in der Versorgung spielt darüber hinaus der Versichertenstatus eine zentrale Rolle, d. h. in
Deutschland vor allem die Unterscheidung zwischen privat und gesetzlich Versicherten.
Ebenso werden seit einigen Jahren verstärkt regionale Ungleichheiten in der medizinischen
Versorgung und deren Auswirkungen diskutiert (Sundmacher 2014; siehe Sundmacher in
diesem Band); diese werden im vorliegenden Beitrag jedoch nicht thematisiert. In einem
23 Soziale Einflüsse auf die gesundheitliche Versorgung 343

daran anschließenden Kapitel werden die Einflüsse von sozialen Ressourcen und sozialen
Belastungen auf die gesundheitliche Versorgung skizziert.

2 Soziale Ungleichheit in der Versorgung

2.1 Zugang, Inanspruchnahme und Qualität:


Konzepte und Indikatoren

Für eine differenzierte Analyse von Ungleichheiten in der Versorgung sollte zwischen
Aspekten der Zugänglichkeit, der Inanspruchnahme und der Qualität der Versorgung
unterschieden werden. Zugang (englisch access) wird dabei als ein Merkmal des Gesund-
heitssystems oder der Versorgungseinrichtungen betrachtet. Bei der Interpretation des
Zugangs zu Versorgungsleistungen ist zwischen horizontaler und vertikaler Gerechtigkeit
im Zugang zu Versorgung zu unterscheiden (Oliver & Mossialos 2004). Horizontale Ge-
rechtigkeit bedeutet, dass Personen mit gleichem Bedarf die gleichen Möglichkeiten des
Zugang zu gesundheitlicher Versorgung haben, während vertikale Gerechtigkeit bei einem
ungleichen Bedarf ungleiche Zugangsmöglichkeiten impliziert. Vertikale Gerechtigkeit
würde vorliegen, wenn zum Beispiel sozial Benachteiligte erweiterte Zugangsmöglich-
keiten aufgrund ihrer höheren Gesundheitsrisiken und ihrer stärkeren Betroffenheit von
Komorbidität haben. Als Indikatoren für den Zugang zu Versorgungsleistungen kommen
Wartezeiten, Zuzahlungen und Gebühren sowie die zur Verfügung stehenden Angebote
für diagnostische und therapeutische Verfahren in Betracht.
Aspekte des Zugangs und der Inanspruchnahme hängen zwar zusammen, sind aber
nicht identisch. Im Unterschied zum Zugang ist die Inanspruchnahme eher ein Merkmal
des Patienten, d. h. die Inanspruchnahme ist eher Teil des individuellen Gesundheits-
oder Krankheitsverhaltens. Im Hinblick auf die Inanspruchnahme gilt es, zwischen einer
Ungleichheit als Ausdruck unterschiedlicher Präferenzen und einer Ungleichheit als
Ausdruck unterschiedlicher Möglichkeiten (etwa in Folge unterschiedlich ausgeprägter
Informiertheit über Versorgungsangebote) zu unterscheiden (Oliver & Mossialos 2004).
Bei der Inanspruchnahme spielen Indikatoren wie die Häufigkeit von Arztkontakten,
Krankenhausaufenthalten, operativen Eingriffen, Rehabilitationsmaßnahmen oder die
Teilnahme an Früherkennungs- und Vorsorgeuntersuchungen oder anderen präventiven
Maßnahmen eine Rolle. Obgleich die Inanspruchnahme gesundheitlicher Versorgungs-
leistungen als vergleichsweise einfach zu erfassen gilt, ist eine Interpretation erhobener
Inanspruchnahmedaten wie auch der möglicherweise identifizierten Ungleichheiten häufig
schwierig. So können Arztkontakte durch Krankheit motiviert sein, sie können aber auch
andere Gründe haben (Krankschreibung, Überweisung, Rezeptausstellung). Darüber
hinaus ist eine angemessene Interpretation von Inanspruchnahmeunterschieden häufig
nur dann möglich, wenn Indikatoren des Bedarfs (zum Beispiel der Gesundheitszustand
vor der Behandlung) kontrolliert werden.
344 Jens Klein und Olaf von dem Knesebeck

Hinsichtlich der Qualität von Versorgung ist zwischen Struktur-, Prozess- und Ergeb-
nisqualität zu unterscheiden (Donabedian 1988). Strukturqualität beschreibt die Rahmen-
bedingungen der Versorgung und umfasst die personellen Voraussetzungen, das heißt die
Ausbildung des Personals, die technische Ausstattung der Versorgungseinrichtung, die
räumlichen Gegebenheiten und die Ablauforganisation. Unter Prozessqualität wird die
Art und Weise, wie die Versorgungsleistungen erbracht werden, verstanden. Hier werden
insbesondere die Arzt-Patienten-Interaktion und die Anwendung präventiver, diagnostischer
und therapeutischer Verfahren als Indikatoren herangezogen. Ergebnisqualität bezieht sich
auf das Versorgungsergebnis und wird vor allem durch Morbiditäts- und Mortalitätsmaße
erfasst wie etwa Komplikations- und Überlebensraten, Wiedereinweisungen oder Rezidive.
Auch Compliance und Lebensqualität werden als Indikatoren herangezogen. Im Hinblick
auf Prävention sind eher die Verringerung von Inzidenzen, Verhaltensänderung oder die
Reduzierung von Risikofaktoren im Fokus.

2.2 Zugang

Ungleichheiten hinsichtlich Wartezeiten auf einen Termin und Wartezeiten in der Praxis
wurden vor allem im Vergleich zwischen privat und gesetzlich Versicherten untersucht. Eine
Übersicht von Huber und Mielck (2010) dokumentiert signifikant längere Wartezeiten im
ambulanten Sektor (Haus- und Fachärzte) sowie bei stationären Behandlungen für gesetz-
lich versicherte Patienten. Jüngste Studien bestätigten diese Ungleichheiten, allerdings gibt
es auch Inkonsistenzen. Zuzahlungen und der durch diese und andere Zugangsbarrieren
begünstigte Verzicht auf medizinische Versorgung sind ein zweiter relevanter Indikator
für ungleichen Zugang zu medizinischer Versorgung. So ist die finanzielle Belastung durch
Zuzahlungen für medizinische Dienstleistungen und Präparate für einkommensschwache
Haushalte signifikant erhöht. Zudem wurde ein deutlicher Zusammenhang zwischen nied-
rigerem Einkommen und vermehrtem Verzicht auf medizinische Versorgung nachgewiesen
(Mielck et al. 2009). Auch aktuelle Daten des Gesundheitsmonitors zeigen, dass der Verzicht
auf den Arztbesuch, der Verzicht und Aufschub von Rezepteinlösungen, die Verringerung
der Dosis und die Selbstmedikation signifikant häufiger in unteren Einkommensgruppen
vorkommt (Bremer et al. 2013).

2.3 Inanspruchnahme

Zu sozialen Ungleichheiten im Inanspruchnahmeverhalten liegen vergleichsweise viele


Studien vor (Klein et al. 2014). Patienten mit niedrigem sozialen Status sowie gesetzlich
Versicherte suchen signifikant häufiger einen Hausarzt und seltener einen Facharzt auf als
statushöhere Patienten bzw. privat versicherte Patienten. Jüngste Befunde der Studie zur
Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) wie auch des Kinder- und Jugendge-
sundheitssurveys (KiGGS) bestätigen das Muster, wobei dies nicht für alle niedergelassenen
Fachrichtungen gilt und auch zwischen verschiedenen Arten gesetzlicher Krankenversi-
23 Soziale Einflüsse auf die gesundheitliche Versorgung 345

cherung Unterschiede deutlich werden (Rattay et al. 2013, 2014, Hoffmann & Bachmann
2014). Bei der Anzahl der Arztkontakte insgesamt zeigen sich kaum Differenzen zwischen
den Gruppen. Stationäre Versorgung wurde vermehrt von Patienten mit niedrigerem
Sozialstatus und gesetzlich Versicherten in Anspruch genommen, ebenso ist die Kran-
kenhausverweildauer bei diesen Gruppen etwas länger. Insgesamt deutet die bisherige
Befundlage zur Inanspruchnahme stationärer Versorgung (einschl. Rehabilitation) eher
auf geringe soziale Ungleichheiten hin (Klein et al. 2014).
Im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung sind die nachgewiesenen Inan-
spruchnahmeungleichheiten am stärksten und konsistentesten. Die Studien dokumen-
tieren insgesamt signifikante Zusammenhänge zwischen erhöhter Inanspruchnahme
von Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, Vorsorgeuntersuchungen, Maßnahmen zur
Gesundheitsförderung sowie zahnmedizinischen Untersuchungen und höherem sozi-
oökonomischen Status bzw. privater Kassenzugehörigkeit (Klein et al. 2014). Aktuelle
Befunde aus DEGS1 bestätigen die nach Sozialstatus ungleichen Verteilungen für sämtliche
Krebsfrüherkennungsuntersuchungen (Starker & Saß 2013) sowie für verhaltenspräventive
Maßnahmen (Jordan & Lippe 2013). Bei Kindern und Jugendlichen sind insbesondere die
Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen (U3-U9) und deren Vollständigkeit
bei niedrigeren Statusgruppen bzw. bei gesetzlich Versicherten geringer (Klein et al. 2014,
Rattay et al. 2014). Dagegen wurden keine konsistenten Zusammenhänge zwischen sozia-
lem Status und Impfraten festgestellt (Klein et al. 2014, Poethko-Müller & Schmitz 2013).

2.4 Qualität

Die Befundlage zur ungleichen Verteilung von Strukturqualität in der gesundheitlichen


Versorgung ist mangelhaft und lässt bisher kaum Aussagen zu. Mehr Erkenntnisse gibt
es zu Indikatoren der Prozessqualität. Die Bewertung der Arzt-Patienten-Interaktion
fällt bei gesetzlich gegenüber privat Versicherten signifikant schlechter aus (Becklas et al.
2013, Neumann et al. 2011). Dazu gehört unter anderem die Dauer der Konsultation, das
Erfragen von Einzelheiten der Lebenssituation, das Ermuntern zu und das Eingehen auf
Fragen, die gemeinsame Entscheidungsfindung, Aufklärung hinsichtlich der Erkrankung,
Aufmerksamkeit und Empathie. Ähnliches zeigt sich bei Patienten mit einem niedrigen
sozialen Status: Bei ihnen ist die Dauer der Konsultation wie auch die Zahl der ungefragt
und freiwillig vom Arzt gegebenen Informationen geringer; auch stellen diese Patienten
von sich aus weniger Fragen und äußern seltener ihre Erwartungen (Siegrist 2005). Soziale
Ungleichheit in der Ergebnisqualität ist bislang selten systematisch untersucht worden.
Studien aus dem Bereich der Rehabilitation legen nahe, dass Patienten aus unteren sozi-
alen Schichten weniger von Nachsorgemaßnahmen profitieren, was sich an schlechteren
Werten bezogen auf Beschwerden, Lebensqualität und psychischem Befinden nach der
Behandlung zeigt (Deck 2012, Kobelt et al. 2010). Dagegen sind die Ergebnisse zu Statu-
sunterschieden bei Überlebensraten bzw. Letalität bei Krebspatienten inkonsistent (Geyer
2008, Jansen et al. 2014).
346 Jens Klein und Olaf von dem Knesebeck

3 Soziale Ressourcen, soziale Belastungen und gesundheitliche


Versorgung

3.1 Soziale Ressourcen

Zu den häufig untersuchten gesundheitsrelevanten sozialen Ressourcen zählen soziale Be-


ziehungen und das soziale Kapital. Zur Definition und Messung von sozialen Beziehungen
liegen unterschiedliche Ansätze vor (Berkman & Krishna 2014, Holt-Lunstad et al. 2010): (1)
das Ausmaß der Integration in soziale Netzwerke, (2) das Ausmaß an sozialen Kontakten
und Interaktionen mit unterstützendem Potential, (3) die individuellen Wahrnehmungen
und Überzeugungen hinsichtlich der Verfügbarkeit von sozialer Unterstützung. In die-
ser Konzeption spiegeln soziale Netzwerke und soziale Kontakte den strukturellen oder
quantitativen Aspekt sozialer Beziehungen wider, während soziale Unterstützung für den
funktionalen und qualitativen Aspekt steht. Soziale Unterstützung wird zudem unterteilt
in emotionale (Wertschätzung, Zuwendung) und instrumentelle Unterstützung (prakti-
sche oder finanzielle Hilfe). Soziale Beziehungen sind für die gesundheitliche Versorgung
relevant, weil sie Einfluss auf die Adhärenz, das Hilfesuchen und die Inanspruchnahme
von Versorgungsleistungen nehmen können. Auch im oben angesprochenen Verhaltens-
modell zur Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen (Andersen et al. 2014, Andersen
1995) sind soziale Beziehungen als individuelle prädisponierende Faktoren enthalten.
Die Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen kann als letzter Schritt in einem
Entscheidungsprozess gesehen werden, der das Hilfesuchen einer Person kennzeichnet
(Siegrist 2005). Dieser Prozess startet mit der Wahrnehmung und Bewertung eines oder
mehrerer Symptome, gefolgt von der Entscheidung, ob Selbstbehandlung helfen kann. Im
nächsten Schritt wird beim Partner, bei Verwandten, Freunden oder anderen Personen
des Laiensystems nach Rat gesucht (instrumentelle Unterstützung). Anschließend erfolgt
die Entscheidung, ob professionelle ärztliche oder nicht-ärztliche Versorgungsleistungen
in Anspruch genommen werden. Soziale Beziehungen spielen demzufolge bei solchen
Entscheidungsprozessen eine zentrale Rolle. Empirische Studien, die diesen Einfluss un-
tersuchen, gibt es allerdings bislang kaum.
Soziales Kapital bezeichnet Merkmale der sozialen Umwelt, die Individuen als Ressourcen
zur Zielerreichung zur Verfügung stehen und kollektive Handlungen begünstigen (Kawachi
& Berkman 2014, Knesebeck et al. 2015). Im Hinblick auf die Erfassung sozialen Kapitals wird
häufig die strukturelle bzw. verhaltensbezogene von der kognitiven Dimension unterschie-
den. Ein struktureller Indikator ist die Partizipation in zivilgesellschaftlichen Netzwerken,
die kognitive Dimension wird durch das Ausmaß des wahrgenommenen Vertrauens oder
der wahrgenommenen Hilfsbereitschaft erfasst. Zudem wird davon ausgegangen, dass das
soziale Kapital auf unterschiedlichen Ebenen verortet sein kann: Makroebene (soziale,
politische und ökonomische Merkmale von Gesellschaften), Mesoebene (Merkmale von
Nachbarschaften, Organisationen), individuelle Verhaltensweisen (soziale Partizipation,
freiwilliges Engagement) und individuelle Normen (wie gegenseitiges Vertrauen und
Reziprozität). Auf der Mesoebene kann das Ausmaß sozialen Kapitals in Organisationen
und Einrichtungen durch strukturelle und kognitive Indikatoren erfasst werden, die als
23 Soziale Einflüsse auf die gesundheitliche Versorgung 347

individuelle Ressourcen fungieren und eine Zielerreichung begünstigen. Dies gilt auch
für Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung (zum Beispiel für Krankenhäuser).
Einrichtungen mit ausgeprägtem sozialem Kapital sind solche, die über funktionierende
Netzwerke, vertrauensvolle Beziehungen und gemeinsame Normen und Werte verfügen.
Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass es einen Zusammenhang gibt zwi-
schen dem Ausmaß an sozialem Kapital in Versorgungseinrichtungen und der Qualität
der dort geleisteten gesundheitlichen Versorgung (Hammer et al. 2013).

3.2 Soziale Belastungen

Gesundheitsschädigende chronische psychosoziale Belastungen treten vor allem in der


Arbeitswelt auf (siehe Dragano in diesem Band). Solche gesundheitlichen Auswirkungen
sind in den letzten Jahren vor allem anhand von zwei Modellen zur theoretischen Fun-
dierung und Erfassung psychosozialer Arbeitsbelastungen untersucht worden. Gemäß
dem Anforderungs-Kontroll-Modell (Karasek & Theorell 1990) sind zwei Dimensionen
entscheidend: Anforderungen, die an die arbeitende Person gestellt werden, und Umfang
der Kontrollchancen, welche die arbeitende Person bei der Ausübung der Tätigkeit besitzt.
Tätigkeiten, die durch die Kombination ‚(quantitativ) hohe Anforderung‘ und ‚niedrige
Kontrollmöglichkeiten‘ gekennzeichnet sind, können chronischen Distress („Job Strain“)
hervorrufen. Ausgangspunkt des Modells beruflicher Gratifikationskrisen (Siegrist 1996)
bildet das vertraglich gestaltete, auf der Norm sozialer Reziprozität beruhende Arbeits-
verhältnis. Es wird postuliert, dass diese Norm unter bestimmten Bedingungen verletzt
wird, indem hohe geleistete Verausgabung bei der Arbeit nicht mit entsprechenden Gra-
tifikationen belohnt wird. Berufliche Gratifikationen umfassen Geld, Wertschätzung und
Anerkennung, Aufstieg und Arbeitsplatzsicherheit. Erweitert wird das Modell durch die
intrinsische Komponente der übersteigerten beruflichen Verausgabungsneigung. Hierbei
handelt es sich um ein motivationales Muster, welches eine unrealistische Einschätzung
von Anforderung und Belohnung kennzeichnet und die psychosozialen Arbeitsbelastungen
zusätzlich verstärken kann. Es ist bekannt, dass solche Arbeitsbelastungen in Gesundheits-
berufen (ärztliches und Pflegepersonal) stark ausgeprägt sind und nicht nur die Gesundheit
der Betroffenen, sondern auch die Qualität der geleisteten Arbeit beeinträchtigen können.
So deuten aktuelle Studien darauf hin, dass bei hoch belasteten Ärzten das Risiko für eine
suboptimale Behandlungsqualität zunimmt (Klein et al. 2011).

4 Schlussfolgerungen

Im vorliegenden Beitrag wurden soziale Einflüsse auf die gesundheitliche Versorgung


zunächst am Beispiel des Zusammenhanges zwischen sozialer Ungleichheit und Ver-
sorgung erörtert. Es zeigt sich, dass es in Deutschland Hinweise auf Ungleichheiten im
Zugang, in der Inanspruchnahme und in der Qualität der gesundheitlichen Versorgung
348 Jens Klein und Olaf von dem Knesebeck

gibt. Personen mit einem niedrigen sozialen Status oder gesetzlichen Versichertenstatus
sind in der gesundheitlichen Versorgung häufig benachteiligt. Allerdings sind einige der
Studienergebnisse aufgrund methodischer Einschränkungen nur schwer einzuordnen
und die Forschungslage ist insgesamt defizitär; dies gilt vor allem für Studien, die sich mit
Ungleichheiten in der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität von Versorgung auseinan-
dersetzen. Hier weiß man zurzeit noch relativ wenig. Strittig und unklar ist auch die Frage,
ob alle Ungleichheiten in der gesundheitlichen Versorgung als ungerecht zu bezeichnen
sind oder gesundheitspolitischen Handlungsbedarf implizieren.
In Bezug auf den Zugang wird diskutiert, ob sich ein Gleichheitsanspruch auf bestimmte
Leistungen beschränken sollte. Häufig wird dabei in Deutschland auf den unklaren Begriff
des „medizinisch Notwendigen“ verwiesen. Im Hinblick auf die Inanspruchnahme wurde
bereits darauf hingewiesen, dass es zu unterscheiden gilt zwischen einer Ungleichheit
als Ausdruck unterschiedlicher Präferenzen und einer Ungleichheit als Ausdruck un-
terschiedlicher Möglichkeiten. Erstere wird häufig als akzeptabel interpretiert, während
Letztere zumeist als ungerecht bezeichnet wird. Für eine Bewertung von Ungleichheiten
in der Versorgung ist darüber hinaus relevant, welche gesundheitlichen Konsequenzen
sich aus diesen ergeben. Diese Frage wird vor allem im Hinblick auf den Zugang und die
Inanspruchnahme kontrovers diskutiert und es gibt zu wenige Untersuchungen, die bei
der Beantwortung helfen können. Dies gilt auch für die damit zusammenhängende Frage
nach dem Erklärungsbeitrag von Versorgungsungleichheiten für den sozialen Gradienten
von Morbidität und Mortalität. Zwar tragen Versorgungsungleichheiten ohne Zweifel
zur Erklärung von gesundheitlichen Ungleichheiten bei, verallgemeinerbare Aussagen
zum Umfang des Erklärungsbeitrags sind allerdings kaum möglich. Das dritte Kapitel
hat schließlich deutlich gemacht, dass soziale Ressourcen (soziale Beziehungen, soziales
Kapital) und Belastungen (bei der Arbeit) die Inanspruchnahme und die Qualität der ge-
sundheitlichen Versorgung beeinflussen können. Es ist anzunehmen, dass solche sozialen
Ressourcen und Belastungen auch für die Erklärung von Versorgungsungleichheiten von
Bedeutung sind. Interventionen, die an diesen Faktoren ansetzen, können folglich zu einer
Reduzierung von Versorgungsungleichheiten und zu einer Optimierung der gesundheit-
lichen Versorgung beitragen.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Für eine differenzierte Analyse von Ungleichheiten in der Versorgung sollte zwi-
schen Aspekten der Zugänglichkeit, der Inanspruchnahme und der Qualität der
Versorgung unterschieden werden.
▶ Hinsichtlich der Qualität von Versorgung ist zudem zwischen Struktur-, Prozess-
und Ergebnisqualität zu unterscheiden.
23 Soziale Einflüsse auf die gesundheitliche Versorgung 349

▶ Personen mit einem niedrigen sozialen Status sind in der gesundheitlichen Versor-
gung oft benachteiligt. Dies ist häufiger für den Zugang und die Inanspruchnahme,
seltener für die Qualität dokumentiert.
▶ Versorgungsungleichheiten tragen zur Erklärung von gesundheitlichen Ungleich-
heiten bei, verallgemeinerbare Aussagen zum Umfang des Erklärungsbeitrags sind
aber kaum möglich.
▶ Soziale Ressourcen (soziale Beziehungen, soziales Kapital) und Belastungen(z. B. bei
der Arbeit) können die Inanspruchnahme und die Qualität der gesundheitlichen
Versorgung beeinflussen.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Wie sind Versorgungsungleichheiten zu bewerten?
▶ Unter welchen Bedingungen sind Versorgungsungleichheiten ungerecht?
▶ Wie lassen sich Versorgungsungleichheiten reduzieren?
▶ Wie können soziale Einflüsse auf die gesundheitliche Versorgung in der Praxis
berücksichtigt werden?

Leseempfehlungen

t Berkman, L.F., I. Kawachi & M. Glymour (Hrsg.), 2014: Social epidemiology (2. Aufl.).
New York: Oxford University Press.
Standardwerk sozialepidemiologischer Forschung mit Beiträgen international führender
Wissenschaftler auf dem Gebiet.

t Janssen C., E. Swart & T. von Lengerke (Hrsg.), 2014: Health care utilization in Germany:
theory, methodology, and results. New York: Springer.
Aktueller Sammelband mit theoretischen und empirischen Beiträgen zur Inanspruch-
nahme von Gesundheitsleistungen in Deutschland.

t Pfaff, H., E.A.M. Neugebauer, G. Glaeske & M. Schrappe, (Hrsg.), 2011: Lehrbuch
Versorgungsforschung: Systematik – Methodik – Anwendung. Stuttgart: Schattauer.
Führendes Lehrbuch, welches die Versorgungsforschung in ihrer gesamten Bandbreite
vorstellt.
350 Jens Klein und Olaf von dem Knesebeck

t Tiesmeyer, K., M. Brause, M. Lierse, M. Lukas-Nülle & T. Hehlmann (Hrsg.), 2008: Der
blinde Fleck. Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung. Bern: Verlag Hans Huber.
Sammelband mit verschiedenen Beiträgen zu Versorgungsungleichheiten in Deutschland,
in dem neben allgemeinen Themen zur Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung ver-
stärkt die Situation von Frauen und Kindern behandelt wird.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
Umfangreiches Informationsangebot des Kooperationsverbundes „Gesundheitliche
Chancengleichheit“ hinsichtlich soziallagenbezogener Gesundheitsförderung, Qua-
litätsentwicklung und Verbreitung guter Praxis. Es unterhält darüber hinaus eine
Datenbank, vernetzt Institutionen aus verschiedenen Bereichen und fördert den
Austausch von Wissenschaft und Praxis.

Web http://www.armut-und-gesundheit.de
Webseite des jährlichen Kongresses „Armut und Gesundheit“, welche in vielfältiger Weise
Themen zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit behandelt. Die größte regelmäßig
stattfindende Public Health-Veranstaltung in Deutschland sieht sich auch als Plattform
für den Austausch zu den gesundheitlichen Belangen von Menschen in schwierigen
Lebenslagen und den Möglichkeiten, deren gesundheitsbezogene Ressourcen zu stärken.

Web http://www.netzwerk-versorgungsforschung.de
Der Verein „Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.“ ist ein interdisziplinäres
Netzwerk, das allen Institutionen und Arbeitsgruppen offen steht, die mit der Sicherung
der Gesundheits- und Krankenversorgung unter wissenschaftlichen, praktischen oder
gesundheitspolitischen Gesichtspunkten befasst sind. Es verfolgt das Ziel, die an der
Versorgungsforschung im Gesundheitswesen beteiligten Wissenschaftler zu vernetzen,
Wissenschaft und Versorgungspraxis zusammenzuführen sowie die Versorgungsfor-
schung insgesamt zu fördern.

Literatur

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Transformationsprozesse im Krankenhauswesen
Maximiliane Wilkesmann
24
24 Transformationsprozesse im Krankenhauswesen

Überblick
▶ Wie ist das Krankenhaus organisiert?
▶ Welche Transformationsprozesse sind im Krankenhauswesen zu beobachten?
▶ Welche intendierten und nicht-intendierten Effekte gehen mit den Veränderungen
im Krankenhauswesen einher?

1 Einleitung

Das Gesundheitswesen umfasst alle Akteure, welche die Gesundheit der Bevölkerung för-
dern, erhalten und wiederherstellen sollen. Zentrale Akteure des Gesundheitswesens sind
neben dem Staat und korporatistischen Akteuren (z. B. Krankenkassen, Ärztekammern)
vor allem die Leistungserbringer, zu deren Kern insbesondere Krankenhäuser zählen.
Allerdings führen gesellschaft liche und gesundheitspolitische Transformationsprozesse
seit geraumer Zeit zu Veränderungen im deutschen Gesundheitswesen, die nicht zuletzt
auch die Akteure im Krankenhaus vor neue Herausforderungen stellen. Einerseits soll die
medizinische Versorgung durch die Krankenhäuser auf der Grundlage neuester wissen-
schaft licher und vor allem evidenzbasierter Erkenntnisse effektiv gewährleistet werden,
andererseits spielt das Kriterium der Effizienz bei der Erbringung medizinischer Leistungen
eine immer größere Rolle.
Während bis in die 1970er eine Ausweitung der Gesundheitsversorgung in Deutsch-
land politisch gewollt war, sind seit Ende der 1970er Jahre in immer kürzeren Abständen
gesundheitspolitische Gesetze verabschiedet worden, um die Kosten im Gesundheitswesen
zu reduzieren. Aus diesem Grund ist seit den 1990er Jahren mit den gesundheitspolitischen
Transformationsprozessen im Gesundheitswesen eine zunehmende Ökonomisierung
(Simon 2001, 2014) der Organisation Krankenhaus eingeleitet worden, um mit betriebs-
wirtschaft lichen Kalkülen eine vermeintlich höhere Effizienz zu induzieren. Als Folge ist
ein Vordringen ökonomischer Rationalität in den Krankenhäusern zu beobachten, die

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_24, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
354 Maximiliane Wilkesmann

ursprünglich nicht primär von ökonomischen Denk- und Handlungsmustern durchdrun-


gen waren. Im Wesentlichen ist damit eine Verbetriebswirtschaftlichung (Bär 2011, Greef
2012) und Industrialisierung (Iseringhausen & Staender 2012, Vera 2009) der stationären
Krankenversorgung gemeint. Im Zuge dieser Veränderungen halten utilitaristische Lo-
giken, beispielsweise die Prinzipien der Effizienzsteigerung, der Verlustvermeidung und
Gewinnorientierung, Einzug in den medizinischen Bereich. Durch diese neue Marktkultur
(Bode & Märker 2012) sehen sich insbesondere Ärzte mit Ansprüchen konfrontiert, die
nicht ihren professionsethischen Normen entsprechen.
Neben diesen ökonomisch getriebenen Veränderungen müssen Krankenhäuser und
ihre Akteure gleichzeitig auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse reagieren, etwa auf
den demografischen Wandel, auf die Zunahme von chronischen Erkrankungen (Manzei
et al. 2014, siehe auch Schaeffer & Haslbeck in diesem Band) oder auf die Singularisierung
familiärer Strukturen (Rosenbrock & Gerlinger 2006). Zusammenfassend führen all
diese Entwicklungen zu veränderten Versorgungsanforderungen, die über das gesetzlich
verankerte Versorgungsziel hinaus an die Akteure im Krankenhaus gerichtet werden. In
diesem Beitrag werden zunächst die grundlegende Organisation des Krankenhauses und
deren zentrale Akteure dargestellt. Darauf aufbauend werden Auswirkungen der Trans-
formationsprozesse des Krankenhauses analysiert und intendierte und nicht-intendierte
Effekte diskutiert.

2 Organisation des Krankenhauses

Wenngleich die soziologische Forschung zum Krankenhaus in den letzten Jahren eine
Renaissance erlebt, ist diese durch eine frühe Vielfalt an Forschungsansätzen gekenn-
zeichnet. Nennenswerte Klassiker sind dabei etwa die struktur- und funktionsanalytische
Studie durch Rohde (1962), interaktionistische Studien von Strauss et al. (z. B. Becker et
al. 1961, Strauss et al. 1963), Goffmans Kritik und Analyse totaler Institutionen (1973),
die philosophisch-historische Sicht in „Die Geburt der Klinik“ von Foucault (1973), die
professionssoziologische Grundlagenforschung von Freidson (1970), organisationstheo-
retische Analysen von Mintzberg (Mintzberg 1979), arbeitssoziologische Untersuchungen
von Siegrist, Badura und Feuerstein (Badura & Feuerstein 1994, Siegrist 1978) oder aber
neoinstitutionalistische Ansätze im Umfeld von Scott et al. (2000). Nachfolgend werden
insbesondere Organisations- und professionssoziologische Ansätze in den Blick genommen
(siehe auch Kälble & Borgetto in diesem Band), um anschließend Wandlungsprozesse im
Gesundheitssystem und deren Auswirkungen auf Krankenhäuser analysieren zu können.
24 Transformationsprozesse im Krankenhauswesen 355

2.1 Die Organisation und ihre Akteure

Überall auf der Welt sind in Krankenhäusern neben den Patienten drei Akteursgruppen
zu finden: Ärzte, Pflegekräfte und Verwaltungsangehörige. Bei genauerer Betrachtung
wird schnell klar, dass es so manche Konflikte zwischen verschiedenen Akteuren und
spezialisierten Abteilungen gibt, die zwar aufeinander angewiesen sind, aber durchaus
ihre eigenen Interessen und Zielkomplexe (zum Beispiel medizinische und pflegerische
Versorgung, Ausbildung und Weiterbildung, Forschung, Administration) verfolgen (Elling
1970, Rohde 1962). Genau dies macht die Organisation Krankenhaus zu einem interessanten
Forschungsobjekt für die Soziologie.
Wirft man einen Blick in die Geschichte der Entstehung der Krankenhäuser, so stellen
aus heutiger Sicht Armenhäuser, die Hilfsbedürftige aus christlicher Barmherzigkeit ver-
sorgten und von der Kirche betrieben wurden, die Vorläufer der Krankenhäuser in Europa
dar (Rohde 1962). Wohlhabende Bürger ließen sich nicht im Krankenhaus, sondern zu
Hause von Ärzten behandeln. Die Monopolstellung und die Dominanz des Arztes als
Allein-Experte für gesundheitliche Belange im Krankenhaus sind historisch gewachsen.
Die Professionalisierung der deutschen Ärzte und deren Einzug in die Organisation
Krankenhaus entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Um diese Zeit gelang es den
Ärzten, nicht nur Elemente der Selbstverwaltung und der Berufsautonomie durchzusetzen,
sondern sie erreichten auch, dass ihre ökonomische Situation durch die Schaffung eines
weitgehenden Monopols für medizinische Dienstleistungen verbessert wurde. Einher ging
dieser Prozess mit einer umfassenden gesellschaftlichen Anerkennung der Ärzteschaft
durch Staat und Gesellschaft.
Die Tätigkeit von Ärzten in Krankenhäusern im Rahmen eines Angestelltenverhältnisses
stellt ein relativ junges Phänomen dar, weil der selbstständig tätige Arzt im Krankenhaus
das vorherrschende Modell war, um Patienten zu behandeln. Einkünfte bezogen Ärzte
ausschließlich durch die Behandlung von wohlhabenden Patienten. Aus heutiger Sicht ist
diese Art der Beschäftigungsverhältnisse von Ärzten in Krankenhäusern am ehesten mit
dem Belegarztsystem oder dem recht jungen Phänomen des Honorararztwesens vergleichbar
(Keller & Wilkesmann 2014). Zur Bindung der Ärzte an die Organisation Krankenhaus
wurde neben einem Festgehalt das sogenannte „Privatliquidationrecht“ eingeführt, wel-
ches den Chefärzten direkt und den nachgeordneten Ärzten im Krankenhaus indirekt ein
vergleichbares oder höheres Einkommen im Vergleich zu den niedergelassenen Fachärzten
gewährleisten sollte (Wilkesmann 2015).

2.2 Besonderheiten der Krankenhausorganisation

Die organisationale Besonderheit des Krankenhauses liegt in der Verteilung der Autori-
tätshierarchie. Hierarchien ermöglichen eine intuitive Erfassbarkeit von Entscheidungs-
trägern in Organisationen. Während andere Organisationen meist über eine einzige
Autoritätshierarchie verfügen, verfügt das Krankenhaus über eine Trias. So unterscheidet
356 Maximiliane Wilkesmann

bereits Rohde (1962) in seiner Analyse drei Funktionskreise (Medizin, Pflege, Verwaltung)
mit entsprechenden formell vertikalen und informell horizontalen Autoritätsstrukturen.
Während in Rohdes Ausführungen, die medizinische und pflegerische Säule auf der
höchsten Hierarchiestufe und die Verwaltung eine Hierarchieebene darunter angesiedelt
war (Rohde 1962), gliedert sich seit den 1970er Jahren in Deutschland die Krankenhausbe-
triebsleitung in die Bereiche Ärztliche Direktion, Verwaltungsdirektion und Pflegedirektion
zumindest formell auf derselben Hierarchieebene (siehe Abb. 1). Der Ärztliche Direktor
ist gleichzeitig Chefarzt einer Klinik und daher pares inter pares und kein Vorgesetzter
der anderen Chefärzte. Die Krankenhausbetriebsleitung wiederum untersteht je nach Trä-
gerschaft nur einem Aufsichtsrat oder zusätzlich einer privatwirtschaftlichen, kirchlichen
oder kommunalen Einflussgröße. Hinsichtlich der Trägerschaft sind seit den 1990er Jahren
deutliche Änderungen zu verzeichnen, auf die weiter unten eingegangen wird.
Obwohl Ärzte als Berufsgruppe historisch gesehen erst relativ spät Einzug in die
Krankenhäuser gehalten haben, wird zur Charakterisierung von Krankenhäusern auf
diese besondere Akteursgruppe verwiesen. Zum einen wird im professionstheoretischen
Diskurs (Freidson 1970, 2001) und zum anderen im organisationswissenschaftlichen Dis-
kurs (Mintzberg 1979) auf die Dominanz der medizinischen Profession rekurriert. Ärzte
gelten gemeinhin als Vertreter klassischer Professionen (Schmeiser 2006). Die Pflegekräfte
können bisher noch nicht als Angehörige einer Profession verstanden werden. Zwar nimmt
der Anteil der akademisch ausgebildeten Pflegekräfte zu, doch kann das – zumindest in
Deutschland – nicht als ein hinreichendes Merkmal für Professionalisierung angesehen
werden (Behrens 2005). Vielmehr bilden die Pflegekräfte nach wie vor so etwas wie einen
Hilfsstab für die Profession der Ärzte.
Akademisierung ist professionssoziologisch daher immer nur als ein Teilprozess un-
ter vielen anderen zu betrachten. Alle professionssoziologischen Ansätze betonen, dass
Angehörige einer Profession auf der Basis eines spezialisierten Expertenwissens, das im
Rahmen einer akademischen Ausbildung erworbenen wird, in sozialer Hinsicht besondere
Privilegien genießen, welche sich in einer wichtigen Bedeutung für die Gesellschaft, einem
hohen Prestige sowie einer überdurchschnittlich materiellen Gratifikationen ausdrücken.
Darüber hinaus spielt der Aspekt der Macht durch die monopolistische Kontrolle der
eigenen Arbeit (Freidson 2001) sowie die damit verbundene Handlungsautonomie eine
zentrale Rolle bei der Charakterisierung von Professionen (Abbott 1988). Aufgrund dieser
Selbstregulation und Selbstorganisation konzeptualisiert Freidson (2001) Professionen neben
klassischen marktbasierten und bürokratischen Formen der Organisation als eine dritte
Organisationslogik. Professionalität als dritte Steuerungslogik bezieht sich dabei auf die
institutionellen Voraussetzungen, unter denen die Angehörigen einer Profession anstelle
von Konsumenten (Markt) oder Managern (Bürokratie) die Arbeit steuern (Freidson 2001).
24 Transformationsprozesse im Krankenhauswesen 357


  



  

   


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"""

     

# #
   
 

Abb. 1 Formell vertikale Autoritätshierarchien im Krankenhaus


Quelle: eigene Darstellung

Organisationstheoretisch betrachtet stellen Krankenhäuser daher einen besonderen


Organisationstyp dar, den Mintzberg als Konfiguration der „professional bureaucracy“
(Mintzberg 1979) deutet. In allen Organisationskonfigurationen unterscheidet Mintzberg
fünf Grundelemente (Abb. 2): Die strategische Spitze (strategic apex) in Form der Kran-
kenhausleitung ist dafür verantwortlich, dass die Organisation ihre Zwecke und Ziele
erfüllt sowie Beziehungen zur Organisationsumwelt aufrechterhält. Als hierarchisches
Element verbindet das mittlere Linienmanagement (middle line) durch entsprechende
formale Machtbefugnisse, die etwa Chefärzte besitzen, die strategische Spitze mit dem
operativen Kern. Im betriebliche Kern (operating core) sind alle Organisationsmitglieder
verortet, die die zentralen Leistungen der Organisation erstellen. Im Fall des Kranken-
hauses wird der operative Kern von Ärzten gebildet. Unterstützt wird der operative Kern
durch den Hilfsstab (support staff ), d. h. durch die Pflegekräfte. Die Aufgabe, die Abläufe
in der Organisation zu standardisieren, zu kontrollieren und zu optimieren obliegt der
sogenannten Technostruktur (technostructure).
358 Maximiliane Wilkesmann

Strategische
Spitze

Technostruktur Hilfsstab

Operativer Kern

Abb. 2 Das Krankenhaus als Professionsbürokratie


Quelle: in Anlehnung an Mintzberg (1979: 335)

Zentral an der Organisationskonfiguration des Krankenhauses ist, dass der operative Kern
von Experten (Ärzten) gebildet wird, die sich durch spezielle, dennoch standardisierte
Qualifi kationen auszeichnen. Die Kontrolle über die Arbeit der Ärzte erfolgt anhand von
professionsspezifischen und nicht organisationsspezifischen Maßstäben. Damit verbunden
ist die mangelnde Überprüfung der Qualität und Effizienz der medizinischen Leistungs-
erbringung, die sich einer Beurteilung durch das nicht-medizinische Personal oder die
Patienten weitestgehend entzieht (Schneller & Epstein 2006). Dies hat zur Folge, dass das
spezifische Expertenwissen von Medizinern gegenüber kaufmännischen Mitarbeitern
und Pflegekräften dazu eingesetzt werden kann, berufsständische oder abteilungsinterne
Interessen durchzusetzen. Damit ist auch eine zentrale und klassische Herausforderung
des Krankenhauses benannt: Das Spannungsfeld zwischen Profession und Organisation,
genauer zwischen der bürokratischen Autorität und der medizinischen Autonomie.
Der Hilfsstab in Form der Pflege ist in dieser Konfiguration ebenfalls stärker ausgeprägt
als in anderen Organisationen und richtet das Handeln hauptsächlich auf die Bedürfnisse
des operativen Kerns aus. Neben dem vornehmlich aus dem Expertenwissen der Ärzte
heraus resultierenden Ungleichgewicht besteht zusätzlich eine formal-rechtliche Macht-
überlegenheit der Ärzteschaft den Pflegekräften gegenüber. Die strategische Spitze hat im
Modell von Mintzberg (1979) vornehmlich die Aufgabe, externe Anforderungen aus der
Umwelt zu neutralisieren. Diese Funktion hat sich durch ordnungspolitische Maßnahmen
und strukturelle Veränderungen grundlegend gewandelt.

3 Die Organisation des Krankenhauswesens

Im OECD Ländervergleich (Kumar & Schoenstein 2013) gilt der Krankenhaussektor in


Deutschland als Überversorger, zum Beispiel im Hinblick auf die Anzahl der Betten und
operativen Eingriffen. Daher sind seit den 1990er Jahren verschiedene Reformen und ord-
nungspolitische Maßnahmen unter dem Stichwort „New Public Management“ veranlasst
worden, um öffentliche Dienstleistungen effizienter und nutzenorientierter zu steuern.
Wesentliche Ziele der ordnungspolitischen Maßnahmen lagen dabei in (1) der Reduzierung
24 Transformationsprozesse im Krankenhauswesen 359

der Behandlungskosten und der durchschnittlichen Verweildauer je Patient, (2) einer stei-
genden Kostentransparenz und (3) der Förderung des Wettbewerbs im Krankenhausmarkt
(Ernst & Szczesny 2005).
Für Krankenhäuser aller Trägerschaften lag der größte Einschnitt der Reformen in der
Deckelung der Budgets seit 1993 und in der Einführung von Fallpauschalen, den sogenann-
ten Diagnosis Related Groups (DRG). Ursprünglich wurden DRGs Ende der 1970er Jahre
als Instrument der Qualitätssicherung in den USA entwickelt, um Behandlungsergebnisse
vergleichbar zu machen. In Deutschland wurden diese zur Grundlage von Vergütungs-
systemen weiterentwickelt, um Behandlungskosten miteinander vergleichen zu können.
Seit 2004 sind alle Krankenhäuser mit dem Schwerpunkt auf der Behandlung somatischer
Krankheiten dazu verpflichtet, ihr Abrechnungssystem auf DRGs umzustellen, so dass nicht
mehr die tatsächlichen Liegezeiten abrechnungsrelevant sind, sondern einzig und allein
die dafür vorgesehenen Fallpauschalen. Seither sind Krankenhäuser darum bemüht, frei
werdende Betten möglichst schnell mit neuen Patienten (als neue abrechenbare Fälle) zu
belegen und die Verweildauer zu reduzieren. Lag die durchschnittliche Verweildauer im
Jahr 1991 noch bei 14,0 Tagen, so ist diese laut Angaben des Statistischen Bundesamtes auf
7,5 Tage im Jahr 2013 gesunken. Die Verweildauer selbst muss innerhalb der vorgeschrie-
benen unteren oder oberen Grenzverweildauer liegen, andernfalls werden Abschläge der
Pauschale (Unterschreitung) berechnet oder tagesbezogene Entgelte (Überschreitung) gezahlt
(Imdahl 2010). Darüber hinaus ist zwischen den Krankenhäusern ein Kampf um möglichst
lukrative Fälle entbrannt (Bode 2010). Da Krankenhäuser Gewinne oder Verluste erwirt-
schaften (Ernst & Szczesny 2005, Lüngen & Lauterbach 2002) können, hat der verstärkte
Wettbewerb zu dem politisch gewollten Effekt geführt, dass sich die absolute Anzahl von
Krankenhäusern von 2197 im Jahr 2003 auf 1996 Krankenhäusern im Jahr 2013 reduziert
hat. Die Auswirkungen auf den Krankenhausmarkt manifestieren sich zudem in einer
klaren Verschiebung der Trägerschaft von frei-gemeinnützigen und öffentlichen Trägern
in Richtung privater Träger (Abb. 3).
Veränderungen haben nicht nur hinsichtlich der nach außen sichtbaren Trägerschaft
stattgefunden. Vielmehr hat eine interne Angleichung öffentlicher und freigemeinnütziger
Krankenhäuser stattgefunden, die dem erwerbswirtschaftlichen Modell (z. B. in Form von
GmbHs) entspricht. Krankenhäuser können überleben, wenn sie neben einem ausgegliche-
nen Jahresergebnis auch Gewinne erzielen, mit denen notwendige Investitionen finanziert
werden können (Simon 2014). Die duale Finanzierung der Krankenhäuser sieht eigentlich
vor, Investitionskosten durch die Bundesländer und die laufenden Betriebskosten durch
die Krankenkassenvergütung in Form von DRG abzudecken. Krankenhäuser müssen
zunehmend eigenständig Investitionen mit Betriebsmitteln tätigen (Bode 2010), so dass
auch Häuser in öffentlicher oder freigemeinnütziger Trägerschaft dem Konkurrenzdruck
nachgeben und eigenständig und „systemfremd“ investieren, um auf dem Markt mit
Krankenhäusern in privater Trägerschaft bestehen zu können. Dies führt zu einem Pa-
radigmenwechsel den Kühn (2004) wie folgt umschreibt: „Geld bleibt nicht mehr Mittel
zur Sicherstellung der Versorgung, sondern die Versorgung von Kranken wird tendenziell
zum Mittel, durch das Gewinn erzielt werden soll“ (Kühn 2004: 26).
360 Maximiliane Wilkesmann

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Abb. 3 Entwicklung der Trägerschaft deutscher Krankenhäuser und deren Gesamtzahl1


Quelle: eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Kostennachweis der Krankenhäuser
2004-2014

Weitere strukturelle Veränderungen sind im Bereich des Personals zu verzeichnen. Während


im Bereich der Pflege Stellen abgebaut wurden, stieg die Anzahl der angestellten Ärzte
im gleichen Zeitraum (siehe Abb. 4). Ursächlich für diese Entwicklung ist zum einen die
Abschaffung der Pflege-Personalverordnung, wodurch sich die Anzahl der nichtärztli-
chen Vollkräfte seit 1996 um mehr als 70.000 Vollzeitstellen verringert hat. Zum anderen
mussten neue Stellen im Bereich der Ärzte geschaffen und querfinanziert werden, weil die
AiP-Stellen (Arzt im Praktikum) in reguläre Arztstellen umgewandelt wurden und die
Bereitschaftsdienste im Zuge der Umsetzung des Urteil des Europäischen Gerichtshofes
auf die reguläre Arbeitszeit angerechnet werden müssen. Darüber hinaus arbeiten im-
mer mehr Ärzte in Teilzeit: Betrug der Anteil an Teilzeit oder geringfügig beschäftigten
hauptamtlichen Ärzte im Jahr 1991 gerade einmal 7 %, so stieg der Anteil laut Angaben
des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2013 auf 20,2 %.
Die Krankenhausstatistik zeigt, dass der Stellenabbau vor allem untere Einkommens-
und Statusgruppen trifft und durch die interne Umverteilung der Ressourcen zugunsten
der Ärzteschaft und damit sozial ungleich erfolgt ist (Simon 2014). Tatsächlich sind zwar
mehr Ärzte im Krankenhaus tätig, de facto leisten sie aber die Arbeit, die vorher durch eine

1 Die linke (primäre) Y-Achse und die dazugehörigen Verlaufslinien beziehen sich auf die absolute
Anzahl der Krankenhäuser je nach Trägerschaft. Die rechte (sekundäre) Y-Achse umfasst die
absolute Gesamtzahl der Krankenhäuser. Der Verlauf der Gesamtentwicklung entspricht der
grauen Fläche.
24 Transformationsprozesse im Krankenhauswesen 361

geringere Anzahl an ärztlichem Personal erbracht wurde. Durch den erhöhten Bedarf an
Ärzten zur Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen nimmt (nach einem Überangebot
an Ärzten in den 1990er Jahren) seit 2008 die Zahl der arbeitslosen Ärzte stetig ab und
ist seit 2009 geringer als die Zahl der offenen Stellen (Brenke 2010). Durch die gesetzlich
angeordnete Aufstockung des ärztlichen Personals leiden vor allem Krankenhäuser in
strukturschwachen Gebieten an einem Fachkräftemangel, dem sie mit der Beschäftigung
von besser vergüteten Honorarärzten begegnen, die (auch aus Unzufriedenheit mit den
vorhandenen Arbeitsstrukturen und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus) ihre Arbeits-
kraft zeitbefristet vermarkten (ausführlich dazu Keller & Wilkesmann 2014).

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Abb. 4 Prozentuale Entwicklung der Vollkräfte im Krankenhaus seit 1996


Quelle: eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Kostennachweis der Krankenhäuser
1997-2014

4 Transformationsprozesse in der Krankenhausorganisation

Auf der einen Seite wird der deutsche Krankenhaussektor zwar sehr stark sozialpolitisch
gesteuert, auf der anderen Seite genießen die Krankenhäuser ökonomische Bewegungs-
spielräume, so dass sich das Krankenhauswesen als eine „Mixed Economy“ (Bode &
Märker 2012) darstellt. Das dadurch evozierte Spannungsfeld von medizinischer und
wirtschaftlicher Leistung hat zu einer Reorganisation krankenhausinterner Prozesse und
Strukturen geführt. Während in der Vergangenheit die Rekrutierung des Geschäftsführers
aus der eigenen Verwaltung erfolgte, werden heutzutage externe Kandidaten mit Business
362 Maximiliane Wilkesmann

Know-how (insbesondere Betriebswirte, Juristen und Sozialwissenschaftler) für diese


Aufgabe rekrutiert (Bär 2011).
Auf der organisationalen Ebene zeigt sich, dass sich die medizinische Heilanstalt durch
die Verbetriebswirtschaftlichung zu einer Krankenhausfabrik wandelt, in der medizini-
sche Leistungen industrialisiert werden und diese zu Produkten und Waren werden (Vera
2009). Dies umfasst auch den Import von privatwirtschaftlichen Managementtechniken
(Bode 2010), welche die betriebswirtschaftliche Kontrolle aufwertet und ausweitet (Ise-
ringhausen & Staender 2012). Neben der Auslagerung von Tätigkeiten (Reinigungsdienste,
Labor) wurden krankenhausinterne Prozesse standardisiert (zum Beispiel Optimierung
des Patientendurchlaufs) und neue Stellen geschaffen (Qualitätsmanagement, Cont-
rolling, Case-Management). Die Verweildauer der Patienten wird beispielsweise in vielen
Krankenhäusern durch eine neu entstandene Berufsgruppe, den Case-Managern, mit
Hilfe von Software-Systemen überwacht. Mit Hilfe von Smileys oder Ampelfarben wird
Ärzten signalisiert, ob sich ein Patient noch innerhalb, fast oder gänzlich außerhalb der
Grenzverweildauer befindet. Auf diese Weise kann für jeden Patienten eine individuelle
Kosten- und Erlöskurve abgerufen werden, die nicht zwingend mit dem Genesungszustand
übereinstimmen muss.

5 Intendierte und nicht-intendierte Effekte der Reformen

Insbesondere der Kostendruck, der auf den Krankenhäusern lastet, führt zu einer Arbeits-
verdichtung im Bereich der Medizin und der Pflege (Braun et al. 2010, Wilkesmann 2009).
Es zeigt sich, dass das professionelle ärztliche Handeln zunehmend von einem ökonomi-
schem Kalkül beeinflusst wird (Borgetto & Kälble 2007, Simon 2008, Vogd 2006) und die
Selektion von Patienten nach DRG-Profit-Kriterien erfolgt (Lüngen & Lauterbach 2002).
Das veränderte Verhalten der Ärzte ist als Deprofessionalisierung (Noordegraaf 2006,
Rychner 2006) zu deuten, da es zu einer Verlagerung der ärztlichen Expertise in Richtung
ökonomischer Denkmuster kommt.
Zwar zeigt etwa die Studie von Vogd (2006), die den Beginn der Einführung von DRGs
dokumentiert, dass die Ärzte ihre handlungsleitenden Orientierungen im Wesentlichen
beibehalten, jedoch wird an den weichen, psychosozialen Bereichen der Medizin gespart.
Ebenso konnten Braun et al. (2010) Normverunsicherungen in Form einer zunehmenden
Integration gewinnwirtschaftlicher Erwägungen in das berufliche Selbstverständnis im
Bereich der Ärzte und der Pflege sowie Anreize zur Unterversorgung von Patienten fest-
stellen. Darüber hinaus haben sich seit der Einführung der DRGs die ethischen Dilemmata
im Hinblick auf die professionellen Ansprüche von Ärzten und Pflegekräften und ihrem
Berufsalltag verstärkt (Schmitz & Berchtold 2009). Bode (2010) identifiziert als Folge
dieser neuen Steuerung drei Orientierungsdilemmata: Die beteiligten Akteure stehen
im Entscheidungszwang zwischen (1) der Orientierung an der Bedarfswirtschaftlichkeit
versus Ertragsorientierung, (2) der universalistischen Patientenorientierung versus strate-
24 Transformationsprozesse im Krankenhauswesen 363

gischen Kundenorientierung und (3) der Verpflichtung zur Versorgungssicherheit versus


Marktopportunismus.
Im Prinzip befanden sich Chefärzte mit Privatliquidationsrecht schon immer in einer
Dilemmasituation, weil es sich dabei streng genommen um eine Nebentätigkeit handelt
und der Hauptauftrag der Ärzte in der allgemeinen Krankenversorgung und nicht in der
Versorgung von Privatpatienten liegt. Das bereits angesprochene Privatliquidationsrecht
ermöglichte den Chefärzten als Unternehmer im Unternehmen (Bär 2011), exorbitante
Erlöse zu erwirtschaften, die sie mehr oder weniger frei mit den nachgeordneten Ärzten
aber nicht unbedingt mit dem Krankenhaus teilen mussten. Durch die Novellierung der
Chefarztverträge wurde das Privatliquidationsrecht stark eingeschränkt und durch Ziel-
vereinbarungen mit Bonus-Regelungen ersetzt. Mittlerweile werden nicht nur Chefarzt-
verträge mit Zielvereinbarungen geschlossen, was zur Folge hat, dass die Geschäftsführer
direkten Einfluss auf das Handeln der Ober-, Fach- und Assistenzärzte nehmen können
(Wilkesmann 2015). Spätestens seit dem Göttinger Transplantationsskandal im Jahr 2012
sind Zielvereinbarungen in die öffentliche Wahrnehmung gerückt, weil der angeklagte Arzt
für jede transplantierte Leber einen Bonus erhielt und deshalb Patientendaten manipulierte
(Flintrop 2013). Als unmittelbare Folge ist die Zahl der Organspender stark zurückge-
gangen und stabilisiert sich derzeit auf einem niedrigen Niveau. Dies ist ein Beispiel eines
nicht-intendierten Effektes, der durch die Verbetriebswirtschaftlichung der Krankenhäuser
entstanden ist. Aktuell reagieren verschiedene intermediäre Akteure (z. B. Bundesärzte-
kammer, Verband leitender Krankenhausärzte, Gemeinsamer Bundesausschuss), um die
negativen Ausmaße der mengenorientierten Zielvereinbarungen für bestimmte Eingriffe
oder Leistungskomplexe einzudämmen.

6 Schlussfolgerungen

Krankenhäuser zählen zu den komplexesten Organisationen unserer Gesellschaft (Glou-


berman & Mintzberg 2001). Begründet ist dies durch die Vielfalt der Zielvorstellungen,
die ihre Organisation vereinen muss. War die Einbindung von Ärzten in die Organisation
Krankenhaus zunächst alles andere als selbstverständlich, so stellen diese mittlerweile
und immer noch ein zentrales und dominantes Merkmal der Organisation Krankenhaus
dar. In den letzten Jahren unterliegen Krankenhäuser als professionelle Organisationen
(Mintzberg 1979) aufgrund der aufgezeigten Entwicklungen einem tiefgreifenden Wandel.
Während bis in die 1970er Jahre kaum Versuche unternommen wurden, Krankenhaus-
dienstleistungen effektiv und effizient zu steuern, sehen sich seit spätestens der 1990er
Jahre Krankenhäuser mit genau diesen Aspekten konfrontiert (Iseringhausen & Staender
2012). Immer wieder werden ordnungspolitische Versuche unternommen, die steigenden
Gesundheitsausgaben mit entsprechenden Sparmaßnahmen einzudämmen. Aus diesem
Grunde ist ein Paradigmenwechsel eingeleitet worden: Heute geht es nicht mehr um die
Bereitstellung von Geldern zur Versorgung Kranker, sondern um die Erwirtschaftung von
364 Maximiliane Wilkesmann

Geldern durch Dienstleistungen an Kranken, um als Unternehmen bestehen zu können


(Bode 2010).
Im Zuge des New Public Management wurden Prozesse standardisiert und neue Berei-
che (z. B. Qualitätsmanagement, Medizin-Controlling, Case-Management) geschaffen, die
insgesamt zu einer Ausweitung der Technostruktur führen. Diese Stärkung geht einher mit
dem Verlust der ärztlichen Autonomie, weil einst exklusives Wissen nun in standardisierter
Form auch nicht-professionellen Akteuren zugänglich ist. Der Abschluss von Zielver-
einbarungen mit der Krankenhausgeschäftsführung (auch mit nachgeordneten Ärzten)
führt insgesamt zu einer Schwächung der ärztlichen Profession im Organisationsgefüge
und nicht-intendierten Effekten, die auch negative Auswirkungen auf das Patientenwohl
beinhalten. Die Mintzbergsche Organisationskonfiguration des Krankenhauses (Abb. 2)
müsste aufgrund der aufgezeigten Entwicklungen heute anders dargestellt werden. Die
Technostruktur und die strategische Spitze müssten größer, der Hilfsstab und der operative
Kern hingegen kleiner gezeichnet werden.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Das Krankenhaus besteht aus drei Funktionskreisen (Medizin, Pflege, Verwaltung) mit
entsprechenden formell vertikalen und informell horizontalen Autoritätsstrukturen.
▶ Den Kern der Organisation bilden die Ärzte, deren Kontrolle primär anhand von
professionsspezifischen und nicht organisationsspezifischen Maßstäben erfolgt.
▶ Strukturelle Veränderungen im Krankenhauswesen durch Einführung von Instrumen-
ten des New Public Managements haben zu einer Reduzierung der Behandlungskosten
und der durchschnittlichen Verweildauer je Patient, zu einer Arbeitsverdichtung und
zu einer Förderung des Wettbewerbs im Krankenhausmarkt geführt.
▶ Die absolute Anzahl der Krankenhäuser in Deutschland hat sich seitdem reduziert
und die Trägerschaft hat sich von frei-gemeinnützigen und öffentlichen Trägern in
Richtung privater Träger verschoben.
▶ Die starke betriebswirtschaftliche Orientierung bringt eine Aufwertung des Ma-
nagements und eine Schwächung der Ärzteschaft innerhalb der Organisation
Krankenhaus mit sich.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ In welchem Maß beeinflussen strukturelle Veränderungen die Arbeit der Akteure
im Krankenhaus?
▶ Was ist unter dem Begriff der Ökonomisierung im Krankenhauswesen zu verstehen?
24 Transformationsprozesse im Krankenhauswesen 365

▶ Sind DRG ein geeignetes Instrument zur Abrechnung der Betriebskosten im Kran-
kenhaus?
▶ Wer zählt zu den „Gewinnern“ und wer zu den „Verlierern“ durch die Veränderungen
im Krankenhaus?
▶ Vor welche Herausforderungen werden Krankenhäuser aktuell und in Zukunft gestellt?

Leseempfehlungen

t Braun, B., P. Buhr, S. Klinke, R. Müller & R. Rosenbrock, (2010): Pauschalpatienten,


Kurzlieger und Draufzahler – Auswirkungen der DRGs auf Versorgungsqualität und
Arbeitsbedingungen im Krankenhaus, Krankenhausmanagement. Bern: Verlag Hans
Huber.
Ein Buch zur wohl umfassendsten empirischen Begleitforschung im Kontext der Einfüh-
rung von Diagnosis Related Groups in deutschen Krankenhäusern.

t Glouberman, S. & H. Mintzberg, 2001: Managing the care of health and the cure of
disease – part I: differentiation. Health Care Management Review 26: 56-69.
Im Beitrag werden die Besonderheiten von Krankenhäusern herausarbeitet und es wird
verdeutlicht, wovon Entscheidungsprozesse im Krankenhaus abhängen.

t Manzei, A. & R. Schmiede, (Hrsg.) 2014: 20 Jahre Wettbewerb im Gesundheitswesen.


Theoretische und empirische Analysen zur Ökonomisierung von Medizin und Pflege.
Wiesbaden: Springer VS.
Der Sammelband gibt einen guten Einblick in die Entwicklung des deutschen Gesund-
heitswesens unter den Bedingungen von Ökonomisierung und Rationalisierung.

t Rohde, J.J., 1962: Soziologie des Krankenhauses. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.
Der Klassiker und nach wie vor das zentrale Werk der Krankenhaussoziologie.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Gesellschaft Staat/ Gesundheit/Kran-


kenhaeuser/Krankenhaeuser.html
Krankenhausstatistik: Seit 1991 werden Grund- und Kostendaten der Krankenhäuser
erhoben, die Diagnosedaten der Krankenhauspatienten sind seit 1993 verfügbar.

Web http://www.bundesaerztekammer.de
Aktuelle und archivierte Empfehlungen, Reden und Stellungnahmen der Bundesärz-
tekammer (z. B. zu leistungsbezogenen Zielvereinbarungen in Chefarztverträgen).
366 Maximiliane Wilkesmann

Web http://www.svr-gesundheit.de
Aktuelle und archivierte Gutachten und Dokumentationen zu Veranstaltungen des
Sachverständigenrats zur Entwicklung und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens.

Film Operieren für den Profit (2013), 8 Minuten, 14.01.2013, WDR: https://www.planet-wis-
sen.de/alltag_gesundheit/ medizin/gesundheits-systeme/av_operation_ursachen.jsp
Der Film thematisiert Fallpauschalen und deren nicht-intendierten Effekte auf die
Arbeit im Krankenhaus.

Film Arzt zu mieten! (2015), 29 Minuten. 10.01.2015, RBB. http://www.rbb-online.de/


doku/die_rbb_reporter/beitraege/arzt-zu-mieten.html
Honorarärzte werden bei ihrer Arbeit in Krankenhäusern begleitet. Der Film thema-
tisiert deren Einsatz aus der Perspektive von angestellten Ärzten, Patienten und den
Honorarärzten selbst.

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hausmanager und ihre Konzepte. Wiesbaden: Springer VS.
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Braun, B., P. Buhr, S. Klinke, R. Müller & R. Rosenbrock, 2010: Pauschalpatienten, Kurzlieger und
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Soziologie des kranken Menschen:
Krankenrollen und Krankenkarrieren 25
Bernhard Borgetto
25 Soziologie des kranken Menschen: Krankenrollen und Krankenkarrieren

Überblick
▶ Welche Veränderungen kennzeichnen die Entwicklung der Krankenrolle?
▶ Welche Entwicklungen geben Anlass, eine neue soziale Rolle des „Gesunden“ kon-
zeptuell zu entwickeln?
▶ Welche Dimensionen sind konstitutiv für Krankenkarrieren?
▶ Welche Normalisierungskonzepte bestehen zur Erklärung des Bewältigungshandelns
von Menschen mit chronischen Krankheiten?

1 Einleitung

Einer Soziologie des kranken Menschen bietet sich eine Vielzahl von analytischen und
theoretischen Ansatzpunkten und Forschungsergebnissen, eine konsensfähige einheitliche
Theorieposition zeichnet sich allerdings derzeit nicht ab. Ein Kernstück soziologischer
Theorie ist der durch Parsons (1951) entfaltete rollentheoretische Zugang, der sich durch
fast alle Lehrbücher der Medizinsoziologie und der Medizinischen Soziologie zieht – re-
gelmäßig begleitet von zum Teil deutlicher Kritik (siehe Bittlingmayer in diesem Band).
Insbesondere die Eignung dieses Ansatzes zur Analyse chronischer, also zeitlich länger
andauernder oder nicht heilbarer Erkrankungen wurde in Frage gestellt. In der Folge und
mit der zunehmenden Realisierung der Bedeutung des epidemiologischen Wandels hin
zu chronischen Erkrankungen wurde der rollentheoretische Zugang nicht erweitert, es
wurden vielmehr weitere theoretische Ansätze entwickelt, die besser geeignet scheinen,
diese empirisch zu untersuchen. Besonders erwähnenswert sind der interaktionstheo-
retische Ansatz, der insbesondere durch das Trajektkonzept weite Verbreitung erfahren
hat (Corbin & Strauss 1988, Corbin et al. 2009, Straus et al. 1991), das Transitions- und
Statuspassagenkonzept (Behrens & Voges 1999, Schaeffer 2004, Wingenfeld 2005) und
das Konzept der Kranken- bzw. Patientenkarrieren (Borgetto 1999, Gerhardt 1976, 1986,
Kirchgässler 1985; siehe auch Schaeffer & Haslbeck in diesem Band).

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_25, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
370 Bernhard Borgetto

Diese Vielzahl von theoretischen Ansätzen macht für die vertiefende Darstellung eine
Auswahl nötig. Der Fokus liegt im Weiteren auf der Krankenrolle und dem Wandel der
gesellschaftlichen Erwartungen an die Rechte und Pflichten kranker Menschen und die
Krankenkarriere als einem Konzept, in dem die Akteursperspektive und die Strukturper-
spektive miteinander verschränkt werden.

2 Die Krankenrolle

Die Krankenrolle wurde von Parsons (1951) als eine transitorische konzipiert: Krankheit
wurde als eine Form devianten Verhaltens, als vorübergehender Kompetenzverlust gese-
hen, der den Zugang zur Krankenrolle erlaubt, die mit bestimmten Rechten und Pflichten
verbunden ist (Borgetto & Kälble 2007). Diese werden im Weiteren erläutert, jeweils als
Ausgangspunkt zu einer Analyse des Wandels der Krankenrolle in den letzten 30 bis 40
Jahren.

2.1 Verantwortung des kranken Menschen

Bleibt ein Mensch aufgrund einer Erkrankung seinem Arbeitsplatz fern, übernimmt er
seine Aufgaben in Haushalt und Familie nicht, trifft er sich nicht mehr mit Freunden –
kurzum: verhält sich ein Mensch aus gesundheitlichen Gründen deviant, also anders, als
dies von seinem sozialen Umfeld und der Gesellschaft insgesamt bislang von ihm erwartet
werden konnte – so hat er nach Parsons (1951) ein Recht darauf, für dieses deviante, also
von sozialen Normen abweichende Verhalten nicht verantwortlich gemacht zu werden. Der
kranke Mensch sollte vielmehr im Hinblick auf seine Gesundheit für deviantes Verhalten
entschuldigt werden. Den Grund hierfür sieht Parsons darin, dass ein kranker Mensch
sich aus eigener (Willens-)Kraft nicht heilen und sein krankheitsbedingtes deviantes Ver-
halten deshalb auch nicht ändern kann – unabhängig von der Frage, ob er die Erkrankung
verschuldet oder auch nur mitverschuldet hat.
Diese Voraussetzung für die Nicht-Zuschreibung der Verantwortung für die krank-
heitsbedingte soziale Devianz wird in fachlichen wie öffentlichen Diskursen zunehmend
und nachdrücklich in Frage gestellt. Im Gefolge der fortschreitenden wissenschaftlichen
Aufklärung des Zusammenhangs von Lebensstil und Gesundheitszustand erfolgt eine
immer stärkere individuelle Zuschreibung von Verantwortung für den eigenen Gesundheits-
beziehungsweise Krankheitszustand. Sowohl die Schuldfrage bei der Verursachung von
Erkrankungen rückt damit zunehmend in den Fokus gesundheitspolitischer Debatten wie
auch die Frage nach dem eigenen, willentlichen Beitrag des kranken Menschen zu seiner
Gesundung. Dementsprechend werden immer höhere Erwartungen an die Rationalität des
gesundheits- oder krankheitsrelevanten Verhaltens von Kranken formuliert.
Leitbild dieses Paradigmenwechsels ist der Patient als Koproduzent seiner Gesundheit
(Badura & Feuerstein 1994). Um die Eigenverantwortung und den Eigenbeitrag insbeson-
25 Soziologie des kranken Menschen: Krankenrollen und Krankenkarrieren 371

dere chronisch kranker Patienten jenseits von finanziellen Eigenleistungen zu stärken,


werden Selbsthilfe und selbst(mit)organisierte fachliche Angebote von Betroffenen wie
Koronarsportgruppen, Rheumafunktionstraining oder Brustkrebs-Sportgruppen syste-
matisch gefördert und unterstützt sowie Patientenschulungen entwickelt und angeboten
(Borgetto 2004, Pimmer & Buschmann-Steinhage 2009).
Aber nicht nur ergänzend zur medizinischen Versorgung, auch in der Krankenversor-
gung wird nach Konzepten gesucht, die – wiederum vor allem für chronisch Kranke – die
Übernahme von mehr Verantwortung in der Behandlung ermöglichen sollen. Beispiele sind
Empowerment, Klienten- und Patientenzentrierung, Selbstmanagement und – momentan
hoch im (Dis)Kurs stehend – das Shared Decision Making (SDM), also die partizipative
Entscheidungsfindung (Scheibler et al. 2003). Insbesondere die im Kontext des SDM ent-
wickelten Entscheidungshilfen sollen nicht nur allgemein dazu dienen, den Patienten in
Therapieentscheidungen einzubinden, sondern ihm vor allem evidenzbasierte Informationen
zu vermitteln. SDM-basierte Therapieentscheidungen sollen nicht nur die Werte und Präfe-
renzen des Patienten berücksichtigen, vielmehr soll der Prozess der Entscheidungsfindung
patientenseitig auf wissenschaftliche Erkenntnisse gründen. Man könnte also auch von
einer Tendenz zur Förderung eines „evidenzbasierten Krankheitsverhaltens“ sprechen.
Insgesamt kann man in diesen Entwicklungen auch einen sich ausweitenden Prozess der
Normierung und Verwissenschaftlichung des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens
erkennen, der sich auch auf die Rollenerwartungen an Kranke auswirkt.
Parallel zu den verstärkten Verantwortungszuschreibungen seitens Politik und pro-
fessionellem Gesundheitssystem hat sich auch eine Tendenz zur aktiven Verantwor-
tungsübernahme seitens der Patienten und insbesondere von Menschen mit chronischen
Erkrankungen und Behinderungen entwickelt (Borgetto 2004). Die heutige Selbsthilfebe-
wegung insgesamt wie auch ihr ausdrücklich gesundheitsbezogener Teil kann in weiten
Teilen auf die Verantwortungsübernahme betroffener Menschen zurückgeführt werden;
zumindest ist sie ohne diese nicht denkbar. Es sind einzelne Betroffene, die gemeinsam
mit anderen Betroffenen und zum Teil auch Fachleuten aus dem Gesundheitssystem ver-
suchen, wieder mehr Kontrolle über ihre Gesundheit, Krankheit und deren Behandlung
und Bewältigung zurück zu gewinnen. Neben den vielen Aktivitäten und Leistungen von
Selbsthilfezusammenschlüssen, die Betroffene und Mitglieder bei der Krankheitsbewälti-
gung unterstützen, zielt die organisierte Selbsthilfe immer auch auf die Veränderung von
Einstellungen professioneller Akteure im Gesundheitssystem, auf die Zusammenarbeit
mit diesen und insbesondere auch auf die Arzt-Patient-Beziehung, auf Institutionen und
Organisationen im Gesundheitssystem und auf die Gesundheits- und Sozialpolitik. Obwohl
es sich bei der Selbsthilfebewegung nicht um eine Massenbewegung handelt – aktiv in der
Selbsthilfe sind maximal 5 Prozent der Allgemeinbevölkerung und bis zu 10 Prozent der
jeweils von häufigen chronischen Erkrankungen oder Behinderungen Betroffenen – ist es
vielen Selbsthilfeorganisationen gelungen, ein großes politisches Gewicht zu erlangen und
in Gestaltungsprozesse im Gesundheitswesen eingebunden zu werden (Borgetto 2015).
Ein quantitativ verbreiteteres Phänomen scheint dagegen ein Wandel in der Einstellung
von Patienten allgemein dahingehend zu sein, dass diese einen größeren Informations- und
372 Bernhard Borgetto

Mitentscheidungsbedarf äußern. Wie weit die damit verbundene Verantwortungsübernahme


reicht und ob sie ein Indiz für die Entstehung bzw. Existenz eines mündigen Patienten ist,
wird kontrovers diskutiert (Stollberg 2008).

2.2 Verantwortung des gesunden Menschen: Emergenz einer neuen


sozialen Rolle des „Gesunden“?

Ein individuelles Recht auf Gesundheit kann es nicht in dem Sinne geben, dass jegliche
Erkrankung die Verletzung eines Rechtsgutes wäre (Kreß 2006). Dennoch ist es Gegenstand
der Landesverfassungen einiger deutscher Bundesländer und dem sogenannten Sozialpakt
der Vereinten Nationen von 1966, indem auch Deutschland das Recht auf ein individuell
erreichbares Höchstmaß an geistiger und körperlicher Gesundheit anerkennt (Kreß 2006,
Pestalozza 2007). Gemeint sind damit jedoch ein Schutz der individuellen Gesundheit vor
Gesundheitsgefährdungen etwa durch Nahrungsmittel, Umweltverschmutzung, Gewalt
und ähnliches sowie ein Recht auf eine individuelle Krankenversorgung. Etabliert hat sich
in Deutschland aber schon sehr früh das Recht auf die Inanspruchnahme individueller
Gesundheitsuntersuchungen und Präventionsleistungen.
Zu diesem Recht tritt jedoch zunehmend die Pflicht hinzu, individuelle Verantwortung
zur eigenen Gesunderhaltung zu übernehmen. Nicht nur den kranken Menschen, sondern
auch den (noch) gesunden trifft eine zunehmende Zuschreibung von Verantwortung für
seinen Gesundheitszustand. Die Forschung zum gesundheitlichen Lebensstil zeigt, dass
der Mensch nicht einfach über gesundheitsschädliche oder gesundheitsförderliche Verhal-
tensweisen disponieren kann, sondern dass diese auch in sozialen Milieus verankert sind
und sich biographisch entwickeln und stabilisieren (Borgetto 2009). Dennoch wird das
Handeln in einem voluntaristischen Sinn zunehmend als entweder gesundheitsschädigend
oder gesundheitsfördernd begriffen (Maio 2014), wodurch der sozialen Rolle des Kranken
zunehmend eine soziale Rolle des „Gesunden“ gegenübergestellt wird – gewissermaßen
mit dem Zwang, in die eine oder die andere Rolle gedrängt zu werden. Rollentheoretisch
gesprochen entstehen so neue Sozialstrukturen durch eine „Pathologisierung“ oder alternativ
„Salutogenisierung“ des Alltags. Dies zeigt unter anderem die Zunahme der Bereitschaft,
gesundheitsschädliches Verhalten individuell zu sanktionieren. Beispiele für negative
Sanktionen sind die immer wieder auflebenden Diskussionen um höhere Krankenkassen-
beiträge für Raucher, Übergewichtige und andere Risikogruppen sowie der Verweigerung
der Kostenübernahme für Komplikationen von Schönheitsoperationen, Piercing und
ähnlichem. In letzter Zeit sind zudem Versuche zu beobachten, gesundheitsförderliches
Verhalten positiv zu sanktionieren. So werden zum Beispiel von manchen gesetzlichen
Krankenkassen Versicherten (relativ geringe) Beitragsermäßigungen gewährt, wenn sie
positive Blutdruck- oder Cholesterinwerte nachweisen können oder an körperlichen Ak-
tivitäten in Vereinen oder in Fitness-Clubs teilnehmen.
Zudem nimmt der Verpflichtungsgrad von Vorsorgemaßnahmen insbesondere dann
zu, wenn mit der individuellen Gesundheitsgefährdung bei übertragbaren Krankheiten
eine Gefährdung der Gesundheit anderer einhergeht – wie sich etwa an der aktuellen
25 Soziologie des kranken Menschen: Krankenrollen und Krankenkarrieren 373

und immer wieder aufflammenden Impfdiskussion zeigt. Bereits 2006 hat der Deutsche
Ärztetag gefordert, dass eine Impfung gegen Masern die Voraussetzung für die Aufnahme
in überwiegend staatlich finanzierten Kinderkrippen und Kindergärten gemacht werden
und diese in dem künftigen Präventionsgesetz auch gesetzlich verankert werden sollte
(Deutscher Ärztetag 2006). Tatsächlich hat der Bundesminister für Gesundheit Gröhe
angesichts der öffentlichen Diskussionen angekündigt, eine „Impfberatung“ zur Pflicht
zu machen (Gröhe 2015). Vergleichbar hierzu sind der Schutz vor Passivrauchen und die
AIDS-Kampagnen. Allerdings handelt es sich angesichts der gesundheitswissenschaftli-
chen Erkenntnis, dass gerade Kindergärten und Kindertagesstätten ein vielversprechendes
Setting sind, in dem die sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit abgebaut werden
kann (Lampert & Richter 2009; siehe auch Lampert in diesem Band), wenn eine Kinder-
gartenpflicht eingeführt würde, bei den vorgeschlagenen sozialen Sanktionsmaßnahmen
um den berühmten Beelzebub, mit dem der Teufel ausgetrieben werden soll.
Ein besonderes Schlaglicht auf die zunehmende Verantwortungszuschreibung wirft der
durch das Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 geänderte § 62 SGB V, in dem festgelegt
wird, dass chronische Kranke die für sie geltenden finanzielle Belastungsgrenze nur in
Anspruch nehmen können, wenn sie auch an den in § 25 Abs. 1 genannten Gesundheits-
untersuchungen vor der Erkrankung regelmäßig teilgenommen haben. Hier erfolgt die
Androhung einer finanziellen Sanktion für den Fall, dass eine Erkrankung eintritt, die
teils unter der Hinnahme einer – wenn auch geringen – gesundheitlichen Belastung bei
Inanspruchnahme einer entsprechenden Vorsorgeuntersuchung vielleicht hätte vermieden
werden können.

2.3 Inanspruchnahme professioneller Hilfe

Um Krankheit als gesellschaftlich unerwünschten, weil dysfunktionalen Zustand eines


Menschen so schnell wie möglich zu beenden, muss nach Parsons (1951) die Krankenrolle
einerseits legitimiert und andererseits die Erkrankung unter Inanspruchnahme fachkundiger
professioneller Hilfe schnellstmöglich behandelt werden. Die Verpflichtung des Kranken,
fachkundige professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, führt ihn fast immer zuerst
zu einem niedergelassenen Vertragsarzt, der als Gatekeeper für die Inanspruchnahme
medizinischer Versorgungsleistungen und anderer Heil- und Hilfsmittel sowie für die
stationäre Versorgung fungiert.
Konträr dazu wird immer wieder diskutiert, ob Patienten ärztliche Leistungen über-
mäßig in Anspruch nehmen. Prominent ist in dieser Diskussion das Konzept des Moral
Hazard (Pauly 1968). Danach verleiten Krankenversicherungen und staatliche Versor-
gungssysteme die Menschen dazu, mehr medizinische Leistungen als erforderlich nach-
zufragen. Da die Beiträge der einzelnen Versicherten unabhängig von der individuellen
Leistungsinanspruchnahme sind und diese die Gegenleistungen für ihre Steuer- oder
Beitragszahlungen nicht abschätzen könnten, wird in diesem Modell unterstellt, jeder
Versicherte sei bestrebt, so viele Leistungen wie möglich in Anspruch zu nehmen. Über-
mäßige Ausgabensteigerungen in der Krankenversicherung und in deren Folge beständige
374 Bernhard Borgetto

Beitragserhöhungen seien unvermeidlich, wenn nicht mit spezifischen Anreizen für die
Versicherten gegengesteuert würde.
Ein soziologisch anspruchsvolles und international weit verbreitetes Modell zur Erklä-
rung der Inanspruchnahme von Gesundheitsversorgungsleistungen ist das sogenannte
„Behavioral Model of Health Services Use“ des US-amerikanischen Medizinsoziologen
und Versorgungsforschers Andersen (dargestellt von Janssen et al. 2014), das seit 2001 auch
in der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE) verwendet wird. Es deckt es ein
breites Spektrum von Einflussfaktoren ab: Bedarfsfaktoren („need factors“), ermöglichende
Faktoren („enabling factors“) und prädisponierende Faktoren („predisposing factors“).
Dennoch wird in Deutschland versucht, mit Zuzahlungen zu Medikamenten und Heil-
und Hilfsmitteln eine übermäßige Inanspruchnahme zu begrenzen. Inzwischen sind Haus-
arztmodelle, zum Teil verbunden mit Bonus-Malus-Regelungen, hinzugekommen. Diese
sollen erreichen, dass ein Patient immer nur dann zu einem Facharzt geht, wenn er zuvor
einen Hausarzt konsultiert hat. Dadurch soll die Zahl der Arztbesuche gesenkt werden.
Die Praxisgebühr zielt in eine ähnliche Richtung: Die einmalige Zahlung pro Quartal soll
Patienten davon abhalten, wegen Bagatellerkrankungen einen Arzt aufzusuchen.
Die Verpflichtung, einen Arzt zu konsultieren, beruht nicht allein darauf, dass dieser
die Legitimationsinstanz ist, die Zugang zu den Privilegien der Krankenrolle verschafft. Sie
beruht auch darauf, die soziale Funktionsfähigkeit der Kranken zu erhalten oder wieder-
herzustellen. Die Begründungen, die für die bereits eingeführten oder noch diskutierten
positiven und negativen Sanktionsmechanismen zur Verringerung der Inanspruchnah-
me gegeben werden, deuten zwar nicht unbedingt darauf hin, dass diese Verpflichtung
grundsätzlich in Frage gestellt wird. Ihre Verletzung wird allerdings billigend in Kauf
genommen und nicht sanktioniert.
Parsons (1951) hat die Inanspruchnahme eines Arztes nicht nur als Pflicht, sondern auch
als Recht angesehen. Während diese also als Pflicht nicht sanktionsbewehrt ist, wird sie
als Recht heute durch Sanktionen an finanzielle Bedingungen geknüpft. Dadurch entsteht
ein Intrarollenkonflikt für Patienten: Ihnen wird die Verantwortung für eine Erkrankung
vermehrt zugeschrieben, was auch die Erwartung einer angemessenen Inanspruchnahme
von professionellen Hilfeleistungen einschließt; der Zugang wird jedoch an finanzielle
Mehraufwendungen gekoppelt. Hier die richtigen Entscheidungen zu treffen, setzt ein
hohes Maß an Handlungskompetenz und Selbststeuerungsfähigkeit voraus.
Dies ist insbesondere deshalb problematisch, da eine einkommensunabhängige Selbst-
beteiligung bei den sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen eine stärkere Wirkung auf
die Inanspruchnahme hat, als bei besser Verdienenden, was gesundheitlich nachteilige
Folgen haben kann (Klose & Schellschmidt 2001). Empirisch belegt ist jedenfalls, dass es
trotz höherer Krankheitslast in den unteren Sozialschichten kaum Unterschiede in der
Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen gibt, was auf eine Unterversorgung in den
unteren Schichten hindeutet (Klein et. al 2014, siehe auch Klein & Knesebeck in diesem
Band).
25 Soziologie des kranken Menschen: Krankenrollen und Krankenkarrieren 375

2.4 Rollenentpflichtung

Die wirtschaftliche Lage und vor allem die Probleme am Arbeitsmarkt erschweren auch
die Inanspruchnahme des von Parsons (1951) postulierten Rechts auf Rollenentpflichtung
im Krankheitsfall. Das Recht auf Entbindung von den normalen Rollenverpflichtungen
ist nur dann einlösbar, wenn damit die ökonomischen und/oder sozialen Grundlagen
der Existenz eines Betroffenen bzw. seiner Familie nicht gefährdet werden. Häufig jedoch
kollidiert die Krankenrolle mit anderen Rollen. Ein häufiger Rollenkonflikt entsteht zwi-
schen der Krankenrolle und der Berufsrolle oder der Rolle des Hauptverdieners in einer
Familie. So ist seit langem bekannt, dass die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage in einem
Land mit dem Niveau der Arbeitslosigkeit kovariiert: Je höher die Arbeitslosigkeit steigt,
desto niedriger ist der Krankenstand (Kohler 2002). Eine plausible Hypothese zur Erklärung
lautet, dass in dem Maße, wie es einer Wirtschaft schlecht geht, normative Erwartungen
an die Krankenrolle durch konträre Erwartungen an die Berufsrolle zumindest teilweise
überlagert werden. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes kann Erwerbstätige
daran hindern, eine für Heilungsprozesse förderliche Krankschreibung zu akzeptieren
oder überhaupt erst einen Arzt aufzusuchen. Das Gleiche gilt sinngemäß natürlich auch,
wenn etwa – um nur zwei Beispiele zu nennen – wichtige Haushaltstätigkeiten oder die
Kinderbetreuung im Falle einer Erkrankung einer allein erziehenden Mutter nicht durch
die Übernahme seitens Dritter gesichert sind.
Diese allgemeinen Zusammenhänge kommen angesichts zweier sozialer Prozesse immer
stärker zur Geltung. Zum einen entwickelt sich die Wirtschaft so, dass die Lohnentwick-
lung hinter der des Bruttoinlandsproduktes zurückbleibt. Die Folge, die zunehmend in
das öffentliche Bewusstsein und in politische und mediale Diskussionen einzieht, ist, dass
eine Vollzeit-Berufstätigkeit immer häufiger nicht mehr ausreicht, um eine Familie zu
ernähren, zudem werden Billiglohnsektor und Zeitarbeit immer mehr ausgeweitet. Zum
anderen verlieren in der Folge der gesellschaftlichen Individualisierung soziale Netzwerke
zunehmend an Umfang und Qualität, entstehen mehr und mehr Single-Haushalte und
nimmt die Zahl allein erziehender Elternteile beständig zu (Beck & Beck-Gernsheim
1994). Der einzelne Mensch in der Gesellschaft erfährt so auch immer weniger informelle
Unterstützung, so dass sich krankheitsbedingte soziale Problemlagen schlechter abfedern
lassen und die Krankheit selbst nicht mehr zu angemessenen Rollenentpflichtungen führt.

3 Krankenkarrieren

Die verstärkte Zuschreibung von Eigenverantwortung für biographische Entwicklungen


spiegelt sich in der soziologischen Analyse und empirisch-sozialwissenschaftlichen For-
schung im Konzept der Krankenkarriere, wie er von Gerhardt (1976) entwickelt wurde, mit
seiner Fokussierung auf das rationale Handeln chronisch Kranker wider. Der Karrierebegriff
trägt dabei nicht die alltagssprachliche Bedeutung einer im positiven Sinne „glänzenden“
376 Bernhard Borgetto

Berufskarriere oder im negativen Sinne sich selbst verstärkenden Suchtkarriere. Er orientiert


sich eher am Prinzip sozial vorstrukturierter Stufen in einem Entwicklungsprozess, der sich
nicht notwendig auf- oder abwärts orientiert, sondern ergebnisoffen das Resultat rational
handelnder, wenngleich durch chronische Erkrankungen eingeschränkter Akteure ist.

3.1 Handlungsrationalität und Normalisierung der bürgerlichen


Existenz

Die Karrieren von chronisch Kranken sind konzipiert als Verläufe in den Dimensionen
Gesundung/Erkrankung, Einkommen/finanzielle Sicherheit, Beruf und Familie/Pri-
vatsphäre (Gerhardt 1976). Die Betroffenen sind dabei Handelnde in einem Prozess der
relativen Bewältigung des möglicherweise existenzbedrohenden Risikos, das durch den
Erkrankungsfall auftritt. Der später ausgearbeitete Begriff der Patientenkarriere (Gerhardt
1986) wendet sich explizit gegen Vorstellungen, Lebensverläufe und Biographien chronisch
Kranker führten notwendigerweise in Aufschichtungen von Problemlagen, deren zuneh-
mender Komplexitätsgrad immer mehr einen Verlust an Handlungsrationalität bedingt
und schließlich zu einer Auflösung der Handlungsorientierung führt (Schütze 1981).
Er enthält vielmehr – insbesondere bei Gerhardt (1986) – die normative Setzung einer
optimalen Normalisierung des Lebens chronisch Kranker oder von Familien mit einem
chronisch erkrankten Mann/Vater in der Dimension Beruf, die sich an dem Bild einer
möglichst erfolgreichen Berufslaufbahn orientiert, bei der sich der Berufsstatus verbessert
und keinerlei Nachteil oder Verschlechterung in anderen Lebensbereichen entsteht.
Damit stellt das Konzept der (männlichen) Patientenkarriere einen sehr spezifischen
Begriff von Normalität in den Mittelpunkt der Analyse, nämlich den der beruflichen
Normalität, festgemacht an dem Idealbild einer „bürgerlichen Existenz“, die mit einer
normalen gesellschaftlichen Existenz gleichgesetzt wird und auf einer zumindest formal
intakten Familie beruht (Gerhardt 1986, S. 56).

3.2 Pluralisierung der Normalisierungskonzepte

Angesichts gesellschaftlicher Individualisierungstendenzen (Beck & Beck-Gernsheim 1994)


wird jedoch die normative Setzung einer bürgerlichen Normalität in den Kranken- und
Patientenkarrieren, die primär auf sozialrechtlichen bzw. sozialpolitischen Normalitäts-
unterstellungen (Behrens & Voges 1999) basiert, problematisch. Sozialpolitische Norma-
litätsunterstellungen, häufige Lebensverläufe und subjektive Normalitätsorientierungen
können stark divergieren und fallen in Deutschland seit den 1960er Jahren zunehmend
auseinander. Die sozialrechtlichen Normierungen können dabei als Ressourcen und
Opportunitätsstrukturen angesehen werden, die gewisse Sog- und Druckwirkungen ent-
falten und von handelnden Subjekten planend berücksichtigt werden. So konnte etwa am
Beispiel von berufsbiographischen Wendepunkten chronisch Kranker, die sich durch eine
koronare Bypassoperation und deren sozialpolitischer Rahmung ergaben, gezeigt werden,
25 Soziologie des kranken Menschen: Krankenrollen und Krankenkarrieren 377

dass nicht nur die Rückkehr zur Arbeit, sondern auch die Frühberentung eine Strategie
sozialer Normalisierung sein kann (Borgetto 1999).
Zu unterscheiden sind dementsprechend die sozialstrukturellen Anreiz- und Gelegen-
heitsstrukturen sozialpolitischer Normalitätsunterstellungen und -rahmungen und die
individuell gelebten und im Krisenfall wieder angestrebten oder sich wandelnden Norma-
litätsorientierungen. Letztere sind nicht als statische Persönlichkeitsmerkmale zu denken,
sondern einem Wandel im Lebensverlauf unterworfen (Behrens & Voges 1999). Gerade
biographische Wendepunkte und Statuspassagen und die an ihnen verbreiteten Bilanzie-
rungs- und Aushandlungsprozesse sind häufig Anlässe für solche Perspektivverschiebungen.
Eine solche plurale Konzeption von Normalität bricht nicht mit der Vorstellung der
rationalen Handlungsfähigkeit und Eigenverantwortung von chronisch kranken Menschen
für ihr Leben, sie vervielfältigt vielmehr die Rationalitätszumutungen. Lässt die Gleichset-
zung von sozialpolitischen Normalitätsunterstellungen und individuellen Normalitätso-
rientierungen dem Handelnden kaum eine Wahl, erfordert die Orientierung an pluralen
Normalitätsentwürfen, die zudem noch individuellen biographischen Wandlungsprozessen
ausgesetzt sind, verbunden mit aktiven Wahl- und Planungsprozessen, Informationsbeschaf-
fung, Abwägungen, Aushandlungen etc. einen hohen Grad an Selbststeuerungsfähigkeiten.
Die postmoderne Variante der Pluralisierung von Normalität geht darüber noch hi-
naus (Bury 2002). Neben die Bemühungen der Anpassung an Normalitätsvorstellungen
der sozialen Umwelt gesellen sich Forderungen nach Anerkennung der durch chronische
Krankheit verursachten Andersartigkeit gegenüber Gesunden als Normalität. In der Er-
krankung werden Erfahrungen gesehen, deren Bearbeitung eine Integration bzw. Neukon-
zeption von Identität und Selbst auf einer neuen Ebene ermöglichen, die an die Stelle der
biographischen ‚Reparatur‘ und „Wiederherstellung“ die biographische „Neuerfindung/
Wiedererfindung“ (Bury 2002) treten lassen. Die reflexive Natur der postmodernen Iden-
tität und Biographie fußt auf einem iterativen Zyklus von biographischen Bewertungen,
Revisionen und Fortschritten, ob gesundheitsbezogen oder allgemein (Williams 2000).
Auch dem chronisch Kranken wird damit biographische Verantwortlichkeit und die
Möglichkeit und der Druck zur Individualisierung der Lebensplanung zugeschrieben.
Ob und inwieweit diese Zuschreibungen zutreffend sind, rationale Gestaltung handelnd
gelingt oder scheitert ist – wie auch bei Gesunden – eine empirische Frage.

4 Schlussfolgerungen

Der relativ klare Zuschnitt der Krankenrolle, die bis in die 1980er Jahre hinein zumindest
im Hinblick auf akute Erkrankungen Geltung beanspruchen konnte, weicht immer weiter
auf. Es entstehen plurale, zum Teil gegensätzliche und vieldeutige Erwartungen, die nicht
nur Handlungsspielräume für kranke Menschen eröffnen, sondern auch konfliktbela-
den sind. Die wichtigsten Entwicklungen sind eine vermehrte Zuschreibung aber auch
Übernahme von Verantwortung für Krankheit, Gesundheit, Behandlung und Devianz
durch kranke Menschen und Patienten, eine Ökonomisierung der Inanspruchnahme von
378 Bernhard Borgetto

professionellen Dienstleistungen des Gesundheitssystems und eine Ökonomisierung und


Individualisierung der Entbindung von Rollenverpflichtungen kranker Menschen. Zudem
zeichnet sich die Emergenz einer sozialen Rollen des (noch) Gesunden ab. Das Recht auf
Gesundheitsschutz und Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen und -leistungen
sowie Krankenversorgung wird zunehmend durch eine individuelle Pflicht zur Vermei-
dung insbesondere von verhaltensbedingten Gefährdungen der eigenen Gesundheit und
der Gesundheit Dritter ergänzt.
Die Bewältigung einer chronischen Erkrankung erweist sich als eine außerordentliche
Herausforderung für die Betroffenen, die insbesondere bei lebensbedrohlichen Erkrankungen
mit wenig anderen Statusbedrohungen zu vergleichen sind. Die mit den gesellschaftlichen
Individualisierungstendenzen einhergehende Vervielfältigung der Rationalitätszumutun-
gen und Selbststeuerungsaufgaben lassen die Krankheitsbewältigung zu einer größeren
individuellen Herausforderung und Gestaltungsaufgabe werden, da die Verbindlichkeit
der Bewältigungs- und Normalisierungsmuster abnimmt.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Die Krankenrolle im Sinne Parsons hat vor allem Bedeutung im Kontext akuter
Erkrankungen.
▶ Der relativ klare Zuschnitt der Krankenrolle weicht seit etwa 30 Jahren immer
mehr auf.
▶ Die zunehmende gesundheitsbezogene Bewertung menschlichen Handelns lässt eine
soziale Rolle des Gesunden mit Rechten und Pflichten entstehen.
▶ Die Normalitätsvorstellungen als Orientierung für die Bewältigung chronischer
Erkrankungen werden vielfältiger und nehmen an Verbindlichkeit ab.
▶ Krankenkarrieren werden analysiert in den Dimensionen Gesundung/Erkrankung,
Einkommen/finanzielle Sicherheit, Beruf und Familie/Privatsphäre.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Welche gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflussen den Wandel der Krankenrolle?
▶ Welche Rechte und Pflichten im Sinne des rollentheoretischen Ansatzes könnten
bzw. sollten für chronisch kranke Menschen gelten?
▶ Welche Normalitätsvorstellungen bieten sich chronisch Kranken zur Orientierung
für ihre Krankheitsbewältigung?
▶ Gegen welche Vorstellungen phasenhafter Biographieverläufe wendet sich die Kon-
zeption der Patientenkarriere?
▶ Welcher Paradigmenwechsel ist mit der Konzeption des Patienten als Koproduzent
seiner Gesundheit verbunden?
25 Soziologie des kranken Menschen: Krankenrollen und Krankenkarrieren 379

Leseempfehlungen

t Borgetto, B. & K. Kälble, 2007: Medizinsoziologie. Sozialer Wandel, Krankheit, Ge-


sundheit und das Gesundheitssystem. Weinheim, München: Juventa.
Medizinsoziologisches Lehrbuch, in dem die Krankenrolle in ihrer Komplementarität
zur Arztrolle ausgehend von Parsons Klassiker „Struktur und Funktion der modernen
Medizin“ und unter Berücksichtigung neuerer Entwicklungen analysiert wird.

t Corbin, J. & A. Strauss, 1988: Unending work and care: managing chronic illness at
home. San Francisco: Jossey-Bass.
Grundlagenwerk, in dem das Trajekt-Konzept, das in diesem Beitrag nicht vertieft vorgestellt
werden kann, das aber dennoch einen bedeutenden Ansatz zur Analyse der Bewältigung
chronischer Erkrankungen bietet, gut nachvollziehbar dargestellt wird.

t Gerhardt, U., 1986: Patientenkarrieren. Eine medizinsoziologische Studie. Frankfurt/M.:


Suhrkamp.
Maßgebliche empirische qualitative Studie, die den Ansatz der Patientenkarrieren in
Deutschland bekannt gemacht und verbreitet hat.

t Parsons, T., 1958: Struktur und Funktion der modernen Medizin. Eine soziologische
Analyse. S. 10-57 in: König, R. & M. Tönnesmann (Hrsg.), Probleme der Medizinso-
ziologie. Sonderheft 3 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.
Opladen: Westdeutscher Verlag.
Deutsche Übersetzung des Klassikers der Medizinsoziologie und noch immer lesenswerte
Lektüre zu den Arzt-Patient-Rollen.

t Schaeffer, D., 2009 (Hrsg.): Bewältigung chronischer Erkrankung im Lebenslauf. Bern:


Huber.
Umfassende neuere Publikation mit einer Vielfalt von Perspektiven auf die Bewältigung
chronischer Erkrankungen im Lebenslauf.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.soziologie.de/de/sektionen/sektionen/medizin-undgesundheitssoziologie/
aktuelles.html
Sektion Medizin- und Gesundheitssoziologie, Deutsche Gesellschaft für Soziologie.

Web http://www.patient-als-partner.de
Portal für Patienten, Ärzte und andere Gesundheitsberufe sowie Wissenschaftler, um
Partizipative Entscheidungsfindung (PEF) zu fördern.
380 Bernhard Borgetto

Web http://www.zentrum-patientenschulung.de
Portal des von der Deutschen Rentenversicherung mitgetragenen gemeinnützigen
Vereins „Zentrum Patientenschulung“, der die Optimierung der Patientenschulung
in der Rehabilitation und anderen Versorgungsfeldern zum Ziel hat.

Literatur

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der hochtechnisierten Medizin und den Möglichkeiten ihrer Bewältigung. Weinheim, München:
Juventa.
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und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. S. 10-39 in: Beck, U. & E. Beck-Gernsheim
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von Patienten nach koronarer Bypassoperation. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
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Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber.
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Soziologie der Berufe im Gesundheitswesen
Karl Kälble und Bernhard Borgetto
26
26 Soziologie der Berufe im Gesundheitswesen

Überblick
▶ Wie können Gesundheitsberufe definiert werden und welche Bedeutung haben sie für
eine zukunftsfähige Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung?
▶ Wie können die Begriffe Profession, Professionalisierung und Professionalität ver-
standen werden?
▶ Welche Perspektiven eröffnen die einzelnen Theorieansätze sowohl für eine Analyse
der Entwicklung der Gesundheitsberufe im Sinne eines „collective mobility projects“
als auch in Bezug auf das professionelle Handeln?
▶ Welche neueren und aktuellen Entwicklungen kennzeichnen die Situation der the-
rapeutischen Gesundheits(fach)berufe?

1 Einleitung

Prozesse des gesellschaft lichen Wandels, die demografische und epidemiologische Ent-
wicklung, der anhaltende medizinisch-technische Fortschritt, die sich verändernden
Versorgungsansprüche der Patienten sowie der durch das komplexe Zusammenspiel
dieser Entwicklungen bewirkte Anstieg der Gesundheitsausgaben bei gleichzeitig limi-
tierten Finanzierungsmöglichkeiten setzen in Deutschland derzeit sowohl das System der
gesundheitlichen Versorgung als auch die im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen
unter einen fortdauernden Veränderungs- und Anpassungsdruck (vgl. z. B. Kälble 2015:
94ff., Borgetto & Siegel 2009: 12ff.). Für die patientenorientierten Dienstleistungsberufe der
Gesundheitsversorgung, denen bei der Erhaltung und Weiterentwicklung einer qualitativ
hochwertigen Gesundheitsversorgung eine Schlüsselrolle zukommt (Sachverständigenrat
[SVR] 2002, Wissenschaftsrat [WR] 2012, Robert Bosch Stiftung [RBS] 2013), resultieren
diese Entwicklungen in neuen und komplexer werdenden Aufgabenstellungen, in erweiterten
und veränderten Berufsrollen sowie in erhöhten Wissensanforderungen, die im Gefolge
auch neue Qualifizierungserfordernisse bedingen. Hinzu kommen eine fortschreitende

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_26, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
384 Karl Kälble und Bernhard Borgetto

Arbeitsteilung und berufliche Differenzierung, der sich abzeichnende Fachkräftebedarf


sowie der gesundheitspolitische Anspruch an die Effizienz und Effektivität der gesund-
heitsbezogenen Dienstleistungen, die mit Forderungen nach einer stärker kooperativ
organisierten Gesundheitsversorgung einher gehen (WR 2012, RBS 2013, SVR 2008). Vor
diesem Hintergrund und im Kontext des Bolognaprozesses bzw. den bildungspolitisch
forcierten Veränderungen im (hochschulischen) Bildungssystem ist das Feld der gesund-
heitsbezogenen Dienstleistungsberufe im Gesundheitswesen in Bewegung geraten (Pundt
& Kälble 2015, Kälble 2013, 2015, Borgetto 2013).
Der vorliegende Beitrag diskutiert und analysiert aus einer berufs- und professionsso-
ziologischen Perspektive sowohl aktuelle berufs- und bildungsstrukturelle Entwicklungen
als auch handlungsbezogene Aspekte im Wandel der personenbezogenen Dienstleistungs-
berufe am Beispiel ausgewählter Berufe in der Gesundheitsversorgung.

2 Zum Berufsbegriff und zur Definition der Gesundheitsberufe

In modernen Gesellschaften wird die Vielfalt möglicher Arbeitsanforderungen und


Qualifikationsprofile auf Berufe als zentrale soziale Organisationsform der Erwerbsarbeit
reduziert. Berufe können definiert werden als „relativ tätigkeitsunabhängige, gleichwohl
tätigkeitsbezogene Zusammensetzungen und Abgrenzungen von spezialisierten und insti-
tutionell fixierten Mustern von Arbeitskraft, die u. a. als Ware am Arbeitsmarkt gehandelt
und gegen Bezahlung in fremdbestimmten, kooperativ-betrieblich organisierten Arbeits-
und Produktionszusammenhängen eingesetzt werden“ (Beck et al. 1980: 20). Sie sind durch
spezielle Fähigkeiten und Kompetenzen, spezielle Tätigkeitsfelder, eine systematisierte
Ausbildung, charakteristische Mobilitätspfade sowie durch ein mehr oder minder hohes
Berufsprestige gekennzeichnet (Heidenreich 1999: 37f.).
Eine konsensfähige Definition des Begriffs Gesundheitsberufe gibt es nicht (ausführlich
Kälble & Pundt 2015, Igl 2015). Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung
im Gesundheitswesen hat Gesundheitsberufe mit Blick auf die Patientenversorgung defi-
niert, als „Berufe innerhalb des Versorgungssystems, deren Tätigkeitsinhalte unmittelbar
darauf abzielen, Krankheiten oder gesundheitliche Beeinträchtigungen zu diagnostizieren,
zu heilen, zu lindern oder zu verhüten“ (SVR 2008: 72). Nach diesem Verständnis stellt der
Begriff Gesundheitsberuf einen Oberbegriff für die im Gesundheitsversorgungssystem
tätigen, patientenorientierten Berufsgruppen dar. Im Zentrum der Gesundheitsberufe
stehen dabei die ärztlichen und anderen Heilberufe. Da ein wissenschaftlich konsensfähiger
Begriff für die im Gesundheitswesen tätigen Berufe bislang nicht zu erkennen ist, wird
im vorliegenden Beitrag der vom Sachverständigenrat verwendete Begriff der Gesund-
heitsberufe zugrunde gelegt. Der Beitrag beschränkt sich dabei aus Platzgründen auf die
Arztberufe und die personenbezogenen Dienstleistungsberufe im Bereich der Therapie.
26 Soziologie der Berufe im Gesundheitswesen 385

3 Profession, Professionalisierung, Professionalität,


professionssoziologische Theorieansätze

In der deutschen Soziologie werden Berufe und Professionen sowie Fragen der Professi-
onalisierung und des professionellen Handelns bzw. der Professionalität vor allem unter
dem Etikett der Berufs- und Professionssoziologie untersucht – aktuell zunehmend auch
mit Blick auf die sich verändernden Berufe des Gesundheitswesens (Bollinger et al. 2005,
Pundt 2006, Borgetto & Kälble 2007, Estermann et al. 2013, Pundt & Kälble 2015).
Der professionssoziologischen Theoriebildung zufolge gelten Professionen als eine
besondere Art von Berufen, die sich durch bestimmte Merkmale von allen anderen Be-
rufen unterscheiden. Was sie von Berufen unterscheidet und welches ihre konstitutiven
Merkmale sind, ist kontrovers und wird in den verschiedenen Varianten der Professi-
onstheorie mit je eigenem Fokus bestimmt (Pfadenhauer & Sander 2010, Kurtz 2008).
Mit dem Begriff Profession werden historisch begründete, relativ autonome und wissen-
schaftlich fundierte Expertenberufe im Dienstleistungsbereich bezeichnet, die in einem
gesellschaftlich relevanten Problembereich besondere Leistungen für die Gesellschaft und
ihre jeweilige Klientel erbringen. Sie zeichnen sich durch Macht und Einfluss sowie durch
privilegierte Qualifikations- und Erwerbschancen aus. Professionen kennzeichnet zudem
ein weitgehendes Monopol auf einen bestimmten Tätigkeits- und Wissensbereich, das von
den berufsständischen Organisationen im Zusammenspiel mit dem Staat gegen konkur-
rierende Berufe durchgesetzt wird (soziale Schließung) (vgl. Kälble 2005). Die Kontrolle
des eigenen Wissens und die Zuerkennung von beruflicher Autonomie und Zuständigkeit
sind entscheidende Kriterien für einen erfolgreich durchprofessionalisierten Beruf (vgl.
Larson 1977, Abbott 1988).
Etablierte Professionen sind jedoch, wie insbesondere Schütze (1996) und Abbott (1988)
herausgearbeitet haben, keine zeitunabhängigen, unveränderlichen Größen oder starre
Formationen, sondern wandelbare Phänomene, die sich unter bestimmten gesellschaft-
lich-historischen Bedingungen und in der Auseinandersetzung unterschiedlicher Akteure
gebildet und entwickelt haben. Sie sind durch Veränderungen in den Kontextbedingungen
der jeweiligen Gesellschaft beeinflussbar (Kälble 2014, Unschuld 2014, 2015), d. h. sie ha-
ben immer wieder Probleme der Anpassung an die gesellschaftlichen Veränderungen zu
bewältigen und können dabei auch an Einfluss, Unabhängigkeit und Bedeutung verlieren
(Deprofessionalisierung). Die weitergehende Frage, „ob Professionen ein historisches
Auslaufmodell sind oder geradezu ein strukturelles Erfordernis für moderne und sich
reflexiv modernisierende Gesellschaften darstellen“, ist anhaltend umstritten (vgl. Helsper
& Tippelt 2011: 269ff.).
Mit dem Begriff Professionalisierung wird der vielschichtige Prozess der Weiterent-
wicklung eines Berufes oder einer Berufsgruppe in Richtung Profession bezeichnet. Zum
Teil wird der Begriff auch so verstanden, dass er neben dem Weg auch ein bestimmtes
Ziel umfasst: die Professionsbildung. An diesem sozialen Prozess sind unterschiedliche
Akteure (z. B. Vertreter der Berufe und deren Verbände, staatliche Entscheidungsträger)
mit jeweils unterschiedlichen Interessen beteiligt. In der skizzierten Begriffsbestimmung
386 Karl Kälble und Bernhard Borgetto

von Professionalisierung bleibt die Ebene des beruflichen Handelns weitgehend ausge-
blendet. Dort setzen die Vertreter von handlungstheoretisch orientierten Professionali-
sierungstheorien an. In diesen Theorien, die insbesondere auf die Struktur und die Logik
des professionellen Handelns fokussieren, meint Professionalisierung die Herausbildung
und Zuerkennung einer besonderen Handlungskompetenz (Professionalität), die von der
Struktur der professionellen Handlung erfordert wird. Sie wurde in systemtheoretischen
(Stichweh 1996), strukturtheoretischen (Oevermann 1996) und interaktionistischen (Schüt-
ze 1996) Zugängen expliziert (siehe dazu auch Bittlingmayer in diesem Band). Mit dem
Begriff der Professionalität kann ein Zugang zum beruflichen Handeln, zur Wissensbasis
des Handelns und zur Qualität der personenbezogenen Dienstleistung hergestellt werden.
Professionalisierung kann also zum einen verstanden werden als ein Prozess, in dem
Professionalität angestrebt und herausgebildet wird, zum andern als ein Prozess, in dem
sich ein Beruf in Richtung auf eine Profession entwickelt und durchsetzt (im Sinne einer
kollektiv angelegten Professionsbildung). Professionalisierung kann folglich sowohl im
Hinblick auf die Berufsentwicklung und institutionelle Organisation eines Berufes als
auch im Hinblick auf Professionalität untersucht werden.
Professionalisierung, Professionalität und Professionen werden in der Professionssozio-
logie aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven betrachtet. Eine herausgehobene
oder gar konsensfähige Theorieposition, die den Gegenstandsbereich Beruf oder Profession
in der modernen Gesellschaft in all seinen Facetten auszuleuchten vermag, ist derzeit
jedoch nicht zu erkennen. Unterschieden werden können der weitgehend „theoriefreie“
Merkmalsansatz, der strukturfunktionalistische, der symbolisch-interaktionistische, der
strukturtheoretische, der machttheoretische und der systemtheoretische Professionsan-
satz, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Herausbildung von Professionen und/oder
des professionellen Handelns betonen (Pfadenhauer 2003, Kurtz 2008, Pfadenhauer &
Sander 2010).
Der in der Professionssoziologie heute als überholt geltende, vielen berufspolitischen
Debatten und empirischen Analysen aber weiterhin als Orientierung und Maßstab dienende
merkmalstheoretische Ansatz, sucht Professionen über äußere Merkmale zu bestimmen
und von Berufen abzugrenzen. Als Schnittmenge hat sich dabei der Rekurs auf folgende
Kennzeichen herauskristallisiert: das berufsbezogene, mithin „professionelle“, z. T. als
„theoretisches“ spezifizierte Wissen, die eindeutige, meist formalrechtliche Definition des
Tätigkeitsfeldes im Verbund mit einer Monopolisierung dieses Handlungsfeldes auf Basis
dieses Wissens, die Herausbildung von Berufsverbänden zur Selbstverwaltung der Profes-
sion, ihrer typischen Wissensbestände und Praktiken der Berufsausübung sowie eine teils
altruistisch verstandene Gemeinwohlorientierung (Pfadenhauer & Sander 2010: 362). Im
„klassischen“, auf Parsons zurückgehenden, lange Zeit dominierenden strukturfunktio-
nalistischen Professionsmodell, das Professionen als Ausdruck der Rationalitätssteigerung
in der Bewältigung der Probleme des sozialen Lebens begreift, steht die Deskription der
gesellschaftlichen Funktion von Professionen im Zentrum der Analyse. Die Vorstellung ist,
dass Professionen zentrale gesellschaftliche Aufgaben übernehmen und dafür bestimmte
Rechte erhalten und sich bestimmte Pflichten auferlegen müssen. Die daran anknüpfende
26 Soziologie der Berufe im Gesundheitswesen 387

„revidierte (strukturtheoretische) Professionalisierungstheorie“ von Oevermann rückt mit


dem Konzept der „stellvertretenden Deutung“ die Strukturlogik professionellen Handelns
in den Vordergrund (Oevermann 1996). Der systemtheoretische Ansatz professionalisierter
Funktionssysteme erklärt Professionen kritisch als eine vormoderne Struktur bzw. als ein
„Phänomen des Übergangs von der ständischen Gesellschaft des alten Europa zur funktional
differenzierten Gesellschaft der Moderne“ und sieht vor allem darin ihre gesellschafts-
geschichtliche Bedeutung (Stichweh 1996: 50). Hinzu kommen zwei Theorieansätze, die
stärker kollektive und individuelle „Interessenlagen“ zum Ausgangspunkt nehmen: Das
interaktionistische Professionsmodell mit seinen zentralen Kategorien Lizenz und Mandat,
das primär professionelle Handlungsprobleme und -paradoxien fokussiert (Schütze 1996),
und der Interessen und Macht thematisierende „power-approach“ (Larson 1977), der die
historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen berücksichtigt und auch der aktiven
Rolle von Berufen Rechnung trägt, die in Prozessen der Professionsbildung und -etablie-
rung kollektive und individuelle Eigeninteressen verfolgen und politisch durchzusetzen
suchen (vgl. Pfadenhauer 2003: 31ff.).
Tendenziell steht in neueren Professionalisierungskonzepten nicht mehr die Frage im
Vordergrund, welchen Berufsgruppen auf Grund welcher Merkmale der Professionsstatus
zuzuerkennen oder abzusprechen ist, sondern Wandlungsprozesse im Gefüge der Berufe
und Professionen sowie Prozesse der Professionalisierung und die sie ermöglichenden
Kontextbedingungen (Borgetto & Kälble 2007: 149). Dabei wird Professionalisierung als
ein fortlaufender Prozess verstanden, in dessen Verlauf es sowohl zu Professionalisie-
rungsfortschritten als auch zu Deprofessionalisierungstendenzen kommen kann (Abbott
1988: 16f., Unschuld 2015). In der deutschsprachigen Professionssoziologie bestimmen der
von Stichweh vertretene Ansatz professionalisierter Funktionssysteme (er beinhaltet auch
eine handlungsbezogene Dimension), die auf das professionelle Handeln fokussierende
strukturtheoretische Professionalisierungstheorie von Oevermann (siehe auch Streckeisen
2015) und der interaktionistische Ansatz von Schütze, in dem Paradoxien professionellen
Handelns im Vordergrund stehen, weitgehend den professionssoziologischen Diskurs.

4 Zur Situation der ärztlichen Profession

Der Arztberuf ist seit langem sowohl Gegenstand soziologischer Berufs- und Professi-
onsforschung (vgl. z. B. Freidson 1979) als auch medizin- bzw. gesundheitssoziologischer
Untersuchungen (vgl. z. B. Siegrist 2012). Das Spektrum der anderen personenbezogenen
Gesundheitsberufe ist demgegenüber lange auf ein deutlich geringeres Interesse gestoßen
(Döhler 1997: 16) und erst ab den 1990er Jahren verstärkt zum Gegenstand soziologischer
Professionalisierungsforschung geworden (siehe z. B. Bollinger et al. 2005, Pundt 2006,
Borgetto & Kälble 2007, Estermann et al. 2013, Pundt & Kälble 2015).
Bezogen auf die ärztliche Profession spricht Siegrist zufolge heute vieles dafür, dass der
„Prozess der Professionalisierung der Ärzteschaft in den Jahrzehnten nach dem Zweiten
Weltkrieg in den westlichen Industrieländern, so auch in Deutschland, einen Höhepunkt
388 Karl Kälble und Bernhard Borgetto

erreicht hat und dass sich in der jüngeren Vergangenheit Anzeichen einer Entwicklung
mehren, die von manchen als Deprofessionalisierung, von anderen als Anpassung an ver-
änderte Rahmenbedingungen ärztlichen Handelns betrachtet werden“ (Siegrist 2012: 1100,
siehe auch Unschuld 2014, 2015, Bollinger & Gerlach 2015). Insbesondere die veränderten
gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, staatliche Regu-
lierungen zur Kostensenkung und Qualitätssicherung, damit verbundene „professionsex-
terne“ ökonomische Anforderungen der Gesundheitspolitik an die medizinische Profession
(vgl. Kälble 2014), die in § 63 Abs. 3c SGB V perspektivisch eingeräumte Möglichkeit,
Behandlungstätigkeiten, die bislang ausschließlich Ärzten vorbehalten waren, künftig im
Rahmen von Modellprojekten probeweise auf ausgebildete Kranken- und Altenpflegekräfte
zu übertragen, die Figur des vor allem per Internet „aufgeklärten“ bzw. „mündigen“ Pa-
tienten, die mit den Gutachten des Sachverständigenrates beförderte Diskussion um eine
Neuaufteilung der Tätigkeiten der Gesundheitsversorgung sowie die Forderungen und
Bemühungen der (in Teilen) akademisierten Gesundheitsberufe nach mehr beruflicher
Autonomie (Kälble 2013, Borgetto 2013) stellen die ärztliche Vorrangstellung im Sinne
einer Leitprofession im deutschen Gesundheitssystem heute zunehmend in Frage (Kälble
2015). Dies wird von der Ärzteschaft dahingehend wahrgenommen, dass „nichtärztliche
Organisationen, Gremien oder Personen derzeit viele Versuche unternehmen, die ärztliche
Stellung und Verantwortung im Gesundheitswesen zu relativieren, die ärztliche Verant-
wortung aufzuteilen und die ärztliche Tätigkeit neu zu definieren. Der Deutsche Ärztetag
lehnt solche Tendenzen ab“ (Bundesärztekammer [BÄK] 2008: 29). Unter der Bedingung,
dass der Arztvorbehalt aufrechterhalten wird, zeigt sich die Bundesärztekammer zwar
offen für Delegationsmodelle, nicht jedoch für „Substitutionsmodelle“, die kategorisch
abgelehnt werden (BÄK 2008: 24ff.).
Die veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen sind, wie
Siegrist (2012) und auch andere betonen, ein Faktor, der Ärzte mit neuen Herausforderungen
und Erwartungen konfrontiert, die sich einschränkend auf die ärztliche Handlungsauto-
nomie auswirken. Die Definition dessen, was medizinisch notwendig und zweckmäßig
ist, liegt dem Sozialgesetzbuch (SGB V) zufolge weitgehend im Ermessen der ärztlichen
Profession. Bis Ende der 1970er Jahre war es aus Sicht des Arztes ausreichend, medizinische
Maßnahmen ohne engeren Bezug zur Ökonomie bzw. volkswirtschaftlichen Finanzier-
barkeit der gesundheitlichen Versorgung zu bewerten (Kälble 2005). Heute werden medi-
zinische Leistungen vermehrt auch unter den ökonomischen Kriterien Wirtschaftlichkeit
und Effizienz betrachtet. Die Ärzteschaft gerät dabei zunehmend in ein Spannungsfeld
zwischen immer besseren diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten einerseits
und begrenzten Ressourcen der Finanzierung andererseits. Dies schränkt die autonome
Entscheidungsbefugnis der Ärzteschaft über die von ihr zu leistenden Entscheidungen und
Tätigkeiten und den patientenorientierten beruflichen Handlungsspielraum zunehmend
ein (Borgetto 2006, Kälble 2005, 2014, Unschuld 2014, 2015). Auswirkungen sind u. a.
eine zunehmende Häufigkeit von Entscheidungssituationen, in denen die als notwendig
und wünschenswert erachteten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und
26 Soziologie der Berufe im Gesundheitswesen 389

die externen wirtschaftlichen Vorgaben in einen Konflikt geraten (Borgetto 2006, Kälble
2005, 2014, Siegrist 2012).
Als Folge sind in der medizinischen Profession Konflikte zwischen medizinischer
Autonomie und ökonomischer Orientierung ebenso vorprogrammiert wie Konflikte zwi-
schen Medizin und Ökonomie hinsichtlich der Interpretations- und Definitionsmacht im
Gesundheitswesen. Entsprechend verstärkt sich in der Medizin die Kritik an der zuneh-
menden ökonomischen Rationalität, die andere Rationalitäten wie Medizin und Ethik in
den Hintergrund zu drängen scheint. So konstatiert z. B. Nagel (2009) eine Überschattung
des Arzt-Patienten-Verhältnisses durch primär ökonomisch ausgerichtete gesundheitspoli-
tische Vorgaben, bei der das traditionelle ärztliche Prinzip der Zuwendung immer häufiger
mit dem ökonomischen Prinzip der Zuteilung zu kollidieren scheint. Es ist zu erwarten,
dass sich der skizzierte Zielkonflikt zwischen humanitärer Ausrichtung, medizinischer
Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit des Versorgungssystems weiter verschärfen
wird, wenn es nicht gelingt, einen Ausgleich zwischen den medizinischen Möglichkeiten
ihrer Finanzierbarkeit sowie Qualität herzustellen. Ob diese Entwicklungen in der Ten-
denz zu einer Deprofessionalisierung der ärztlichen Profession beitragen (Unschuld 2014,
2015) ist umstritten (Siegrist 2012). Festgehalten werden kann, dass der Ärztestand unter
Druck geraten ist und in einem Spannungsfeld von Re- und Deprofessionalisierung steht
(Borgetto 2006, Kälble 2014).

5 Professionalisierungsperspektiven der therapeutischen


Gesundheitsberufe im Kontext ihrer Akademisierung

Vor ca. 25 Jahren hat in Deutschland eine bis heute anhaltende Akademisierung der Ge-
sundheitsfachberufe eingesetzt. Im Gefolge der Akademisierung der Pflege (dazu Schaeffer
& Ewers 2014) werden seit mehr als einem Jahrzehnt Bachelor- und (in geringerer Zahl)
Master-Studiengänge für therapeutische Gesundheitsfachberufe im Bereich der Physio-,
Ergotherapie und Logopädie eingerichtet. Damit haben auch diese Therapieberufe den Weg
in Richtung Akademisierung eingeschlagen (Borgetto 2015). Das dabei verfolgte Ziel ist die
Professionalisierung der Berufe (Bollinger et al. 2005, Borgetto & Kälble 2007, Pundt 2006,
Borgetto & Siegel 2009, Kälble 2008a, 2008b, Matzick 2008, Schaeffer 2012). Die Entstehung
der verschiedenen Studiengänge für Gesundheitsfachberufe verdankt sich dabei zu einem
Großteil den Innovationschancen, die sich durch den Bologna-Prozess im hochschulischen
Bildungssystem ergeben haben und weniger der Einsicht, dass die Akademisierung der
therapeutischen Gesundheitsberufe einen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung von
Menschen mit Erkrankungen und Behinderungen leistet bzw. leisten kann.
In den überwiegend auf „Anrechnungsmodellen“ basierenden Bachelor-Studien-
gängen der Therapieberufe (vgl. Kälble 2013) werden die in der berufsfachschulischen
Ausbildung erworbenen Handlungskompetenzen vertieft und durch wissenschaftliche
Kompetenzen ergänzt. Übergreifendes Ausbildungsziel dieser Studiengänge, die zumeist
ein patientenorientiertes Qualifikationsziel verfolgen, ist der „reflektierte Praktiker“. Die
390 Karl Kälble und Bernhard Borgetto

vorwiegend an (Fach-)Hochschulen angesiedelten Studiengänge orientieren sich an der


„Bolognastruktur“. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Intentionen, der vermittelten
Inhalte, der Studienstruktur, der Dauer, der Qualifikationsziele und auf der Bache-
lor-Ebene, infolge der Anrechnung außerhochschulisch erworbener Kompetenzen, auch
in den akademisch vermittelten Studienanteilen. Das von den Gesundheitsfachberufen
derzeit favorisierte „primärqualifizierende“ Studienmodell ermöglicht inzwischen auch
ein Studium, in dem Hochschulen in Kooperation mit Praxiseinrichtungen die durch die
Berufsgesetze vorgeschriebene staatliche Prüfung zur Erlangung der Berufsbezeichnung
in das Studium integrieren. Damit wird die Berufsbefähigung erstmals an Hochschulen
und in Verantwortung der Hochschulen erworben. Erste Modellstudiengänge laufen seit
dem Wintersemester 2010/2011 an der neu gegründeten Hochschule für Gesundheit in
Bochum und inzwischen auch an weiteren Hochschulen. Allerdings haben die Modell-
studiengänge noch immer mit einer schwierigen Rechtslage zu kämpfen, weil sie nicht
nur wissenschaftlichen Ausbildungskriterien, sondern auch den Berufsgesetzen bzw. den
darauf aufbauenden Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen folgen müssen. In diesen
sind verpflichtend zu absolvierende Praxiszeiten festgeschrieben, die es zu berücksichtigen
gilt. Von dieser einschränkenden Besonderheit abgesehen sind die primärqualifizierenden
Modellstudiengänge durch die wissenschaftliche Sozialisation an der Hochschule und die
Dauer des Studiums annähernd vergleichbar mit anderen beruflichen Erstqualifizierungen
auf der Bachelor-Ebene (vgl. Kälble 2013).
Grundsätzlich sind für die Weiterentwicklung der therapeutischen Gesundheitsberufe
auch der Auf- und Ausbau einer qualitativ ausgewiesenen Forschung sowie Wege des
„Durchstiegs“ in eine Promotion unabdingbar. Die Arbeitsgruppe Gesundheitsfachberufe
des Gesundheitsforschungsrates hat dazu 2012 ein Konzeptpapier veröffentlicht, in dem
der Forschungsbedarf für die jeweiligen Gesundheitsberufe spezifiziert wird und die noch
unzureichenden Bedingungen für eine Forschungsentwicklung beschrieben werden. Erfor-
derlich sind ein ausreichendes Angebot an Masterprogrammen, der Auf- und Ausbau einer
leistungsfähigen Forschungsinfrastruktur sowie die Etablierung von stabilen Pfaden einer
wissenschaftlichen Nachwuchsförderung. Als notwendig erachtet wird auch eine stärkere
Kooperation mit Universitäten und Medizinischen Fakultäten bezogen auf den Aufbau
von wissenschaftlichen Studiengängen und eine breitere Verankerung von Wissenschaft
und Forschung im Sinne der Gesundheitsberufe, die bisher nur vereinzelt realisiert werden
konnte (Arbeitsgruppe Gesundheitsfachberufe 2012).
Zwar liegt nach Ansicht der „Arbeitsgruppe Gesundheitsfachberufe“ (2012: 39) für die
Wirksamkeit therapeutischer Interventionen unter den gegebenen Bedingungen und für
den jeweiligen Anwendungsbereich vielfach keine ausreichende Evidenz vor. Allerdings
steht dem beklagten Mangel an für die Therapien instruktiver Evidenz eine Fülle an wis-
senschaftlichen Studien gegenüber: Bereits 2007 wurde in einer therapieübergreifenden
Recherche allein in PubMed die Zahl von 16.488 Studien ermittelt, davon 15.034 für die
Physiotherapie, 854 für die Ergotherapie und 600 für die Logopädie (Borgetto et al. 2007).
Dabei sind klinische Studien am häufigsten, gefolgt von Einzelfallstudien und randomi-
sierten Studien. Metaanalysen existieren in deutlich geringerer Zahl. Der aktuelle Umfang
26 Soziologie der Berufe im Gesundheitswesen 391

dürfte angesichts der internationalen Forschungsaktivitäten deutlich darüber liegen – zu-


mal, wenn weitere einschlägige Datenbanken in die Recherche einbezogen würden (z. B.
CINHAL, PEDro, Cochrane Library).
Die Einrichtung und der quantitative und qualitative Ausbau von Studiengängen an
Hochschulen gelten in den Therapieberufen (ebenso wie in der Pflege) als ein wichtiger
Meilenstein in Richtung Professionalisierung. Professionalisierungstheoretisch betrachtet
ist die Akademisierung zwar eine notwendige, keinesfalls aber hinreichende Voraussetzung
für ein berufliches Professionalisierungsprojekt, da im Falle der Therapieberufe bspw.
die Autonomie beruflichen Handelns und eindeutige Zuständigkeiten nicht oder nur
eingeschränkt gegeben sind (vgl. Krampe 2015, Kälble 2005). Zudem mangelt es derzeit
noch immer an fachlich einschlägig qualifizierten AkademikerInnen, die zugleich auch
die Einstellungsvoraussetzungen von Hochschullehrern erfüllen (Promotion). Auch eine
universitäre Anbindung, die insbesondere für den Aufbau von Wissenschaft sowie einer
einschlägigen Grundlagenforschung relevant ist, ist in den therapeutischen Gesundheits-
berufen bislang nicht gegeben.

6 Professionelles Handeln (mit Blick auf die Therapieberufe)

Trotz der Entwicklung professionssoziologischer Ansätze zur Durchdringung der Struktur


professionellen Handelns, erscheinen diese im Hinblick auf die ärztliche und gesundheits-
fachberufliche Therapie noch immer unterkomplex, insbesondere, wenn man dem Anspruch
von Oevermann folgt, wenn er schreibt: „Das praktische professionalisierte Handeln ist
Sache einer Kunstlehre und die Professionalisierungstheorie ist bestenfalls eine gültige
Rekonstruktion des in der Kunstlehre eingeübten praktischen Handelns und eine gültige
theoretische Begründung dieser Kunst- oder Handlungslehre“ (Overmann 1990: 15).
Handlungstheoretische Professionalisierungsansätze gehen von Handlungsproblemen
aus. Die in Deutschland prominente strukturtheoretische Theorie professionalisierten
Handelns von Oevermann (1996) schließt an die klassische funktionalistische Professions-
theorie an und setzt deren wertintegrative und gemeinwohlorientierte Bestimmung voraus.
Oevermann versteht professionalisierte Dienstleistungen und professionelles Handeln als
Form der „stellvertretenden Krisenbewältigung“ durch wissenschaftliche Expertise. Dabei
verbinden sich wissenschaftliches Wissen und Fallverstehen im Sinne der hermeneutischen
Reflexion der latenten Sinnstruktur von Schilderungen des Patienten. Grundlage der stellver-
tretenden Krisenbewältigung ist nach Oevermann ein Arbeitsbündnis, das ermöglicht wird
sowohl durch spezifische, rollenförmige Interaktionselemente als auch durch unspezifische,
sozial diffuse Elemente. Professionelle deuten für den Klienten ein Problem, das dieser
selbst nicht lösen kann. Das Besondere der professionellen Handlungspraxis (z. B. in der
Arzt-Patient-Beziehung) liegt für ihn dabei in widersprüchlichen Handlungsanforderungen
begründet, die sich aus der in Anspruch genommenen Wissensbasis (z. B. medizinisches
Fachwissen) und ihrer Anwendung auf den konkreten Fall ergeben (z. B. die Krankheit
392 Karl Kälble und Bernhard Borgetto

eines bestimmten Patienten). Diese beiden Dimensionen müssen vom Professionellen in


seinem Handeln in Beziehung gesetzt werden.
Professionalität, repräsentiert in der Person des Professionellen, meint also die Einheit
von Wissen und Können sowie die Fähigkeit, widersprüchliche Phänomene ausbalancie-
ren und angemessen reflektieren zu können. In der realisierten Professionalität verbinden
sich wissenschaftliche Kompetenz (Theorieverstehen) und hermeneutische Kompetenz
(Fallverstehen), aufgrund derer ein konkretes Problem verstanden und bearbeitet werden
kann. Für Oevermann ist Professionalität somit der „Ort der Vermittlung von Theorie
und Praxis“ (Oevermann 1996: 80). Die Arbeit des Professionellen besteht vor allem darin,
wissenschaftliches und fallbezogenes Wissen für die Bearbeitung eines Problems so zu
verknüpfen, dass (auch unter Bedingungen von Ungewissheit) praktische Handlungsstra-
tegien zustande kommen. Mit anderen Worten, die Verbindung von wissenschaftlichem
Wissen und Fallverstehen ist das Moment, das professionelles Handeln von anderem
Berufshandeln unterscheidet. Offen bleibt jedoch in allen Fällen, wie dieser Einbezug im
Kontext der Therapie systematisch umgesetzt werden soll bzw. kann. Gerade aus profes-
sionssoziologischer Perspektive wäre es hochinteressant, dabei die Denkstrukturen und
die Rahmenbedingungen therapeutischen Handelns zu untersuchen.
In der wissenschaftlichen Literatur der Medizin und der Ergotherapie, Logopädie und
Physiotherapie wird die Struktur des professionellen Handelns als Verbindung wissen-
schaftlichen und Fallwissens (weiter-)entwickelt (vgl. z. B.: Borgetto 2013, Feinstein 1967,
Matzick 2008, Sackett et al. 1996, Thorgaard & Jensen 2011, Tomlin & Borgetto 2011),
weitgehend ohne dass die professionssoziologische Literatur davon Kenntnis nimmt und
ihre eigenen Konzepte weiterentwickelt (Borgetto 2013, Borgetto & Siegel 2009). Eine
Ausnahme davon ist die professionssoziologische Reflexion der Evidenzbasierten Medizin
(Vogd 2002, Behrens 2003, Behrens 2010), jedoch auch, ohne allzu weit in die (Un-)Tiefen
der damit verbundenen Handlungsstrukturen einzutauchen.
Der Wissenschaftsbezug hat durch die grundlegende Arbeit von Feinstein (1967) zum
Clinical Reasoning in der Medizin seine moderne (und von professionssoziologischen
Ansätzen unabhängige) Ausprägung gefunden und ist durch die Konzeption des evidenz-
basierten Handelns (Behrens 2010, Borgetto 2013, Tomlin & Borgetto 2011, Vogd 2002)
einerseits eingeengt, andererseits weiterentwickelt worden. Aber auch die Protagonisten der
evidenzbasierten Medizin bleiben am Ende die Antwort nach dem „Wie“ schuldig, wenn
sie konstatieren, dass die besten verfügbaren Forschungsergebnisse, die klinische Erfah-
rung und die Patientenwerte und -präferenzen bei der klinischen Entscheidungsfindung
berücksichtigt werden müssen (Sackett et al. 1996). Unabhängig von der Konzeptualisierung
der evidenzbasierten Versorgung hat sich insbesondere in Deutschland ein eigenständiger
wissenschaftlicher Diskurs zu den Strategien des Clinical Reasonings entwickelt, so dass
beide Konzepte heute mehr oder weniger unverbunden neben einander stehen.
Zudem beinhaltet die Konzeption der stellvertretenden Krisenbewältigung in Verbin-
dung mit der Asymmetrie der Beziehung im Hinblick auf die wissenschaftlichen Grund-
lagen der Medizin und Therapie paternalistische Elemente, die in den letzten Jahrzehnten
vermehrt in die Kritik geraten sind. Mittlerweile wird der Patient als Ko-Produzent von
26 Soziologie der Berufe im Gesundheitswesen 393

Gesundheit betrachtet (Badura & Feuerstein 1994) und Konzeptionen wie partizipative
Entscheidungsfindung (Härter et al. 2005) und Klientenorientierung (Beyermann 2006)
gewinnen an Bedeutung (siehe auch Schaeffer & Haslbeck in diesem Band). Zudem fordern
Selbsthilfezusammenschlüsse chronisch kranker Menschen zunehmend sowohl die noch
immer in der klinischen Praxis verbreitete paternalistische Grundhaltung der Gesund-
heitsberufe als auch deren fachliche Expertise heraus (Borgetto 2006).
Die soziologische Professionstheorie hat von vielen dieser Entwicklungen bislang noch
wenig Notiz genommen, obwohl doch gerade dieser Blick von außen geeignet wäre, eine
kritisch distanzierte Reflexion der Konzepte anzubieten und gleichermaßen soziologi-
sche Theoriebildung und Empirie am Beispiel des Gesundheitssystems zu betreiben. Die
Komplexität der therapeutisch-professionellen Handlungsstruktur wird deutlich, wenn
die gängigen klinisch-therapeutischen Prozessmodelle adaptiert werden hinsichtlich der
Anforderungen, die sich aus den Konzepten Clinical Reasoning, evidenzbasierte Praxis
und der partizipativen Entscheidungsfindung ergeben. Professionssoziologisch interessant
wäre es, diese eher normativen Anforderungen vergleichend mit der empirischen Realität
zu untersuchen und dabei den Gewinn, Erhalt und/oder Verlust an Professionalität in
den Blick zu bekommen. Die folgende Darstellung bietet hierfür eine erste Referenzfolie:

1. Hilfesuchen: Ein Patient/Klient sucht professionelle Unterstützung. Hierbei handelt es


sich im System der Gesundheitsversorgung in der Regel um gesundheitlich verursachte
Einschränkungen der Teilhabe und/oder der Lebensqualität. Außer in medizinischen
Notfällen sucht der Patient initiativ Einrichtungen vor allem der ambulanten Versor-
gung auf.
2. Problemdefinition: Am Anfang des Therapieprozesses steht die (gemeinsame) Definition
des zu bearbeitenden Problems. Diese besteht aus einer Vermittlung von Wissen und
Perspektiven des Hilfesuchenden und des professionellen Helfers sowie der professio-
nellen Informationsbeschaffung durch Befundung und Diagnostik. Hierbei sind u. a.
Strategien des prognostischen, diagnostischen, interaktiven und narrativen Reasonings
von Bedeutung; ebenfalls setzt bereits hier das Konzept der Evidenzbasierung durch
die Forderung nach der Berücksichtigung prognostischer Studien und dem Einsatz
validierter Assessments an. Es handelt sich hierbei um einen tendenziell nicht abschließ-
baren Prozess, da im weiteren Verlauf der Therapie immer wieder neue Informationen
hinzukommen und sich neue gesundheitliche Zustände ergeben.
3. Zieldefinition und Therapieentscheidung: Während bei akuten Erkrankungen das Ziel
durch die Heilung in der Regel klar definierbar ist, geht es bei chronischen Erkrankungen
um die Abstimmung über erreichbare Ziele im Hinblick auf relative Gesundheit und
Teilhabe. Erreichbar bedeutet, was angesichts der Problemlage und therapeutischer
Optionen prinzipiell, aber auch was unter den gegebenen Behandlungsbedingungen
(rechtliche Vorgaben, Rahmenbedingungen der aufgesuchten Versorgungseinrichtung,
Qualifikation der Behandler, Finanzierungsmöglichkeiten von Maßnahmen, Situa-
tion und Handlungsbereitschaft der Patienten/Klienten) im konkreten Fall möglich
erscheint. Hierbei fließen u. a. prozedurales, narratives, interaktives, ethisches und
394 Karl Kälble und Bernhard Borgetto

pragmatisches Reasoning ineinander, gleichzeitig kommt das Kernstück der Anforde-


rung der Evidenzbasierung zum Tragen: der Einbezug der besten verfügbaren Evidenz
zu Behandlungsmethoden und -alternativen. Schließlich hat auch die partizipative
Entscheidungsfindung hier ihren zentralen Ort. Auch hierbei handelt es um einen
tendenziell nicht abschließbaren Prozess, da Zielvorstellungen und Therapieentschei-
dung im Therapieverlauf oftmals revidiert werden (müssen). Wird die Durchführung
einer Therapie vereinbart, so ist die konkrete Behandlungsplanung der nächste Schritt.
4. (Be-)Handlungsplanung: Aufgrund der jeweils aktuellen Arbeitshypothesen hinsichtlich
der Problemlage, der Ziele und Therapieentscheidung wird eine vorläufige individuell
angepasste Vorgehensweise abgeleitet. Auch dieser Prozess ist bis zum Therapieende im
Sinne eines gesamthaft hypothesengeleiteten Vorgehens tendenziell nicht abschließbar.
5. (Be-)Handlung: Sind Problem- und Zieldefinition, Therapieentscheidung und Be-
handlungsplanung vorläufig abgeschlossen, so wird eine Behandlungsmaßnahme, ein
Komplex von Behandlungen oder die Umsetzung einer langfristigen Behandlungsstra-
tegie begonnen. Die Behandlung selbst ist keine reine Planumsetzung, auch während
der Behandlung werden neue Informationen und Gesundheitszustände generiert, die
Gegenstand von Clinical Reasoning und klinischen Entscheidungen sind.
6. Evaluation: Nach einzelnen Behandlungs(teil)schritten oder der Behandlung insgesamt
werden Problemsicht, Ziele und der Behandlungserfolg (ggf. in einem interprofessio-
nellen Team) bewertet und dabei (idealerweise gemeinsam mit dem Patienten/Klienten)
mit der hypothetischen Fallkonstruktion und dem erwarteten Fallverlauf abgeglichen.
7. Adaption: Auf dieser Grundlage wird die weitere Vorgehensweise angepasst oder die
Behandlung (Zusammenarbeit) beendet. Patientenseitig kann dieser Prozess zu jedem
beliebigen Zeitpunkt abgebrochen werden – häufig nach Beendigung der Maßnahme
und vor der gemeinsamen Bewertung der Behandlungsergebnisse. Die Prinzipien des
Clinical Reasonings und der Evidenzbasierung spielen hier wieder eine größere Rolle.
8. Iteration: Dieser Prozess wiederholt sich je nach Problemlage, Zielen und Behandlungs-
erfolg mehrfach; er kann auch gerade bei chronischen Erkrankungen zum lebenslangen
Begleiter werden.

Der hier beschriebene idealtypische Ablauf stellt sich als eine Aufschichtung von parallel
laufenden Prozessen dar, die eine erhebliche Komplexität professionellen Handelns in der
Gesundheitsversorgung bedingt. Zudem ist der therapeutische Prozess nicht auf einen
Behandler und auch nicht auf eine Institution beschränkt, sondern vollzieht sich vielmehr
in einem berufe-, organisationen- und sektorenübergreifenden Prozess.
Ob und inwieweit sie umgesetzt werden können, hängt in großem Maß von den Rahmen-
bedingungen des professionellen Handelns ab. Deren Analyse ist wiederum ein Kernstück
der Professionssoziologie. Gerade unter der Perspektive der Professionalisierung im Sinne
der Berufsentwicklung sind vor allem die Handlungsrestriktionen sich professionalisieren-
der Berufe von eminenter Bedeutung. Dass diese bislang kaum in den Blick kamen, mag
dem Umstand geschuldet sein, dass sich die Professionssoziologie im Gesundheitssystem
vorrangig mit der Ärzteschaft befasst – einer Berufsgruppe die als Musterbeispiel für
26 Soziologie der Berufe im Gesundheitswesen 395

Professionen gilt und über ein hohes Maß an Handlungsautonomie verfügt. Sie sind in der
Lage, Inhalt, Qualität und Quantität der von ihnen geleisteten Arbeit weitgehend selbst
zu bestimmen (Freidson 1979, Kälble 2005, Klemperer 2006). Von besonderer Bedeutung
sind dabei das weitgehend monopolartige Recht zur Diagnosestellung, zu operativen
Eingriffen sowie zur Verordnung von Heilmaßnahmen, insbesondere von Medikamenten
und Heilmitteln (Siegrist 1995: 237f.). Für die Therapieberufe bedeutete die Kontrolle der
Ärzte bislang, dass Berufsangehörige nur auf eine ärztliche Verordnung hin tätig werden
dürfen, durch die in der Regel die Diagnose, die Therapieform und deren Häufigkeit und
Frequenz festgelegt wird (Borgetto et al. 2007).
Unter der Perspektive der Professionalisierung sind die bei den therapeutischen Ge-
sundheitsfachberufen sich abzeichnenden Veränderungen hoch interessant (Borgetto 2013).
Mit dem Pflegeweiterentwicklungsgesetz von 2008 wurde beschlossen, dass die Physiothe-
rapieverbände mit Krankenkassen Modellvorhaben nach § 63 Abs. 3b SGB V vereinbaren
können, in denen Ärzte zwar weiterhin die Indikation zur Physiotherapie stellen, in de-
nen Physiotherapeuten aber selbständig die Auswahl, Dauer und Frequenz der Therapie
bestimmen. Zudem hat sich eine Diskussion um die Unabhängigkeit von der ärztlichen
Verordnung entwickelt, die sich um die Begriffe Direktzugang/Direct Access (DA) bzw.
First-ContactPractitioner (FCP) rankt. Der DA bedeutet, dass Patienten die Möglichkeit
haben, selbständig zu entscheiden, ob sie direkt – also ohne vorherige Konsultation eines
Arztes – eine Therapie-Praxis aufsuchen, um sich behandeln zu lassen. Der Status des
FCP erlaubt es Therapeuten, Patienten ohne eine zuvor erfolgte ärztliche Überweisung
bzw. Verordnung zu untersuchen und zu behandeln sowie eine Prognose über den Verlauf
der Erkrankung aufzustellen. Insbesondere die Berufsverbände der Physiotherapeuten
fordern den Direktzugang (Brasch & Räbiger 2011), aber auch die Ergotherapeuten und
Logopäden beginnen sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Der Deutsche Ärztetag lehnt
hingegen den Direktzugang von Physiotherapeuten und anderen Heilmittelerbringenden
aus Gründen der Sicherheit von Patienten wie auch die Gerichtsurteile zur Ausübung der
Heilkunde durch Physiotherapeuten nachdrücklich ab (BÄK 2009). Das Hauptargument
der Ärzteschaft liegt in einer fehlenden umfassenden differentialdiagnostischen Kompe-
tenz, einschließlich diagnostisch-therapeutischer Methodenauswahl.
In begrenztem Maß ist der Direktzugang zur Physiotherapie bereits Realität. 2006
haben sich Physiotherapeuten in Rheinland-Pfalz vor Gericht eine auf die Physiotherapie
begrenzte Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde erstritten. Gerichtsurteile in weiteren
rechtlichen Auseinandersetzungen bestätigen die Auffassung, dass Physiotherapeuten –
und in Analogie auch Ergotherapeuten und Logopäden – nicht grundsätzlich eine ärztliche
Verordnung für ihre Tätigkeit benötigen. Vorläufig ist diese Regelung aber nur für den
Bereich der „Selbstzahlerleistungen“ und der privaten Krankenversicherung von praktischer
Relevanz. Aus dieser Entwicklung ergibt sich für die Therapieberufe zwangsläufig die kont-
rovers diskutierte Frage, ob die Berufsfachschulausbildung die für den Erstkontakt nötigen
Kompetenzen vermittelt bzw. vermitteln kann (Lüdtke 2006) und was die Akademisierung
der Therapieberufe zur Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen beitragen kann.
396 Karl Kälble und Bernhard Borgetto

7 Schlussfolgerungen und Perspektiven

Das bislang relativ fest gefügte Rollenspektrum der personenbezogenen Gesundheitsberufe


ist unter dem Druck gesellschaftlicher Entwicklungen in Bewegung geraten, wobei sowohl
Professionalisierungs- als auch De- und Reprofessionalisierungstendenzen erkennbar sind.
Die Ärzteschaft steht in einem Spannungsfeld von De- und Reprofessionalisierung und ist
im Hinblick auf die Autonomie-, Akademisierungs- und Professionalisierungsbestrebungen
und -erfolge der Psychotherapeuten, der Pflege, der ökonomischen Berufsgruppen, der
therapeutischen Gesundheitsfachberufe und nicht zuletzt der Patienten unter Rechtferti-
gungsdruck geraten bzw. in die Defensive gedrängt worden (Borgetto 2006, Kälble 2014,
2015). Die Frage, ob die professionelle Dominanz der Ärzteschaft nur an den Rändern
ausfranst, oder ob der Beginn eines tiefer gehenden Strukturwandels im Rollengefüge der
Gesundheitsberufe eingesetzt hat, kann derzeit nicht abschließend entschieden werden.
Von Bedeutung für die Praxis der Gesundheitsberufe und gleichermaßen für die profes-
sionssoziologische Theoriebildung wäre eine vertiefte Analyse der Handlungsstrukturen
dieser Berufe, sowohl durch Reflexion der bereits vorliegenden Selbstbeschreibungen in
der Literatur als auch vermehrt durch neue, eigene empirische Analysen.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Das Rollengefüge der personenbezogenen Dienstleistungsberufe im deutschen Ge-
sundheitssystem gerät unter dem Anpassungsdruck gesellschaftlicher Entwicklungen
zunehmend in Bewegung.
▶ Die professionelle Dominanz der Ärzteschaft steht vor Herausforderungen, da andere
Berufsgruppen (wie die therapeutischen Gesundheitsfachberufe) erste Akademisie-
rungs- und Professionalisierungserfolge zu verzeichnen haben.
▶ Im Gesundheitswesen entstehen zunehmend Konflikte zwischen medizinischer
Autonomie und ökonomischer Orientierung hinsichtlich der Interpretations- und
Definitionsmacht im Gesundheitswesen.
▶ Der Begriff Professionalisierung hat zwei unterschiedliche Bezugspunkte: Professi-
onalisierung als Weiterentwicklung eines Berufsbildes und Professionalisierung als
Weiterentwicklung der Arbeitsweise eines Berufs.
▶ Die professionssoziologische Analyse der Handlungsstrukturen, insbesondere von
Berufsgruppen, die sich im Prozess der Akademisierung befinden, geht bislang nicht
ausreichend in die Tiefe.
26 Soziologie der Berufe im Gesundheitswesen 397

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Skizzieren Sie die unterschiedlichen Ansätze professionssoziologischer Analyse.
▶ Das deutsche Gesundheitssystem steht seit den letzten 20 Jahren unter dem Zugzwang
ökonomischen Diktats. Beschreiben Sie die Folgen für das ärztliche Handeln und
diskutieren Sie Lösungsansätze im Sinne der heutigen Gesundheitspolitik.
▶ Stellen Sie die Professionalisierungsfortschritte der therapeutischen Gesundheits-
fachberufe dar und reflektieren Sie diese mit Blick auf die ärztliche Profession.
▶ Erläutern und begründen Sie das prozesshafte Arbeiten in Therapieberufen in Bezug
auf professionelles Handeln.

Leseempfehlungen

t Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.), 2014: Bestandsaufnahme der


Ausbildung in den Gesundheitsfachberufen im europäischen Vergleich. Band 15 der
Reihe Berufsbildungsforschung. Bonn: BMBF.
Die Studie liefert erstmals belastbare Daten und Einschätzungen zur Ausbildung in den
Gesundheitsfachberufen für Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Niederlande und
Österreich und bereichert dadurch die in Deutschland geführte Diskussion über die Frage,
inwieweit die Ausbildungen in den Gesundheitsfachberufen im sekundären Bildungssektor
verbleiben und inwieweit sie in den Hochschulbereich verlagert werden sollten.

t Estermann, J., J. Page & U. Streckeisen (Hrsg.), 2013: Alte und neue Gesundheitsberufe.
Soziologische und gesundheitswissenschaftliche Beiträge zum Kongress „Gesundheits-
berufe im Wandel“, Wien, Zürich, Luzern: LIT und Orlux.
Der Tagungsband handelt von alten, sich wandelnden und neuen, in Entstehung begrif-
fenen Berufen im Krankenhauskontext, im Bereich therapeutischer Gesundheitsberufe
sowie im Bereich der Gesundheitsförderung.

t Pundt, J., K. Kälble (Hrsg.), 2015: Gesundheitsberufe und gesundheitsberufliche Bil-


dungskonzepte. Bremen: Apollon University Press.
Der Sammelband bietet eine überfällige Bestandsaufnahme der aktuellen Entwicklungen
im Feld der Berufe des Gesundheitssystems, der interprofessionellen Kooperation sowie
der Professionalisierungstheorie und -debatte.

t Unschuld P. U., 2014: Ware Gesundheit. Das Ende der klassischen Medizin (3., aktua-
lisierte und erweiterte Auflage). München: Verlag C. H. Beck.
Das Buch analysiert das System der gesundheitlichen und medizinischen Versorgung,
wobei primär die Stellung und Funktion der Ärzte untersucht wird, deren Dominanz im
Gesundheitswesen derzeit gravierenden Veränderungen unterworfen ist.
398 Karl Kälble und Bernhard Borgetto

t Wissenschaftsrat, 2012: Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das


Gesundheitswesen. Köln: Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats.
Das Gutachten begründet, warum Gesundheitsfachberufe künftig vermehrt an Hoch-
schulen ausgebildet werden sollten.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.professions-soziologie.de
Sektion Professionssoziologie, Deutsche Gesellschaft für Soziologie: Die Sektion Profes-
sionssoziologie bildet ein Diskussionsforum zur grundlegenden Verständigung über die
Möglichkeiten und Grenzen eines sozialwissenschaftlich fundierten Professionsbegriffs
sowie über die allgemeinen Strukturen und Besonderheiten professionellen Handelns
gegenüber anderen Handlungsformen.

Web http://www.soziologie.de/de/sektionen/sektionen/medizin-und-gesundheitssozio-
logie/aktuelles.html
Sektion Medizin- und Gesundheitssoziologie, Deutsche Gesellschaft für Soziologie:
Die Sektion bietet ein Forum für medizin- und gesundheitssoziologische Diskussionen
im Rahmen der Soziologie und im Austausch mit den Nachbardisziplinen Medizin,
Psychologie und Pädagogik. Ebenso angesprochen sind die unter dem Oberbegriff
„Public Health“ vereinten Forschungsbereiche wie Gesundheitsökonomie, Gesund-
heitssystemforschung und Sozialepidemiologie.

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Ein Vorschlag zur Konturierung 27
Klaus R. Schroeter
27 Soziologie der Pflege. Ein Vorschlag zur Konturierung

Überblick
▶ Was sind die Aufgaben und Gegenstandsbereiche einer Soziologie der Pflege, die sie
von der Pflegewissenschaft abgrenzt?
▶ Wie lässt sich Pflege differenzierungstheoretisch als eigenständiger Teilbereich von
Gesellschaft herleiten und begründen? Ist sie als soziales System oder soziales Feld
zu verstehen?
▶ Was kann eine Soziologie der Pflege leisten und thematisieren, das nicht bereits in
anderen „Bindestrich-Soziologien“ behandelt wird?

1 Einleitung

Über eine Soziologie der Pflege zu schreiben, ist in mehrfacher Hinsicht verzwickt: Das
liegt zum einen darin begründet, dass es eine eigenständige und institutionell verankerte
„Pflege-Soziologie“ (noch) nicht gibt. Zum anderen bleibt das eigentliche proprium einer
solchen möglichen Bindestrich-Disziplin bemerkenswert unscharf und mit mancherlei
Bedeutungsüberschüssen versehen.
Die Pflege ist auf gutem Wege, sich zu akademisieren und sich mit der Pflegewissenschaft
und den ihr nahestehenden Studiengängen der Pflegepädagogik und des Pflegemanage-
ments auch hochschulisch zu verankern und zu entfalten. Ob und inwieweit sie sich dabei
als eigenständige Disziplin mit eigenen Theorien, Methoden und Paradigmen oder als
inter-, multi- oder transdisziplinäres Forschungs- und Praxisprogramm entwickelt, soll an
dieser Stelle nicht diskutiert oder entschieden werden. Die Soziologie darf jedoch für sich
reklamieren, ihren Anteil am Pflegediskurs und ihren Beitrag für die Pflegewissenschaften
geleistet zu haben. Soziologische Aspekte der Pflege werden sowohl in einigen speziellen
Soziologien, wie z. B. in der Alterns-, Familien-, Gesundheits- und Medizinsoziologie und
als spezifische Fragestellungen auch in der Arbeits-, Berufs-, und Organisationssoziologie
thematisiert sowie vor allem auch in der Sozialstrukturanalyse, in der Soziologie sozialer

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_27, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
404 Klaus R. Schroeter

Ungleichheiten und in der Soziologie der Sozialpolitik (Schroeter & Rosenthal 2005b).
Parallel dazu wird die Pflege im Kontext inter- oder transdisziplinär angelegter Wissen-
schaftsfelder vor allem in den Gesundheits-, Pflege- und Versorgungswissenschaften sowie
in der Sozialen Arbeit und in der Sozialen Gerontologie „soziologisiert“.

2 Aufgaben und Gegenstandsbereiche einer Soziologie


der Pflege

Wenn die Spezielle Soziologie ihren jeweiligen Gegenstands- und Untersuchungsbereich


mit den Methoden, Theorien und Begriffen aus der Allgemeinen Soziologie zu analysieren
und zu erklären hat, dann wäre eine Soziologie der Pflege nicht schlecht beraten, zunächst
einmal ihr Sujet – die Pflege bzw. das Pflegerische (Hoops 2013) – näher zu bestimmen.
Von der Pflege zu sprechen, heißt von etwas Imaginiertem zu sprechen, das erst dadurch
zum Gegenstand wird, indem darüber gesprochen wird. Pflege ist eine Reifikation, eine
hergestellte Sache, ein gemachtes Ding (res facere), das nur existiert, weil wir es zum Dis-
kurs machen und dadurch zum Leben erwecken.
Alltagssprachlich findet der Begriff der Pflege in den unterschiedlichsten Kontexten
Verwendung, sprichwörtlich von A bis Z, von der Autopflege bis zur Zahnpflege. Gepflegt
werden auch Beziehungen, Techniken und Traditionen, Pflege erscheint ubiquitär, sowohl
im Kontext der Hilfe, Fürsorge und Versorgung von Menschen und Tieren als auch im
Zusammenhang der Entwicklung und Bewahrung von Maßnahmen, die der Erhaltung
und Handhabbarkeit von Dingen, Prozessen und Strukturen dienen. Pflege, so lehrt
schon das Grimm‘sche Wörterbuch, bezeichnet „im allgemeinen das thun und treiben,
die übung, beschäftigung, das benehmen, die sitte und gewohnheit“ und impliziert eine
„beaufsichtigende oder fürsorgende, [körperliches oder geistiges] gedeihen und wohlbe-
finden bezweckende beschäftigung“ (GDW 1889: 1733).
Die etymologischen Ursprünge des Pflegebegriffs (mdh. phlëge bzw. pflëge, ahd. phlë-
ga, aengl. plēon) liegen im Dunkeln. Sinngemäß war damit „für etwas einstehen, sich für
etwas einsetzen“ gemeint, woraus sich dann im Weiteren die Bedeutung von „sorgen für,
betreuen, hegen“ wie auch von „sich mit etwas abgeben, betreiben, gewohnt sein“ entwi-
ckelte. In der substantivierten Form findet sich das dann zum einen in der Gepflogenheit
und Gewohnheit, aber auch in der Pflicht und zum anderen in der Pflege, im Sinne von
Sorge, Obhut und Betreuung, sowie im Begriff des Pflegers bzw. der Pflegerin, im Sinne
von Fürsorger und Fürsorgerin und Betreuer und Betreuerin, wieder (Krippner et al. 1997).
In einem engeren Verständnis bezieht sich der Pflegebegriff auf das Verhältnis von
„gesund“ und „krank“ bzw. auf die Praxis zwischen Helfenden und Hilflosen, die sich
über die gesamte Lebensspanne erstreckt. Zur Pflege gehören sowohl die „Förderung und
Erhaltung der Gesundheit sowie Verhinderung von Krankheiten“ als auch die Einbeziehung
von Einzelpersonen, Familien und Gemeinden in das Pflegewesen und die „Schaffung
von Bedingungen, die es ihnen ermöglichen, mehr Verantwortung für ihre Gesundheit
zu übernehmen“ (WHO 1990: 22).
27 Soziologie der Pflege. Ein Vorschlag zur Konturierung 405

Ein derartiges Pflegeverständnis bietet verschiedene Anknüpfungspunkte für eine


Soziologie der Pflege, die neben den individuellen Problemlagen und der entsprechenden
Person-Umwelt-Verhältnisse von pflegenden und zu pflegenden Menschen immer auch die
strukturellen Bedingungsfaktoren der Problemlagen in den Blick zu nehmen hat. Und das
hat sie unter dem Doppelaspekt des gesellschaftlichen Einflusses auf die Pflege als auch des
Einflusses der Pflege auf die Gesellschaft zu tun. Dahinter verbirgt sich nichts Geringeres
als der Versuch, die berühmte Simmel‘sche Frage „Wie ist Gesellschaft möglich?“ auf die
Pflege zu übertragen.
Aufgabe einer Soziologie der Pflege ist es, die soziale und gesellschaftliche Wirklichkeit
der Pflege in ihren wechselseitig verschränkten Praktiken, Strukturen und Deutungsmustern
zu verstehen und zu erklären und nicht die in der Pflegepraxis Tätigen handlungsleitend
anzuweisen oder Strategien zur Optimierung von Pflegeprozessen zu entwickeln. Gleichwohl
hat sie auch ihren praktischen Sinn und nach verbesserten Gestaltungsmöglichkeiten zu
fragen und die Pflegewirklichkeiten nicht nur nach empirischer Überprüfbarkeit, sondern
immer auch hinsichtlich übergeordneter Kriterien – wie z. B. nach Emanzipation und
ethischem Selbstverständnis – zu beurteilen. Insofern hat eine Soziologie der Pflege auch
die Aufgabe, durch eine Kritik am Bestehenden und durch das Aufzeigen von denkbaren
Möglichkeiten ihren Beitrag für eine „bessere Pflege“ zu leisten. Dazu benötigt sie eine von
der Pflegewissenschaft unabhängige Referenzebene, von der aus die Diskurse, Praktiken
und Strukturen in der Pflege zu beobachten und zu analysieren sind. Das erfordert nicht
nur ein Arsenal adäquater methodischer Instrumente, sondern auch eine Begriffsbildung,
die sie entweder nur aus der Allgemeinen Soziologie entnehmen oder aber selbst entfalten
und damit dann auch rückwirkend in die Allgemeine Soziologie einbinden kann.
Dass soziale Strukturen aus individuellen Handlungen entstehen und dann wieder auf
die einzelnen Handlungsakte einwirken und von den Menschen als äußere Phänomene
wahrgenommen werden, erscheint heute als soziologische Binsenweisheit. Eine derart durch
Sprache, Institutionalisierung, Legitimation und Sozialisation hergestellte Objektivation
lässt sich als „Verwirklichung im doppelten Sinne des Wortes“ fassen: als „Erfassen der
objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige Produzieren eben dieser
Wirklichkeit in einem“ (Berger & Luckmann 1969: 71). Das lässt bereits die hochgradige
Plastizität der Pflege in Gestalt ihrer Diskurse, Praktiken und Strukturen erahnen und
verweist auf die vielen Wirklichkeiten der Pflege, die immer dann durchschimmern, wenn
das komplexe Gefüge von objektivierten Strukturen, subjektiven Handlungsentwürfen
und symbolischen Ordnungsmustern der Pflege ins Visier genommen wird. So hat z. B.
Brandenburg mit dem handwerklich-technischen, dem kommunikativen, dem organisato-
rischen und dem institutionellen Aspekt vier Differenzierungsebenen vorgeschlagen (vgl.
Brandenburg & Dorschner 2003: 39ff.), die noch um den makrosoziologischen gesellschaft-
lichen Aspekt zu ergänzen wären. Damit lässt sich das soziale Feld der Pflege im Groben
in das konzentrisch ineinander geschachtelte Arrangement der personalen, interaktiven,
organisatorischen und gesellschaftlichen Ebene unterteilen (Schroeter 2004, 2006).
406 Klaus R. Schroeter

3 Pflege als soziales System oder soziales Feld?

Gesellschaften sind bekannter Weise keine statischen Gebilde, sondern unterliegen einem
ständigen Wandlungsprozess, und so befasst sich die Soziologie seit Anbeginn mit den
Fragen nach den Ursachen und Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen. Schon
Herbert Spencer wusste, dass eine wachsende Gesellschaft nicht nur eine Vermehrung und
Differenzierung, sondern auch eine wachsende Abhängigkeit ihrer Teile mit sich zieht.
Den bei ihm noch stark organizistisch gedachten Fortschritt als Wandel vom Homogenen
zum Heterogenen bezeichnen wir heute als funktionale und strukturelle Differenzierung,
als einen gesellschaftlichen Teilungsprozess in verschiedenartige aufeinander bezogene
Elemente, bei dem sich die Zahl, Vielfalt und der Vernetzungsgrad der einzelnen Elemente
erhöhen. In der Tradition und Weiterentwicklung dieser Sichtweise lassen sich heute in
einer je spezifischen differenzierungstheoretischen Perspektive spezialisierte und diffe-
renzierte soziale Kreise (Simmel), soziale Verflechtungen oder Figurationen (Elias) bzw.
soziale Felder (Bourdieu) oder soziale Systeme (Parsons, Luhmann) herleiten.
Auch die Pflege lässt sich als ein mehr oder weniger eigenständiger gesellschaftlicher
Teilbereich fassen, den man je nach theoretischer Provenienz als soziales Feld oder als
soziales System betrachten kann. Die Differenzierung der Pflege vollzieht sich über den
langen Weg von der Nächstenliebe über die mittelalterlichen Ordens- und Hospitalgemein-
schaften und über das Diakonissensystem und die vaterländischen Frauenvereine bis hin
zur Professionalisierung und Akademisierung der Pflege in der Gegenwart. Im modernen
Gesundheitssystem gilt die Pflege heute neben der Kuration und Akutmedizin, der aus
dem Kurwesen hervorgegangenen Rehabilitation, der Prävention und Gesundheitsförde-
rung und der organisierten Selbsthilfe als einer seiner fünf Funktionsbereiche (Borgetto
& Kälble 2007: 93ff.).

3.1 Pflege als soziales System

Im Anschluss und in Weiterführung der Luhmann‘schen Überlegungen zum Medizin-


system (Luhmann 1983, 1990) wird darüber diskutiert, ob die Pflege ein eigenständiges
funktional differenziertes Sozialsystem ist oder sich dazu entwickeln kann (Bauch 2005,
Hohm 2002). Dazu müsste sie als operativ geschlossenes und selbstreferenziell organisier-
tes System zum einen eine klare und nur ihr zufallende gesamtgesellschaftliche Funktion
übernehmen und zum anderen eine Leitdifferenz (binäre Codierung) aufweisen, die sich
nicht an der systemischen Umwelt orientiert, sondern sich auf sich selbst bezieht und nach
der das System seine Informationen strukturiert und ordnet. Die gesamtgesellschaftliche
Funktion der Pflege wird von Hohm (2002: 146) darin gesehen, „diejenigen Personen zu
inkludieren, deren durch Krankheit, Behinderung oder Unfall eingeschränkte Selektions-
freiheiten des Körpers strukturell mit Pflegebedürftigkeit gekoppelt sind, die zur Exklusion
der pflegebedürftigen Personen aus den primären Funktionssystemen führt“.
27 Soziologie der Pflege. Ein Vorschlag zur Konturierung 407

Vordergründig erscheint eine solche Zuschreibung in zweierlei Hinsicht als sinnhaft:


Zum einen lässt sich beobachten, wie – die lange Zeit als ein das ärztliche Handeln unter-
stützender „Heilhilfsberuf“ verstandene – Pflegearbeit allmählich aus dem langen Schatten
der Medizin herauszutreten versucht. Zum anderen verändert bzw. erweitert sich mit dem
gehäuften Vorkommen von Multimorbidität und chronisch-degenerativen Erkrankungen
zugleich auch die Pflegefunktion. Neben das bei akuten Erkrankungen auch weiterhin be-
stehende Primärziel der Krankheitsbeseitigung treten nun auch vermehrt die präventiven,
aktivierenden und rehabilitativen Pflegemaßnahmen. Im Falle chronisch-degenerativer
Erkrankungen wandelt sich die Krankheit von einer vorübergehenden zur dauerhaften
Erscheinung. Für die Pflegepraxis heißt das, die Zuständigkeiten im Pflegesystem neu zu
verteilen.
Aus einer systemtheoretischen Perspektive bedeutet das, dass zunächst einmal die
im sozialen System der Medizin zu treffende Leitdifferenz (krank/gesund) durch eine
für den Krankheitsfall neu eingezogene Zweitcodierung (heilbar/nicht heilbar) ergänzt
wird. Für die heilbaren Krankheiten wäre weiterhin die auf Heilung ausgerichtete Ku-
ration bzw. Akutmedizin zuständig, die nicht heilbaren Krankheiten fielen dann in den
Kommunikations- und Zuständigkeitsbereich des sich neu konstituierenden „sekundären
Funktionssystems“ der Pflege.
Es bleibt die Frage nach der binären Codierung und der kommunikativen Anschlussfä-
higkeit in diesem neuen System. Verschiedene Leitdifferenzen wurden vorgeschlagen (Hohm
2002: 141): pflegebedürftig/nicht pflegebedürftig, pflegefähig/pflegeunfähig oder gepflegt/
ungepflegt. Sie haben jedoch alle ihre Tücken: Die Kommunikationen über Bedürftigkeit
versus Nicht-Bedürftigkeit werden im System der Sozialen Hilfe kommuniziert (Baecker
1994, Weber & Hillebrandt 1999), die Pflegebedürftigkeit wird vom Medizinischen Dienst
der Krankenkassen (MDK) festgestellt und fällt damit in den Kommunikationsbereich
des Medizinsystems, und auch die Frage nach der Pflegefähigkeit bzw. Pflegeunfähigkeit
bleibt an „Sonderbedingungen außerhalb des Pflegesystems gekoppelt (…), also an krank
und behindert und deshalb pflegebedürftig“ (Bauch 2005: 76).
Wenn die Pflege im Begriff ist, sich als ein eigenständiges soziales System zu konstituie-
ren, so muss sie ein eigenständiges selbstreferenzielles Regelsystem aufbauen und sich von
ihren Umwelten bzw. anderen Systemen – wie z. B. der Familie, der Sozialen Hilfe oder der
Medizin – abgrenzen. Doch die Pflege tut sich noch immer schwer, sich als eigenständige
Profession von der Medizin zu lösen und solange das nicht geschieht, kann sie auch nicht
als eigenständiges System angesehen werden. Möglicherweise sind es – wie Bauch (2005:
75) wähnt – die „unsauberen Schnittstellen“ der Pflege, vor allem die Behandlungspflege
mit ihrer Nähe zur Medizin und die Grundpflege mit ihrer Nähe zum Alltagshandeln, „die
es fraglich erscheinen lassen, ob die Pflege sich zu einem autonomen ausdifferenzierten
Funktionssystem herausbilden kann“.
408 Klaus R. Schroeter

3.2 Pflege als soziales Feld

Wenn die Systemtheorie in dieser Frage nicht entscheidend weiterhelfen kann, dann lohnt
sich die gedankliche Anleihe bei einer anderen „Grand Theory“, der Bourdieu‘schen Feld-
theorie, die bei allen Differenzen auch erstaunliche Parallelen zur Systemtheorie aufweist.
Soziale Felder sind Ausdruck ausdifferenzierter gesellschaftlicher Teilbereiche, die nicht
nur besondere Akteure und eigene Spezialisten haben, sondern auch über eigene soziale
und materiale Ressourcen verfügen und vor allem nach eigenen Regeln und Logiken funk-
tionieren. Auf den ersten Blick mag solch ein soziales Feld im Sinne von Bourdieu an die
sozialen Systeme im Sinne von Luhmann erinnern, weil es ja in beiden Modellbildungen
um spezifische Sinnverständnisse und um spezifische Regeln geht. Es gibt so etwas, wie
eine Art unentziehbarer Zwang für die Akteure, einen Zwang der Selbstverständlichkeiten
und rechten Sicht der Dinge. Das ist der richtige Glaube an das Spiel. Denn soziale Felder
sind Spielfelder und Kampffelder – nicht im Sinne eines geographischen Raumes wie z. B.
ein Fußballfeld, sondern im Sinne eines sozialen Raumes als „Ensembles objektiver Kräf-
teverhältnisse“ (Bourdieu 1985: 10), auf denen die Akteure um ihre sozialen Positionen,
um Ressourcen, Macht und Kapital ringen.
Soziale Felder werden nicht wie die sozialen Systeme in der Systemtheorie als geschlos-
sene, autopoietische und selbstreferenzielle Kommunikationssysteme, sondern als offene,
wechselseitig ineinander verschränkte und in ihren Grenzen veränderbare Sozialfigura-
tionen verstanden. Zudem handelt es sich bei den sozialen Feldern zwar auch – aber eben
nicht nur – um Stätten von Sinnverhältnissen, vor allem aber um Arenen konflikthafter
Auseinandersetzungen. Soziale Felder sind „relativ autonome Mikrokosmen“ (Bourdieu
1998a: 16). Je größer die Autonomie eines Feldes, desto eher ist es in der Lage, äußere
Anforderungen und Strukturen zu brechen, sie umzugestalten und in eine eigene feldspe-
zifische Form zu bringen. Für das soziale Feld der Pflege (Schroeter 2004, 2006) bemisst
sich das zum Beispiel daran, ob und inwieweit die Pflege in der Lage ist, aus dem Schatten
der Medizin herauszutreten – oder ob und inwieweit es ihr gelingt, neoliberale Doktrinen
zu brechen (Hülsken-Giesler 2008). Auf die Institutionenebene heruntergebrochen, stellt
sich z. B. die Frage, inwieweit Pflegeeinrichtungen in der Lage sind, den grundsätzlichen
Widerspruch zwischen dem Sachziel der Bedürfnisbefriedigung der zu Pflegenden und
dem Formalziel einer zweckoptimierten Betriebsführung auszuhalten.
Das soziale Feld der Pflege bringt wie alle sozialen Felder ein „spezifisches Kapital“
hervor, das im eigenen Feld seinen ganz besonderen Wert hat „und nur unter bestimm-
ten Bedingungen in eine andere Art Kapital konvertierbar ist“ (Bourdieu 1993: 108): das
Pflegekapital. Kapital ist akkumulierte Arbeit, und Arbeit ist im physikalischen Sinne eine
von einem auf einen anderen Körper via Kraft mal Weg mechanisch übertragene Energie.
Das Pflegekapital ist demnach die Summation der individuell und kollektiv aufgewandten
Anstrengungen und Energien zur Erlangung und zur Gewährung von Pflege – im Sinne
von (Für-) Sorge, Obhut und Betreuung. Beides setzt Arbeit voraus. Das Pflegekapital er-
scheint als janusköpfig und speist sich zum einen aus den Aufwendungen und Umständen
27 Soziologie der Pflege. Ein Vorschlag zur Konturierung 409

zur Erlangung von Pflege und zum anderen aus den Aufwendungen und Umständen, die
erforderliche Pflege auch zu gewähren.
Insofern haben wir es im sozialen Feld der Pflege im Grunde genommen mit mehreren
Pflegekapitalien zu tun, um die sich hier alles dreht: Da ist zum einen eine spezifische
Form des korporalen Kapitals (Schroeter 2006), die physische und psycho-soziale Vulne-
rabilität und Fragilität der hilfe- bzw. pflegebedürftigen Menschen und zum anderen all
die ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitalien, mit denen diese Fragilitäten und
Vulnerabilitäten zu vermeiden, zu lindern, zu reduzieren, zu ertragen versucht, eben „be-
arbeitet“ werden. In stillschweigender Übereinkunft wird der Logik des Feldes gefolgt und
damit festgelegt, was innerhalb des Feldes „Kurs hat, was im betreffenden Spiel relevant
und effizient ist, was in Beziehung auf dieses Feld als spezifisches Kapital und daher als
Erklärungsfaktor der Formen von Praxis fungiert“ (Bourdieu 1987b: 194). Das steht zugleich
für das, was Bourdieu (1987a: 125) den „Urglauben“ – die doxa – eines Feldes nennt, für
das als richtig vorausgesetzte Denken im Feld der Pflege. Aus ihr speist sich die illusio des
Feldes, die von den Feldakteuren weitgehend geteilte Grundüberzeugung von der Richtig-
keit und Wichtigkeit der Pflege und ihrer Spielregeln. Sie liefert Sinnmuster und erzeugt
Handlungsstrategien von richtiger und guter Pflege. Die können durchaus differieren,
aber um den eigentlichen Gegenstand des Feldes gibt es keine Diskussion. Die illusio der
Pflege besteht in ihrer stillschweigenden Anerkennung und in der Selbstverständlichkeit
des Sich-Einlassens auf die Pflege und steht damit für die Tatsache, vom Geschehen des
Feldes erfasst und von ihm gefangen zu sein. „Was in der illusio als Selbstverständnis erlebt
wird, erscheint demjenigen, der diese Selbstverständlichkeit nicht teilt, weil er am Spiel
nicht beteiligt ist, als Illusion“ (Bourdieu 1998b: 143).
Nun gibt es im Feld der Pflege keineswegs nur ein einziges und von allen geteiltes Pfle-
geverständnis, sodass der pflegerische Blick (Schroeter 2013) zuweilen recht unterschiedlich
ausfällt. Die Pflege als Wissenschaft hat auch ihre unterschiedlichen Paradigmen, Theorien,
Konzepte und Modelle (Meleis 1999). In ihr wirken zumindest zwei Handlungslogiken:
zum einen die am naturwissenschaftlich-medizinischen Denken ausgerichteten Diskurse –
z. B. der Pflegediagnosen (Powers 1999) – „mit entsprechenden technisch-therapeutischen
Empfehlungen“ (Remmers 2000: 169) und zum anderen die am Credo der ganzheitlichen
und lebensweltorientierten Pflege orientierten Ansätze (Friesacher 2008, Scheffel 2000).
Soziale Felder lassen sich zuweilen in eine Vielzahl von Unterfeldern differenzieren, wobei
jedes Unterfeld seine eigene Logik, seine eigenen Spielräume, eigene Regeln und natürlich
auch eigene Instanzen hat, die darüber wachen, dass diese Regeln eingehalten werden. Im
sozialen Feld der Pflege sind das z. B. Subfelder der kurativen, präventiven, rehabilitati-
ven und palliativen Pflege, der stationären und ambulanten oder häuslichen Pflege, der
Selbstpflege, Laienpflege und professionellen Pflege oder – wie in der Pflegewissenschaft
oftmals unterteilt wird – der Gesundheitspflege, Pflege bei Gesundheitsproblemen und
Altenpflege (Kellnhauser et al. 2000: 92f.).
Diese Felder orientieren sich zum Teil an verschiedenen Logiken: So zielt zum Bei-
spiel die Gesundheitspflege auf die Erhaltung und Förderung von Gesundheit und auf
die Verhinderung von Krankheit. Die Pflege bei Gesundheitsproblemen zielt auf die
410 Klaus R. Schroeter

Wiedererlangung von Gesundheit oder auf Neuorientierung und Selbstständigkeitsstei-


gerung bei bleibender Krankheit oder Behinderung. Und die Logik der Altenpflege zielt
auf die Hilfestellung und Unterstützung der Alltagsbewältigung älterer Menschen und
auf die Befähigung zur angemessenen Selbst- und Laienpflege bis hin zur Ermöglichung
eines würdevollen Sterbens. Es liegt in der Logik der mehrdimensionalen Feldstruktur,
dass, sofern ein Element bzw. ein Subfeld oder eine Beziehung innerhalb dieses sozialen
Subfeldes verändert werden soll, dies auch Auswirkungen auf alle anderen Elemente oder
unter- bzw. nebengeordneten Felder haben wird. Das soziale Feld der Pflege erweist sich
damit als ein relationales Handlungsfeld und multilaterales Beziehungs- und Bedingungs-
gefüge mit verschiedenen Deutungsmustern in einem Netz verwobener Strukturen mit
wechselseitigen Abhängigkeiten.
Das soziale Feld der Pflege ist ein mehr oder weniger konzentrisch ineinander ge-
schachteltes Gebilde verschiedener Ebenen: von der individuell-personalen Ebene über
die Mikroebene der face-to-face-Interaktionen und der Organisationsebene bis hin zur
Gesellschaftsebene (Schroeter 2006: 36). Auf all diesen Ebenen erscheinen die Akteure
gewissermaßen in verschiedener Gestalt: mal als Personen im individuellen Gefüge von
Gefühlen, Eigenschaften, Einstellungen, Fähigkeiten und Handlungskompetenzen, mal als
freiwillige oder unfreiwillige Interaktionspartner, als zeitweilige oder dauerhafte Mitglieder
einer Organisation und als konkrete Rollen- und Symptomträger (z. B. als Patienten, als
chronisch Kranke, als Sterbende) und schließlich auch noch als abstrakte Funktionsträger
(z. B. als Bürger, Kunden, Klienten), als Akteure, die durch ideologische und kulturelle
Werte, durch politische und rechtliche Vorgaben oder durch ökonomische Bedingungen,
oder auch durch wissenschaftliche Kenntnisse, medizinisch-technische Fortschritte oder
pflegerische Therapien gelenkt und regiert werden.
Diese idealtypische konzentrische Anordnung der einzelnen Ebenen umschließt die
verschiedenen individuellen und kollektiven Akteure des Feldes in ihren heterogenen Funk-
tionen und Betroffenheiten: sowohl die Pflege- und Hilfsbedürftigen und ihre Angehörigen,
die sie informell und formell Unterstützenden (von den Freunden und Nachbarn über
„reguläre“ und „irreguläre“ Haushalts- und Pflegehilfen und professionell Dienstleistende,
Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichen Gesundheitsdienstberufe), bis hin
zu all denjenigen, die auch jenseits der unmittelbaren Pflege- und Beziehungsarbeit ihren
Beitrag zum Pflegefeld leisten (von den gesundheitssichernden Berufen der Gesundheitsin-
genieure und -techniker über die diversen Interessenvertretungen bis hin zu den Gesund-
heits- und Pflegeökonomen, -politikern, -journalisten und -wissenschaftlern). Insofern ist
das soziale Feld der Pflege ein „Vielpersonenspiel auf mehreren Ebenen“ (Elias 1991: 75).
Die zunehmende Komplexität des Feldes, die steigende Anzahl involvierter (individueller
und kollektiver) Akteure lässt das Spiel immer undurchsichtiger und für die Einzelnen
auch immer unkontrollierbarer erscheinen. Die Akteure bleiben wechselseitig voneinander
abhängig, sind aber nicht mehr zwangsläufig direkt miteinander verbunden. Funktionäre,
Repräsentanten und Stellvertreter mischen sich ein und schaffen gewissermaßen eine neue
Gruppe von Akteuren „im zweiten Stock“, die untereinander sowohl direkt als auch indi-
rekt mit den Akteuren und Spielern des ersten Stockwerks (den unmittelbar Betroffenen)
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in Beziehung treten, sodass „[d]ie beiden Stockwerke (…) voneinander ab(hängen) und
(…) – entsprechend dem Grad ihrer Abhängigkeit voneinander – ein verschiedenes Maß
an gegenseitigen Machtchancen (haben)“ (Elias 1991: 89).

4 Schlussfolgerungen

Ein solches Verständnis von Mehrdimensionalität der Pflege erfordert von einer Soziologie
der Pflege (Schroeter, Rosenthal 2005a), die einzelnen Ebenen des Pflegefeldes in ihrer rela-
tionalen Verknüpfung mit anderen sozialen Feldern (unter anderem Familie, Gesundheit/
Medizin, Ethik, Ökonomie, Politik, Recht, soziale Hilfe, Technik, Wissenschaft) in den Blick
zu nehmen. Man mag mit der Pflege im engeren pflegewissenschaftlichen Verständnis ein
mehr oder weniger abgrenzbares Handlungsfeld konturieren, eine Soziologie der Pflege
hat diese Engführungen jedoch wieder aufzuheben und auf die Pluralität der Pflegeord-
nungen und -verständnisse samt der damit verbundenen Handlungskontingenzen auf den
unterschiedlichen Ebenen der verschiedenen Felder zu verweisen.
Die Erbringung von Pflege- und Fürsorgetätigkeiten wird – traditionell und aktuell –
zum überwiegenden Teil privat und familial erwartet und auch erbracht. Die verlängerte
Lebenszeit und ausgedehnte Lebensspanne, sinkende Geburtenraten, verringerte Familien-
größen mit geringerer Geschwisteranzahl, veränderte Formen familialen Zusammenlebens
und kurzfristiger ausgerichtete Partnerschaften, zunehmende Frauenerwerbstätigkeiten
und flexibilisierte Arbeitsverhältnisse mit einhergehenden Mobilitätsanforderungen und
erhöhtem Zeitinvestment und andere Begleiterscheinungen des demografischen und sozialen
Wandels führen zu einer sukzessiven Unterhöhlung des familialen Unterstützungspoten-
zials und verlangen nach neuen Mustern der pflegerischen Betreuung und Versorgung.
Pointiert ausgedrückt heißt das, dass immer mehr Menschen von immer weniger zur
Verfügung stehenden Personen gepflegt, versorgt und betreut werden müssen. Diese Situ-
ation ist historisch neu und wird in den einzelnen Ländern unterschiedlich aufzufangen
versucht. Unter welchen Bedingungen gepflegt, versorgt und betreut wird und welche
Pflegearrangements getroffen werden, hängt von vielerlei Faktoren ab: von individuellen
Bedürfnislagen, von sozialen und gesellschaftlichen Opportunitätsstrukturen wie z. B.
von Anzahl und Verfügbarkeit familialer Unterstützungspersonen, finanziellen Ressour-
cen, von rechtlichen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen und nicht zuletzt von
kulturellen Wohlfahrtstraditionen.
Das alles ist Gegenstand einer Soziologie der Pflege, und zu all dem hat sie bereits heute
eine Vielzahl sowohl an empirischen Studien als auch an theoretischen Konzepten und
Modellen vorgelegt, die hier gar nicht angemessen gewürdigt werden können, da alleine
ihre Referenzierung den Umfang dieses Beitrages übersteigen würde. Es gibt zahlreiche
Sammelbände und Monographien, in denen soziologische Aspekte zur Pflege zusam-
mengetragen werden, in denen die Ergebnisse aus den nationalen und internationalen
Surveys auf Fragen der Pflege zugespitzt werden, in denen Sorge- und Pflegearrangements
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modellhaft dargestellt und miteinander verglichen werden oder in denen die sozialen
Ungleichheitsverhältnisse im Kontext von Pflege thematisiert werden.
Es liegen Forschungen und Untersuchungen zu den verschiedenen Beziehungsgefü-
gen von Pflege auf der Mikro-, Meso- und Makro-Ebene vor, zu familialen und anderen
Sorgegemeinschaften, zu Pflegearbeiten und Pflegebeziehungen in den Institutionen und
Organisationen, zu den Vereinbarkeiten von Pflege und Erwerbstätigkeiten u. v. a. m. Die
Pflege wird in der Soziologie bislang (noch) nicht als institutionalisierte „Bindestrich-
Soziologie“ geführt. So gibt es beispielsweise keine eigene Arbeitsgruppe oder Sektion
innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; pflegesoziologische Fragen werden
dort zumeist in den Sektionen der Gesundheits- und Medizinsoziologie oder in der Sektion
Alter(n) und Gesellschaft verhandelt. Es liegen zwar zahlreiche Publikationen, Studien und
Untersuchungen, Monographien und Sammelbände, auch Lehrbücher zur Soziologie für
die Pflege oder für Pflegeberufe vor, aber es gibt noch keine systematische Einführung in
die Soziologie der Pflege. Die kann auch erst geschrieben werden, wenn zuvor – oder in
ihr – dieses Wissenschaftsfeld in seinen grundlegenden Konturen elaboriert wurde bzw.
wird. Als Anregung dazu mag dieser Beitrag vielleicht dienen.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Eine Soziologie der Pflege ist ein weites Feld, dessen Konturen (noch) nicht klar
umrissen sind.
▶ Aufgabe eine Soziologie der Pflege ist es, die soziale und gesellschaftliche Wirk-
lichkeit der Pflege in ihren wechselseitig verschränkten Praktiken, Strukturen und
Deutungsmustern zu verstehen und zu erklären.
▶ Pflege ist ein im sozialen Differenzierungsprozess erwachsener, mehrdimensionaler
gesellschaftlicher Teilbereich mit verschiedenen Deutungsmustern und multilateralen
Beziehungs- und Bedingungsgefügen in einem verwobenen Netz wechselseitiger
Abhängigkeiten.
▶ Eine Soziologie der Pflege bewegt sich in der Ambivalenz des deutenden Verstehens
und der kausalen Erklärung pluraler Pflegeordnungen und Pflegeverständnisse und
damit verbundener Handlungskontingenzen auf den unterschiedlichen Ebenen der
Pflege.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Muss es eine Soziologie der Pflege geben? Werden pflegesoziologische Themen und
Fragestellungen nicht schon in der Alter(n)s-, Gesundheits- und Medizinsoziologie
hinreichend behandelt?
27 Soziologie der Pflege. Ein Vorschlag zur Konturierung 413

▶ Was spricht für und was gegen die Annahme, Pflege als ein eigenständiges und
autonomes System oder Feld der Gesellschaft zu denken?
▶ Welchen Herausforderungen und Themen hat sich eine Soziologie der Pflege zu-
zuwenden?

Leseempfehlungen

t Aulenbacher, B., B. Riegraf & H. Theobald (Hrsg.), 2014: Sorge: Arbeit, Verhältnisse,
Regime. Soziale Welt, Sonderband 20. Baden-Baden: Nomos.
Dieser Sonderband widmet sich den internationalen Sozialdiagnosen zum Forschungs-
stand zur Sorge und Sorgearbeit.

t Bauer, U. & A. Büscher (Hrsg.), 2008: Soziale Ungleichheit und Pflege. Beiträge sozi-
alwissenschaftlich orientierter Pflegeforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis-
senschaften.
Der Band zeigt verschiedene theoretische und empirische Perspektiven zum Zusammen-
hang von Pflege und sozialer Ungleichheit auf.

t Haberkern, K., 2009: Pflege in Europa. Familie und Wohlfahrtsstaat. Wiesbaden: VS


Verlag für Sozialwissenschaften.
Auf der Grundlage des Datensatzes des Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe
(SHARE) werden auf unterschiedlichen Wohlfahrtstraditionen fußende Pflegesysteme und
Pflegearrangements ausgewählter Länder (DK, D, CH, I) vorgestellt.

t Hoops, W., 2013: Pflege als Performance. Zum Darstellungsproblem des Pflegerischen.
Bielefeld: transcript.
In einer poststrukturalistischen Gegenwartsanalyse wird das Pflegerische als Darstellung
und Performance betrachtet.

t Schroeter, K.R., 2006: Das soziale Feld der Pflege. Eine Einführung in Strukturen,
Deutungen und Handlungen. Weinheim, München: Juventa.
Eine an der bourdieuschen Theoriebildung orientierte Einführung in das soziale Feld der
(stationären) Pflege.

t Schroeter, K.R. & T. Rosenthal (Hrsg.), 2005: Soziologie der Pflege. Grundlagen, Wis-
sensbestände und Perspektiven. Weinheim, München: Juventa.
Die Anthologie beinhaltet Übersichtsartikel zu ausgewählten theoretischen und empiri-
schen Wissensbeständen der sich konturierenden Soziologie der Pflege.
414 Klaus R. Schroeter

t Winkler, G., 2015: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld:
transcript.
Auf dem Hintergrund der Kritik an der neoliberalen Familien- und Pflegepolitik wird das
Konzept der Care Revolution als Transformationsstrategie ökonomischen und politischen
Handelns von der Profitmaximierung zu einer an der Sorge füreinander orientierten
radikal demokratischen Gesellschaft entworfen.

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Soziologie der Krankheitsprävention
Christina Dietscher und Jürgen Pelikan
28
28 Soziologie der Krankheitsprävention

Überblick
▶ Wie kann Krankheitsprävention aus soziologischer Perspektive verstanden werden?
▶ Wie hat sich Krankheitsprävention als soziales Thema entwickelt?
▶ Wo setzen Strukturen, Mechanismen und Praktiken der Krankheitsprävention in
sozialen Systemen an?
▶ Was ist kritisch zur Krankheitsprävention zu sagen?

1 Prävention als Antwort auf erwartbare gesellschaftliche


Störungen

Prävenire bedeutet wörtlich genommen, künftig erwartbaren, als problematisch definierten


Ereignissen durch gegenwärtiges Handeln zuvor zu kommen. In den Worten Bröcklings
(2008: 38) ist Prävention als „übergreifender Modus des Zukunftsmanagements zeitgenös-
sischer Gesellschaften“ zu verstehen. Es gebe nichts, so der Autor, das sich (in modernen
Gesellschaften) nicht als künft ige Bedrohung und damit als Thema für vorbeugendes
Handeln definieren ließe. In Bezug auf Gesundheit oder vielmehr Krankheit wird derar-
tiges Zukunftsmanagement dort zum gesellschaft lichen Thema, wo die Bedrohung durch
Krankheit als Störung (künftigen) gesellschaft lichen Funktionierens wahrgenommen und
bearbeitet wird. Diese Störungen können vom Nichtmehr-Einhaltenkönnen der sozialen
Rollen Einzelner bis hin zur Bedrohung des Überlebens ganzer Populationen reichen.
Ersteres ist etwa der Fall, wenn Menschen im Krankheitsfall ihre soziale Rolle als Arbeit-
nehmer nicht mehr einhalten können (Parsons 1951), letzteres, wenn Epidemien oder gar
Pandemien ausbrechen. Welche präventiven Antworten auf welche Bedrohungen als adäquat
gelten, hängt von den je aktuellen Vorstellungen einer Gesellschaft von Gesundheit und
Krankheit und den wissenschaft lich-technischen Möglichkeiten damit umzugehen ab.
In diesem Beitrag wollen wir diese Themen im Sinne einer Soziologie der Krankheits-
prävention aufgreifen, werden aber im Sinne einer Soziologie in der Krankheitsprävention

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_28, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
418 Christina Dietscher und Jürgen Pelikan

auch Beispiele eines soziologisch-praktischen Zugangs zum Thema einfließen lassen und
dabei insbesondere auf die Bedeutung der Krankheitsprävention für und durch Personen,
organisationale Settings und die Gesellschaft insgesamt eingehen. Ausklammern werden
wir die zahlreichen anderen Themen, die in sozialen Systemen ebenfalls zum Zwecke der
Störungsvermeidung präventiv bearbeitet werden, wie etwa die Prävention von Kriminalität,
Gewalt und Konflikt bis hin zum „präventiven Erstschlag“, auch wenn diese teils Bezüge
zur Krankheitsprävention bzw. Public Health aufweisen (Adler et al. 2004).
Immer wieder werden wir die fließenden und sowohl theoretisch als auch praktisch
keineswegs klaren Grenzen zwischen (Primär-)Prävention und Gesundheitsförderung
berühren (siehe auch Loss et al. in diesem Band). Wir folgen hier nicht der von Hurrelmann
& Richter (2010) getroffenen Unterscheidung, wonach Gesundheitsförderung Verhältnisse
optimiert, während Prävention auf Verhalten abzielt, sondern wollen vielmehr an einer
Orientierung an Ressourcen versus Risiken ansetzen: Unserem Verständnis nach zielt
Gesundheitsförderung gemäß dem Konzept der Salutogenese (Antonovsky 1996) primär
auf die Stärkung individueller wie kollektiver gesundheitlicher Ressourcen und damit auf
eine Stärkung positiver Gesundheit (Pelikan 2007b) ab, während Krankheitsprävention
die gezielte Vermeidung, Abschwächung oder Kompensation individueller wie kollektiver
gesundheitsbezogener Risikofaktoren zum Thema hat (wobei auch Gesundheitsförderungs-
maßnahmen, die generelle Ressourcen aufbauen, zur Bewältigung von Risiken beitragen
können). Krankheitsprävention verfolgt damit das Hauptziel, Krankheiten weniger wahr-
scheinlich zu machen, zu verzögern oder ganz zu verhindern (Schwartz & Walter 1998)
und unspezifische Gesundheitsgefahren in handhabbare Risiken (Luhmann 1990) zu
transformieren. Damit gibt sie ein „Versprechen von Sicherheit“ (Bröckling 2008: 38) oder,
konkreter, von längerer Lebensdauer bei höherer Lebensqualität (Schwartz & Walter 1998).
Wir wollen uns nun zunächst die historischen bzw. sozialgeschichtlichen Entwicklungen
ansehen, die eine präventive Perspektive im heutigen Verständnis erst ermöglichten, um
uns dann den unterschiedlichen präventiven Strukturen, Mechanismen und Praktiken
zuzuwenden, die gegenwärtig beobachtbar und künftig erwartbar sind, und mit einer
kritischen Perspektive auf Krankheitsprävention abschließen.

2 Entwicklung einer präventiven Perspektive

Gesundheit und Krankheit beschäftigen die Menschheit seit Anbeginn. In praktisch


allen Kulturen wurden Vorstellungen über Ursachen von Gesundheitsverlust bzw. über
die Entstehung von Krankheit entwickelt. Nach Franke (2012) entstanden Strategien zur
Erhaltung von Gesundheit vor den Möglichkeiten zur Krankenbehandlung. Bereits frühe
Kulturen verfolgten auf die (unmittelbare) Zukunft gerichtete präventive Ansätze wie
vorbeugende Schutzmaßnahmen gegen Kälte oder wilde Tiere. Auch die Jahrtausende
alte Traditionelle Chinesische Medizin oder die europäische Humoralpathologie nach
Hippokrates und Galen waren am Konzept der Gesunderhaltung orientiert. Neben die-
sen personenorientierten Ansätzen spielten und spielen auch auf die Gesamtgesellschaft
28 Soziologie der Krankheitsprävention 419

gerichtete religiöse Regeln und Tabus eine präventive Rolle, so etwa Verbote des Konsums
als unrein geltender Nahrungsmittel (z. B. das muslimische Schweinefleisch-Verbot, das vor
Trichinen schützt), oder die strenge Trennung der Aufgaben der rechten (guten) und der
linken (unreinen) Hand als frühe Form des Hygienemanagements. Lange Traditionen gibt es
auch hinsichtlich der Bewertung gesund- oder krankmachender Faktoren des Wohn- oder
Aufenthaltsortes (vgl. das chinesische Feng-Shui oder die westliche Geomantie), die etwa
auch bei der Bestimmung des Bauortes der griechischen Tempel herangezogen wurden, die
zugleich auch zu den ersten Spitälern – oder Sanatorien – im europäischen Raum zählen.
Voraussetzung für die Entstehung einer präventiven Perspektive im modernen Sinn ist
jedoch, dass aktuelle Entscheidungen und aktuelles Handeln als Voraussetzung zukünf-
tiger Folgen interpretiert werden, sodass diese Folgen nicht als schicksalhaft, sondern auf
Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse durch individuelles wie kollektives Handeln
abwendbar wahrgenommen werden. In diesem Sinne baut eine präventive Haltung auf
eine kontingente Vorstellung von Zukunft auf, das heißt, Zukunft wird als „gesellschaft-
lich gerahmtes Möglichkeitsfeld“ (Bröckling 2008: 40) begriffen: Was sein wird, könnte
immer auch anders sein. Um angesichts dieses Bewusstseins von Kontingenz entschei-
dungsfähig mit Hinblick auf mögliche Zukunftsszenarien zu sein, braucht es zum einen
klare Kriterien des grundsätzlich Wünschenswerten. Und hier verspricht Prävention den
Erhalt der Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe, weitgehende Leidensfreiheit und
Lebensverlängerung. Zum anderen braucht es aber auch eine Vorstellung davon, dass diese
erstrebenswerten Zustände grundsätzlich und tatsächlich erreichbar sind bzw., um mit
Kickbusch (2006) zu sprechen, dass Gesundheit – bzw. die Vermeidung von Krankheit
– machbar ist. Erst diese Machbarkeit ermöglicht eine im engeren Sinn präventive, das
heißt proaktive statt reaktive Haltung gegenüber Krankheit bzw. die Beschäftigung auch
mit latenten, nicht nur mit manifesten Gesundheitsproblemen.
In der sogenannten „old public health“ geschah dies zunächst mit Hinblick auf die Ein-
dämmung der Infektionskrankheiten, die bis ins frühe 20. Jahrhundert eines der zentralen
Gesundheitsprobleme darstellten. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen wirk-
same Strategien zu deren Bekämpfung – wie etwa der Ausbau von Kanalisationsanlagen,
Hygiene-Erziehung und der Einsatz von Penicillin und Impfstrategien – zum Einsatz, die
die früher praktizierte Isolierung Betroffener ergänzten bzw. ablösten. Zugleich begann
man, krankmachende Arbeitsbedingungen der industriellen Produktion zu regulieren,
und allmählich wurden Versicherungssysteme für die kurative Krankenbehandlung einge-
richtet (Forster & Krajic 2013). Zusammen mit dem allmählich steigenden Lebensstandard
in vielen europäischen Regionen, der sich etwa in verbesserten Wohnbedingungen und
einer besseren Ernährungslage ausdrückte, trugen diese zum Großteil nicht-medizini-
schen Entwicklungen zu einem bis heute anhaltenden Ansteigen der Lebenserwartung
bei (McKeown 1998).
Nach Breslow (1999) und Kickbusch (2006) handelt es sich dabei um die erste von
drei Gesundheitsrevolutionen, deren zweite die Entwicklung der modernen Medizin
und moderner Krankenbehandlungssysteme war. So ermöglichten erst bestimmte me-
dizinisch-biologische Erkenntnisse und Messinstrumente die Definition und Messung
420 Christina Dietscher und Jürgen Pelikan

sogenannter „Normalwerte“ (Bröckling 2008) bzw. „Risikowerte“, die erlauben, ein In-
dividuum als gesund, krank oder krankheitsverdächtig – und damit als Ziel präventiver
Strategien – einzustufen.
Mit dem Fortschritt der Medizin wurden nicht übertragbare und chronische Erkran-
kungen immer mehr von kurzfristigen Todesursachen zu langfristigen Lebensbegleitern.
Durch diese Verschiebung der Krankheitslast liegt heute das Hauptaugenmerk präventiver
und gesundheitsförderlicher Bemühungen zunehmend im Gesundheitsschutz und der
Erhaltung von Lebensqualität, die immer mehr der Krankenbehandlung gleichgestellt wer-
den – die dritte Gesundheitsrevolution (Breslow 1999, Kickbusch 2006). Damit gewinnen
Maßnahmen wie Lebensstiländerungen, Vorsorgepraktiken oder das Selbstmanagement
chronischer Erkrankungen weiter an Bedeutung, während zugleich immer mehr auch die
sogenannten sozio-ökonomischen Gesundheitsdeterminanten (Wilkinson & Marmot 2003)
in den präventiven Fokus geraten – also etwa der Bildungsstatus, die Wohnverhältnisse und
der berufliche Status bzw. das Einkommen, die alle in einem statistischen Zusammenhang
zu den individuellen Gesundheitschancen stehen (siehe auch Lampert in diesem Band). In
jüngerer Zeit wird insbesondere auch die Gesundheitskompetenz (Health Literacy) – die
Fähigkeit, gesundheitsbezogene Informationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und
anzuwenden (Sorensen et al. 2012) – als Determinante, Mediator oder Moderator von Ge-
sundheit diskutiert und auch auf gesundheitskompetente Settings (Kickbusch et al. 2013)
oder gesundheitskompetente Organisationen (Brach et al. 2012) angewandt.
Aktuelle Problemlagen und der jeweils gültige wissenschaftliche Erkenntnisstand blei-
ben wichtige Treiber für die Entwicklung präventiver Vorstellungen und Interventionen
sowohl auf Ebene von Personen (Verhaltensansatz) als auch auf der gesellschaftlichen
Meso- und Makro-Ebene (Verhältnisansatz). Was dabei als normal oder krank bzw. prä-
ventionsbedürftig gilt, ist einem beständigen Wandel unterzogen und von den jeweiligen
gesellschaftlichen Vorstellungen abhängig. So war etwa Homosexualität bis 1973 Bestandteil
psychiatrischer Diagnose-Manuale in den USA (Franke 2012), und noch 2002 publizierte
ein US-amerikanischer Psychologe ein Buch mit dem Titel „A Parent‘s Guide to Preven-
ting Homosexuality“. Nicht zuletzt sind die professionellen Definitionen von gesund und
krank auch von ökonomischen Interessen geleitet. So weist etwa Franke (2012) darauf hin,
dass viele ExpertInnen, auch jene, die Diagnose-Manuale mitentwickeln, ökonomische
Beziehungen zur Pharma-Industrie unterhalten und daher von der Medikalisierung bzw.
Medikamentisierung bestimmter Phänomene profitieren.

3 Strukturen, Mechanismen und Praktiken der


Krankheitsprävention

Da Prävention historisch risiko- bzw. krankheitsorientiert ist, wird bei der Einteilung
von Präventionstypen aus medizinischer Sicht vor allem nach dem Krankheitsstadium
unterschieden, auf das Bezug genommen wird (siehe Infobox 1).
28 Soziologie der Krankheitsprävention 421

Eine Einteilung aus soziologischer Perspektive schlägt Bröckling (2008: 42) vor: „Ihrer
Funktionsweise nach lassen sich die Technologien der Vorbeugung klassifizieren in Maß-
nahmen zur Früherkennung (z. B. Vorsorgeuntersuchungen; Pränataldiagnostik; […]), der
Expositionsprophylaxe (z. B. Rauchverbote; Wasser- und Abfallhygiene; […]; Umwelt- und
Arbeitsschutzgesetzgebung) und der Dispositionsprophylaxe, die sich wiederum in Maßnah-
men zur Verhaltensmodifikation (z. B. pädagogische Interventionen, […], Empowerment,
Strategien des Selbstmanagements) und zur Immunisierung (z. B. Impfprogramme, […])
gliedern. Früherkennung funktioniert als Risiko-Detektor und isoliert Risikofaktoren
und -gruppen; Expositionsprophylaxe schirmt gegen potentielle Bedrohungen ab oder
eliminiert deren Ursachen; Dispositionsprophylaxe stärkt die Abwehrkräfte.“

Infobox 1. Typen der Prävention (Schwartz & Walter 1998)

Klassisch wird bei Prävention unterschieden zwischen:


t Primärprävention: Diese umfasst alle spezifischen Aktivitäten vor Eintritt einer
fassbaren (biologischen) Schädigung. Ziel ist die Senkung der Eintrittswahrschein-
lichkeit bei Individuen bzw. die Senkung der Neuerkrankungsrate (Inzidenzrate)
in Populationen.
t Sekundärprävention: Sie umfasst alle Maßnahmen zur Entdeckung symptomloser
Krankheitsfrühstadien mit dem Ziel der Inzidenzabsenkung manifester oder fort-
geschrittener Erkrankungen.
t Tertiärprävention: Diese meint Interventionen zur Verhinderung bleibender, insbe-
sondere funktionaler Funktionseinbußen, die kurative und rehabilitative Maßnahmen
ergänzen und sich z. T. mit diesen überschneiden.

Demnach kann bei der Klassifizierung von Prävention unterschieden werden nach:

t Präventionszielen (allgemeine versus spezifische Prävention, Schutz Einzelner versus


Schutz von Gruppen, Prävention übertragbarer versus nicht übertragbarer oder akuter
versus chronischer Krankheiten, Prävention psychischer versus körperlicher Erkran-
kungen, Selbstschutz versus Fremdschutz),
t Zielgruppen (z. B. unterschiedliche Altersgruppen, Kultur- und Sprachgruppen, Männer,
Frauen) und
t Interventionsebenen: Hier ist zwischen personenorientierten versus situativen Ansätzen
(Verhalten versus Verhältnisse) bzw. danach zu unterscheiden, ob am einzelnen Indivi-
duum (Mikro-Ebene), an Organisationen (setting-orientierte Strategien, Meso-Ebene)
oder auf gesamtstaatlicher Ebene (Public Health-Ansatz, Makro-Ebene) angesetzt wird
– eine Unterscheidung, an der wir uns für die weitere Darstellung auch in Anlehnung
an Rosenbrock (2006) orientieren wollen.
422 Christina Dietscher und Jürgen Pelikan

Je nach Zielen, Zielgruppen und Interventionsebenen bedarf es anderer Präventionsstrate-


gien. In der Praxis wird häufig ein Zusammenwirken unterschiedlicher Präventionsansätze
zu beobachten sein. So werden häufig personen- und organisationsspezifische Ansätze
kombiniert, indem etwa auf Organisationsebene Regeln und Infrastrukturen implementiert
werden, die das (präventive) Verhalten von Personen innerhalb der Organisation unterstüt-
zen sollen. Oder organisationsbezogene Ansätze werden durch staatliche Vorgaben oder
Anreize gefördert. Dadurch lassen sich die spezifischen Beschränkungen der einzelnen
Ansätze kompensieren und Effektivität und Effizienz der Strategien insgesamt verbessern.

3.1 Personenorientierte Prävention

Gesundheit bzw. Krankheit sind eng mit der menschlichen Existenz verknüpft (Franke
2012) und daher geeignet, Ängste zu schüren. In unserer zunehmend von Konkurrenz
geprägten Leistungsgesellschaft hängen an der Gesundheit aber nicht nur die eigene
Lebensqualität und Lebensdauer, sondern auch die individuellen sozialen Erfolgschan-
cen. In der Präventionsperspektive werden aus Individuen Komplexe von Risikofaktoren
(Castel 1983, Bröckling 2008), auf die die Betroffenen dann als selbstverantwortliche und
kompetente Akteure (Bröckling 2008) zu reagieren haben. Prävention beginnt daher be-
reits mit der Erziehung durch Familie und Kindergarten zum Aufbau der notwendigen
Kompetenzen. Klassische edukative Strategien – Gesundheitserziehung, -beratung und
-coaching durch Profis – werden durch Kampagnen, den Einsatz von Peers für edukative
Zwecke oder die aufsuchende soziale Arbeit und in jüngerer Zeit, insbesondere wenn es
um medizinische Prävention geht, auch durch Direct mailing, Recall-Systeme und andere
Maßnahmen ergänzt.
In dem Ausmaß, in dem Gesundheit bzw. Krankheit nicht mehr als Schicksal, sondern
als Folge individueller oder gesellschaftlicher Entscheidungen und Handlungen begriffen
und Gesundheit damit als grundsätzlich machbar angesehen wird, entsteht aber nicht
nur ein bereits in der Verfassung der WHO von 1948 formuliertes Recht auf Gesundheit,
sondern auch eine individuelle Pflicht zur Gesundheit (Franke 2012; siehe auch Marck-
mann in diesem Band). Wie Schmidt-Semisch & Paul (2010: 13) konstatieren, wird diese
Verpflichtung zunehmend an der Finanzierbarkeit der Gesundheitsversorgung festgemacht:
„Die individuelle Pflicht zur Gesundheit betrifft demnach nicht nur das Individuum selbst,
sondern verweist zugleich auf die moralisch-soziale Verantwortung der Subjekte gegenüber
den knappen Ressourcen der Gemeinschaft.“ Doch wie ist dieser Pflicht nachzukommen?
Prävention wirkt nur dann, wenn sie zur Gewohnheit, zum Lebensstil wird: es reicht nicht,
sich einmal vernünftig zu bewegen, gesund zu essen oder zur Vorsorge-Untersuchung zu
gehen. All dies ist kontinuierlich nötig, will man Risiken dauerhaft managen, um das Ver-
sprechen der Prävention auf eine möglichst schmerzfreie, möglichst qualitätsvolle, lange
und gesunde Zukunft einzulösen. In dieser Hinsicht verlangt Prävention kontinuierliche
Selbstregulation und Selbstdisziplin, sie äußert sich in „Techniken des Selbst“ (Leanza
2009), die primärpräventiv auf bestimmte Lebensstile, sekundärpräventiv z. B. auf die
28 Soziologie der Krankheitsprävention 423

Nutzung von Vorsorge-Untersuchungen und tertiärpräventiv auf das Selbstmanagement


bereits eingetretener Erkrankungen abzielen.
Dabei gilt es beständig, eine Vielzahl einander zum Teil hochgradig widersprechen-
der und immer nur vorläufiger Informationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und
zu verarbeiten (Sorensen et al. 2012), permanent sind letztlich immer auf Unsicherheit
basierende Entscheidungen zu treffen (Schmidt-Semisch & Paul 2010). So gibt es hohe
Evidenz dafür, dass manche Maßnahmen der medizinischen Sekundärprävention ih-
rerseits Risiken erzeugen, die mit dem potentiellen Nutzen abgewogen werden müssen.
Beispielsweise scheint die Anzahl der Todesfälle durch Nebenwirkungen der Koloskopie
in etwa der Anzahl an Menschen zu entsprechen, deren Leben durch die Darmkrebs-Frü-
herkennung verlängert wird (Mühlhauser 2007). Und ein Cochrane-Review aus 2009 zum
Brustkrebs-Screening durch Mammographie kommt zum Schluss, dass dadurch innerhalb
einer Zehnjahres-Periode das Leben nur einer von 2000 Frauen in der Altersgruppe 50+
verlängert werden kann und die durchschnittliche Lebensverlängerung bei einem Tag pro
Frau liegt. Demgegenüber stehen zehn Frauen, die aufgrund des Screenings falsch-positiv
diagnostiziert und behandelt werden (Überdiagnose, Übertherapie), und mehr als 200
Frauen sind monatelangen schwerwiegenden psychischen Belastungen durch notwendige
Befundabklärungen ausgesetzt (Gøtzsche & Nielsen 2009, Mühlhauser 2007). Der aktuelle
Diskurs, so Ullrich (2010), hat einen eindeutigen Pro-Präventions-Bias, denn trotz aller
Ambiguität der Maßnahmen wird Prävention als Allheilmittel angepriesen, während deren
Risiken kaum diskutiert werden.
Und die für Prävention erforderliche Selbstdisziplin wird dadurch erschwert, dass Prä-
ventionsnutzen und -aufwand in der subjektiven Wahrnehmung stark auseinanderklaffen
können: der Aufwand ist tatsächlich sofort zu leisten, der Nutzen tritt, wenn überhaupt,
oft erst viele Jahre später und nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein. Kein Wun-
der, dass in der Präventionsforschung Fragen nach der Motivierbarkeit für Prävention
(z. B. Kontrollüberzeugungen, self-efficacy) bzw. nach dem Setzen geeigneter Anreize
eine wichtige Rolle spielen. Schwartz & Walter (1998) empfehlen als Rezept gegen den
Informationsdschungel, einfache Orientierungshilfen anzubieten (wie beispielsweise der
Slogan „5 tägliche Obst- und Gemüse-Portionen“). Vor dem Hintergrund der Ambiguität
der möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen mancher präventiver Strategien muss
darüber hinaus die Forderung nach leicht zugänglichen, umfassenden, evidenzbasierten
und täuschungsfreien Informationen für die Bürgerinnen und Bürger gestellt werden
(Mühlhauser 2007).

3.2 Prävention in und durch organisationale Settings

In unserer „Gesellschaft von Organisationen“ (Perrow 1991) bewegen sich Menschen


praktisch ihr Leben lang in und durch Organisationen – vom Krankenhaus, in dem sie
geboren werden, über Kinderkrippen, Bildungseinrichtungen und Betriebe bis hin zur
Pflegeeinrichtung, in der sie sterben. Diese Organisationen beeinflussen über ihr Funkti-
onieren – z. B. Arbeitsklima, Arbeitsdruck, aber auch die Qualität ihrer Dienstleistungen
424 Christina Dietscher und Jürgen Pelikan

– nicht nur maßgeblich die Gesundheit der von ihnen erreichten Menschen, sondern
Organisationen sind in ihrem Funktionieren auch maßgeblich auf die Gesundheit eben
dieser Menschen angewiesen.
Organisationen sind daher sowohl potenzielle Nutznießer von Strategien der Prävention
und Gesundheitsförderung als auch entscheidend für deren Umsetzung: Bieten sie doch
die Möglichkeit, das Verhalten von Personen ebenso wie die Verhältnisse, welche auf dieses
Verhalten einwirken, zu beeinflussen (Pelikan 2007b, 2011). Beispielsweise kann schuli-
sche Gesundheitserziehung das Thema Ernährung behandeln, während gleichzeitig in
der Schulkantine gesunde Ernährung kostengünstig angeboten wird, sodass persönliches
Wissen und Wollen durch Möglichkeiten und Anreize auf Organisationsebene unterstützt
werden (vgl. Tabelle 1).

Tab. 1 Handlungsvoraussetzungen für präventives/gesundheitsförderliches Handeln


(nach Pelikan 2007a)
Handlungs- Möglichkeits- Selektions- Interventions-
voraussetzungen struktur kultur möglichkeiten
Person Können Wollen Personen-
Entwicklung
Organisation Möglichsein Sollen Organisations-
Entwicklung
Interventions- Strukturentwicklung Kulturentwicklung Kombinierte
möglichkeiten Interventionen

Im Idealfall geht es dabei nicht um punktuelle Einzelmaßnahmen, sondern um eine orga-


nisationsumfassende strategische Ausrichtung auf Prävention bzw. Gesundheitsförderung.
In dieser Hinsicht stellt Prävention immer auch eine Managementaufgabe dar (Schwartz
& Walter 1998). Es gilt, Personal und Ressourcen für Prävention bereit zu stellen, Zielset-
zungen und Umsetzungsmaßnahmen zu definieren sowie die Erreichung gesetzter Ziele
zu monitieren bzw. zu evaluieren und kontinuierlich zu verbessern.
Angefangen mit Schulen und Bildungseinrichtungen gibt es kein organisationales Set-
ting, das nicht zur Krankheitsprävention beitragen könnte. Kinder und Jugendliche sind
eine besonders wichtige Zielgruppe, da davon ausgegangen wird, dass das in der Kindheit
und Jugend geprägte Verhalten im Erwachsenenalter beibehalten wird und somit positive
Effekte früher Prägungen, aber auch Frühinterventionen aufgrund schulärztlicher Diag-
nostik (z. B. Korrektur von Sehfehlern) lebenslang weiter wirken (Schwartz & Walter 1998).
Schulen und Bildungseinrichtungen sind wie Produktions- und andere Dienstleis-
tungsbetriebe aber auch Arbeitsplätze mit wesentlichen Auswirkungen auf die Gesund-
heitschancen der Beschäftigten, sodass auch Strategien des betrieblichen Gesundheitsma-
nagements (BGM) angezeigt sind. Je nach Branche geht es bei BGM um die Vermeidung,
Abschwächung oder Kompensation spezifischer Risikofaktoren für die somatische oder
psychische Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit dem Ziel, deren
28 Soziologie der Krankheitsprävention 425

Leistungsfähigkeit und Arbeitszufriedenheit zu erhalten bzw. zu verbessern, dadurch dem


Verlust von Arbeitskräften und wertvollem betrieblichem Knowhow vorzubeugen und zur
Erreichung der Unternehmensziele beizutragen. Hier stellen sich aktuelle Herausforderun-
gen durch demografische Entwicklungen: Aufgrund der geburtenschwächeren Jahrgänge,
die auf die Babyboomer folgten, der gesetzlichen Anhebung des Rentenantrittsalters und
dem in manchen Branchen bereits spürbaren Nachwuchskräftemangel muss zur Auf-
rechterhaltung des Betriebs die Leistungsfähigkeit immer älterer Belegschaften erhalten
oder sogar gesteigert werden. Wurden in der Vergangenheit Personen im Krankheitsfall
frühberentet, werden heute sekundär- und tertiärpräventive Ansätze etwa in Form des
Betrieblichen Wiedereingliederungsmanagements forciert.
Nicht nur als Arbeitsplätze sind auch Krankenhäuser ein wichtiges und etabliertes
Setting der Prävention und Gesundheitsförderung (siehe Infobox 2). Neben ihren Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern können sie auch Gesundheitsgewinne bei Patientinnen und
Patienten und der Bevölkerung in ihrem Einzugsgebiet durch eine verstärkte Orientie-
rung an Prävention und Gesundheitsförderung unterstützen. So fordert etwa die aktuelle
Gesundheitsstrategie der WHO Europa, Health 2020, eine neuerliche Reorientierung der
Gesundheitsdienste in Richtung Prävention und meint damit nicht nur Krankenhäuser,
sondern alle Angebote der Krankenbehandlung (WHO 2013).

Infobox 2. Prävention und Gesundheitsförderung im Krankenhaus

Klinische Settings können neben ihrer Hauptaufgabe, der Krankenbehandlung, auch


wichtige Aufgaben in der Prävention und Gesundheitsförderung sowohl von Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern als auch von Patientinnen und Patienten und teilweise
auch der regionalen Bevölkerung übernehmen.
t Patienten: Alle Strategien des klinischen Risiko- und Hygienemanagements verstehen
sich auch präventiv im Sinne der Gesunderhaltung der Patienten. Klinische Sekun-
därprävention ist im Krankenhaus v. a. für Hochrisiko-Gruppen mit spezifischem
individuellem Nutzen kosteneffektiv. Aber stationäre Aufenthalte stellen auch einen
„teachable moment“ (z. B. McBride et al. 2003) für die Verbesserung individueller
Lebensstile und Gesundheitskompetenz dar. Dies macht sich etwa die britische
Initiative „Making every contact count“ (NHS Yorkshire and The Humber) zunutze.
t Mitarbeiter: Das Personal im Gesundheitswesen – im EU-Schnitt etwa 10 % der Be-
schäftigten – gehört zu den am stärksten gesundheitlich belasteten Berufsgruppen.
Dies gilt insbesondere auch für psychische Belastungen. Um diese zu reduzieren,
reicht es nicht, individuelle Kompetenzen im Stressmanagement zu stärken, sondern
es müssen auch Belastungsfaktoren auf Organisationsebene erkannt und bearbeitet
werden. Dazu kann die Professionalisierung von Führungskräften ebenso beitragen
wie die Umverteilung von Arbeit.
426 Christina Dietscher und Jürgen Pelikan

t Region: Aus der systematischen Auswertung von Patientendaten können nicht zuletzt
Rückschlüsse auf regionale Gesundheitsrisiken abgeleitet werden (z. B. unfallgefähr-
liche Kreuzungen), die dadurch für eine strukturierte Bearbeitung und Verbesserung
zugänglich werden (vgl. Pelikan et al. 2005, 2014, Dietscher et al. 2008)

Mit Strategien auf Ebene organisationaler Settings können für große Gruppen der Ge-
samtbevölkerung die Rahmenbedingungen für primär-, sekundär- und tertiär-präventives
Verhalten in zentralen Lebensphasen systematisch hergestellt werden. Auf spezifische
Typen von Organisationen beschränkte Ansätze haben jedoch den Nachteil, dass sie aus
gesundheitlicher Perspektive besonders vulnerable Gruppen – etwa Schulabbrecher, Arbeits-
lose, Migranten oder Senioren ohne soziales Netz – nur schwer erreichen. Eine Erhöhung
der Effektivität ist durch eine Kooperation zwischen unterschiedlichen Organisationen
erreichbar – z. B. Schulen und außerschulische Jugendarbeit – die gemeinsame Strategien
für bestimmte Zielgruppen entwickeln.

4 Prävention als gesamtgesellschaftliche Strategie

Gesundheit ist nicht zuletzt eine notwendige Ressource für das Prosperieren von Staa-
ten und damit auch für den Erhalt und die Entwicklung der sozialen Funktionssysteme
und deren Organisationen. So steht etwa die aktuelle EU-Gesundheitsstrategie ganz im
Zeichen der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Gesundheit (Europäische Kommis-
sion 2013). Staaten haben demnach ein klares Interesse an der Inzidenzabsenkung von
Krankheit, Behinderung oder vorzeitigem Tod. Dadurch lassen sich nicht nur unnötige
Behandlungs- und Folgekosten etwa in Form von Pflegeleistungen oder Frühberentungen
vermeiden, sondern auch getätigte Investitionen in die Bildung und Qualifizierung der
Bürgerinnen und Bürger sind länger nutzbar und liefern damit einen höheren „return on
investment“. Staatliche Steuerungsmaßnahmen in Richtung Krankheitsprävention spielen
insbesondere auch dort eine Rolle, wo die Interessen und die Freiheit Einzelner und der
Schutz der Gesellschaft auseinanderklaffen, so etwa beim Nichtraucherschutz oder der
Anschnallpflicht in Autos.
Da insbesondere die sozio-ökonomischen Gesundheitsdeterminanten (vgl. Wilkinson
& Marmot 2003) letztlich nur durch umfassende staatliche bzw. supranationale Steue-
rung systematisch beeinflusst werden können, wird die diesbezügliche Zusammenarbeit
unterschiedlicher Teilbereiche des Staates für Prävention und Gesundheitsförderung
immer wichtiger, wie dies etwa im Slogan „Health in all policies“ zum Ausdruck kommt.
Gefordert wird hier, dass alle Politikbereiche Mitverantwortung für die Auswirkungen
ihrer Politiken auf Gesundheit übernehmen und entsprechende Maßnahmen (z. B. Health
Impact Assessment) setzen. Unterstützung erfährt dieser Ansatz etwa durch die Europäische
28 Soziologie der Krankheitsprävention 427

Union (vgl. Europäische Kommission 2013) oder die WHO, derzeit mit ihrem aktuellen
Rahmenprogramm Health 2020 (World Health Organization 2013).
Herausforderungen der Steuerung und Koordination über die gesellschaftlichen Sek-
toren hinweg können sich dadurch ergeben, dass Kostenträger und Nutznießer oft nicht
identisch sind und Gewinne aus gegenwärtigen Maßnahmen weit in der Zukunft liegen
können (Schwartz & Walter 1998). So verliert der Staat beispielsweise durch eine Reduktion
des Tabak- und Alkoholkonsums unmittelbar Steuereinnahmen, während eine allfällig
dadurch reduzierte Krankheitslast erst Jahre später schlagend wird, deren volkswirtschaft-
licher Gesamtgewinn – aufgrund längerer Rentenbezüge durch erhöhte Lebenserwartung
– dann auch noch fraglich ist. Das Verhältnis von Zahlern und Nutznießern wird in
Staaten mit ausgeprägtem Föderalismus wie Deutschland oder Österreich durch die un-
terschiedlichen Kompetenzen von Bund und Ländern noch zusätzlich kompliziert. Und
eine ganz andere Problematik ergibt sich daraus, dass die Interessen der Allgemeinheit –
der Schutz der Gesellschaft – dem individuellen Freiheitsstreben entgegenstehen können.
Dies wird derzeit etwa anhand der Debatte um eine mögliche Masern-Impfpflicht vor dem
Hintergrund des zunehmenden Anteils von Impf-Gegnern deutlich. Bröckling (2008: 46)
beschreibt Prävention entsprechend als „in einer komplexen strategischen Konstellation
[operierend], in der Kräfteverhältnisse abzuschätzen, Allianzen zu schließen oder aufzu-
kündigen, taktische Festlegungen zu treffen und bei jedem Schritt die Operationen der
anderen beteiligten Akteure zu berücksichtigen sind.“ So wurde in Deutschland jahrelang
um ein Präventionsgesetz gerungen, das im Dezember 2014 dem Parlament schließlich
im Entwurf vorgelegt wurde.
Viele Staaten haben für die Aufbereitung von Daten, die eine wichtige Grundlage für
die Formulierung nationaler Gesundheitsziele bilden, sowie für Entwicklung, Implemen-
tierung und Monitoring geeigneter Interventionsstrategien zur Zielerreichung eigene
Einrichtungen geschaffen. Das Spektrum möglicher staatlicher Interventionen reicht von
der Bereitstellung notwendiger (medizinischer) Infrastrukturen zur Leistungserbring und
Regelungen hinsichtlich der durch die Krankenversicherung zu deckenden Leistungen
über Empfehlungen (z. B. Impf-Empfehlungen), verhaltensorientierte Kampagnen oder
gesetzliche Regelungen (z. B. Grenzwerte für potenziell schädliche Inhaltsstoffe in Lebens-
mitteln und Abgasen, Mindestalter für Tabak- oder Alkoholkonsum) bis zur ökonomischen
Steuerung etwa in Form der Preisgestaltung für Tabakwaren oder Alkohol oder auch die
Sanktionierung ungesunden Verhaltens durch höhere Beiträge für die Krankenversicherung
– worin Kritikerinnen und Kritiker Ansätze zu einem rational argumentierten Rückbau
des Wohlfahrtsstaats sehen (Ullrich 2010). Nach Schwartz & Walter (1998) orientiert sich
die Auswahl und Priorisierung der Maßnahmen sinnvoller Weise an den Erkrankungs-
wahrscheinlichkeiten, am wahrscheinlichen Erfolg bzw. Nutzen auf Basis bisheriger For-
schungsergebnisse, an verfügbaren Zielgruppenzugängen, an den erwartbaren direkten
und indirekten Kosten sowie an möglichen Nebenwirkungen.
428 Christina Dietscher und Jürgen Pelikan

5 Zukunftstrends

Krankheitsprävention als Versprechen auf eine bessere Zukunft hat alle sozialen Systeme
durchdrungen. Ihre Weiterentwicklung wird von demografischen, epidemiologischen,
ökologischen, ökonomischen, politischen, sozialen und wissenschaftlich-technischen
Neuerungen und Veränderungen abhängen. Aktuell beobachtbar ist eine immer stärkere
Verschränkung von Wirtschaft und Gesundheit mit tendenziell neoliberaler Ausrichtung:
Gesundheit wird immer mehr zur Verantwortung Einzelner. Nach Bröckling (2008: 46)
kommt der Staat seiner Fürsorgepflicht immer mehr in Form des „aktivierenden Staat[s]“
nach, der „seine Bürger und Bürgerinnen aus der fürsorglichen Belagerung in die Freiheit
der Selbstsorge entlässt und ihnen zumutet, ihre Lebensrisiken eigenverantwortlich zu
managen […] marktförmige Selbstregulation soll die optimale Allokation knapper Res-
sourcen gewährleisten und Risikominimierung mit Autonomiemaximierung verbinden.“
Demgegenüber stehen andererseits die Forderungen von Expertinnen und Experten
nach einer deutlichen Aufstockung der öffentlichen Ausgaben für Public Health und
Krankheitsprävention, die derzeit in der EU bei etwa 3 % der Gesundheitsausgaben liegen
(Europäische Kommission 2013). “We continue to spend far too little on health promotion
and disease prevention compared with treatment. Health 2020 argues strongly that this
balance needs to change in favour of upstream interventions to prevent the later human
and economic burden of end-stage disease and disability” (WHO 2013: 30). Health 2020
nennt dafür vier priorisierte Handlungsbereiche (siehe Infobox 3), um die sich die künftigen
Herausforderungen und Trends im Bereich der Prävention gruppieren lassen.

Infobox 3. Die vier Prioritätsbereiche von Health 2020 (WHO 2013)

t Investitionen in Gesundheit durch einen Lebensverlaufsansatz und Stärkung der


Handlungsfähigkeit der Menschen;
t Bekämpfung der großen Krankheitslast aufgrund nichtübertragbarer und übertrag-
barer Krankheiten in der Europäischen Region;
t Stärkung von bürgernahen Gesundheitssystemen, von Kapazitäten in den öffentli-
chen Gesundheitsdiensten und von Vorsorge-, Surveillance- und Gegenmaßnahmen
für Notlagen;
t Schaffung stützender Umfelder und widerstandsfähiger Gemeinschaften.

5.1 Lebensverlaufsansatz und Stärkung individueller


Handlungsfähigkeit

Gemäß dem Lebensverlaufsansatz sollen Menschen aller Alters- und sozialen Gruppen mit
je adäquaten Gesundheits- und Präventionsbotschaften erreicht werden. Der demografische
Trend zur Alterung der Gesellschaft bringt hier große künftige Herausforderungen in
28 Soziologie der Krankheitsprävention 429

Bezug auf die Vermeidung bzw. Hinauszögerung von Pflegebedürftigkeit mit sich (Kleina
et al. 2013). Hochbetagte werden damit zunehmend zur Zielgruppe von Prävention und
Gesundheitsförderung. Aufgrund des ebenfalls alterungsbedingten erwarteten künftigen
Mangels an Pflegekräften wird etwa im Rahmen der europäischen Forschungsförderung
(Horizon 2020) die Entwicklung technologischer Anwendungen für das sogenannte „am-
bient assisted living“ forciert, wodurch in Zukunft die selbständige Lebensfähigkeit alter
Menschen möglichst lange gewährleistet werden soll.

5.2 Nicht übertragbare und übertragbare Krankheiten

Lebensqualität und Lebenserwartung bei nicht übertragbaren und chronischen Erkran-


kungen wie Diabetes, vielen Krebsarten oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen hängen in
hohem Maß vom individuellen Selbstmanagement ab. Daher ist neben einem weiteren
Ausbau der Früherkennungsprogramme (bis hin zur Genetik) für derartige Krankheiten
auch mit weiteren tertiärpräventiven Strategien zur Befähigung Betroffener zum Umgang
mit der Erkrankung (krankheitsbezogene Gesundheitskompetenz) zu rechnen. Es zeichnet
sich ab, dass elektronische Anwendungen der Telemedizin und E-Health dabei zunehmend
an Bedeutung gewinnen werden. Auch die weiter zu erwartende Zunahme psychischer
Erkrankungen stellt Herausforderungen an die Entwicklung geeigneter Präventionsstra-
tegien etwa im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements. Aber aufgrund der
Zunahme multiresistenter Erreger und der zunehmenden Wirkungslosigkeit vieler der
häufigsten Antibiotika bleiben auch übertragbare Krankheiten wie Tuberkulose Thema
der Erziehung zur Risiko- bzw. Expositionsvermeidung, staatlicher Vorsorgemaßnahmen
(z. B. Pandemie-Pläne wie anlässlich des jüngsten Ebola-Ausbruchs) und der klinischen
Forschung.

5.3 Gesundheitssystementwicklung

Expertinnen und Experten (z. B. WHO 2013) fordern weiterhin eine Reorientierung der
Krankenbehandlung in Richtung Prävention und Rehabilitation. Damit könnte auch die
Selbsthilfebewegung eine weitere Aufwertung erfahren, da Peers einerseits zum Erlernen
und Beibehalten des notwendigen Selbstmanagement von Erkrankungen eine wichtige Rolle
spielen, langjährig Betroffene andererseits zunehmende Ansprüche an die Mitgestaltung
der Strukturen und Prozesse der sie betreuenden Einrichtungen stellen. Daneben wird
die (Primär-) Prävention auch in Organisationen außerhalb des Krankenbehandlungs-
sektors weiter professionalisiert werden. Zu Betriebsärzten und -psychologen werden neue
Berufsbilder und entsprechende auch universitäre Ausbildungsangebote hinzukommen.
430 Christina Dietscher und Jürgen Pelikan

5.4 Stützende Umfelder und widerstandsfähige Gemeinschaften

In der WHO-Euro-Region ist jeder fünfte Todesfall auf ungünstige Umgebungseinflüsse


zurückzuführen, die von mangelnder Wasserqualität bis zu Unfällen durch unzureichend
ausgebauten öffentlichen Verkehr reichen (WHO 2013). Zu diesen Problemen, die z. T. durch
die Entwicklung regionaler Gemeinden und Infrastrukturen bearbeitbar sind, kommen
gesundheitliche Herausforderungen durch Umweltveränderungen und Klimawandel
hinzu, wie etwa Gesundheitsrisiken durch Naturkatastrophen oder eine Zunahme von
durch Insekten übertragbaren Infektionskrankheiten. Hier sind neben umweltorientierten
Maßnahmen neue präventive Strategien und internationale Zusammenarbeit gefragt.

6 Kritik der Prävention

„Im Zeichen von Prävention geschieht Humanstes wie Inhumanstes“, stellt Bröckling (2008:
39) fest; Präventionismus wird letztlich zum Feind von Vergnügen und Lust, sagt Ullrich
(2010). Die immer stärkere Durchdringung aller Lebensbereiche mit Prävention – längst
könnte man formulieren: „prevention sells“ – sollte nicht unkritisch hingenommen wer-
den. Gerade auch die Gesundheitswissenschaften sind hier permanent aufgerufen, eigene
Positionen kritisch zu reflektieren. Wenn neuerdings etwa Konzerne wie SPAR eigene
Gesundheits-Apps auf den Markt bringen, um Konsumenten damit vordergründig zu
gesünderem Verhalten zu animieren, sollte zumindest das Interesse an den durch solche
Apps gewinnbaren Daten mitgesehen werden, die nicht zuletzt die Entwicklung geeigneter
Vermarktungsstrategien für bestimmte Produkte unterstützen sollen.
Insbesondere in den Möglichkeiten der medizinischen Sekundärprävention zur immer
früheren Erfassung immer latenterer prä-klinischer Hinweise auf mögliche künftige Er-
krankungen (derzeit aktuell etwa mit Hinblick auf Prä-Diabetes) zeigt sich eine Medikali-
sierungs-Tendenz, die letztlich darauf abzielt, alle Menschen zu Patienten zu machen: „Wer
heute noch als gesund gilt, ist nur schlecht untersucht.“ Dabei locken präventive Ansätze
mit dem Versprechen, dass, wer bereit ist, heute schon Patient (von Früherkennungsmaß-
nahmen) zu sein, spätere ernsthaftere Erkrankungen vermeiden oder doch zumindest hin-
auszögern bzw. ihre Folgen abmildern könne. Wer sich diesem Postulat nicht unterordnet,
gilt leicht als irrational. Dabei sind die lebensverlängernden und Lebensqualität steigernden
Wirkungen gerade auch mancher sekundärpräventiver Maßnahmen durchaus umstritten
(Gigerenzer 2014, Ullrich 2010). Erst in jüngster Zeit wurde in Bezug auf die evidenzbasierte
Medizin wieder auf den sogenannten „publication bias“ hingewiesen: Studien, die keine
Wirknachweise für untersuchte Maßnahmen erbringen, haben eine geringere Chance
publiziert zu werden, sodass in der verfügbaren medizinischen Fachliteratur – welche die
Grundlage für evidenzbasierte Interventions-Entscheidungen bildet – Studien mit positi-
ven Wirknachweisen tendenziell überrepräsentiert sind. Die Weltgesundheitsorganisation
fordert entsprechend, dass auch ergebnislose Studien veröffentlicht werden müssen, damit
28 Soziologie der Krankheitsprävention 431

in Zukunft verbesserte Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung stehen, da ansonsten das


Risiko für mehr gesellschaftlichen Schaden als Nutzen besteht. Wie hoch darf der Preis für
zukünftig erwartbare Gesundheit sein, könnte man abschließend fragen, oder auch: wie
viel Zukunftsorientierung verträgt eine qualitätsvolle Gegenwart? Denn: Im besten Fall
kann Prävention Aufschub gewähren – „in the long run, we are all dead“ (Keynes 1923).

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Prävention reagiert auf bekannte und erwartbare gesellschaftsrelevante Gesundheits-
beeinträchtigungen und zielt auf das gegenwärtige Management künftiger Risiken ab.
▶ Eine im modernen Sinn präventive Perspektive entstand etwa ab Mitte des 19. Jahr-
hunderts. Aktuelle Problemstellungen und Lösungsansätze der Prävention hängen
wesentlich von demografischen, epidemiologischen, ökologischen, ökonomischen,
politischen und sozialen Bedingungen und dem jeweils aktuellen wissenschaftlichen
Erkenntnisstand ab.
▶ Aus medizinischer Perspektive wird in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention
unterschieden. Aus soziologischer Perspektive kann zwischen medizinischer und
nicht-medizinischer Prävention und zwischen Ansätzen auf Ebene von Personen,
Organisationen und der gesellschaftlichen Funktionssysteme unterschieden werden.
▶ Nutzen und Schaden der Prävention müssen vor dem Hintergrund der verfügbaren
wissenschaftlichen Evidenz umfassend abgewogen werden.

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Wie kann Prävention typisiert werden?
▶ Welche Präventionsstrategien können auf individueller, organisationaler und ge-
samtgesellschaftlicher Ebene unterschieden werden?
▶ Warum macht es Sinn, sich mit Prävention kritisch auseinanderzusetzen?

Leseempfehlungen

t Bittlingmayer, U.H., D. Sahrai & P.E. Schnabel (Hrsg.), 2009: Normativität und Public
Health. Vergessene Dimensionen sozialer Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften.
Der Sammelband bietet eine kritische Reflexion von Public Health, Gesundheitsförderung
und Prävention im Spannungsfeld zwischen Ideologien, wissenschaftlichen Erkenntnissen
432 Christina Dietscher und Jürgen Pelikan

und praktischer Umsetzung. Das Buch sucht nach Wegen, wie sich die Gesundheitswis-
senschaften gegen Instrumentalisierungen jeder Art zur Wehr setzen können.

t Bröckling, U., (2008): Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention. Behemoth.
A Journal on Civilisation 1: 38-48.
Der Artikel reflektiert Prävention aus soziologisch-systemtheoretischer Perspektive als
„übergreifenden Modus des Zukunftsmanagements zeitgenössischer Gesellschaften“.

t Hurrelmann, K., T. Klotz & J. Haisch (Hrsg.), 2014: Lehrbuch Prävention und Gesund-
heitsförderung. Bern: Hans Huber.
Der Band gibt einen Überblick über die Grundlagen der modernen Prävention und Ge-
sundheitsförderung und die Entwicklung lebenslaufbezogener Konzepte.

t Hurrelmann, K. & M. Richter, 2013: Gesundheits- und Medizinsoziologie. Eine Einfüh-


rung in sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.
Das Buch stellt sozialwissenschaftliche Theorien zu Gesundheit und Krankheit vor
und thematisiert daran orientierte Strategien zur Beeinflussung gesundheitsrelevanten
Verhaltens, förderlicher Umweltbedingungen und Strukturen des Gesundheitssystems.

t Paul, B. & H. Schmidt-Semisch (Hrsg.), 2010: Risiko Gesundheit. Über Risiken und
Nebenwirkungen der Gesundheitsgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis-
senschaften.
Der Sammelband beleuchtet Gesundheit als zentralen Wert gegenwärtiger Gesellschaft
und setzt sich kritisch mit den daraus resultierenden sozialen Phänomenen und Ent-
wicklungen auseinander.

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Film https://www.youtube.com/watch?v=xlxGiI-bnmg – Gesundheitskompetenz. HLS


EU – der Film
Dieser Film erklärt kurz und gut verständlich, was unter Gesundheitskompetenz
verstanden werden kann, und stellt Ergebnisse der HLS-EU-Studie zur Gesundheits-
kompetenz der Bevölkerung in 8 EU-Staaten vor.

Web http://www.hphnet.org – International Network of Health Promoting Hospitals and


Health Services
Die Webseite informiert über Konzepte und Strategien, Mitglieder und Events des
Internationalen Netzwerks Gesundheitsfördernder Krankenhäuser.

Film http://www.euro.who.int/de/health-topics/health-policy/health-2020-the-europe-
an-policy-for-health-and-well-being/about-health-2020/video-health-2020-bet-
ter-health-for-europe-more-equitable-and-sustainable Gesundheit 2020
28 Soziologie der Krankheitsprävention 433

Der Film gibt einen kurzen, gut verständlichen Einblick in die Gesundheitsstrategie
„Health 2020“ der WHO-Euro.

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Gesundheitsförderung:
Idee, Konzepte und Vorgehensweisen 29
Julika Loss, Berit Warrelmann und Verena Lindacher
29 Gesundheitsförderung: Idee, Konzepte und Vorgehensweisen

Überblick
▶ Was ist das Besondere am Ansatz der „Gesundheitsförderung“ – insbesondere im
Vergleich zu klassischen Ansätzen der Primärprävention?
▶ Wo setzen Interventionen der Gesundheitsförderung an?
▶ Welche Rolle spielen aktive Teilhabe (Partizipation), Empowerment und Struktur-
bildung bei gesundheitsförderlichen Ansätzen?

1 Gesundheitsförderung: die sozio-ökologische Perspektive


auf Gesundheit

Wie Prävention hat Gesundheitsförderung zum Ziel, das Verhalten in Gesundheitsbelan-


gen zu verändern. Anders als Prävention setzt Gesundheitsförderung dabei nicht primär
am Individuum, sondern an den jeweiligen Lebenszusammenhängen an. Über die letzten
Jahrzehnte hat sich die Erkenntnis herausgebildet, dass das Gesundheitsverhalten weniger
frei gewählt ist, sondern vielmehr durch soziale und umweltbezogene Faktoren bestimmt
wird, die außerhalb der Kontrolle des Einzelnen liegen. Solche Faktoren können soziale
Normen sein (zum Beispiel hinsichtlich Sonnenschutzverhalten) oder Verfügbarkeit von
gesundheitsförderlichen Leistungen und Angeboten (zum Beispiel gesunde Verpflegung).
Gesundheitsförderungsinterventionen zielen daher vorrangig auf Veränderungen im ma-
teriellen, organisatorischen, sozialen und politischen Lebensumfeld ab. Auf individueller
und kollektiver Ebene ist die Stärkung der Gesundheitskompetenz (Empowerment) und die
Ausbildung von Netzwerken und Strukturen (Capacity building) das Ziel: Die Menschen
sind nicht Empfänger von Gesundheitsbotschaften, sondern sollen die gesundheitsbe-
zogenen Programme selber aktiv (mit)gestalten. Hintergrund ist auch eine sogenannte
„salutogenetische“ Sichtweise auf Gesundheit, die primär die Faktoren betrachtet, die einen
Menschen gesund erhalten. Diese „Schutzfaktoren“ oder „Ressourcen“ sind Selbstwertge-
fühl, Selbstwirksamkeit und soziale Unterstützung. Gesundheitsförderung distanziert sich

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_29, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
436 Julika Loss, Berit Warrelmann und Verena Lindacher

von einer medizinischen wie auch von der primärpräventiven Betrachtungsweise, die auf
individuelle personengebundene (Beispiel: Cholesterin-Spiegel) bzw. verhaltensbezogene
Risikofaktoren (Beispiel: Rauchverhalten) fokussieren. Stattdessen handelt es sich bei
Gesundheitsförderung um ein sozio-ökologisches Gesundheits- und Präventivmodell. Es
wurde als gesundheitspolitisches Aktionsprogramm von der Weltgesundheitsorganisation
WHO erstmals 1986 in der sogenannten Ottawa-Charta konkretisiert.

2 Die Entwicklung der Gesundheitsförderung-Idee:


eine 30-jährige Geschichte

Gesundheitspolitische Strategien, die die Vermeidung von Krankheiten zum Ziel ha-
ben, hat es in Deutschland und vielen anderen Ländern seit Jahrhunderten gegeben,
jeweils mit unterschiedlichen Prioritäten und Zielsetzungen (Stöckel 2004). Nach dem
2. Weltkrieg richtete sich die Präventionspolitik an den einzelnen Menschen und zielte
darauf ab, gesundheitsriskantes Verhalten durch Gesundheitsaufklärung zu verändern.
Dabei dominierten bis zum Ende der 1970er Jahre Konzepte, die gesundheitsbezogene
Lebensweisen einseitig als Problem individueller Entscheidungen ansprechen (Loss &
Nagel 2010), bis es in den 1980er Jahren zu einem Paradigmenwechsel in der Prävention
kam. Den Menschen die Verantwortung für gesundheitsbezogenes Fehlverhalten zuzu-
weisen, wurde als „blame the victims“-Strategie abgelehnt (Kickbusch 1988). Stattdessen
setzte sich unter Gesundheitswissenschaftlern weltweit eine Vorstellung von Prävention
durch, die die soziale Bedingtheit von Gesundheitsverhalten und die Begrenztheit sozi-
aler Handlungsspielräume berücksichtigt. Als Grundvorstellung gilt, dass eine gesunde
Lebensweise keine Angelegenheit der freien Wahl ist, sondern vielmehr ein Resultat der
Möglichkeiten, die sich einer Person bieten (Milio 1981). Um hier ein Beispiel zu geben:
In einem sozio-ökonomisch benachteiligten Stadtviertel kann man die Bewohner mit
Flyern und Plakaten auffordern, mehr Sport zu treiben. Dieses Gesundheitsverhalten
wird den angesprochenen Personen jedoch nur schwer gelingen, wenn es in dem Viertel
kaum Grünflächen oder Spazierwege gibt, eine hohe Kriminalität den Aktionsradius von
Menschen einschränkt, kein Sportverein gut erreichbar ist und das lokale Fitnesscenter
hohe Mitgliedspreise verlangt oder durch die Dominanz einer bestimmten Nutzergruppe
(zum Beispiel junge Männer) andere Interessenten abschreckt.
Unter dem Schlagwort „Gesundheitsförderung“ (health promotion) entstand eine gesund-
heitspolitische Programmatik, deren Prinzipien von der WHO 1986 in der „Ottawa-Charta
für Gesundheitsförderung“ veröffentlicht worden sind (World Health Organization 1986).
Sie lenkte den Blick auf die Frage, wie und mit welchen Mitteln das Gesundheitspotenzial
von Menschen durch strukturelle und politische Unterstützung gefördert werden kann,
zum Beispiel durch gesundheitsfördernde Lebenswelten. Ein zentrales Diktum ist „Make
the healthier choice the easier choice“ (siehe Infobox 1). Eine umfassende Gesundheitsförde-
rung sollte daher Bereiche wie Umwelt und Wohnen, Arbeit und soziale Verhältnisse mit
einbeziehen (Haglund et al. 1996). Um hier Veränderungen erreichen zu können, ist auch
29 Gesundheitsförderung: Idee, Konzepte und Vorgehensweisen 437

die Politik gefordert (Green & Kreuter 1991, Haglund et al. 1996), und zwar nicht nur die
Gesundheitspolitik. Vielmehr sollten alle Politikbereiche Gesundheit als Handlungsziel
berücksichtigen („Health in all policies“).

Infobox 1. Das Schlagwort „Make the healthier choice the easier choice“

In vielen Lebensbereichen ist unser Alltag nach ganz anderen Kriterien organisiert
als denen der Herstellung und Aufrechterhaltung von Gesundheit. Die „ungesündere
Alternative“ ist oftmals die „leichtere Alternative“: im Kaufhaus die Rolltreppe zu
nehmen statt Stufen zu steigen, bei Studium oder Arbeit einen Schokoriegel aus dem
Snack-Automaten ziehen, statt eine ausgewogene Mahlzeit zu sich zu nehmen. Gesund-
heitsförderliches Verhalten muss also oftmals gegen den tagtäglichen Widerstand der
Lebens- und Arbeitsverhältnisse durchgesetzt werden (Schnabel et al. 1997). Hier will
Gesundheitsförderung ansetzen: „The aim must be to make the healthier choice the easier
choice“, heißt es in der Ottawa-Charta (World Health Organization 1986). In Lebenswelten
wie Schulen oder Betrieben sollen die strukturellen Rahmenbedingungen so verändert
werden, dass das gesundheitsförderliche Verhalten die „leichtere Alternative“ wird. Dazu
gehören Maßnahmen wie gesundes Verpflegungsangebot in Schulen, der Ausbau von
Fahrradwegen in Gemeinden oder Installierung von Sonnensegeln in Kindergärten.

Die Ottawa-Charta, die nach wie vor als Schlüsseldokument der Gesundheitsförderung
gilt, nennt fünf zentrale Handlungsfelder:

t Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik entwickeln


t Gesundheitsförderliche Lebenswelten schaffen
t Gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen
t Persönliche Kompetenzen entwickeln
t Gesundheitsdienste neu orientieren (World Health Organization 1986)

Um diese Handlungsfelder umzusetzen, etablierte die WHO den so genannten Setting-An-


satz: Als Ort für die Gesundheitsförderung wird die alltägliche Umwelt herausgestellt,
„dort, wo die Menschen lernen, arbeiten, spielen und leben“, also Gemeinden, Betriebe
oder Hochschulen (World Health Organization 1986).
Globale Folgekonferenzen der WHO zur Gesundheitsförderung wie 1997 in Jakarta
(Indonesien) und 2005 in Bangkok (Thailand) haben sich zu den Grundprinzipien der
Ottawa-Charta bekannt, Handlungsansätze und Prioritäten wurden allerdings aktualisiert.
Gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse wie die Verstädterung, die steigende Zahl
älterer Menschen sowie die Umweltzerstörung werden unter anderem als Ausgangspunkt
für die Neuformulierung des Leitkonzepts Gesundheitsförderung genannt (World Health
Organization 1997). In den Folgejahren wird die Betonung von Chancengleichheit als
438 Julika Loss, Berit Warrelmann und Verena Lindacher

Ziel von Gesundheitsförderung deutlicher. Die Bangkok-Charta greift die Globalisierung


mit ihren Folgen als wesentliches Handlungsfeld der Gesundheitsförderung auf (World
Health Organization 2005).
Insgesamt wird mit der zunehmenden Betonung sozialer Einflussfaktoren auf Gesundheit
die Gesundheitsförderung immer mehr zu einem Feld, das durch gesundheitspolitische
Maßnahmen alleine nicht mehr befriedigend bearbeitet werden kann, sondern eine gesamt-
politische und gesamtgesellschaftliche Verantwortlichkeit fordert. Nicht zuletzt deswegen
wird Gesundheitsförderung im Sinne der Ottawa-Charta von vielen Autoren als „Utopie“
bezeichnet – allerdings als „machbare“ oder „realistische“ Utopie (Doorduijn 1995).

3 Gesundheitsförderung in Deutschland:
Strukturen und Akteure

Die Idee der Gesundheitsförderung im Sinne der WHO hat in Deutschland allmählich
politische Resonanz gefunden, vor allem in der Förderung von Lebenswelt-Ansätzen
wie der betrieblichen Gesundheitsförderung. Allerdings hat die Gesundheitsförderung
die traditionellen Ansätze der gesundheitlichen Aufklärung nie vollständig abgelöst.
Immerhin sieht das Präventionsgesetz, das 2015 im Bundestag verabschiedet wurde, vor,
die Gesundheitsförderung und Prävention in Settings – vorzugsweise in Kitas, Schulen,
Betrieben und Lebenswelten älterer Menschen – zu stärken und die strukturellen Voraus-
setzungen hierfür zu schaffen.
Das deutsche Gesundheitswesen verfügt über eine breit entwickelte Infrastruktur mit
einer Vielzahl an Akteuren, zu deren Aufgabenbereich die Gesundheitsförderung gehört.
Von zentraler Bedeutung im Setting Gemeinde ist dabei der Öffentlichen Gesundheits-
dienst (ÖGD) und sein Kernstück, das Gesundheitsamt vor Ort. Auf kommunaler Ebene
sind zudem auch weitere öffentlich-rechtliche Körperschaften und freie Träger angesiedelt,
wie Geschäftsstellen der Krankenkassen und Krankenhäuser. Diese können, ebenso wie
Hochschulen, die über Fakultäten mit Gesundheitsbezug verfügen, Aufgaben der Ge-
sundheitsförderung übernehmen oder entsprechende Programme planen und umsetzen.
Dabei sind die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet, Angebote zur Prävention und
betrieblichen Gesundheitsförderung zu unterbreiten (Loss & Eichhorn 2013); zukünftig
sollen die Sozialversicherungsträger auch Interventionen in anderen Settings finanzie-
ren. Ferner können auch Non-Profit-Organisationen (NPOs), Stiftungen, Vereine oder
Selbsthilfegruppen wichtige Akteure in der Gesundheitsförderung sein (Loss et al. 2009).
All diese Akteure können potenzielle Projektträger oder Kooperationspartner für
Gesundheitsförderung sein. Auf Ebene der Bundesländer gibt es zudem sogenannte Lan-
desvereinigungen für Gesundheit, die als Plattformen für verschiedene Akteure aus dem
Gesundheitswesen dienen und selbst Maßnahmen umsetzen oder begleiten. Auf Bundesebene
spielt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) eine wichtige Rolle, indem
sie die Qualitätsentwicklung von gesundheitsförderlichen Maßnahmen in Lebenswelten
29 Gesundheitsförderung: Idee, Konzepte und Vorgehensweisen 439

vorantreibt und über regionale Veranstaltungen kommunale Entscheidungsträger und


Akteure informiert sowie Bündnisbildung und Netzwerkarbeit anregt.

4 Lebenswelten als Gestaltungsort für Gesundheitsförderung:


der Setting-Ansatz

Seit der Verabschiedung der Ottawa-Charta entwickelte sich der Setting-Ansatz zur Schlüs-
selstrategie für die Umsetzung der für Gesundheitsförderung formulierten Prinzipien.
Grundidee ist, dass Gesundheit im Alltag von Menschen hergestellt und aufrechtgehalten
wird und Gesundheitsförderung demnach auch in der alltäglichen Umwelt ansetzen muss.
Der Setting-Ansatz ist in Einklang mit der sozio-ökologischen Perspektive auf Gesundheit,
nach der die Individuen nicht isoliert von größeren sozialen Einheiten, in denen sie leben
und arbeiten, betrachtet werden können (Green et al. 2000). Ein Setting ist dabei der Ort
oder soziale Kontext, in dem Menschen ihre täglichen Aktivitäten verrichten, also Schulen,
Hochschulen, Betriebe oder Gemeinden. Hier spielen umweltbedingte, organisatorische
und persönliche Faktoren zusammen und beeinflussen Gesundheit und Wohlbefinden.
Settings können normalerweise dadurch identifiziert werden, dass sie physikalische
Grenzen, eine Vielzahl von Menschen mit definierten Rollen und eine Organisationsstruktur
aufweisen. Manche Autoren werten auch einen relativ dauerhaften Sozialzusammenhang
als Setting, wie er durch eine gleiche Lebenslage (Rentner) oder gemeinsame Werte bzw.
Präferenzen (Religion, sexuelle Orientierung) entsteht (Loss et al. 2014). Seit Ende der 1980er
Jahre wurden verschiedene Settings-Ansätze unter der Beteiligung der WHO konzipiert
und als modellhafte Netzwerke gestartet, darunter Gesunde Städte, Gesundheitsfördernde
Schulen, Gesundheitsfördernde Gefängnisse oder Gesundheitsfördernde Hochschulen.
Gesundheitsförderung zielt typischerweise nicht nur auf einzelne Risiken des indi-
viduellen Verhaltens (Beispiel: Alkoholkonsum) ab, sondern zeichnet sich durch eine
multidimensionale, umfassende Perspektive aus. Dabei sollen in erster Linie die Umwelt-
bedingungen eines Settings, die Gesundheit beeinflussen, verändert werden, langfristig
auch lokale Wertvorstellungen, soziale Normen und politische Strategien. Lokal verankerte
Wissensvermittlung und gesundheitliche Aufklärung können ebenfalls zum Interventions-
spektrum gehören (siehe Infobox 2). Welche Gesundheitsthemen vornehmlich angegangen
werden, entscheidet sich unter Einbeziehung der Settingmitglieder nach den jeweiligen
Bedürfnissen und Prioritäten eines Settings (Green & Kreuter 1991 , Potvin & Richard 2001,
Poland et al. 2009). Beispiele für prioritäre Gesundheitsziele können gesunde Ernährung
und Bewegung sein, aber auch spezifische lokale Themen wie Senkung der Unfallgefahr
an einer Durchgangsstraße einer Gemeinde oder Verbesserung der Drogenproblematik
einer Schule.
440 Julika Loss, Berit Warrelmann und Verena Lindacher

Infobox 2. Beispiel Setting-Ansatz: Ein stadtteil-bezogenes Programm zur


Bewegungsförderung für Frauen in schwierigen Lebenslagen

Zur Zielgruppe des Projektes „Bewegung als Investition in Gesundheit“ (BIG) gehören
sozial benachteiligte Frauen, unter anderem arbeitslose oder alleinerziehende Frauen
oder Migrantinnen. Das Projekt will die Teilhabemöglichkeiten an den positiven Effek-
ten von körperlich-sportlicher Aktivität verbessern. Im Rahmen eines partizipativen
Planungsprozesses, an dem Frauen aus der Zielgruppe sowie Experten und Entschei-
dungsträger aus den jeweiligen Stadtvierteln teilnahmen, wurde ein Maßnahmenkonzept
für den jeweiligen Stadtteil entwickelt und umgesetzt. Zu den entwickelten Angeboten
gehören wohnortnahe und kostengünstige Bewegungsprogramme mit Kinderbetreu-
ung, Frauenbadezeiten sowie Schwimm- und Selbstverteidigungskurse. Gleichzeitig
wurden Projektbüros eingerichtet, die von den Frauen selbst geführt werden und über
die die Projektarbeit koordiniert wird. Das BIG-Projekt wurde vom Institut für Sport-
wissenschaft und Sport der Universität Erlangen-Nürnberg initiiert und inzwischen
auf zahlreiche andere Städte übertragen.

Der Setting-Ansatz ist geeignet, soziale Unterschiede von Gesundheitschancen zu vermin-


dern. Im Gegensatz zu herkömmlichen verhaltenspräventiven Interventionen (Beispiel:
Aufklärungsplakate), die vorwiegend eine gebildete und gesundheitsinteressierte Mittel-
schicht erreichen, bietet der Setting-Ansatz auch einen Zugang zu schwer erreichbaren
Zielgruppen. Dies kann beispielsweise dadurch gelingen, dass gezielt Stadtteile mit einem
überdurchschnittlichen Anteil sozial benachteiligter Einwohner für Projekte ausgewählt
werden.
Ein Gesundheitsförderungsprogramm in einem Setting ist komplex und erfordert
meist die Schaffung entsprechender Organisationsstrukturen und die Einbeziehung vieler
Partner. Wichtig ist, die Setting-Mitglieder aktiv in den Gestaltungsprozess einzubeziehen
und sie dabei zu unterstützen, eigene Strukturen und Kompetenzen zur Weiterführung
der Gesundheitsförderungsmaßnahme aufzubauen (siehe Abb. 1). Gesundheitsförderung
bezieht sich dabei auf die sozialwissenschaftlich fundierten Konzepte Partizipation, Em-
powerment und Capacity building.
29 Gesundheitsförderung: Idee, Konzepte und Vorgehensweisen 441

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Abb. 1 Handlungsfelder und Strategien von Gesundheitsförderung in Settings


Quelle: eigene Darstellung

5 Schlüsselkonzepte der Gesundheitsförderung:


Partizipation, Empowerment, Capacity building

Partizipation, Empowerment und Capacity building gelten als zentrale Konzepte der
Gesundheitsförderung. Ihnen allen liegt die Vorstellung zugrunde, dass Gesundheits-
förderung nicht für oder an Menschen, sondern durch und mit Menschen gemacht wird
(Nutbeam 1998). Ziel dieser Ansätze ist, die Möglichkeiten und Kompetenzen der Men-
schen zu stärken, damit sie sich für diejenigen Gesundheitsbelange einsetzen, die in ihrer
aktuellen Lebenssituation relevant sind. Damit sind sie auch wichtig für die Nachhaltigkeit
von Gesundheitsförderungsprogrammen, da sichergestellt wird, dass die Projekte den
Bedürfnissen der Teilnehmer entsprechen und von ihnen mitgetragen werden.

5.1 Partizipation

Unter Partizipation („aktive Teilhabe“) versteht man einen sozialen Prozess, in dem
Individuen oder Gruppen für ihre eigene Gesundheit wie auch für die Wohlfahrt der
Gemeinde die Verantwortung übernehmen (Zakus & Lysack 1998, Ritchie et al. 2004).
Für die Umsetzung einer „Gesunden Schule“ würde das bedeuten, dass nicht externe
Experten ein Gesundheitsförderungsprogramm umsetzen, sondern dass die Betroffenen,
also unter anderem Lehrer und Schüler, selber die Verantwortung für gesundheitsförder-
liche Aktivitäten in ihrer Schule übernehmen. In der Praxis wird das oft so realisiert, dass
442 Julika Loss, Berit Warrelmann und Verena Lindacher

externe Experten (zum Beispiel Mitarbeiter einer Hochschule) zunächst das Programm
initiieren und von Beginn an Settingmitglieder (Schüler, Eltern, Lehrer, Hausmeister) in
den Planungs- und Umsetzungsprozess einbinden. Nach und nach wird ihnen die Leitung
über das Projekt übergeben.
Das bekannteste theoretische Modell zur Partizipation stammt von Sherry Arnstein
(1969). Ihre „Leiter der Partizipation“ (siehe Abb. 2), die verschiedene Stufen der (Nicht-)
Partizipation anhand des Ausmaßes von Einflussnahme der Bürger klassifiziert, ist ursprüng-
lich im Zusammenhang mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entstanden.

 

    


     


   

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Abb. 2 „Leiter der Partizipation“ nach Arnstein (1969). Gesundheitsförderung sollte Menschen
auf einer möglichst hohen Stufe der Partizipation beteiligen.

Ansätze, die Bürger nur informieren oder zu Beratungen heranziehen, werden von Arnstein
als „Alibi-Partizipation“ kategorisiert. Tatsächliche Partizipation hingegen bedeutet, dass
die Zielgruppe des Programms (Lehrer und Schüler) volles Mitspracherecht besitzt und
Verantwortung im Entscheidungsprozess übernimmt. Um soziale Gleichheit, Effektivität
und Nachhaltigkeit zu erreichen, sollte Gesundheitsförderung darauf abzielen, Menschen auf
einer möglichst hohen Stufe der „Leiter der Partizipation“ zu beteiligen (Wallerstein 2006).
Auf die Gesundheitsförderung bezogen meint Partizipation die Abkehr von konventionel-
len „top down“-Programmen, die ausschließlich „von oben“ durch Gesundheitsexperten
29 Gesundheitsförderung: Idee, Konzepte und Vorgehensweisen 443

und Behörden geplant und umgesetzt werden. Stattdessen betont der Ansatz die aktive
Einbindung der Settingmitglieder in die Planung und Implementierung von Programmen
(„bottom up“). In der Praxis können bei derartigen bottom up-Ansätzen oft Konflikte
entstehen, wenn die Prioritäten der Settingmitglieder im Widerspruch zu den Prioritäten
stehen, die sich aus gesundheitswissenschaftlicher oder gesundheitspolitischer Sicht erge-
ben. Beispielsweise kann es für Gemeindemitglieder schwierig werden, ihre Anliegen (z. B.
Sorge um Atemwegserkrankungen durch eine lokale Müllverbrennungsanlage) im Sinne
des bottom up-Ansatzes durchzusetzen, wenn die Initiatoren eines Gemeindeprogramms
aufgrund epidemiologischer Daten eher Übergewicht oder Tabakkonsum in der Gemeinde
für problematisch halten. Bei betrieblicher Gesundheitsförderung kann es beispielsweise zu
Konflikten kommen, wenn Mitarbeiter „bottom up“ psychische Belastungen thematisieren
möchten, die durch Druck von Vorgesetzten entstehen, die Betriebsleitung hingegen eher
das Thema Rückenschule für relevant hält.
Die Umsetzung von Partizipation ist allerdings häufig schwierig, insbesondere wenn
es um die Einbeziehung sozial Benachteiligter geht. Die erforderlichen Kompetenzen zur
Problemlösung und Interessenvertretung müssen bei Laien und kleinen Organisationen
häufig erst mobilisiert und entwickelt werden. Das Konzept der Partizipation ist daher eng
mit dem Prozess des sogenannten Empowerment verbunden.

5.2 Empowerment

Empowerment („Ermächtigung“, „Vermittlung von Handlungskompetenzen“) umschreibt


einen mehrschichtigen sozialen Prozess, durch den Individuen und Gruppen Verständ-
nis für und Kontrolle über ihre Lebensbedingungen gewinnen. Als Folge sollten sie ihr
soziales und politisches Umfeld so verändern können, dass sich ihre (gesundheitsbezo-
genen) Lebensumstände dadurch verbessern. Empowerment auf Ebene des Individuums
beinhaltet die Komponenten Selbstwirksamkeit, kritisches Bewusstsein über die sozialen
und politischen Determinanten der Lebenssituation und aktives Engagement im eigenen
Lebensumfeld (Zimmerman 1995, Wallerstein 2006, Kliche & Kröger 2008).
Gesundheitsförderung sollte daher die Ermutigung zur persönlichen Weiterentwick-
lung, die Ausbildung von Fähigkeiten bei Laien und die Verbesserung ihrer politischen
Durchsetzungsfähigkeit sicherstellen. Ein Beispiel zeigt Infobox 3. In der Praxis erfordert
es oft einen langwierigen Prozess, um Settingmitglieder zur aktiven Mitarbeit zu ermutigen
und zu befähigen.
444 Julika Loss, Berit Warrelmann und Verena Lindacher

Infobox 3. Beispiel Empowerment-Ansatz: Gesundheitsförderung mit sozial


benachteiligten Jugendlichen im offenen Jugendvollzug (SPRINT)

Gemeinsam mit der Zielgruppe von jungen männlichen Inhaftierten wird versucht,
Gesundheitsressourcen im Alltag zu identifizieren und darüber die eigenen sozialen
Kompetenzen zu verstärken. Dies betrifft vor allem eine höhere Eigenverantwortlich-
keit (Empowerment) der Jugendlichen sowie die Vermittlung eines positiven Lebens-
konzeptes in Verbindung mit Bildung und Persönlichkeitsentwicklung. Ein spezielles
Gesundheitstraining setzt in den Bereichen Ernährung, Bewegung, Stressregulation
und psychosoziale Gesundheit an und soll das Selbstwertgefühl fördern. Das Angebot
wird in den Lebenswelten der Zielgruppe durchgeführt (Gefängnis, Jugendwerkstätten,
Berufshilfe). Die Jugendlichen entscheiden dabei selbst, in welchem Maße sie in das
Gesundheitsprogramm eingebunden werden wollen. Sie können als „Teamer“ ausgebildet
werden und ihr Wissen an gleichaltrige junge Menschen in ähnlichen prekären Lebens-
situationen weitergeben. Das Projekt SPRINT wurde von der Jugendhilfe Göttingen
e. V. in der Jugendanstalt Hameln durchgeführt und von der Abteilung Medizinische
Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Göttingen wissenschaftlich
begleitet. Seit 2010 ist es eigenständiger Teil des Regelangebots.

5.3 Capacity building

Gesundheitsförderung kann nicht durch eine Person alleine umgesetzt werden. Sie
kann nur durch Vernetzung verschiedener Akteure eines Settings gelingen und setzt die
Entwicklung von Planungs-, Management- und Steuerungsstrukturen voraus (Hawe et
al. 1997, Minkler & Wallerstein 1997, von dem Knesebeck et al. 2001). Als Kern haben
sich dabei Arbeitskreise oder kooperative Planungsgruppen bewährt. Soll beispielsweise
Gesundheitsförderung in einer Hochschule umgesetzt werden, ist es entscheidend, ein
Gremium aus relevanten Schlüsselakteuren der Hochschule zu gründen, zum Beispiel
in Form eines ständigen Gesundheitszirkels. Einbezogen werden sollten unter anderem
Betriebsarzt, Schwerbehindertenvertretung, Sicherheitsingenieur, Suchtbeauftragter und
Studierendenvertretung wie auch Vertreter der Personal- und Haushaltsabteilung sowie
des Personalrats. Zudem können wissenschaftliche Mitarbeiter, die sich inhaltlich mit
Gesundheitsthemen beschäftigen, einem solchen Gesundheitszirkel angehören (Seibold
et al. 2010) .
Gelingt es, über Planungsgruppen und Kooperationen nachhaltige Strukturen und
Kompetenzen für Gesundheitsförderung in einem Setting aufzubauen, spricht man auch
von „Capacity building“ („Strukturbildung und -entwicklung“, „gesundheitsfördernde
Handlungskompetenzen von Gemeinschaften“). Der Begriff erscheint erstmals in der Ja-
karta-Erklärung von 1997 und beschreibt die Entwicklung von Kenntnissen, Fähigkeiten,
Strukturen und Führungsqualitäten, die effektive Gesundheitsförderung ermöglichen
29 Gesundheitsförderung: Idee, Konzepte und Vorgehensweisen 445

(Hawe et al. 1997). Laverack (2008) konkretisierte das Konzept, indem er neun verschiedene
Domänen von Capacity building in der Gemeinde identifizierte:

t Verbesserung der aktiven Teilhabe der Bürger


t Entwicklung von lokalen Führungsqualitäten (sogenannte „Leadership“)
t Ausbildung von organisatorischen Strukturen, die Empowerment fördern
t Fähigkeit zur Problemanalyse
t Ermutigung zu einem kritischen Bewusstsein
t Verbesserung der Mobilisierung von Ressourcen
t Vernetzung mit anderen Organisationen und Akteuren
t Ausbildung einer gleichberechtigten Beziehung zu Auftraggebern und Experten
t Erhöhter Einfluss auf die Programmdurchführung

In Bezug auf die Nachhaltigkeit eines Programms zeigt sich erfolgreiches Capacity building
in dem Maße, in dem erfolgreiche Programmkomponenten dauerhaft in die regulären
Tätigkeiten von Gemeindeinstitutionen integriert werden (siehe Infobox 4).

Infobox 4. Beispiel: Capacity building in einer ländlichen Gemeinde

Das örtliche Gesundheitsamt initiierte in einem bayerischen Dorf (ca. 5000 EW) ein
Programm zur „Gesunden Gemeinde“. Dazu wurde ein interdisziplinärer Arbeitskreis
gebildet, zu dem sich 8-10 Personen regelmäßig treffen und der sich über die Jahre als
tragfähige Struktur herausgebildet hat. Die Projektinitiatoren aus dem Gesundheits-
amt moderierten zunächst als Tutoren die einzelnen Sitzungen. Nach einigen Monaten
wurde eine Arbeitskreis-Sprecherin gewählt, die als Ansprechpartnerin für die Bürger
gilt und gute Kontakte zu Bürgermeister und Gemeindeverwaltung aufgebaut hat. Im
Verlauf nahmen die Tutoren nur noch vereinzelt an den Sitzungen teil. Der Arbeitskreis
entwickelt Jahresprogramme mit Angeboten unter anderem zu den Themen Ernährung
und Bewegung. Es haben sich gute Kooperationen zwischen dem Arbeitskreis und ver-
schiedenen Unternehmen und Vereinen etabliert, dazu gehören ortsansässige Bäckerei
und Metzgerei, Schule, Sportvereinen und eine lokale Umweltbildungsstätte. Aus den
angebotenen Kursen haben sich zum Teil feste Institutionen gebildet, vor allem Rad-
fahr- und Nordic Walking-Gruppen. Die Arbeitskreis-Mitglieder berichteten nach 4
Jahren, dass sie mehr Sicherheit und Eigenverantwortlichkeit bei der Projektumsetzung
haben, besser organisieren können und besser im Arbeitskreis zusammenarbeiten. Sie
bemerkten allerdings, dass ihnen spezifische Kompetenzen zu medizinischen und er-
nährungswissenschaftlichen Themen fehlen. Als Lösungsstrategie wurde beschlossen,
auf einer Klausurtagung das Thema Ernährung schwerpunktmäßig aufzuarbeiten.
446 Julika Loss, Berit Warrelmann und Verena Lindacher

Das Konzept des Capacity buildings zeigt Überschneidungen mit dem Empowerment-An-
satz. Unterschiedlich ist jedoch der Fokus der Konzepte: Während beim Empowerment
die Befähigung der Zielgruppe im Vordergrund steht, fokussiert Capacity building die
Multiplikatoren und die Strukturentwicklung in der Gemeinde.

6 Schlussfolgerungen

Zusammenfassend versteht man unter Gesundheitsförderung eine ressourcenbetonte Ge-


samtstrategie. Sie lenkt den Blick auf die Frage, wie und mit welchen Mitteln das Gesund-
heitspotenzial von Menschen durch strukturelle und politische Unterstützung gefördert
werden kann, z. B. durch gesundheitsfördernde Lebenswelten. Auf individueller Ebene
steht die Stärkung von persönlicher und sozialer Gesundheitskompetenz im Vordergrund.

Das Wichtigste in Stichworten


▶ Gesunde Lebensweise ist oft keine Angelegenheit der freien Wahl, sondern sozial
bedingt und ein Resultat der Möglichkeiten, die sich einer Person bieten.
▶ Gesundheitsförderung berücksichtigt dies und setzt primär an den jeweiligen Le-
benszusammenhängen an, das heißt dem materiellen und organisatorischen Umfeld,
sozialen Normen und politischen Rahmenbedingungen.
▶ Gesundheitsförderungsprogramme sollen an den Orten umgesetzt werden, an
denen Menschen ihre täglichen Aktivitäten verrichten, wie Schulen, Hochschulen,
Betrieben oder Gemeinden (Setting-Ansatz).
▶ In diesen Settings unterstützt Gesundheitsförderung die Ausbildung von langfristig
tragfähigen und handlungsfähigen Strukturen wie kooperativen Arbeitskreisen und
Netzwerken wichtiger Akteure (Capacity building).
▶ Bürger oder Settingmitglieder müssen aktiv an der Planung, Gestaltung und Um-
setzung der Maßnahmen teilhaben (Partizipation) und dazu die entsprechenden
Kompetenzen und Fähigkeiten erwerben (Empowerment).

Nachfragen und Diskussionsanregungen


▶ Was ist der Unterschied zwischen Prävention und Gesundheitsförderung?
▶ Wie lässt sich das Prinzip „Health in all policies“ (Gesundheit in allen Politikberei-
chen) erläutern und warum ist es wichtig für Gesundheitsförderung?
▶ Wie kann man die Partizipation von Bürgern für Gesundheitsförderung umsetzen?
29 Gesundheitsförderung: Idee, Konzepte und Vorgehensweisen 447

▶ Woran zeigt sich der Aufbau von Kompetenzen, Strukturen und Handlungsfähig-
keiten in einem Setting (sogenanntes „Capacity building“)?

Leseempfehlungen

t Naidoo, J. & J. Wills, 2003: Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Gamburg: Verlag für
Gesundheitsförderung:
Übersichtswerk zu Grundlagen und Strategien der Gesundheitsförderung, besondere
Beachtung des Setting-Ansatzes. Viele Beispiele und Diskussionsanregungen.

t Hurrelmann, K., T. Klotz & J. Haisch, 2010: Lehrbuch Prävention und Gesundheitsför-
derung. Bern: Hans Huber Verlag:
Abgrenzung der unterschiedlichen Herangehensweisen von Prävention und Gesund-
heitsförderung.

t Wallerstein, N., 2006: What is the evidence on effectiveness of empowerment to im-


prove health?
Umfassende Übersichtsarbeit und „Standardwerk“ zu Empowerment, herausgegeben von
der WHO, unter: http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/ 0010/74656/E88086.pdf.

t Sonderheft „Building Capacity for Public Health“, 2000: New South Wales Public
Health Bulletin, 11(3)
Australische Beiträge zum theoretischen Hintergrund aus unterschiedlichen Perspektiven
und Einsatz in verschiedenen Gesundheitsbereichen, unter http://www.health.nsw.gov.
au/phb/Documents/2000-3.pdf.

t Kolip, P., U. Gerken, I. Schaefer, A. Mühlbach & B. Gebhardt, 2013: Gesundheit för-
dern in vernetzten Strukturen. Evaluation settingorientierter Gesundheitsförderung.
Weinheim/Basel: Beltz, Juventa
Konzept zur wissenschaftlichen Begleitung von Gesundheitsförderungsinterventionen
in Settings.

t Rosenbrock, R. & S. Hartung, 2012: Handbuch Partizipation und Gesundheit. Bern:


Verlag Hans Huber
Beiträge zum theoretischen Hintergrund, zum Einsatz des Konzepts in verschiedenen
Settings.

t McKenzie J., B. Neiger & R. Thackeray, 2012: Planning, Implementing & Evaluating
Health Promotion Programs: A primer. Boston: Pearson
Übersichtswerk zur Durchführung von Gesundheitsförderungsmaßnahmen.
448 Julika Loss, Berit Warrelmann und Verena Lindacher

Digitale Medien: Weblinks und Filme

Web http://www.bzga.de/leitbegriffe
In diesem Glossar werden zentrale Begriffe, Konzepte, Strategien und Methoden der
Gesundheitsförderung definiert und erläutert, abzurufen unter

Film 40 Jahre BZgA – eine filmische Retrospektive


Der Film gibt einen Einblick in die verschiedenen Phasen der Geschichte der BZgA
als Akteur der Gesundheitsförderung, abzurufen unter: http://www.bzga-avmedien.
de/?uid=7867f03ecf5c3cf487ed2dfb70654a4a&id=bzgafilm15min

Web http://www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
Praxisdatenbank zu Gesundheitsförderungsinterventionen gegliedert nach verschie-
denen Zielgruppen, Settings, Gesundheitsthemen und Good-Practice-Kriterien,
abzurufen unter

Literatur

Antonovsky, A., 1987: Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well.
San Francisco: Jossey-Bass.
Arnstein, S.R., 1969: A Ladder of Citizen Participation. J Am Inst Plann 35(4): 216-224.
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Green, L. & M. Kreuter, 1991: Health promotion planning: an educational and environmental
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Seibold, C., J. Loss & E. Nagel, 2010: Gesunde Lebenswelt Hochschule. Ein Praxishandbuch für den
Weg zur Gesunden Hochschule. Hamburg: TK-Druckerei.
Stöckel, S., 2004: Geschichte der Prävention und Gesundheitsförderung. S. 21-29 in: K. Hurrelmann,
T. Klotz & J. Haisch (Hrsg.), Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung. Bern: Verlag
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von dem Knesebeck, O., B. Badura, P. Zamora, B. Weihrauch, W. Werse & J. Siegrist, 2001: Evaluation
einer gesundheitspolitischen Intervention auf kommunaler Ebene – Das Modellprojekt „Orts-
nahe Koordinierung der gesundheitlichen und sozialen Versorgung“ in Nordrhein-Westfalen.
Gesundheitswesen 63(1): 35-41.
Wallerstein, N., 2006: „What is the evidence on effectiveness of empowerment to improve health?“
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World Health Organization, 1997: Jakarta Declaration on Leading Health Promotion into the 21st
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Zakus, J.D. & C.L. Lysack, 1998: Revisiting community participation. Health Policy Plan 13(1): 1-12.
Zimmerman, M.A., 1995: Psychological empowerment: issues and illustrations. Am J Community
Psychol 23(5): 581-599.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Bittlingmayer, Uwe H., geb. 1970, Soziologe, Professor für Allgemeine Soziologie mit
Schwerpunkt Bildungsforschung am Institut für Soziologie der Pädagogischen Hochschule
Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: empirische Bildungs-, Ungleichheits- und Gesundheitsfor-
schung, Kritische Theorie der Gesellschaft. Anschrift: PH Freiburg, Kunzenweg 21, 79117
Freiburg, email: uwe.bittling-mayer@ph-freiburg.de

Blüher, Stefan, geb. 1969, Soziologe und Gerontologe, Dr. rer. pol., Wissenschaft ler am
Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Charité – Universi-
tätsmedizin Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorien, Soziologie des Alterns,
Gesundheitsförderung und Prävention im Alter, Determinanten von Pflegebedarf im Alter.
Anschrift: Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und
Rehabilitationswissenschaft, Luisenstr. 57, 10117 Berlin, email: stefan.blueher@charite.de

Borgetto, Bernhard, geb. 1963, Soziologe und Gesundheitswissenschaft ler, Professor und
Prodekan der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit der HAWK Hildesheim. Arbeits-
schwerpunkte: Medizin- und Gesundheitssoziologie, Rollen- und Professionssoziologie,
Evidenzbasierte Praxis, Gesundheitsförderung und Prävention, Therapie- und Versor-
gungsforschung. Anschrift: Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, Fa-
kultät Soziale Arbeit und Gesundheit, Goschentor 1, 31134 Hildesheim, email: bernhard.
borgetto@hawk-hhg.de.

Bozorgmehr, Kayvan, geb. 1981, Arzt und Gesundheitswissenschaft ler, wissenschaft licher
Mitarbeiter an der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Ruprecht-
Karls-Universität Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Determinanten der Gesundheit,
Sozialepidemiologie, Versorgungsforschung, Global Public Health. Anschrift: Universitäts-
klinikum Heidelberg, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Voßstr.
2, 69115 Heidelberg, email: kayvan.bozorgmehr@med.uni-heidelberg.de

Dabrock, Peter, geb. 1964, Theologe und Philosoph, Ordinarius für Systematische Theologie
II (Ethik), Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte:
Bioethik als Sozialethik (vor allem Ethik der Humangenomforschung und synthetischen

M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit,


DOI 10.1007/978-3-658-11010-9, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
452 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Biologie; Verhältnisbestimmung Wissenschaft und Gesellschaft), Ethik der Lebensfor-


men, Methodologie theologischer (Bio-) Ethik, Gerechtigkeitstheorien, Systemtheorie.
Anschrift: Lehrstuhl für Systematische Theologie (Ethik), Fachbereich Theologie, Fried-
rich-Alexander-Uni-versität Erlangen-Nürnberg, Kochstraße 6, 91054 Erlangen, email:
peter.da-brock@fau.de

Dietscher, Christina, geb. 1971, Soziologin. Senior Researcher am Ludwig Boltzmann Institut
Health Promotion Research und am WHO-Kooperationszentrum für Gesundheitsför-
derung in Krankenhaus und Gesundheitswesen. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitsför-
derndes Krankenhaus, Organisationale Gesundheitskompetenz in Krankenhäusern und
Gesundheitseinrichtungen, Setting-orientierte Netzwerke in der Gesundheitsförderung.
Anschrift: Ludwig Boltzmann Institut Health Promotion Research, Untere Donaustraße
47, A-1020 Wien, Österreich, email: christina.dietscher@aon.at

Dragano, Nico, geb. 1972, Medizinsoziologe, Professor und Direktor des Instituts für
Medizinische Soziologie, Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät, Hein-
rich-Heine-Universität Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Determinanten der
Gesundheit, Arbeit und Gesundheit, Stressforschung und Public Health. Anschrift: Hein-
rich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Medizinische Soziologie, Universitätsstraße
1, 40255 Düsseldorf, email: dragano@med.uni-duesseldorf.de

Faltermaier, Toni, geb. 1952, Gesundheitspsychologe und Gesundheitswissenschaftler,


Professor am Institut für Gesundheits-, Ernährungs- und Sportwissenschaften, Abteilung
Gesundheitspsychologie und Gesundheitsbildung, Europa-Universität Flensburg. Arbeits-
schwerpunkte: Gesundheitspsychologie, Public Health, Stress- und Salutogeneseforschung,
Laienvorstellungen von Gesundheit und Krankheit, subjektorientierte Ansätze der Präven-
tion und Gesundheitsförderung. Anschrift: Institut für Gesundheits-, Ernährungs- und
Sportwissenschaften, Abteilung Gesundheitspsychologie und Gesundheitsbildung, Auf
dem Campus 1, D-24943 Flensburg, email: faltermaier@uni-flensburg.de

Gerlinger, Thomas, geb. 1959, Politik- und Gesundheitswissenschaftler, Professor und Leiter
der Arbeitsgruppe „Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie“
an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Arbeitsschwer-
punkte: Gesundheitspolitik und Gesundheitssystem in Deutschand, internationaler
Gesundheitssystemvergleich, Gesundheitspolitik in der Europäischen Union. Anschrift:
Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Postfach 10 01 31, 33501
Bielefeld, email: thomas.gerlinger@uni-bielefeld.de

Geyer, Siegfried, geb. 1956, Soziologe, Professor und Leiter der Medizinischen Soziolo-
gie der Medizinischen Hochschule Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Die Rolle sozialer
Faktoren bei Ausbruch und Verlauf chronischer Krankheiten, Morbiditätskompression,
Entwicklung von Forschungsmethoden. Anschrift: Medizinische Soziologie OE 5420,
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 453

Medizinische Hochschule Hannover, Carl-Neuberg-Straße 1, 30823 Hannover, email:


geyer.siegfried@mh-hannover.de

Haslbeck, Jörg, geb. 1971, Pflege- und Gesundheitswissenschaftler, Programmleiter Kom-


petenzzentrum Patientenbildung, Careum Forschung, Forschungsinstitut Kalaidos Fach-
hochschule für Gesundheit sowie Postdoktorand am Institut für Pflegewissenschaft INS,
Medizinische Fakultät, Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Leben mit chronischer
Krankheit, Selbstmanagementförderung, Patientenkompetenz und -beteiligung, Versor-
gungsforschung. Anschrift: Careum Stiftung, Pestalozzistrasse 3, CH-8032 Zürich, email:
joerg.hasl-beck@careum.ch

Hurrelmann, Klaus, geb. 1944, Soziologe und Gesundheitswissenschaftler, Senior Professor


of Public Health and Education, Hertie School of Governance, Berlin. Arbeitsschwerpunkte:
Soziale Determinanten der Gesundheit, Lebenslaufforschung, Kinder- und Jugendfor-
schung, Bildungsforschung. Anschrift: Hertie School of Governance, Friedrichstr. 180,
10117 Berlin, email: hurrelmann@hertie-school.org

Kälble, Karl, geb. 1957, Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter der AHPGS Akkreditierung
gGmbH, Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Berufs-, Professions- und Bildungssoziologie mit
Fokus Gesundheits- und Sozialwesen, Medizin- und Gesundheitssoziologie, Public Health,
interprofessionelle Kooperation, Akkreditierung. Anschrift: AHPGS Akkreditierung
gGmbH, Sedanstraße 22, 79098 Freiburg, email: karl.kaelble@ahpgs.de

Klein, Jens, geb. 1975, Soziologe, Institut für Medizinische Soziologie, Universitätsklini-
kum Hamburg-Eppendorf. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Einflüsse auf Gesundheit und
Versorgung, Psychosoziale Arbeitsbelastungen, Versorgungsungleichheiten. Anschrift:
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Medizinische Soziologie, Marti-
nistr. 52, 20246 Hamburg, email: j.klein@uke.de

von dem Knesebeck, Olaf, geb. 1966, Soziologe, Professor und Direktor des Instituts für
Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Arbeitsschwerpunkte:
Soziale Einflüsse auf Gesundheit und Versorgung, Internationale Vergleiche, Public Mental
Health, Evaluationsforschung. Anschrift: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut
für Medizinische Soziologie, Martinistr. 52, 20246 Hamburg, email: o.knesebeck@uke.de

Kuhlmann, Ellen, Dr. habil., MPH, Krankenschwester, ist gegenwärtig guest researcher
(FORTE/Swedish Research Council grant) am Medical Management Centre, Karolinska
Institutet, Schweden. Arbeitsschwerpunkte: international vergleichende Gesundheits-
politik und Governanceforschung, Professionen und Organisation, Management der
Gesundheitsversorgung, Gender und Gesundheitspolitik/-versorgung. Anschrift: MMC/
LIME Karolinska Institutet, Tomtebodavägen 18a, 17173 Stockholm, Schweden, email:
ellen.kuhlmann@ki.se
454 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Kuhlmey, Adelheid, geb. 1955, Medizinsoziologin und Gerontologin, Professorin und


Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft,
Charité- Universitätsmedizin Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Demografischer Wandel
und Auswirkungen auf die Gesundheitsentwicklung, Alter, Gesundheit und Krankheit,
medizinische und pflegerische Versorgung alter Menschen. Anschrift: Charité – Universi-
tätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft,
Luisenstr. 57, 10117 Berlin, email: adelheid.kuhlmey@charite.de

Lampert, Thomas, geb. 1970, Soziologe und Gesundheitswissenschaftler, Leiter des Fach-
gebiets Soziale Determinanten der Gesundheit, Robert Koch-Institut. Arbeitsschwer-
punkte: Soziale Determinanten der Gesundheit, Lebensverlaufsforschung, Kinder- und
Jugendgesundheit, Gesundheitsberichterstattung. Anschrift: Robert Koch-Institut, FG28
Soziale Determinanten der Gesundheit, General-Pape-Str. 62-66, 12101 Berlin, email:
t.lampert@rki.de

Lindacher, Verena, geb. 1988, Kommunikations- und Gesundheitswissenschaftlerin,


Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Medizinische Soziologie, Institut
für Epidemiologie und Präventivmedizin, Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte:
Gesundheitsförderung und Prävention im Setting, Empowerment und Partizipation, Me-
thoden der Evaluation von Gesundheitsförderungsinterventionen. Anschrift: Universität
Regensburg, Medizinische Fakultät, Medizinische Soziologie, Institut für Epidemiologie
und Präventivmedizin, Dr.-Gessler-Str. 17, 93051 Regensburg, email: verena.lindacher@
klinik.uni-regensburg.de

Loss, Julika, geb. 1972, Ärztin, Professorin für Medizinische Soziologie, Institut für Epide-
miologie und Präventivmedizin, Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Strategien,
Evaluation und Qualitätsmanagement von präventiven Maßnahmen, Empowerment und
Partizipation in der Gesundheitsförderung, Gesundheitskommunikation. Anschrift:
Universität Regensburg, Medizinische Fakultät, Medizinische Soziologie, Institut für
Epidemiologie und Präventivmedizin, Dr.-Gessler-Str. 17, 93051 Regensburg, email: julika.
loss@klinik.uni-regensburg.de

Marckmann, Georg, geb. 1966, Arzt, Philosoph und Gesundheitswissenschaftler, Professor


und Direktor des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Ludwig-Maxi-
milians-Universität München.  Arbeitsschwerpunkte: Gerechtigkeit im Gesundheitswesen,
ethische Fragen von Public Health Maßnahmen, ethische Entscheidungen am Lebensende,
klinische Ethikberatung. Anschrift: Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Me-
dizin, Ludwig-Maximilians-Universität München, Lessingstr. 2, 80336 München, email:
marckmann@lmu.de

Neubert, Carolin, geb. 1987, Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt


„Sozialisationstheoretische Untersuchung zur sozialisatorischen Wirkung von Krankheits-
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 455

erfahrungen bei chronisch schwer kranken Kindern und ihren Eltern“, Fachbereich Gesell-
schaftswissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte:
Kindheitsforschung, Medizinsoziologie, Sozialisationstheorien, soziologische Professio-
nalisierungstheorie. Anschrift: Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich 03,
Institut für Soziologie, Theodor-W.-Adorno-Platz 68, 60629 Frankfurt am Main, email:
neubert@em.uni-frankfurt.de

Ohlbrecht, Heike, geb. 1970, Soziologin, Professorin für allgemeine Soziologie/Mikro-


soziologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Arbeitsschwerpunkte: quali-
tative Gesundheitsforschung, soziale Ungleichheit und Gesundheit, Kinder-, Jugend- und
Familienforschung. Anschrift: Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Institut für
Soziologie, Zschokkestr. 32, 39016 Magdeburg, email: heike.ohlbrecht@ovgu.de

Pelikan, Jürgen M., geb. 1940, Soziologe und Gesundheitswissenschaftler, Professor i. R. am


Institut für Soziologie der Universität Wien, Key Researcher am Ludwig Boltzmann Institute
Health Promotion Research, Direktor des WHO-CC for Health Promotion in Hospitals
and Health Care. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitsförderung in Settings (insbesondere
in Krankenhäusern), Gesundheitskompetenz, Gesundheitskompetente Organisationen,
Salutogenese, Systemtheorie. Anschrift: Grünangergasse 1-25, A-1010 Wien, Österreich,
e-mail: juergen.pelikan@univie.ac.at

Peter, Claudia, geb. 1971, Soziologin, Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt qualitative
Methoden, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Arbeitsschwerpunkte: Sozialisations-
forschung, Medizinsoziologie, qualitative Methodologien, Anschrift: Goethe-Universität
Frankfurt, Campus Westend, Theodor-W.-Adorno-Platz 6, 60629 Frankfurt am Main,
email: c.peter@soz.uni-frankfurt.de

Pfaff, Holger, geb. 1956, Medizinsoziologe und Versorgungsforscher, Professor und Direktor
des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft,
Humanwissenschaftliche und Medizinische Fakultät, Universität zu Köln. Arbeitsschwer-
punkte: Versorgungsforschung, Arbeit und Gesundheit, Betriebliche Gesundheitsförde-
rung, Organisationsforschung. Anschrift: Universität zu Köln, Humanwissenschaftliche
und Medizinische Fakultät, Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und
Rehabilitationswissenschaft, Eupener Str. 129, 50933 Köln, email: holger.pfaff@uk-koeln.de

Pförtner, Timo-Kolja, geb. 1981, Medizinsoziologe und Sozialwissenschaftler, Wissen-


schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und
Rehabilitationswissenschaft, Humanwissenschaftliche und Medizinische Fakultät, Univer-
sität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Determinanten der Gesundheit, Gesundheit
und gesundheitliche Ungleichheit im internationalen Vergleich, Lebenslaufforschung,
Armutsforschung. Anschrift: Universität zu Köln, Humanwissenschaftliche und Medizi-
456 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

nische Fakultät, Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitati-


onswissenschaft, Eupener Str. 129, 50933 Köln, email: timo-kolja.pfoertner@uk-koeln.de

Razum, Oliver, geb. 1960, Mediziner und Epidemiologe, Dekan der Fakultät für Gesund-
heitswissenschaften an der Universität Bielefeld, dort auch Professor für Epidemiologie &
International Public Health und Leiter der gleichnamigen Abteilung. Arbeitsschwerpunkte:
Sozialepidemiologie, Migration und Gesundheit, kleinräumige Einflüsse auf Gesundheit,
Global Health. Anschrift: Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften,
AG Epidemiologie & International Public Health, Postfach 100131, 33501 Bielefeld, email:
oliver.razum@uni-bielefeld.de

Richter, Matthias, geb. 1971, Soziologe und Gesundheitswissenschaftler, Professor und


Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wit-
tenberg. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Determinanten der Gesundheit, Lebenslauffor-
schung, Kinder- und Jugendgesundheitsforschung, Versorgungsforschung. Anschrift: Mar-
tin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Institut für Medizinische
Soziologie, Magdeburger Str. 8, 06112 Halle (Saale), email: m.richter@medizin.uni-halle.de

Rossmann, Constanze, geb. 1974, Professorin für Kommunikationswissenschaft mit


Schwerpunkt Soziale Kommunikation an der Universität Erfurt. Arbeitsschwerpunkte:
Gesundheits- und Risikokommunikation, Kampagnenforschung, mHealth, Medienwir-
kungsforschung. Anschrift: Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Seminar für
Medien- und Kommunikationswissenschaft, Nordhäuser Str. 63, 99089 Erfurt, email:
constanze.rossmann@uni-erfurt.de

Schaeffer, Doris, Professorin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Univer-


sität Bielefeld sowie Direktorin des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität
Bielefeld (IPW). Arbeitsschwerpunkte: Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf,
patienten- und nutzerorientierte Versorgung und Pflege, Patienteninformation, -beratung
und -edukation, Gesundheitserhaltung und -versorgung im Alter. Anschrift: Universität
Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG6 Versorgungsforschung und Pfle-
gewissenschaft, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, email: doris.schaeffer@uni-bielefeld.de

Schroer, Markus, geb. 1964, Soziologe, Professor fürAllgemeine Soziologie, Philipps-Uni-


versität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorien, Soziologie des Körpers,
Individualisierungstheorien, Kultursoziologie, gesellschaftliche Zeitdiagnosen, Filmsozio-
logie, Raumsoziologie. Anschrift: Philipps-Universität Marburg, Institut für Soziologie,
Ketzerbach 11, 35032 Marburg, email: schroer@staff.uni-marburg.de

Schroeter, Klaus R., geb. 1959, Professur für Soziale Arbeit und Alter an der Hochschule
für Soziale Arbeit der FHNW in Olten (Schweiz); Gesamtprogrammleiter der Stategischen
Intitiative (SI) „Alternde Gesellschaft (2015-2017)“ der Fachhochschule Nordwestschweiz
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 457

(FHNW). Arbeitsschwerpunkte: Soziale Gerontologie, Alternssoziologie, Generationen-


und Lebenslauf, Körpersoziologie, Soziologische Theorien. Anschrift: Fachhochschule
Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Institut für Integration und Partizipation,
Riggenbachstrasse 16, CH-4600 Olten, Schweiz, email: klaus.schroeter@fhnw.ch

Spallek, Jacob, geb. 1978, Epidemiologe und Gesundheitswissenschaftler, Jun. Prof. für
Sozialepidemiologie, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld. Arbeits-
schwerpunkte: Sozialepidemiologie, Lebenslaufepidemiologie, Migration und Gesundheit,
Versorgungsforschung. Anschrift: Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissen-
schaften, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, email: jacob.spallek@uni-bielefeld.de

Sperlich, Stefanie, geb. 1973, Soziologin, Dr. rer. biol. hum., Mitarbeiterin der Medizinischen
Soziologie, Medizinische Hochschule Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Medizinsoziolo-
gische Theorien, soziale und gesundheitliche Ungleichheit, Frauengesundheitsforschung.
Anschrift: Medizinische Hochschule Hannover, Medizinische Soziologie, Carl-Neuberg-
Str. 1, 30625 Hannover, email: sperlich.stefanie@mh-hannover.de

Sundmacher, Leonie, geb. 1979, Gesundheitsökonomin, Professorin und Leiterin des


Fachbereich Health Services Management, Ludwig-Maximilians Universität München.
Arbeitsschwerpunkte: (Regionale) Versorgungsforschung, Qualitätsmanagement, Sys-
temlehre. Anschrift: Ludwig-Maximilians Universität München, Fakultät Betriebswirt-
schaft, Fachbereich Health Services Management, Schackstr. 4, 80539 München, email:
sundmacher@bwl.lmu.de

Warrelmann, Berit, geb. 1987, Ernährungs- und Gesundheitswissenschaftlerin, Wis-


senschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Medizinische Soziologie, Institut für
Epidemiologie und Präventivmedizin, Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte:
Gesundheitsförderung und Prävention im Setting, Empowerment und Partizipation in der
Gesundheitsförderung, Männergesundheit. Anschrift: Universität Regensburg, Medizini-
sche Fakultät, Medizinische Soziologie, Institut für Epidemiologie und Präventivmedizin,
Dr.-Gessler-Str. 17, 93051 Regensburg, email: berit.warrelmann@klinik.uni-regensburg.de

Wendt, Claus, geb. 1968, Soziologe, Professor für Soziologie der Gesundheit und des Ge-
sundheitssystems, Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Wohlfahrtsstaatsvergleich,
Gesundheitssystemvergleich, Institutionentheorie, Ungleichheitsforschung. Anschrift:
Universität Siegen, Lehrstuhl für Soziologie der Gesundheit und des Gesundheitssystems,
Adolf-Reichwein-Str. 2, 57068 Siegen, email: wendt@soziologie.uni-siegen.de

Wilde, Jessica, geb. 1982, Soziologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich


Allgemeine Soziologie, Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische
Theorien, Stadtsoziologie, Artefakt- und Techniksoziologe. Anschrift: Philipps-Universität
458 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Marburg, Institut für Soziologie, Ketzerbach 11, 35032 Marburg, email: jessica.wilde@
staff.uni-marburg.de

Wilkesmann, Maximiliane, geb. 1975, Sozialwissenschaftlerin, Juniorprofessorin für So-


ziologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, Technische Universität
Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Organisationen und Akteure des Gesundheitswesens,
Wissens- und Innovationsforschung, Industrielle Beziehungen. Anschrift: Technische
Universität Dortmund, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Otto-Hahn-Str.
4, 44221 Dortmund, email: maximiliane.wilkesmann@tu-dortmund.de

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