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Oktober 2003
Historische Entwicklung
Im Strafrecht genossen Kinder und Jugendliche bis in die Neuzeit hinein keine Sonderrolle. Sie unterfielen den für die Erwachsenen
geltenden Strafen. Allerdings bestand schon früh die Möglichkeit, von Strafe abzusehen oder diese zu mildern. Auch finden sich teil-
weise Regelungen der Halbierung des Strafmaßes für junge Täter. Insgesamt – wiederum in der Denkweise des Erwachsenenstrafrechts
– erblickte man in der Jugend des Täters einen Umstand geminderter Schuldfähigkeit. Epochen der Entwicklung waren:
1. Constitutio Criminalis Carolina 1532: Zwar existiert noch keine Festlegung der Strafmündigkeit, es gab jedoch eine Sonderregelun-
gen für jugendliche Straftäter in Art. 164: Junge Diebe sollten lediglich eine gemilderte Strafe erhalten. Anstelle der Todesstrafe treten
Leibesstrafen verbunden mit ewiger Landesverweisung, sofern nicht die "Bosheit" der Tat das jugendliche Alter aufwiegt.
2. Erste "Zucht"-Häuser: Die Gedanken von Resozialisierung im Strafvollzug findet sich erstmals in den Konzeptionen der Amster-
damer Zucht- und Spinnhäuser (1594) sowie der Konzeption des Schlosses Bridewell (1554). Hier wurden Täter, die geringe Jugend-
verfehlungen begangen haben, "gebessert". Allerdings beschränkte sich das Konzept nicht auf straffällige Jugendliche, sondern erstreck-
te sich auch auf verwahrloste Jugendliche sowie auf erwachsene Stadt- und Landstreicher sowie allgemein auf "Asoziale".
3. Bis Ende des 18. Jahrhundert: Im gemeinen Recht unterschied man im wesentlichen drei Altersstufen:
a) Infantes (Kinder) 0 - 7 Jahre: keine Schuldfähigkeit; in Ausnahmen konnten "Rutenschläge" als Sanktion erteilt werden.
b) Impuberes (Jugendliche) 7–14 Jahre: Im Wesentlichen sollten diese straffrei ausgehen. Es bestand jedoch die Möglichkeit der
Landesverweisung oder der körperlichen Züchtigung, im Ausnahmefall sogar der Verhängung von Todesstrafe.
c) Minores (Minderjährige) 14–25 Jahre: sie waren grundsätzlich wie Erwachsene zu bestrafen, die Strafe konnte jedoch gemildert
werden; eine Ausnahme galt teilweise bei "geringer Überschreitung" des 14. Lebensjahres.
4. Zeit der Aufklärung: Die entscheidende Wendung zur Ausbildung eines besonderen Jugendstrafrechts und seiner Ablösung vom
allgemeinen Strafrecht hat seinen Ursprung in neuen geistigen und sozialen Strömungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Gedanke
der Aufklärung; zunehmende Industrialisierung; Auflösung sozialer Strukturen; Schul- und Berufsausbildung). Diese Entwicklungen
führten zwar noch nicht aktuell zu wesentlichen Änderungen, jedoch zumindest zu einer allgemeinen Humanisierung des Strafrechts
und zu einer Zurückdrängung der Todes- und der Leibesstrafen.
5. Partikularstrafgesetzbücher des 19. Jh.: Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine absolute Strafunmündigkeit festlegten (die
zwischen 8 und 14 Jahren schwankte) . Ferner wurde oftmals eine Strafmilderung für höhere Altersstufen vorgesehen.
6. Deutsches Reichsstrafgesetzbuch (1871): In § 55 RStGB Festlegung der Strafmündigkeit auf 12 Jahre; eine "relative Strafmündig-
keit" galt für Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren. Nach § 57 RStGB galt für "Halberwachsene" die sogenannte "Halbstrafenrege-
lung".
7. Jugendgerichtsgesetz 1923: Erstmals Schaffung eines speziellen Sonderstrafrechts für Jugendliche (geistige Grundlagen waren
sowohl das Marburger Programm 1882 von Franz v. Liszt als auch die 1909 gegründete "Jugendgerichtsbewegung"). Bereits 1922
wurde das Jugendwohlfahrtsgesetz geschaffen.
Wesentliche Änderungen im JGG: a) Die Strafmündigkeit wurde auf 14 Jahre angehoben, b) die Bestrafung von 14-17jährigen setzt
eine geistige und sittliche Reife voraus, c) neben die Freiheitsstrafe trat als Sanktion ein System von Erziehungsmaßregeln, wobei
Freiheitsstrafe erst dann verhängt werden durfte, wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichten, d) Ausschluss der Öffentlichkeit vom
Strafverfahren, e) Beschränkung des Legalitätsprinzips, f) es erfolgt eine Persönlichkeitserforschung durch die (neu geschaffene) Ju-
gendgerichtshilfe, g) die Freiheitsstrafe konnte erstmals zur Bewährung ausgesetzt werden.
8. Änderung 1943: Einführung einer Dreigliederung der jugendstrafrechtlichen Reaktionsmittel (Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel,
Jugendstrafe). Ersetzung der kurzen Freiheitsstrafe (bis zu drei Monaten) durch Jugendarrest. Möglichkeit der Jugendstrafe auf unbe-
stimmte Dauer, Abschaffung der Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung. Auflockerung der Altersgrenzen wieder abgeschafft:
in schweren Fällen Strafmündigkeit bei 12 Jahren und Möglichkeit, das Erwachsenenstrafrecht auch auf unter 18jährige anzuwenden,
wenn es sich um "charakterlich abartige Schwerverbrecher" handelte. Insoweit war sogar die Verhängung von Todesstrafe möglich
9. Änderung 1953: Aufhebung der nationalsozialistischen Elemente des Jugendstrafrechts. Die Strafaussetzung zur Bewährung wurde
wiedereingeführt, gleichzeitig wurde auch Bewährungshilfe und Bewährungsaufsicht vorgesehen. Ferner sind seit 1953 die Heran-
wachsenden (18-20 Jahre) teilweise in das Jugendstrafrecht einbezogen.
10. Änderung 1990: Teilweise Reform des JGG: Änderungen des § 45 JGG (Diversion), der Erziehungsmaßregeln und der Zuchtmittel;
Abschaffung der unbestimmten Jugendstrafe; Einführung der Betreuungsweisung und des der sozialen Trainingskurses; Täter-
Opfer-Ausgleichs; Möglichkeit der Auferlegung von Arbeitsverpflichtungen durch Weisung ; Änderungen der Voraussetzungen bei der
Untersuchungshaft, §§ 72, 72a JGG.
3. Verteilung von Jugendkriminalität: Jugendpezifische Delikte sind insbesondere der Diebstahl (in erster
Linie Ladendiebstahl, Automatenaufbrüche); ferner Sachbeschädigungen (Grafitti-Sprühereien) und Leis-
tungserschleichung (Schwarzfahren). Auffallend ist allerdings auch eine überproportional hohe Quote bei
den Rohheits- und Gewaltdelikten (Raub; räuberische Erpressung).
Strafrechtliche Verantwortlichkeit
Jugendlicher
I. Überblick über die Altersstufen im Jugendstrafrecht
1. Kleinkinder: 0 – 6 Jahre; weder zivilrechtlich, noch strafrechtlich verantwortlich
2. Kinder: 7 – 13 Jahre; zivilrechtlich beschränkt geschäftsfähig (§ 106 BGB); zivilrechtlich bedingt de-
liktsfähig (§ 828 II BGB); keine strafrechtliche Verantwortlichkeit, § 19 StGB
3. Jugendliche: 13 – 17 Jahre; zivilrechtlich beschränkt geschäftsfähig (§ 106 BGB); zivilrechtlich bedingt
deliktsfähig (§ 828 II BGB); strafrechtlich bedingt strafmündig, § 19 StGB, § 1 II JGG
4. Heranwachsende: 18 – 20 Jahre: zivilrechtlich voll geschäftsfähig und deliktsfähig; strafrechtlich gelten Son-
derregelungen, §§ 1 II, 105 JGG.
5. Erwachsene: ab 21 Jahre: zivilrechtlich voll geschäftsfähig und deliktsfähig; strafrechtlich voll verantwort-
lich, sofern nicht §§ 20, 21 StGB eingreift.
II. Grundsätzliches zur Bedeutung des Alters
– es gilt das Alter zum Tatzeitpunkt: nach § 187 BGB zählt der Tag der Geburt (Zeitpunkt: 0 Uhr) bei der Fris-
tenberechnung mit;
– bei Unklarheit über den Geburtszeitpunkt (insbesondere bei ausländischen Jugendlichen: Sachverständigengut-
achten (Ermächtigungsgrundlage im Prozess: § 81a StPO). Kann das Alter nicht genau festgestellt werden gilt:
in dubio pro reo.
III. Inhalt des § 3 JGG (Strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher)
Jugendliche sind bedingt strafmündig. Eine Strafbarkeit setzt voraus:
– Besondere Reife: – Sittliche Reife (= ethisches Element)
– Geistige Reife (= intellektuelles Element)
– Besondere Fähigkeit – das Unrecht der Tat einzusehen (= Unrechtsbewusstsein)
– nach dieser Unrechtseinsicht auch zu handeln (ausgeschlossen bei trieb-
haftem Handeln)
– Bezogen auf die jeweilige Tat
IV. Prüfungsschema Schuld bei Jugendlichen:
1. Schuldfähigkeit a. Alter im Tatzeitpunkt (§ 19 StGB)
b. Verantwortlichkeit (§§ 3, 105 JGG)
− bei Jugendlichen gem. § 3 JGG nur, wenn
(1) geistige und sittliche Reife und
(2) Einsichts- und Steuerungsfähigkeit
− bei Heranwachsenden gem. § 105 I JGG immer (str.), es sei denn Reiferückstand oder
Jugendverfehlung
c. Schuldfähigkeit i.e.S. (§§ 20, 21 StGB): Problem: Welches Recht ist anzuwenden, wenn
die Schuldfähigkeit nach § 3 JGG und nach § 20 StGB fehlt? BGH: § 20 StGB
2. spezielle Schuldmerkmale (nur nach der Mindermeinung)
3. persönliche Vorwerfbarkeit der tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Tat
a. Schuldform, d.h. Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsschuld (str.); Ansatzpunkt: Erlaubnistatbestandsirrtum
b. Unrechtsbewusstsein (§ 17 StGB); dieses ist demnach nach § 3 JGG zu prüfen.
c. Entschuldigungsgründe (§§ 33, 35 StGB, übergesetzliche Entschuldigungsgründe)
V. Feststellung der Verantwortlichkeit:
Es gilt die Pflicht zur Amtsaufklärung (§ 43 JGG). In der Praxis wird hierzu ein Bericht der Jugendgerichtshilfe
nach § 38 II JGG eingeholt. Bestehen daraufhin Zweifel muss ein jugendpsychologisches Gutachten nach § 43 II JGG
eingeholt werden. In der Praxis lehnen Gerichte den Antrag auf einen Sachverständigen mit dem Hinweis auf die eige-
ne Sachkunde ab, die es erlaube, in der Hauptverhandlung selbst die notwendigen Schlüsse zu ziehen.
Strafrechtliche Behandlung
Heranwachsender, §§ 105 ff. JGG
I. Überblick: Heranwachsende sind Personen zwischen 18 und 20 Jahren; sie sind zivilrechtlich voll geschäftsfähig und deliktsfähig;
strafrechtlich gelten Sonderregelungen, §§ 1 II, 105 ff. JGG. Grundsätzlich gelten Heranwachsende als voll strafmündig. Sie werden
aber im Strafverfahren teilweise wie Jugendliche behandelt.
III. Verfahren und Zuständigkeit, §§ 107, 108, 109 JGG. Bis auf wenige Ausnahmen gelten die Vorschriften über die Jugendge-
richtsverfassung (§ 107 JGG); die Zuständigkeit (§ 108 JGG) und das Jugendstrafverfahren (§ 109 JGG) bei Heranwachsenden ent-
sprechend. Nach § 109 I JGG gelten bestimmte Verfahrensvorschriften des JGG bei Heranwachsenden auch dann, wenn sie nach
Erwachsenenstrafrecht abgeurteilt werden.
IV. Einordnung in der Praxis: Die Praxis zeigt, dass im Falle schwerer Kriminalität (Tötungsdelikte, Raub etc.) die Gerichte fast
ausschließlich einen „Reiferückstand“ annehmen mit der Folge, dass Jugendstrafrecht auf Heranwachsende angewendet wird. Im
Falle leichterer Delikte, die im Erwachsenenstrafrecht im summarischen Verfahren per Strafbefehl (d.h. im wesentlichen mit Geldstra-
fen) abgehandelt werden, überwiegt dagegen die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts.
Akteure im Jugendstrafverfahren
I. Der Jugendrichter (§§ 33 – 42 JGG)
– Für das Jugendstrafverfahren sind besondere Gerichte eingeführt worden: Jugendrichter, Jugendschöffengericht (beide beim Amtsge-
richt) und Jugendstrafkammer (Landgericht). Beim OLG oder BGH gibt es keine besonderen Jugendkammern.
– Nach §§ 82, 84 JGG ist der Jugendrichter zugleich Vollstreckungsleiter (im Erwachsenenstrafrecht ist dies die Staatsanwaltschaft). Er ist
nach § 90 II 2 JGG auch Arrestvollzugsleiter und nimmt auch sonst diejenigen Aufgaben wahr, die ansonsten im Erwachsenenvollzug der
Strafvollstreckungskammer beim Landgericht zufällt. Nach § 34 II JGG soll der Jugendrichter (zumindest derjenige am Amtsgericht)
gleichzeitig Familien- und Vormundschaftsrichter sein.
– Nach § 37 JGG soll der Jugendrichter erzieherisch befähigt sein und in der Jugenderziehung Erfahrungen haben. Diese Vorschrift stellt
jedoch eine reine Ordnungsvorschrift dar, auf deren Verletzung keine Revision gestützt werden kann.
– Auch eine spezielle Aus- und Fortbildung für Jugendrichter ist (leider) nicht obligatorisch.
II. Die Jugendschöffen (§ 35 JGG)
– Neben den Berufsrichtern in Jugendsachen sehen die Jugendschöffengerichte und Jugendstrafkammern die Beteiligung Laienrichter
(Jugendschöffen) auch im Jugendstrafverfahren vor.
– Anders als die Schöffen in Erwachsenengerichten werden Jugendschöffen also auf der Grundlage eines Vorschlags des Jugendwohl-
fahrtsausschusses gewählt (§ 35 Abs. 1 JGG). Es gilt hier der Grundsatz der Geschlechterparität – und zwar nicht nur im Hinblick auf die
Gesamtzahl der Schöffen, sondern darüber hinaus auch für die einzelnen Verfahren (§§ 33a I 2, 33b III JGG).
– Jugendschöffen sollen erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein (§ 35 II JGG).
III. Der Jugendstaatsanwalt (§§ 36, 37 JGG)
– Der Jugendstaatsanwalt muss nach § 36 JGG bestellt werden. Er ist jedoch in die allgemeine Staatsanwaltschaft bei den Landgerichten
eingegliedert. Allerdings soll nach h.M. § 36 JGG eine reine Ordnungsvorschrift darstellen, d.h. eine Revision kann auf eine Verletzung
dieser Norm nicht gestützt werden.
– Für den Jugendstaatsanwalt gelten nach § 37 dieselben Ansprüche wie an den Jugendrichter, d.h. er soll erzieherisch befähigt und in der
Jugenderziehung erfahren sein.
– Die Bedeutung des Jugendstaatsanwalts hat insbesondere mit der wachsenden Bedeutung der Einstellung des Jugendstrafverfahrens
gemäß § 45 JGG beträchtlich zugenommen.
IV. Die Jugendgerichtshilfe (§ 38 JGG)
– Die Jugendgerichtshilfe gilt als wesentliche Stütze des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht und als wesentliches „Einfallstor" für
sozialpädagogische und fürsorgerische Elemente in das Jugendstrafverfahren. Ihr kommt bei der Verwirklichung des Erziehungsgedan-
kens im Jugendstrafverfahren eine Schlüsselrolle zu. Sie ist nach § 38 I JGG eine Aufgabe des Jugendamtes. Sie ist daher nicht Teil der
Justiz, sondern selbstständig.
– Die Jugendgerichtshilfe soll die Persönlichkeit des Jugendlichen und die sozialen Umstände der Tat erforschen. Sie soll einen Jugendge-
richtshilfebericht anfertigen und in der Verhandlung den Bericht vortragen (§ 38 II JGG). Darüber hinaus soll sie einen Vorschlag zu den
Rechtfolgen der Straftat machen. Sie ist dabei so früh wie möglich von der Einleitung eines Jugendstrafverfahrens zu unterrichten. Wird
sie nicht beteiligt, stellt dies einen Revisionsgrund (§ 337 StPO) dar.
– Der Vertreter der Jugendgerichtshilfe hat in allen Verfahrensphasen ein Äußerungsrecht. Zudem hat die Jugendgerichtshilfe ein umfas-
sendes Verkehrsrecht mit dem sich in U-Haft. befindlichen Beschuldigten oder Angeklagten (diese Regelung findet sich in § 93 Abs. 3
JGG). Ferner hat sie ein Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung (§ 50 Abs. 3 JGG). Auf Verlangen ist dem Vertreter der Jugendge-
richtshilfe in der Hauptverhandlung das Wort zu erteilen. Nach h.M. hat sie jedoch keine Mitwirkungspflicht, kann dem Verfahren also
fern bleiben oder den Bericht verweigern (sehr str.).
– Derzeitige Probleme bzw. Konfliktpotential: a) Organisation: organisatorische Einbindung oder organisatorische Selbstständigkeit in
Bezug auf die allgemeine Jugendhilfe der Jugendämter? b) Intra-Rollen-Konflikt: Der Jugendgerichtshelfer soll sowohl erzieherisch tätig
werden, ist aber andererseits Beteiligter im Strafverfahren ohne Zeugnisverweigerungsrecht; c) „Gerichtsgänger“-Problematik: nach § 38
II 4 JGG soll derjenige, der die Gespräche geführt und den Bericht erstellt hat, auch vor Gericht erscheinen. Hiergegen wird oft verstoßen.
VI. Der Jugendverteidiger (§ 68 JGG)
– Der Verteidiger muss keine spezifischen Qualifikationen für Jugendsachen aufweisen. Daher kann sogar ein gesetzlicher Vertreter oder
ein Erziehungsberechtigter als Verteidiger gewählt werden. Die Grundsätze der notwendigen Verteidigung (§ 140 StPO) gelten auch hier.
VII. Der Erziehungsberechtigte bzw. gesetzliche Vertreter (§ 67 JGG)
– Diese sind Verfahrensbeteiligte (§ 67 JGG) und können im Verfahren eigenständige Rechte geltend machen, insbesondere auch
Rechtsmittel einlegen. Ein Beteiligungsrecht auch bei der polizeilichen Vernehmung ist nicht explizit geregelt, ist aber sinnvoll.
VIII. Der Beistand (§ 69 JGG)
Der Beistand soll im Verfahren gegen einen Jugendlichen eine Unterstützungsfunktion wahrnehmen. Er wird nicht vom Jugendlichen
gewählt, sondern vom Vorsitzenden bestellt. Die Bestellung steht im Ermessen des Gerichts. Die Beistandschaft ist ausgeschlossen, wenn
ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt. Der Beistand hat nur teilweise die Rechte eines Verteidigers
IX. Die Jugendpolizei (keine gesetzliche Regelung)
Eine spezialisierte Jugendpolizei gibt es nicht. Freilich hat sich im Rahmen der Durchsetzung des Jugendschutzes eine Spezialisierung
innerhalb der Kriminalpolizei ergeben. Bei manchen Polizeibehörden sind spezielle Jugenddezernate eingerichtet worden.
X. Die sonstigen Beteiligten
Sonstige Beteiligte sind im Verfahren nicht vorgesehen. Allerdings stehen dem Bewährungshelfer, dem Leiter eines sozialen Trainings-
kurses oder dem Betreuungshelfer, soweit sie mit dem Jugendlichen befasst sind, gewisse Rechte zu (§§ 48 II, 50 IV JGG).
Gerichtsverfassung/Zuständigkeiten
I. Überblick: Eine gesetzliche Regelung über die Jugendgerichte findet sich in §§ 33 – 42 JGG. Diese gelten nach §§ 107, 108 JGG weitge-
hend auch für Heranwachsende.
4. Sonderzuständigkeit in Jugendschutzsachen
Nach §§ 26 I 1, 74b S. 1 GVG sind die Jugendgerichte auch zuständig für Straftaten Erwachsener, durch die ein Kind oder Jugendli-
cher verletzt oder unmittelbar gefährdet wird, sowie für Verstöße Erwachsener gegen Vorschriften, die dem Jugendschutz oder der Ju-
genderziehung dienen. Grund ist der, dass in diesen Verfahren zumeist die Kinder oder Jugendlichen als Zeugen zu vernehmen sind
und die Jugendgerichte in dieser Hinsicht für qualifizierter gelten als die Erwachsenengerichte.
5. Die örtliche Zuständigkeit (§ 42 I JGG iVm. § 42 II JGG): Vorrangig zuständig ist a) der Richter, dem bei einem Jugendlichen, der
gerade eine Jugendstrafe verbüßt, die Aufgaben des Vollstreckungsleiters obliegt, ansonsten b) der Richter, dem die familien- oder
vormundschaftsrichterlichen Erziehungsaufgaben für den Beschuldigten obliegen. Liegt keiner dieser Fälle vor ist c) der Richter zu-
ständig, der nach dem allgemeinen Verfahrensrecht (§ 7 ff. StPO) zuständig ist; ferner wird die Zuständigkeit erweitert auf den Rich-
ter, in dessen Bezirk sich der auf freiem Fuß befindliche Beschuldigte zur Zeit der Erhebung der Anklage aufhält. Nach der Sonder-
regelung in § 42 Abs. 3 JGG kann das Verfahren dann, wenn der Angeklagte seinen Aufenthaltsort wechselt, auch der Richter das
Verfahren (mit Zustimmung des Staatsanwalts) übernehmen an den Richter abgeben, in dessen Bezirk sich der Angeklagte aufhält.
IV. Kritik
Der Diversionsbewegung wird folgende Kritik entgegengehalten: 1. faktische Ausweitung der sozialen Kontrolle
(„widening the net“); es wird unter Auflagen eingestellt, wo sonst eine folgenlose Einstellung erfolgt wäre, 2. die Be-
seitigung rechtsstaatlicher Garantien, da vieles nicht in einem förmlichen Verfahren, sondern auf informeller Ebene
abläuft, 3. Gleichbehandlungsproblematik bei unterschiedlicher regionaler Einstellungspraxis, 4. fragliche general-
präventiven Wirkungen (Eindruck in der Bevölkerung, auf Jugenddelinquenz würde nicht reagiert).
Das Jugendstrafverfahren
I. Allgemeines: Das Jugendstrafverfahren richtet sich im Wesentlichen nach den Vorschriften der StPO. Nach § 2 JGG ist diese auch für das
Jugendstrafverfahren anwendbar, soweit das JGG keine Sonderregelungen enthält. Nur diese Sonderregelungen werden im Folgenden dargestellt.
II. Das Ermittlungsverfahren (§§ 43 – 46 JGG): §§ 43, 44 JGG regeln den Umfang der Ermittlungen, während § 45 JGG eine besondere
Regelung über die Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens im Jugendstrafrecht enthält (die so genannte Diversion).
1. Umfang der Ermittlungen (§§ 43, 44 JGG): Nach § 43 I JGG besteht eine umfangreiche Ermittlungspflicht hinsichtlich der Lebens- und
Familienverhältnisse, des Werdegangs, des bisherigen Verhaltens des Beschuldigten und alle übrigen Umstände, die für das Verfahren
von Bedeutung sein können. Nach § 43 II JGG hat dabei insbesondere eine Untersuchung des Jugendlichen (u.a. im Hinblick auf seine
strafrechtliche Verantwortlichkeit; § 3 JGG) zu erfolgen. Auch der Erziehungsberechtigte, der gesetzliche Vertreter, die Schule und der
Ausbildende sollen gehört werden (sofern dem Jugendlichen daraus kein Nachteil erwächst). Geleitet werden die Ermittlungen durch den
Jugendstaatsanwalt, § 36 JGG. Die Durchführung wird in aller Regel der Jugendgerichtshilfe (§ 38 JGG) übertragen. Ist Jugendstrafe zu
erwarten, so soll der Staatsanwalt oder der Vorsitzende des Jugendgerichts nach § 44 JGG den Beschuldigten vernehmen, ehe die Ankla-
ge erhoben wird. Nach § 71 JGG können bereits jetzt vorläufige Anordnungen über die Erziehung des Jugendlichen getroffen oder die Ge-
währung von Leistungen der Jugendhilfe angeregt werden (z.B. die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe). Diese Vor-
schrift gilt nach § 109 JGG nicht für Heranwachsende. Im Ausnahmefall ist unter den strengen Voraussetzungen des § 72 JGG auch Untersu-
chungshaft möglich.
2. Einstellung des Verfahrens; Diversion (§ 45 JGG): vgl. hierzu Arbeitsblatt JGG Nr. 7).
III. Das Zwischenverfahren richtet sich ganz normal nach §§ 199 ff. StPO. Hier gibt es keine Besonderheiten.
V. Urteil, Urteilsverkündung (§ 54 JGG): Wird der Angeklagte schuldig gesprochen, so muss der Richter in den Urteilsgründen auch ausfüh-
ren, welche Umstände für seine Bestrafung, für die angeordneten Maßnahmen oder für das Absehen von Zuchtmitteln und Strafe bestim-
mend waren. Nach § 54 II JGG werden die Urteilsgründe dem Angeklagten nicht mitgeteilt, soweit davon Nachteile für die Erziehung zu
befürchten sind. Nach § 74 JGG kann entgegen § 465 I StPO selbst bei einer Verurteilung davon abgesehen werden, dem Jugendlichen die Kos-
ten des Verfahrens aufzuerlegen. Dies gilt nach § 109 II JGG auch für den Heranwachsenden. Dies bezieht sich nach der Rechtsprechung aber
lediglich auf die Gerichtskosten, nicht auf die Kosten für den eigenen Verteidiger.
VI. Rechtsmittelbeschränkungen (§§ 55, 56 JGG): Zwar stehen den Prozessbeteiligten auch im Jugendstrafverfahren die Rechtsmittel der Berufung
und Revision zu. Nach § 55 II JGG kann jedoch nur wahlweise die eine oder andere Möglichkeit gewählt werden. Dabei muss sich der Angeklag-
te das Verhalten seiner Erziehungsberechtigten zurechnen lassen. Nach § 55 I JGG darf eine Berufung nicht darauf gestützt werden, es hätte eine
andere Weisung erteilt oder Maßregel getroffen werden. Nach § 56 JGG kann schon während das Rechtsmittelverfahren noch läuft ein Teil der
Einheitsstrafe als vollstreckbar erklärt werden.
VII. Vereinfachtes Jugendverfahren (§§ 76-78 JGG): Im JGG gelten die Vereinfachungsmöglichkeiten des allgemeinen Straf-
verfahrens, insbesondere das schriftliche Strafbefehlsverfahren und das beschleunigte Verfahren nicht. Das JGG kennt aber
das sog. vereinfachte Jugendverfahren, das von verschiedenen Formvorschriften befreit. Hiermit soll nicht primär Kostenein-
sparung, sondern vor allem eine erzieherische Ausgestaltung der Hauptverhandlung (Informalität) erleichtert werden.
Literatur / Lehrbücher: Meier/Rössner/Schöch-Rössner, § 13 II; Schaffstein/Beulke, §§ 31, 35, 37, 38, 40, 42; Streng, § 7.
Literatur / Aufsätze: Kudlich , Besonderheiten des jugendstrafrechtlichen Verfahrens, JuS 1999, 877; Wölfl, Die Einschränkung der strafpro-
zessualen Verletztenrechte durch das Jugendstrafverfahren, JURA 2000, 10.
Rechtsprechung: BVerfG NJW 1988, 477 – Arbeitsleistungen (Verfassungsmäßigkeit der Rechtsmittelbeschränkung); BGHSt 10, 198 –
Dauerarrest (Zulässigkeit des Austausches des Zuchtmittels); BGHSt 36, 27 – Verteidigerhonorar (Kosten des Verfah-
rens); LG Mainz NStZ 1984, 121 – Berufungsbeschränkung (Anwendung des § 29 V BtMG im Jugendstrafrecht)
Professor Dr. Bernd Heinrich Stand: 13. Dezember 2012
Rechtsfolgen – Übersicht
I. Formelle Rechtsfolgen (§ 5)
a) Erziehungsmaßregeln (§ 9)
(1) Weisungen (§ 10): Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und
sichern sollen. Als Beispiele sind zu nennen : Weisungen (a) bzgl. des Aufenthaltsorts; (b) bei einer Familie oder in einem Heim zu wohnen;
(c) eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle anzunehmen; (d) Arbeitsleistungen zu erbringen; (e) sich der Betreuung und Aufsicht eines Betreu-
ungshelfers zu unterstellen; (f) an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen; (g) bzgl. der Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs; (h)
den Verkehr mit bestimmten Personen oder den Besuch von Gast- oder Vergnügungsstätten zu unterlassen; (i) an einem Verkehrsunterricht
teilzunehmen.
(2) Erziehungsbeistandschaft (§ 12 Nr. 1); vgl. hierzu § 30 SGB VIII
(3) Heimerziehung (§ 12 Nr. 2): stationäre Maßnahme, die den Täter verpflichtet, in einer Einrichtung über Tag und Nacht oder in einer sons-
tigen betreuten Wohnform (§ 34 SGB VIII) zu wohnen.
b) Zuchtmittel (§ 13): Sie sollen (vgl. § 13 III JGG) nicht die Rechtswirkung einer Strafe haben
(1) Verwarnung (§ 14): Hierdurch soll dem Täter das Unrecht der Tat eindringlich vorgehalten werden.
(2) Auflagen (§ 15): Hierdurch soll dem Täter eindringlich ins Bewusstsein gesetzt werden, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzu-
stehen hat. Als Auflagen sind z.B. möglich (a) nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wieder gut zu machen; (b) sich persön-
lich bei dem Verletzten zu entschuldigen; (c) Arbeitsleistungen zu erbringen; (d) einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrich-
tung zu zahlen.
(3) Jugendarrest (§ 16): Dieser ist in drei Formen möglich: (a) Freizeitarrest: wird für die wöchentliche Freizeit des Jugendlichen verhängt und
auf eine oder zwei Freizeiten bemessen; (b) Kurzarrest: wird statt des Freizeitarrestes verhängt, wenn der zusammenhängende Vollzug aus
Gründen der Erziehung zweckmäßig erscheint und weder die Ausbildung noch die Arbeit des Jugendlichen beeinträchtigt werden. Dabei
stehen zwei Tage Kurzarrest einer Freizeit gleich; (c) Dauerarrest: mindestens eine Woche und höchstens vier Wochen. Er wird nach vollen
Tagen oder Wochen bemessen.
c) Jugendstrafe (§ 17)
(1) Verhängung einer Jugendstrafe = Freiheitsentzug in einer Jugendstrafanstalt
(a) mit Aussetzung zur Bewährung (§ 21); (b) ohne Aussetzung zur Bewährung
(2) Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe (§ 27)
II. Informelle Rechtsfolgen (§§ 45, 47) – Diversion (vgl. hierzu auch Arbeitsblatt JGG Nr. 07)
a) Absehen von Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft
− im Fall des § 153 StPO (§ 45 I)
− erzieherische Maßnahme (§ 45 II 1)
− (versuchter) Täter-Opfer-Ausgleich (§ 45 II 2)
− richterliche Ermahnung, befolgte Weisung oder erfüllte Auflage (§ 45 III)
b) Einstellung des Verfahrens durch Gericht
− im Fall des § 153 StPO (§ 47 I Nr. 1)
− erzieherische Maßnahme (§ 47 I Nr. 2)
− (versuchter) Täter-Opfer-Ausgleich (§ 47 I Nr. 2)
− richterliche Ermahnung, befolgte Weisung oder erfüllte Auflage bei geständigem Täter (§ 47 I Nr. 3)
− fehlende Verantwortlichkeit (§ 47 I Nr. 4)
III. Sonstiges
1. Rangfolge: Aus § 5 I, II, § 17 II JGG ergibt sich die Rangfolge: Erziehungsmaßnahmen, wenn diese nicht ausreichen: Zuchtmittel, wenn diese wegen
schädlicher Neigungen (Mehrfachtäter) oder der Schwere der Schuld (schweres Delikt) nicht ausreichen, dann Jugendstrafe als „ultima ratio“. Diese
Rangfolge ist jedoch an mehreren Stellen durchbrochen. So können z.B. Arbeitsleistungen als Weisung (§ 10 I JGG) oder als Auflage (§ 15 I Nr. 3 JGG)
angeordnet werden. Gravierender erscheint der Einwand, dass z.B. die stationäre Erziehungsmaßnahme der Heimerziehung (§ 12 Nr. 2 JGG) für den
jugendlichen Täter schwerer wiegt als das ambulante Zuchtmittel der Verwarnung (§ 13 II Nr. 1 JGG). Deshalb verfährt die Praxis oftmals abweichend
von der gesetzlichen Regelung nach dem Schema: ambulante Maßnahmen (Verwarnung, dann Weisung, dann Auflage, dann Erziehungsbeistandschaft)
vor stationärer Maßnahme (Jugendarrest, dann Heimerziehung, dann Jugendstrafe).
2. Nebenstrafen und Nebenfolgen: Hier gilt die Nebenstrafe des Fahrverbots (§ 44 StGB) und die Nebenfolgen des Verfalls (§§ 73 ff. StGB) und der
Einziehung (§§ 74 ff. StGB) auch im Jugendstrafrecht. Nach § 6 JGG darf lediglich nicht der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des
Stimmrechts (§ 45 StGB) angeordnet werden. Auch ist eine Bekanntgabe der Verurteilung (etwa nach §§ 165, 200 StGB) nicht zulässig.
3. Maßregeln der Besserung und Sicherung: Nach § 7 JGG, der auf einige Vorschriften des § 61 StGB verweist, ist (a) die Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), (b) die Unterbringung in einer Erziehungsanstalt (§ 64 StGB; § 93a JGG), (c) die Führungsaufsicht (§ 68 ff.
StGB)und (d) die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) möglich. Unzulässig hingegen ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 61 Nr. 3
StGB) und die eines Berufsverbotes (§ 61 Nr. 6 StGB).
4. Verbindung von Maßnahmen: Nach § 8 JGG können bestimmte Erziehungsmaßnahmen und Zuchtmittel nebeneinander angeordnet werden. Neben
der Jugendstrafe ist die Anordnung von Weisungen, Auflagen und Erziehungsbeistandschaft möglich. Allgemein gilt: Maßnahmen dürfen miteinander
kombiniert werden. Bei den „stationären“ Maßnahmen galt früher das Prinzip der Einspurigkeit, seit dem 1.9.2012 kann nun aber auch neben der
Jugendstrafe gem. § 8 II 2 iVm. § 16a JGG ein Jugendarrest angeordnet werden.
Rechtsfolgen – Erziehungsmaßregeln
I. Allgemeines: Erziehungsmaßregeln sind in §§ 9 ff. JGG geregelt. Sie werden aus Anlass einer Straftat eines Jugendlichen angeord-
net und sollen die Lebensführung des Jugendlichen erzieherisch wirksam beeinflussen. Sie stellen damit keine „Strafe“ im ei-
gentlichen Sinne dar sollen allein eine erzieherische Funktion haben.
Rechtsfolgen – Zuchtmittel
I. Allgemeines: Zuchtmittel sind in §§ 13 ff. JGG geregelt. Sie werden gegen den Jugendlichen „zur Ahndung“ der Straftat angeordnet,
wenn zwar einerseits Jugendstrafe nicht geboten ist, andererseits aber dem Jugendlichen eindringlich zum Bewusstsein ge-
bracht werden muss, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat, insoweit also Erziehungsmaßregeln nicht
ausreichen. Die Zuchtmittel sollen sowohl repressiv wirken als auch zur Erziehung dienen (vgl. § 15 III 1, § 16 III 1 JGG). In-
sofern haben sie materiell durchaus auch strafende Funktion, obwohl sie formell nach § 15 III JGG nicht die Rechtswirkungen
einer Strafe haben sollen (insbesondere ist der Jugendliche nicht „vorbestraft“).
Rechtsfolgen – Jugendstrafe
I. Allgemeines: Jugendstrafe ist in §§ 17, 18 JGG geregelt. Nach § 17 I JGG ist sie ausschließlich in Form der Freiheits-
entziehung in einer Jugendstrafanstalt zu verhängen (d.h. also: im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht gibt es
keine Strafsanktion „Geldstrafe“). Dabei ist die Jugendstrafe eine echte Kriminalstrafe (im Gegensatz zu den Er-
ziehungsmaßregeln und den Zuchtmitteln; vgl. § 13 II JGG). Dies hat zur Folge dass a) damit (an sich) keine er-
zieherischen Zwecke verfolgt werden müssen und b) eine Eintragung im Zentralregister und im Führungszeugnis
erfolgt. Allerdings soll sich der Vollzug der Jugendstrafe nach § 91 I JGG an einer erzieherischen Zielsetzung ori-
entieren.
Strafvollzug / Untersuchungshaft
I. Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO, 72 ff. JGG)
1. Voraussetzungen: Diese ergeben sich im Wesentlichen aus den Vorschriften der Strafprozessordnung, hier geregelt in §§ 112 ff. StPO. Für Jugend-
liche werden diese Regelungen lediglich teilweise durch § 72 ff. JGG modifiziert. Die Voraussetzungen im Einzelnen sind:
a) Dringender Tatverdacht, § 112 StPO: dieser liegt vor, wenn nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen die hohe Wahrscheinlichkeit
besteht, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer strafbaren Handlung ist. Der dringende Tatverdacht muss auch im Hinblick auf die
Verantwortungsreife des Jugendlichen bestehen, § 3 JGG.
b) Haftgrund nach § 112 I 1, II StPO, ergänzt durch § 72 II JGG
– Flucht oder Fluchtgefahr, § 112 II Nr. 1, 2 StPO, näher konkretisiert in § 72 II JGG.
– Verdunkelungsgefahr, § 112 II Nr. 3 StPO
– Verdacht eines Kapitaldelikts, § 112 III StPO
– Wiederholungsgefahr, § 112a StPO (subsidiär zu § 112 StPO)
– Flucht oder Fluchtgefahr, § 112 II Nr. 1, 2 StPO, näher konkretisiert in § 72 II JGG.
c) Verhältnismäßigkeit, § 112 I 2, 113, 116 StPO, ergänzt durch § 72 I 2 JGG: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit findet sich in § 112 I
2 StPO. Dieser wird konkretisiert durch § 113 StPO (Einschränkung bei Bagatelldelikten) und § 116 StPO (Haftverschonung ist zu gewähren,
wenn die Anordnung von Haftsurrogaten ausreicht, also z.B. Meldepflichten oder Aufenthaltsbeschränkungen). Eine Sonderregelung für Ju-
gendliche findet sich in § 72 JGG: Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige
Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 I 2
StPO) sind auch die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen. Für diese Fälle enthält § 72 I 3 JGG eine be-
sondere Begründungspflicht: Wird Untersuchungshaft verhängt, so sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, dass an-
dere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft
nicht unverhältnismäßig ist.
2. Vollzug der U-Haft (§ 93 JGG): „Trennungsgrundsatz“ = bei Jugendlichen soll die Untersuchungshaft „nach Möglichkeit“ in einer besonderen
Anstalt oder wenigstens in einer besonderen Abteilung der Haftanstalt oder in einer Jugendarrestanstalt vollzogen werden soll. Nach § 93 II JGG soll
der Vollzug der Untersuchungshaft erzieherisch gestaltet werden.
3. Anrechnung: Nach §§ 52, 52a JGG ist eine U-Haft bei der späteren Verhängung von Jugendarrest oder Jugendstrafe zu berücksichtigen.
4. Subsidiarität: § 72 IV JGG bestimmt, dass unter denselben Voraussetzungen, unter denen ein Haftbefehl erlassen werden kann, auch die einstweilige
Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (nach § 71 Abs. 2) angeordnet werden kann. Ist eine Heimunterbringung möglich, so geht diese der U-
Haft vor.
5. Kritik: Die derzeitige Praxis der U-Haft ist unter vielerlei Hinsicht in die Kritik geraten.
a) In der Praxis oft U-Haft als Krisenintervention oder "Schnupper"-haft, die nicht deswegen verhängt wird, um die ordnungsgemäße Durchführung
des Verfahrens zu sichern (eigentlicher Zweck), sondern um einem noch weiteren Abgleiten des Jugendlichen in die Kriminalität zu begegnen.
b) Oft wird U-Haft auch nur deswegen verhängt, um später eine Strafaussetzung zur Bewährung besser legitimieren zu können.
c) Bei Drogenabhängigen: U-Haft wird oft deswegen verhängt, um Bereitschaft zu steigern, in eine stationäre Therapie einzuwilligen.
d) Vollzug der Untersuchungshaft ist nicht gesetzlich geregelt. Dies begegnet erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.
e) Die Untersuchungshaftvollzugsordnung sieht – aus erzieherischen Gründen – eine Arbeitspflicht des jugendlichen U-Häftlings vor. Dies begeg-
net erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken (Unschuldsvermutung; U-Haft darf nur der Verfahrenssicherung dienen).
f) U-Haft teilweise schärfer als die Strafhaft (Isolierung des Gefangenen etc.).
g) Zahl der Untersuchungshäftlinge zu groß, es sitzen mehr Jugendliche in Untersuchungshaft als in Strafhaft, teilweise wird nur bei 30% später Jugend-
strafe (ohne Bewährung) verhängt.
II. Strafvollzug
1. Zuständigkeit: Die Strafvollstreckung in Jugendsachen obliegt dem Jugendrichter. Er ist Vollstreckungsleiter und hat damit eine Doppelfunktion als
Richter und Verwaltungsbeamter.
2. Rechtsgrundlagen des Jugendstrafvollzugs: Der Jugendstrafvollzug ist grundsätzlich vom Erwachsenenstrafvollzug getrennt. Ein spezielles Ju-
gendstrafvollzugsgesetz existiert noch nicht. Andererseits ist das Strafvollzugsgesetz nicht auf den Vollzug von Jugendstrafe anzuwenden. Diese
Lage ist verfassungsrechtlich bedenklich.
3. Regelungen im JGG: Nur wenige Vorschriften des JGG regeln Teilbereiche der Strafvollstreckung:
a) 91 JGG (allgemeinen Grundsätze): Durch den Vollzug der Jugendstrafe soll der Verurteilte dazu erzogen werden, künftig einen rechtschaffenen
und verantwortungsbewussten Lebenswandel zu führen. Der Vollzug soll „erzieherisch“ gestaltet werden. § 91 III JGG enthält die Regelung, dass
– um das angestrebte Erziehungsziel zu erreichen – der Vollzug aufgelockert und in geeigneten Fällen weitgehend in freien Formen durchgeführt
werden kann. Ferner bestimmt § 91 IV JGG, dass die Beamten für die Erziehungsaufgabe des Vollzugs geeignet und ausgebildet sein müssen.
b) § 92 JGG (Ort des Vollzugs): Die Jugendstrafe soll grundsätzlich in Jugendstrafanstalten vollzogen werden. Bei über 18-jährigen, die sich nicht
für den Jugendstrafvollzug eignen, kann die Jugendstrafe nach den Vorschriften des Erwachsenenstrafvollzugs vollzogen werden. Bei über 24-
jährigen soll Jugendstrafe immer nach den Vorschriften des Strafvollzugs für Erwachsene vollzogen werden.
c) § 85 II JGG (Kompetenzregel): Die Entscheidungen über die Vollstreckung geht auf den Jugendrichter des Amtsgerichts übergeht, in dessen
Bezirk die Jugendstrafanstalt liegt.
d) § 88 JGG (vorzeitige Entlassung): flexiblere Regelung als bei § 57 StGB: bei Jugendstrafe von mehr als einem Jahr ist die Strafrestaussetzung
bereits nach Vollstreckung eines Drittels möglich, soweit die Prognose des künftigen Verhaltens dies erlaubt.
Literatur / Lehrbücher: Meier/Rössner/Schöch-Schöch, § 14 I-IV; Schaffstein/Beulke, §§ 39, 44; Streng, § 7 III 2; § 12 VI.
Rechtsprechung: BGHSt 29, 33 – Erwachsenenvollzug (Verbüßung von Jugendstrafe im Erwachsenenvollzug); BGH NStZ 1996, 233 –
.Nichtanrechnung (Anrechnung von U-Haft); OLG Frankfurt NStZ 1984, 382 – Vollzugslockerung (Entscheidung über Voll-
zugsmaßnahmen); OLG Stuttgart NStZ 1987, 430 – Freigang (Berücksichtigung der Schwere der Schuld bei Vollzugslocke-
rungen); OLG Zweibrücken NStZ-RR 2001, 55 – Verhältnismäßigkeit (Voraussetzungen der Untersuchungshaft); AG Bad
Hersfeld NStZ 1991, 255 – Haftentlassung (Verfassungswidrigkeit des Fehlens eines Jugendstrafvollzugsgesetzes).