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Das Herzmaere von Konrad von Würzburg: Eine Analyse

• Einleitung
Sich dem Studium eines mittelalterlichen Autors wie Konrad von Würzburg zu nähern,
bedeutet, ein Fenster zum wahrscheinlich vielseitigsten Autor des gesamten deutschen
Mittelalters zu öffnen. Gerade aufgrund der Vielfalt der Genres, mit denen er sich befasste,
von Lyrik bis Kurzgeschichten, von Versromanen bis hin zur Turnierdichtung, ist seine
Bedeutung im Bereich der historisch-literarischen Forschung für die Germanistik
unbestritten.
Das Geburtsdatum des Autors ist ungewiss, es wird jedoch angenommen, dass er zwischen
1220 und 1230 in Würzburg, einer bayerischen Stadt in Unterfranken, geboren wurde. Im
Gegenteil, das Sterbedatum wird mit Sicherheit auf das Jahr 1287 (am 31. August) in der
Stadt Basel, datiert, wie aus dem Anniversarbuch des Basler Domstifts hervorgeht. Auch
dank dieses letztgenannten Dokuments erfährt man, dass Konrad in Basel eine gewisse
Berchta geheiratet hatte, und mindestens zwei Töchter hatte, Gerina und Agnes. In seinem
bereits erwähnten Todesjahr 1287 loben ihn die Colmarer Annalen als „Verfasser vieler guter
Dichtungen in deutscher Sprache“ (Cuonradus de Wirciburch in Theothonico multorum
bonorum dictaminum compilator).
Allerdings gibt es einige mittelalterliche Quellen, die Konrad auch in der Stadt Freiburg im
Breisgau belegen. Es handelt sich dabei jedoch um Quellen, auf die sich wissenschaftlich
nicht verlassen kann, da sie nicht mit anderen in anderen Dokumenten angegebenen Daten
übereinstimmen. Sicher bleibt die Verbundenheit des bayerischen Dichters mit der damals
kulturell und wirtschaftlich wachsenden Stadt Basel.
Ziel dieser Arbeit ist es, eines der bekanntesten Werke Konrad von Würzburgs, nämlich
Herzmaere, zu erklären und darauf aufmerksam zu machen, und insbesondere zu dem
Aspekt, der dieses Werk am meisten charakterisiert, nämlich dem Essen des Herzens.
Das vom gegessenen Herzen ist was in der Literatur “Literarischer Topos” genannt wird.
Dieses Wort (Topos) stammt aus dem altgriechischen τόπος (Ort, Thema, Gemeinplatz), also
einem oft wiederholten Erzählschema, das durch ein wiederkehrendes Motiv im Werk eines
bestimmten Autors oder einer bestimmten Epoche gekennzeichnet ist.
In diesem Fall fand der Topos vom gegessenen Herzen im Laufe der Jahrhunderte großen
Anklang, insbesondere im Mittelalter. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die
Ursprünge dieses literarischen Motivs im fernen Indien zu finden sind, genauer gesagt in der
historischen Region Punjabs, wo der Mythos von Radja Rasalu herkommt, einem Prinzen,
der den König eines nahelegenden Königreiches tötet, als Rasalu herausfindet, dass der
König eine Liebesbeziehung mit Kokilan hat, die Frau von Rasalu.
Letzterer gibt letztendlich seiner Frau das Herz des Liebesrivalen als Mahlzeit. Nach dem
Mahl erklärt ihr Rasalu, dass sie das Herz ihres Liebhabers gegessen hatte, und sie beschließt,
wegen Schuldgefühlen, sich umzubringen. Sie stürzt sich von der Dachzinne. Im 11.
Jahrhundert ist diese Erzählform vermutlich über Frankreich bereits nach Europa gelangt.
Spuren dieses Stoffes finden sich allerdings, auch wenn nicht in der Form, wie er im
Mittelalter gedacht war, bereits in einigen literarischen Werken der Antike. Ich beziehe mich
zunächst auf zwei Werke römischer Autoren, in denen nicht das verzehrte Herz thematisiert
wird, sondern andere Körperteile.
In Ovids Metamorphosen, einem Werk, das der Autor vor seiner Verbannung, also im Jahr 8
n. Chr., vollendete, wird im sechsten Buch von den Zeilen 412 bis 674 die Geschichte von
Prokne, Philomela und Tereus erzählt. Die Geschichte erzählt, wie Tereus, König von
Thrakien, Philomela, Proknes Schwester, vergewaltigte.
Aus Angst, dass Philomela jemandem das Geheimnis verraten könnte, schneidet Tereus ihr
die Zunge heraus. Philomela beschließt jedoch, (auf ihre eigene Weise) ihrer Schwester zu
erzählen, was ihr passiert ist, und webt deshalb ein Netz, in dem sie erzählt, was Tereus ihr
angetan hat.
Aus Rache beschließen die beiden Frauen ein Jahr später, den Sohn, den Philomela mit
Tereus hatte, zu töten, und ihm als Mahlzeit zu servieren. Als der Mann alles entdeckt,
möchte er sie töten, doch die Götter haben Mitleid und verwandeln alle drei in Vögel: Prokne
verwandelt sich in eine Schwalbe, Tereus in einen Wiedehopf und Philomela in eine
Nachtigall.
In Thyestes, der Tragödie und dem Theaterstück von Lucio Anneo Seneca, ist die Geschichte
viel makaberer und grausamer.
Das Werk präsentiert den Mythos der Zwillinge Atreus und Thyestes, einer von Hass und
Groll geprägten Beziehung. Atreus will sich an seinem Bruder rächen, weil er seinen Thron
usurpiert hat. Unter dem Vorwand einer brüderlichen Versöhnung lädt Atreus Thyestes und
seine drei Söhne nach Argos ein. Am Abend beim Bankett werden seine Kinder jedoch
ausschließlich Thyestes serviert, zerstückelt und gekocht.
Wie man deutlich erkennen kann, ist der rote Faden in diesen beiden erzählten Geschichten
Wut und Rache.
Im europäischen Mittelalter entstanden literarische Werke, in denen das Thema des
gegessenen Herzens präsent ist. Die älteste uns überlieferte Version dieses Themas ist die im
Roman Tristan et Iseut von Thomas von England.
Le Lai de Guiron fungiert im Roman von Tristan und Isolde als Inszenierung. Tristan hat das
Land verlassen und lebt nun weit weg von Isolde. Letztere verfasst, während sie allein ist,
eine Liebesgeschichte. Diese Geschichte handelt von Lord Guiron und der Dame, die er über
alles liebt. Der Ehemann der Dame entdeckt den Ehebruch und tötet Guiron. Er bringt die
Dame dazu, das Herz des Herrn zu essen.
• Herzmaere: Das Motiv des gegessenen Herzens und Vergleich mit
Boccaccios Decamerone

Eine der wichtigsten Bearbeitungen des Themas des gegessenen Herzens ist die von Giovanni
Boccaccio in seinem Werk „Dekamerone“. Der Titel des Werkes des toskanischen
Schriftstellers bezieht sich auf das Altgriechische, nämlich δέκα déka „zehn“ und ἡμέρα
hēméra „Tag“. Das Werk ist somit eine Sammlung von Kurzgeschichten, also Novellen, die
über zehn Tage erzählt werden.
Zu den Quellen für die Entstehung des Werks dienen die französischen Vorbilder der
Fabliaux, der Lais, und dies zeigt, dass im mittelalterlichen Europa die Verbreitung von
Werken anderer Autoren weit verbreitet war.
Am vierten Tag wird die Geschichte von Guglielmo Guardastagno erzählt. Letzterer liebte
eine Frau, die bereits mit Messer Guglielmo Rossiglione verheiratet war, und als er von
dieser Liebesgeschichte zwischen den beiden erfuhr, tötete er ihn unter dem Vorwand einer
Einladung zum Abendessen im Wald. Dann reißt er wütend das Herz aus der Brust des armen
Liebhabers und befiehlt seinem Koch, es zu kochen. Der Plan des Mannes besteht darin, es
seiner Frau zu verfüttern. Das passiert. Als der Mann seiner Frau gesteht, was er getan hat,
stürzt sie sich verzweifelt vom Turm. Die beiden unglücklichen Liebenden werden dann
gemeinsam begraben.
Nachdem wir beide Texte gelesen haben, ist uns etwas sofort klar: Die Tat des Mannes, den
Liebhaber seiner Frau zu töten und sein Herz zu kochen, erfüllt eine sehr wichtige
symbolische Funktion, nämlich die symbolische Vernichtung seines Rivalen durch die
Degradierung zur Speise.
Dies ist jedoch bei Konrads von Würzburg Version nicht der Fall. Hier fungiert das Herz
sofort als Liebeszeichen.
Die Version des deutschen Schriftstellers ist eher von christlichen und religiösen Motiven
geprägt. Ein Merkmal, das die italienische Version von der deutschen Version unterscheidet,
ist vor allem dadurch bedingt, dass der Ritter in Herzmaere nicht getötet wird, sondern
aufgrund der zu starken Liebe zu der Frau, also des körperlichen Schmerzes, stirbt, und dieser
führt letztendlich zum Tod des Ritters. Ein Merkmal, das die beiden literarischen Versionen
dann unterscheidet, ist das der Märtyrerung des Ritters, in dem das Motiv der
Selbstopferung im Namen von etwas Größerem wieder aufgegriffen wird (man denkt nur an
Jesus Christus, der sich für die Menschheit geopfert hat). Sobald das Herz von der Brust
genommen wird, wird es automatisch zum Symbol reiner Liebe und Treue. Schließlich wird
das Herz einbalsamiert und in ein Kästchen mit Gold und Edelsteinen gelegt und der Frau
gebracht. Das Herz wird hier zu einer religiösen Reliquie.
Die Religiosität dieser Erzählung lässt sich auch in dem Moment erahnen, den wir für am
makabersten halten würden, nämlich wenn die Frau das Herz isst. Und dies wird besonders
deutlich in Vers 435, in dem der Moment, in dem die Frau das Herz des Ritters einnimmt
(ohne sich dessen bewusst zu sein) als Vereinigung der beiden Liebenden angesehen wird,
und durchaus mit dem Moment der Eucharistie verglichen werden kann. Ich möchte auf das
vom Autor verwendete Wort aufmerksam machen, nämlich süeze.
Tatsächlich wurde dieses Wort in der mittelalterlichen Literatur oft verwendet, um die
Momente der Passion Christi und der Eucharistie zu bezeichnen und zu beschreiben, oder als
Attribut von Jesus selbst. Hier ist die Handlung der Frau der auf das Dogma der
Transsubstantiation zurückzuführenden Handlung ähnlich und vergleichbar.
Allerdings muss auch die Figur des Ehemanns berücksichtigt werden. In den Wörtern, mit
denen er beispielsweise die Liebe und den Schmerz beschreibt, die der Ritter seiner Frau
gegenüber empfindet, gibt es keine Spur von Bosheit. Im Gegenteil, er scheint die Situation
mit äußerster Klarheit und Ernsthaftigkeit vollkommen zu verstehen. Die Tat des Mannes
kann kaum als Racheakt gedeutet werden. Der Ehemann dient Konrads literarischen
Absichten zufolge wahrscheinlich als Mittel, durch das wahre und reine Liebe verwirklicht
werden kann.

• Fragen zu den Texten

1) Wie unterscheidet sich die Figur des Ehemanns in den beiden


Erzählungen?
2) Wie reagieren die beiden weiblichen Protagonistinnen auf die
Nachricht, dass sie das Herz ihrer Geliebten gegessen haben?
3) Lässt sich die Erzählung Ihrer Meinung nach aus einer religiös-
christlichen Perspektive lesen?
4) Was war Ihrer Meinung nach der wahre Zweck des Mannes der
Frau? Sich zu rächen oder einfach nur, den Ritter von seiner Frau zu
distanzieren?

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