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Der Terminus »Neuropsychologie« wird zu Unrecht dem Bekannt wurde Gall (. Abb. 1.1) durch eine Lehre, die
amerikanischen Psychologen Hebb zugeschrieben, der schon zu seinen Lebzeiten als falsch erkannt wurde. Sie er-
1949 einem Buch über die Organisation des Verhaltens hielt den Namen Phrenologie und wurde in der Edinburgh
den Untertitel gab: eine neuropsychologische Theorie. Die Phrenological Society und der Zeitschrift »Phrenological
Bezeichnung gewann große Publizität, als im Jahre 1960 Journal and Miscellany« gepflegt. Gall untersuchte die
eine Sammlung der Schriften von Lashley über Experi- äußeren Merkmale des Schädels und brachte dessen Vor-
mente an Ratten und Affen erschien: die Neuropsycholo- wölbungen und Vertiefungen mit den seiner Meinung nach
gie von Lashley. Dieser war 1937 als Research Professor of wesentlichen Merkmalen von Persönlichkeit und Verhalten
Neuropsychology an die Harvard-Universität berufen in Beziehung. Eine Vorwölbung sollte anzeigen, dass die
worden. darunter liegende Hirnwindung besonders gut ausgebildet
Tatsächlich aber geht der Terminus auf Sir William Osler
zurück, der am 16.04.1913 bei der Eröffnung des Johns
Hopkins Hospitals in einem Vortrag den Ausdruck Neuro-
psychologie verwendete. Lashley studierte zu dieser Zeit als
Graduate Student an der Johns Hopkins Universität und
dürfte diesen Vortrag gehört haben (Bruce 1985).
Heute definieren wir die Neuropsychologie als ein For-
schungsgebiet, das die Beziehungen zwischen Gehirn-
funktionen und Verhalten mit den Untersuchungs- und
Auswertungsmethoden der experimentellen Psychologie
untersucht.
Die Geschichte der modernen Neuropsychologie be-
ginnt mit der Entwicklung des Konzeptes, dass Persönlich-
keitseigenschaften und psychologische Funktionen eine
bestimmte Lokalisation im Gehirn haben. Diese ersten
Überlegungen hatten die antero-posteriore Dimension,
also Stirnhirn vs. rückwärtige Hirnabschnitte und nicht
Seitenasymmetrien (linke vs. rechte Hemisphäre) der Hirn-
organisation zum Inhalt. In diesem Sinne sind als Pioniere
Gall und Spurzheim zu nennen. Sie haben eine Reihe be-
deutender neuroanatomischer Entdeckungen gemacht, für
die sie aber heute nicht mehr bekannt sind. Sie haben fest-
gestellt, dass die Zellen des Kortex mit subkortikalen Struk-
turen verbunden sind, sie haben die Pyramidenkreuzung
und die Kommissurenverbindungen im Großhirn beschrie-
ben und haben erkannt, dass das Rückenmark, wie das Ge-
hirn, in graue und weiße Substanz untergliedert ist. . Abb. 1.1. Franz-Josef Gall (1758–1828)
2 Kapitel 1 · Die Entwicklung der modernen Neuropsychologie
mit erweiterte das Team die Kenntnisse von der funktio- Syndromen erforscht (Damasio u. Damasio 1989). Anfang
nellen Asymmetrie der Hirnhemisphären (Teuber 1969). der 90er Jahre wandte er sich der Erforschung von Phäno-
Teuber förderte sehr großzügig jüngere Kollegen in Europa menen des Bewusstseins zu. Dabei ging er von Kranken-
und auch in Deutschland, besonders nachdem er die Lei- geschichten und Untersuchungen dieser Patienten mit der
tung des Department of Psychology in Cambridge, Mass., Positronenemissionstomographie und der funktionellen
übernommen hatte. Kernspintomographie aus (s. Infobox »Funktionelle Bild-
Einen ähnlich großen Einfluss, besonders auf jüngere gebung«). Seine Beobachtungen führten ihn zu einer Theo-
Kollegen in Italien und Deutschland, übte der Psychologe rie, die das Bewusstsein eng an Emotionen und Gefühle
Arthur Benton aus, Professor für Neurologie und Psycho- knüpft (Damasio 1999). Damasio zielte mit seinen Inter-
logie in Iowa City. Benton war ein strenger Methodiker pretationen auf eine philosophisch-anthropologische Theo-
und ein kreativer Forscher. Seine Arbeiten über räumlich- rie des Bewusstseins, die auf neuroanatomisch lokalisier-
konstruktive Leistungen, über nichtaphasische Beeinträch- bare Funktionen und Funktionsstörungen gegründet ist.
tigungen bei Patienten mit linksseitiger Hirnschädigung, Die individuelle Nomenklatur macht das Verständnis und
über Rechts-links-Störung und Fingerlokalisation (Benton den Vergleich mit den Ergebnissen und Theorien anderer
1959) verband er jeweils mit der Entwicklung von validen Autoren allerdings schwierig.
Tests. Benton spielte eine Vaterrolle für zwei Gruppen, in Die moderne Neuropsychologie hatte damit begonnen,
Mailand und in Aachen, die sich Ende der 60er Jahre for- dass die anekdotische Beschreibung von Einzelfällen, deren
mierten, um neuropsychologisch zu arbeiten. Untersuchung mit nicht standardisierten Verfahren und
In der Mailänder Gruppe um De Renzi und Vignolo die Interpretation der so erhobenen Befunde anhand der
wurde 1964 »Cortex« gegründet, die zweite internationale individuellen Erfahrungen und Meinungen des Untersu-
Zeitschrift für Neuropsychologie, die ebenfalls großen in- chers als ungenügend angesehen wurde. Die experimentelle
ternationalen Erfolg hatte. Die Aktivitäten der Gruppe er- Psychologie hatte seit Binet Methoden zur Erfassung und
streckten sich vor allem auf Untersuchungen zur Apraxie Auswertung von Gruppendaten entwickelt. Diese Kennt-
und zum visuellen Erkennen. Sie führten zur Gründung nisse und Vorgehensweisen beherrschten nach dem Zwei-
von weiteren Zentren in Rom, in Padua und in mehreren ten Weltkrieg generell die internationale neuropsychologi-
anderen Städten Italiens. sche Forschung. Die neu gewonnene Objektivität wurde
Die Aachener Gruppe war aus der Zusammenarbeit des aber damit bezahlt, dass durch diesen Zugang nur falsche
Neurologen Poeck mit dem Psychologen Orgass hervor- vs. korrekte Lösungen erfasst wurden. Mechanismen und
gegangen. In wenigen Jahren erweiterte sie sich um die Psy- Prozesse dagegen und Veränderungen der Leistungen wa-
chologen Hartje, Sturm und Willmes, die Linguisten Huber, ren nicht leicht, jedenfalls nicht ohne sehr großen Unter-
Stachowiak und De Bleser und Logopäden, von denen hier suchungsaufwand, zu erkennen. Als Reaktion auf diese
Luisa Springer genannt wird. Aus der Gruppe gingen viele Begrenztheit der Aussagen führten kognitive Psychologen
klinische und neurolinguistische Arbeiten über Aphasie und Psycholinguisten wieder Einzelfalluntersuchungen ein,
hervor. Der Aachener Aphasietest (Huber et al. 1983) wurde in denen pathologische Veränderungen von Prozessen im
in mehrere Sprachen übertragen. Im Laufe ihrer Arbeiten Detail analysiert wurden, allerdings um den Preis einer nur
vollzog sich in der Gruppe, wie auch in anderen Gruppen in begrenzten Vergleichbarkeit der einzelnen Patienten.
Mailand, in Großbritannien und in den USA eine Hinwen- Außerhalb des (auch in Europa) angloamerikanisch
dung von der Beschreibung und Diagnostik zur linguistisch orientierten Hauptstroms neuropsychologischer Arbeit
orientierten Therapie aphasischer Sprachstörungen, die hatte in Russland Luria während des Zweiten Weltkrieges
sich als sehr fruchtbar erwies. Auch für andere neuropsy- und danach eine Forschungsrichtung begründet, die letzt-
chologische Störungen (z. B. Beeinträchtigungen der Auf- lich zu einer neuropsychologischen Therapie führen sollte
merksamkeit) wurden an vielen Orten wissenschaftlich (Luria 1980). Luria studierte Prozesse der Erholung nach
fundierte Therapieverfahren entwickelt. akuter Hirnverletzung und entwickelte die Theorie, dass
Bentons Nachfolger in der Leitung des Laboratoriums in Traumen bestimmte Funktionen nicht zerstörten, sondern
Iowa wurde der Neurologe Antonio Damasio. Dieser hatte hemmten und dass gehemmte Funktionen wiederherge-
zunächst, gemeinsam mit seiner Frau Hanna, einer erst- stellt werden können. Dabei laufe ein charakteristisches
klassigen Neuroradiologin, anhand von CT- und MRT- Erholungsmuster ab. Luria experimentierte mit Pharmaka,
Befunden die Hirnlokalisation von neuropsychologischen mit Übungen und mit »restorativer Psychotherapie«. Resti-
6 Kapitel 1 · Die Entwicklung der modernen Neuropsychologie