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Ursprung der Sprache

Am Ursprung der menschlichen Sprache besteht dasselbe Erkenntnisinteresse, das bei


jeglicher Rekonstruktion wirksam ist: Der Mensch will wissen, wo er herkommt; und man
versteht das Wesen einer Sache - hier der Sprache - dadurch, daß man weiß, wie sie
entstanden ist.

Wenn etwas auf der Welt in einer einzigen raumzeitlichen Situation entstanden ist, hat es
eine Monogenese; ist es an mehreren Orten oder zu verschiedenen Zeiten entstanden, hat
es eine Polygenese. Die meisten Theorien zum Ursprung der Sprache nehmen deren
Monogenese an. Dies ist eine der zahlreichen Fragen zum Ursprung der Sprache, die auf
empirischer Basis nicht beantwortbar sein dürften.

Die Frage nach dem Ursprung der Sprache hat die Gemüter seit der Antike bewegt. Im Alten
Testament (1. Mose 11) wird Monogenese angenommen: Zuerst gab es nur eine Sprache.
Nach dem Turmbau zu Babel wurden erst die Sprachen verwirrt, dann die Völker versprengt.
Bis zur Aufklärung wurde vorausgesetzt, daß die Sprache von Gott gegeben sei; und auch
danach wurde diese These noch häufig vertreten. In einer im übrigen aufgeklärten
Abhandlung argumentiert Johann Peter Süßmilch (1756) gegen J.J. Rousseau, daß alle
existierenden Sprachen auf derselben perfekten Evolutionsstufe sind, und gibt Beispiele von
der Sophistizität sog. primitiver Sprachen. Da Sprache und Denken sich gegenseitig
voraussetzen, könne die Sprache nur von Gott gegeben sein. Ebenso meint J.G. Herder in
seiner Preisschrift zum Ursprung der Sprache (1770) und in einem rationalistischen
erkenntnistheoretischen Kontext, Sprache und Denken seien untrennbar und deshalb
gemeinsam angeboren. Sprache verhalte sich zu den Tierlauten wie das Denken zum
Instinkt.

Gelegentlich wurde die Frage auch experimentell und somit quasi empirisch angegangen.
Die Fragestellung war: Angenommen, ein Mensch bekommt in der Spracherwerbsphase
keine Sprache von seiner Umgebung angeboten; welche Sprache wird er dann selbst
entwickeln? Herodot berichtet, daß Pharao Psammetich (664-610), um die "natürliche"
Sprache festzustellen, zwei Kinder sprachlos aufziehen ließ. Das erste geäußerte Wort war
bekos, was als das phrygische Wort für "Brot" erkannt wurde. Ein ähnliches Experiment ließ
Friedrich II von Hohenstaufen (1300) durchführen, aber die Kinder starben. Ihm schloss sich
James IV von Schottland (1473-1513) an; hier sprachen die Kinder Hebräisch. Alle bezeugten
Fälle von echten "wilden" Kindern waren sprachlos.1

Über einen Gegenstand bzw. eine Frage kann man dann eine wissenschaftliche Theorie
machen, wenn er (bzw. sie) mit wissenschaftlichen Methoden untersucht werden kann. Z.B.
kann man den Ursprung von Homo Sapiens mit induktiven naturwissenschaftlichen
Methoden empirisch untersuchen, indem man prähistorische Skelettfunde analysiert. Bei
der Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache ist das nicht so klar. Eine Theorie,
die nicht auf wissenschaftlichen Methoden basiert, nennt man Spekulation. Alle frühen
Theorien des Sprachursprungs sind spekulativ; und bis zu einem gewissen Grade werden es
alle künftigen diesbezüglichen Theorien bleiben müssen.

Ältere Theorien über die früheste Sprache

Die älteste Theorie findet sich bereits in Platons Dialog Kratylos. Danach ist die Sprache
onomatopoetischen Ursprungs. Das besagt, daß die Significantia der frühesten Wörter den
Schall ihrer Significata nachahmen. Sie setzt allerdings voraus, daß die ersten Significata
auditive Eindrücke oder allenfalls Begriffe von Gegenständen gewesen sind, die durch
auditive Eindrücke hervorstechen.

Viel später, in einem empiristischen erkenntnistheoretischen Kontext, stellte J.J. Rousseau


die Theorie auf, daß am Anfang menschlicher Sprache Naturlaute und emotive
Interjektionen stehen. Sprache ist zunächst Fortsetzung vormenschlicher Lautäußerungen,
dann Reaktion auf Beobachtungsdaten. Erst später werden allgemeine und abstrakte
Begriffe gebildet. Basis der Sprache und Unterschied zu Tieren ist des Menschen "Wille, frei
zu sein".

Ebenfalls auf Rousseau geht die Theorie zurück, die lautliche Sprache beruhe auf der Gestik.
Richard Paget (1930) präzisiert, die Gesten hätten sich, da andere Körperteile für andere
Aufgaben gebraucht wurden, auf Gesten der Sprechwerkzeuge eingeengt.2

Im erkenntnistheoretischen Kontext des dialektischen Materialismus postuliert A.R. Luria


(1970), die ersten Sprachzeichen seien Laute zur Steuerung der Arbeit
Diese Theorien wurden erstmals von Max Müller Mitte des 19. Jh. mit den Bezeichnungen
ironisiert, die ihnen in obiger Aufstellung beigegeben sind. Sie werden allerdings, vielleicht
außer der vierten, auch heute noch vertreten.

Die frühen Theorien über den Ursprung der Sprache waren, wie gesagt, nicht durch
wissenschaftliche Methoden fundiert. Sobald die Linguistik sich als Wissenschaft etabliert
hatte, geriet die ganze Fragestellung in Mißkredit. Ausdruck dieser Haltung ist der immer
wieder gern zitierte Artikel der Satzung (Section 2) der ehrwürdigen Société de Linguistique
de Paris von 1886:

"La Société n'admet aucune communication concernant, soit l'origine du langage, soit la
création d'un langage universelle".

Tatsächlich wurde die Frage nach dem Ursprung der Sprache in der Linguistik dann über
Jahrzehnte praktisch nicht mehr behandelt. Der erste unzweifelhaft seriöse Linguist, der
dazu wieder publiziert, ist Charles F. Hockett in einem Aufsatz von 1960, der aber
bezeichnenderweise im Scientific American (also keiner linguistischen Fachzeitschrift)
erschien. Seitdem nimmt die Forschung wieder zu. Seit Ende des 20. Jh. ist die Linguistik als
Wissenschaft so selbstbewußt, daß sie sich auch Fragen zuwendet, die mit herkömmlichen
Methoden nicht beantwortbar sind.

Entstehung von Homo sapiens

Dazu ist ein interdisziplinärer Zugang nötig. Eine der Wissenschaften, mit denen hier
zusammenzuarbeiten ist, ist die Anthropologie, denn sie kann Aufschluß über die Evolution
des Menschen verschaffen. Sie hat deutlich stärkere naturwissenschaftliche Anteile als die
Linguistik. Daher wird gleich zu Beginn der begriffliche Unterschied zwischen Evolution und
Geschichte relevant:

Die wichtigsten Stationen auf diesem Entwicklungsgang sind in Kürze die folgenden: Der
Australopithecus unterscheidet sich von den anderen Primaten u.a. durch ein etwas
größeres Schädelvolumen. Der Homo erectus geht im Gegensatz zu seinen Vorfahren
aufrecht und hat mithin die Hände zum Handeln frei. Seit etwa zwei Millionen Jahren gibt es
sichere Anzeichen für die Herstellung von Artefakten (i.w. Faustkeilen), seit einer halben
Million Jahren Indizien für den Gebrauch von Feuer. Gleichzeitig ist die Zerebralisierung, also
die Umfangserweiterung des Gehirns zu verfolgen, die besonders seit der Entstehung des
Altmenschen mit Riesenschritten weitergeht. Seit dem Mittelpaläolithikum sind
Kulthandlungen, insbesondere Bestattung, sowie Kleidung nachweisbar. Um 40.000 v.Ch.
tritt der Cromagnon-Mensch in Erscheinung und verdrängt den Neanderthaler. Er baut
bereits Häuser und ist, abgesehen vom Zivilisationsstand, ein Mensch wie wir. Entsprechend
der Fundlage sind 150.000 v.Ch. ein Terminus post quem und 40.000 v.Ch. ein Terminus ante
quem für die Entstehung des modernen Menschen.

Wenn wir die Evolution der Sprache mit der von Homo sapiens in Parallele setzen, müssen
wir also annehmen, daß Sprache im heutigen Sinne seit mindestens 40.000 Jahren besteht.
Anders gesagt, für die erste Phase der Evolution der Sprache, nämlich ihre Herausbildung,
kann die Zeit seit Beginn des Altpaläolithikums, also 1,8 Mio. Jahre angesetzt werden. Die
zweite Phase, die die Weiterentwicklung und den historischen Wandel der Sprachen umfaßt,
dauert dagegen vielleicht "erst" 40 000 Jahre. Das ist aber, wie gesagt, ein Terminus ante
quem. Es kann ebensogut sein - und wird auch gelegentlich angenommen - daß menschliche
Sprachen bereits seit 150.000 Jahren so wie heute sind.

Die Herausbildung der Sprache mit der anatomischen Entwicklung zu korrelieren ist nicht
einfach. Zum einen ist die anatomische Ausstattung offenbar weder hinreichende noch
notwendige Bedingung für menschliche Sprache. Denn einerseits können Taubstumme eine
menschliche Sprache beherrschen (sei es eine Gebärdensprache, sei es eine Schriftsprache);
und andererseits können Papageien sprechen. Zum zweiten sind wesentliche Aspekte der
anatomischen Entwicklung, nämlich insbesondere die Herausbildung des Nervensystems und
damit z.B. die Motorik der Artikulationsorgane, in den Funden nicht dokumentiert.

Auch ohne empirische Evidenz kann man postulieren, daß die Ausbildung des Gehirns und
der Sprachfähigkeit über die Jahrhunderttausende Hand in Hand gingen. Anatomie,
Physiologie und Neurologie können Hypothesen darüber aufstellen, welche physischen
Substrate sich in welcher Reihenfolge herausgebildet haben. Und die Linguistik kann
Hypothesen darüber aufstellen, welche Struktureigenschaften von Sprache fundamentaler
als andere sind (s.u.). Interdisziplinäre Forschung könnte zur Kombination solcher
Hypothesen führen.
Die Evolution der Sprache in heutiger linguistischer Sicht

Die bekannte methodologische Situation der Linguistik gegenüber dem Problem der
"menschlichen Ursprache" läßt sich wie folgt skizzieren. Will man sich dem in Rede
stehenden Sprachzustand mit empirischen Methoden nähern, so kann man entweder die
inzeptive oder die terminative Sicht annehmen. Im ersten Falle geht man konstruktiv von
den Kommunikationssystemen anderer Primaten, im zweiten Falle rekonstruktiv von den
historisch belegten Sprachen aus.

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