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Sprachursprung

Der Sprachursprung (auch


Glottogonie) ist in der Paläolinguistik
der bislang mangels empirischer
Voraussetzungen nicht datierbare
Zeitraum, in dem der Mensch lernte,
sich sprachlich zu artikulieren.
Die theoretischen Erklärungsansätze
bezüglich der Entstehung von Sprache
und der Art des abgelaufenen Prozesses
unterscheiden sich erheblich.
Ergebnisse der Zoosemiotik, die
Vergleichsmöglichkeiten zwischen
Humansprachen und Tiersprachen
bereitstellt, bilden eine Grundlage der
jeweiligen Theorien und sind auch
Gegenstand der Biolinguistik.
Über die Art des Vorganges streiten sich
die Vertreter der Naturlauttheorie und
der Nachahmungstheorie. Letztere
gehen davon aus, dass die Menschen
zunächst Laute nachahmten
(onomatopoetischer Ansatz), um sich zu
äußern. Die Naturlauttheoretiker gehen
davon aus, dass die Spezies Mensch
sich ursprünglich nur der Ausrufewörter
bediente.
Die Annahme, dass alle menschlichen
Sprachen einen gemeinsamen Ursprung
in einer einzigen Quellsprache haben,
heißt Monoglottogenese (oder
Monogenese) und beinhaltet die
Vermutung einer einzigen Proto-Welt-
Sprache. Die Polygenese wiederum
geht davon aus, dass sich mehrere
Sprachen zu verschiedenen Zeiten und
an verschiedenen Orten auf der Welt
ausgebildet und verbreitet haben. Auf
diese Weise entstanden Ursprachen,
aus denen die heutigen Sprachen
hervorgingen.
Theorien zum Ursprung der
Sprache

Viele bedeutende Denker haben sich


mit Theorien zum Ursprung der Sprache
auseinandergesetzt. Darunter sind z. B.
Johann Gottfried Herder (Über den
Ursprung der Sprache, 1772), Jacob
Grimm (Über den Ursprung der Sprache,
1851), Chajim Steinthal (Der Ursprung
der Sprache im Zusammenhang mit den
Letzten Fragen alles Wissens, Berlin
1851), Lazarus Geiger (Der Ursprung der
Sprache, 1869) oder auch Ludwig Noiré
(Der Ursprung der Sprache, 1877).
Herder vertrat einen
onomatopoetischen (lautmalerischen)
Ansatz, der lange Zeit populär war. Für
Jacob Grimm war die wichtigste Frage,
„ob wir die Sprache als ein Erschaffenes
oder Unerschaffenes ansehen können.
Ist die Sprache von Gott erschaffen
worden, ist ihr erster Ursprung für uns
völlig undurchschaubar. Ist sie aber
unerschaffen, durch den Menschen
selbst gebildet worden, dann kann man
sich auch als Sprachforscher mit dieser
Frage auseinandersetzen.“
Friedrich Max Müller verwarf die
onomatopoetischen und
interjektionalen Theorien zur
Sprachentstehung und nannte sie
ironisch „Bau-wau-Theorie und Pah-
pah-Theorie“. Ernst Cassirer lehnte die
Theorien als spekulativ ab.
Holistische Sprachgenesetheorie
Die „Holistische Sprachgenesetheorie“,
auch bekannt als complexity-before-
simplicity-approach, ist eine Theorie zur
evolutionären Entstehung der
menschlichen Sprache.
Sie wurde 1922 von Otto Jespersen
begründet[1] und nimmt im Gegensatz
zu den bis dahin existenten
Sprachgenesetheorien an, dass Sprache
ursprünglich kein erkennbares
grammatisches System oder Morpheme
besaß, also ihr die für die heutige
menschliche Sprache typische
Kompositionalität fehlte.
Stattdessen wird angenommen, dass
Sprache ursprünglich aus Äußerungen
bestand, die eine komplette Situation
erfassen, etwa „Kommt, lasst uns
Mammuts jagen“. Diese Äußerung ließe
dann nicht darauf schließen, dass die
Äußerung für „Kommt, lasst uns
Antilopen jagen“ in irgendeiner Weise
ähnliche Komponenten enthält. Beide
Äußerungen sind dieser Sprachtheorie
zufolge vollkommen eigen und nicht in
kleinere Einheiten auflösbar.
Jespersen vermutet, dass es sich bei der
frühen menschlichen Protosprache um
Gesänge handelte, die im Laufe der Zeit
Bedeutungskomponenten erhielten, die
immer ausgefeilter wurden. Durch
Assoziation bestimmter Gesänge mit
ihren Singern oder mit Orten u. ä.
entstehen daraus die Eigennamen als
erste Wortkategorie, weiter
Onomatopoetika und schließlich durch
Übertragungen, Lautverschiebungen
und andere Wandelprozesse sowohl der
Umgebung als auch der Sprache
vollkommen abstrakte Begriffe.
Ein anderer holistischer Ansatz wird von
der amerikanischen Linguistin Alison
Wray vertreten: Demnach blieben die
holistischen Äußerungen (ob als Worte
oder Gesänge bleibt ungenannt und ist
unerheblich) lange erhalten und
verhinderten durch ihre Präsenz die
Entstehung echter Worte, da diese zu
spezifisch waren und daher nicht
tradiert wurden. Stattdessen
entwickelten sich erst spät
systematische Strukturen in der
Sprache, die zuerst nur sehr allgemeine
Begriffe (vermutlich Verben) ausdrücken
konnten. Da das holistische System in
sich geschlossen war, dauerte es sehr
lange, bis der Mensch es durch
systematische Sprache ersetzte. Dieses
System hat den großen Vorteil, zu
erklären, warum die menschliche
Zivilisation erst so spät in der
biologischen Geschichte des Homo
sapiens auftrat bzw. warum es mit dem
Beginn der Sesshaftigkeit zu einem
plötzlichen Fortschritt der menschlichen
Evolution kam. Dies kann allerdings
auch mit dem Phänomen der
Sesshaftigkeit selber und vielen
anderen Ansätzen erklärt werden.
Dennoch ist nicht auszuschließen, dass
die Sprache eine elementare Rolle in der
Begründung der historischen Zivilisation
spielt. Wray begründet die Entstehung
einer holistischen Sprache mit der
Beobachtung holistischer Äußerungen
bei Primaten, bleibt aber einen
Nachweis der Holistizität primatischer
Kommunikationssysteme schuldig.
Den holistischen Sprachgenesetheorien
stehen die „konstruktivistischen
Sprachgenesetheorien“ gegenüber.
Kritik der
Sprachursprungsspekulationen
Immer wieder wurde Kritik geübt, dass
die philosophischen und linguistischen
Abhandlungen zum Ursprung der
Sprache rein spekulativ seien, da es
ganz grundsätzlich an Mitteln der
Hypothesenüberprüfung fehle. Berühmt
geworden ist der „Bann“, den die
Société de Linguistique de Paris 1866
aussprach; sie wies darauf hin, dass es
keine empirisch überprüfbaren Hinweise
auf die Sprachentstehung gebe.[2]
Experimente und Ereignisse

In der Geschichte der Menschheit


werden Experimente oder
Zufallsereignisse beschrieben, in denen
Kinder ohne Spracherziehung
aufwuchsen. Diese Experimente und
Ereignisse erlauben es potenziell, einen
natürlichen Spracherwerb zu
untersuchen und damit Rückschlüsse
auf den Sprachursprung anzustellen.
Siehe dazu insbesondere Kaspar-
Hauser-Versuch und Wolfskind.
Bekannt sind die angeblichen
Experimente Kaiser Friedrichs II. im 13.
Jahrhundert. Er soll neugeborene
Kinder isoliert haben, um die Ursprache
der Menschheit zu ergründen.[3]
Siehe auch

Sprachenentstehung
Gesprochene Sprache
Japhetitentheorie
Hamitentheorie
Nostratisch (Nostratik)
Richard Fester (Linguist)
Nikolai Jakowlewitsch Marr
Joseph Greenberg
Literatur

Louis-Jean Boë et al.: Which way to


the dawn of speech? Reanalyzing half
a century of debates and data in light
of speech science.Review in: Science
Advances. Band 5, Nr. 12, 2019,
eaaw3916,
doi:10.1126/sciadv.aaw3916 (Open-
Access-Zeitschrift).
Wolfgang Böhme (Hrsg.): Evolution
und Sprache. Über Entstehung u.
Wesen der Sprache. Herrenalber Texte
66. Evangelische Akademie Baden,
Karlsruhe 1985, ISBN 3-88450-066-X.
Rafaela von Bredow, Johann Grolle:
„Was ist ein ‚Was‘?“ In: Der Spiegel.
Hamburg 2002, S. 223–228; Beitrag
zur Titelgeschichte Der Anfang war
das Wort – Wie der Mensch die
Sprache erfand und dadurch zum
Menschen wurde.
Gyula Décsy:
Sprachherkunftsforschung. Band 1:
Einleitung und Phonogenese,
Harrassowitz,
Paläophonetik.
Wiesbaden 1977, ISBN 3-447-01861-
5.
Joachim Gessinger, Wolfert von
Rahden (Hrsg.): Theorien vom
Ursprung der Sprache. De Gruyter,
Berlin / New York 1989, ISBN 3-11-
010189-0.
Helmut Glück (Hrsg.), unter Mitarbeit
von Friederike Schmöe: Metzler
Lexikon Sprache. 3., neu bearbeitete
Auflage. Metzler, Stuttgart/Weimar
2005, ISBN 3-476-02056-8.
Eric H. Lenneberg: Biologische
Grundlagen der Sprache. 3. Auflage.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996,
ISBN 3-518-27817-7.
Ph. Lieberman: On the Origins of
Language. An Introduction to the
Evolution of Human Speech. 1975.
Roger Liebi: Herkunft und
Entwicklung der Sprachen – Linguistik
3. Auflage.
contra Evolution.
Holzgerlingen 2007, ISBN 3-7751-
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Peter Macneilage: The Origin of
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University Press, Oxford 2008, ISBN
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Horst M. Müller: Sprache und
Evolution. Grundlagen der Evolution
und Ansätze einer
evolutionstheoretischen
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Bernhard Rosenkranz: Der Ursprung
der Sprache. Ein linguistisch-
anthropologischer Versuch. 2. Auflage.
Winter, Heidelberg 1971, ISBN 3-533-
02167-X.
Ilse Schwidetzky (Hrsg.): Über die
Evolution der Sprache. Anatomie,
Verhaltensforschung,
Sprachwissenschaft, Anthropologie.
S. Fischer, Frankfurt am Main 1973,
ISBN 3-10-820101-8.
Gerald Traufetter: Stimmen aus der
Steinzeit. In: Der Spiegel. Hamburg
2002, S. 218–222; Beitrag zur
Titelgeschichte Der Anfang war das
Wort – Wie der Mensch die Sprache
erfand und dadurch zum Menschen
wurde.

Weblinks

Wiktionary: Sprachursprung –
Bedeutungserklärungen, Wortherkunft,
Synonyme, Übersetzungen
vom Ursprung der Sprache (https://w
ww.belleslettres.eu/content/sprache/u
rsprung-sprache.php) Video-Tutorial
zum Sprachursprung auf Daniel
Scholtens Belles-Lettres-Podcast
Einzelnachweise

1. Otto Jespersen: Die Sprache, ihre


Natur, Entwicklung und Entstehung.
Winter, Heidelberg 1925, Kapitel:
Die entstehung der sprache, S. 401
ff. (englisches Original 1922).
2. J. H. Stam: Inquiries into the origins
of language. New York 1976, S.
255.
3. Hubert Houben: Kaiser Friedrich II.
(1194–1250). Herrscher, Mensch,
Mythos. Stuttgart 2008, S. 144f.

Normdaten (Sachbegriff): GND:


4077740-6 (https://d-nb.info/gnd/4
077740-6)
Abgerufen von
„https://de.wikipedia.org/w/index.php?
title=Sprachursprung&oldid=230062969“

Diese Seite wurde zuletzt am 21. Januar 2023


um 13:07 Uhr bearbeitet. •
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