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Ursprache

meist hypothetische konstruierte


Sprachwurzel

Als Ursprache (auch Grundsprache


bzw. Protosprache) bezeichnet man in
der Linguistik eine in der Regel
hypothetische Sprachform, aus der sich
alle Sprachen einer Sprachfamilie oder
einer genetischen Einheit entwickelt
haben. Hypothetische Ursprachen
können mit den Verfahren der
vergleichenden Sprachwissenschaft
teilweise rekonstruiert werden.
Ursprachen in diesem Sinn sind
Gegenstand des Artikels.
Davon zu unterscheiden ist eine
primitive Frühform der Sprache, die vor
mehreren Millionen Jahren von
Urmenschen gesprochen wurde (siehe
hierzu Sprachursprung) und die
ebenfalls als „Ursprache“ oder
„Protosprache“ bezeichnet werden
kann. Über eine „Ursprache“ in diesem
Sinn liegen keine linguistischen
Erkenntnisse vor. Von ihr ist nicht viel
mehr bekannt, als dass es sie gegeben
haben muss. Die Unmöglichkeit, die von
Urmenschen gesprochene Sprache zu
rekonstruieren, wurde bereits von
Johann Gottfried Herder erkannt, der
einer der Schöpfer des Begriffs
Ursprache ist.[1]
Rekonstruktion

Durch den systematischen Vergleich der


miteinander verwandten
Nachfolgesprachen (zum Beispiel
anhand von Wortgleichungen) können
Ursprachen bis zu einem gewissen Grad
erschlossen werden. Eine exakte und
vollständige Rekonstruktion ist bei
hypothetischen Ursprachen jedoch
nicht möglich.
Eine Ausnahme ist das Lateinische, die
Ursprache der romanischen Sprachen:
Der Ursprung ist durch Schriftquellen
außerordentlich gut belegt und muss
nicht rekonstruiert werden. Allerdings ist
der gemeinsame Ausgangspunkt der
romanischen Sprachen nicht das
klassische Latein der schriftlichen
Überlieferung, sondern das
gesprochene Latein der Spätantike.
Dieses Vulgärlatein muss wiederum
rekonstruiert werden, vor allem anhand
der romanischen Einzelsprachen.
Ursprache und
Tochtersprachen

Die Nachfolgesprachen (manchmal auch


„Folgesprachen“ genannt) werden
häufig als Tochtersprachen bezeichnet.
Die Ursprache wäre dann eigentlich die
„Muttersprache“, doch weil der Begriff
Muttersprache bereits eine andere
Bedeutung hat, wird er in diesem Sinne
selten verwendet. Gelegentlich findet
man stattdessen aber die Bezeichnung
Elternsprache.
Ursprache und Vor-
Ursprache

Nach der veralteten Stammbaumtheorie


kann eine Ursprache als die Wurzel
eines Baumes aufgefasst werden,
dessen Zweige die späteren
Einzelsprachen repräsentieren. Genau
genommen handelt es sich jedoch nicht
um die Wurzel, sondern um die Stelle
der Verzweigung. Eine Ursprache ist
nämlich nicht irgendeine gemeinsame
Vorstufe, sondern die „jüngste“
gemeinsame Vorform aller belegten
Sprachen einer Sprachfamilie
(vergleichbar mit dem letzten
gemeinsamen Vorfahren in der Genetik,
siehe Most recent common ancestor).
Die zu einer Sprachfamilie „X“ gehörige
Ursprache wird „Ur-X“ („Proto-X“) oder
„X“ genannt, eine frühere Stufe „Früh-
Ur-X“ und eine Vorstufe „Vor-Ur-X“
oder „Vor-X“ („Prä-X“). Die
Unterscheidung zwischen „Ur-X“ und
„Vor-Ur-X“ wird allerdings nicht immer
genau beachtet, insbesondere wenn
sich zwischen der Vorstufe und der
Proto-Stufe keine weiteren bekannten
Sprachformen abgezweigt haben. Die
älteren Vorläufer (Vor-Ur-X) sind nicht
auf vergleichendem Wege erschließbar,
sondern nur durch interne
Rekonstruktion, gegebenenfalls mithilfe
von frühen Lehnwortschichten.
Ursprachen als „moderne“
Sprachen

Der Begriff Ursprache oder


Protosprache kann irreführenderweise
suggerieren, es handele sich um eine
„einfache“ (primitive) Sprache. Mit dem
Sprachursprung haben die in der
Linguistik erforschten Ursprachen
jedoch nichts zu tun. Der Erwerb der
Sprachfähigkeit durch den Menschen
verlief in unbekannten
Zwischenschritten mindestens über
Jahrhunderttausende. Ursprachen, die
in vielen Einzelheiten linguistisch
rekonstruiert werden können, sind also
zu unterscheiden von einer
hochspekulativen „Proto-Sprache“, die
von Urmenschen gesprochen wurde.
Auch eine theoretische Proto-Welt-
Sprache (eine hypothetische Ursprache
aller heute gesprochenen Sprachen)
läge zeitlich sehr weit vor einer
konkreten Ursprache wie der Proto-
Indoeuropäischen, die etwa auf 3500
v. Chr. datiert wird. Diese Datierung
kennzeichnet die Periode des
beginnenden Spätneolithikums.
Ursprachen im hier besprochenen Sinne
gehören immer zu einer begrenzten,
nachweisbar historisch
zusammenhängenden Gruppe von
Sprachen.
Ursprachen haben auch keine
„primitivere“ Struktur als die heutigen
Sprachen. Es sind im Grunde ganz
normale, „moderne“ und sehr komplexe
Sprachen, vergleichbar mit den aus der
Antike, dem Mittelalter und der
Gegenwart bekannten Sprachen. Mit
diesen hochentwickelten Ursprachen
konnte man im Prinzip alles ausdrücken,
wobei Ausdrücke für moderne
Erscheinungen natürlich fehlen.
Beispiele

Ein typisches Beispiel für eine


rekonstruierte Ursprache ist die
indogermanische Ursprache
(Urindogermanisch), die aus den
indogermanischen Einzelsprachen
rekonstruiert worden ist. Nach dem
Vorbild des Indogermanischen sind
inzwischen für viele Sprachfamilien oder
genetische Einheiten Ursprachen
rekonstruiert worden, zum Beispiel
Proto-Uralisch, Proto-Turkisch, Proto-
Mongolisch, Proto-Tungusisch, Proto-
Sinotibetisch, Proto-Semitisch, Proto-
Afroasiatisch, Proto-Nilosaharanisch
(mit Einschränkungen), Proto-Bantu
und viele andere.
Andererseits gibt es bedeutsame
Sprachfamilien, bei denen eine
Rekonstruktion der Ursprache bisher
nicht gelungen ist, z. B. die Niger-
Kongo-Sprachen.
Siehe auch

Genetische Verwandtschaft
(Linguistik)
Literatur

Hadumod Bußmann: Lexikon der


Sprachwissenschaft. 3., aktualisierte
und erweiterte Auflage. Kröner,
Stuttgart 2002, ISBN 3-520-45203-0.
Stichwort: „Ursprache“.
Helmut Glück (Hrsg.): Metzler Lexikon
Sprache. 4., aktualisierte und
überarbeitete Auflage. Metzler,
Stuttgart/ Weimar 2010, ISBN 978-3-
476-02335-3. Stichwort:
„Sprachursprung“.
Weblinks

Wiktionary: Ursprache –
Bedeutungserklärungen, Wortherkunft,
Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: Grundsprache –
Bedeutungserklärungen, Wortherkunft,
Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: Protosprache –
Bedeutungserklärungen, Wortherkunft,
Synonyme, Übersetzungen
Say something in Proto-Indo-
European (https://www.grsampson.ne
t/Q_PIE.html) (von Geoffrey
Sampson)
Einzelnachweise

1. Johann Gottfried Herder:


Abhandlung über den Ursprung der
Sprache. Berlin 1772, S. 10–11
(archive.org (https://archive.org/det
ails/bub_gb_JNMWAAAAQAAJ/pag
e/n13/mode/2up) ).

Normdaten (Sachbegriff): GND:


4233569-3 (https://d-nb.info/gnd/4
233569-3) | Anmerkung:
Ansetzungsform GND:
„Grundsprache“.
Abgerufen von
„https://de.wikipedia.org/w/index.php?
title=Ursprache&oldid=230281782“

Diese Seite wurde zuletzt am 28. Januar 2023


um 05:01 Uhr bearbeitet. •
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