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5 Neuronale Grundlagen
der Merkmalsintegration
Andreas K. Engel
5.1 Das Problem der perzeptiven Integration – 55 den ist die Frage, wie Objekte der Außenwelt als kohä-
5.2 Ein Erklärungsmodell für die Gestalt- rente Einheiten im Gehirn repräsentiert – also in neuro-
bildung – 57 nalen Aktivitätsmustern dargestellt und gespeichert – wer-
5.3 Zeitliche Bindung im Sehsystem – 58 den. Darüber hinaus ergibt sich das Problem, wie In-
5.4 Intermodale und sensomotorische formation, die in verschiedenen sensorischen Systemen
Integration – 61 vorverarbeitet worden ist, zusammengeführt werden kann.
5.5 Top-down-Mechanismen und zeitliche Dies ist offensichtlich notwendig, um verschiedene Klassen
Dynamik – 63 von Objekteigenschaften, also z. B. die visuellen, akusti-
schen und taktilen Aspekte eines Objekts, assoziieren zu
können. Und schließlich stellt sich die Frage, wie die senso-
)) rischen Informationen mit der motorischen Aktivität ver-
knüpft und koordiniert werden können. Das Verständnis
Eine Leistung, die unser Gehirn ständig erbringen muss, ist dieses Prozesses, der als sensomotorische Integration be-
die Integration von Sinnesdaten zu kohärenten Wahrneh- zeichnet wird, ist für die Erklärung von tierischem und
mungseindrücken. Eine solche Integrationsfähigkeit ist menschlichem Verhalten ebenfalls von entscheidender Be-
Voraussetzung dafür, dass wir Objekte und Ereignisse in deutung.
unserer Umwelt voneinander unterscheiden und klassifi-
zieren können. Hierzu müssen die von den Sinnesorganen
aufgenommenen Signale einem Strukturierungsprozess 5.1 Das Problem der perzeptiven
unterworfen werden, in dem elementare Sinnesdaten in Integration
gestalthafte Kontexte eingebettet und mit Bedeutung ver-
sehen werden. Ohne diese von den Sinnessystemen geleis- Die integrative Funktion von Sinnessystemen lässt sich am
tete Integration bliebe unsere Wahrnehmungswelt eine Beispiel des Sehsystems paradigmatisch verdeutlichen. In
Anhäufung bedeutungsloser Farbflecken, Geräusche und jedem Augenblick analysiert das visuelle System eine Viel-
Gerüche. Obwohl die Bedeutung solcher Integrationspro- zahl von Merkmalen, die für die Wahrnehmung der Um-
zesse in der Wahrnehmungspsychologie schon sehr lange welt von Bedeutung sind, wie etwa die Farbe, Form oder
bekannt ist, wissen wir bis heute nur relativ wenig über Oberflächenstruktur von Objekten, ihre Entfernung vom
deren physiologische Grundlagen. Erst in jüngster Zeit Beobachter sowie ihre räumliche Orientierung und Bewe-
konzentriert sich die Hirnforschung verstärkt auf die Frage, gungsrichtung. Ein entscheidender Schritt in der visuellen
durch welche Mechanismen integrative Prozesse wie Ge- Informationsverarbeitung besteht nun darin festzulegen,
staltbildung und Figur-Grund-Trennung auf der biologi- welche Merkmale und welche möglichen Objektbereiche
schen Ebene realisiert werden. zusammengehören. Da sich meist mehrere Objekte im
Gesichtsfeld befinden, reicht es nicht aus, die an den ver-
schiedenen Stellen im Sehraum auftretenden Merkmale zu
Aus neurobiologischer Sicht stellen sich hier mehrere Pro- erfassen. Um Objekte als Einheiten identifizieren und ge-
bleme. Zum einen ist noch weitgehend ungeklärt, wie die gen andere Objekte abgrenzen zu können, ist es vielmehr
Integration innerhalb einzelner Sinnessysteme – wie etwa von entscheidender Bedeutung, dass zusätzlich die Relatio-
dem Seh- oder Hörsystem – geleistet wird. Damit verbun- nen zwischen den analysierten Merkmalen bestimmt wer-
56 Kapitel 5 · Neuronale Grundlagen der Merkmalsintegration
ad“
le r Pf 5.2 Ein Erklärungsmodell
tra
„ Ve n für die Gestaltbildung
. Abb. 5.2. Parallelverarbeitung im Sehsystem In theoretischen Arbeiten wurde vorgeschlagen, dass ein
In diese schematische Seitenansicht eines Gehirns sind die wichtigs- zeitlicher Integrationsmechanismus die Lösung für dieses
ten visuellen Hirnrindenareale und ein Teil der zwischen ihnen be- Integrationsproblem sein könnte (zur Übersicht s. Engel
stehenden Verbindungen eingetragen. Jedes der Kästchen vertritt
et al. 2001). Diese Hypothese, die im Folgenden erläutert
– abgesehen vom primären (V1) und sekundären (V2) visuellen Kor-
tex – einen Komplex aus mehreren Arealen (V3, V4, V5). Stark verein- werden soll, besagt, dass die von einem Objekt aktivier-
fachend sind hier die drei Objektmerkmale »Form«, »Farbe« und »Be- ten Neurone durch eine Synchronisation ihrer Impulse
wegung« Arealen zugeordnet, in denen sie wahrscheinlich bevorzugt zu Assemblies zusammengeschlossen werden könnten
verarbeitet werden. Wichtig ist der reziproke Charakter der Verbindun- (. Abb. 5.3). Die zeitliche Korrelation zwischen den neuro-
gen und das Vorhandensein mehrerer paralleler Eingänge von subkor-
nalen Impulsen sollten dabei – so die Vorhersage – die Ge-
tikalen Strukturen. Basierend auf der Art ihrer Verknüpfung und ihrer
funktionellen Charakteristik können die Areale 2 verschiedenen Ver- nauigkeit von wenigen tausendstel Sekunden aufweisen.
arbeitungspfaden zugeordnet werden, dem sog. »dorsalen Pfad« und Somit wäre also das synchrone Feuern der Hirnrinden-
dem sog. »ventralen Pfad«. Zum dorsalen (parietalen) Pfad gehört u. a. neurone Ursache für die ganzheitliche Struktur unserer
das Areal V5, zum ventralen (temporalen) Pfad das Areal V4. Wahrnehmungen – etwa für die Gestaltnatur der visuellen
Eindrücke. Die zeitlichen Korrelationen würden nämlich
chungen geht hervor, dass verschiedene Klassen von Objekt- – wenn das Modell zutrifft – die Zusammengehörigkeit der
merkmalen in unterschiedlichen Kortexarealen analysiert Merkmale eines Objektes repräsentieren und wären auf
werden, die verschiedene Merkmalsdimensionen – wie diese Weise für die Erzeugung eines kohärenten Perzepts
etwa Farbe, Form oder Bewegung – repräsentieren. So von entscheidender Bedeutung.
lassen sich beispielsweise bei Rhesusaffen mehr als 30 visu- Aus dieser Überlegung folgt zugleich, dass sich zwischen
elle Areale identifizieren, in denen sich Neurone mit sehr den Impulsen von Neuronen, die verschiedene Objekte der
unterschiedlichen Antworteigenschaften befinden. Beim Außenwelt repräsentieren, keine solchen zeitlichen Korre-
Menschen liefern neuere Untersuchungen mit bildgeben- lationen finden lassen sollten. Träfe diese Vermutung zu,
den Verfahren Hinweise auf eine ähnlich starke Parzellie- dann könnte das Hirn die Desynchronisation verschiede-
rung. Diese Befunde belegen, dass Objekte nicht durch die ner Assemblies für eine Segmentierung und Figur-Grund-
Aktivität einzelner oder sehr weniger Neurone in der Hirn- Trennung nutzen. Wie in . Abb. 5.3 schematisch gezeigt,
rinde repräsentiert werden, sondern durch ausgedehnte blieben mehrere – verschiedenen Objekten zugeordnete –
und über weite Bereiche verteilte Neuronenverbände – sog. Assemblies tatsächlich unterscheidbar, da ja durch die zeit-
»Assemblies«. Damit wird freilich deutlich, dass es hier tat- lichen Beziehungen eindeutig festgelegt wäre, welche Teil-
sächlich ein Integrationsproblem oder – wie man auch sagt menge der aktiven Neurone jeweils zum selben Assembly
– ein Bindungsproblem gibt. Es stellt sich nämlich die Fra- gehört. Und das Gesamtmuster der aktiven Zellen im visu-
ge, auf welche Weise große Zahlen von räumlich verteilten ellen System würde auf diese Weise eine für andere Hirn-
Neuronen zu solchen Assemblies – und damit zu kohären- regionen lesbare Struktur erhalten, die die separate Weiter-
ten Objektrepräsentationen – zusammengefasst werden verarbeitung von zusammengehöriger Information ermög-
können. licht. Da synchrone Aktivität besonders gut dazu geeignet
ist, nachgeschaltete Hirnrindenneurone zu aktivieren, er-
lauben es diese Zeitmuster dem Gehirn, bestimmte Assem-
58 Kapitel 5 · Neuronale Grundlagen der Merkmalsintegration
Stimulus
Blick- Objekt 1
richtung
Objekt 2
Assembly 1
Primärer visueller Kortex
5
Assembly 2
. Abb. 5.3. Lösung des Bindungsproblems durch neuronale Kontursegmenten, detektieren. Die Zusammengehörigkeit der Merk-
Synchronisation am Beispiel einer visuellen Szene male wird dabei durch die zeitliche Korrelation zwischen den Neuro-
Die Bindung von Objektmerkmalen erfolgt durch zeitliche Korrelation nen eines Assemblies kodiert (rechts). Diejenigen Neurone, die zum
zwischen den neuronalen Antworten. Das Assembly-Modell nimmt selben Zellverband gehören, erzeugen nach der Assembly-Hypothese
an, dass Objekte im visuellen Kortex (unten) durch Verbände von syn- ihre Impulse – die durch senkrechte Striche angedeutet sind – jeweils
chron aktiven Neuronen repräsentiert werden. Im hier gezeigten Fall – synchron. Zwischen den beiden Assemblies besteht keine feste zeit-
durch graue und blaue Kreise angedeutet – würden die beiden gesehe- liche Beziehung. Diese Desynchronisation könnte beispielsweise dann
nen Objekte (oben) durch jeweils ein solches Assembly neuronal dar- zur Segmentierung genutzt werden, wenn Teile der Szene in den Blick
gestellt. Diese Assemblies bestehen aus Neuronen, die elementare kommen, in denen Teile verschiedener Objekte einander überlappen
Objektmerkmale, wie etwa Farbinformation oder die Orientierung von (oben)
blies im Verarbeitungsprozess zu selektieren und mit Akti- Zudem weisen viele Forschungsergebnisse darauf hin,
vität in anderen Bereichen der Hirnrinde funktionell zu dass diese zeitlichen Korrelationen bedeutsam für die per-
verknüpfen. zeptive Integration und somit für die Segmentierungs-
leistungen des Sehsystems sind. Entsprechende Versuche
! Merkmalsbindung könnte dadurch erzeugt werden,
wurden vor allem am Sehsystem von Katzen und Affen ge-
dass diejenigen Nervenzellen, die auf dasselbe Ob-
macht. Diese Ergebnisse können sehr wahrscheinlich auf
jekt reagieren, ihre elektrischen Impulse synchron
das menschliche Gehirn übertragen werden, da sich hier
erzeugen. Die Desynchronisation verschiedener As-
durch nichtinvasive Messung der Hirnaktivität (EEG,
semblies könnte dazu genutzt werden, um Figur-
MEG) ähnliche Synchronisationsphänomene nachweisen
Grund-Trennungen herbeizuführen.
ließen.
Sollte das Assembly-Modell zutreffend sein, muss eine
5.3 Zeitliche Bindung im Sehsystem Bindung der neuronalen Antworten auf Sehreize innerhalb
einzelner visueller Areale stattfinden, um so die Zusam-
In zahlreichen Arbeiten wurde inzwischen nachgewie- mengehörigkeit von Objektteilen darstellen zu können, die
sen, dass die Neurone des Sehsystems tatsächlich ihre sich an unterschiedlichen Orten im Gesichtsfeld befinden
Aktionspotentiale präzise im Millisekundenbereich syn- (wie in Kap. 6 dargestellt, enthalten die meisten visuellen
chronisieren können (zur Übersicht s. Engel et al. 2001). Kortexareale eine systematische Karte des Sehraums). Dar-
5.3 · Zeitliche Bindung im Sehsystem
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. Abb. 5.7. Neuronale Synchronisation bei binokulärem Wettstreit gibt es Episoden, in denen das dem linken Auge gezeigte Muster per-
Um binokulären Wettstreit zu induzieren, werden 2 Spiegel vor den zeptiv dominiert und das auf dem rechten Auge dargebotene Muster
Augen des Versuchstieres platziert, sodass die Augen mit unterschied- unterdrückt wird (links). Dann gibt es Episoden, in denen der umge-
lichen Mustern gereizt werden, die auf 2 Monitoren dargeboten wer- kehrte Effekt auftritt und das rechte Auge die Wahrnehmung domi-
den (oben). Bei dieser Art der Reizung nimmt die Katze abwechselnd niert (rechts). In solchen Episoden wurde die Aktivität von Neuronen
das linke und das rechte Streifenmuster wahr. Entscheidend ist, dass es untersucht, die vom linken oder vom rechten Auge aktiviert werden.
zu einem Wechsel des Perzepts kommt, obwohl beide Reizmuster Wie unten angedeutet, synchronisieren immer diejenigen Neurone
ohne Unterbrechung dargeboten werden. Dem Versuchstier wurden stärker untereinander, die den dominanten Reiz verarbeiten. Wenn
Elektroden in der Sehrinde chronisch implantiert, sodass die neuro- also z. B. das linke Auge dominant ist, verbessert sich die Synchronisa-
nale Aktivität – für das Tier schmerzfrei – im Wachzustand registriert tion unter den Zellen, die Information von diesem Auge erhalten. Die
werden kann. Die schematische Darstellung in der unteren Hälfte der zeitliche Korrelation zwischen den Neuronen, die vom rechten Auge
Abbildung verdeutlicht das experimentelle Ergebnis. Es lassen sich in aktiviert werden, nimmt dagegen ab. Bei Dominanz des rechten Auges
diesem Paradigma 2 perzeptive Zustände unterscheiden: Einerseits verhält es sich umgekehrt.
5.5 · Top-down-Mechanismen und zeitliche Dynamik
63 5
sensorischen und motorischen Zentren im Gehirn auf- war, mit erhöhter Aufmerksamkeit verarbeitet wurde. Die-
treten. se Befunde deuten darauf hin, dass neuronale Synchroni-
In der Tat wurden bereits in einer ganzen Reihe von sation tatsächlich eine Rolle für die sensomotorische Inte-
Versuchen Beobachtungen gemacht, die auf eine weite gration spielt und für die selektive Koordination sensori-
Verbreitung ähnlicher Synchronisationsphänomene hin- scher und motorischer Verhaltensaspekte wesentlich sein
deuten. So ist etwa im Riechsystem eine präzise neuronale könnte.
Synchronisation bereits für eine ganze Reihe verschiede-
! Die am Sehsystem erhobenen Daten zur Bedeutung
ner Tierarten nachgewiesen worden. Ähnliches gilt für das
neuronaler Synchronisation lassen sich wahrschein-
Hörsystem, wo in Tierexperimenten ebenfalls zeitliche
lich generalisieren. Sehr ähnliche Verarbeitungsprin-
Korrelationen gefunden wurden. In der menschlichen
zipien scheinen auch in anderen Sinnessystemen und
Hörrinde wurden entsprechende Synchronisationsphäno-
im motorischen System von Bedeutung zu sein.
mene durch Aufzeichnung der bei neuronaler Aktivität
auftretenden elektrischen bzw. magnetischen Felder (EEG
bzw. MEG) nachgewiesen. Für das somatosensorische Sys- 5.5 Top-down-Mechanismen
tem, das den Tastsinn vermittelt, wurde die Möglichkeit und zeitliche Dynamik
präziser neuronaler Synchronisation ebenfalls im Tierver-
such aufgezeigt. Diese Vielfalt gleichlautender Ergebnisse Viele der oben angesprochenen Experimente zeigen bereits,
spricht dafür, dass die Etablierung zeitlicher Bindungen in dass die neuronale Synchonisation, die in den verschiede-
allen sensorischen Systemen möglich ist – was wiederum nen Systemen auftritt, keineswegs ausschließlich von den
die Vermutung nahelegt, dass die neuronale Synchronisa- verarbeiteten Reizen abhängt, sondern stark von sog. Top-
tion ganz generell für integrative Prozesse bedeutsam ist. down-Prozessen bestimmt ist. Hiermit sind systeminterne
Für eine Bindung zwischen den verschiedenen Sinnesmo- Faktoren wie etwa Aufmerksamkeit, Motivation oder Ge-
dalitäten gibt es derzeit allerdings noch keine experimen- dächtnis gemeint, die durch höhere Verarbeitungszentren
tellen Belege. gesteuert werden. Mehrere kürzlich durchgeführte Studien
Es gibt hingegen klare Hinweise auf die Bedeutung zeit- berichten Aufmerksamkeits- und Gedächtniseffekte auf
licher Korrelationen für die sensomotorische Integration. die neuronale Synchronisation. So wurde in Messungen am
So wurde von mehreren Arbeitsgruppen gezeigt, dass beim visuellen Kortex von wachen Affen eine aufmerksam-
Rhesusaffen und beim Menschen eine Synchronisation keitsbedingte Verstärkung der Synchronisation beobachtet
zwischen somatosensorischen und motorischen Kortex- (Fries et al. 2001). Die Affen waren darauf dressiert, Hin-
arealen auftritt. Ähnliche Ergebnisse wurden an Katzen weisreize auf einem Computerbildschirm zu beachten und
erzielt, die darauf trainiert worden waren, einen visuellen ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Stellen des Bildschirms
Reiz mit einer gezielten motorischen Reaktion zu beant- zu richten. Wurden dann visuelle Reize am erwarteten Ort
worten (Roelfsema et al. 1997). In diesen Experimenten gezeigt, führte dies zu schnellen rhythmischen Entladun-
wurde neuronale Aktivität gleichzeitig in verschiedenen gen der Neuronen. Diese oszillatorische Aktivität zeigte
visuellen Arealen und im motorischen Kortex gemessen. charakteristische Frequenzen zwischen 30 und 100 Hz –
Zugleich wurde auch der dazwischen liegende parietale also im bereits erwähnten Gamma-Band (. Abb. 5.4).
Kortex untersucht, der den Signalfluss von den visuellen Diese Gamma-Oszillationen waren deutlich stärker aus-
zu den motorischen Arealen vermittelt. Die Ergebnisse geprägt, wenn die Versuchstiere die Reize mit Aufmerk-
dieser Experimente zeigten zum einen, dass eine neuro- samkeit betrachteten, schwächten sich aber ab, wenn die
nale Synchronisation nicht nur innerhalb des visuellen Aufmerksamkeit anderen Reizen galt. Dieses Ergebnis
Kortex auftritt, sondern im gesamten sensomotorischen wird durch methodisch vergleichbare Untersuchungen am
Verarbeitungsweg zu finden ist. Ein weiteres Ergebnis be- somatosensorischen Kortex von Rhesusaffen bestätigt, in
stand darin, dass sich die zeitliche Kopplung zwischen den denen eine verstärkte Synchronisation beobachtet wurde,
Arealen in verschiedenen Phasen der Verhaltensaufgabe wenn die Neuronen Informationen über einen Reiz ko-
stark verändert. Eine präzise Synchronisation zwischen dierten, den das Versuchstier mit Aufmerksamkeit betastet
sensorischen und motorischen Neuronen trat in diesen hatte.
Experimenten nur dann auf, wenn visuelle Information, Diese Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Aufmerk-
die für die Steuerung der motorischen Reaktion relevant samkeitsprozesse nicht nur mit Veränderungen der Feuer-
64 Kapitel 5 · Neuronale Grundlagen der Merkmalsintegration
Prämotorischer Kortex
Handlungs-
planung
Primärer visueller Kortex
Sensorischer Assoziationskortex
Multimodale
Objekt-
repräsentation
5 “saliency by synchrony”
. Abb. 5.8. Mögliche Rolle dynamischer Interaktionen zwischen ver- andere Zentren weitergeleitet und dort bevorzugt verarbeitet werden,
schiedene Kortexarealen ein Funktionsprinzip, das als »saliency by synchrony« bezeichnet wer-
Die vom Assembly-Modell vorhergesagte neuronale Synchronisation den könnte (offene Pfeile). Umgekehrt könnte zeitlich strukturierte
ist sehr wahrscheinlich eng an die Art der Wechselwirkung zwischen Aktivität in höheren Zentren die Bildung von Assemblies in frühen
verschiedenen Hirnarealen gekoppelt. Hierbei spielen möglicherweise sensorischen Arealen vorbereiten, noch bevor ein neuer Reiz verarbei-
zwei Verarbeitungsprinzipien eine Rolle. Zum einen ist zu erwarten, tet wurde. Dieses Interaktionsprinzip, das die Wirkung von Top-down-
dass die in einem Areal entstehenden Synchronisationsmuster dazu Prozessen verkörpern könnte, kann als »dynamic contextual predic-
führen, dass die betreffenden Informationen mit hoher Präferenz in tion« bezeichnet werden (schwarze Pfeile)
rate einzelner Neurone einhergehen – was ebenfalls in zahl- (. Abb. 5.8) könnten sich so äußern, dass in sensorischen
reichen Untersuchungen beobachtet wurde, sondern auch Arealen bestimmte zeitliche Muster bereits entstehen, be-
mit einer Änderung der zeitlichen Kopplung zwischen all vor neue Reize eintreffen und verarbeitet werden. Hier
den Neuronen, die sich an der Kodierung desselben Reizes würde sich der Einfluss anderer Hirnareale auf neuronale
beteiligen. Verstärkt sich die Aufmerksamkeit bei beson- Synchronisationsprozesse geltend machen. Der neue Reiz
ders wichtigen Reizen, so verbessert sich die Synchronisation. setzt nun seinerseits bestimmte zeitliche Kopplungsmuster
Da Nervenzellen in anderen Arealen besonders gut durch in Gang. Passen diese zur Erwartung, werden die be-
zeitlich korrelierte Eingangssignale aktiviert werden, könnte treffenden Signale weitergeleitet. Wird die Erwartung da-
dies dazu führen, dass die durch synchrone Assemblies ko- gegen enttäuscht, kommt es zur Löschung der eingelau-
dierten Informationen bevorzugt weiterverarbeitet werden fenen neuronalen Botschaft. Die erwähnten Gamma-
(. Abb. 5.8). Auf diese Weise ließe sich erklären, weshalb Oszillationen könnten in diesem Szenario geeignet sein,
die mit Aufmerksamkeit verarbeiteten Reize eine größere um einen Abgleich von Erwartung und Wirklichkeit her-
kognitive und verhaltensbezogene Wirksamkeit zeigen als beizuführen, da die in ihnen enthaltene Phaseninforma-
unbeachtete Stimuli. tion im Erfolgsfall zur Verstärkung der neuronalen Signale
In ihrer Gesamtheit betrachtet, zeigen diese Experimen- dienen könnte. Durch einen Prozess der neuronalen »Re-
te sowie zahlreiche weitere EEG- und MEG-Untersuchun- sonanz« käme es dann zur selektiven Auswahl derjenigen
gen, dass die Synchronisationsprozesse in sensorischen neuronalen Signale, die – abhängig vom jeweiligen Hand-
Arealen sowohl von äußeren Reizen als auch von der in- lungskontext – gerade zweckdienliche Informationen ent-
neren Dynamik des Gehirns bestimmt werden. Zahlreiche halten.
Argumente legen nahe, dass Top-down-Prozessen und da-
mit der inneren Dynamik kognitiver Systeme eine außer-
ordentlich große Bedeutung zukommt. Nach einer weit
verbreiteten Auffassung, die auch wir teilen, ist das Gehirn
ein aktives System, das ständig Vorhersagen über zu er-
wartende Reize erzeugt. Diese »neuronalen Vorhersagen«
5.5 · Top-down-Mechanismen und zeitliche Dynamik
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Zusammenfassung
Aus experimentellen Untersuchungen lässt sich die Ver- nisationsphänomene, die den Aufbau solcher Assemblies
mutung ableiten, dass Merkmalsintegration auf neu- erlauben, stellen sehr wahrscheinlich eine wesentliche Vor-
ronaler Ebene durch zeitliche Bindungsmechanismen aussetzung für den Prozess der Gestaltwahrnehmung dar.
vermittelt wird. Die bisher vorliegenden Ergebnisse spre- Diese Fähigkeit zur Generierung interner zeitlicher Bindun-
chen dafür, dass neuronale Objektrepräsentationen in gen könnte das integrative Prinzip sein, das es dem Gehirn
ausgedehnten und über weite Hirnbereiche verteilten ermöglicht, kohärente Perzepte aus dem durch die Sinne
Assemblies bestehen, die durch Synchronisation der je- aufgenommenen Material zu konstruieren.
weils relevanten Neurone gebildet werden. Die Synchro-