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5 Neuronale Grundlagen
der Merkmalsintegration
Andreas K. Engel

5.1 Das Problem der perzeptiven Integration – 55 den ist die Frage, wie Objekte der Außenwelt als kohä-
5.2 Ein Erklärungsmodell für die Gestalt- rente Einheiten im Gehirn repräsentiert – also in neuro-
bildung – 57 nalen Aktivitätsmustern dargestellt und gespeichert – wer-
5.3 Zeitliche Bindung im Sehsystem – 58 den. Darüber hinaus ergibt sich das Problem, wie In-
5.4 Intermodale und sensomotorische formation, die in verschiedenen sensorischen Systemen
Integration – 61 vorverarbeitet worden ist, zusammengeführt werden kann.
5.5 Top-down-Mechanismen und zeitliche Dies ist offensichtlich notwendig, um verschiedene Klassen
Dynamik – 63 von Objekteigenschaften, also z. B. die visuellen, akusti-
schen und taktilen Aspekte eines Objekts, assoziieren zu
können. Und schließlich stellt sich die Frage, wie die senso-
)) rischen Informationen mit der motorischen Aktivität ver-
knüpft und koordiniert werden können. Das Verständnis
Eine Leistung, die unser Gehirn ständig erbringen muss, ist dieses Prozesses, der als sensomotorische Integration be-
die Integration von Sinnesdaten zu kohärenten Wahrneh- zeichnet wird, ist für die Erklärung von tierischem und
mungseindrücken. Eine solche Integrationsfähigkeit ist menschlichem Verhalten ebenfalls von entscheidender Be-
Voraussetzung dafür, dass wir Objekte und Ereignisse in deutung.
unserer Umwelt voneinander unterscheiden und klassifi-
zieren können. Hierzu müssen die von den Sinnesorganen
aufgenommenen Signale einem Strukturierungsprozess 5.1 Das Problem der perzeptiven
unterworfen werden, in dem elementare Sinnesdaten in Integration
gestalthafte Kontexte eingebettet und mit Bedeutung ver-
sehen werden. Ohne diese von den Sinnessystemen geleis- Die integrative Funktion von Sinnessystemen lässt sich am
tete Integration bliebe unsere Wahrnehmungswelt eine Beispiel des Sehsystems paradigmatisch verdeutlichen. In
Anhäufung bedeutungsloser Farbflecken, Geräusche und jedem Augenblick analysiert das visuelle System eine Viel-
Gerüche. Obwohl die Bedeutung solcher Integrationspro- zahl von Merkmalen, die für die Wahrnehmung der Um-
zesse in der Wahrnehmungspsychologie schon sehr lange welt von Bedeutung sind, wie etwa die Farbe, Form oder
bekannt ist, wissen wir bis heute nur relativ wenig über Oberflächenstruktur von Objekten, ihre Entfernung vom
deren physiologische Grundlagen. Erst in jüngster Zeit Beobachter sowie ihre räumliche Orientierung und Bewe-
konzentriert sich die Hirnforschung verstärkt auf die Frage, gungsrichtung. Ein entscheidender Schritt in der visuellen
durch welche Mechanismen integrative Prozesse wie Ge- Informationsverarbeitung besteht nun darin festzulegen,
staltbildung und Figur-Grund-Trennung auf der biologi- welche Merkmale und welche möglichen Objektbereiche
schen Ebene realisiert werden. zusammengehören. Da sich meist mehrere Objekte im
Gesichtsfeld befinden, reicht es nicht aus, die an den ver-
schiedenen Stellen im Sehraum auftretenden Merkmale zu
Aus neurobiologischer Sicht stellen sich hier mehrere Pro- erfassen. Um Objekte als Einheiten identifizieren und ge-
bleme. Zum einen ist noch weitgehend ungeklärt, wie die gen andere Objekte abgrenzen zu können, ist es vielmehr
Integration innerhalb einzelner Sinnessysteme – wie etwa von entscheidender Bedeutung, dass zusätzlich die Relatio-
dem Seh- oder Hörsystem – geleistet wird. Damit verbun- nen zwischen den analysierten Merkmalen bestimmt wer-
56 Kapitel 5 · Neuronale Grundlagen der Merkmalsintegration

um Figuren vom Hintergrund zu trennen und zu einer Ob-


jekterkennung zu kommen. Sie untersuchten systematisch
die Regeln, nach denen unser Sehsystem Objektmerkmale
zu kohärenten Einheiten – zu Gestalten – zusammenfasst.
Die Ergebnisse ihrer Experimente waren die Grundlage für
die Identifikation der Kriterien, die beim Prozess der Merk-
malsbindung eingesetzt werden. Wie in . Abb. 5.1 illus-
triert, sind diese »Gestaltkriterien« elementarer Natur und
bestehen beispielsweise in der Ähnlichkeit oder der kohä-
renten Veränderung von Elementen einer visuellen Szene.
Die frühen Arbeiten der Gestaltpsychologen haben zusam-
men mit vielen Untersuchungen jüngeren Datums dazu
5 beigetragen, dass die Gesetzmäßigkeiten der perzeptiven
Integration auf der psychologischen Ebene plausibel be-
schrieben werden können.
Verglichen damit ist unser Wissen über die physiologi-
schen Mechanismen der Merkmalsbindung und der Gestalt-
bildung noch außerordentlich dürftig. Auf der physiologi-
schen Ebene ist die Integration im Wahrnehmungprozess
aus mehreren Gründen schwer zu verstehen. Zum einen
. Abb. 5.1. Schematische Darstellung der Gestaltkriterien gibt es keine Nervenzellen, die in der Lage wären, durch
Ein wichtiges Kriterium ist Kontinuität, d. h. miteinander verbundene ihre Aktivität komplexe Objekte als Ganzheiten zu repräsen-
Bildregionen werden im allgemeinen als Teil derselben Figur gesehen.
tieren. Vielmehr ist es so, dass Neurone in den allermeisten
Dasselbe gilt für Bildelemente, die nahe beeinander liegen oder sich
ähnlich sind. Darüber hinaus gibt es den Gestaltfaktor des »gemein- Fällen nur auf einfache Merkmale und auf Teilaspekte von
samen Schicksals«: Hiermit ist eine kohärente raum-zeitliche Verän- Objekten reagieren. Im Sehsystem beispielsweise antwor-
derung von Elementen gemeint. Wenn sich eine bestimmte Teilmenge ten viele Nervenzellen dann besonders gut, wenn sie mit
von Bildelementen in dieselbe Richtung bewegt, werden diese als Hell-Dunkel-Konturen einer bestimmten Orientierung
Figur herausgehoben. Ferner spielt Geschlossenheit eine Rolle. Im
stimuliert werden. Andere Neurone reagieren auf die Farbe
allgemeinen wird man Bildelemente gruppieren, die einen geschlos-
senen Umriss bilden, und in der hier gezeigten Darstellung daher eines Objekts, und wieder andere kodieren die Bewegungs-
vier Quadrate sehen. Des weiteren sprachen die Gestaltpsychologen richtung oder auch den relativen räumlichen Abstand von
von der »guten Fortsetzung«. Dieser Gestaltfaktor wirkt sich im hier Objekten. Einzelne Neurone repräsentieren durch den
gezeigten Beispiel so aus, dass man 2 geschwungene Linien sieht, Grad ihrer Aktivierung also lediglich elementare Objekt-
die sich überkreuzen, und nicht etwa 2 aneinanderstoßende Spitzen.
merkmale, keine komplexen Merkmalskonstellationen. Die
Schließlich ist auch Symmetrie wichtig für die Bildung perzeptiver Ge-
stalten. In den hier gezeigten Beispielen wird man die von symmetri- Merkmalsanalyse erfolgt überdies nur lokal im Bereich der
schen Linien umschlossenen Bereiche als Vordergrundfiguren sehen. rezeptiven Felder der jeweiligen Nervenzellen. Die Infor-
mation über komplexe Objekte wird im Gehirn also in je-
dem Fall arbeitsteilig durch sehr viele Neurone analysiert,
den. Aufgrund einer solchen Merkmalsbindung kann dann von denen jedes durch seine Aktivierung jeweils nur einen
die Abgrenzung zusammengehörender Bildbereiche vorge- relativ kleinen Teilaspekt der Objektbeschaffenheit ko-
nommen werden – ein Prozess, der als Segmentierung be- diert.
zeichnet wird. Außerdem wirkt sich für die Erforschung der per-
Auf der psychologischen Ebene sind die integrierenden zeptiven Integration der Umstand erschwerend aus, dass
Verarbeitungsschritte, die zu Merkmalsbindung und Seg- diese jeweils für ein Merkmal zuständigen Neurone nicht
mentierung führen, inzwischen gut untersucht. Von der etwa in einem eingegrenzten Hirnareal aufzufinden wä-
Gestaltpsychologie wurde bereits in den 20er und 30er Jah- ren, sondern über ausgedehnte Hirnbereiche verteilt sind
ren hierzu eine ausgearbeitete Theorie vorgelegt (Rock u. (. Abb. 5.2). Wie man heute weiß, zeichnet sich das Seh-
Palmer 1991). Die Gestaltpsychologen erkannten, dass die system durch eine hochgradig parallele Architektur aus
Gruppierung oder Bindung von Merkmalen notwendig ist, (Felleman u. Van Essen 1991). Aus zahlreichen Untersu-
5.2 · Ein Erklärungsmodell für die Gestaltbildung
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„Do ! Die neuronalen Mechanismen der Merkmalsintegra-


rsa
ler Pf
ad“ tion sind bislang ungeklärt. Auf der physiologischen
Bewegung Ebene besteht das Problem darin, dass sensorische
Informationen von zahlreichen Hirnarealen gleich-
zeitig analysiert werden. Diese verteilten neuronalen
Antworten müssen zu kohärenten Objektrepräsenta-
tionen zusammengefasst werden.
Farbe
Form

ad“
le r Pf 5.2 Ein Erklärungsmodell
tra
„ Ve n für die Gestaltbildung

. Abb. 5.2. Parallelverarbeitung im Sehsystem In theoretischen Arbeiten wurde vorgeschlagen, dass ein
In diese schematische Seitenansicht eines Gehirns sind die wichtigs- zeitlicher Integrationsmechanismus die Lösung für dieses
ten visuellen Hirnrindenareale und ein Teil der zwischen ihnen be- Integrationsproblem sein könnte (zur Übersicht s. Engel
stehenden Verbindungen eingetragen. Jedes der Kästchen vertritt
et al. 2001). Diese Hypothese, die im Folgenden erläutert
– abgesehen vom primären (V1) und sekundären (V2) visuellen Kor-
tex – einen Komplex aus mehreren Arealen (V3, V4, V5). Stark verein- werden soll, besagt, dass die von einem Objekt aktivier-
fachend sind hier die drei Objektmerkmale »Form«, »Farbe« und »Be- ten Neurone durch eine Synchronisation ihrer Impulse
wegung« Arealen zugeordnet, in denen sie wahrscheinlich bevorzugt zu Assemblies zusammengeschlossen werden könnten
verarbeitet werden. Wichtig ist der reziproke Charakter der Verbindun- (. Abb. 5.3). Die zeitliche Korrelation zwischen den neuro-
gen und das Vorhandensein mehrerer paralleler Eingänge von subkor-
nalen Impulsen sollten dabei – so die Vorhersage – die Ge-
tikalen Strukturen. Basierend auf der Art ihrer Verknüpfung und ihrer
funktionellen Charakteristik können die Areale 2 verschiedenen Ver- nauigkeit von wenigen tausendstel Sekunden aufweisen.
arbeitungspfaden zugeordnet werden, dem sog. »dorsalen Pfad« und Somit wäre also das synchrone Feuern der Hirnrinden-
dem sog. »ventralen Pfad«. Zum dorsalen (parietalen) Pfad gehört u. a. neurone Ursache für die ganzheitliche Struktur unserer
das Areal V5, zum ventralen (temporalen) Pfad das Areal V4. Wahrnehmungen – etwa für die Gestaltnatur der visuellen
Eindrücke. Die zeitlichen Korrelationen würden nämlich
chungen geht hervor, dass verschiedene Klassen von Objekt- – wenn das Modell zutrifft – die Zusammengehörigkeit der
merkmalen in unterschiedlichen Kortexarealen analysiert Merkmale eines Objektes repräsentieren und wären auf
werden, die verschiedene Merkmalsdimensionen – wie diese Weise für die Erzeugung eines kohärenten Perzepts
etwa Farbe, Form oder Bewegung – repräsentieren. So von entscheidender Bedeutung.
lassen sich beispielsweise bei Rhesusaffen mehr als 30 visu- Aus dieser Überlegung folgt zugleich, dass sich zwischen
elle Areale identifizieren, in denen sich Neurone mit sehr den Impulsen von Neuronen, die verschiedene Objekte der
unterschiedlichen Antworteigenschaften befinden. Beim Außenwelt repräsentieren, keine solchen zeitlichen Korre-
Menschen liefern neuere Untersuchungen mit bildgeben- lationen finden lassen sollten. Träfe diese Vermutung zu,
den Verfahren Hinweise auf eine ähnlich starke Parzellie- dann könnte das Hirn die Desynchronisation verschiede-
rung. Diese Befunde belegen, dass Objekte nicht durch die ner Assemblies für eine Segmentierung und Figur-Grund-
Aktivität einzelner oder sehr weniger Neurone in der Hirn- Trennung nutzen. Wie in . Abb. 5.3 schematisch gezeigt,
rinde repräsentiert werden, sondern durch ausgedehnte blieben mehrere – verschiedenen Objekten zugeordnete –
und über weite Bereiche verteilte Neuronenverbände – sog. Assemblies tatsächlich unterscheidbar, da ja durch die zeit-
»Assemblies«. Damit wird freilich deutlich, dass es hier tat- lichen Beziehungen eindeutig festgelegt wäre, welche Teil-
sächlich ein Integrationsproblem oder – wie man auch sagt menge der aktiven Neurone jeweils zum selben Assembly
– ein Bindungsproblem gibt. Es stellt sich nämlich die Fra- gehört. Und das Gesamtmuster der aktiven Zellen im visu-
ge, auf welche Weise große Zahlen von räumlich verteilten ellen System würde auf diese Weise eine für andere Hirn-
Neuronen zu solchen Assemblies – und damit zu kohären- regionen lesbare Struktur erhalten, die die separate Weiter-
ten Objektrepräsentationen – zusammengefasst werden verarbeitung von zusammengehöriger Information ermög-
können. licht. Da synchrone Aktivität besonders gut dazu geeignet
ist, nachgeschaltete Hirnrindenneurone zu aktivieren, er-
lauben es diese Zeitmuster dem Gehirn, bestimmte Assem-
58 Kapitel 5 · Neuronale Grundlagen der Merkmalsintegration

Stimulus

Blick- Objekt 1
richtung

Objekt 2

Assembly 1
Primärer visueller Kortex
5

Assembly 2
. Abb. 5.3. Lösung des Bindungsproblems durch neuronale Kontursegmenten, detektieren. Die Zusammengehörigkeit der Merk-
Synchronisation am Beispiel einer visuellen Szene male wird dabei durch die zeitliche Korrelation zwischen den Neuro-
Die Bindung von Objektmerkmalen erfolgt durch zeitliche Korrelation nen eines Assemblies kodiert (rechts). Diejenigen Neurone, die zum
zwischen den neuronalen Antworten. Das Assembly-Modell nimmt selben Zellverband gehören, erzeugen nach der Assembly-Hypothese
an, dass Objekte im visuellen Kortex (unten) durch Verbände von syn- ihre Impulse – die durch senkrechte Striche angedeutet sind – jeweils
chron aktiven Neuronen repräsentiert werden. Im hier gezeigten Fall – synchron. Zwischen den beiden Assemblies besteht keine feste zeit-
durch graue und blaue Kreise angedeutet – würden die beiden gesehe- liche Beziehung. Diese Desynchronisation könnte beispielsweise dann
nen Objekte (oben) durch jeweils ein solches Assembly neuronal dar- zur Segmentierung genutzt werden, wenn Teile der Szene in den Blick
gestellt. Diese Assemblies bestehen aus Neuronen, die elementare kommen, in denen Teile verschiedener Objekte einander überlappen
Objektmerkmale, wie etwa Farbinformation oder die Orientierung von (oben)

blies im Verarbeitungsprozess zu selektieren und mit Akti- Zudem weisen viele Forschungsergebnisse darauf hin,
vität in anderen Bereichen der Hirnrinde funktionell zu dass diese zeitlichen Korrelationen bedeutsam für die per-
verknüpfen. zeptive Integration und somit für die Segmentierungs-
leistungen des Sehsystems sind. Entsprechende Versuche
! Merkmalsbindung könnte dadurch erzeugt werden,
wurden vor allem am Sehsystem von Katzen und Affen ge-
dass diejenigen Nervenzellen, die auf dasselbe Ob-
macht. Diese Ergebnisse können sehr wahrscheinlich auf
jekt reagieren, ihre elektrischen Impulse synchron
das menschliche Gehirn übertragen werden, da sich hier
erzeugen. Die Desynchronisation verschiedener As-
durch nichtinvasive Messung der Hirnaktivität (EEG,
semblies könnte dazu genutzt werden, um Figur-
MEG) ähnliche Synchronisationsphänomene nachweisen
Grund-Trennungen herbeizuführen.
ließen.
Sollte das Assembly-Modell zutreffend sein, muss eine
5.3 Zeitliche Bindung im Sehsystem Bindung der neuronalen Antworten auf Sehreize innerhalb
einzelner visueller Areale stattfinden, um so die Zusam-
In zahlreichen Arbeiten wurde inzwischen nachgewie- mengehörigkeit von Objektteilen darstellen zu können, die
sen, dass die Neurone des Sehsystems tatsächlich ihre sich an unterschiedlichen Orten im Gesichtsfeld befinden
Aktionspotentiale präzise im Millisekundenbereich syn- (wie in Kap. 6 dargestellt, enthalten die meisten visuellen
chronisieren können (zur Übersicht s. Engel et al. 2001). Kortexareale eine systematische Karte des Sehraums). Dar-
5.3 · Zeitliche Bindung im Sehsystem
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. Abb. 5.4a-c. Beispiel für neuronale Synchronisation im visuellen 7 n


Kortex der Maus t io
a Bei einem narkotisierten Versuchstier wurden Elektroden in den pri- u la
im
mären visuellen Kortex platziert. Durch visuelle Stimulation können St
die Neuronen aktiviert werden. b Über die Elektroden können zwei
e lle
verschiedene Signale aus der Hirnrinde aufgezeichnet werden, die von
V isu
einzelnen Nervenzellen erzeugten Aktionspotentiale (unten), sowie
ein lokales EEG-Signal, das die Aktivität einer größeren Neuronengrup-
pe widerspiegelt (oben). Die Gruppierung der Aktionspotentiale zu
sog. Bursts und die dazu synchrone Oszillation des lokalen EEG-Signals
resultieren aus einer Synchronisation der Nervenzellen in der unter-
suchten Kortexregion. c Eine Analyse der in diesen Signalen enthalte-
nen Frequenzen zeigt, dass die Synchronisation sich überwiegend im
sog. Gamma-Band abspielt, d. h. im Frequenzbereich zwischen etwa
30 und 100 Hz.

über hinaus muss bei Gültigkeit des Modells die neuronale a

Synchronisation über sehr große Entfernungen im Gehirn


möglich sein, um eine Bindung zwischen visuellen Arealen
herbeiführen zu können, die unterschiedliche Objektmerk-
male analysieren. Beide Voraussagen konnten experimen-
tell bestätigt werden. Am Sehsystem von Katzen und Affen
zeigte sich, dass Neurone innerhalb einzelner kortikaler
Areale ihre Aktionspotentiale synchronisieren können.
Dies konnte kürzlich auch für den visuellen Kortex der
Maus gezeigt werden (. Abb. 5.4). Zudem wurden solche
zeitlichen Korrelation auch über die Grenzen einzelner
visueller Areale hinweg beobachtet – so etwa zwischen dem
primären und sekundären visuellen Areal (V1 beziehungs-
weise V2, . Abb. 5.2). Insgesamt legen die bislang erzielten b 100 ms
Ergebnisse den Schluss nahe, dass die Zellen im visuellen
Kortex tatsächlich durch Synchronisation zu Assemblies
zusammengefasst werden. Da diese Neurone jeweils nur im
Bereich ihrer rezeptiven Felder auf lokale Objektmerkmale
reagieren, könnte diese Synchronisation tatsächlich die
Merkmalsbindung vermitteln, denn in einem solchen Syn-
chronisationsprozess werden Informationen über verschie-
dene Stellen im Gesichtsfeld integriert. Interessant ist, dass
die hier angesprochenen Synchronisationsprozesse sehr
häufig bevorzugt in einem bestimmten Frequenzband
beobachtet werden, im sog. Gamma-Band, das Frequenzen
zwischen etwa 30 und 100 Hz umfasst (. Abb. 5.4).
Weiterhin konnte gezeigt werden, dass diese zeitlichen
Korrelationen nicht immer in gleicher Weise auftreten,
c
sondern durch die Konfiguration der gezeigten visuellen
Reize beeinflussbar sind. Das Assembly-Modell sagt vor-
aus, dass die Neuronen nur dann synchron aktiv sein soll-
ten, wenn sie tatsächlich an der Repräsentation desselben
Objekts beteiligt sind. Wie in . Abb. 5.5 schematisch ge-
zeigt, bestätigen tierexperimentelle Untersuchungen diese
60 Kapitel 5 · Neuronale Grundlagen der Merkmalsintegration

! Physiologische Experimente belegen die vom Assem-


bly-Modell vorhergesagten spezifischen zeitlichen
Korrelationen. Die Ergebnisse machen es sehr wahr-
scheinlich, dass die Synchronisation die Grundlage
für einen dynamischen Bindungsprozess ist, der
die Bildung von Assemblies – und damit die Integra-
tion visueller Information – in flexibler Weise ermög-
a licht.

Von besonderem Interesse ist natürlich die Frage, ob die


beobachteten Synchronisationsphänomene tatsächlich
funktionell relevant sind. Die erwähnten Experimente be-
5 legen lediglich, dass im Sehsystem die Voraussetzungen für
die Etablierung zeitlicher Bindungen gegeben sind. Sie lie-
fern aber noch keinen Beweis dafür, dass den zeitlichen
Korrelationen kausale Relevanz zukommt und dass sie vom
b
Gehirn in der Weise genutzt werden, wie es das Assembly-
Modell vorhersagt. Inzwischen gibt es jedoch viele Hinwei-
se darauf, dass die Synchronisation in der Sehrinde mit im
Verhalten messbaren Wahrnehmungsleistungen korreliert
und zeitliche Beziehungen zwischen neuronalen Impulsen
eine notwendige Bedingung für die Entstehung kohärenter
Wahrnehmungseindrücke sind.
Hierfür sprechen z. B. Ergebnisse aus Untersuchungen,
c die an Katzen mit einer Fehlstellung der Augen durchge-
. Abb. 5.5a–c. Experiment zur Reizabhängigkeit der Synchronisa- führt wurden (. Abb. 5.6). Menschen und Tiere bevorzu-
tion von Neuronen gen bei einer solchen Störung – insbesondere beim konver-
Die Synchronisation von Neuronen in der Sehrinde hängt von der Kon- genten Schielen – häufig eines der beiden Augen für das
figuration der visuellen Reize ab. Das Schema zeigt ein typisches Expe- aktive Sehen. Die Wahrnehmung durch das andere Auge
riment, in dem mit 2 Mikroelektroden aus dem visuellen Kortex eines
wird dagegen mehr oder weniger dauerhaft unterdrückt,
Versuchstieres abgeleitet wird (a). Die Neurone können dann mit
verschiedenen Reizkonfigurationen aktiviert werden. Bietet man ein was zu einer Erkrankung führt, die als Schielamblyopie be-
einziges kohärentes Objekt an – in diesem Fall ein durchgehender ver- zeichnet wird. Zu den Symptomen dieser Krankheit gehö-
tikaler Lichtbalken, der über die rezeptiven Felder bewegt wird (b) –, ren unter anderem eine herabgesetzte Sehschärfe des be-
so sind die Zellen an den beiden Ableiteorten synchron aktiv (Pfeile). troffenen Auges, räumliche Verzerrungen des subjektiven
Stimuliert man die gleichen Neurone dagegen mit 2 verschiedenen
Wahrnehmungsbildes sowie charakteristische Störungen
Objekten, beispielsweise 2 kleineren balkenförmigen Lichtreizen, die
sich in verschiedene Richtungen bewegen (c), so sind die neuronalen der Mustererkennung, die besonders bei der Betrachtung
Impulse nicht mehr synchronisiert. Man beachte die Versetzung der feiner Details auftreten.
Pfeilspitzen gegeneinander. Zumindest einige dieser Defizite lassen sich als Aus-
druck einer gestörten Gestaltbildung interpretieren und
Annahme (Gray et al. 1989). Die Experimente zeigen, dass deuten auf eine Beeinträchtigung neuronaler Bindungsme-
die neuronalen Impulse im visuellen Kortex nur dann stark chanismen hin. Physiologische Ergebnisse deuten darauf
korreliert sind, wenn die Zellen tatsächlich auf dasselbe hin, dass diese Defizite tatsächlich auf eine Störung der
Objekt antworten. Werden die Neuronen dagegen durch intrakortikalen Synchronisation zurückgehen (Roelfsema
verschiedene Reize aktiviert, so wird die zeitliche Kopplung et al. 1994). Wie in . Abb. 5.6 dargestellt, fanden sich bei
schwächer oder verschwindet sogar vollständig – ein Beleg Tieren mit Schielamblyopie hinsichtlich der Synchroni-
dafür, dass die Synchronisation im visuellen Kortex tat- sation deutliche Unterschiede zwischen Zellen, die vom
sächlich von der Konfiguration der gezeigten Reize ab- normalen Auge innerviert werden, und Neuronen, die Ein-
hängt. gänge vom amblyopen Auge erhalten. Zwischen letzteren
5.4 · Intermodale und sensomotorische Integration
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mit chronisch implantierten Elektroden durchgeführt. In


diesen Experimenten wurden dem linken und rechten
Auge der Katze gleichzeitig verschiedene Muster präsen-
tiert (. Abb. 5.7). Diese widersprüchliche Situation löst das
Hirn, indem es immer nur Information von einem Auge –
dem gerade dominanten Auge – wahrnimmt. Die vom
anderen Auge kommenden Signale werden unterdrückt
und stehen nicht für die Wahrnehmung und Verhaltens-
steuerung zur Verfügung. Die physiologischen Messungen
ergaben, dass kortikale Neurone, die den dominanten be-
ziehungsweise supprimierten Reiz repräsentieren, sich
deutlich in ihrer Synchronisation unterscheiden. Zellen, die
das dominante (wahrgenommene) Muster repräsentieren,
verstärken ihre zeitliche Korrelation, während die Synchro-
nisation zwischen denjenigen Neuronen abnimmt, die das
supprimierte Muster kodieren (. Abb. 5.7). Dieses Ergebnis
spricht sehr stark dafür, dass der Aufbau einer kohärenten
Objektrepräsentation und das Entstehen eines Wahrneh-
mungseindrucks nur dann möglich ist, wenn die hierfür
relevanten neuronalen Populationen hinreichend synchro-
nisiert sind.
. Abb. 5.6. Synchronisation in der Sehrinde von Tieren mit einer
Schielamblyopie ! Experimente an wachen Tieren zeigen, dass neurona-
Die Untersuchungen wurden an Katzen durchgeführt, die mit einem le Synchronisation mit Wahrnehmungsprozessen in
Auge einwärts schielten – in diesem Fall mit dem rechten Auge. Dieses Zusammenhang gebracht werden kann und tatsäch-
Auge entwickelt dann eine Sehschwäche, die als Schielamblyopie be- lich für den Aufbau kohärenter Sinneseindrücke wich-
zeichnet wird. Der untere Bildteil illustriert die zeitlichen Korrelationen
tig ist.
zwischen Zellen, die Signale vom amblyopen Auge (A, links) bezie-
hungsweise vom normalen Auge (N, rechts) verarbeiten. Zwischen
Neuronen, die vom normalen Auge aktiviert werden, tritt eine deutli- 5.4 Intermodale und sensomotorische
che Synchronisation auf (Pfeile). Zwischen Zellen, die vom amblyopen
Auge versorgt werden, gibt es dagegen keine Synchronisation.
Integration

Inzwischen wissen wir, dass sich die am Beispiel der visuel-


treten nur sehr selten zeitliche Korrelationen auf. Die Ant- len Informationsverarbeitung gewonnenen Erkenntnisse
worten von Neuronen, die vom nichtamblyopen Auge akti- verallgemeinern und auch auf andere neuronale Systeme
viert werden, zeigen dagegen eine normale Synchronisa- anwenden lassen, in denen die Informationsverarbeitung
tion. Daraus lässt sich schließen, dass das bei Schielern hochgradig parallel und arbeitsteilig erfolgt. Die in der
auftretende Wahrnehmungsdefizit in der Tat mit einer se- visuellen Wahrnehmung zu beobachtenden Bindungs-
lektiven Störung der intrakortikalen Synchronisation ein- probleme sind letztlich nur Spezialfälle eines allgemeinen
hergeht. Dies wiederum belegt, dass die zeitlichen Korrela- Integrationsproblems, das in allen parallel organisierten
tionen für den Aufbau normaler Objektrepräsentationen neuronalen Netzen auftritt. So besteht selbstverständlich
notwendig und damit für die perzeptive Integration funk- auch in anderen Sinnessystemen die Notwendigkeit, räum-
tionell relevant sind. lich verteilte neuronale Aktivität zu organisieren und zu
Direkte Hinweise auf eine Beziehung zwischen kortika- kohärenten Mustern zusammenzufassen. Aus der Sicht
ler Synchronisation und perzeptiver Funktion ergeben sich des Assembly-Modells ergibt sich damit die Vorhersage,
darüber hinaus aus Untersuchungen zum sog. binokulären dass zeitliche Bindungsmechanismen in anderen Sinnes-
Wettstreit (Fries et al. 1997). Im Unterschied zu den bisher systemen ebenfalls nachweisbar sein müssten. Darüber
erwähnten Studien, bei denen die Versuchstiere meist nar- hinaus sollte eine Synchronisation auch zwischen den
kotisiert waren, wurden diese Studien an wachen Tieren verschiedenen sensorischen Systemen sowie zwischen
62 Kapitel 5 · Neuronale Grundlagen der Merkmalsintegration

. Abb. 5.7. Neuronale Synchronisation bei binokulärem Wettstreit gibt es Episoden, in denen das dem linken Auge gezeigte Muster per-
Um binokulären Wettstreit zu induzieren, werden 2 Spiegel vor den zeptiv dominiert und das auf dem rechten Auge dargebotene Muster
Augen des Versuchstieres platziert, sodass die Augen mit unterschied- unterdrückt wird (links). Dann gibt es Episoden, in denen der umge-
lichen Mustern gereizt werden, die auf 2 Monitoren dargeboten wer- kehrte Effekt auftritt und das rechte Auge die Wahrnehmung domi-
den (oben). Bei dieser Art der Reizung nimmt die Katze abwechselnd niert (rechts). In solchen Episoden wurde die Aktivität von Neuronen
das linke und das rechte Streifenmuster wahr. Entscheidend ist, dass es untersucht, die vom linken oder vom rechten Auge aktiviert werden.
zu einem Wechsel des Perzepts kommt, obwohl beide Reizmuster Wie unten angedeutet, synchronisieren immer diejenigen Neurone
ohne Unterbrechung dargeboten werden. Dem Versuchstier wurden stärker untereinander, die den dominanten Reiz verarbeiten. Wenn
Elektroden in der Sehrinde chronisch implantiert, sodass die neuro- also z. B. das linke Auge dominant ist, verbessert sich die Synchronisa-
nale Aktivität – für das Tier schmerzfrei – im Wachzustand registriert tion unter den Zellen, die Information von diesem Auge erhalten. Die
werden kann. Die schematische Darstellung in der unteren Hälfte der zeitliche Korrelation zwischen den Neuronen, die vom rechten Auge
Abbildung verdeutlicht das experimentelle Ergebnis. Es lassen sich in aktiviert werden, nimmt dagegen ab. Bei Dominanz des rechten Auges
diesem Paradigma 2 perzeptive Zustände unterscheiden: Einerseits verhält es sich umgekehrt.
5.5 · Top-down-Mechanismen und zeitliche Dynamik
63 5

sensorischen und motorischen Zentren im Gehirn auf- war, mit erhöhter Aufmerksamkeit verarbeitet wurde. Die-
treten. se Befunde deuten darauf hin, dass neuronale Synchroni-
In der Tat wurden bereits in einer ganzen Reihe von sation tatsächlich eine Rolle für die sensomotorische Inte-
Versuchen Beobachtungen gemacht, die auf eine weite gration spielt und für die selektive Koordination sensori-
Verbreitung ähnlicher Synchronisationsphänomene hin- scher und motorischer Verhaltensaspekte wesentlich sein
deuten. So ist etwa im Riechsystem eine präzise neuronale könnte.
Synchronisation bereits für eine ganze Reihe verschiede-
! Die am Sehsystem erhobenen Daten zur Bedeutung
ner Tierarten nachgewiesen worden. Ähnliches gilt für das
neuronaler Synchronisation lassen sich wahrschein-
Hörsystem, wo in Tierexperimenten ebenfalls zeitliche
lich generalisieren. Sehr ähnliche Verarbeitungsprin-
Korrelationen gefunden wurden. In der menschlichen
zipien scheinen auch in anderen Sinnessystemen und
Hörrinde wurden entsprechende Synchronisationsphäno-
im motorischen System von Bedeutung zu sein.
mene durch Aufzeichnung der bei neuronaler Aktivität
auftretenden elektrischen bzw. magnetischen Felder (EEG
bzw. MEG) nachgewiesen. Für das somatosensorische Sys- 5.5 Top-down-Mechanismen
tem, das den Tastsinn vermittelt, wurde die Möglichkeit und zeitliche Dynamik
präziser neuronaler Synchronisation ebenfalls im Tierver-
such aufgezeigt. Diese Vielfalt gleichlautender Ergebnisse Viele der oben angesprochenen Experimente zeigen bereits,
spricht dafür, dass die Etablierung zeitlicher Bindungen in dass die neuronale Synchonisation, die in den verschiede-
allen sensorischen Systemen möglich ist – was wiederum nen Systemen auftritt, keineswegs ausschließlich von den
die Vermutung nahelegt, dass die neuronale Synchronisa- verarbeiteten Reizen abhängt, sondern stark von sog. Top-
tion ganz generell für integrative Prozesse bedeutsam ist. down-Prozessen bestimmt ist. Hiermit sind systeminterne
Für eine Bindung zwischen den verschiedenen Sinnesmo- Faktoren wie etwa Aufmerksamkeit, Motivation oder Ge-
dalitäten gibt es derzeit allerdings noch keine experimen- dächtnis gemeint, die durch höhere Verarbeitungszentren
tellen Belege. gesteuert werden. Mehrere kürzlich durchgeführte Studien
Es gibt hingegen klare Hinweise auf die Bedeutung zeit- berichten Aufmerksamkeits- und Gedächtniseffekte auf
licher Korrelationen für die sensomotorische Integration. die neuronale Synchronisation. So wurde in Messungen am
So wurde von mehreren Arbeitsgruppen gezeigt, dass beim visuellen Kortex von wachen Affen eine aufmerksam-
Rhesusaffen und beim Menschen eine Synchronisation keitsbedingte Verstärkung der Synchronisation beobachtet
zwischen somatosensorischen und motorischen Kortex- (Fries et al. 2001). Die Affen waren darauf dressiert, Hin-
arealen auftritt. Ähnliche Ergebnisse wurden an Katzen weisreize auf einem Computerbildschirm zu beachten und
erzielt, die darauf trainiert worden waren, einen visuellen ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Stellen des Bildschirms
Reiz mit einer gezielten motorischen Reaktion zu beant- zu richten. Wurden dann visuelle Reize am erwarteten Ort
worten (Roelfsema et al. 1997). In diesen Experimenten gezeigt, führte dies zu schnellen rhythmischen Entladun-
wurde neuronale Aktivität gleichzeitig in verschiedenen gen der Neuronen. Diese oszillatorische Aktivität zeigte
visuellen Arealen und im motorischen Kortex gemessen. charakteristische Frequenzen zwischen 30 und 100 Hz –
Zugleich wurde auch der dazwischen liegende parietale also im bereits erwähnten Gamma-Band (. Abb. 5.4).
Kortex untersucht, der den Signalfluss von den visuellen Diese Gamma-Oszillationen waren deutlich stärker aus-
zu den motorischen Arealen vermittelt. Die Ergebnisse geprägt, wenn die Versuchstiere die Reize mit Aufmerk-
dieser Experimente zeigten zum einen, dass eine neuro- samkeit betrachteten, schwächten sich aber ab, wenn die
nale Synchronisation nicht nur innerhalb des visuellen Aufmerksamkeit anderen Reizen galt. Dieses Ergebnis
Kortex auftritt, sondern im gesamten sensomotorischen wird durch methodisch vergleichbare Untersuchungen am
Verarbeitungsweg zu finden ist. Ein weiteres Ergebnis be- somatosensorischen Kortex von Rhesusaffen bestätigt, in
stand darin, dass sich die zeitliche Kopplung zwischen den denen eine verstärkte Synchronisation beobachtet wurde,
Arealen in verschiedenen Phasen der Verhaltensaufgabe wenn die Neuronen Informationen über einen Reiz ko-
stark verändert. Eine präzise Synchronisation zwischen dierten, den das Versuchstier mit Aufmerksamkeit betastet
sensorischen und motorischen Neuronen trat in diesen hatte.
Experimenten nur dann auf, wenn visuelle Information, Diese Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Aufmerk-
die für die Steuerung der motorischen Reaktion relevant samkeitsprozesse nicht nur mit Veränderungen der Feuer-
64 Kapitel 5 · Neuronale Grundlagen der Merkmalsintegration

Prämotorischer Kortex

Handlungs-
planung
Primärer visueller Kortex

Sensorischer Assoziationskortex

Multimodale
Objekt-
repräsentation
5 “saliency by synchrony”

“dynamic contextual prediction”

. Abb. 5.8. Mögliche Rolle dynamischer Interaktionen zwischen ver- andere Zentren weitergeleitet und dort bevorzugt verarbeitet werden,
schiedene Kortexarealen ein Funktionsprinzip, das als »saliency by synchrony« bezeichnet wer-
Die vom Assembly-Modell vorhergesagte neuronale Synchronisation den könnte (offene Pfeile). Umgekehrt könnte zeitlich strukturierte
ist sehr wahrscheinlich eng an die Art der Wechselwirkung zwischen Aktivität in höheren Zentren die Bildung von Assemblies in frühen
verschiedenen Hirnarealen gekoppelt. Hierbei spielen möglicherweise sensorischen Arealen vorbereiten, noch bevor ein neuer Reiz verarbei-
zwei Verarbeitungsprinzipien eine Rolle. Zum einen ist zu erwarten, tet wurde. Dieses Interaktionsprinzip, das die Wirkung von Top-down-
dass die in einem Areal entstehenden Synchronisationsmuster dazu Prozessen verkörpern könnte, kann als »dynamic contextual predic-
führen, dass die betreffenden Informationen mit hoher Präferenz in tion« bezeichnet werden (schwarze Pfeile)

rate einzelner Neurone einhergehen – was ebenfalls in zahl- (. Abb. 5.8) könnten sich so äußern, dass in sensorischen
reichen Untersuchungen beobachtet wurde, sondern auch Arealen bestimmte zeitliche Muster bereits entstehen, be-
mit einer Änderung der zeitlichen Kopplung zwischen all vor neue Reize eintreffen und verarbeitet werden. Hier
den Neuronen, die sich an der Kodierung desselben Reizes würde sich der Einfluss anderer Hirnareale auf neuronale
beteiligen. Verstärkt sich die Aufmerksamkeit bei beson- Synchronisationsprozesse geltend machen. Der neue Reiz
ders wichtigen Reizen, so verbessert sich die Synchronisation. setzt nun seinerseits bestimmte zeitliche Kopplungsmuster
Da Nervenzellen in anderen Arealen besonders gut durch in Gang. Passen diese zur Erwartung, werden die be-
zeitlich korrelierte Eingangssignale aktiviert werden, könnte treffenden Signale weitergeleitet. Wird die Erwartung da-
dies dazu führen, dass die durch synchrone Assemblies ko- gegen enttäuscht, kommt es zur Löschung der eingelau-
dierten Informationen bevorzugt weiterverarbeitet werden fenen neuronalen Botschaft. Die erwähnten Gamma-
(. Abb. 5.8). Auf diese Weise ließe sich erklären, weshalb Oszillationen könnten in diesem Szenario geeignet sein,
die mit Aufmerksamkeit verarbeiteten Reize eine größere um einen Abgleich von Erwartung und Wirklichkeit her-
kognitive und verhaltensbezogene Wirksamkeit zeigen als beizuführen, da die in ihnen enthaltene Phaseninforma-
unbeachtete Stimuli. tion im Erfolgsfall zur Verstärkung der neuronalen Signale
In ihrer Gesamtheit betrachtet, zeigen diese Experimen- dienen könnte. Durch einen Prozess der neuronalen »Re-
te sowie zahlreiche weitere EEG- und MEG-Untersuchun- sonanz« käme es dann zur selektiven Auswahl derjenigen
gen, dass die Synchronisationsprozesse in sensorischen neuronalen Signale, die – abhängig vom jeweiligen Hand-
Arealen sowohl von äußeren Reizen als auch von der in- lungskontext – gerade zweckdienliche Informationen ent-
neren Dynamik des Gehirns bestimmt werden. Zahlreiche halten.
Argumente legen nahe, dass Top-down-Prozessen und da-
mit der inneren Dynamik kognitiver Systeme eine außer-
ordentlich große Bedeutung zukommt. Nach einer weit
verbreiteten Auffassung, die auch wir teilen, ist das Gehirn
ein aktives System, das ständig Vorhersagen über zu er-
wartende Reize erzeugt. Diese »neuronalen Vorhersagen«
5.5 · Top-down-Mechanismen und zeitliche Dynamik
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Zusammenfassung
Aus experimentellen Untersuchungen lässt sich die Ver- nisationsphänomene, die den Aufbau solcher Assemblies
mutung ableiten, dass Merkmalsintegration auf neu- erlauben, stellen sehr wahrscheinlich eine wesentliche Vor-
ronaler Ebene durch zeitliche Bindungsmechanismen aussetzung für den Prozess der Gestaltwahrnehmung dar.
vermittelt wird. Die bisher vorliegenden Ergebnisse spre- Diese Fähigkeit zur Generierung interner zeitlicher Bindun-
chen dafür, dass neuronale Objektrepräsentationen in gen könnte das integrative Prinzip sein, das es dem Gehirn
ausgedehnten und über weite Hirnbereiche verteilten ermöglicht, kohärente Perzepte aus dem durch die Sinne
Assemblies bestehen, die durch Synchronisation der je- aufgenommenen Material zu konstruieren.
weils relevanten Neurone gebildet werden. Die Synchro-

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