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6 Visuelle Täuschungen

Manfred Fahle

6.1 Grenzen der Wahrnehmung – 67 Beginnt man, näher über das Verhältnis von Wahrneh-
6.2 Ein vorläufiges Ordnungsprinzip mungsinhalten einerseits und den Objekten der äußeren
der Wahrnehmungstäuschungen – 67 Welt (so sie denn überhaupt existieren) nachzudenken,
6.2.1 Täuschungen der wahrgenommenen dann wird schnell klar, dass eine tiefe Kluft zwischen die-
Helligkeit – 67 sen beiden Bereichen besteht. Die Objekte bestehen aus
6.2.2 Täuschungen der wahrgenommenen Farbe – 71 mehr oder weniger schnell bewegten und unterschiedlich
6.2.3 Täuschungen der wahrgenommenen großen Körpern unterschiedlicher Form und chemischer
6 Bewegung – 73 Zusammensetzung. Ihre Repräsentationen im Gehirn da-
6.2.4 Täuschungen der wahrgenommenen Größe – 75 gegen bestehen aus Mustern elektrischer Aktivität von
6.2.5 Täuschungen der wahrgenommenen Gruppen unterschiedlicher Nervenzellen. Zusätzlich ist das
Orientierung und der zweidimensionalen Struktur: zentrale Nervensystem nur in der Lage, einen Bruchteil der
geometrische Illusionen – 77 pro Sekunde durch die Sinnesorgane angelieferten Infor-
6.2.6 Täuschungen des Abstandes mationen auszuwerten; es muss daher diese Informationen
und der dreidimensionalen Struktur – 77 massiv komprimieren. Die in der Regel so ausgezeichnete
6.2.7 Täuschungen der wahrgenommenen Textur Übereinstimmung zwischen Wahrnehmung und äußerer
und Ortsfrequenz – 80 Wirklichkeit, die uns ein geradezu absolutes Zutrauen in
6.2.8 Täuschungen der Eigenbewegungs- unsere Wahrnehmungen entwickeln lässt, muss vor die-
wahrnehmung – 82 sem Hintergrund erstaunen. Nur der lange Prozess der
6.3 Vorbewusste Wahrnehmung – 82 Evolution konnte dafür sorgen, dass Sinnestäuschungen
im engeren Sinne so selten sind, dass ihr Auftreten uns
irritiert.
)) Bei der Kompression der Information scheint unser Ge-
hirn eine große Menge an Tricks und Näherungslösungen
Sinnestäuschungen üben eine anhaltende Faszination auf zu verwenden, die zu einer deutlichen Beschleunigung der
den Menschen aus, selbst in der heutigen Zeit der visuellen Musterverarbeitung führen. Nur so ist zu verstehen, dass
Überreizung durch allgegenwärtige Werbung, »schnelle« Menschen auch heute noch den leistungsfähigsten Com-
Computerspiele und Aktionsfilme voller Spezialeffekte. Wir putern überlegen sind, wenn es um die Analyse komplexer
betrachten die Täuschung und mögen unseren Augen nicht visueller Szenen geht. Einige Sinnestäuschungen zeigen
mehr trauen, von denen wir doch stets annahmen, dass sie uns, welcher Preis für diese Näherungslösungen zu zahlen
uns die Wirklichkeit getreulich zeigen. Insofern vermitteln ist. Andere Täuschungen sind das Ergebnis von Rechen-
uns die Sinnestäuschungen eine tiefe philosophische Ein- operationen, die beispielsweise durch Kontrastverschär-
sicht und einen Merksatz: Wir sind nicht imstande, die Wirk- fung die Bildqualität verbessern sollen, was unter bestimm-
lichkeit als solche zu erfassen, sondern lediglich eine mehr ten ungewöhnlichen Bedingungen zu Fehlern wie der
oder weniger wirklichkeitstreue Abbildung, wie schon Plato Wahrnehmung übertriebener Kontraste führt. Wieder an-
in seinem Höhlengleichnis illustrierte. Sinnestäuschungen dere Täuschungen beruhen auf sog. Konstanzleistungen,
vermitteln uns auch einen schwachen Eindruck davon, was die zur unveränderten Wahrnehmung eines Objektes trotz
Patienten empfinden, die unter bestimmten neuropsycho- sich ändernder äußerer Umstände führen, beispielsweise
logischen Erkrankungen, beispielsweise Halluzinationen, unter wechselnder Beleuchtung. Und man muss leider ein-
leiden. gestehen, dass wir die neurophysiologischen Grundlagen
6 6
6.2 · Ein vorläufiges Ordnungsprinzip der Wahrnehmungstäuschungen
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einer ganzen Reihe weiterer Täuschungen noch immer 6.2 Ein vorläufiges Ordnungsprinzip
nicht verstehen, diese Täuschungen also noch nicht über- der Wahrnehmungstäuschungen
zeugend erklärt werden können. Im Rahmen dieses Artikels
soll der Begriff der Täuschung sehr weit gefasst werden: Als Der Begriff der Täuschung soll im Folgenden relativ weit
jede Nichtübereinstimmung zwischen den physikalisch gefasst werden und auch Nacheffekte berücksichtigen und
messbaren Eigenschaften eines Objektes und seinen sub- ganz allgemein Reize, bei denen eine merkliche Diskrepanz
jektiv wahrgenommenen Merkmalen. zwischen physikalischer Reizstruktur und subjektiv erlebter
Wahrnehmung existiert, mit Schwerpunkt auf solchen Täu-
schungen, deren physiologische Ursachen einigermaßen gut
6.1 Grenzen der Wahrnehmung verstanden sind. Zusammen genommen werden diese Täu-
schungen überzeugend zeigen, dass visuelle Wahrnehmung
Beginnen wir mit der banalsten und basalsten Täuschung: nicht einen passiven Prozess der Abbildung der Außenwelt
Wir nehmen die Welt keineswegs so wahr, wie sie ist, d. h. darstellt, sondern die (kortikale) Synthese eines möglichst
in ihrer Gesamtheit. Denn aus dem gesamten riesigen Spek- wirklichkeitsgetreuen Bildes auf der Basis von häufig unzu-
trum aller elektromagnetischen Wellen sehen wir nur einen reichender und verzerrter Information.
verschwindend geringen Bruchteil, nämlich den zwischen
~ 400 und 750 nm Wellenlänge. Dies ist sicherlich eine gute
Wahl, denn in diesem Bereich ist die Strahlung aufgrund 6.2.1 Täuschungen der wahrgenommenen
des Sonnenlichtes am stärksten (Wyszecki u. Stiles 1967). Helligkeit
Doch es leuchtet unmittelbar ein, dass die Wahrnehmung
ultravioletten oder infraroten Lichtes, oder von Röntgen- Vermutlich die ältesten und bestverstandenen Vertreter
oder γ-Strahlen durchaus nützlich sein könnte und zu Än- dieser Klasse von Illusionen sind die sog. Mach-Bänder
derungen unserer anschaulichen Vorstellungen über die (Mach 1903). Ein rampenförmiger Intensitätsverlauf, wie
äußere Wirklichkeit führen würde. Selbst innerhalb des er in . Abb. 6.1 dargestellt ist, führt zur Wahrnehmung
sichtbaren Wellenlängenbereiches sind wir blind für alle eines dunklen Streifens im dunkleren Bereich des Musters
zeitlichen Veränderungen mit Frequenzen von über etwa und eines hellen Streifens im helleren Bereich (. Abb. 6.2).
65 Hz: Flicker oberhalb dieser Frequenz (Flickerfusions- Die Ursache dieser Illusion ist relativ gut verstanden. Be-
frequenz) wird als kontinuierlich erlebt, wie uns der Fernse- nachbarte Neurone können sich bereits auf der Netzhaut-
her demonstriert, der mit 50 Hz flickert. ebene wechselseitig hemmen (laterale Inhibition; Hartline
Auch Blochs Gesetz könnte man als Ausdruck einer u. Ratliff, 1975; Kuffler, 1953). Aufgrund der lateralen Inhi-
Täuschung interpretieren. Dieses Gesetz besagt, dass die bition zwischen benachbarten visuellen Eingängen wird aus
empfundene Helligkeit eines Reizes innerhalb gewisser einem Eingangsmuster, wie dem von Mach ver wendeten,
Grenzen das Produkt aus physikalischer Intensität und ein neuronales Erregungsmuster, dessen räumliche Vertei-
Zeitdauer ist. Es werden also physikalisch sehr unterschied- lung weitgehend der subjektiven Wahrnehmung ent-
liche Reize, kurz und intensiv oder länger und weniger in- spricht. Die Täuschung beruht also auf den im visuellen
tensiv, als identisch empfunden – eine gewisse Diskrepanz System realisierten Mechanismen zur Kontrastverschär-
zwischen Wahrnehmung und Realität. Zudem ist nicht nur fung (. Abb. 6.1 und . Abb. 6.3) und diese Kontrastver-
unser zeitliches, sondern auch das räumliche Auflösungs- schärfung ist Folge der Tatsache, dass Konturen in der Regel
vermögen innerhalb des oben angegebenen Wellenlängen- wichtiger sind als langsame Intensitätsverläufe. Konturen
bereiches begrenzt: Wir sind nicht in der Lage, Punkte ge- signalisieren häufig die Begrenzungen von Objekten, und
trennt wahrzunehmen, die weniger als etwa 40 Bogense- sollten daher auch unter ungünstigen Umweltbedingungen
kunden voneinander entfernt liegen (»Sehschärfegrenze«). optimal detektiert werden.
Am anderen Ende des Auflösungsspektrums erscheinen Einige weitere Täuschungen beruhen auf dem gleichen
uns sehr flache Intensitätsgradienten, d. h. sehr allmähliche neuronalen Mechanismus, so beispielsweise die Verände-
Übergänge oder Verläufe, als homogene Flächen. rung der subjektiven Helligkeit zweier Quadrate identischer
Leuchtdichte in Abhängigkeit vom jeweiligen Hintergrund
(Simultankontrast, . Abb. 6.4), oder die Wahrnehmung un-
terschiedlicher Helligkeiten von zwei nebeneinanderliegen-
68 Kapitel 6 · Visuelle Täuschungen

b
6 a VI
Physikalische
Leuchtdichte
5 V
4
Wahrgenommene

Wahrgenommene Helligkeit
Helligkeit
3 IV

Relative Leuchtdichte
c
2 III

1 II
I
0 0

. Abb. 6.1. Intensitätsverlauf zur Erzeugung von Mach-Bändern: Der derten Helligkeit an der unteren Kante des Verlaufs (c). Der Mechanis-
rampenförmige Leuchtdichteverlauf wird aufgrund von Kontrastver- mus des Übergangs von Leuchtdichte (linke Ordinate) zu (subjektiver)
schärfung (lateraler Inhibition) mit einer verstärkten Helligkeit an der Helligkeit (rechte Ordinate) in den schraffierten Bereichen (a–c) ist in
6 oberen Kante des Verlaufs (b) wahrgenommen und mit einer vermin- . Abb. 6.3 dargestellt

↓ ↓
zungsstellen des Hermann-Hering-Gitters auftauchen
(. Abb. 6.6; Hering 1861), durch laterale Inhibition bedingt.
An den Kreuzungsstellen des Gitters »fehlen« die Kanten,
und daher ist die laterale Inhibition dort geringer. Eine
noch stärkere Täuschung, die vermutlich auf ähnlichen
Mechanismen beruht, besteht aus den szintillierenden
Punkten (. Abb. 6.7; Schrauf et al. 1995).
Allerdings spielen nicht nur lokale, sondern auch glo-
bale und kognitive Mechanismen eine wesentliche Rolle bei
der wahrgenommenen Helligkeit, beispielsweise, ob Inten-
sitätsdifferenzen als Schatten erlebt werden oder nicht.
. Abb. 6.8 zeigt als Beispiel die reverse Helligkeitstäu-
schung und . Abb. 6.9 demonstriert, dass ein als im Schat-
a b
ten liegendes Quadrat als »hell« erlebt wird, während ein
. Abb. 6.2. Demonstration der Mach-Bänder. Die Breite der hellen Quadrat gleicher Intensität, das sich nicht im Schatten be-
Linien nimmt von links nach rechts ab, entweder innerhalb der linken findet, als dunkel wahrgenommen wird (Adelson 2000).
(a) oder innerhalb der rechten Hälfte (b) der Abbildung, während sie
(Objektiv gesehen reflektiert eine tiefschwarze Fläche bei
in der jeweils anderen Hälfte der Abbildung konstant bleibt. Trotz des
kontinuierlichen Verlaufs der Strichdichten, der einen Intensitätsver- Sonnenlicht eine weit höhere Intensität als eine weiße
lauf wie in . Abb. 6.1 erzeugt, entsteht ein dunklerer (a) bzw. hellerer Fläche im Halbdunkel, obwohl uns das natürlich nicht so
(b) Streifen (unter dem Pfeil) an den Kanten des Verlaufs, insbesondere erscheint.) Die zugrunde liegenden neuronalen Mechanis-
bei Betrachtung aus größerem Abstand men sind noch nicht vollständig bekannt, sie sind sicher
auf »höheren« Ebenen der Informationsverarbeitung anzu-
den Mustern gleicher Intensität bei der Craig-Cornsweet- siedeln.
Illusion (. Abb. 6.5). Diese Täuschung beruht auf dem Eine weitere Helligkeitstäuschung ist die Wahrnehmung
scharfen Intensitätsübergang zwischen den beiden Flächen, – oder sollte man sagen, die unter normalen Umständen
während die beiden anschließenden, flachen Übergänge nicht erfolgende Wahrnehmung – des Gefäßmusters unse-
kaum wahrgenommen werden. Und wo ein Übergang be- rer Netzhaut. Dieses Gefäßmuster befindet sich zwischen
steht, da müssen wohl auch Unterschiede der angrenzenden den Photorezeptoren und den Gegenständen der Außen-
Flächen bestehen – folgert unser Gehirn. Mehreren Auto- welt und wird daher ständig auf den Photorezeptoren abge-
ren zufolge sind auch die dunklen Punkte, die an den Kreu- bildet. Aufgrund von Lokaladaptation der Rezeptoren – das
6.2 · Ein vorläufiges Ordnungsprinzip der Wahrnehmungstäuschungen
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b
6 a VI
Physikalische
Leuchtdichte
5

4 V
Wahrgenommene
Helligkeit
3 IV

Wahrgenommene Helligkeit
Physikalische Leuchtdichte

2 III

II

1 I

0
0

Physikalische
Leuchtdichte

Neuronen

Wahrgenommene
Helligkeit

a b c Stärkere Hemmung
Schwächere Hemmung
. Abb. 6.3a–c. Mechanismen der Kontrastverschärfung durch late- stark erregt (4), es hemmt seinen linken Nachbarn weniger stark, daher
rale Inhibition (. Abb. 6.1). a In Bereichen mit hoher Leuchtdichte wer- wächst die Ausgangserregung dieses Nachbarn (auf VI) an. c An der
den alle Neurone stark erregt (Eingangserregung 5), die nachgeschal- unteren Kante des Verlaufs ist die Erregung auf der linken Seite stärker,
teten Neurone hemmen sich gleichmäßig gegenseitig, die Ausgangs- daher übt das linke Neuron auf seinen rechten Nachbarn eine stärkere
erregung aller Neurone ist gleich (Ausgangserregung V). b An der Hemmung aus, was zu einem Abfall von dessen Ausgangserregung
oberen Kante des Intensitätsverlaufs wird das rechte Neuron weniger (auf 0) führt

. Abb. 6.4. Simultaner Hellig-


keitskontrast. Ein Quadrat auf
dunklem Hintergrund erscheint
heller als ein Quadrat identischer
Leuchtdichte auf hellem Hinter-
grund
70 Kapitel 6 · Visuelle Täuschungen

. Abb. 6.5. Craig-Cornsweet-Täuschung. Da langsame Intensitäts-


6 übergänge kaum wahrgenommen werden, erweckt der plötzliche In-
tensitätsübergang den Eindruck zweier unterschiedlich heller Flächen.
Abdecken der Mitte der Abbildung beweist, dass die Randbereiche
gleiche Intensität aufweisen
. Abb. 6.7. Die Täuschung aus . Abb. 6.6 wird weiter verstärkt durch
Hinzufügen heller Punkte an den Kreuzungsstellen des Gitters. (Nach
Schrauf et al. 1995)

. Abb. 6.8. Die umgekehrte Kontrasttäuschung. Das graue Rechteck


auf der linken Seite ist vollständig von weiß umgeben und sieht den-
noch heller aus als das graue Rechteck auf der rechten Seite, das voll-
. Abb. 6.6. Hermann-Hering-Gitter. An den Kreuzungspunkten der ständig von schwarz umgeben ist. Der simultane Helligkeitskonstrast
hellen Linien erscheinen illusionäre dunkle Punkte. (Nach Hering 1861) würde das Gegenteil erwarten lassen. (Nach Economou et al. 1998)

Gefäßmuster beschattet ja stets das Bild der gleichen, sich monstration relativ rasch um wenige Zentimeter auf- und
unter den Gefäßen befindlichen Rezeptoren und diese abbewegt werden, um die schnell einsetzende Lokaladap-
adaptieren an die geringere Leuchtdichte – nehmen wir das tion zu vermeiden.) Diese Erscheinung wird als Purkinje-
Gefäßmuster normalerweise nicht wahr. Doch wird das Phänomen bezeichnet.
Auge in einem dunklen Raum mit einer (Taschen-)Lampe Auch die Phosphene, d. h. Lichtempfindungen, die bei
von der Seite her beleuchtet, dann fallen die Gefäßschatten Druck auf ein Auge entstehen (Grüsser u. Landis 1991;
auf benachbarte Photorezeptoren und das Gefäßmuster 7 Kap. 7 in diesem Buch), stellen Helligkeitstäuschungen
wird für eine Weile sichtbar – obwohl sich natürlich in der dar, ebenso wie die »Blitze«, die durch Anheftungen des
Außenwelt kein Reiz befindet, der dem wahrgenommenen Glaskörpers an die Netzhaut und durch Zug an diesen An-
Muster entspräche. (Die Lichtquelle sollte bei dieser De- heftungen entstehen, oder die durch transkranielle Mag-
6.2 · Ein vorläufiges Ordnungsprinzip der Wahrnehmungstäuschungen
71 6

und nach Einnahme psychotroper Substanzen (LSD, Mes-


kalin), haben kein reales Korrelat in der Welt außerhalb
unseres Körpers.
Auch Nacheffekte sind Helligkeitstäuschungen. Wenn
wir einige Zeit ein kontrastreiches Muster ohne Augenbe-
wegungen fixieren und danach auf eine homogene Fläche
blicken (. Abb. 6.10a–c), dann nehmen wir – illusionäre –
Nachbilder wahr. Unmittelbar nach Verlagerung des Bli-
ckes nehmen wir ein negatives Nachbild wahr, d. h. die
helleren Anteile des zuvor betrachteten Musters erscheinen
nunmehr dunkel und die zuvor dunklen erscheinen nun
hell. Dieser Effekt kann leicht durch Lokaladaptation er-
klärt werden. Das Pigment (Rhodopsin) der stärker akti-
vierten Photorezeptoren wird stärker ausgebleicht als das
der Photorezeptoren, auf denen die dunklen Musteranteile
abgebildet wurden, ihre Empfindlichkeit nimmt daher ab.
Werden darauffolgend alle Photorezeptoren mit der glei-
chen Leuchtdichte stimuliert, dann werden die weniger
empfindlichen Photorezeptoren eine geringere Aktivität
. Abb. 6.9. Die hellen Quadrate innerhalb des Schattens haben aufweisen als die (vorübergehend) empfindlicheren Rezep-
objektiv die gleiche Intensität wie die dunklen Quadrate außerhalb toren und es entsteht das negative Nachbild.
des Schattens, sowohl in dem oberen, als auch in dem unteren Teil
der Abbildung. (Nach Adelson 2000)
6.2.2 Täuschungen der wahrgenommenen
netstimulation oder direkte elektrische Reizung des Kortex Farbe
erzeugten Helligkeitsempfindungen. All diese Sehempfin-
dungen, ebenso wie die Flimmererscheinungen im Rahmen Verwenden wir einige Bilder des Tageslichtfilmes, mit dem
der »Migraine ophthalmique«, sowie die Halluzinationen wir unter natürlicher (Sonnen-)Beleuchtung Aufnahmen
bei manchen Hirninfarkten, hohem Fieber und produkti- gemacht haben dazu, ein paar Schnappschüsse bei Glüh-
ven Psychosen wie Schizophrenie, Alkoholentzugsdelirium lampenbeleuchtung aufzunehmen, werden wir verwundert

a b c
. Abb. 6.10a–c. Chromatische und achromatische Nachbilder. Umkehrung des Negativs) wahrnehmen. c Chromatische Nachbilder:
a Achromatische Nachbilder. Betrachten Sie zunächst für 30 s die Na- Betrachten Sie zunächst für 30 s den Fixationspunkt in der Banane,
senspitze des linken Bildes, danach die weiße Fläche mit Fixierpunkt danach die weiße Fläche mit Fixierpunkt (b) – die Banane nimmt im
(b). Sie sollten die dargestellte Person im »richtigen« Kontrast (also die Nachbild eine etwas natürlichere Farbe an
72 Kapitel 6 · Visuelle Täuschungen

. Abb. 6.11. Bei Überlagerung


zweier Beleuchtungsquellen unter-
schiedlicher spektraler Zusammen- weiß + rot
setzung aus unterschiedlichen
Richtungen entstehen farbige
Schatten aufgrund der Fähigkeit
des visuellen Systems zur Erzielung
Schatten 1
von Farbkonstanz: Die großflächige
(nur weißes Licht)

Objekt
Mischung beispielsweise aus rot
und weiß in dem Bereich, der von weiß + rot
beiden Projektoren beleuchtet
Projektor 1
ist, wird als weiß empfunden, der ohne Filter Schatten 2
»weiße« Schatten daher in der Ge- (nur rotes Licht)
genfarbe, also grün

weiß + rot

2
6 tor Rotfilter
ro jek filter
P Rot
mit

Leinwand

einen starken Gelbstich dieser Aufnahmen bemerken. Wa- toren, die unterschiedliche spektrale Zusammensetzung
rum erscheinen alle Gegenstände gelber als sonst? Die Er- des Lichtes aufweisen, beispielsweise weiß und rot, dann
klärung ist zunächst einfach. Die Farbe von beleuchteten erscheinen alle beleuchteten Gegenstände weitgehend in
Gegenständen ist ein Produkt ihrer Oberflächenbeschaf- ihrer »normalen« Farbe, trotz des Rotstiches der Gesamt-
fenheit (Reflektanz) und der Beschaffenheit der Beleuch- beleuchtung. Die Bereiche jedoch, in denen der »rote« Pro-
tungsquelle (Farbtemperatur). Glühlampenlicht ist wesent- jektor den Schatten eines Gegenstandes entwirft, die also
lich »gelber« als Sonnenlicht, insofern gibt der Film die nur Licht des weißen Projektors erhalten, erscheinen grün,
»Farbe« aller Gegenstände, d. h. die von ihnen ausgehende also in der Gegenfarbe des roten Projektors – eine Täu-
Wellenlängenverteilung, korrekt wieder. Doch uns Men- schung (. Abb. 6.11).
schen interessiert natürlich weniger die aktuelle Wellenlän- Nach etwa halbminütiger, ruhiger Betrachtung eines
genverteilung des Reizes als die Konstanz eines Objektes vorzugsweise hoch gesättigten und kontrastreichen farbi-
unter den verschiedensten Umweltbedingungen, um es stets gen Musters (. Abb. 6.10c) und nachfolgendem Blick auf
sicher wiedererkennen zu können, und daher erscheint uns eine homogene Fläche (. Abb. 6.10b) erscheinen farbige
ein bleiches Gesicht sowohl bei Glühlampenlicht als auch Nachbilder, sehr ähnlich denen, die nach Betrachtung
bei tiefstehender Sonne bleich (man vergleiche die Hellig- schwarz-weißer Muster entstehen. Allerdings unterschei-
keitskonstanzleistung aus . Abb. 6.9 und Kap. 3). den sich die zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen.
Man kann trefflich darüber streiten, ob die Farbkonstanz Die farbigen Nachbilder werden durch die wechselseitige
unter verschiedenen Beleuchtungstypen, die unser visuel- Hemmung der sog. Gegenfarb-Systeme, also rot versus
les System erreicht, als solches eine Täuschung darstellt. In grün und gelb versus blau erzeugt. Adaptation eines dieser
gewissem Sinne lautet die Antwort »ja«, denn es besteht Mechanismen durch länger dauernde Darbietung der zu-
eine Diskrepanz zwischen physikalischem Reiz und subjek- gehörigen Wellenlänge (»Farbe«) vermindert die Empfind-
tiver Wahrnehmung. Dennoch gilt eher »nein«, denn das lichkeit dieses Mechanismus und bei Darbietung einer
Sehsystem erreicht durch die Farbkonstanz eine korrekte weißen Fläche, die im nichtadaptierten Zustand alle Me-
Beschreibung einer Objekteigenschaft, nämlich der Reflek- chanismen gleich stark erregen würde, resultiert ein Über-
tanz seiner Oberfläche. Allerdings existieren eindeutige wiegen der Gegenfarbe des adaptierten Mechanismus. Es
Wahrnehmungstäuschungen, die auf dieser Fähigkeit zur wird dann grün dort wahrgenommen, wo zuvor rot (lange
Farbkonstanz zu beruhen scheinen, beispielsweise die »far- Wellenlänge) dargeboten wurde, und die Wahrnehmung
bigen Schatten«. Beleuchtet man eine Fläche mit 2 Projek- von blau folgt auf Adaptation mit gelb.
6.2 · Ein vorläufiges Ordnungsprinzip der Wahrnehmungstäuschungen
73 6

Eine ganz andere Art von farbiger Sinnestäuschung stel- 6.2.3 Täuschungen der wahrgenommenen
len die musterinduzierten Flickerfarben dar, wie sie mit Bewegung
Hilfe der Benham-Scheibe erzeugt werden können. Rota-
tion der schwarz-weißen Benham-Scheibe führt zur Reizung Eine der bekanntesten Bewegungstäuschungen ist die sog.
retinaler Photorezeptoren mit einer Zeitdifferenz zwischen Barber-Pole-Illusion. Das zugrunde liegende Objekt be-
der Erregung benachbarter Rezeptoren, die im Millisekun- steht aus einem sich um seine Vertikalachse drehenden Zy-
denbereich liegt. Diese Zeitdifferenz aktiviert in den nach- linder, der mit einem spiralförmigen Streifen versehen ist
geschalteten Netzwerken der Retina aus noch nicht völlig (. Abb. 6.12a). Während der Drehung des Zylinders nimmt
geklärten Ursachen je nach Größe der Zeitdifferenz unter- der Beobachter jedoch nicht etwa die rein horizontale Be-
schiedliche farbdetektierende Mechanismen (von Cam- wegung wahr, die der Drehung des Zylinders entspricht,
penhausen 1981). Die resultierenden Farbeindrücke rei- sondern eine Bewegung nach unten. Die Erklärung dieses
chen von rötlich über grünlich und bläulich bis zu violett, Phänomens beruht auf dem sog. Apertur-Problem: Wird
sind allerdings stets stark ungesättigt. eine homogene Linie innerhalb eines Fensters dargeboten,
Eine weitere Wahrnehmungstäuschung, die ungesät- dann interpretiert das visuelle System jede Bewegung die-
tigte Farbe erzeugt, entsteht nach mehrminütiger abwech- ser Linie mangels weiterer Anhaltspunkte in der Regel als
selnder Darbietung beispielsweise vertikaler orangefarbe- senkrecht zur Linienorientierung verlaufend (. Abb. 6.12b;
ner und horizontaler blauer Streifenmuster. Nachfolgend Hildreth 1984). Der Reiz des »Barber-Poles« ist also physi-
dargebotene schwarz-weiße Gittermuster erscheinen mit kalisch nicht eindeutig, und das visuelle System wählt eine
leichter Farbtönung, orientierungsabhängig jeweils in der vielen möglichen Interpretationen des Reizes, die in
der Gegenfarbe des betrachteten Gitters, hier also rot diesem Falle aber nicht der physikalischen Realität ent-
für horizontale Orientierung (McCollough-Effekt). Diese spricht. Im Falle einer lang gestreckten Apertur, beispiels-
Täuschung kann über Stunden und Tage anhalten, trans- weise eines Rechtecks, verläuft die wahrgenommene Be-
feriert aber nicht von einem Auge auf das Partner-Auge. wegung darüber hinaus eher entlang der langen Seite des
Zur Erklärung werden Prozesse des neuronalen Lernens Rechteckes als senkrecht zu dieser Seite (Shimojo et al.
bzw. der orientierungsspezifischen Adaptation angenom- 1989).
men. Ein verwandter Effekt ist die Wahrnehmung sog.
»Plaids«, die aus 2 überlagerten Gittermustern unterschied-
! Sowohl die subjektiv wahrgenommene Farbe als auch licher Orientierung bestehen (. Abb. 6.13a). Die Bewegung
die Helligkeit eines Objektes können stark von den von Gittermustern unterschiedlicher Orientierung wird je-
physikalischen Eigenschaften des Gegenstandes ab- weils senkrecht zu ihrer Orientierung erlebt, obwohl viele
weichen. Kombinationen von Richtung und Geschwindigkeit mög-

Versuchsaufbau

tatsächliche
Bewegung
tatsächliche
Bewegung

b
a wahrgenommene
Bewegung

wahrgenommene
Bewegung

. Abb. 6.12. a »Barber-Pole«-Täuschung. Während sich der vertikale gung durchgezogener, gerader Linien wird in der Regel als senkrecht
Zylinder in horizontaler Richtung bewegt, nimmt der Beobachter eine zur Linienorientierung verlaufend interpretiert. Hinzu kommt die ver-
in vertikaler Richtung verlaufende Bewegung wahr. b Erklärung der tikale Richtung der längeren Kante der Begrenzung
Barber-Pole Täuschung auf der Basis des sog. Apertur-Problems: Bewe-
74 Kapitel 6 · Visuelle Täuschungen

Versuchsaufbau 9 . Abb. 6.13. a »Plaid«-Muster bestehen aus der Überlagerung zweier


unterschiedlich orientierter Gittermuster. b Bewegung eines Gitter-
musters innerhalb eines Fensters wird immer als senkrecht zum Verlauf
der Gitterlinien erlebt, obwohl auch eine Bewegung schräg zu diesen
Linien zugrunde liegen könnte, allerdings mit höherer Geschwindigkeit
(Pfeile). Alle möglichen Bewegungen müssen auf der gestrichelten
Hilfslinie enden. c Überlagerung zweier nach rechts oben bzw. rechts
unten bewegter Gittermuster unterschiedlicher Orientierung führt zur
a Wahrnehmung einer Bewegung nach rechts, da nur diese Bewegungs-
richtung auf dem Schnittpunkt zwischen den beiden Hilfslinien endet.
d Eine langsame und eine schnellere Bewegung nach rechts unten
führen hier überraschenderweise zur Wahrnehmung einer Bewegung
nach rechts oben, da sich nur für diese Richtung die beiden Hilfslinien
schneiden. (Nach Adelson u. Movshon 1982)

terscheiden (. Abb. 6.13c; Adelson u. Movshon 1982). Die


resultierende Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit
6 b
muss nicht zwischen den Einzel-Bewegungsrichtungen
der Elemente liegen, sondern ist durch den Schnittpunkt
der beiden Geraden definiert, von denen jede die mögli-
chen Trajektorien eines der Gitter beschreibt (. Abb. 6.13d).
Offenbar kombiniert das visuelle System die Bewegungs-
informationen der elementaren Bewegungsdetektoren zur
Vektorsumme dieser beiden Bewegungen. Dies stellt ge-
wissermaßen einen Lösungsversuch für das Apertur-
problem dar, das im Falle der Barber-Pole-Täuschung zur
Wahrnehmung der Bewegung senkrecht zu den Linien-
c
kanten führt.
Fernsehen und Film stellen eine weitere Bewegungs-
täuschung dar. In beiden Fällen nehmen wir eine natür-
lich erscheinende Bewegung wahr, obwohl lediglich eine
Sequenz unbewegter Bilder dargeboten wurde. Es konn-
te sogar experimentell nachgewiesen werden, dass es
Beobachtern nicht möglich ist, zwischen dieser Art von
Scheinbewegung und echter Bewegung zu unterscheiden
(Fahle et al. 2001). Entgegen der ursprünglichen Annah-
me, die von einer Unterdrückung der Lücken innerhalb
der Scheinbewegung ausgegangen war, wissen wir heute,
dass im visuellen System bereits auf einer relativ frühen
d
Ebene die vollständigen Bewegungstrajektorien auf der
Basis der dargebotenen Stationen der Scheinbewegung
lich sind. Von der Senkrechten (relativ zur Gitter-Orien- rekonstruiert werden (Burr u. Ross 1979; Morgan 1979;
tierung) abweichende Richtungen erfordern höhere Ge- Fahle u. Poggio 1981), wie im Beispiel von . Abb. 6.14
schwindigkeiten, durch Pfeile unterschiedlicher Richtung deutlich wird. Nur durch Rekonstruktion der Bewegungs-
und Lage in . Abb. 6.13b symbolisiert. Die Endpunkte trajektorien kann erklärt werden, warum das untere Seg-
aller möglichen Trajektorien liegen auf einer Geraden ment des sich bewegenden Noniussehzeichens an Positio-
(. Abb. 6.13b). Werden diese Gitter einander überlagert, nen wahrgenommen wird, an denen es sich auf der Netz-
wird nur noch eine einzige Bewegung(srichtung) wahrge- haut niemals befunden hat (vgl. auch Sigma-Bewegung:
nommen, solange sich die beiden Einzelgeschwindigkeiten Grüsser u. Rickmeyer 1981; Theta-Bewegung: Zanker,
und die Linienabstände der beiden Gitter nicht zu stark un- 1993 sowie Kap. 28 in diesem Buch).
6.2 · Ein vorläufiges Ordnungsprinzip der Wahrnehmungstäuschungen
75 6

Dargestellter Reiz Wahrgenommener Reiz


0 20 40 60 80 100 0 20 40 60 80 100

a 2 22 42 62 82 102 b 2 22 42 62 82 102

. Abb. 6.14a,b. Raum-zeitliche Interpolation. a Wird ein (senkrechter) Lücken in der Bewegungsbahn, sondern durch aktive Interpolation der
Doppelstrich kurz nacheinander an einer Reihe (horizontal) benachbar- gesamten Bewegungsbahn (Trajektorie). b Eine zeitliche Verzögerung,
ter Stationen dargeboten, so scheint er sich kontinuierlich zu bewegen. z.B. des unteren Elementes an jeder Station der Trajektorie um jeweils
Diese Illusion von Scheinbewegung tritt auch beispielsweise bei den Se- 2 Millisekunden, wird daher als räumliche Versetzung wahrgenommen,
quenzen stationärer Bilder auf, aus denen Film und Fernsehen bestehen. d. h. als sog. Nonius-Versetzung. (Nach Fahle u. Poggio 1981)
Begründet wird die Täuschung nicht etwa durch bloßes Ignorieren der

Es existiert eine Gruppe bewegter Punktwolken, beste- ren, also Lokaladaptationen. Und dieses Verschwinden aller
hend aus etwa 1–2 Dutzend Punkten, bei deren Betrach- Objekte hat natürlich kein Korrelat in der Außenwelt, ist
tung die Versuchsperson das Gefühl hat, sie sehe einen also illusionär. Die letzte hier angeführte Bewegungs-
Menschen gehen, laufen, radfahren, springen oder mit einem täuschung ist vermutlich die am längsten bekannte: die sog.
Partner tanzen. Eine Täuschung? Vielleicht, denn eigent- Wasserfall-Täuschung (Adams 1912), die in Kap. 4 darge-
lich bewegen sich da nur eine Anzahl von Punkten auf recht stellt wird.
komplexen Bewegungsbahnen. Andererseits entstanden
die Bildsequenzen dadurch, dass Personen gefilmt wurden,
während sie die oben angegebenen Tätigkeiten ausführten 6.2.4 Täuschungen der wahrgenommenen
(Johannson 1973). Dabei blieb die Szene im dunklen, die Größe
Kamera »sah« nur die kleinen Lichter, die an den Haupt-
Gelenken (Fuß, Knie, Hüfte, Hand, Ellenbogen, Schulter, Ähnlich wie mit der wahrgenommenen Farbe von Objekten
Hals) angebracht waren. Offensichtlich ist es unserem Zen- der Außenwelt verhält es sich mit ihrer Größe. Wieder erhebt
tralnervensystem aufgrund seiner langen Erfahrung mit sich die Frage, was denn die physikalisch richtige Wahrneh-
den Bewegungsformen unserer Artgenossen möglich, die mung ist. Wie im Falle der Farbe könnte man argumentieren,
zugrunde liegenden Bewegungen rein aufgrund dieser es sei der physikalische Reiz, im Falle der Größe also die Grö-
spärlich erscheinenden Informationen zu rekonstruieren. ße des Netzhautbildes. Aber natürlich ist für unser Verhalten
Eine andere Art von Bewegungstäuschung besteht darin, die tatsächliche Größe der Objekte wichtiger als die Größe
dass ein in der Dunkelheit präsentierter einzelner heller des Netzhautbildes – und die Größe des Netzhautbildes ist
Punkt kleine Bewegungen auszuführen scheint, obwohl er eigentlich nur wichtig für eine Entfernungsschätzung der
stationär ist. Die Ursache für diese Bewegungstäuschung Objekte. Emmerts Gesetz (1881) besagt, dass die Größen-
sind kleine Augenbewegungen, die stets auftreten (z. B. Fah- wahrnehmung eines Sehobjektes in allen Entfernungen kons-
le 1991). Die dadurch entstehenden Bildbewegungen auf der tant bleibt, obwohl die Fläche des Netzhautbildes dieses
Netzhaut werden jedoch in Anwesenheit ausgedehnter Seh- Objektes mit dem Quadrat seines Abstandes abnimmt. (Da-
objekte nicht bewusst wahrgenommen, sondern neuronal gegen verändern Nachbilder ihre Größe in Abhängigkeit
unterdrückt. Elimination dieser kleinsten Augenbewegun- vom scheinbaren »Betrachtungsabstand« des Nachbildes.)
gen oder Mitbewegung des Netzhautbildes (»stabilisiertes Uns erscheint ein Bleistift am anderen Ende des Zimmers
Bild«) führt übrigens zum weitgehenden Verschwinden je- nicht kleiner als der, den wir in der Hand halten, obwohl sein
des Seheindrucks – vermutlich aufgrund der gleichen Me- Netzhautbild und seine Repräsentation in der primären
chanismen, die zum Verschwinden der Netzhautgefäße füh- Sehrinde weit kleiner sind. Diese Fähigkeit der Größenkons-
76 Kapitel 6 · Visuelle Täuschungen

a b
. Abb. 6.15a,b. Ames-Raum. a Das (monokulare) Bild des Beobach- . Abb. 6.16. Ponzo-Täuschung. Die beiden übereinander anordne-
ters enthält durch geschickten Aufbau des Raumes keine der üblichen ten horizontalen Linien weisen exakt gleiche Länge auf. Durch die ge-
Tiefenhinweise (wie z. B. Paralaxe), die auf die ungewöhnliche Form des neigten Linien wird eine gewisse Perspektive erzeugt, aufgrund derer
6 Raumes schließen lassen würden. Das kleinere Netzhautbild der linken die obere Linie als weiter entfernt erlebt wird. Bei gleicher Größe des
Person wird daher als Folge von Kleinwuchs fehlinterpretiert und nicht Netzhautbildes wird aufgrund der neuronalen Größenkonstanz ein
als höherer Beobachtungs-Abstand. b Geometrie des Ames-Raumes; weiter entferntes Objekt als größer wahrgenommen als ein nahes Ob-
die linke Ecke des Raumes ist wesentlich weiter vom Beobachter ent- jekt, was die Größentäuschung erklären dürfte
fernt als die rechte Ecke

tanz in der visuellen Wahrnehmung sorgt dafür, dass uns


Gegenstände nicht deshalb ungewohnt erscheinen, weil sich
ihre Entfernung von unseren Augen verändert hat – Grö-
ßenkonstanz erleichtert das Zurechtfinden in der äußeren
Welt ungemein.
Doch wie so oft hat auch dieses Erschließen des wirk-
lichen Objektes, hier seiner Größe, aus der auf der Netzhaut . Abb. 6.17. Ebbinghaus-(Titchener-)Täuschung. Ein mittelgroßer
zur Verfügung stehenden Größeninformation seine Schat- Kreis inmitten großer Kreise wird als kleiner erlebt als ein Kreis gleichen
tenseite: Es kann getäuscht werden und führt dann zu feh- Durchmessers inmitten kleiner Kreise. Bei gleichzeitiger Darbietung
lerhaften Größenschätzungen. Ein gutes Beispiel ist der der beiden Anordnungen ist die Täuschung signifikant stärker als die
Summe der Effekte, die bei sequentiellem Vergleich jeder der Anord-
Ames-Raum. Insbesondere bei monokularer Betrachtung
nungen mit einem isolierten Kreis auftreten
scheint es sich um einen ganz gewöhnlichen Raum zu han-
deln, in dessen linker Ecke sich jedoch ein ungewöhnlich
kleiner Mensch befindet (. Abb. 6.15a). Die Täuschung Auch die Ponzo-Täuschung (. Abb. 6.16) könnte auf eine
wird dadurch erreicht, dass diese Ecke des Raumes sehr viel fehlgeschlagene Größenkonstanzleistung zurückgeführt
weiter entfernt liegt als die gegenüberliegende Ecke, das werden: Die schräg angeordneten Linien induzieren eine ru-
Netzhautbild einer dort stehenden Person also wesentlich dimentäre Perspektive, aufgrund derer die obere der beiden
kleiner ist als das der zweiten Person (. Abb. 6.15b). Da horizontalen Linien weiter entfernt zu sein scheint als die
beide Personen als gleich weit entfernt wahrgenommen untere. Beide Linien erzeugen gleich große Netzhautbilder,
werden (die normalerweise in einem solchen Raum entste- doch das Bild der scheinbar weiter entfernt liegenden Linie
hende Paralaxe etc. wurde bei der Konstruktion geschickt wird aufgrund der Größenkonstanz vergrößert wahrgenom-
kompensiert; vgl. dazu Ames 1951), kann die normalerwei- men und führt zu einer scheinbaren Längendifferenz der
se automatisch ablaufende Größenkonstanz nicht wirksam Linien. Bei der Ebbinghaus-Täuschung (. Abb. 6.17, im
werden, die ansonsten die Größe der Netzhautbilder mit angelsächsischen Sprachraum als Titchener-Illusion bezeich-
dem (geschätzten) Objektabstand gewichtet und beide Men- net) erscheint der von größeren Kreisen umgebene zentrale
schen trotz unterschiedlicher Größe der Netzhautbilder als Kreis als deutlich kleiner als der gleich große zentrale Kreis,
gleich groß erscheinen lässt. der von kleineren Kreisen umgeben ist. Dieser Effekt des
6.2 · Ein vorläufiges Ordnungsprinzip der Wahrnehmungstäuschungen
77 6

. Abb. 6.18. Müller-Lyer-Täuschung. Die linke Linie erscheint kürzer


als die rechte Linie. (Nach Müller-Lyer 1889)

a
»Größen-Simultankontrastes« ist wesentlich geringer, wenn
nur eine der beiden Gruppen dargeboten wird und die Grö-
ße des zentralen Kreises mit der eines isolierten einzelnen
Kreises verglichen wird (Franz et al. 2000). Die Täuschung ist
etwas schwächer ausgeprägt, wenn sie über ein motorisches
Maß wie die maximale Öffnung einer Hand, die den zentra-
len Kreis greifen will, gemessen wird. Die Müller-Lyer-Täu-
schung (Müller-Lyer 1889) führt zu einer Längenüberschät-
zung der rechten Strecke (. Abb. 6.18) relativ zu der linken
Linie.

6.2.5 Täuschungen der wahrgenommenen


Orientierung und der zwei-
dimensionalen Struktur: b

geometrische Illusionen . Abb. 6.19a,b. Zöllner’sche Täuschung. Die parallelen Linien schei-
nen keinesfalls parallel zu verlaufen. (Nach Zöllner 1861)

Diese Täuschungen gehören zu den ältesten und bekann-


testen überhaupt. Sie betreffen die wahrgenommene Orien- Objektteilen führen dagegen nicht zu Größentäuschungen,
tierung von Linien (beispielsweise bei der Zöllner’schen, sondern zur Wahrnehmung unmöglicher Objekte, wie dem
Poggendorf ’schen und Hering’schen Täuschung und bei Penrose-Dreieck (. Abb. 6.20), dem Torpedo des Teufels
Orientierungs-Nacheffekten) sowie die wahrgenommene (»the devil’s torpedo«), oder der unendlichen Treppe und
Geometrie zweidimensionaler Reize (beispielsweise die ähnlichen Wahrnehmungstäuschungen, wie sie insbesondere
Café-Wall-Illusion; Gregory 1968). Die Zöllner’sche Täu- von Escher realisiert wurden. Dieser Typ von Täuschungen
schung (1861) führt zu einer Orientierungstäuschung, die lässt sich am besten am Beispiel des Penrose-Dreiecks exem-
teilweise auf der subjektiven Überschätzung der Größen plifizieren. Beim Betrachten des zweidimensionalen Drei-
spitzer Winkel beruht (. Abb. 6.19). Für eine Übersicht ecks interpretieren wir es als in der Papierebene liegend, was
über diese Täuschungen sei auf das Buch von Metzger nicht mit der Schattenverteilung auf den einzelnen Segmen-
(1975) verwiesen. ten des Dreiecks in Einklang gebracht werden kann. Die Illu-
sion beruht darauf, dass uns diese »flache« Interpretation viel
geläufiger ist als die komplizierte dreidimensionale Form,
6.2.6 Täuschungen des Abstandes die aus einem bestimmten Blickwinkel das zweidimensiona-
und der dreidimensionalen Struktur le Bild des Penrose-Dreiecks erzeugt (. Abb. 6.20).
Eine ganz einfache Art der Täuschung über den Abstand
Wie wir im vorletzten Abschnitt sahen, bestehen enge Bezie- von Objekten ist seit langem bekannt und beruht auf der
hungen zwischen Täuschungen des wahrgenommenen Ab- Tatsache, dass unser Gehirn die dreidimensionale Struktur
standes von Objekten und Täuschungen der Größenwahr- der Welt aus den zweidimensionalen Bildern der beiden
nehmung – Fehleinschätzungen des Objektabstandes führen Netzhäute erschließen muss. Es konnte gezeigt werden (Tor-
aufgrund von Fehlern in der Größenkonstanz zu Fehlern der re et al. 1985), dass diese Aufgabe nicht eindeutig lösbar ist,
wahrgenommenen Größe von Sehdingen. Andere Täuschun- also für bestimmte Bildpaare viele mögliche Lösungen bzw.
gen des Abstandes von Objekten oder genauer gesagt, von Interpretationen bestehen, sodass die gerade vorliegende
78 Kapitel 6 · Visuelle Täuschungen

Linkes Auge Rechtes Auge

b . Abb. 6.21. Die beiden Halbbilder dieser Abbildung repräsentieren


. Abb. 6.20a,b. Penrose-Dreieck. a Die fast zweidimensionale, relativ jeweils eine zweidimensionale Projektion eines dreidimensionalen
flache Interpretation des Penrose-Dreiecks (Penrose 1958) gelingt stets Objektes, für etwas unterschiedliche Blickwinkel, wie sie sich beispiels-
nur für Teile des Musters, nie für seine Gesamtheit, was als »Unmög- weise für die beiden Augen in einem bestimmten Betrachtungsab-
lichkeit« eines korrespondierenden realen Objektes interpretiert wird. stand ergeben würden. Wird das linke Halbbild dem linken Auge dar-
b In Wirklichkeit existiert ein korrespondierendes Objekt, das jedoch geboten und das rechte dem rechten Auge, dann ist diese doppelte
sehr komplex ist und nur aus einem kleinen Blickwinkel die geforderte zweidimensionale Darbietung für einen unbewegten Beobachter völlig
zweidimensionale Projektion erzeugt. Immerhin: Das Dreieck ist nicht äquivalent zu (also ununterscheidbar von) der Darbietung des drei-
unmöglich! Man beachte die korrespondierenden Punkte (×, •) im Pen- dimensionalen Objektes
rose-Dreieck (a) und seinem Spiegelbild (b)

Objektkonstellation unter Umständen nicht eindeutig be- ten werden, damit aus zweidimensionalen Bildern scheinbar
stimmt werden kann. Dazu weiter unten Näheres. Die Be- dreidimensionale Objekte werden. Wir haben uns an diese
grenzung auf 2 zweidimensionale Bilder bringt es aber au- Täuschung so gewöhnt, dass wir sie häufig gar nicht mehr
ßerdem mit sich, dass scheinbar dreidimensionale Objekte als solche empfinden.
dadurch simuliert werden können, dass den beiden Augen 2 Eine Variante der Täuschung, dreidimensionale Objekte
unterschiedliche zweidimensionale Ansichten des gleichen durch zweidimensionale Abbildungen zu simulieren, ist das
Objektes dargeboten werden, die aus den Blickwinkeln bei- »magische Auge« (. Abb. 6.22). Die Reizmuster dieser Art
der Augen aufgenommen wurden. Beispielsweise die Halb- kommen sogar mit einem einzigen Bild aus und können
bilder von . Abb. 6.21 können den beiden Augen getrennt auf eine physikalische Trennung der Bilder beider Augen
dargeboten werden, sei es durch »Schielen« (evtl. unterstützt verzichten. Sie erfordern nur einen minimalen Schielwinkel:
durch Konvexlinsen vor beiden Augen), durch Farbdruck Durch geschickte Generierung sich wiederholender Mus-
(Anaglyphen) und entsprechende farbige Filter vor beiden terbestandteile reicht es aus, wenn das linke Auge um ei-
Augen, Darbietung mit polarisiertem Licht und entspre- ne Periode rechts oder links des rechten Auges fixiert, um
chende Polfilterbrille oder zeitliches Nacheinander der bei- binokulare Disparitäten zwischen beiden Augen zu erzeu-
den Bilder auf einem Bildschirm mit einer Spezialbrille, wie gen, die zu einem Tiefeneindruck führen.
sie für bestimmte Computerspiele verwendet wird. Das ent- Wie oben bereits angedeutet, existieren für bestimmte
scheidende ist, dass beiden Augen die geometrisch richtigen stereoskopische Reize zwei oder mehr mögliche Interpreta-
Konturen in entsprechenden Gesichtsfeldbereichen angebo- tionen, d. h. mögliche dreidimensionale Objekte, beispiels-
6.2 · Ein vorläufiges Ordnungsprinzip der Wahrnehmungstäuschungen
79 6

. Abb. 6.22. »Magisches Auge«.


Die sich in horizontaler Richtung
wiederholenden Streifen oder
sonstigen Strukturen in den typi-
schen Abbildungen des »magi-
schen Auges« erfordern vom
Betrachter nur eine geringere
»Schiel-Leistung« als die Muster
von . Abb. 6.21, bei denen die
Fixierpunkte beider Augen etwa
5 cm voneinander entfernt liegen
müssen. Hier dagegen ist ein Ab-
stand von weniger als 2 cm ausrei-
chend, d. h. Fixation der beiden
Augen auf benachbarten Streifen,
um leicht unterschiedliche Netz-
hautbilder beider Augen mit ent-
sprechenden binokularen Dispari-
täten zu erzeugen

weise für den in . Abb. 6.23a gezeigten Necker-Würfel.


Durch Zusatzstrukturen kann eine der Interpretationen
auf Kosten der anderen verstärkt werden (. Abb. 6.23b).
Die ambivalente Treppe (. Abb. 6.24a,b) kann ebenso wie
die Rubin’sche Vase (allerdings ist hier nicht die dreidimen-
sionale Struktur betroffen; . Abb. 6.25a,b) durch Zusatz-
reize eindeutig gestaltet werden. Ähnliches gilt für das in
. Abb. 6.26a gezeigte Reizpaar. Sinha u. Poggio (1996)
konnten Versuchspersonen darauf »prägen«, eine der vie-
len möglichen dreidimensionalen Interpretationen zu wäh- a b
len, indem sie ihnen zuvor eine bewegte Animation genau . Abb. 6.23a,b. Necker-Würfel. Zwei unterschiedliche dreidimensio-
dieser Interpretation darboten. Rotation eines Objektes nale Interpretationen sind möglich. Geringe Modifikationen des Reizes
dieser Konfiguration führte dann zur Wahrnehmung »nor- beseitigen eine der möglichen Interpretationen, die andere wird kons-
tant wahrgenommen (s. auch . Abb. 6.24 und 6.25)
maler« rigider Bewegung, Rotation eines Objektes einer an-
deren möglichen Konfiguration jedoch zur Wahrnehmung
von Bewegung plus Objektdeformation (. Abb. 6.26b; kippt werden oder durch Addition eines anderen Schattens
Näheres bei Sinha u. Poggio 1996). Diese Unterscheidung noch stärker auf die Ebene fixiert werden (Kersten et al.
zwischen rigider und nichtrigider Objektbewegung ist 1997). Die beiden möglichen Bewegungsbahnen des Schat-
insofern eine Täuschung, als andere zulässige dreidimensio- tens sind in . Abb. 6.27 zusammen mit der Bewegungsbahn
nale Interpretationen des Objektes jeweils eine rigide Bewe- skizziert, eine bewegte Version des Effektes kann z. B. unter
gung durchgeführt hätten. »www.illusionworks.com« betrachtet werden.
Die Trajektorie, d. h. Bewegungsbahn einer sich in einer
Ebene bewegenden Kugel, kann durch Addition eines ent-
sprechenden Schattens in die Tiefe, d. h. aus der Ebene, ge-
80 Kapitel 6 · Visuelle Täuschungen

b
. Abb. 6.24a,b. Schröder’sche Treppe . Abb. 6.26a,b. Das oben dargestellte dreidimensionale Objekt
erscheint aus einem bestimmten Blickwinkel wie ein Würfel (a), d. h.
seine zweidimensionale Projektion entspricht der eines Würfels
(b, links oben). Rotiert man das dreidimensionale Objekt, dann ent-
stehen nacheinander die unten dargestellten Projektionen. Der
Beobachter nimmt daher ein Objekt wahr, das seine Form während
der Rotation ändert. Werden die durch Punkte im dreidimensionalen
Objekt dargestellten »Ecken« des Objektes durch Linien miteinander
verbunden, deren Projektion nicht der eines Würfels gleicht, dann
wird ein einziges Objekt wahrgenommen, das seine Form während der
Rotation nicht zu verändern scheint. (Nach Sinha u. Poggio, 1996)

a
6.2.7 Täuschungen der wahrgenommenen
Textur und Ortsfrequenz

Der Begriff der Ortsfrequenz beschreibt, wie viele (Sinus-)Li-


nien pro Sehwinkelgrad ein periodisches Muster (Gitter)
enthält. Das menschliche visuelle System scheint etwa 5–6
primär voneinander unabhängige Übertragungs- und Ver-
arbeitungskanäle für unterschiedliche Ortsfrequenzen auf-
zuweisen – gewissermaßen getrennte Verarbeitungswege
b für grobe Umrisse und feinste Details (und mehrere Abstu-
. Abb. 6.25a,b. Rubin’sche Vase/Gesichter-Figur fungen zwischen diesen Extremen; Campbell u. Robson
6.2 · Ein vorläufiges Ordnungsprinzip der Wahrnehmungstäuschungen
81 6
a 1968). Diese Kanäle scheinen einander wechselseitig zu
hemmen, ebenso wie wir es oben bei den unterschiedlichen
Farb- und Bewegungskanälen sahen, und daher kann auch
ein deutlicher Nacheffekt erzeugt werden. Man fixiere zu-
nächst innerhalb des Rechtecks zwischen den Gittermustern
in der linken Hälfte von . Abb. 6.28a (Blakemore u. Sutton
1969). Nach etwa 30 s sollte dann der Blick auf den Punkt
b
zwischen den Mustern von . Abb. 4.28b verlegt werden.
Für eine kurze Zeit scheint der obere Teil von . Abb. 6.28b
ein groberes Muster zu enthalten als die untere Hälfte. Die
Erklärung liegt auf der Hand: Durch die Betrachtung von
. Abb. 6.28a wurde in der oberen Hälfte des Gesichtsfeldes
der Kanal für etwas höhere Ortsfrequenzen adaptiert und
. Abb. 6.27. a Eine sich in der Papierebene von links vorne nach
in der unteren Gesichtsfeldhälfte der für etwas niedrigere
rechts hinten bewegende Kugel wird in der Regel auch auf dieser Be-
wegungsbahn wahrgenommen, insbesondere wenn sich ein Schatten (gröbere) Ortsfrequenzen als sie in (. Abb. 6.28b) darge-
unter ihr mitbewegt. b Bewegt sich der Schatten jedoch auf einer hori- boten werden. Da die wahrgenommene Ortsfrequenz
zontalen Bewegungsbahn, dann scheint sich die Kugel nicht mehr nur gewissermaßen das Ergebnis des Wettbewerbs zwischen
schräg hin und her zu bewegen, sondern sich gleichzeitig auf und ab verschiedenen Ortsfrequenzkanälen ist, erleiden bei Be-
zu bewegen, d.h. sich über die Fläche zu erheben. (Nach Kersten et al.
trachtung von . Abb. 6.28b im oberen Bereich die hohen
1997)
Ortsfrequenzen einen Nachteil aufgrund der vorange-
henden Adaptation und das Maximum der Erregung ver-
schiebt sich etwas zu gröberen (niedrigeren) Ortsfrequen-
zen hin, während die Adaptation im unteren Bereich die

a b c

. Abb. 6.28a–c. Illusionäre Veränderung der Frequenz eines Streifen- (nach Blakemore, Sutton, 1969). Illusionäre Veränderung der wahrge-
oder Gittermusters (»Ortsfrequenz«) durch Adaptation: Nach längerer nommenen Orientierung eines Gittermusters: Nach längerer Betrach-
Betrachtung eines Streifenmusters mit unterschiedlichen Ortsfrequen- tung zweier in unterschiedliche Richtungen geneigter Gittermuster (c)
zen (a) verschiebt sich die wahrgenommene Frequenz zweier Gitter scheinen zwei senkrechte Gittermuster (b) jeweils von der adaptierten
identischer Frequenz (b) jeweils von der »adaptierten« Frequenz weg Orientierung weggedreht zu sein
82 Kapitel 6 · Visuelle Täuschungen

700 ms

RZ(ms)

14 ms Erkennung: 450
links oder rechts inkongruent
Prime

400

0-70 ms
350

kongruent

300
6 140 ms Wahlreaktion:
links oder rechts
250
14 28 42 56 70 84 SOA (ms)
a b
. Abb. 6.29a,b. Reizkonfiguration, die zum »unbewussten« prägen zweiten (Ziel-)Reiz (b): Die Reaktionszeiten (RZ) für übereinstimmende
(»Priming«) von Wahrnehmungsreizen verwendet werden kann (a). Richtungen von Prime und Zielreiz (kongruent) sind wesentlich kürzer
Obwohl der erste Reiz (»Prime«) nicht bewusst analysiert wird und als die für gegensätzliche Richtungen (inkongruent). (Nach Vorberg
der Betrachter nicht angeben kann, welcher Reiz dargeboten wurde, et al. 2003)
beeinflusst dieser erste Reiz die Reaktion auf einen nachfolgenden

niedrigen Ortsfrequenzen betrifft und daher zu einer Ver- 6.3 Vorbewusste Wahrnehmung
schiebung der wahrgenommenen Ortsfrequenz hin zu hö-
heren Werten führt. Ein ähnlicher Nacheffekt besteht auch Es sollte beachtet werden, dass Reize, die so kurzfristig dar-
für die wahrgenommene Orientierung von Gittermustern: geboten und von einer Maske so schnell gefolgt wurden,
Man adaptiere an . Abb. 6.28c und fixiere danach . Abb. dass sie nicht bewusst analysiert werden konnten, dennoch
6.28b. die Wahrnehmung später dargebotener Reize stark beein-
flussen können. Ein Beispiel ist in . Abb. 6.29 dargestellt:
Ein kurzfristig dargebotener kleinerer Pfeil kann die Reak-
6.2.8 Täuschungen der Eigenbewegungs- tion auf einen nachfolgenden, größeren Pfeil beeinflussen
wahrnehmung (Vorberg et al. 2001; vgl. auch Neumann u. Klotz 1994).
Ebenso kann ein kurzfristig dargebotener Nonius seine
Eine mäßig starke Eigenbewegungstäuschung entsteht bei Versetzung an ein nachfolgendes Gitter vererben, obwohl
Betrachtung bewegter Punktemuster, deren Elemente aus der Nonius nicht bewusst gesehen wurde (Herzog u. Fahle
einem zentralen Expansionsfokus in alle Richtungen ex- 2002).
Zusammenfassung
pandieren, oder, in Umkehr dieser Bewegung, aus allen
Richtungen konzentrisch auf einen zentralen Fokus kon-
vergieren, wie es beispielsweise bei manchen »Bildschirm-
schonern« der Fall ist. Diese Reizmuster imitieren den Ver-
lauf der Bewegungstrajektorien von Objekten, die bei Blick
geradeaus und Bewegung nach vorne bzw. rückwärts ent-
stehen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass bei großflä-
chiger Darbietung dieser Muster die Illusion einer Eigenbe-
wegung nach vorne bzw. hinten resultiert.
6.3 · Vorbewusste Wahrnehmung
83 6

Zusammenfassung
Nichtübereinstimmung zwischen den Eigenschaften Diese Nichteindeutigkeit liegt teilweise bereits im Reiz
eines physikalischen Objektes und der subjektiven Wahr- begründet, wie beispielsweise bei der Rekonstruktion (be-
nehmung dieses Objektes kann erstens Folge des be- stimmter) dreidimensionaler Objekte auf der Grundlage der
grenzten Auflösungsvermögens des visuellen Systems beiden zweidimensionalen Netzhautbilder. Täuschungen
sein. Das Auflösungsvermögen kann in räumlicher (z. B. können auch durch den Zwang erzeugt werden, im visuel-
Nichtwahrnehmbarkeit des »Kornes« eines Zeitungsbildes len System die von der Netzhaut gelieferte Information dras-
aus einiger Entfernung), zeitlicher (Flicker-Fusion ober- tisch zu reduzieren, beispielsweise durch Elimination von
halb von ca. 65 Hz) oder kontrast- oder wellenlängen- gleichförmigen Flächen und Betonung der Konturen (z. B.
bezogener Hinsicht begrenzt sein. Zweitens können Täu- Craig-Cornsweet-Täuschung). Während viele Wahrnehmungs-
schungen Nebeneffekte relativ einfacher Filteroperatio- täuschungen bereits aufgrund der bekannten Verarbeitungs-
nen sein, mit deren Hilfe das visuelle System die von den mechanismen des visuellen Systems erklärt werden können,
Photorezeptoren vermittelten Informationen über die ist für das Verständnis der (neuronalen) Mechanismen eini-
Außenwelt aufbereitet, um ein besseres, d. h. stärkeres ger anderer eine bessere Kenntnis der Arbeitsweise unseres
Signal zu erhalten, beispielsweise durch Kontrastverschär- Kortex erforderlich. Wahrnehmungstäuschungen schärfen
fung. Eine dritte mögliche Quelle von Wahrnehmungs- unser Bewusstsein dafür, dass eine große Kluft besteht zwi-
täuschungen stammt aus der Uneindeutigkeit der dem schen den Dingen der Welt einerseits und ihrer Repräsenta-
visuellen System zu Verfügung stehenden Information, tion in unserem Gehirn andererseits. Sie zeigen außerdem,
auf deren Basis es eine möglichst zutreffende Repräsen- dass wir die Funktionsweise unseres eigenen zentralen Ner-
tation der Sehdinge konstruieren muss. vensystems bisher nur sehr bedingt verstehen.

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