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1 6 1 Charakteristika in der praktischen Ausbildung am Patienten

neuen und abwechslungsreicheren Umgebung. Der Linguisten, Logopäden, Musiktherapeuten, Ärzten,


Physiotherapeut geht so während der Behandlung Masseuren, Kunsttherapeuten, Motopäden, Sport-
der sensomotorischen Störungen auch auf die neu- therapeuten, Sozialarbeitern, Orthopädiemecha-
ropsychologischen Störungen ein. Wichtig: Patien- niker, Physiotherapeuten. Kenntnisse aus anderen
ten überschätzen sich leicht. Motorisch sind sie Fachdisziplinen werden dabei vorausgesetzt,
durchaus in der Lage, im Behandlungsraum sicher ebenso wie der gleichberechtigte und respektvolle
zu gehen. Aber gerade bei Aufmerksamkeitsstörun- Umgang innerhalb der eigenen und zwischen den
gen wird der Patient in einer neuen Umgebung un- Berufsgruppen. Sie arbeiten alle an einem gemein-
erwartet gangunsicher und stürzt leichter. sam mit Patient und Angehörigen festgelegten Re-
habilitationsziel, welches in dem Behandlungsplan
Ähnliches erfolgt auf dem Gebiet des Neuropsycho- der einzelnen Fachbereiche berücksichtigt wird.
logen. In der interdisziplinären Teambesprechung
informiert der Physiotherapeut alle Therapeuten Fallbeispiel (Fortsetzung): Das im interdisziplinären
über die Problematik der subluxierten, schmerz- Team festgelegte Rehabilitationsziel von Hr. Au lau-
haften Schulter eines Patienten. Ein korrektes tet: Innerhäusliche Selbstständigkeit mit leichter Un-
Handling sowie eine adäquate Sitzhaltung und La- terstützung durch die Ehefrau. Ein daraus abgeleite-
gerung der Extremität im Rollstuhl sind Faktoren, tes physiotherapeutisches Ziel: Angehörigenanlei-
welche die Problematik lindern. Der Neuropsycho- tung zur Hilfestellung beim Gehen mit Hr. Au.
loge sowie alle am Behandlungsprozess Beteiligten
berücksichtigen diese Kenntnis im Umgang mit „Ein reflektiertes, gemeinsames therapeutisches
dem Patienten. Handeln ermöglicht es, von starren Programmen
Diese Form der Zusammenarbeit wird inter- abzuweichen, auf die individuellen Bedürfnisse
disziplinäre Teamarbeit genannt. Das Team setzt der Patienten einzugehen und damit langfristig
sich aus unterschiedlichen Berufsgruppen zusam- die Effizienz von Rehabilitation zu erhöhen
men: Pflegekräfte, Neuropsychologen, klinische (Drechsler 1999:63).

1.4 Schwerpunkt Physiotherapie: Fördern des motorischen


Lernens zur Verbesserung der motorischen Kontrolle
Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte noch die sam entwickelt, wie bei einer progressiven Muskel-
pessimistische Annahme, dass das Gehirn ein stati- erkrankung, in all diesen Fällen muss sich das neu-
sches Konstrukt sei mit rigide festgelegten neuro- ronale System reorganisieren, es muss sich verän-
nalen Strukturen, ohne die Möglichkeit zur Rege- dern und es muss wieder lernen (Mulder 2001).
neration nach einer Läsion (Ramon y Cajals 1928). Aber wie lernt das geschädigte Gehirn motorische
Kaum 10 Jahre später änderte sich die Betrach- Fähigkeiten? Und kann es dabei beeinflusst wer-
tungsweise. Foerster (1936) berichtete von der den? Das Wiedererlernen motorischer Funktionen,
Plastizität des Gehirns und beschrieb aufgrund des- nach einer Gehirnläsion, so Mulder, ist das Ergebnis
sen Behandlungsmaßnahmen für die neurologische einer Kombination zwischen den spontan auftre-
Rehabilitation. Besonders die Weiterentwicklung tenden Mechanismen (Spontanremission) und
bildgebender Verfahren, wie z. B. der Positronen- einem sorgfältig geplanten und angewandten Lern-
Emissions-Tomographie (PET), und elektrisch-mag- programm. Das bedeutet, dass Physiotherapeuten
netischer Verfahren, wie z. B. der funktionellen in den Prozess der Funktionsrestitution eingreifen
Kernspintomographie (fMRT), ermöglichte es, Hirn- können. Die Integration der Kenntnisse über die
funktionen zu lokalisieren und die Reorganisation neuronale Plastizität und über das motorische
nach Hirnläsionen zu untersuchen. Viele Untersu- (Wiederer-) Lernen in die Methoden der motor-
chungen folgten und ihre Ergebnisse unterstrichen ischen Rehabilitation steigert die Effektivität phy-
deutlich, dass das zentrale Nervensystem eines siotherapeutischer Intervention.
ausgewachsenen menschlichen Gehirns ein plasti- Ein Beispiel für die Fähigkeit des ZNS, motori-
sches System ist, welches die Fähigkeit zur Adap- sche Fähigkeiten nach einer zentralen Läsion wie-
tion und Reorganisation besitzt. Ganz gleich, ob der zu erlernen: Untersuchungen weisen darauf
die Läsion zentral oder peripher ist, ob sie plötzlich hin, dass „Input“ die notwendige Bedingung für
eintritt, wie bei einem Schlaganfall oder sich lang- das Lernen im Allgemeinen ist. Ohne irgendeine

Hüter-Becker (Hrsg.), Physiotherapie in der Neurologie (ISBN 9783131294838), © 2016 Georg Thieme Verlag KG
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1.4 Schwerpunkt Physiotherapie: Fördern des motorischen Lernens zur Verbesserung der motorischen Kontrolle 7 1
Form von „Input“ verfallen die zentralen Netz- Ein anderer, sehr wesentlicher Aspekt der neuro-
werke. Grillner (1981), beispielsweise, zeigte im nalen Plastizität ist die Modifikation der kortikalen
Tierexperiment, dass die Schrittbewegungen bei Repräsentation von Bewegungen durch Afferenzen
spinalisierten Katzen nur erfolgten, wenn ein affe- (Lernen z. B. mittels Feedback und Erfahren). Tran-
renter Input gegeben wurde. Durch die Bewegung siente (vorübergehende, einer „Zwischenspeiche-
der Beine auf dem Laufband werden propriozeptive rung“ entsprechende) Veränderungen der kortika-
und kutane Afferenzen erregt, diese regen spinale len Repräsentation lassen sich durch das Erlernen
Lokomotionszentren an, die sogenannten „zentra- von Bewegungsaufgaben induzieren. Bekannt ist
len Mustergeneratoren“ oder „Central Pattern Ge- die Größenzunahme des kortikalen Repräsen-
nerator“ auf Rückenmarksebene, welche die Fähig- tationsgebietes der Finger der linken Hand nach
keit in sich besitzen, sich rhythmisch zu entladen. besonders intensiv geübten Bewegungen.
Wernig (1992) und Dietz (1995) wandten diese Er-
kenntnisse erfolgreich in der Behandlung von para- Mittels bildgebenden Verfahren konnte gezeigt wer-
plegischen Patienten an. Durch intensives Lauf- den, dass häufiges Üben ähnlicher Fingersequenzen
bandtraining konnten koordinierte Beinbewegun- (z. B. beim Violinenspiel) das kortikale Repräsenta-
gen wieder erreicht werden. Im Verlauf des Trai- tionsareal der Finger vergrößern kann. Diese Ergeb-
nings waren Lerneffekte erkennbar. Besonders die nisse sprechen für eine ausgeprägte neuronale Plas-
Patienten mit inkompletter Paraplegie zeigten in tizität des gesunden Erwachsenen.
den meisten Fällen eine deutliche Verbesserung
ihrer Gehleistung auf normalem Untergrund. Spontane Rückbildung und neuronale
Plastizität nach Schlaganfall
1.4.1 Nutzen der neuronalen Plastizität Auch die Befunde zur Plastizität nach einer Schädi-
Klaus Scheidtmann gung des Gehirns sind bemerkenswert. Verände-
rung der neuronalen Aktivität werden sowohl in
„Die Regeneration durchtrennter Neurone im ZNS der Umgebung der Hirnschädigung als auch in ent-
des Menschen ist nie überzeugend demonstriert fernt gelegenen Regionen beobachtet. Intrazel-
worden. In den meisten Fällen bleibt nur die An- luläre Ableitungen im fokal geschädigten motor-
nahme, dass intakte Nervenfasernverbindungen ischen Kortex von Primaten haben gezeigt, dass
die Funktion des geschädigten Gewebes überneh- die Zahl von intakten Neuronenverbänden in der
men“. Diese ernüchternden und zugleich ermu- unmittelbaren Umgebung der Läsion mit der Zeit
tigenden Worte stammen aus einem Erfahrungsbe- weiter abnimmt – möglicherweise als Folge eines
richt des norwegischen Neuroanatomen Alf Brodal, eingeschränkten Gebrauches der gelähmten Extre-
der selbst von einem Schlaganfall betroffen war. mität oder durch Unterbrechung intrakortikaler
Die Behauptung hat z. T. heute noch Gültigkeit Verbindungen. Dieser Verlust an intaktem Gewebe
und kann aufgrund neuer physiologischer Erkennt- kann durch ein intensives rehabilitatives Training
nisse entsprechend unterstützt werden. verhindert werden. Gleichzeitig kommt es durch
das Training zu einer Größenzunahme jener Korte-
Neuronale Plastizität xareale, in denen die trainierten Extremitäten
repräsentiert sind.
Neuronale Netzwerke können durch Lernen und
Erfahrung beeinflusst und verändert werden. Die Funktionsübernahme einzelner kortikaler Areale
Diese Veränderungen sind sowohl auf molekularer im Falle einer Schädigung eines einzelnen nennt
(chemische Plastizität) als auch auf struktureller man neuronale Plastizität.
Ebene (anatomische Plastizität) gut beschrieben.
Basierend auf tierexperimentellen Untersuchungen Sie ist letztendlich eine Substitution auf paralleler
konnte gezeigt werden, dass sich bei jungen Ver- (Hirn-)Ebene und entspricht nicht der hierarchi-
suchstieren, die in ihrer Umgebung Zugang zu ver- schen Ordnung, wie sie z. B. noch von Sherrington
schiedenen Aktivitäten und Spielzeug haben und 1969 angenommen wurde. Mithilfe von funktio-
zusätzlich interagieren können, mehr dendritische nell-bildgebenden Verfahren, wie dem PET
Verzweigungen (neuronale Verknüpfungspunkte) (Positronenemissionstomogramm) oder der funk-
und mehr Synapsen/Neuronen entwickeln. Sie zei- tionellen Kernspintomographie, lassen sich bei
gen auch eine höhere Genexpression als Versuchs- Schlaganfall-Patienten mit guter funktioneller
tiere, die in einfachen Käfigen aufwachsen. Rückbildung ebenfalls kortikale Reorganisations-

Hüter-Becker (Hrsg.), Physiotherapie in der Neurologie (ISBN 9783131294838), © 2016 Georg Thieme Verlag KG
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