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Hüter-Becker (Hrsg.), Physiotherapie in der Neurologie (ISBN 9783131294838), © 2016 Georg Thieme Verlag KG
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1.4 Schwerpunkt Physiotherapie: Fördern des motorischen Lernens zur Verbesserung der motorischen Kontrolle 7 1
Form von „Input“ verfallen die zentralen Netz- Ein anderer, sehr wesentlicher Aspekt der neuro-
werke. Grillner (1981), beispielsweise, zeigte im nalen Plastizität ist die Modifikation der kortikalen
Tierexperiment, dass die Schrittbewegungen bei Repräsentation von Bewegungen durch Afferenzen
spinalisierten Katzen nur erfolgten, wenn ein affe- (Lernen z. B. mittels Feedback und Erfahren). Tran-
renter Input gegeben wurde. Durch die Bewegung siente (vorübergehende, einer „Zwischenspeiche-
der Beine auf dem Laufband werden propriozeptive rung“ entsprechende) Veränderungen der kortika-
und kutane Afferenzen erregt, diese regen spinale len Repräsentation lassen sich durch das Erlernen
Lokomotionszentren an, die sogenannten „zentra- von Bewegungsaufgaben induzieren. Bekannt ist
len Mustergeneratoren“ oder „Central Pattern Ge- die Größenzunahme des kortikalen Repräsen-
nerator“ auf Rückenmarksebene, welche die Fähig- tationsgebietes der Finger der linken Hand nach
keit in sich besitzen, sich rhythmisch zu entladen. besonders intensiv geübten Bewegungen.
Wernig (1992) und Dietz (1995) wandten diese Er-
kenntnisse erfolgreich in der Behandlung von para- Mittels bildgebenden Verfahren konnte gezeigt wer-
plegischen Patienten an. Durch intensives Lauf- den, dass häufiges Üben ähnlicher Fingersequenzen
bandtraining konnten koordinierte Beinbewegun- (z. B. beim Violinenspiel) das kortikale Repräsenta-
gen wieder erreicht werden. Im Verlauf des Trai- tionsareal der Finger vergrößern kann. Diese Ergeb-
nings waren Lerneffekte erkennbar. Besonders die nisse sprechen für eine ausgeprägte neuronale Plas-
Patienten mit inkompletter Paraplegie zeigten in tizität des gesunden Erwachsenen.
den meisten Fällen eine deutliche Verbesserung
ihrer Gehleistung auf normalem Untergrund. Spontane Rückbildung und neuronale
Plastizität nach Schlaganfall
1.4.1 Nutzen der neuronalen Plastizität Auch die Befunde zur Plastizität nach einer Schädi-
Klaus Scheidtmann gung des Gehirns sind bemerkenswert. Verände-
rung der neuronalen Aktivität werden sowohl in
„Die Regeneration durchtrennter Neurone im ZNS der Umgebung der Hirnschädigung als auch in ent-
des Menschen ist nie überzeugend demonstriert fernt gelegenen Regionen beobachtet. Intrazel-
worden. In den meisten Fällen bleibt nur die An- luläre Ableitungen im fokal geschädigten motor-
nahme, dass intakte Nervenfasernverbindungen ischen Kortex von Primaten haben gezeigt, dass
die Funktion des geschädigten Gewebes überneh- die Zahl von intakten Neuronenverbänden in der
men“. Diese ernüchternden und zugleich ermu- unmittelbaren Umgebung der Läsion mit der Zeit
tigenden Worte stammen aus einem Erfahrungsbe- weiter abnimmt – möglicherweise als Folge eines
richt des norwegischen Neuroanatomen Alf Brodal, eingeschränkten Gebrauches der gelähmten Extre-
der selbst von einem Schlaganfall betroffen war. mität oder durch Unterbrechung intrakortikaler
Die Behauptung hat z. T. heute noch Gültigkeit Verbindungen. Dieser Verlust an intaktem Gewebe
und kann aufgrund neuer physiologischer Erkennt- kann durch ein intensives rehabilitatives Training
nisse entsprechend unterstützt werden. verhindert werden. Gleichzeitig kommt es durch
das Training zu einer Größenzunahme jener Korte-
Neuronale Plastizität xareale, in denen die trainierten Extremitäten
repräsentiert sind.
Neuronale Netzwerke können durch Lernen und
Erfahrung beeinflusst und verändert werden. Die Funktionsübernahme einzelner kortikaler Areale
Diese Veränderungen sind sowohl auf molekularer im Falle einer Schädigung eines einzelnen nennt
(chemische Plastizität) als auch auf struktureller man neuronale Plastizität.
Ebene (anatomische Plastizität) gut beschrieben.
Basierend auf tierexperimentellen Untersuchungen Sie ist letztendlich eine Substitution auf paralleler
konnte gezeigt werden, dass sich bei jungen Ver- (Hirn-)Ebene und entspricht nicht der hierarchi-
suchstieren, die in ihrer Umgebung Zugang zu ver- schen Ordnung, wie sie z. B. noch von Sherrington
schiedenen Aktivitäten und Spielzeug haben und 1969 angenommen wurde. Mithilfe von funktio-
zusätzlich interagieren können, mehr dendritische nell-bildgebenden Verfahren, wie dem PET
Verzweigungen (neuronale Verknüpfungspunkte) (Positronenemissionstomogramm) oder der funk-
und mehr Synapsen/Neuronen entwickeln. Sie zei- tionellen Kernspintomographie, lassen sich bei
gen auch eine höhere Genexpression als Versuchs- Schlaganfall-Patienten mit guter funktioneller
tiere, die in einfachen Käfigen aufwachsen. Rückbildung ebenfalls kortikale Reorganisations-
Hüter-Becker (Hrsg.), Physiotherapie in der Neurologie (ISBN 9783131294838), © 2016 Georg Thieme Verlag KG
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