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E R FA H R U N G
Nervenläsionen +++ Spastik +++ Pathologische Muster +++ Nervenentlastung +++ Neuraxis
Hintergrund mechanische Eigenschaften des Nerven- tems hervor. Er schrieb als Erster der
systems identifiziert, untersucht und Biomechanik des Körpers eine wichtige
Seit Ende des letzten Jahrhunderts sind definiert (5). Einschränkungen des longi- Rolle bei der Leistungsbeurteilung des
Tests für neurale Strukturen und das tudinalen und seitlichen Gleitens peri- Nervensystems zu.
Konzept der Neurodynamik, der sich pherer Nerven gegen ihre mechanischen
gegenseitig beeinflussenden physiologi- Berührungsflächen sowie deren extra- Die untrennbare Einheit von
schen und biomechanischen Eigenschaf- als auch intraneural stattfindende An- peripherem und zentralem Nerven-
ten des Nervensystems, fester Bestand- passung an Bewegung führen zu einer system
teil in der Behandlung von Schmerzsyn- Verminderung des Impulstransportes in Üblicherweise werden periphere und
dromen und unklaren Bewegungs- beide Richtungen (6). zentrale Läsionen getrennt voneinander
störungen in der Orthopädie. Unter motorischen und sensorischen betrachtet. Nach Butler (7) sollte man das
Auch die Osteopathie widmet sich den Defiziten leiden gerade Personen nach Nervensystem aufgrund seiner einheit-
Nerven, ihren Verläufen sowie deren erworbenen Hirnschädigungen. Es geht lichen strukturellen, elektrischen und
Manipulation (1, 2). Obwohl der Pionier also um diejenigen Aspekte der Neuro- chemischen Eigenschaften als ein Konti-
dieser Arbeit, Alf Breig, als Neurochi- dynamik, die sinnvoll in die Neuroreha- nuum sehen. Die Funktion jedes einzel-
rurg schon in den 1960er Jahren die bilitation integriert werden können. nen Teiles des Nervensystems ist immer
Bewegungen der Nerven untersuchte »Um das Nervensystem dazu zu brin- von allen anderen Teilen abhängig. Das
(3), hat seine Arbeit die Neurorehabilita- gen, seine funktionelle Integrität zu Nervensystem muss daher mehr in seiner
tion bisher nicht verändert. behalten, muss es durch jede denkbare Gesamtheit in den Fokus der therapeuti-
Ursprünglich sah man die Spannungs- Art von Zielgewebe ausgespannt wer- schen Überlegungen gestellt werden.
veränderungen innerhalb des Nervensys- den und damit seine Fähigkeit behalten, Bei der Durchführung der einzelnen
tems, adverse mechanical tension in the sich an jede Position und Körperbewe- Tests für periphere Nerven an asympto-
nervous system – AMT (4), isoliert. Im gung anzupassen« (7). Auch Bernstein matischen Versuchspersonen bekommt
Laufe der Zeit wurden auch andere bio- (8) hob die Bedeutung des Gesamtsys- man einen Eindruck, wie mobil >>>
periphere Nerven normalerweise sind, Man erkennt, dass die komplette Entlas-
und selbst am Ende ihrer vollständigen tung des N. medianus, die Umkehr des
Auffaltung immer noch verlässlich Im- neurodynamischen Tests, identisch mit
pulse transportieren, also motorische dem häufigsten spastischen Armmuster
Befehle weitergeben und für sensorische ist. Man findet dieses Muster auch beim
Rückmeldungen sorgen. Versuch des Patienten, sich aktiv zu
bewegen, beschrieben als Massensyner-
Störungen im Nervensystem gie (10), oder als assoziierte Reaktion
Ist das Nervensystem ein einziges Organ, (12) (siehe Glossar) bzw. globale Synki-
dann hat eine Läsion an einer Stelle Aus- nesie (13), ungewollte Mitbewegungen
wirkungen auf das gesamte restliche der betroffenen Körperteile.
System (7). Es kann nicht vorhergesagt Kann ein Therapeut passiv diese Reak-
werden, wo welche Reaktionen stattfinden tionen reproduzieren, spricht das eher
werden – vergleichbar mit dem Ziehen an für eine mechanische Einschränkung als Abb. 1_ Typische Stellung im Bett bei
einem Fädchen eines Spinnennetzes. Nur für eine willkürlich oder unwillkürlich Hemiplegie. Man sieht die komplette Ent-
lastung für den sakralen Plexus, die hoch-
wenige Autoren (9-11) haben sich überlegt, stattfindende »Mit-Bewegung«.
gezogene Schulter und die Lateralflexion
ob und wie eine zentrale Hirnläsion – eine Bei spastischen Patienten sind alle in der HWS als Zeichen für Entlastung des
Störung der Physiologie – eine mechani- genannten Komponenten während der Plexus brachialis, den Ellenbogen in Fle-
xion und den Unterarm in Supination als
sche Veränderung peripherer neuraler passiven Tests deutlich eingeschränkt.
Entlastung für den N. radialis. Die Hand-
Strukturen bewirken könnte. Kombinationen mehrerer Komponenten position ist mit diesem Foto nicht klar zu
Butler beschreibt in seinem Buch »Mobi- sind häufig nicht durchführbar. Die Ver- beurteilen, evtl. ein Mischbild aus Entla-
lisation des Nervensystems« (7) sogenann- schlechterung der Spastik könnte man stung für den N. medianus (Daumen und
Zeigefinger) und den N. radialis (andere
te »out-of-tension«-Positionen, die Perso- durch fortschreitende Immobilisierung
Finger)
nen automatisch und unbewusst einneh- neuraler Strukturen erklären, vor allem
men, um Schmerzlinderung zu erreichen. bei Patienten, die keine oder kaum Will-
Ich zeige Ihnen auf, wie die kompletten küraktivität zeigen. Hat ein Nerv seine N. ulnaris
Entlastungs- oder Umkehrpositionen für Verlängerungsfähigkeit noch nicht voll-
periphere Nerven nach einer Läsion des ständig eingebüßt, sind die Muster Testposition Gelenk Entlastung
ZNS aussehen – wenn sie ihre Fähigkeit, weniger stark ausgeprägt. Außenrota- G/H Innenrota-
tion tion
sich verlängernd an Bewegungen anzu-
Abduktion G/H Adduktion
passen, völlig verloren haben. Plexus brachialis
Flexion Ellenbogen Extension
Für den Plexus brachialis kommen fol- Supination Unterarm Pronation
gende Komponenten dazu: (Butler 1991)
Tests für die obere Extremität Dorsal- Handgelenk Palmar-
Testposition Gelenk Entlastung extension flexion
N. medianus Depression Skapula Elevation Extension Finger Flexion
LatFlex weg Abduktion Finger Adduktion
Testposition Gelenk Entlastung von der LF zur
Abduktion G/H Adduktion Testseite HWS Testseite
Ich beziehe mich bei diesem Test auf
Extension G/H Flexion
Außen- G/H Innen-
die Version mit Supination (7) im Unter-
rotation rotation Das komplette spastische Armmuster arm.
Extension Ellenbogen Flexion inklusive Schulter- und Kopfposition Der Patient, der darunter leidet, dass
Supination Unterarm Pronation (Abb. 1) ist demzufolge die komplette sein gestreckter Arm die meiste Zeit
DE Handgelenk PF Entlastungsposition für den Armplexus vorne in der Körpermitte »klebt«, zeigt
Extension Finger Flexion
und den N. medianus, dem wichtigsten mit diesem Muster die Entlastung für
Abduktion Finger Adduktion
Armnerv. den N. ulnaris. Oftmals ist es in diesem
Fall schwierig, den Ellenbogen zu beu- stungsstellung für den sakralen Plexus.
Testposition Gelenk Entlastung
gen. Es kann aber auch ein aktiver Beim Versuch, sie passiv von kaudal
Depression Becken Elevation
Patient sein, der versucht seinen Arm Protraktion Becken Retraktion beginnend aufzurichten, spürt man die
zu strecken. Die Streckung ist möglich, Adduktion Hüftgelenk Abduktion lumbale Steifigkeit. Meist spricht man
aber der Arm kann dabei nicht nach Innen- Hüftgelenk Außenrota- von einer geringen posturalen Kontrolle
außen gedreht oder die Hand geöffnet rotation tion bzw. verkürzter ischiokruraler Muskula-
Dorsalexten- oberes Plantarfle-
werden. tur (20). Ob das so ist, kann man aber
sion Sprunggelenk xion
erst nach einem gründlichen Clinical
Eversion unteres Inversion
N. radialis Sprunggelenk Reasoning feststellen, nach zusätzlichen
Extension Zehen Flexion Tests für Gelenke und der neuralen
Testposition Gelenk Entlastung Strukturen.
Innenrota- G/H Außenrota- Das ist das Muster, in dem Patienten in Ebenso wäre eine lumbale Rotation
tion tion
Rückenlage im Bett vorgefunden wer- zur Testseite verstärkend. Das ist not-
Abdduktion G/H Adduktion
Extension Ellenbogen Flexion
den, wenn sie nicht gelagert wurden (14, wendig, um einen langen Schritt machen
Pronation Unterarm Supination 15). Beim Versuch, aus dem Sitzen auf- zu können, und ist der auslösende
Palmarfle- Handgelenk Dorsal- zustehen, zieht das Bein bei Oberkörper- Faktor für den gegenläufigen Armpen-
xion extension vorlage in Knieflexion, statt eine verläss- del. Bei mangelnder neuraler Beweglich-
Flexion Finger Extension liche Stütze für das zu übernehmende keit fällt der Schritt entsprechend kürzer
Adduktion Finger Abduktion
Gewicht zu sein oder die Ferse hebt von aus.
der Unterlage ab. Man nennt das eine
Hier erkennt man das entsprechende mangelnde Inhibition (16), mangelnde PKB (»Prone knee bend«)
pathologische Muster nicht sofort. Aller- selektive Kontrolle (12), mangelnder für N. femoralis
dings gibt es Patienten, die ihre Hand in Haltungshintergrund (17) oder erklärt es
maximaler Supination auf dem Schoß als »dual task problem« (18): der Patient Testposition Gelenk Entlastung
liegen haben. In diesen Fällen scheint es kann sich nicht auf zwei Aufgaben Extension Hüftgelenk Flexion
eine deutlichere Mitbeteiligung des N. gleichzeitig konzentrieren. Flexion Knie Extension
radialis zu geben. Ich habe das Muster Denkt man aber an neurale Struktu-
mit Außenrotation G/H und Ellenbo- ren, könnten es Ausweichbewegungen Dieses Testbild erklärt bereits das Gang-
genflexion bisher eher bei Jugendlichen zu deren Entlastung sein. Durch die muster mit überstrecktem Knie bei nicht
oder Kindern beobachtet. Oberkörpervorlage benötigt der proxi- vollständiger Hüftstreckung, beschrie-
male Anteil des sakralen Plexus deutlich ben als Zirkumduktion oder »Wernicke-
mehr Länge. Aus diesem Grund kommt Mann-Gangbild« (21). Noch offensicht-
Tests für die untere Extremität es distal zu einer Entlastung. Dieser Zug licher wird es, nimmt man die proxima-
kann so stark sein, dass der Patient keine len Anteile des lumbalen Plexus dazu,
SLR (»Straight leg raise«) für Chance hat, aktiv mit seinen ohnehin die Nervenwurzeln L2-L4.
N. ischiadikus und N. tibialis schwachen und unkoordiniert arbeiten-
den Muskeln dagegen zu halten, obwohl Testposition Gelenk Entlastung
Testposition Gelenk Entlastung er die Aufgabe verstanden hat. Die pro- Depression Becken Elevation
Flexion Hüftgelenk Extension ximale Verlängerung für die lumbalen Protraktion Becken Retraktion
Extension Knie Flexion Nervenwurzeln (L4 und L5), die zusam- Flexion LWS Extension
Neuraxis – »Slump«-Test
rung behandelt werden, immer unter alles hängt zusammen und ist voneinan-
LITERATUR
Berücksichtigung eventuell vorhandener der abhängig. –
Veränderungen von Informationsauf-
nahme und -verarbeitung. Quellen (1) bis (27) unter:
Das zentrale Nervensystem, dessen
ABBILDUNGEN www.physiotherapeuten.de/exclusiv/
archiv/2010/pt02_kern_literatur.pdf
höchste Kommandozentrale das Gehirn Alle Fotos dieses Beitrags von Nora Kern
ist, baut sich wie ein Spinnennetz auf –
NORA KERN
Physiotherapeutin; 2001 Bobath Aufbaukurs-Instruktorin; 2005 NOI-
LESER FEEDBACK
Instruktorin für den Bereich Neurologie; seit 2003 INN Kurse für
Physio- und Ergotherapeuten; seit 1991 freiberuflich; klinische
Über Kritik und Anregungen würden
Supervisorin in Kliniken in Deutschland und Dänemark: Intensivsta- wir uns sehr freuen:
tion, Frühreha, weiterführende Reha und Schulen für mehrfachbe- pt.redaktion@pflaum.de
hinderte Kinder; Referentin. Kontakt: nlkern@online.de