Sie sind auf Seite 1von 196

5 Zentrales Nervensystem, Systema nervosum centrale,

Gehirn, Encephalon,
und Rückenmark, Medulla spinalis

Ingo Bechmann und Robert Nitsch,


unter Mitarbeit von Franz Pera, Andreas Winkelmann
und Frank Stahnisch

5.1 Baueinheiten und Morphogenese des Zentralen Nervensystems

5.1.1 Allgemeine Einführung und einer Nervenzelle (s. Kap. 2.6.2, S. 92), der
Grundlagen der Neuroanatomie Zellkörper (Soma oder Perikaryon), sowie
ihre meist kürzeren Fortsätze, die Dendriten,
empfangen Signale anderer Nervenzellen über
Lernziele: Zentrales Nervensystem (ZNS),
Synapsen. Der meist längere Fortsatz, das
Peripheres Nervensystem (PNS), Entwicklungs-
Axon, welches sich in seinem Verlauf vielfaltig
vorgänge, Neuronentheorie
aufzweigt, leitet diese Informationen als elektri-
sche Erregung zu nachgeschalteten Nervenzel-
Das Zentrale Nervensystem (ZNS) erlaubt es len oder zu Effektorzellen (wie Muskel- oder
dem Organismus, über die Sinnesorgane Signale Drüsenzellen) weiter. Die Signalweiterleitung
der äußeren Umwelt aufzunehmen, zu verarbei- zwischen Axon und nachgeschalteter Zelle,
ten, zu speichern und auf diese Umweltreize Innervation, wird in der Synapse durch eine
adäquat zu reagieren. Als auffällige Besonder- Umwandlung der elektrischen Informationen in
heit erfolgt im Nervensystem (ζ. B. im Gegen- ein chemisches Signal erreicht.
satz zum endokrinen System) die Signalweiter- • Auf diese Weise bildet sich ein Netzwerk von
leitung entlang von Bahnen, die von Zellfort- Nervenzellen aus, die miteinander im Infor-
sätzen gebildet werden. Deshalb sind sämtliche mationsaustausch stehen. Netzwerke weisen
direkt am Prozess der Informationsverarbeitung typischerweise eine morphologisch spezifische
beteiligten Zellen des ZNS, die Nervenzellen neuronale Verschaltung auf und organisieren
oder Neurone, als Empfanger-Senderstrukturen sich in funktionell hierarchisch übereinander
ausgebildet (Abb. 5.1). angeordneten Einheiten.

Im Verlaufe der Ontogenese verschalten sich


Allgemeine Begriffe Input/Output-Systeme zunehmend zu komple-
xeren Schaltkreisen, die als Resultat das Gehirn
• Neuron. Es stellt die funktionelle Grundeinheit
und das Rückenmark, als die beiden Anteile
des Nervensystems dar. Die rezeptiven Anteile

Synapse

präsynaptisches postsynaptisches
Neuron Neuron
Erregungs-
übertragung =
afferente Neurotrans- efferente
Erregungsleitung mission Erregungsleitung
(elektrisch) (chemisch) (elektrisch) (Bouton)

Abb. 5.1: Einfaches Input/Output-Schema von Nervenzellen, die Teil eines


neuronalen Netzwerkes sind

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
356 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

onale Gehirn gelangen). In welchem Maße die


des ZNS, ergeben. Die so entstandenen neuro-
Ausbildung und Funktion des ZNS genetisch
nalen Netze stellen Korrelate der funktionellen
determiniert ist oder durch äußere Einflüsse
Leistungen des ZNS dar.
geprägt wird, ist bis heute in der neurobiologi-
schen Forschung umstritten.
• Im Verlauf der Phylogenese nimmt die Komple-
• Plastizität. Neurone sind in der Lage, nach
xität dieses Schaltsystems ständig zu. Finden wir
Schädigung (ζ. B. Schlaganfall oder Schädel-
bei einfachen Lebewesen Nervensysteme mit
Hirn-Trauma, SHT) neue Verbindungen ein-
einer relativ geringen Anzahl von Nervenzellen
zugehen, um ausgefallene Funktionen zu kom-
(das Nervensystem der Nematode Caenorhab-
pensieren. Diese Kompensationsfähigkeit ist
ditis elegans hat ζ. B. nur etwa 2000 Nerven-
Grundlage der neurologischen Rehabilitations-
zellen), so enthält das zentrale Nervensystem
behandlung. Schädigungen des ZNS im frühen
des Menschen bis zu 10"'-10'2 Nervenzellen.
Kindesalter können relativ gut kompensiert
Hinzu kommen noch etwa 10 mal mehr Gliazel-
werden, während Läsionen beim Erwachsenen
len, die sich aus Astrozyten, Oligodendrozyten
meist zu bleibenden und nicht kompensierbaren
und Mikrogliazellen zusammensetzen (siehe
Funktionsausfällen führen.
Lehrbuch der Histologie).
• Gliazellen nehmen direkt (durch die Metaboli-
Zentrales und peripheres Nervensystem.
sierung von Überträgerstoffen, Neurotransmit-
Gehirn und Rückenmark, also das ZNS, und das
tern, oder die Bildung von Myelinscheiden)
periphere Nervensystem (PNS), welches sich
oder indirekt (durch die Produktion von Wachs-
aus den Nerven und deren Ganglien zusam-
tumsfaktoren oder die Phagozytose absterben-
mensetzt, entstehen aus dem selben Ursprungs-
den Materiales) auf die Funktion des Netzwerks
gewebe. Das PNS bringt Informationen aus dem
„ZNS" Einfluss.
Körper zum ZNS (afferente Bahnen) und leitet
• Die Nervenzellen müssen im Verlauf der
Informationen aus dem ZNS in die Organe und
Ontogenese ihren besonderen Ort und ihre spe-
den Bewegungsapparat (efferente Bahnen)
zifische Verschaltung mit anderen Nerven- und
(Abb. 5.2).
Effektorzellen finden. Gene steuern die Vermeh-
rung der Neurone, Proliferation, die Wande-
Dieses enge Zusammenspiel spiegelt sich in der
rung an ihren Bestimmungsort, Migration, und
Vernetzung beider Systeme wider, weshalb die
ihre morphologische und funktionelle Reifung,
Unterteilung in ZNS und PNS aus funktionellen
Differenzierung.
Gründen nicht immer sinnvoll ist. So befinden
• Somatotopik. Die spezifische Verschaltung
sich etwa die Nervenzellkörper, deren Axone in
von Nervenzellen fuhrt häufig zu einer punkt-
peripheren Nerven die Muskeln des Bewegungs-
genauen neuronalen Repräsentation von ver-
apparats erreichen, im Vorderhorn des Rücken-
sorgtem Körpergebiet in definierten Arealen des
marks (α-Motoneuron). Demgegenüber befinden
ZNS: Somatotopik (gr. soma = Körper; topos =
sich die Zellkörper der sensiblen, aufsteigenden
Ort). '
Axone des Rückenmarkes teilweise in den Spi-
nalganglien (s. Kap. 2.6.5.1, S. 94), die dem PNS
Durch die Kombination funktioneller und topo-
zugerechnet werden. Deshalb wird in diesem Kapi-
graphischer Kenntnisse der Neuroanatomie
tel auch Bezug auf Anteile des PNS genommen.
kann aus dem neurologischen Befund (Frage:
„Welche Systeme funktionieren nicht?") häufig • Somatisches und autonomes Nervensystem.
auf den Ort der Schädigung (Frage: „Wo liegen Neben der Unterteilung in ZNS und PNS fasst
die ausgefallenen Systeme?") geschlossen man die neuronalen Systeme der bewussten
werden: Neurologisch-topische Diagnostik. Sinneswahrnehmung und der willkürlichen
Innervation der Skelettmuskulatur als soma-
• Synaptische Kontakte. Ihre Ausbildung wird tisches Nervensystem zusammen. Davon
während der Entwicklung von äußeren Einflüs- abzugrenzen ist das autonome Nervensystem
sen mitbestimmt (etwa durch Hormone, aber (s. Kap. 2.6.6, S. 98), welches die Funktion der
auch Medikamente, die die Mutter einnimmt inneren Organe weitgehend unbewusst steuert.
und die über den fetalen Kreislauf ins embry-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.1 Baueinheiten und Morphogenese des Zentralen Nervensystems 357

Die übergeordneten Steuerzentren beider Sys- Gehirn als Leitungsbahnen, Tractus, und sind
teme liegen im ZNS. nach Herkunft und Ziel gebündelt. Die Tractus
können verschiedene Regionen im Gehirn und
Rückenmark miteinander verbinden (also aus-
schließlich im ZNS verlaufen) oder als efferente

<o—CO und afferente Fasern eine Verbindung mit dem


PNS herstellen. In der makroskopischen Ansicht
Verarbeitung
zeigen sich solche Areale als weiße Substanz,
Substantia alba. Die weiße Färbung entsteht
Gehirn l J
durch die Umhüllung der Axone mit dem lipid-
reichen Myelin.
ZNS
Im Gehirn liegt die weiße Substanz unter der
grauen Substanz des Cortex, im Rückenmark
aber zur Oberfläche hin.

θ
Rücken-
mark

5.1.2 Frühe Entwicklung

ό Lernziele: Neuraiplatte, Neurairinne, Neural-


PNS
rohr, Neuraileiste, Hirnbläschen

• Neuraiplatte und Neurairohr. Am Ende der


3. Schwangerschaftswoche bildet sich im
Ektoderm, dorsal der Chordaplatte, die Neu-
Haut Muskelfasern
(Rezeptoren) / (Effektoren)
ralplatte. Die Chorda dorsalis (s. Kap. 3.5.1.2,
S. 142) induziert die Proliferation ektodermaler
Zellen, aus denen später sämtliche Bestandteile
Abb. 5.2: Einfaches Schema zum peripheren/zentralen des ZNS mit Ausnahme der Mikrogliazellen
und somatischen Nervensystem (s. u.) hervorgehen. Durch Proliferation und
Migration dieser ektodermalen Zellen kommt
• Graue Substanz. Die Nervenzellkörper lagern es zur Ausbildung von Neuraiwülsten mit einer
sich im Laufe der Entwicklung zu mehr oder dazwischen gelegenen Neuralrinne, die etwa
weniger großen Gruppen oder in Schichten ab dem 20. Tag der Embryonalentwicklung
zusammen. In der Hirnrinde, dem Cortex, in gut erkennbar wird. Durch Verschmelzung der
den Kerngebieten des ZNS, den Nuclei, oder Neuraiwülste ab dem 22. Tag verschließt sich
den Säulen des Rückenmarks, Columnae, die Neuralrinne zum Neurairohr. Gleichzeitig
befinden sich die Zellkörper, Somata, der kommt es zur Abtrennung der Neuraileisten, aus
Nervenzellen dicht beieinander. Bei der makro- denen sich die sensiblen Ganglien entwickeln
skopischen Inspektion des Gehirns fallen diese (s. u.). Die Bildung des Neurairohres beginnt
Areale als graue Substanz, Substantia grisea, zentral, breitet sich sowohl in rostraler als auch
auf. Innerhalb der Substantia grisea verbleiben in kaudaler Richtung aus und ist am 25. Tag
auch meist die kurzen afferenten Dendriten, die abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt bleiben
Informationen empfangen und zum Soma leiten. lediglich das rostrale Ende des Neurairohres als
Sie sind Ziel verschiedenster Axone anderer Neuroporus anterior und das kaudale Ende als
Nervenzellen, die mit ihnen sowie mit den Neuroporus posterior geöffnet. Am 26. Tag
Somata synaptische Kontakte ausbilden. kommt es zum Verschluss des Neuroporus ante-
• Weiße Substanz. Die Axone, welche die Infor- rior und 1 bis 2 Tage später zum Verschluss des
mationen als efferente Fortsätze von Nervenzell- Neuroporus posterior (Abb. 5.3).
körpern oft über große Distanzen hinweg bis zu
den nachgeschalteten Zellen leiten, verlaufen im
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
358 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Blutinsel
\
Haftstiel
Amnionepithel \
\ \
\

Amnionhöhle
X / Ektoderm
/
/
/

Mesoderm
Neuraiplatte /
/
y
s- Entoderm

sekundärer Dottersack

Chordaplaue Neuralleiste
(induziert darüberliegendes
Neuroektoderm)

Neuralrinne „ , ... .
t Neuraiwulste
/ /
Amnionhöhle
\
\
\ Gehirnanlage

Amnionepithel
— Ektoderm

Seitenplatten- ^ • Mesoderm
mesoderm (parietales Blatt)

Mesoderm
intermediäres - (viszerales Blatt)
IS \
Mesoderm I \
ι Dottersackepithel
Ursegment
höhle
Dottersack

Abb. 5.3: Querschnitt durch die frühe Keimscheibe (3 schematische Darstellungen). Diese Zeichnungen zeigen
die Entwicklung des Neurairohres: a) Neuraiplatte (ca. am 16. Tag), b) Neurairinne (ca. am 18. Tag) und c) Neu-
ralrohr (ca. am 25. Tag)

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.1 Baueinheiten und Morphogenese des Zentralen Nervensystems 359

Hautektoderm Neuroporus anterior


ι /
I
Neurairohr
ι
I
Neuralleiste

Mesoderm
(Ursegment) ""

nephrogener
"Strang

Amnion

~ — dorsale Aorta
/
/
parietales Blatt Coelom /
des Mesoderms /
Chorda dorsalis """ Darmanlage

"" - Dottergang

viszerales Blatt Dottersackrest


des Mesoderms

Im Gefolge kommt es zu einer starken Prolife- nals ohne funktionelle Ausfalle kommt, als auch
ration der neuroektodermalen Zellen, die sich die Spina bifida aperta vor, bei der sich die kau-
zunächst in neuronale, im 3. Trimenon auch in dalen Anteile des Rückenmarkes nicht ausbilden
gliale Zellen (Astrozyten und Oligodendrozy- können. Durch diese schwerwiegenden Struk-
ten) ausdifferenzieren (Abb. 5.4). Die Mikro- turveränderungen sind vielfaltige funktionelle
gliazellen entstammen dem Mesoderm und Störungen bedingt (s. Kap. 3.5.1.2, S. 142, Kap.
wandern im Rahmen der Vaskularisation in das 8.1, S. 629).
ZNS ein. Sie sind die ortsständigen Makropha-
gen des Gehirns. • Neuralleiste. Während des Neuralrohrschlus-
ses trennen sich dorsolateral gelegene Zellen
Klinik: 1. Störung des Neuralrohrschlusses ab, welche die Neuralleiste ausbilden (s. Kap.
führt im rostralen Bereich, also im Bereich 3.5.1.2, S. 142). Aus diesem Zellmaterial ent-
des Neuroporus anterior, zu Gehirnfehlanla- wickeln sich Zellgruppen, die sich später zu
gen, im drastischsten Fall zum Anenzephalus. den sensiblen Spinal- und Hirnnervenganglien
Anenzephale Kinder werden zwar in seltenen formieren. Andere Zellen wandern auf das innen
Fällen geboren, sind aber nicht lebensfähig. 2. gelegene Entoderm zu und entwickeln sich
Verschlussstörungen des Neuroporus posterior dabei zu den vegetativen (autonomen) Gang-
fuhren zum Krankheitsbild der Spina bifida. lien der Eingeweidenerven, den chromaffinen
Hierbei kommen sowohl die gedeckte Form, Zellen des Nebennierenmarks und den Gliazel-
Spina bifida occulta, bei der es nur zu einem len des PNS (den Schwann-Zellen). Auch die
mangelnden Verschluß des späteren Wirbelka- Melanozyten der Haut entwickeln sich aus der
Neuralleiste.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
360 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

mesenchymale Zelle

Abb. 5.4: Schema der zellulären Entwicklungslinien im Z N S (nach Moore 1990)

5.1.3 Entwicklung des Rückenmarks teilen. Im Bereich dieser Proliferationszone


wandern Zellen vom Boden des ventrikulären
Anteils in Richtung der pialen Oberfläche. Die
Lernziele: Mantel- und Marginalzone, Grund-,
ventrikuläre Zone umgibt später im Bereich
Flügel-, Boden- und Deckplatte, Entwicklung
des Rückenmarks den Zentralkanal, Canalis
der Spinalganglien und des Zentralkanals,
centralis. Er stellt somit den Rest des Neu-
Rückenmarksaszensus
ralrohrlumens dar. Die noch undifferenzierten
neuroektodermalen Zellen teilen sich wiederholt
• Neurairohrschluss. Danach entwickelt sich der
mitotisch und verändern ihre Form, wobei sie
rostrale (prächordale) Teil über die primären
schmale zytoplasmatische Fortsätze in Richtung
Hirnbläschen weiter zu den sekundären Hirn-
der pialen Oberfläche ausbilden. Während der
bläschen. Das Rückenmark bildet sich aus den
mitotischen Teilung wandern die Zellkörper
kaudal der Hirnbläschen gelegenen Abschnitten
dann in Richtung des Lumens.
des Neurairohrs. In der Wand kommt es zur
• Nach abgeschlossener Zellteilung migrieren
Ausbildung der zentral gelegenen ventrikulären
sie auf die Außenseite, wo sie die Mantelzone
Zone, in welcher sich die Zellen sehr schnell
bilden. Die noch unreifen Neurone entwickeln
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.1 Baueinheiten und Morphogenese des Zentralen Nervensystems 361

Fortsätze, die in die Marginalzone auswachsen. • Rückenmarksform. Durch die Zellprolifera-


Im ausgereiften Rückenmark findet sich schließ- tion in Grund- und Flügelplatte, welche beim
lich die graue Substanz mit den Nervenzell- adulten Menschen die schmetterlingsförmige
somata in der Mantelzone. Demgegenüber graue Substanz des Rückenmarkes (s. Kap.
liegen in der Marginalzone die axonalen Faser- 5.2.7.4) ausmachen, sowie das Auswachsen
trakte des Rückenmarks, welche die weiße Sub- axonaler Fortsätze, die als weiße Substanz der
stanz bilden. Durch unterschiedliches Dicken- Marginalzone Verbindungen zu anderen Berei-
wachstum formiert sich an beiden Innenseiten chen des ZNS aufnehmen, entsteht die endgül-
des Neurairohrs eine längs verlaufende Rinne, tige Form des Rückenmarks. Von der zentralen
der Sulcus limitans, welcher nach ventral die Höhle des Neurairohrs bleibt der mit Ependym
Grundplatte und nach dorsal die Flügelplatte ausgekleidete Canalis centralis übrig, welcher
abtrennt (Abb. 5.5). beim Erwachsenen weitgehend obliteriert ist.
Π Spinalnerven. Die aus dem Material der Grund-
Deckplatte dorsal
platte entstehenden motorischen Nervenzellen
im späteren Vorderhorn des Rückenmarks
senden efferente Fasern in Richtung ihrer
Matrix oder
Rügelplatte späteren Erfolgsorgane, der Skelettmuskeln.
Keimschicht Zeitgleich entsteht aus dem Material der Neu-
— - S u l c u s limitans ralleiste eine lateral der Rückenmarksanlage
Canalis centralis —-/~~·τϊ:Μ
gelegene Nervenzellansammlung, die sich zum
Spinalganglion differenziert. Dort nehmen die
Mantelzone
Grundplatte zunächst bipolaren Zellen ihre typische Form
(graue Substanz)
als pseudounipolare Neurone an. Ihre Dendriten
Marginalzone
(weiße Sustanz) stellen Verbindungen zu spezialisierten Rezepto-
ren her oder enden als freie Nervenendigungen
Bodenplatte
ventral in verschiedenen Organen und der Haut. Die
sensiblen Informationen gelangen über diese
Abb. 5.5: Querschnitt durch die Anlage des Rücken-
Dendriten zum Zellkörper. Die Axone der bipo-
marks. Die Zellen des Neuroektoderms haben sich
ungleichmäßig vermehrt, wodurch die Deck- und
laren Fortsätze treten über die Hinterwurzel ins
Flügelplatte sowie die Grund- und Bodenplatte ent- Rückenmark ein, wo sie an Neuronen des Hin-
standen sind. Auswachsende Axone legen sich ober- terhorns enden oder als Hinterstrangbahn ohne
flächlich an die Zellschichten an und bilden die weiße weitere Umschaltung bis ins verlängerte Mark,
Substanz der Marginalzone Medulla oblongata, aufsteigen. Gemeinsam
mit den vorgenannten efferenten Axonen der
• Zwischen den beiden Grundplatten findet sich Vorderhornneurone, die durch die Vorderwurzel
die Bodenplatte. Die Flügelplatten sind durch das Rückenmark verlassen, bilden die afferenten
die Deckplatte verbunden. Die Boden- und Dendriten der Spinalganglienzellen am Fora-
Deckplatte bleiben in der Entwicklung zurück. men intervertebral den Spinalnerven (s. Abb.
5.6 und Kap. 2.6.5.1, S. 94).
Aus der Grundplatte entwickeln sich die größe-
ren ventralen und kleineren lateralen Kernsäu- Der Abschnitt des Rückenmarkes, dessen Wur-
len des Rückenmarks. Ventral ordnen sich die zelfasern sich zu einem Spinalnerven vereinen,
somatomotorischen Neurone und lateral die wird als Rückenmarkssegment bezeichnet
präganglionären viszeromotorischen (vegeta- (ζ. B. Segment L5: Der Abschnitt des Rücken-
tiven) Neurone an. Die Zellkörper der Flügel- markes, dessen Wurzelfasern den 5. lumbalen
platte bilden weiter nach dorsal die Kernsäulen Spinalnerven bilden).
zunächst der viszero-, dann der somatosensib-
len Neurone. Diese Gruppierung funktionell • Rückenmark/Wirbelkanal. Im dritten Embryo-
gleicher Neurone in abgrenzbare Kernsäulen nalmonat befinden sich die jeweiligen Segmente
bleibt im adulten Rückenmark erhalten (s. Kap. des Rückenmarks und die dazu gehörigen Fora-
5.2.7). mina intervertebralia zwischen 2 Wirbelkörpern

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
362 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Rückenmark Radix dorsalis Axon


/ (Hinterwurzel) ι S pinalganglion

pseudounipulare
Spinalganglionzelle

Dendrit
Motoneuron -
Nervus spinalis
(Spinalnerv)

Radix ventralis
(Vorderwurzel)

Eingeweide
— — sensible
Nervenfasern
motorische , „ —
(von Rezeptoren
Nervenfaser
der Haut
quergestreifte bzw. Muskelspindeln
Muskelfasern ausgehend)

Abb. 5.6: Rückenmark mit austretenden Vorder- und Hinterwurzelfasern

auf annähernd gleicher Höhe. Im Verlauf des ventrale und dorsale Spinalnervenwurzeln zum
Körperwachstums bleibt das Rückenmark in Spinalnerven vereinen (s. Kap. 2.6.5.1, S. 94).
seiner Längenentwicklung im Vergleich zur
knöchernen Wirbelsäule zurück und es kommt Klinik: Beim Neugeborenen liegt der Conus
zum Aufsteigen des Rückenmarks im Spinalka- medullaris noch in Höhe des 3., beim Erwachse-
nal, Ascensus medullae spinalis. Am Ende des nen jedoch etwa in Höhe des 1. Lumbaiwirbels.
fünften Monats liegt das Rückenmarkssegment Auf Grund des Aszensus des Rückenmarks kann
S1 etwa 4 Wirbelkörper oberhalb des ersten unterhalb des Conus medullaris (mit einem
Sakralwirbels. Zur Zeit der Geburt entspringen Sicherheitsabstand zwischen den Dornfortsät-
die Fasern, welche die Wirbelsäule zwischen zen des 3. und 4. oder des 4. und 5. Lendenwir-
den Wirbelkörpern S1 und S2 verlassen, etwa bels) der den Liquor cerebrospinalis enthaltende
auf der Höhe des Wirbelkörpers LI aus dem Subarachnoidealraum (s. Kap. 5.3.2) von dorsal
Rückenmark (Abb. 5.7). Beim Erwachsenen punktiert werden. Hierdurch kann eine Ver-
befindet sich das kaudale Ende des Rücken- letzung des Rückenmarks vermieden werden,
marks, der Conus medullaris, etwa auf der wobei die Spinalnervenwurzeln der Cauda
Höhe der Wirbelkörper L1/L2. Auf dieser Höhe equina von der Punktionsnadel allenfalls zur
verjüngt sich der Conus medullaris abrupt zum Seite verdrängt werden (s. Kap. 8.1.4, S. 635).
nervenzellfreien Filum terminale, das am kau- Die Untersuchungstechnik der Lumbalpunktion
dalen Ende des Spinalkanals befestigt ist und ist für die Diagnose einer Vielzahl von Erkran-
so eine „Schleifspur" des Ascensus medullae kungen des ZNS (ζ. B. der Multiplen Sklerose)
spinalis darstellt. Daneben ziehen die Wurzelfa- entscheidend.
sern wie ein Pferdeschwanz als Cauda equina
zu ihren Foramina intervertebralia, wo sich

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.1 Baueinheiten und Morphogenese des Zentralen Nervensystems 363

Wirbelkörper Rückenmark
\ /

\
Spinalganglion der
Verlängerung der
Cauda equina = verlängerte
Radix dorsalis ans
Wurzel des Fila radicularia der Spinalnerven
1. Sakralnerven
1. Sakralnerven kaudal des Rückenmarks

a b c

Abb. 5.7: Längenwachstumsvergleich von Rückenmark und Wirbelsäule („Rückenmarksaszensus") sowie Bil-
dung der Cauda equina: a) Entwicklungsstadium ungefähr im 3. Schwangerschaftsmonat, b) am Ende des
5. Monats und c) beim Neugeborenen (nach L. Heimer, 1995)

5.1.4 Entwicklung des Gehirns und = Gehirn; en- = innen, drin, kephale = Kopf)· Der
der Ventrikelräume mediale Abschnitt des Prosenzephalonbläschens
bleibt dazwischen relativ klein und bildet das Zwi-
schenhimbläschen des späteren Dienzephalons.
Lernziele: Hirnbläschen, Myelencephalon,
Metencephalon, Mesencephalon, Diencephalon, Das Mittelhirnbläschen zeigt nur ein geringes
Telencephalon. Scheitelbeuge, Nackenbeuge Wachstum. Hieraus entstehen später die Haube,
Tegmentum, und das Dach, Tectum.
Hirnbläschen. Noch vor dem Schluss des Das Rhombenzephalonbläschen teilt sich später
Neuroporus anterior bilden sich in der dritten weiter in das Myelenzephalonbläschen, die spätere
Embryonalwoche die 3 primären Hirnbläschen Medulla oblongata, sowie das Metenzephalonbläs-
aus. Von kaudal nach rostral entwickeln sich chen, aus dem das Kleinhirn, Cerebellum, und die
dabei auf die Rückenmarksanlage folgend Brücke, der Pons, hervorgehen.
(Abb. 5.8 und 5.9): das Rautenhirnbläschen, das
Das Telencephalon nimmt in der Folge so stark
spätere Rhombencephalon, danach das Mittel-
an Größe zu, dass es sich mit dem Diencephalon
hirnbläschen, das spätere Mesencephalon, und
verbindet und auch das Mesencephalon über-
schließlich das Vorderhirnbläschen, das spätere
wölbt. Aus den Endhirnbläschen entwickeln sich
Prosencephalon.
später die Großhirnhemisphären und -Kerne. Das
Rhombencephalon und Mesencephalon bilden den
In diesen 3 Bläschen hat sich der Hohlraum des
späteren Hirnstamm, Truncus encephali (cere-
ehemaligen Neurairohrs stark erweitert und die
bri). Somit entstehen aus den 3 primären später
Wandabschnitte zeigen ein unterschiedlich aus-
5 sekundäre Hirnbläschen (ohne Berücksichtigung
geprägtes Wachstum. Am größten wird schließlich
der Paarigkeit).
das Vorderhirnbläschen: Es buchtet sich beiderseits
lateral aus und ergibt so die (paarigen) Endhimbläs-
chen des späteren Telenzephalons (gr. encephalön
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
364 5 Zentrales N e r v e n s y s t e m , G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k

3 primäre 5 sekundäre Derivate der Hirnbläschen


Hirnbläschen Hirnbläschen beim Erwachsenen

Wand Hohlraumsystem

Großhirn- Seitenventrikel
hemisphären (I.+ 11.)
^ Telencephalon

Vorderhirn Thalamus
(Prosencephalon) Diencephalon III. Ventrikel
Hypothalamus

Mittelhirn *• Mesencephalon »• Mittelhirn Aquaeductus


(Mesencephalon) mesencephali

•Pons
• Metencephalon — oberer
Rautenhirn Cerebellum Teil _
(Rhombencephalon)
IV. Ventrikel
Myelencephalon
Medulla unterer
oblongata Teil

Rückenmark

Abb. 5.8 u n d 5.9: E n t w i c k l u n g s s c h e m a der H i r n a n l a g e (Bläschenstadien); n a c h K. L. Moore 1990

späteren Scheitellappen, das Hinterhorn in den


Aus dem Rhombenzephalonbläschen werden
Hinterlappen und das Unterhorn in den Schlä-
Myelencephalon und Metencephalon. Das
fenlappen (s. u. und Abb. 5.73).
Mesenzephalonbläschen bildet das Mesence-
• Scheitelbeuge, Nackenbeuge (s. Abb. 5.10,
phalon. Das Prosenzephalonbläschen formiert
11). Nach Ausbildung der sekundären Hirn-
sich zu Telencephalon und Diencephalon.
bläschen beginnt sich die Gehirnanlage zu
krümmen. In der dritten Embryonalwoche
• Ventrikel. Im Verlauf der Ontogenese verän-
entsteht im Bereich des Mittelhirnbläschens die
dern die Hohlräume der Bläschen ebenso ihre
Scheitelbeuge. Anschließend zeigt sich kaudal,
Gestalt. Der Zentralkanal des Rückenmarks
am Übergang zwischen Rhombenzephalonbläs-
setzt sich kranial in den Ventriculus rhomben-
chen und Rückenmark, die Nackenbeuge. Nur
cephali (quartus) fort, der durch 2 laterale Öff-
wenige Tage später kommt es ventral zwischen
nungen, Aperturae laterales (Luschkae), und
Scheitelbeuge und Nackenbeuge zu einer weite-
eine median liegende Öffnung, Apertura medi-
ren Krümmung, der Brückenbeuge. Hier bildet
ana (Magendii), mit dem äußeren Liquorraum
sich später der Pons.
verbunden ist. Der IV. Ventrikel geht rostral
in den Hohlraum des Mittelhirnbläschens über,
welcher sich zum späteren Aquaeductus cere- Hirnteile
bri röhrenförmig verengt und schließlich in den
1. Myelencephalon. Aus dem Myelencephalon ent-
Ventriculus tertius des späteren Dienzephalons
wickelt sich die Medulla oblongata, die sich ohne
mündet. Der Ventriculus tertius ist beiderseits
klare Begrenzung an das Rückenmark anschließt.
über das Foramen interventriculare (Monroi)
Jedoch sind im verlängerten Mark weiße und graue
mit dem rechten und linken Seitenventrikel,
Substanz anders angeordnet:
Ventriculi laterales, verbunden (s. Kap. 5.3.3,
S. 441).
Im Bereich des IV. Ventrikels kommt es nicht
• Hemisphärenwachstum. In vorwiegend fron- zu einer dorsalen Vereinigung der Flügelplat-
totemporaler Wachstumsrichtung fuhrt es zur ten, so dass die im Hinterhorn des Rücken-
ausgedehnten Bogenform der Seitenventrikel. marks liegenden somato- und viszerosensiblen
Hierdurch reicht das Vorderhorn in den Fron- Kerngebiete im Myelencephalon nicht dorsal,
tallappen hinein, der zentrale Bereich in den sondern lateral liegen. Die aus der Bodenplatte

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.1 Baueinheiten und Morphogenese des Zentralen Nervensystems 365

Isthmus Kleinhirnplatte
Kleinhirnplatte Scheitelbeuge. Metencephalon
Metencephalon"
Scheitelbeuge ^ Myelencephalon
— Myelencephalon Mesencephalon
Mesencephalon-
Nackenbeuge Corpus pineale
Nackenbeuge
Diencephalon - Diencephalon -
-Medulla spinalis Hemisphärenblase — - Sulcus limitans
Telencephalon - Telencephalon •^gs*-, \ % -Medulla spinalis

Augenblasenstiel Brückenbeuge Lamina Infundi- Brücken-


terminalis bulum beuge

Abb. 5.10: Krümmung der Gehirnanlage bei der Entwicklung vom 3-Bläschen- zum 5-Bläschenstadium unter
Ausbildung der Scheitel-, Brücken- und Nackenbeuge. Modell des Gehirns eines menschlichen Embryos von
7,8 mm Scheitel-Steiß-Länge (Lateral- und Medianansicht nach F. Hochstetter)

Diencephalon Mesencephalon Vierhügelplatte


N
i
Corpus pineale

Thalamus
- Isthmus

Telencephalon
" Cerebellum
Hypothalamus
dUnne Decke des
Foramen Rhombencephalon
interventriculare
Nucleus caudatus
Myelencephalon
Kommissurenplatte

/ \
Rhinencephalon / \ \ Medulla spinalis
Lamina terminalis Chiasmaplatte Infundibulum Metencephalon

Abb. 5.11: Modell des Gehirns eines Embryos von 19,4 mm Scheitel-
Steiß-Länge (Mediansagittalschnitt nach F. Hochstetter)

entstehenden somato- und viszeromotorischen Hemisphäre als auch im Vermis ein stark gefalteter
Kerngebiete, welche im Rückenmark ventral Cortex cerebelli mit darunterliegenden subkorti-
liegen, finden sich im Myelencephalon demge- kalen Kerngruppen. Am rostrobasalen Rand des
mäß am weitesten medial. Dieses Prinzip hilft Metenzephalons entsteht der Pons, in dem sich
auch beim Einprägen der topographischen Lage die Brückenkerne, Nucll. pontis, befinden. Dort
der Hirnnervenkeme. werden später Fasern aus dem Cortex cerebri in
das Cerebellum umgeschaltet. Diese Axone aus
2. Metencephalon. Aus dem Metencephalon dem Pons bilden dann beiderseits den Brückenarm,
entsteht dorsal die Kleinhirnanlage, die aufgrund Pedunculus cerebellaris medius, aus. Im Boden
der Brückenbeuge ihre besondere Form ausbildet. des IV. Ventrikels entwickelt sich die Brücken-
Zunächst entwickelt sich das Kleinhirn, Cerebel- haube, Tegmentum pontis. Dieser Bereich grauer
lum, beidseitig aus den Flügelplatten. Die Zellen Substanz gliedert sich später in Kerngebiete der
wachsen einerseits in Richtung des späteren vierten Hirnnerven und in die Formatio reticularis.
Ventrikels, andererseits mit der größten Massen-
3. Mesencephalon. Aus dem Mesencephalon ent-
zunahme nach dorsal. Die beiden zerebellären
wickeln sich Tectum und Tegmentum.
Anlagen vereinigen sich dorsal in der Mittellinie
und bilden den späteren Wurm, Vermis. Die lateral Aus der Flügelplatte entsteht das Tectum mit den
gelegenen Hemisphären zeigen zunehmend tiefe rostrokranial gelegenen Colliculi superiores und
Einkerbungen, Fissurae, zwischen denen sich den kaudodorsal gelegenen Colliculi inferiores.
die für das Kleinhirn typischen Foliae erheben Die Colliculi superiores stellen später wichtige
(Abb. 5.12). Somit entwickelt sich sowohl in der Zentren für visuelle Reflexe und die Colliculi inferi-

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
366 5 Zentrales N e r v e n s y s t e m , G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k

Lobus anterior (Palaeocerebellum)


Fissura prima

Ni Lobus caudatus

Nodulus Lobus med ι us (Neocerebellum) Fissura secunda

Lobus flocculo
nodularis
(Archicerebelltim)

Palaeocerebellum

Archicerebellum Fissura prima


Culmen ι
"s. , ^ Dedive
Neocerebellum
•— Folium

Lobulus centralis . Tuber

I iitgula — - ^ ,<·•.', Pyramis

Nodulus
Fissura secunda

Fissura posterolateralis

Abb. 5.12: O n t o g e n e s e d e s Kleinhirns ( n a c h K. Zilles 1994)

ores Umschaltstationen für das auditorische System mus. Dort befinden sich später Kerngebiete des
dar. Ebenso entstehen Neurone um den Aquaeduc- autonomen Nervensystems. Aus der Flügelplatte
tus mesencephali, die das zentrale Höhlengrau geht als größter Anteil des Dienzephalons der Tha-
bilden, aus der Flügelplatte. lamus (dorsalis) hervor. Er entwickelt sich in der
Wand des III. Ventrikels zeitgleich mit der Ausrei-
Aus der Grundplatte entsteht das Tegmentum mes-
fung des Cortex cerebri. In der zweiten Schwanger-
encephali als rostrale Fortsetzung des Tegmentum
schaftshälfte lassen sich im Thalamus Kerngruppen
pontis, das die Kerngebiete der oberen motorischen
abgrenzen, die sich parallel mit der Reifung spe-
Hirnnervenkerne (Nucl. n. oculomotorii und Nucl.
zifischer kortikaler Funktionen entwickeln. Am
n. trochlearis) enthält. Aus dem Tegmentum glie-
lateralen Rand der Deckplatte entsteht eine dritte
dern sich der Nucl. ruber und die Substantia nigra
nach rostral ab. Die noch weiter rostral liegen- Zwischenhirndach mit Ependym
den Hirnstiele, Pedunculi cerebri, wachsen mit [ - Tela choroidea)

Zunahme der Faserverbindungen zwischen Cortex


cerebri und Rückenmark ans Tegmentum an und
treten in die Brücke ein. Dabei bilden die abstei- j- Epithalamus
Ventriculus
genden Fasern aus dem Vorderhirn den Brücken- tertius
fuß, Pes pedunculi, während die hinteren Anteile - Thalamus
dieser Fasern durch das Tegmentum verlaufen, Sulcus
hypothalamicus 4 - Neuroektoderm
welches sowohl absteigende als auch aufsteigende
Fasern enthält. Hypothalamus

4. Diencephalon. Oberhalb des Mesenzephalons


ist der Sulcus limitans (Abb. 5.13) noch als Sulcus
hypothalamics sichtbar. Aus der dienzephalen Abb. 5.13: Querschnitt d u r c h d a s D i e n c e p h a l o n mit
Grundplatte entstehen dann der Subthalamus (der Epithalamus (dorsal), T h a l a m u s (Flügelplatte/lateral)
spätere Ncl. subthalamicus) und der Hypothala- und Hypothalamus (Grundplatte/basal)

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.1 Baueinheiten und Morphogenese des Zentralen Nervensystems 367

Wachstumszone, aus der sich später der Epithala- Bodenplatte des Dienzephalons, dem Hypothala-
mus bildet. Hier entstehen der Nucl. habenularis mus, wachsen im weiteren Verlauf der Entwicklung
und die Epiphyse. Sie liegt als unpaares Organ in auch das Infundibulum und die Neurohypophyse
der Mediansagittalebene. sowie die Corpora mamillaria aus.
5. Telencephalon, Cortex. Im Bereich des Telen-
Etwa in der dritten Embryonalwoche wächst aus
zephalons kommt es in den lateralen Abschnitten
dem dorsobasalen Thalamusbereich (dem späte-
zur stärksten Massenzunahme des ZNS, wobei im
ren Pulvinar) das Augenbläschen zur Linsen-
erwachsenen Gehirn die Hirnrinde, Cortex cere-
grube des Gesichts heran und bildet den Augen-
bri, den größten Teil der anderen Hirnteile über-
stiel aus. Der Augenstiel stülpt sich dort zum
deckt. Hierbei lassen sich 3 Wachstumsrichtungen
Augenbecher ein, dessen inneres Blatt durch die
unterscheiden: nach rostral, lateral und dorsal. Die
Zellen der späteren Netzhaut, Retina, gebildet
bei weitem größte Zunahme an kortikalen Zellen
wird. Der Augenstiel verlängert sich und wird
fuhrt in rostraler Wachstumsrichtung zur Ausbil-
zur Leitstruktur fur die Fasern des N. opticus
dung des späteren Frontallappens. Besonders
(vom Auge bis zum Chiasma) bzw. des Tractus
beim Menschen imponiert die Umschließung der
opticus (vom Chiasma bis zum Thalamus).
späteren Insel und die Wachstumsausrichtung nach
rostrobasal. Hierdurch trifft sich der untere Fron-
Durch das nach lateral gerichtete Wachstum thala- tallappenanteil später mit dem rostralen Pol des
mischer und hypothalamischer Areale des Rand- Temporallappens. In dorsaler Richtung entwickelt
bereichs ensteht die spaltförmige Öffnung des III. sich der Okzipitallappen (Abb. 5.14).
Ventrikels. Nach kranial ist er nur von einer dünnen
Ependymschicht und von mesodermalen Zellen
Der laterozentrale Anteil der Hemisphäre bleibt
bedeckt, die sich als Plexus choroideus in den
im Wachstum zurück und bildet später die Insel,
dritten Ventrikel einstülpen. Der rostrale Abschluss
Insula. Sie wird von rostralen, kranialen und
des dritten Ventrikels ist die Lamina terminalis,
dorsalen Anteilen der sich entwickelnden Hemi-
eine dünne Schicht prosenzephalen Gewebes an der
sphäre überwachsen: Operkularisation.
Stelle des vormaligen Neuroporus anterior. Aus der

Lobus insularis

Abb. 5.14: Schematische Darstellung der Überwachsung der Insel-


rinde (Operkularisation) durch Vergrößerung des Cortex cerebri.
Entwicklung des Polus frontalis, occipitalis et temporalis der Gehirn-
hemisphäre (nach K. Zilles 1994)

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
368 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Entwicklung der Oberfläche 5.1.5 Entwicklung der


1. Phyologenese des Cortex. Auf der basalen weißen Substanz
Oberfläche entsteht als ältester Teil der Hirnrinde
der Palaeocortex (von gr. palaios = alt, s. Kap. Lernziele: Myelinisierung des Marklagers, Ent-
5.2.5.1, S. 395), aus dem sich schon sehr früh eine wicklungsstörungen
leichte Verdickung bildet, die sich zum Riechkol-
ben, Bulbus olfactorius, entwickelt. Aus dem zen- • Myeliniserung. Die Entwicklung der weißen
tralen Anteil jeder Hemisphäre entsteht durch late- Substanz erfolgt später als die Entwicklung
rales Wachstum der Parietal- und Temporallappen, der grauen Substanz und ist eng mit der funk-
dessen basale Anteile (die spätere Area entorhinalis tionellen Reifung der Fasersysteme verknüpft.
und der Hippocampus) sich als früheste Strukturen Die Myelinisierung der Axone beginnt erst im
entwickeln und demnach als Archicortex bezeich- 3. Trimenon der Schwangerschaft und setzt sich
net werden (oder: Archipallium, gr. archaios = postnatal in den ersten beiden Lebensjahren fort.
uranfanglich, alt). Alle sich später entwickelnden Die Zunahme des Hirngewichts beruht dann
Hirnrindenteile werden dem Neocortex (Neopal- weitgehend auf diesem Vorgang. Im Rücken-
lium, gr. neos = neu,jung) zugerechnet. mark verdicken sich die auf- und absteigenden
Leitungsbahnen, wobei die phylogenetisch älte-
Der Neocortex ist einheitlich sechsschichtig und ren Bahnsysteme des Hirnstamms früher reifen
wird auch als Isocortex bezeichnet. Der phylo- als die jüngeren kortikalen Bahnsysteme, die der
genetisch ältere Palaeo- und Archicortex zeigt Willkürmotorik dienen.
eine heterogene Schichtung und wird deshalb • Fasersysteme. Die meisten Fasern bilden sich
als Allocortex bezeichnet. als Verbindungen innerhalb einer Hemisphäre
(Assoziationsfasern) oder zwischen den beiden
2. Sulzifizierung und Entwicklung der Gyri. Großhirnhemisphären (kommissurale Fasern)
Eine weitere Größenzunahme der kortikalen Ober- aus. Projektionsfasern, die den Cortex mit
fläche ergibt sich durch Einfaltung, Sulzifizierung, anderen Hirnteilen (ζ. B. dem Pons) verbinden,
und die dazwischen liegenden Windungen der bilden den kleinsten Anteil und konvergieren
Hirnrinde, Gyri. Als erste Kortexfurche wird der in der inneren Kapsel, Capsula interna. Die
Sulcus lateralis cerebri zwischen Frontal- und kommissuralen Fasern stellen die nächst grö-
Temporallappen sichtbar. Danach erscheint die ßere Gruppe dar und bilden in der Mittellinie
Zentralfurche, Sulcus centralis, als Grenze zwi- den Balken, das Corpus callosum, aus. Die
schen Lobus frontalis und parietalis (s. Abb. 5.20). menschliche Hirnrinde zeichnet sich besonders
Auf der medialen Seite bilden sich zwei weitere durch große Masse an Assoziationsfasern aus.
tiefe Furchen, der Sulcus parietooccipitalis als Alle 3 myelinisierten Fasersysteme (s. Kap.
Grenze zwischen Lobus parietalis und Lobus occi- 5.2.5, S. 395) bilden zusammen das subkortikale
pitalis, und der Sulcus calcarinus (Abb. 5.15). Marklager, welches sich zwischen dem Cortex,
den Telenzephalonkerngebieten und den Vent-
Am Ende des 1. Trimenons haben Gehirn und rikeln erstreckt. Im Cerebellum entwickelt sich
Rückenmark im wesentlichen schon die adulte verhältnismäßig wenig weiße Substanz, Rechts-
Gestalt angenommen. Auffallend ist die relativ Links-Verbindungen (kommissurale Fasern)
zum Endzustand überproportionale Größe der zwischen den Kleinhirnhemisphären fehlen.
Ventrikelräume zu diesem Zeitpunkt. Mit der Rei-
fung der Fasersysteme nimmt deren Lumen auf das
Klinik: Die seltene kongenitale Balkenagenesie
adulte Maß ab.
kann partiell oder komplett vorkommen und
mit Läsionen (ζ. B. umschriebenen Tumoren,
Blutungen oder degenerativen Prozessen)
benachbarter Strukturen, wie der gürtelförmi-
gen Windung, Gyrus cinguli, oder der durch-
scheinenden Scheidewand, Septum pellucidum,
vergesellschaftet sein. Häufig sind Patienten mit

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 369

von Gehirn und Rückenmark. Dieser Vorgang


ausgedehntem oder in seltenen Fällen auch voll-
besteht aber nachgeburtlich nicht wesentlich in
ständigem Balkenmangel klinisch unauffällig.
der Zunahme der Anzahl, sondern in der Ausbil-
Es können jedoch Symptome wie psychomo-
dung der typischen Nervenzellmorphologie und
torische Verlangsamung, epileptische Anfälle,
synaptischer Strukturen. Dendritenwachstum,
mentale Retardierung, Störungen der Okulomo-
die Ausbildung langstreckiger Verbindungen,
torik, motorische Koordinationsstörungen und
die Myelinisierung und die Zunahme des Extra-
Liquorzirkulationsstörungen auftreten.
zellularraums bringen das Gehirn auf seine
adulte Größe. Es wiegt beim Erwachsenen etwa
• Postnatale Entwicklung, Hirngewicht. Auch 1,1-1,3 kg (absolutes Hirngewicht) oder 20 g
nach Abschluss der Morphogenese kommt es pro kg Körpergewicht (relatives Hirngewicht).
noch während der Schwangerschaft, Säug-
lings- und Kleinkindzeit zur weiteren Reifung

5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS

zu beziehen, die die Längsachse des Vorderhirns


Lcrnziele: Makroskopische Gliederung des
bildet. Für die Lage des Hirnstamms bezieht man
ZNS, Großhirn in situ, Facies supcrolateralis,
sich auf die Meynert-Achse. Sie stellt eine Gerade
Facies medialis, Facies basalis; Lappengliede-
dar, die in der Mediansagittalebene am Boden des
rung, systematische und innere Gliederung des
IV. Ventrikels und durch das kraniodorsale Gefalle
ZNS, CCT- und MRT-Schichtungen
dieses Ventrikels verläuft. Die Richtungsbezeich-
nungen in diesem Kapitel sind daher im Einklang
mit dieser Achseneinteilung so gewählt, dass für
5.2.1 Hirnteile und Achsen das Gehirn einschließlich der Medulla oblongata
(„am stehenden Patienten") rostral = vorn, kranial
Forel- und Meynert-Achse (Abb. 5.15, 16). Es ist
= oben, dorsal = hinten und basal = unten bedeuten
allgemein üblich, sich zur Kennzeichnung der Lage-
sollen. Beim Rückenmark wird hier dagegen weit-
beziehungen des Großhirns auf die Forel-Achse

G y r u s cinguli S u l c u s cinguli S u l c u s centralis L o b u l u s paracentralis


\

γ --""" _ Praecuneus

- S u l c u s parietooccipitalis

G y r u s frontalis
Cuneus
superior

- S u l c u s calcarinus

- Gyrus occipitotemporalis medialis

• IV. Ventrikel
G y r u s rectus

; temporal

Abb. 5.15: Mediansagittalschnitt des Gehirns. Die einzelnen Hirnteile sind farbig gekennzeich-
net: Telencephalon = gelb; Diencephalon = blau; Mesencephalon = punktiert; Metencephalon
= grün; Myelencephalon = gestrichelt
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
370 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

gehend ventral = vorn, dorsal = hinten und kaudal 5.2.2 Die äußere Gestalt
= unten verwendet. des Großhirns
kram.il
Das Gehirn in situ. Das Gehirn liegt mit seinen
Hirnhäuten (s. Kap. 5.3.2, S. 433) der Schädel-
basis auf, so dass zahlreiche Windungen auf der
Innenseite der Basis cranii als Eindrücke, Impres-
siones gyrorum, sichtbar werden. Den Hirnfurchen
entsprechen einzelne Knochenerhebungen, Juga
cerebralia. Diese finden sich nur am Dach der
Augenhöhle, Orhita, und dem vorderen Abschnitt
der mittleren Schädelgrube. Die Schädelkalotte
ist innen, bis auf die Sulci arteriosi, glattwandig.
Somit passt sich die Schädelform der Gehirnform
an.

Nach Entnahme aus der Schädelhöhle unterschei-


det man 3 Ansichten des Gehirns:

Abb. 5.16: Richtungsbezeichnungen im Gehirn: End- 1. die Ansicht von oben und seitlich, Facies
hirnachse = Forel-Achse (Fo) und Hirnstammachse superolateralis hemispherii cerebri (die Konve-
= Meynert-Achse (Me) xität)

Polus frontalis

Dura mater zurückgeschlagen

Gyrus frontalis superior

— Subduralraum

- Gyrus frontalis medius

- Gyrus praecentralis

- Sulcus centralis

Gyrus postcentralis

Brückenvene

Fissura longitudinalis
cerebri

Polus occipitalis

Abb. 5.17: Facies superolateral hemispherii cerebri. Ansicht des Gehirns von kranial nach Entfernung der Schä-
delkalotte und Abheben der Dura mater. Blick auf die Arachnoidea mater
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 371

2. die Ansicht von medial, Facies medialis hemi- pitalis). Median wird das Telencephalon durch die
spherii cerebri, Fissura longitudinalis cerebri in die beiden Hemi-
3. die Ansicht von basal, Facies inferior hemi- sphären geteilt (Abb. 5.17).
spherii cerebri (die Hirnbasis).
Der Hemisphärenspalt wird durch eine Dura-
duplikatur, die Hirnsichel, Falx cerebri,
5.2.2.1 Ansicht von oben und seitlich eingenommen. Diese Falx stellt eine wichtige
(Facies superolateral hemispherii Struktur bei der Kammerung der Schädelhöhle
cerebri) dar (Abb. 5.18).

Von kranial betrachtet, erscheint das Gehirn als


Klinik: Durch die transfalxiale Einklemmung
Ellipsoid mit einem Stirn- (Polns frontalis oder
{Herniation), welche durch Volumenzunahme
rostralis) und einem Hinterhauptspol (Polus occi-

Corpus callosum

Falx cerebri angeschnittener Ventr.


lat. dext. ISeptum
Artena pericallosa
pellucidum entfernt)

Gt;nu corporis Corpus fornicis


callosi
Tela choroidea
Arteria cerebri ventriculi tertii
anterior
Adhaesio inter-
Area subcallosa thalamica

Anteil des Gyrus Splemum corporis


frontalis inferior callosi

Dura mater Tentorium cerebelli


cerebri
Substantia nigra
Schädelkalotte
Hirnstamm |in Höhe
des Mesencephalon
durchtrennt

Abb. 5.18: Strukturen der Mediansagittalebene (in s/foPräparat) nach Entfernung der linken Hemisphäre

= Gefäße durch Hirnsichel eingeklemmt


Gyrus cinguli
Artena perieailosa ^

Truncus corporus callosi

Faix cerebri
Genu corporus callosi — _ (eröffnet!

Arteria cerebri anterior Spien ι um corpor is


Ctillosi

Fornix
Septufn pellucidum
Epiphysis
Area subcallosa

Recessus opticus Lamina tecti

Chiasma optlcum
\
infundibulum / Corpus
\
Recessus mamillare | Aquaeductus
infundibularis Tegmentum mesencephali

Abb. 5.19: Transfalxiale Einklemmung


Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
372 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des Z N S 373

Tentorium cerebelli. Dieses wird durch die am


(z.B. bei Hirntumoren oder Massenblutungen)
Zeltfirst angewachsene Falx cerebri etwas empor-
des Gehirns bedingt wird, können Anteile
gehoben und seitlich zwischen Felsenbeinkante
des Gyrus cinguli unter der Hirnsichel, Falx
und Sinus transversus aufgespannt (Abb. 5.18).
cerebri, eingeklemmt werden. Hierbei werden
Das Tentorium lässt einen relativ engen Schlitz,
leicht Äste der A. cerebri anterior gequetscht,
die Incisura tentorii, offen, der nach rostral vom
so dass neurologische Ausfälle in ihrem Versor-
Keilbein, Os sphenoidale, begrenzt wird. Durch
gungsgebiet (ζ. B. eine beinbetonte Hemiparese)
den Tentoriumschlitz tritt das Mesencephalon
auftreten können, obwohl der ursprüngliche
hindurch. Der verbleibende enge Zwischenraum ist
pathologische Prozeß nicht dort lokalisiert ist
die einzige Kommunikationsmöglichkeit zwischen
(Abb. 5.19).
den mit Nervenwasser, Liquor cerebrospinalis,
gefüllten Subarachnoidealräumen oberhalb und
Seitlich gesehen wird die enorme Massenent- unterhalb des Tentoriums: Supra- und infratento-
wicklung des menschlichen Großhirns besonders rieller Raum.
deutlich. Es überlagert sämtliche anderen Hirnteile.
Nur die nach ventral weisende Brücke, Pons, das
Klinik: 1. Durch raumfordernde supra- wie
nach ventral weisende verlängerte Mark, Medulla
infratentorielle Prozesse kann es zum Hervortre-
oblongata, und das sich dorsal erstreckende Klein-
ten von Hirnteilen in den Tentoriumschlitz, Pro-
hirn, Cerebellum, bleiben sichtbar. Eine horizontal
trusion, und somit zur Tentoriumeinklemmung
verlaufende, tiefe Spalte, die Fissura transversa
kommen. Hierbei sind insbesondere Uncus und
cerebri, trennt die Hinterhauptslappen des Groß-
Gyrus parahippocampalis betroffen (s. Abb.
hirns vom Kleinhirn (Abb. 5.20).
5.21 und auch Abb. 5.77). 2. Als Folge können
Tentoriumschlitz. Die Fissura transversa reicht eine Verlegung des Aqueductus mesencephali,
tief nach rostral ins Gehirn hinein und trennt das Aquäduktstenose, sowie eine Mittelhirnkom-
Telencephalon vom Diencephalon ab. Deshalb pression auftreten. Wenn in diesem Stadium
wurde sie früher auch als Fissura telencephalico- keine Möglichkeit zur neurochirurgischen
diencephalis bezeichnet. Diese Spalte wird von Entlastung besteht, ist die Prognose für den
einem Durablatt eingenommen, dem Kleinhirnzelt: Patienten infaust.

A. cerebri post, dextra


I
Uncus ^ — Schnürfurche

Mittellinienverlagerung Substantia.
ausgeprägter •belassener
nigra
Tentorium raumfordernder Tentoriumrand
cerebelli Prozess
- Schnittkante
Einklemmung in den hämorrhagische
Tentoriumschlitz Nucleus ruber N. Nekrosen im kontra-
(Mittelhirneinklemmung) lateralen Hirnschenkel
Gyrus (Kernohans-Syndrom)

Einklemmung von parahippo- ·


Kleinhirrttonsillen campal is
-v sekundäre
in das Foramen magnum
Mittellinienblutungen
Schnürfurche des / x

Tentorium mit y

abgeknickten Gefäßen

a b

Abb. 5.21: Einklemmungen bei Hirndruck; a) schematisierter Frontalschnitt und b) Darstellung nach einem patho-
logisch-anatomischen Präparat, Ansicht von kaudal, links wurde ein Teil des Tentoriums belassen; Einklemmung
des Mesenzephalons in den Tentoriumschlitz (nach P. Duus, 1990)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
374 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Mantelkante. Der Übergang von der Facies Zentralwindung, Gyrus praecentralis, und dorsal
superolateral is zur Facies medialis wird als Man- von der hinteren Zentralwindung, Gyrus postcen-
telkante (lat. Pallium = Mantel) bezeichnet, wobei tralis, eingefasst.
der Begriff „Hirnmantel" ein älterer Name für den
Cortex cerebri ist. Zieht man die Hemisphären Die Zentralfurche, Sulcus centralis, trennt die
auseinander, sieht man in der Tiefe des mittleren motorische Rinde des Gyrus praecentralis von
Abschnittes eine weiße Struktur, den Hirnbalken, der somatosensiblen Rinde des Gyrus postcen-
das Corpus callosum. Er verbindet die beiden tralis.
Hemisphären und stellt die größte Kommissur
dar. Rostrai und dorsal liegen die Hemisphären Die Scheitelhinterhauptsfurche, Sulcus parie-
vollständig isoliert voneinander vor. Die gräuli- tooccipitalis (s. Abb. 5.22), liegt nahe dem Hin-
che Oberfläche des Gehirns lässt die zahlreichen terhauptspol. Sie grenzt den Hinterhauptslappen,
Windungen, Gyri cerebri, erkennen, welche durch Lobus occipitalis, vom Scheitellappen ab und
Furchen, Sulci cerebri, begrenzt werden. zieht an der Medianfläche der Hemisphäre zur
Vogelspornspalte, dem Sulcus calcarinus, hinab
Hauptfurchen (Abb. 5.22). Nur wenige Furchen
(s. Abb. 5.15). Die funktionelle Bedeutung dieser
und Windungen weisen eine konstante Lage auf.
beiden Sulci liegt darin, dass der überwiegende Teil
Es besteht nicht einmal eine Symmetrie zwischen
der Sehrinde von ihnen eingegrenzt wird. Der Rest
den beiden Hemisphären eines Individuums. Aus
des visuellen Cortex befindet sich in den beiden
Übersichtsgründen ist es jedoch wichtig, einige
benachbarten Windungen (s. Kap. 5.4.2).
Hauptfurchen zu kennen. So sind aus der Vielzahl
der Oberflächenstrukturen 2 besonders tiefe und Die Zentralfurche, der Sulcus centralis, läuft von
charakteristische Furchen hervorhebenswert. Die okzipitodorsal nach rostrobasal. Nach basal wird
Zentralfurche, Sulcus centralis (.Rolandü), teilt er durch die seitliche Furche, den Sulcus lateralis
eine Hemisphäre in ihre rostrale und ihre dorsale (Sylvii), begrenzt, der den Temporal- vom Frontal-
Hälfte und grenzt den Stirn-, Lobus frontalis, vom und Parietal läppen abtrennt. Er weist einen langen,
Scheitellappen, Lobus parietalis, ab (s. Abb. 5.15). nach dorsal ziehenden Ast, Ramus posterior, einen
Die Zentralfurche wird rostral von der vorderen aufsteigenden Ramus ascendens sowie einen nach

Sulcus praecentralis Sulcus centralis


/
\ /
Sulcus postcentralis
Sulcus f r o n t a l i s superior -

Sulcus intraparietalis
Sulcus frontalis inferior

Polus frontalis Sulcus p a r i e t o o c c i p i t a l ^

Ramus ascendens ~

Sulcus
Ramus a n t e r i o r '
lateralis
Ramus posterior -»Sulci occipitalcs

Polus occipitalis

/ I ' Incisure praeoccipitalis


Polus temporalis Sulcus temporalis inferior Sulcus temporalis superior

A b b . 5 . 2 2 : S c h e m a t i s c h e S e i t e n a n s i c h t d e s G e h i r n s . Stirnlappen (gelb): G. fr. s. = G y r u s frontalis superior;


G. fr. m. = G y r u s frontalis m e d i u s ; G. fr. i. = G y r u s frontalis inferior; G. pr. = G y r u s p r a e c e n t r a l i s
Schläfenlappen (grün): G. t. s. = G y r u s t e m p o r a l i s s u p e r i o r ; G. t. m. = G y r u s t e m p o r a l i s m e d i u s ; G. t. i. = G y r u s
t e m p o r a l i s inferior
Scheitellappen (weiß): L. p. s. = L o b u l u s parietalis superior; G. sm. = G y r u s s u p r a m a r g i n a l i s ; G. a. = G y r u s a n g u -
laris; G. po. = G y r u s p o s t c e n t r a l i s
Hinterhauptslappen (blau)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 375

rostral weisenden Ramus anterior auf. Der Sulcus etale und das Operculum temporale unterschieden
lateralis erweitert sich nach medial zur Fossa late- werden.
ralis.
Klinik: Auf der Innenseite des Operculum
Spreizt man den Sulcus lateralis, so findet man temporale liegen von außen unsichtbar die
in der Tiefe die Inselregion, Insula (Reili) oder Heschl-Querwindungen, die einen großen
Lobus insularis. Anteil der Hörrinde ausmachen. Die Funktion
des Insellappens ist bisher kaum verstanden.
Insula (Abb. 5.23). Die Insel (s. auch Abb. 5.16, Elektrophysiologische Untersuchungen legen
29 und 47) hat ungefähr die Form eines Dreiecks jedoch nahe, dass es sich hier um einen Teil des
und wird auf allen Seiten vom Sulcus circularis viszerosensiblen Cortex handelt. Bei neurochi-
insulae begrenzt, der lediglich am Limen insulae rurgischen Eingriffen am Temporal läppen (etwa
fehlt. Über diesen Sulcus circularis insulae geht zur Therapie der Ammonshornsklerose) muss
der Inselkortex in die Rinde der Opercula über. beachtet werden, dass in der Tiefe der Fossa
Der durch die Insel hindurchziehende Sulcus lateralis cerebri zwischen Insel und Opercula
centralis insulae trennt einen rostralen von einem die mittlere Hirnarterie, A. cerebri media, ver-
basalen Abschnitt ab. Am Limen insulae geht die läuft. Ihre Äste treten im Sulcus lateralis an die
Inselregion ins Riechhirn, Rhinencephalon, über. Oberfläche und strahlen von dort über die Facies
Während der Ontogenese wurde die Inselregion superolateralis aus (s. Abb. 5.74, 75).
von Stirn-, Scheitel- und Schläfenlappen überlagert
und ist zum Zeitpunkt der Geburt bereits in der Durch den Sulcus lateralis wird der Stirnlappen
Tiefe verschwunden. Die frühen vergleichenden vom Schläfenlappen abgegrenzt. Der Ramus pos-
Anatomen sahen hier eine Analogie zum Kiemen- terior wird vom Gyrus supramarginalis umfasst
deckel der Fische (Operculum), so dass nun das (s. Abb. 5.20).
Operculum frontale (rostrale), das Operculum pari-

Operculum parietale
{teilweise abpräpariert)

Gyri breves

Sulcus centralis Lobus


insulae ,nsu"

laris

Gyrus longus

- Polus frontalis

Operculum frontale
(teilweise abpräpariert)

Limen insulae

Gyn temporales transversa


(= Heschl-Querwindungen)

Lobus temporalis

Abb. 5.23: Insula Reili, Opercula auseinandergedrängt bzw. abgeschnitten


Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
376 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

frontales superior, medius et inferior. Die


Klinik: Bei einer Läsion im Bereich des Gyrus
obere Stirnwindung geht auch in die Facies
supramarginalis, besonders der rechten Hemi-
medialis cerebri über. Die untere Stirnwindung
sphäre, kann das Gefühl für den eigenen Körper
wird durch die Rami anterior et ascendens des
verlorengehen, was als Asomatognosie bezeich-
Sulcus lateralis in drei Teile abgegrenzt, die
net wird. Isoliert können auch Fingeragnosien
Partes opercularis, triangularis et orbitalis.
oder eine Rechts-Links-Desorientierung auftre-
Basal liegt der Frontallappen dem Orbitadach
ten, die meist Folge linksparietaler Läsionen
als orbitofrontaler Cortex auf, wobei seine
sind (s. Kap. 5.4.10.2, S. 531).
Windungen unregelmäßig verlaufen. An seiner
medialen Seite wird vom Gyrus orbitalis durch
Der Ramus anterior und der Ramus ascendens
den Sulcus orbitalis der Gyrus rectus abge-
unterteilen die angrenzende untere Stirnwindung,
trennt. An der Basalseite findet sich auch der
den Gyrus frontalis inferior (s. Abb. 5.20, 22). Der
Bulbus olfactorius (Abb. 5.26).
Sulcus parietooccipitalis zieht von der Facies
medialis hemispherii cerebri herüber, kerbt die • Scheitellappen, Lobus parietalis. Der Schei-
Mantelkante ein und setzt sich teilweise auf die tellappen wird rostral durch den Sulcus centralis
Facies superolateralis fort. Hierdurch werden und dorsal durch den Sulcus parietooccipitalis
Scheitel- und Hinterhauptslappen getrennt. Die sowie die präokzipitale Einkerbung abgegrenzt.
Verlängerung dieser Linie zur präokzipitalen Nach basal besteht eine Begrenzung durch den
Einkerbung wird dementsprechend Incisura prae- Ramus posterior sulci lateralis. Die dorsale
occipitalis genannt. An dieser Stelle steht das Zentralfurche, Sulcus postcentralis, verläuft
Gehirn mit der Felsenbeinpyramide in unmittelba- parallel zum Sulcus centralis und begrenzt mit
rem Kontakt. diesem die dorsale Zentralwindung, den Gyrus
postcentralis. Anschließend trennt sich der
Insgesamt lassen sich die durch Furchen abgrenz-
Sulcus postcentralis in den Sulcus postcentralis
baren Hirnlappen (gedanklich) in die Schädelhöhle
superior und den Sulcus postcentralis inferior
projizieren, wodurch der Stirnlappen, Lobus fron-
auf. Der Sulcus postcentralis inferior geht
talis, in der vorderen Schädelgrube, Fossa cranii
meistens in den Sulcus intraparietalis über,
anterior, der Schläfenlappen, Lobus temporalis,
der annähernd horizontal nach dorsal zieht.
in der mittleren Schädelgrube, Fossa cranii media,
Durch ihn wird der Scheitellappen weiter in den
und der Hinterhauptslappen, Lobus occipitalis, auf
Lobulus parietalis superior et inferior geteilt
dem Kleinhirnzelt, Tentorium cerebelli, zu liegen
(s. Abb. 5.22). Der Lobulus parietalis inferior
kommt. Der Scheitellappen, Lobus parietalis,
besteht aus 2 konkaven Windungen, dem ros-
wird von der Schädelkalotte bedeckt (s. Kap. 4.3.1,
tralen Gyrus supramarginalis und dorsalen
S. 191).
Gyrus angularis. Sie umfassen jeweils das
Ende des Ramus posterior sulci lateralis und
der oberen Schläfenfurche, des Sulcus tempora-
5 . 2 . 2 . 2 Die Lappen des Telencephalon lis superior.

• Stirnlappen, Lobus frontalis. In der Seiten-


Klinik: Bei einer Läsion im Bereich des linken
ansicht wird der Lobus frontalis (s. Abb. 5.22)
Gyrus angularis sind die Patienten in vielen
von den Sulci centralis et lateralis abgegrenzt.
Fällen nicht mehr über die räumliche Stellung
Der Sulcus praecentralis verläuft im Frontal-
ihres Körpers oder über die Beziehung einzelner
lappen parallel zum Sulcus centralis und besteht
Körperteile zueinander orientiert.
gewöhnlich aus den Sulci praecentrales supe-
rior et inferior. Gemeinsam begrenzen Sulcus
• Schläfenlappen, Lobus temporalis. Der
centralis und praecentralis die vordere Zentral-
Schläfenlappen wird vom Ramus posterior sulci
windung, den Gyrus praecentralis. Vom Sulcus
lateralis bzw. dessen Verlängerung nach dorsal
praecentralis abgehend, verlaufen die obere und
von Stirn- und Scheitellappen abgeteilt (s. Abb.
untere Stirnfurche, die Sulci frontales superior
5.22). Die Grenze zum Lobus occipitalis bildet
et inferior, nach rostral. Hierdurch unterteilen
eine gedachte Linie, die vom Sulcus parietooc-
sie die drei parallelen Stirnwindungen, die Gyri
cipitalis zur basalen Mantelkante verläuft. Der
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 377

Lohns temporalis weist 2 parallele Furchen, die tenventrikels (s. Abb. 5.25 und Kap. 5.3.3, S.
Sulci temporales sup. et inf., und 3 Windungen 441). Im Hinterhauptslappen liegt der visuelle
auf: die Gyri temporales superior, medius et Cortex mit den Areae 17, 18 und 19 nach Brod-
inferior. Der an den Sulcus lateralis und an die mann (s. Kap. 5.4.2.4). Basal befinden sich die
in der Tiefe liegende Insel angrenzende Gyrus Gyri occipitotemporales lateralis et medialis.
temporalis superior weist auf seiner den Stim- Sie werden je zur Hälfte dem Schläfenlappen
und Scheitellappen zugewandten Fläche meist und dem Hinterhauptslappen zugerechnet.
3 konstante, auf die Insel schräg zulaufende
Querwindungen auf, die Gyri temporales
transversi (Heschl). Diese werden erst bei 5.2.2.3 Ansicht von medial (Facies medialis
Spreizung des Sulcus lateralis sichtbar und stel- hemispherii cerebri)
len zusammen mit der Außenfläche des Gyrus
temporalis superior das primäre Hörzentrum Balken, Corpus callosum. Auf der Medianansicht
dar (s. Abb. 5.23). des Gehirns (s. Abb. 5.24) erkennt man zentral,
unter der Großhirnhemisphäre gelegen, eine
Klinik: Eine pathologische Destruktion des große, von rostral nach dorsal verlaufende weiß-
primären Hörzentrums führt zur seltenen kor- liche Struktur, den Hirnhaiken oder das Corpus
tikalen Taubheit. Sogar ihr einseitiger Ausfall callosum. Der Balken verbindet beide Großhirn-
macht sich in Hörstörungen auf beiden Ohren hemisphären über kommissurale Fasern und wird
bemerkbar, da sich die Hörbahn von einem durch den Mediansagittalschnitt durchtrennt. Der
Ohr ausgehend zur Rinde beider Hemisphären Balken beginnt mit dem schiffsbugartigen „Schna-
erstreckt. Die kortikale Taubheit ist oft die Folge bel", Rostrum, geht über das Knie, Genu, in den
eines zweiten Schlaganfalles in der anderen Stamm, Truncus, über, um dorsal mit einem Wulst,
Hemisphäre. Sie kann aber auch bei einer Enze- Splenium, zu enden. Das Rostrum setzt sich in die
phalitis oder einem schweren Schädel-Hirn- Lamina terminalis fort, welche die dünne rostrale
Trauma auftreten. Wand des ehemaligen Prosenzephalonbläschens
darstellt. Im adulten Hirn bildet sie die Vorderwand
An der basalen Mantelkante liegt der Gyrus des III. Ventrikels und trägt das Organum vasculo-
temporalis inferior, der von der Sulci temporalis sum, das zu den zirkumventrikulären Organen
inferior et occipitotemporal is abgegrenzt wird. Es (s. Kap. 5.4.11.3, S. 548, Abb. 5.138) gezählt wird.
besteht eine Nachbarschaftsbeziehung zum Gyrus Die Sehnervenkreuzung, Chiasma opticum, ist
occipitotemporalis lateralis. Im Polus temporalis, mit ihr verwachsen.
an der Spitze des Unterhorns des Seitenventrikels,
Gewölbe, Fornix. Basal des Corpus callosum
befindet sich auch der Mandelkern, das Corpus
verläuft ein noch stärker gekrümmter Bogen, das
amygdaloideum. Weiter basal liegt die Hippokam-
Gewölbe, der Fornix. Er erscheint makroskopisch
pus-Formation als Vörwölbung im Unterhorn des
ebenfalls als weiße Substanz und wölbt sich über
Seitenventrikels. Beide Strukturen gehören zum
den III. Ventrikel (Abb. 5.24). Er beginnt im Tem-
Limbischen System (s. Kap. 5.4.10.1, S. 521).
porallappen als Fimbria hippocampi und endet
• Hinterhauptslappen, Lobus occipitalis. Der an einem weißlichen Höcker der Basalfläche des
Lobus occipitalis (s. Abb. 5.22) ist der kleinste Gehirns, dem Corpus mamillare der jeweiligen
der Hirnlappen. Gegen Scheitel- und Schläfen- Hirnhälfte. Von dort verläuft er als Säule, Columna
lappen wird er auf der Medianfläche durch die fornicis, nach oben, um sich bogenförmig nach
Fissura parietooccipitalis und auf der Facies dorsal zu wenden. Schließlich legt er sich als
superolateralis durch deren Verlängerung nach Corpus fornicis an die Unterfläche des Balkens
basal abgegrenzt. Aufgrund ihrer starken Varia- an (Abb. 5.24). Der Schenkel des Gewölbes, Crus
bilität werden die lateralen Windungen als Gyri fornicis, ist auf der Medianansicht nicht erkennbar,
occipitales laterales zusammengefaßt. Der da er nach laterobasal in die Tiefe des Temporallap-
auf der Medianfläche tiefe Sulcus calcarinus pens verläuft, um zum Unterhorn des Seitenvent-
(s.Abb. 5.15, 24) greift in einzelnen Fällen als rikels zu gelangen. Insgesamt ist der basale Anteil
Varietät um den Okzipitalpol herum. Er buchtet der Columna fornicis von der grauen Substanz des
sich als Calcar avis in das Hinterhom des Sei- Hypothalamus überdeckt und wird deshalb auch als
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
378 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Sulcus centralis

- Sulcus calcarinus

Cingulum

Corpus fomicis

Splenium corporis
callosi

Genu corporis
callosi

~ Thalamus/Adhaesio
interthalamica

Sulcus hypothalamicu

Lamina terminalis

Chiasma opticum

Corpus mamillare

Pons
Abb. 5.24: Medianansicht mit langen Assoziationsfasern (Cingulum) nach Entfernung des Gyrus cinguli

Pars tecta columnae fornicis bezeichnet. Demge- Gyri und Sulci. Oberhalb des Balkens verläuft
genüber ist die Pars libera columnae fornicis auf parallel von rostral nach dorsal der Sulcus cinguli
der Medianansicht gut zu erkennen. (Pars subfrontalis). Die Rinde von der Mantelkante
bis zum Sulcus cinguli gehört dem Gyrus frontalis
„Durchscheinende Scheidewand", Septum
superior (Abb. 5.22) an. Der Lobulus paracen-
pellucidum. Zwischen Corpus callosum und
t r a l umfasst das die Mantelkante einkerbende
Fornix spannt sich rostral eine dreieckige, dünne,
Ende des Sulcus centralis und gehört zu den Gyri
weißliche Platte, das Septum pellucidum, aus. Es
prae- et postcentrales. Letzterer ist schon Teil des
bildet die mediale Wand beider Seitenventrikel und
Lobus parietalis, der auf der Facies medialis dorsal
besteht oft aus 2 Lamellen, die eine schlitzartige
vom Gyrus cinguli parietalis ein großes Gebiet, den
Höhle, das Cavum septi pellucidi einschließen
Praecuneus, ausbildet. Der Sulcus cinguli begrenzt
(Abb. 5.25).
von kranial den Gyrus cinguli (Abb. 5.15, 24, 41),
der basal durch den Sulcus corporis callosi vom
Basal des Septum pellucidum, welches keine Balken getrennt ist.
Neurone enthält, liegen die Septumkerngebiete
des basalen Telencephalons. Sie stellen Schalt- Gyrus cinguli. Die bogenförmige Windung
stellen des Limbischen Systems dar (s. Kap. erstreckt sich im Frontal- und Parietallappen paral-
5.4.10.1, S. 521). lel oberhalb des Corpus callosum. Im Temporallap-
pen geht er in den Gyrus parahippocampalis über.
III. Ventrikel, Ventriculus tertius. Er reicht ros- Diese beiden Gyri bilden mit dem Hippocampus
tral bis zum Chiasma opticum und dorsal bis zum den limbischen Cortex aus (s. Kap. 5.4.10.1). Im
Aquaeductus mesencephali. Der III. Ventrikel Marklager des Gyrus cinguli verläuft eine lange
gehört zum Diencephalon und trennt die rechte Assoziationsbahn, das Cingulum (lat. Gürtel, zur
und die linke Zwischenhirnhälfte (s. Kap. 5.3.3, Funktion s. Kap. 5.2.5, S. 395, sowie Abb. 5.24
S. 441). und 5.43). Unterhalb des Balkenknies besteht
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 379

Fissura longitudinaiis Vena sepii


cerebri pellucidi

Teile des Genu


corporis callosi - Caput nuclei
caudati

Äste der Vena


thalamostriata ~ ^ Cavumsepti
pellucidi

Columna fornicis ~ • - Insula

Thalamus dorsalis Commissura fornicis


(Lamina affixa) ~ " " (Schnittkante)

- Vena choroidea

Lobus insulans
- Crus fornicis
Lobus temporalis
Glomus
Pars centralis „
choroideum
ventriculi lateralis
— - Sulcus calcarinus
Tela choroidea
ventriculi tertii Cornu posterius
ventriculi lateralis

Calcar avis
Venae cerebri mternae ^
Lobus occipitalis

Abb. 5.25: Die Seitenventrikel sind mit einem Horizontalschnitt durch die Hemisphäre eröffnet; das Septum pellu-
cidum und der Fornix sind nach Wegnahme des Balkens freipräpariert

eine Verbindung des Gyrus cinguli mit der Area Indusium griseum. Zur balkennahen Region
subcallosa (Abb. 5.18), die rostral unmittelbar an der Hirnoberfläche zählt auch eine dünne Schicht
den Gyrus paraterminalis grenzt. Im Anschluss an grauer Substanz, die als grauer Schleier, Indusium
das dorsale Balkenende (Splenium corporis callosi) griseum, bezeichnet wird. Das Indusium griseum
verdünnt sich der Gyrus cinguli zum Isthmus gyri stellt ein Relikt des (phylogenetisch alten) Archi-
cinguli und verschmilzt mit dem Gyrus lingualis cortex dar und liegt dem Balken dorsal auf. Medial
zum Gyrus parahippocampalis (s. Abb. 5.42 und lateral wird das Indusium durch zwei feine
und 5.118). Der Gyrus parahippocampalis schlägt Längswülste verdickt, die Striae longitudinales
rostral in einen konvexen Bogen um, welcher als medialis et lateralis (Lancisii).
Uncus bezeichnet wird (s. Abb. 5.77). Hier lassen
Balkenferne Strukturen. Die balkenfern gelege-
sich kleine Vorwölbungen erkennen, nämlich der
nen Hirnwindungen gehören zum (phylogenetisch
Gyrus uncinatus, der Gyrus intralimbicus und
neuen) Neopallium (s. Kap. 5.1.4). Hierzu zählt
das Uncusbändchen (Limbus Giacomini).
der Gyrus frontalis superior, der durch die Man-
telkante und die Gürtelfurche, Sulcus cinguli,
begrenzt wird. Seine dorsale Begrenzung wird
durch den senkrecht nach basal verlängerten Sulcus
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
380 5 Zentrales Nervensystem, G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k

centralis gebildet. Der Gyrus paracentralis läuft ralis dem Hinterhauptslappen an. Sie liegen in situ
um den Sulcus centralis herum bzw. stellt in einer dem Tentorium cerebelli auf.
hakenartigen Form die Verbindung zwischen den
Gyri prae- et postcentrales her. Zum Scheitellap-
pen wird das rostral des Sulcus parietooccipitalis 5.2.2.4 Ansicht von basal
gelegene, annähernd viereckige Feld gerechnet, das (Facies inferior hemispherii cerebri)
als Praecuneus bezeichnet wird. Die Fortsetzung
der ursprünglichen Verlaufsrichtung des Sulcus Den 3 Schädelgruben der Basis cranii interna
cinguli nach dorsobasal wird Sulcus subparieta- entsprechen 3 Erhebungen, welche sich auf der
lis genannt. Dorsal des Sulcus parietooccipitalis Hirnbasis ausmachen lassen: der Stirnlappen,
beginnt der Okzipitallappen. der Schläfenlappen und die Kleinhirnhemi-
sphären.
Sulcus calcarinus. Die schnabelförmige Furche
zieht vom Okzipitalpol nach rostral und trifft dort
Frontallappen, Lobus frontalis. In der vorderen
im spitzen Winkel auf den Sulcus parietooccipita-
Schädelgrube liegen die Stirnlappen getrennt durch
lis. Das von beiden eingeschlossene, keilförmige
die Fissura longitudinal is cerebri. Der basale Fron-
Rindengebiet wird als Cuneus bezeichnet. Auf der
tallappen ist in seiner medialen Hälfte regelmäßiger
Facies inferior hemispherii cerebri gehören noch
strukturiert als in seiner lateralen (Abb. 5.26). Der
die Anteile des Gyrus occipitalis medialis et late-

Polus frontalis — - • Bulbus olfactonus

- -Tractus olfactorius
Fissura longitudi-
nalis cerebri - Nervus opticus
Gyrus rectus —
- Trigonum olfactorium
Sulci et gyri
orbitales - - Substantia perforata

Polus temporalis anterior

1
Chiasma opticum ,
V ' - Ljt ~~
' ~~r
t
. ίΑ--^-—γ" " Ί Η - - Tractus opticus
V y \
Infundibulum - Tuber cinereum

Pons

N.abducens
» - Η ; - ^ X j ^ ' i
m < & J t j r - r ) Μ
- E m i n e n t i a mediana

~~ Corpus mamillart;

Pyramis • v i Μ ΐ ^ - _- k
Nervus trigeminus
Flocculus cerebelli
~ "Nervi facialis et
Sulcus lateralis
~ vestibulocochlearis
anterior
" Radices nervi hypo-
Oliva glossi

Nervi vagus et
glossopharyngeus
Cerebellum
Nervus accessorius

Polus occipitalis ' Decussatio


pyramidum

" Fissura mediana


anterior

Abb. 5.26: Ansicht d e s G e h i r n s v o n basal ( F a c i e s inferior hemispherii cerebri)-, H y p o p h y s e entfernt


Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 A l l g e m e i n e T o p o g r a p h i e , Präparation u n d B i l d g e b u n g d e s Z N S 381

Gyrus rectus wird entlang der Mantelkante von zusammengefasst. Die Gyri und Sulci der orbito-
der Fissura longitudinal is cerebri und lateral vom frontalen Hirnrinde modellieren das Orbitadach
Sulcus olfactorius begrenzt, in dem der Bulbus durch Ausbildung der Impressiones gvrorum und
olfactorius liegt. der Juga cerebralia.
Bulbus und Tractus olfactorius. Im Bulbus Schläfenlappen, Lobus temporalis. Er liegt in der
olfactorius enden die Fila olfactoria, welche als mittleren Schädelgrube dem großen Keilbeinflügel
Afferenzen von der Riechschleimhaut der Nase und der Felsenbeinpyramide auf, wodurch über das
einmünden und in ihrer Gesamtheit als erster Hirn- Tegmen tympani eine enge Nachbarschaftsbezie-
nerv, N. olfactorius, bezeichnet werden (s. Kap. hung zur Paukenhöhle besteht.
5.4.4). Nach dorsal verbreitert sich der Tractus
olfactorius zu einem dreieckigen Feld: Trigonum Klinik: 1. Durch die engen Nachbarschaftsbe-
olfactorium. Es wird lateral von zwei weißen ziehungen des Schläfenlappens zum Mittelohr
Streifen eingefaßt, der Stria olfactoria medialis können entzündliche Prozesse von dort aus auf
und lateralis, wobei die Stria olfactoria medialis das Gehirn übertreten (ζ. B. kann ein bakteriel-
in den Gyrus paraterminalis und die Stria olfacto- ler Abszess im Mittelohr zur Meningoencephali-
ria lateralis über das Limen insulae in den Uncus tis fuhren). 2. Durch Stürze kommt es oft zu Fel-
ausläuft. Die Striae olfactoriae umgreifen die Sub- senbeinfrakturen, die posttraumatische Meningi-
stantia perforata anterior (Abb. 5.97), durch die tiden hervorrufen können. Das gilt insbesondere
Blutgefäße in die Hirnbasis eintreten. Die lateral bei gleichzeitigem Liquor-/Blutaustritt aus dem
an den Sulcus olfactorius grenzenden Windungen Ohr (Otoliquorrhoe), der auf eine Fistel von der
und Furchen werden als Gyri und Sulci orbitales Cavitas cranii zur Außenwelt hinweist.

_ -Bulbus olfactorius

Septum pellucidum — _ . - - Insula


Thalamus
___ Cavumsepti
pellucidi
Chiasma opticum _

Tractus opticus . — Lamina terminale

— Tractus olfactorius
Infundibulum .
— -Nervus opticus
Hypophysis — _
Corpus geniculatum ^ — Nervus oculomotorius
laterale (CGU

Uncus - - _
- Sulcus basilaris
Pons —
Nervus facialis
Nervus trigeminus —
—Nervus vestibulocochlear
Pedunculus cerebellaris __,
medius • - Oliva
Pyramis . Medulla oblongata
(Bulbus)
Pedunculus cerebellaris _ -
inferior — Sulcus anterolateral
Nervus hypoglossus-"
— Oecussatio pyramidum
Fissura mediana
anterior • —Medulla spinalis

Fila radicularia nervi


cervicalisl

Abb. 5.27: Ansicht d e s Z w i s c h e n - u n d Mittelhirns (mit H y p o p h y s e ) v o n anterobasal; Z u s t a n d n a c h Entfernung d e s


C e r e b e l l u m sowie d e s größten Teils der G r o ß h i r n h e m i s p h ä r e n
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
382 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Das viereckige Mittelfeld. Es wird rostral von den • Großhirn. Im Allgemeinen werden hierunter
Frontallappen, lateral von den Schläfenlappen und die beiden Hemisphären inklusive Cortex und
dorsal vom Pons begrenzt und stellt den basalen Telenzephalonkerne verstanden.
Teil des Zwischen- und Mittelhirns dar (Abb. 5.27). • Basalganglien. Hierzu zählen die (meisten)
Es liegt dem Clivus im mittleren Anteil der Fossa subkortikalen Telenzephalonkerne, es werden
cranii media auf. Hier verlaufen die in rostrokrani- aber auch einige Zwischenhirnkerne hinzuge-
aler Richtung auseinander weichenden Hirnschen- nommen.
kel, Pedunculi cerebri, welche eine tiefe Grube • Hirnstamm. Hierzu gehören Mesencephalon,
begrenzen: die Fossa interpeduncularis. In den Pons sowie Medulla oblongata.
Boden dieser Grube, die vom Tegmentum gebildet • Stammhirn. Dem Stammhirn werden Dience-
wird, treten viele kleine Gefäße ein, so dass sie als phalon, Mesencephalon und Rhombencephalon
Substantia perforata posterior bezeichnet wird. hinzugerechnet.
Rostrai liegen die weißlichen Corpora mamilla-
ria. Ihnen sind die graue Vorwölbung, das Tuber
cinereum, und der Trichter, das Infundibulum, 5.2.4 Zerebrale Computertomographie
vorgelagert, der die Verbindung zur Hirnanhang- und Magnetresonanz-
drüse, Hypophyse, darstellt (s. Kap. 5.4.11). Die tomographie
Hirnanhangdrüse liegt eingebettet in der Fossa
hypophysialis sellae turcicae. Lernziele: intravitale und postmortale Neuro-
anatomie; ZNS-Topographie in cCT- und MRT-
Bei präparatorischer Entnahme des Gehirns aus der
Schichtaufnahmen horizontaler, frontaler und
Cavitas cranii reißt die Hypophyse meistens ab.
sagittaler Orientierung
Zur kontinuierlichen Darstellung ihrer Nachbar-
schaftsbeziehungen muss die Sella turcica zuvor
Neuroanatomie in der Klinik. Das ZNS kann
eröffnet werden.
wegen der Strahlenabsorption der Schädelkalotte
mit konventionellen Röntgenmethoden nicht dar-
5.2.3 Systematische Gliederung gestellt werden. Mit der Einfuhrung der zerebralen
des ZNS Computertomographie (cCT) und der Magnet-
resonanztomographie (MRT) als neue bildgebende
Aus dem oben Besprochenen ergibt sich die in Verfahren ist es möglich geworden, detailreiche
Tabelle 5.1 zusammengefasste Gliederung der Schnittbilder des ZNS und der Schädelstrukturen
Abkömmlinge des Neurairohrs. zu erzeugen, was der Medizin völlig neue Dimen-
sionen eröffnet hat. Für die Diagnostik verschie-
Weitere, zur systematischen Gliederung benutzte dener Erkrankungen des ZNS (einschließlich der
Begriffe sind die des Großhirns, der Basalganglien,
häufigsten wie Schlaganfall, Multiple Sklerose oder
des Hirnstamms und des Stammhirns, welche leider
Bandscheibenvorfall) gehört heute die Arbeit mit
nicht immer einheitlich benutzt werden:
diesen Schnittbildern zum klinischen Alltag.

Tabelle 5.1: Systematische Gliederung des ZNS

Anlage

Prosencephalon Mesencephalon Rhombencephalon Neurairohr,


Telencephalon Diencephalon Metencephalon Myelencephalon kaudaler Abschnitt

Abschnitte des Ventrikelsystems


I. und II. Ventrikel III. Ventrikel Aquaeductus cerebri IV. Ventrikel Canalis centralis

Wichtige Anteile

Pallium (Cortex) Epithalamus Lamina tecti Cerebellum Medulla oblongata Rückenmark


Nucl. caudatus Thalamus Nucl. ruber Pons Hirnnervenkerne
Putamen Hypothalamus Substantia nigra
Pallidum, pars externa Pallidum, pars
Hippocampus interna Tegmentum
Amygdala
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 383

Foramen interventriculars
(Monroi)
Cornu ant. t Ventriculus lateralis,
ventriculi lat. * Pars centralis

acusticus
externus

Abb. 5.28: Kanthomeatalebene und horizontale Schichtungsebenen 1-6 als Orientie-


rungsschema für die folgenden Abbildungen

5.2.4.1 Intravitale versus postmortale Meatus acusticus externus. Kanthomeatal-


Neuroanatomie: cCT und MRT ebene. Für das cCT werden aus praktischen
Gründen aber meist Schichtungen ausgewählt,
Die neueren Methoden der Bildgebung haben die parallel zu einer Ebene verlaufen, welche
Unterschiede zwischen der intravitalen und post- vom äußeren Winkel des Augenlids, Canthus,
mortalen Morphologie des ZNS dargestellt. Die zum Meatus acusticus externus gewählt wird.
Abgrenzung von grauer und weißer Substanz wird Schichtbilder parallel dieser Ebene schonen die
postmortal insbesondere im cCT unscharf. Im MRT Augenlinsen vor dem Strahlungseinfall (Gefahr
fehlen dagegen die beim Lebenden sichtbaren der Kataraktbildung) und erfassen alle Teile des
Strömungssignale des Blutflusses. Des weiteren Gehirns mit relativ geringem Aufwand an Bil-
weisen postmortale MRT-Aufnahmen des in situ dern (Abb. 5.28).
fixierten ZNS eine Vielzahl von Artefakten auf.
Deshalb sind in vivo durchgeführte MRT-Aufnah- Die Serienbilder dieses Abschnittes werden in
men als Schnittbildserien zur Darstellung der nor- folgender Ordnung beschrieben: Die Horizon-
malen ZNS-Morphologie geeigneter als solche des talschichten von basal nach kranial, die Frontal-
postmortalen Gehirns. Aus diesem Grund werden schichten werden in der Reihenfolge von rostral
im folgenden Abschnitt makroskopische Schnitte nach dorsal (anterior-posterior, a.-p.) und die
fixierter Präparate in v/vo-MRT- und -CT-Bildern Sagittalschichten von medial nach lateral gezeigt.
gegenübergestellt. Insgesamt sind die Horizontalschichten in der Auf-
sicht von basal dargestellt, wir blicken also auf den
Deutsche Horizontale. Als Bezugsebene fur mit den Füßen zu uns gerichteten, auf dem Rücken
CT- bzw. MRT-Schichtaufnahmen von Gehirn liegenden Patienten wie er vor uns im Tomogra-
und Himnerven wird oft die Deutsche Hori- phen läge. Die linke Körperhälfte erscheint somit
zontale gewählt. Sie bildet eine Tangente zum in diesen Bildern immer rechts. Dies entspricht der
Boden der mittleren Schädelgrube und verbindet üblichen Betrachtung des ZNS in der Bildgebung.
den Unterrand der Orbita mit dem Oberrand des 2 Überblicksdarstellungen jeder Schnittebene wer-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
384 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Gyrus frontalis superior

Caput nuclei caudati

Columna fornicis

Putamen

Lobus insularis

Claustrum

Globus pallidus

Thalamus mit
Adhaesio interthalamica

Ventriculus tertius

Ventriculus lateralis
mit Plexus choroideus

Splenum corporis
callosi

— — Sulcus calcarinus

-- Gyri occipitales

4. Horizontalschicht (MRT), Schnittebene durch den basalen Lobus frontalis und die Basalgartglien.
(Die MRT-Schnittbilder dieser Atlasserie stammen sämtlich aus der Radiologischen Gem. Praxis in Coburg, ~~ - Sinus sagittalis superior
Dr. med. J . Romahn, und sind hinsichtlich der Größenverhältnisse digital nachbearbeitet worden).
Abb. 5.29
Gyrus frontalis superior

Gyrus frontalis medius

— Genu corporis callosi

Caput nuclei caudati

Septum pellucidum

Capsula extrema

Capsula interna,
crus anterius

Putamen
Linsen-
kern
Globus pallidus

Capsula interna,
crus posterius

Thalamus

Splenium corporis
4. Horizontalschicht (Frischpräparat), Schnittebene durch den callosi
und die Basalganglien

Abb. 5.30

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des Z N S 385

-- Sinus s p h e n o i d a l

- B a s i s lobi t e m p o r a l i s

— M e a t u s acusticus internus

— Pedunculus cerebellaris mei

~ - Tonsille c e r e b e l l i

~~ - Vermis cerebelli - "

H e m i s p h e r i u m cerebelli
I Horizontalschicht. S c h n i t t e b e n e vom Unterrand der Orbita zur
F o s s a cranialis posterior dicht oberhalb d e s Foramen occipitale

Dorsum sellae

__ __ — A r t e r i a basilaris _ _ _ _ _ _

_ — — - Pons _ _

_ Formatio reticularis

Pedunculus cereb sup

~ V e r m i s cerebelli — — —

"" H e m i s p h e r i u m cerebelli — "

~ — - B a s i s lobi frontalis — ~

2. Horizontalschicht. S c h n i t t e b e n e in Höhe der Orbita und durch beide Temporallappen

B a s i s lobi frontalis
(Gyri recti)

- S u l c u s lateralis

Ventricuius tertius _

— - Crus cerebri

— S u b s t a n t i a nigra — -

amina tecti m e s e n c e p h a l i -

Vermis cerebelli "

- S i n u s sagittalis sup.

3. Horizontalschicht, die Schnittebene verläuft durch den Oberrand d e s Bulbus oculi

Abb. 5.31: Horizontalschichten 1-3: MRT und Frischpräparat

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
386 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

^ Caput nuclei caudati -- ^

^ Columna formcis -- _

. Putamen — _

— — " Globus pallidus

Thalamus

— Ventriculus tert us — "

-- Ventriculus lateralis — "


mit Plexus choroideus

Splenium corporus callus

4. Horizontalschicht, Schnittebene durch den basalen Teil des Lobus frontalis und die Basalganglien

^ Genu corporis callosi ^


.-

Ventriculus lateralis, _
cornu anterius

Septum pellucidum

— - Caput nuclei caudati

Thalamus

~ ~ — - Fornix — —

- Ventriculus l a t e r a l i s " "

- Splenium c o r p o r i s ' " " "

callosi

5. Horizontalschicht, die Schittebene verläuft durch die beiden Seitenventrikel

__ — — Sulcus cmguli — __

^ Gyrus praeceritralis ^

— — Sulcus centralis

Gyrus p o s t c e n t r a l s "

- V e n t r i c u l u s lateralis, — —
pars centralis

• Centrum semiovale '

Splenium corporis --
callosi

— Gyri occipitales •— ~ '

6. Horizontalschicht die Schnittebene durchläuft die Basalganglien, das Corpus callosum und
den oberen Rand der beiden Seitenventrikel

Abb. 5.32: Horizontalschichten 4-6: MRT und Frischpräparat

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 387

den dem synoptischen Vergleich vorangestellt. Sie und den Meatus acusticus internus. Die hintere
sollen die wichtigsten Strukturen benennen, die in Schädelgrube ist dicht oberhalb des Foramen
den entsprechenden Ebenendarstellungen zu sehen occipitale magnum getroffen. Das Metencephalon
sind, ohne dass hier schon MRT-Schichtaufnahmen (Brücke und Kleinhirn mit Tonsillen) ist ange-
und Frischpräparat parallelisiert worden sind. schnitten.

2. Schicht (Abb. 5.31). Sie liegt in Höhe der Orbita.


5.2.4.2 Horizontale Schichten Die Schnittebene trifft beide Temporallappen, kra-
durch den Kopf niale Teile der Brücke, die oberen Kleinhirnstiele
sowie den Lobus anterior cerebelli.
Horizontalschnitte (Abb. 29, 30). In der kernspin-
3. Schicht (Abb. 5.31). Diese Schnittebene verläuft
tomograpischen Aufnahme 5.29 erscheint Wasser
durch den Oberrand des Bulbus oculi und macht
dunkel und Fett hell. Die myelinreiche weiße
die Gyri recti lobi frontalis sichtbar, die mit dem
Substanz ist deshalb heller als die kortikalen und
Bulbus olfactorius über der Lamina cribrosa liegen.
subkortikalen Kerngebiete, die mehr Neurone als
III. Ventrikel, Mesencephalon und Fissura trans-
myelinisierte Fasern enthalten. Der schwarze Saum
versa cerebri sind ebenfalls getroffen.
um das Gehirn und in der Inselrinde entspricht dem
mit Nervenwasser, Liquor cerebrospinalis, gefüll- 4. Schicht (Abb. 5.32). Sie zeigt den basalen Teil
ten äußeren Liquorraum, während die ebenfalls des Stirnlappens in der vorderen Schädelgrube, die
schwarzen Anschnitte der Ventrikel dem inneren Fissura longitudinalis cerebri, den Sulcus lateralis,
Liquorraum entsprechen (s. Kap. 5.3, Abb. 5.69). die Insula, die Basalganglien, Temporal- und Okzi-
Die bisher noch nicht besprochenen Funktionen der pitallappen sowie dorsale Teile des III. Ventrikels,
subkortikalen Kerngebiete (Nucleus caudatus, Put- die vom Thalamus begrenzt werden.
amen, Pallidum, Thalamus) sowie weiterer hier nur
5. Schicht (Abb. 5.32). Der kraniale Teil der Insel
topographisch dargestellter Regionen und Struktu-
ist angeschnitten. Die Seitenventrikel, Partes cen-
ren werden später noch ausfuhrlich erläutert. Ent-
trales ventriculi lateralis, sind in typischer Größe
sprechend werden sich die folgenden Abbildungen
und Form sichtbar. Die mediale Wand wird vom
erst im Laufe der Lektüre des gesamten Kapitels
Septum pellucidum, die laterale Wand vom Nucl.
ganz erschließen.
caudatus gebildet.
1. Schicht (Abb. 5.31). Sie befindet sich am Unter-
6. Schicht (Abb. 5.32). In dieser Schicht erkennt
rand der Orbita; das Cavum nasi ist getroffen. Die
man nur den Cortex und das Marklager (Centrum
Schnittebene verläuft weiter durch das Felsenbein

Kanthomeatalebene
ι
Abb. 5.33: Kanthomeatalebene und senkrecht lie-
gende, frontale Schichtungsebenen als Orientierung
für die folgenden Abbildungen

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
388 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Sinus sagittalis superior

Gyrus frontalis sup. et med.

Corpus callosum, Truncus

Ventriculus lateralis,
Cornu anterius

Caput nuclei caudati

Septum pellucidum

Capsula interna,
crus anterius

Sulcus lateralis

Gyrus frontalis inferior

Lobus insularis

Putamen

Arteria cerebri media

Chiasma opticum

Gyrus parahippocampalis

2. Frontalschicht (MRT), Schichtebene durch das ventrale Corpuscallosum und das Chiasma opticum
Sinus sphenoidalis

Gyrus frontalis superior

Gyrus frontalis medius

Corpus callosum,
Truncus

Ventriculus lateralis,
Cornu anterius

Caput nuclei caudati

Septum pellucidum

Gyrus frontalis inferior

Lobus insularis

Capsula interna,
crus anterius

Putamen

Corpus callosum, Rostrum

A. cerebri ant.

Gyrus parahippocampalis

2. Frontalschicht (Frischpräparat). Schnittebene durch das ventrale Corpus callosum Gyrus rectus

Abb. 5.35

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 A l l g e m e i n e Topographie, Präparation u n d B i l d g e b u n g d e s Z N S 389

— Gyrus frontalis superior — —

_ ^ Gyrus frontalis medius

_ — Gyrus cinguIi — __

/ Gyrus frontalis inferior

„ - - Gyri orbitales — __ __

— — • Gyrus rectus

- Retroorbitaler Fettkörper

1 Frontalschnitt. Schnittebene durch den Lobus frontalis

^ Ventriculus lateralis, v.
^ cornu anterius x

__ Caput nuclei caudati ^

— Capsula interna, crus ant. —

Putamen

Gyrus rectus — _

- Gyrus parahippocampalis

~· — Polus temporalis

2. Frontalschicht, Schnittebene durch die Gyri recti (Hypophyse und Chiasma sind im
Frischpräparat nicht dargestellt)

-Truncus corporis*
callosi

- Fornix — __

^ Lobus insularis

Putamen und Globus pal-


lidus (Nucleus lentiformisl"
• Ventriculus tertius —

Corpus amygdaloideum

— Ventriculus lateralis, —
cornu inferius

3. Frontalschicht. Schnittebene durch das Corpus amygdaloideum

Abb. 5.36

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
390 5 Zentrales N e r v e n s y s t e m , G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k

„ " Ventriculus lateralis, ^


pars centralis ^ •

- Thalamus _
__ — Hypothalamus ___
- - Ventriculus tertius —
Substantia nigra - —
• Cisterna interpeduncularis —

Hippocampus

~ Crus cerebri — — "


Pons ~~

4. Frontalschicht, Schnittebene durch den Hippocampus

Gyrus cinguli — —

-- VentricuSus lateralis,—
pars centralis

— Pulvinar thalami
— Lamina tecti mesencephali — —

— Ventriculus quartus — — _

Cerebellum

Pedunculus cerebelli sup. — ~~ ~~

— Tegmentum pontis "

5. Frontalschicht, Schnittebene in Höhe des Mesenzephalons und des Pons

• Cisterna venae cerebri ^


magnae (Galeni]
Lobus parietalis —

_ Ventriculus lateralis. — _
cornu posterius

— Fissura transversa cerebri _

Sulcus calcarinus —

~ ~~ - Vermis cerebelli — **"

— Hemispherium cerebelli — —

6. Frontalschicht. Schnittebene durch Fossa cranii posterior, Lobus occipitalis und Cerebellum

Abb. 5.37

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 391

semiovale) der Hemisphären sowie die zentralen 5.2.4.4 Sagittale Schichten durch den Kopf
Teile der Seitenventrikel. Das Corpus callosum ist
nur im mittleren Bereich getroffen, der am weites- Sagittale Schnitte. Die Schichten verlaufen parallel
ten nach kranial reicht. zur Fissura longitudinalis (Abb. 5.38) und erlauben
insbesondere im Mediansagittalschnitt eine gute
Beurteilung auch der äußeren Ventrikelräume
5.2.4.3 Frontale Schichten (Abb. 5.39, 40).
durch den Kopf
1 2 3 4 5 6
Frontale Schnitte. Sie fuhren senkrecht durch die
Kanthomeatalebene (Abb. 5.33) und erlauben eine
detailreiche Darstellung insbesondere des Telenze-
phalons (Abb. 5.34, 35).

1. Schicht (Abb. 5.36). Sie wird durch eine Schnitt-


ebene durch den Lobus frontalis gebildet. Das
Corpus callosum ist noch nicht angeschnitten, aber
der retrobulbäre Fettkörper der Orbita ist mitge-
troffen.
2. Schicht (Abb. 5.36). Schnittebene durch die
Gyri recti: In dieser Höhe sind der mittlere Anteil
des Frontallappens sowie der Temporallappen mit
angeschnitten. Im Zentrum des Schnitts sind die
Basalganglien getroffen, an der Hirnbasis liegen
die Area subcallosa und das Chiasma opticum. Im
MRT-Bild ist die Hypophyse sichtbar.

3. Schicht (Abb. 5.36). Schnittebene durch das


Corpus amygdaloideum: Hier sind Corpus callo-
sum und Fornix sowie das Foramen interventricu-
lare zwischen den Seiten- und dem III. Ventrikel
getroffen. Außerdem sind die Seitenventrikel mit
Mittelteil und Unterhorn sichtbar.
Abb. 5.38: Facies s u p e r o l a t e r a l hemispherii cerebri
4. Schicht (Abb. 5.37). Schnittebene durch den mit 6 sagittalen Schichtungs- bzw. Schnittebenen
Gyrus parahippocampalis und den Thalamus: (schematisch) als Orientierung für die folgenden
Die Cisterna interpeduncularis und der Pons sind Abbildungen
getroffen.

5. Schicht (Abb. 5.37). Schnittebene in Höhe des 1. Schicht (Abb. 5.41). Die Schädelhöhle wurde
Mesenzephalons und des Pons: Die Commissura in der Ebene der Crista galli und der Protuberan-
posterior ist sichtbar. Seitenventrikel mit Unterhorn tia occipitalis interna geschnitten, das Foramen
sowie der Anfangsteil des Aquaeductus mesence- magnum ist zu erkennen. Die Medianfläche des
phali sind zu erkennen. Gehirns sowie Furchen und Windungen des Telen-
zephalons sind sichtbar. Der III. Ventrikel, der
6. Schicht (Abb. 5.37). Sie stellt eine Schnittebene
Aquaeductus mesencephali, der IV. Ventrikel sowie
durch die Fossa cranii posterior dar. Die Schnitt-
die Mittellinienstrukturen des Dienzephalons und
ebene fuhrt durch den Cortex und das Marklager
des Hirnstamms sind deutlich zu erkennen.
des Lobus occipitalis, in dem die Hinterhörner der
Seitenventrikel zu sehen sind, sowie das Cerebel- 2. Schicht (Abb. 5.41). Der ca. 1 cm lateral von der
lum. Das Tentorium cerebelli trennt vollständig den Mediansagittalebene vorgenommene Schnitt liegt
supra- vom infratentoriellen Raum ab. lateral der Fossa hypophysialis und stellt den Sinus
cavernosus und das Foramen magnum dar. Ros-
traler und medialer Teil des Seitenventrikels sind
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
392 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Sulcus centralis

Corpus callosum

Lipom

(pathologischer Befund)

Fornix

Vena cerebri interna

Thalamus

Commissura anterior

Commissure posterior

Lamina tecti,
Aquaed. cerebri

Cisterna interpeduncularis

Hypophysis

Arteria basilaris

Ventriculus quartus

Medulla oblongata

Cisterna cerebello-
medullaris (magna)
1. Sagittalschicht (MRT) in der Mediansagittalebene (Liquorräume weiß, deshalb sind die Erweiterungen des Subarach-
noidalraums. Zisternen, deutlich erkennbar)

Abb. 5.39
Sulcus centralis

Corpus callosum

Fornix

Adhaesio interthalamica

Commissura anterior

Mesencephalon

Corpus mamillare

Chiasma opticum

Ventriculus quartus

,Arbor vitae" cerebelli

Regio praepiriformis

Pons

Tractus olfactorius
1. Sagittalschnitt {Frischpräparat) in der Mediansagittalebene

Abb. 5.40

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 A l l g e m e i n e T o p o g r a p h i e , Präparation u n d B i l d g e b u n g d e s Z N S 393

^ , Septum pellucidum s

__ ^ Genu corporis cailosi ^

_ _ — - Fornix - __

- Aquaeductus mesencephaii -

— Hypophysis et infundibulum

Nervus opticus — "

~ Pons — — "*"

~~ Medulla oblongata — " "


1. Sagittalschicht in der Mediansagittalebene

- - Lobulus paracentralis—

Gyrus cinguli —

- Truncus corporis cailosi

— Caput nuclei caudati —

" Sulcus parietooccipital

Sulcus calcarinus —

Lamina tecti - " "


_ _ — Tonsälia cerebelli —-

2. Sagittalschicht, Schnittebene ca. 1 cm lateral der Mediansagittalebene

— — Gyrus frontalis superior v

Sulcus parietooccipitalis ^

/ Nucleus caudatus

- Thalamus —

Sulcus calcarinus "

— — Pons

~ — ~ Cerebellum

3. Sagittalschicht. Schnittebene durch Sinus frontalis, Cellulae ethrnoidales

Abb. 5.41

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
394 5 Zentrales N e r v e n s y s t e m , G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k

Gyrus praecentralis

Gyrus postcentralis

Gyrus frontalis medius''

Ventrioulus lateralis — ~~

retrobulbärer Fettkörper

~ ~~ - Hippocampus " " "

_ _ Gyrus parahippocampalis - - ' '

4. Sagittalschicht, die Schnittebene liegt medial der Mittelebene des Bulbus ocuü

_ — Gyrus frontalis medius

__ Lobus insularis

Ventriculus lateralis,
cornu inferius

Gyrus temporalis superior

— Gyrus temporalis inferior — —

— " ~ — Hemispherium cerebelli


5. Sagittalschicht, in dieser Schnittebene ist der Bulbus oculi lateral getroffen

___ — - Sulcus centralis — -

Gyrus praecentralis —
Gyrus postcentralis — •

__ _ — - Sulcus lateralis — —

Lobus insularis

— Gyrus temporalis superior

— — Gyrus temporalis inferior

Kleinhirnhemisphäre -

Os temporale. Übergang
insCavumtympani
6. Sagittalschnitt, die Schnittebene liegt lateral der Orbita

Abb. 5.42

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 395

zu erkennen. Vom Hirnstamm sind die lateralen Palaeocortex


Anteile des Mesenzephalons getroffen.
Das Urhirn bildet die phylogenetisch älteste
3. Schicht (Abb. 5.41). Die Schnittebene verläuft Rindenregion (s. Kap. 5.1.4, S. 363) des Telen-
durch die Siebbeinzellen und die mediale Orbita. zephalons, welchcs durch den Entwicklungsvor-
Der Hirnstamm ist lateral der Mittellinie etwa in gang der Neenzephalisation (s. 5.4.10.2) auf die
Höhe des Corpus geniculatum mediale getroffen. mediobasale Fläche des Temporallappens verlagert
wurde. Es bildet mit seinen Strukturen vor allem
4. Schicht (Abb. 5.42). Diese Schnittebene liegt das Riechhirn, Rhinencephalon (s. Kap. 5.4.4.2,
medial der Mittelebene des Bulbus oculi. Es sind S. 477).
Cortex und Marklager des Telenzephalons deut-
lich, welche sich lateral von Cornu anterius und
Die Rinden- und Kerngebiete des Palaeocortex
der Pars centralis ventriculi lateralis befinden. Die
bestehen aus folgenden Abschnitten: Bulbus et
Nachbarschaftsbeziehungen zum Hippocampus,
tractus olfactorius, Regio retrobulbaris, Regio
dem Corpus amygdaloideum und dem Unterhorn
praepiriformis, Regio periamygdalaris (Nucll.
des Seitenventrikels sind zu erkennen. Im infra-
corticales des Mandelkernkomplexes), Septum
tentoriellen Raum sind die Kleinhirnhemisphären
pellucidum (zusammen mit den Regiones
angeschnitten.
periseptalis et diagonalis), basales Vorderhirn,
5. Schicht (Abb. 5.42). Hier ist der laterale Anteil Mandelkernkomplex.
des Bulbus oculi angeschnitten worden; die Schä-
delbasis ist lateral der Sella turcica in der mittleren • Bulbus et tractus olfactorius. Der Bulbus olfac-
Schädelgrube getroffen. Der Insellappen ist tangen- torius ist ein vorgeschobener Teil des Telenze-
tial im Sulcus lateralis angeschnitten. phalons und liegt auf der Siebbeinplatte. Er ist
die erste Verarbeitungsstation der Geruchsinfor-
6. Schicht (Abb. 5.42). Diese Ebene liegt lateral
mation aus den Nn. olfactorii. Dorsal schließt
der Orbita: Die Hirnrinde und das Cerebellum sind
sich der Tractus olfactorius an, der im Sulcus
flach angeschnitten. Man erkennt die Gyri, die als
rectus nach hinten zieht und sich kurz vor der
Opercula den Sulcus lateralis umgeben.
Substantia perforata anterior in die Striae olf-
actoriae lateralis und medialis aufteilt.
5.2.5 Regionale Anatomie des Vorder- • Regio retrobulbaris. Sie umfasst gering ent-
hirns, Prosencephalon wickelte Rindengebiete im Bereich des Tractus
olfactorius, die dorsal in den Cortex praepirifor-
mis übergehen.
Lernziele: Endhirn, Paleocortex, Mandelkern-
• Regio praepiriformis. Der Cortex praepirifor-
komplex, Archicortex, Hippocampus, Basal-
mis, vereinfachend Cortex piriformis genannt,
ganglien
liegt um die Stria olfactoria lateralis und in
vorderen Teilen des Gyrus ambiens (s. unten)
am Übergang der basalen Gehirnoberfläche auf
5.2.5.1 Endhirn, Telencephalon den medialen Temporallappen (s. Abb. 5.40).
Dorsal grenzt er an den Cortex periamygdaloi-
Das Endhirn bildet den weitaus größten Teil des deus. Diese dreischichtigen Kortexareale gehö-
menschlichen Gehirns, wobei die Hirnlappen ren zum olfaktorischen Cortex (s. Kap. 5.4.4.2,
große Teile des Zwischenhirns und des Hirn- S. 477).
stamms überdecken. Sein Gewicht nimmt mehr
Die topographische Nähe der Regio praepiriformis
als 80 % des gesamten Gehirns ein. Der größte
zum medialen Vorderhirnbündel (s. Kap. 5.4.10.1)
Teil der grauen Substanz entfallt dabei auf den
bekräftigt die These, dass es sich um ein wichti-
Cortex cerebri. Hinzu kommen die subkorti-
ges Verbindungszentrum olfaktorischer Afferen-
kalen Kerngebiete (Nucl. caudatus, Putamen,
zen zum Hypothalamus handelt, welches an der
Claustrum und Corpus amygdaloideum), die
Modulation emotionaler Zustände beteiligt ist:
dem Cortex funktionell untergeordnet sind.
So bewirkten elektrophysiologische Reizversuche
bei den Versuchstieren taehykarde und hypertone

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
396 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Reaktionen und es traten eine gesteigerte Peristal- oberfläche im Bereich der Substantia perforata
tik des Magen-Darm-Trakts sowie sympathotone anterior, also zwischen dem Ende des Tractus
Reaktionen hinsichtlich Atemfrequenz, Salivation olfactorius rostral, dem Tractus opticus medial
und Pupillomotorik auf. und dem Uncus des Temporallappens lateral
(s. Abb. 5.26, 51, 97). Kranial und rostral dieser
• Regio periamygdalaris. Basal des Mandel-
Kerngebiete liegen das Vorderhorn des Sei-
kerns liegen auf der medialen Oberfläche des
tenventrikels, das medial vor der Commissura
Temporallappens 2 Windungen, Gyrus ambi-
anterior bis zum Septum herunterreicht, und
ens und Gyrus semilunaris, die allerdings nur
die vordersten Anteile von Nucleus caudatus
am fetalen Gehirn und bei Tieren mit ausgepräg-
und Putamen. Letztere verschmelzen hier zum
tem Geruchssinn (Makrosmatiker) regelmäßig
Nucleus accumbens, der unterhalb der Spitze
klar abgegrenzt werden können. Der Gyrus
des Seitenventrikels topographische Beziehung
semilunaris entspricht der Außenfläche des
zu den lateralen Septumkernen gewinnt, wes-
Nucl. corticalis des Corpus amygdaloideum
halb er Nucleus accumbens septi genannt wurde
(s. unten). Im Gyrus ambiens schließt sich
(lat. accumbere: anlagern). Direkt oberhalb der
dorsal an den Cortex praepiriformis der Cortex
Commissura anterior liegen hier auch rostrale
periamygdaloideus an, ein Kortexareal, das
Anteile des Globus pallidus und der Capsula
von Teilen des Mandelkerns vorgewölbt wird.
interna. Dorsomedial schließen sich an das
Einige Autoren verwenden den Begriff Cortex
basale Vorderhirn die hypothalamischen Kern-
periamygdaloideus allerdings auch synonym mit
gebiete an, während basolateral am Übergang
Nucl. corticalis. Die rein deskriptive Bezeich-
in den Temporallappen Beziehungen zum Man-
nung Lobus piriformis für den vorderen Teil des
delkern (s. u.) bestehen. Den zentralen Bereich
Gyrus parahippocampalis sollte nicht mit dem
des basalen Vörderhirns nimmt die nur vage
Cortex praepiriformis gleichgesetzt werden. Sie
definierte Substantia innominata (Reichert)
bezieht im Allgemeinen zusätzlich den Cortex
ein, die aus mehreren Lamellen grauer Substanz
periamygdaloideus und die Area entorhinalis
besteht. Das auffalligste Kerngebiet innerhalb
(s. unten) mit ein.
dieser Region stellt der Nucleus basalis Mey-
• Septum pellucidum. Die mediale Wand der nert dar. Dieser Kern besteht aus mehreren
Vorderhörner beider Seitenventrikel wird vom Gruppen großer cholinerger Neurone und ist
Septum pellucidum gebildet, das vorwiegend beim Menschen besonders voluminös (s. Abb.
aus Gliazellen besteht. Dieses verbreitert sich in 5.121). Außerdem liegen hier in die Stria diago-
Richtung Hirnbasis und geht unterhalb des Ros- nalis eingebettete Zellgruppen.
trum corporis callosi, noch vor der Commissura
• Der Mandelkernkomplex, Corpus amygdalo-
anterior, beiderseits in die Septumkerngebiete
ideum, kurz: Amygdala. Das Corpus amygda-
über, die auf der Medianfläche der Hemisphäre
loideum liegt nahe dem Polus temporalis an der
den Gyrus paraterminalis vorwölben. Diese
Spitze des Unterhorns des Seitenventrikels und
Kerngebiete, Area septalis oder einfach Septum
an der medialen Fläche des Lobus temporalis
genannt, werden in eine mediale, eine laterale
und damit unterhalb von Putamen und Globus
und eine basale Kerngruppe unterteilt. Zur
pallidus. Es besteht aus einer medialen Rinden-
medialen Kerngruppe zählt der Nucleus striae
region im Bereich des Gyrus semilunaris (Nucl.
diagonalis, der eingebettet ist in die Stria dia-
corticalis) und einem lateralen Kernanteil, der
gonalis, das Broca-Diagonalband, das von
an der Oberfläche den Cortex periamygdaloi-
der Unter- auf die Medianfläche des Gehirns
deus vorwölbt.
umbiegt. Die basale Kerngruppe wird zur
Subnuclei der Amygdala. Der Mandelkern-
Pars basalis telencephali, dem basalen Vor-
komplex wird in mehrere Unterkerne gegliedert,
derhirn, gerechnet, das zwar nicht vollständig
in den oberflächlich gelegenen Nucl. corticalis,
zum Paleocortex gehört, hier aber wegen der
den Nucl. centralis, den Nucl. basalis sowie in
Topographie beschrieben wird.
den Nucl. lateralis. Aus entwicklungsgeschicht-
• Basales Vorderhirn. Die Kerngebiete der Pars
lichen Gründen kann man diese Unterkerne
basalis telencephali liegen beiderseits unter
in 2 Kategorien fassen, in die phylogenetisch
den Fasern der Commissura anterior (s. Abb.
ältere kortikomediale Gruppe {Nucl. cortica-
5.69). Basal grenzen sie an die Hemisphären-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 397

Iis, Nucl. centralis) und in die phylogenetisch Sulcus cinguli und basal durch den Sulcus collate-
jüngere basolaterale Gruppe (Nucl. basalis, ralis markiert.
Nucl. lateralis). Dabei empfangt die kortiko-
1. Archicortex
mediale Gruppe afferente olfaktorische Fasern
des Bulbus olfactorius und stellt außerdem das • Hippocampus (retrocommissuralis). Der
Ursprungsgebiet der Stria termina/is dar. Die Hippocampus besteht aus Cornu ammonis,
basolaterale Gruppe besitzt Faserverbindungen Gyrus dentatus (auch Fascia dentata genannt)
zum präpiriformen und entorhinalen Cortex und und Subiculum. Er stellt beim Menschen
damit zum Limbischen System (s. Abb. 5.115 eine ausgeprägte Vorwölbung des medialen
und 5.120). Kürzlich wurden auch Verbindun- Bodens des Cornu inferius ventriculi lateralis
gen zur Sehbahn postuliert. dar (s. Kap. 5.3, S. 433). Die Rinde des Gyrus
parahippocampalis geht in die des Subiculum
über, und diese wiederum in die Zellschichten
Archicortex und Periarchicortex des Cornu ammonis, welche sich einrollen und
in den Ventrikel vorwölben. Aus ihnen geht die
Die Rinden- und Kerngebiete des Archi- Fimbria hippocampi hervor, die den Beginn
und Periarchicortex bestehen aus folgenden des Fornix darstellt. Der Gyrus dentatus (so
Abschnitten: bezeichnet wegen seiner gezähnelten Oberfäche
1. Archicortex im Sulcus hippocampi) wird zentral von einer
Hippocampus retrocommissuralis (Subiculum, Körnerzellschicht gebildet, die kappenartig auf
Cornu ammonis, Gyms dentatus), dem Zellband des Cornu ammonis liegt (s. Abb.
Hippocampus supracommissuralis (rudimen- 5.122 und 123). Der Gyrus dentatus geht dorsal
tär), in den Gyrus fasciolaris über, wodurch er
Hippocampuspraecommissuralis (rudimentär). Kontakt zum Indusium griseum bekommt. Der
Gyrus parahippocampalis läuft rostral in den
2. Periarchicortex Uncus aus, der vor dem Hirnstamm nach medial
Regio entorhinalis (Area 28 nach Brodmann), vorspringt.
Regio praesubicularis, Besonders auf Frontalschnitten (s. Abb. 5.36) ist
Regio cingularis. die Struktur des Hippocampus gut zu erkennen.
Das griechische Wort hippokampos bedeutet
Hippocampus. Durch Zunahme des Größenwachs- „Seepferdchen", dessen Ähnlichkeit zur einge-
tums des Neocortex wurden Gyrus dentatus, rollten Struktur dieses Teils des Limbischen Sys-
Cornu ammonis (Hippocampus proprius) sowie tems betont werden soll. Gleichfalls beschreibt
das Subiculum, die gemeinsam als Hippocampus das lateinische Wort Cornu ammonis den Wid-
bezeichnet werden, in den Temporallappen hin- derhorn-artig gedrehten Verlauf von Fornix und
einverlagert. Der Begriff Hippokampusformation Hippocampus (die ägyptische Gottheit Ammon
schließt zusätzlich Anteile des Gyrus parahippo- wurde mit Widderhörnern dargestellt).
campalis (Area entorhinalis) mit ein.
• Hippocampus supra- et praecommissura-
lis. Aus dem retrokommissuralen Teil geht in
Die Hippokampusformation stellt einen zen-
Höhe des Splenium corporis callosi der aus
tralen Abschnitt des Limbischen Systems
dem Indusium griseum und den Striae longitu-
dar (s.Kap. 5.4.10.1) und ist für bestimmte
dinales bestehende rudimentäre Hippocampus
Gedächtnisfunktionen essentiell.
supracommissuralis hervor (s. Abb. 5.124). Er
zieht über den Balken hinweg nach rostral, um
Zum Neocortex hin wird der Hippocampus von
im Bereich des Balkenknies in den ebenfalls
einer breiten Übergangszone, dem Periarchicor-
rudimentären Hippocampus praecommissuralis
tex, umgeben. Dieser umgebende Ring wird vom
überzugehen. Diese Relikte beschreiben die
Gyrus cinguli, dem Isthmus gyri cinguli und vom
phylogenetische Wanderung des Hippocampus
Gyrus parahippocampalis gebildet (s. Abb. 5.36).
in den Temporallappen.
Die Grenze zum Neocortex wird dorsal durch den

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
398 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

2. Periarchicortex
Als Basalganglien, Nucll. basales, bezeichnet
• Regio entorhinalis. Sie liegt lateral des Hip- man die großen grauen Kerngebiete, die sich
pocampus (retrocommissuralis) sowie medial in der weißen Substanz des Telenzephalons
des Neocortex im Gyrus parahippocampalis befinden. Sie stehen anatomisch, funktionell und
und wird dem Periarchicortex zugezählt. Sie pathologisch in enger Beziehung zueinander.
entspricht dem Brodmann-Areal 28 (s. Kap.
5.4.10.2, Abb. 5.127 und 128) und grenzt rostro- Definition. Zu den Basalganglien zählen zunächst
medial an den Mandelkernkomplex . Die laterale als Abkömmlinge des Ganglienhügels des Telen-
Begrenzung wird vom temporalen Neocortex als zephalonbläschens der Globus pallidus lateralis,
Gyrus occipitotemporalis medialis bestimmt. der Nucl. caudatus, das Put amen, das Corpus
Zwischen beiden Strukturen liegt der Sulcus amygdaloideum und das Claustrum. Funktionell
rhinalis. Medial geht die entorhinale Rinde in (klinisch) werden zu den Basalganglien noch
die des Subiculum über, welche sich ihrerseits weitere Anteile des Extrapyramidalmotorischen
in das Pyramidenzellband des Cornu ammonis Systems (s. Kap. 5.4.7.5.1, S. 497) gezählt: der
fortsetzt (Abb. 5.122). Der entorhinale Cortex Globus pallidus medialis und der Nucl. subthalami-
stellt wegen seiner vielfaltigen Nachbarschafts- cus, die beide Derivate des Dienzephalonbläschens
beziehungen und Verbindungen mit weiten darstellen, sowie die Substantia nigra (s. Abb. 5.18,
Bereichen des Neocortex und des Limbischen 31 und 52) und der Nucl. ruber als Derivate des
Systems ein sehr wichtiges Integrationszentrum Mesenzephalonbläschens.
fur multimodale sensorische Informationen dar.
Dabei bestehen enge Verbindungen zum Limbi- • Schweifkern (Schwanzkern), Nucl. caudatus.
schen System. Dieser schwanzförmige Kem beschreibt einen
Halbbogen in der Wand des Seitenventrikels,
• Regio praesubicularis, Praesubiculum. Es
wobei sein Kopf, das Caput nucl. caudati, als
bildet eine Übergangszone zwischen der Area
rundliche, von Ependvm bedeckte Vorwölbung
entorhinalis und dem Subiculum des Hippocam-
die laterale Wand des Cornu anterius ventriculi
pus. Es ist ebenfalls als eine wichtige Relaissta-
lateralis einbuchtet (s. Abb. 5.32, 34, 35). Nach
tion für die Fasern des Gyrus cinguli zur Area
dorsal verjüngt er sich zum Körper, Corpus
entorhinalis anzusehen, wodurch es funktionell
nucl. caudati, und legt sich als Schwanz, Cauda
zum Limbischen System und insbesondere zum
nucl. caudati, lateral an den Thalamus an. In der
Papez-Neuronenkreis gerechnet wird (s. Kap.
Rinne, die sich so zwischen Nucl. caudatus und
5.4.10.1, S. 521)
Thalamus in der Wand der Pars centralis des
• Regio cingularis. Die balkennahen Anteile Seitenventrikels ausbildet, verlaufen die Striae
des Gyrus cinguli werden zum Periarchicortex terminales (Verbindungen zwischen Amygdala
gerechnet. Von der eigentlichen Area cingularis und Hypothalamus) sowie die V. thalamostriata.
werden nach rostral die Area subcallosa und Im Unterhorn des Seitenventrikels biegt der
nach dorsal die hinter dem Splenium corporis Nucl. caudatus nach rostrobasal in den Tempo-
callosi gelegene Area retrosplenialis abge- rallappen ein, so dass er in Frontalschnitten stel-
grenzt. Aufgrund ihrer morphologischen Nach- lenweise zweimal getroffen wird. Die Schwanz-
barschaftsbeziehungen und Verbindungen wird spitze des Nucl. caudatus gelangt rostral bis an
diesen Arealen eine funktionelle Vermittlerrolle den Mandelkernkomplex heran (s. Abb. 5.36).
zwischen dem Neocortex und dem Archicortex
• Streifenkörper, Corpus striatum. Als Corpus
zugesprochen.
striatum (kurz: Striatum) werden traditionell
der Nucl. caudatus und das Putamen (s. Abb.
5.2.5.2 Basalganglien, Nuclei basales 5.47), in neuerer Zeit auch der Nucl. accumbens
(als ventrales Striatum) und das Tuberculum
olfactorium pars striata zusammengefasst.
Lernziele: Nucl. caudatus, Striatum, Putamen,
Der Name Streifenkörper leitet sich aus dem
ventrales Striatum, Nucl. accumbens, Globus
makroskopischen Aspekt alternierender Streifen
pallidus und Claustrum.
weißer Faserbündel und grauer Kemgebiete ab.
Das Putamen und der Nucl. caudatus sind im

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des Z N S 399

rostralen Bereich miteinander verbunden und Striatum, eine dopaminerge Projektion aus dem
nur stellenweise von Fasern der Capsula interna ventralen Tegmentum (s. Kap. 5.4.7.5).
getrennt. Gemeinsam werden sie auch als
Neostriatum bezeichnet, weil sie ein phyloge- Klinik: Funktionell werden dem Nucl. accum-
netisch jüngeres, dem Neocortex zugeordnetes bens die Integration von Informationen sowohl
Kerngebiet darstellen. Sie bilden das wichtigste aus den Basalganglien als auch aus dem Lim-
Zentrum für die Steuerung der Extrapyramidal- bischen System zugeschrieben. Neueste For-
motorik, in das außerdem noch der Globus palli- schungen sprechen ihm dabei eine große Bedeu-
dus mit einbezogen ist (s. Kap. 5.4.7.5, S. 496). tung für die Entstehung von psychomotorischen
Störungen, der Schizophrenie sowie anderer
Klinik: 1. Schädigung und Atrophie des Stri- neuropsychiatrischer Erkrankungen zu.
atum treten u.a. beim Morbus Huntington auf.
Diese Erbkrankheit entsteht v. a. durch einen • Blasser Kern, Globus pallidus. Namensge-
ausgeprägten degenerativen Verlust von Pro- bend ist seine im Vergleich zum Putamen hellere
jektionsneuronen im Striatum. 2. Etwa in der Schnittfläche im makroskopischen Präparat (lat.
Lebensmitte kommt es in zunehmendem Maße pallidus = blass). Er wird an seiner lateralen
zu unwillkürlichen, choreatiformen (tanzenden) Seite durch die Lamina medullaris externa
Bewegungen, die auch mit Veränderungen der vom Putamen abgegrenzt und durch die Lamina
Persönlichkeit und progredienter Demenz ver- medullaris interna in ein inneres und äußeres
bunden sind. Segment, Globus pallidus medialis et late-
ralis, geteilt (s. Abb. 5.29, 30). Die Segmente
• Schale, Putamen. Es liegt lateral des Caput des Globus pallidus enthalten unterschiedliche
nucl. caudati und medial der Capsula externa, Projektionsbahnen (s. Abb. 5.111).
die das Putamen vom Claustrum trennt. Auf
das Claustrum folgen nach außen die Capsula Der Globus pallidus ist entwicklungsge-
extrema und die Inselrinde. Die Medianfläche schichtlich dienzephaler Herkunft und durch
des Putamens ist durch die Lamina medullaris die einwachsenden Fasern der Capsula interna
lateralis vom äußeren Segment des Globus nach lateral verlagert worden, so dass er an das
pallidus getrennt. Über die Capsulae interna et Putamen gedrängt wurde. Beide Kerne werden
externa treten Fasem ins Putamen ein, während wegen ihrer gemeinsamen Form als Linsen-
es basal einen Übergang zur Substantia inno- kern, Nucl. lentiformis, zusammengefasst.
minata bildet. Relativ versteckt liegt hier das
ventrale Putamen (Abb. 5.32).
Klinik: 1. Der Globus pallidus gilt als Zentrum
• Ventraler Teil des Streifenkörpers, Striatum
der Trieb- und primitiven Reaktionsbewegun-
ventrale. Die Commissura anterior, deren hinte-
gen sowie des unmittelbaren motorischen Aus-
rer Schenkel in der Basalfläche des Linsenkerns
drucks. So bewirkt eine doppelseitige Läsion
in einer Rinne verläuft, grenzt einen kleinen
des Globus pallidus eine starke Bewegungsar-
Anteil des Putamens und des Globus pallidus ab.
mut, Hypokinesie, und eine merkliche Abnahme
Die so abgegrenzten Teile werden als ventrales
der motorischen Geschicklichkeit, die sich in
Striatum bezeichnet und liegen in der Substantia
ataktischen Störungen äußert. 2. Allgemein
innominata des basalen Telenzephalons. Zusam-
kann dem Globus pallidus eine exzitatorische
men mit den Nucll. accumbens et dorsomedialis
Funktion zugeschrieben werden, die aber ihrer-
thalami zählt das ventrale Striatum zum limbi-
seits einer inhibitorischen Kontrolle durch das
schen Teil der Basalganglien.
Corpus striatum unterliegt.
• Nucl. accumbens (septi). Der kleine rostro-
basale Bereich des Striatalen Kernkomplexes
• Vormauer, Claustrum. Das Claustrum liegt
wird auch Nucl. accumbens (septi) genannt. Er
lateral der Capsula externa an. Es stellt eine
liegt rostral zwischen Nucl. caudatus und Put-
dünne Platte aus grauer Substanz medial der
amen und grenzt medial an den Nucl. septalis
Inselrinde dar, von der es durch eine dünne
lateralis. Der Nucl. accumbens erhält, wie das
Faserlamelle, die Capsula extrema, getrennt ist
(s. Abb. 5.29). Auf Horizontalschnitten erscheint
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
400 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

es rostral breiter und basal schmaler. Sichere


Assoziationsfasern verbinden Rindenareale
Daten zur Funktion des Claustrum beim
innerhalb der gleichen Hemispäre. Kommis-
Menschen liegen kaum vor. Aus tierexpe-
surale Fasern verbinden die beiden Groß-
rimentellen Untersuchungen, insbesondere
hirnhemispären. Projektionsfasern verbinden
an Primaten, lässt sich jedoch entnehmen,
verschiedene Hirnteile (z.B. Großhirn und
dass eine vielfaltige, ipsi- und kontralaterale
Kleinhirn).
Verschaltung mit dem Neocortex existiert.
Außerdem zeichnet sich aus histologischen
1. Assoziationsfasern
Untersuchungen ab, dass drei Viertel der
Afferenzen des Claustrum multimodal (s. u.)
Durch ihre topographische Anordnung kommt
sind, so dass diese Struktur wohl im Rahmen
es zu einem gerichteten Fluss ankommen-
assoziativer Funktionen steht.
der Signale aus den primären Sinnesarealen
über sekundäre Rindenfelder zu höheren, der
5.2.5.3 Das Großhirnmark: multimodalen Integration dienenden Arealen.
Hierdurch werden höhere Gehirnfunktionen wie
Fasersysteme
kognitive Prozesse möglich.

Lernziele: Systematik der Fasersysteme,


Folgende Assoziationsfasersysteme werden unter-
Assoziations-, Kommissurale und Projekti-
schieden:
onsfasern, große Projektionssysteine
• Kurze Bogenfasern, Fibrae arcuatae breves.
Die weiße Substanz unter dem Cortex telen- Sie verbinden benachbarte Windungen mitein-
cephali enthält die markhaltigen Fasersysteme ander (Abb. 5.44).
(Abb. 5.43). Nach Herkunft und Ziel der • Lange Bogenfasern, Fibrae arcuatae longae.
Fasersysteme werden 3 Typen unterschieden: Sie stellen längere Fasern dar, die jeweils eine
Assoziations-, Kommissurale und Projekti- Windung überspringen.
onsfasern. • Gürtel, Cingulum. Im Gyrus cinguli gelegen
fuhrt das Cingulum ebenfalls assoziative Fasern.
In seinem Verlauf nimmt es durchgehend Fasern

Fibra arcuata brevis- , , Cingulum

. --Corpus callosum
Fibra arcuata longa"

Gyrus cinguli ~ — — Fasiculus


longitudinalis superior
Nucleus caudatus - _ • Fornix

Thalamus- —Capsula interna

Nucleus lentiformis — Ansa peduneularis

Corpus amygdaloideum - — Fasciculus


longitudinalis inferior

Corpus mamillare Crus cerebri

Abb. 5.43: Fasersysteme in der weißen Substanz des Großhirns; Assoziationsfasern = rot; Kommissurenfasern
= blau und Projektionsfasern = schwarz; schematisch in einen Frontalschnitt in Höhe der Adhaesio interthalamica
eingetragen
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des Z N S 401

Fasern der Radiatio


thalami superior Fibrae arcuatae breves

Fasern der Radiatio Fasern des Tractus


thalami inferior pyramidalis und
Fibrae corticoteg-
Hemispherium cerebelli mentales
mit dem Lobus simplex
Fasern der
und dem Lobus Radiatio thalami
semilunaris inferior anterior

Fissura horizontalis Thalamus


cerebelli

Abb. 5.44: Plastiniertes Faserpräparat der weißen Substanz der Großhirnhemisphäre. Zu sehen sind
insbesondere die Radiatio thalami, aber auch Fibrae arcuatae breves

vom Cortex auf, gibt weitere Fasern an benach- 2. Kommissurale Fasern


barte Windungen ab und endet in der Rinde des
Subiculum der Hippokampusformation. Letz- Die kommissuralen Fasern des Telencephalon
tere versorgt es im Nebenschluss mit Signalen stellen die Verbindung von Rindenregionen der
der Sinnesbahnen und der motorischen Rinde. rechten und linken Hemisphäre her.
• Weitere Assoziationsfasern. Über weitere
Fasern erreichen Signale der multimodalen Folgende kommissurale Fasersysteme werden
Assoziationskortizes, des präfrontalen und unterschieden:
des parietotemporalen Neocortex die limbi-
• Balken, Corpus callosum. Er stellt die größte
sche Regio entorhinalis im Lobus temporalis.
Kommissur dar. Seine Fasern verbinden die
Dickere, gut präparierbare Bündel langer Asso-
Areale des Neocortex beider Hemisphären
ziationsfasern durchziehen das Marklager der
miteinander. Die vom Cortex ausgehenden, ins
Hemisphäre, um die Hirnrinde der Lobi einer
Marklager einstrahlenden Fasern konvergieren
Seite miteinander zu verbinden:
in der Mittellinie und werden deshalb auch
• Oberes Längsbündel, Fasciculus longitudina- Balkenstrahlung, Radiatio corporis callosi,
lis superior. Er liegt oberhalb der Insel in der genannt (zum Aufbau s. Kap. 5.2.2.3, S. 377,
weißen Substanz der Lobi frontalis et parietalis zur Funktion s. Kap. 5.4.10.2). Einige Rinden-
und verbindet v. a. die frontale Hirnrinde mit bezirke sind nicht über kommissurale Fasern
den Assoziationsfeldern der Scheitel- und Hin- miteinander verbunden ζ. B. die Area 17 (pri-
terhauptslappen. Eine bogenförmige Abzwei- märe Sehrinde) und die Area 3 (eine Region für
gung dieses Bündels, der Fasciculus arcuatus, die primäre taktile Repräsentation des Körpers).
ermöglicht den Signaltransfer zwischen der Die Kommunikation zwischen den Gehirnhe-
rostralen und dorsalen Sprachregion der linken misphären erfolgt hier über die umgebenden
Hemisphäre. sekundären Rindenareale.
• Unteres Längsbündel, Fasciculus longitudi- • Vordere Querverbindung, Commissura ante-
nalis inferior. Er liegt zentral im Schläfenlap- rior. Sie verbindet beide Bulbi olfactorii sowie
pen, lateral vom Unterhorn des Seitenventrikels. paläokortikale Temporallappenanteile miteinan-
Er verbindet den Schläfen- und Hinterhaupts- der.
lappen, wobei sich seine Fasern in die Radiatio • Gewölbequerverbindung, Commissura forni-
optica auffächern und dort das Stratum sagit- cis. Die rechten und linken limbischen Rin-
tale bilden. dengebiete (Gyrus cinguli, Gyrus parahippo-
• Hakenbündel, Fasciculus uncinatus. Er kann campalis mit der Area entorhinalis sowie beide
nach Abschaben der Rinde des Limen insulae Hippokampusformationen) sind nur durch sie
dargestellt werden. Dieses Bündel verläuft vom verbunden.
Orbitalen Teil des Stirnlappens bis zum Polus • Zügelquerverbindung, Commissura habenu-
temporalis des Schläfenlappens. larum. Diese kleine Kommissurenbahn gehört
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
402 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

zum Epithalamus des Dienzephalons und ver- Crus anterius (zwischen Caput nucl. caudati
bindet die Nucll. habenulares thalami miteinan- und Linsenkern), sowie ein breites Knie, Genu,
der. erkennen, welches in Höhe des Foramen inter-
• Hintere Querverbindung, Commissura ventriculare (Monroi) liegt. Das Knie setzt sich
posterior. Sie ist ein Teil des Mesenzephalons in den hinteren Schenkel, Crus posterius, zwi-
und ermöglicht insbesondere die Kreuzung von schen Thalamus und Linsenkern fort. Die Faser-
Fasern der Area praetectalis für die Pupillenre- systeme der Capsula interna unterliegen einer
flexe (s. Kap. 5.4.2.4, S. 461). topischen Anordnung, wobei die kürzeren tha-
lamokortikalen Projektionsfasern mehr medial
3. Projektionsfasern
und die längeren kortikospinalen Fasern mehr
lateral verlaufen. In ihrer Gesamtheit werden die
Sie stellen Fasern dar, die von der Rinde zu Fasern der Capsula interna als Strahlenkranz,
tiefer gelegenen Hirnabschnitten ziehen und Corona radiata, zusammengefasst.
umgekehrt (kortikofugale und kortikopetale
• Thalamusstrahlung, Radiatio thalami. Hier-
Fasern) (schwarz in Abb. 5.43).
unter versteht man die Projektionsfasern zwi-
schen Thalamus und Cortex einer Hemisphäre,
Unterschieden werden:
die nach Passage der engen Capsula interna
• Innere Kapsel, Capsula interna. Die Projek- strahlenartig auseinanderweichen und in die
tionsfasern der Hirnrinde wachsen durch die Rindenareale (und von dort zurück in den Tha-
zentralen Kerngebiete hindurch, wo sie die lamus) projizieren. In der Corona thalami ver-
innere Kapsel bilden. Sie wird lateral vom Nucl. laufen also kortikothalamische und thalamokor-
lentiformis und medial von Nucl. caudatus und tikale Fasern als Fasciculi thalamocortical in
Thalamus begrenzt (s. Abb. 5.30, 34, 46 und topischer Anordnung. Die Corona thalami wird
110). Auf Horizontalschnitten (und nur auf in einen vorderen (Abb. 5.45, gelb dargestellt),
diesen, die daran auch zu identifizieren sind) oberen (schwarz), hinteren (grün) und unteren
erscheint die Capsula interna V-förmig. So (blau) Thalamusstiel unterteilt.
lässt sie einen schmalen vorderen Schenkel,

Thalamus
Nucleus caudatus

\
I \
Crus cerebri Tractus opticus

Abb. 5.45: Schema der Thalamusstiele (Radiationes thalami oder Fasciculi thalamocorticales\ verändert nach
Tandler). An einem durchsichtig gedachten Gehirn ist der Linsenkern entfernt und das Crus cerebri am Über-
gang in die Capsula interna durchtrennt. Gelb = vorderer, schwarz = oberer, grün = hinterer, und blau = unterer
Thalamusstiel
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 403

vorderer Thalamusstiel

Tractus frontopomnus
Nucleus caudatus
Crus anterius capsulae internae — _ . vorderer Thalamusstiel (Querschnitt)

Insula - — — Tractus frontopontinus (Querschnitt)

Genu capsulae internae — Tractus corticonuclearis

Tractus corticospinalis (Arm)



Nucleus lentiformis Tractus corticospinalis (Bein)
(Putamen und Globus pallidus)
Thalamus

Crus posterius capsulae internae — Corpus geniculatum laterale

Tractus temporopontinus -

Radiatio acustica

Radiatio optica -
Tractus occipitopontinus

Cerebellum

Abb. 5.46: Horizontalschnitt durch das Gehirn in Höhe der Basalganglien (in der Capsula interna
sind die Bahnen eingezeichnet)

zu den Brückenkernen, NucH. pontis, verläuft. Sie


Die doppelläufigen Verbindungen zwischen
führt auch Fasern (rot in Abb. 5.46) vom frontalen
Cortex und Thalamus haben eine große Bedeu-
motorischen Augenfeld zu den Colliculi superiores
tung für die menschlichen Bewusstseinsfunk-
laminae tecti und zur paramedianen pontinen For-
tionen. Deshalb wird der Thalamus auch als
mat io reticularis (PPFR).
„Tor zum Bewusstsein" bezeichnet, da mit
Ausnahme der olfaktorischen Impulse sämtli- 3. Kortikonukleärer oder auch bulbärer Teil der
che Sinnesinformationen von den (Meta-)Tha- Pyramidenbahn, Tractus corticonuclearis. Er
lamuskernen auf entsprechende Rindenareale liegt im Genu der Capsula interna. Der operkuläre
projiziert werden. Teil des Gyrus praecentralis projiziert zu den moto-
rischen Ursprungskernen der Hirnnerven.
Zwischen den Thalamusstielen verlaufen die vom
4. Spinaler Teil der Pyramidenbahn, Tractus
Cortex absteigenden Bahnen zur Capsula interna.
corticospinalis, der vom Gyrus praecentralis zu
Sie sollen wegen ihrer topographischen Nähe hier
den α-Motoneuronen in den Vordersäulen des
mit aufgeführt werden (Abb. 5.46):
Rückenmarks projiziert (s. Kap. 5.4.7.5.1, S. 497).
1. Vorderer Thalamusstiel, der eine doppelläufige Dieser Fasertrakt liegt im Crus posterius der
Verbindung zwischen dem Nitcl. dorsomedialis Capsula interna, wobei rostral die Fasern für die
thalami und der präfrontalen Rinde darstellt. Versorgung der Arm- und dorsal diejenigen für die
Beinmuskulatur verlaufen.
2. Frontale Brückenbahn, Tractus frontoponti-
nus, die von der oberen und mittleren Stirnwindung
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
404 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

5. Oberer Thalamusstiel, der als Taststrahlung


ten (lakunäre Marklagerinfarkte). Blutung und
die sensiblen Informationen (s. Kap. 5.2.7.4,
Infarkt schädigen die Fasersysteme in ähnlicher
5. 427, Kap. 5.4.6.4, S. 484, Abb. 5.98) vom Nucl.
Weise, weshalb klinisch sehr ähnliche akute
ventralisposterior thalami zum Gyrus postcentralis
Symptome auftreten (Schlaganfall).
des Parietallappens leitet. Der obere Thalamusstiel
enthält außerdem Fasern des vestibulären und des
gustatorischen Systems.
5.2.5.4 Zwischenhirn, Diencephalon
6. Okzipitotemporale Brückenbahn, Tractus
temporopontinus et occipitopontinus, vom
Lernziele: Gliederung des Diencephalon: Tha-
Schläfen- und Hinterhauptslappen zu den Nucll.
lamus (dorsalis), Metathalamus, Subthalamus,
pontis (auch: Türck-Bündel). Darunter finden sich
Hypothalamus und Hypophyse
Fasern zur Formatio reticularis, die der Steuerung
der sakkadischen Blickmotorik dienen (rot kariert
in Abb. 5.46).
5.2.5.4.1 Lage
7. Hinterer Thalamusstiel, der vom Pulvinar zur
Das Diencephalon liegt zwischen den beiden End-
Assoziationsrinde des Temporallappens verläuft.
hirnhemisphären, ist jedoch nur teilweise mit ihnen
8. Sehstrahlung, Radiatio optica, vom Corpus verwachsen. Der III. Ventrikel bildet den Hohlraum
geniculatum laterale (CGL) zur Umgebung des des Dienzephalons. An der Hirnbasis befindet sich
Sulcus calcarinus, der Area striata (Area 17 nach der Hypothalamus oberflächennah.
Brodmann, s. Abb. 5.127, 128).
Basal liegen die Corpora mamillaria, rostral das
9. Hörstrahlung, Radiatio acustica, die vom Tüber cinereum mit dem Hypophysenstiel, Infun-
Corpus geniculatum mediale (CGM) zum Gyrus dibulum. Weiter rostral lagert sich das Chiasma
temporalis superior zieht. opticum an (s. Abb. 5.13, 26, 36, 39 und 40).
10. Unterer Thalamusstiel, der als doppelläufige
Verbindung vom Nucl. dorsomedialis thalami zum 5.2.5.4.2 Gliederung
Mandelkernkomplex und zur periamygdalären
Rinde gelangt. Das Diencephalon gliedert sich in folgende
Anteile: den Epithalamus, den Thalamus
Klinik: 1. Großhirnmark und weiße Substanz (auch: Thalamus dorsalis) mit dem Metatha-
des Rückenmarks sind bei der Multiplen Skle- lamus (den Corpora geniculata), den Subtha-
rose (MS), einer Autoimmunerkrankung gegen lamus (auch: Thalamus ventralis) und den
das die Nervenfasern umscheidende Myelin, Hypothalamus.
betroffen. Die typischen Entmarkungsherde
finden sich vorwiegend um die Seitenventrikel
herum (periventrikulär). Je nach betroffenem Epithalamus
Bahnsystem resultieren verschiedene Ausfall-
symptome (ζ. B. Lähmungen, Sprachstörungen, Der Epithalamus liegt hinter dem Dach des III.
Sehstörungenen). Bei Ausfall der Assoziati- Ventrikels und setzt sich aus der Zirbeldrüse,
ons- und Projektionsfasern kann es auch zu Corpus pineale, und dem Zirbelstiel, Habenu-
kognitiven Defiziten kommen (Gedächtnis- und lakomplex, zusammen (s. Abb. 5.50, 138). Ros-
Konzentrationsstörungen). 2. Die innere Kapsel trai des Corpus pineale am Übergang des dritten
und die umliegenden zentralen Kerngebiete sind Ventrikels in den Aquaeductus mesencephali
häufig von Einblutungen in die Hirnsubstanz befindet sich die Commissura epithalamica
betroffen (Marklagerblutungen). Die Sympto- (posterior).
matik ist durch den Ausfall der Pyramidenfasern
sowie durch Anschluss der sich ausdehnenden • Zirbeldrüse, Corpus pineale (Epiphysis
Blutung an das Liquorsystem meist dramatisch. cerebri). Sie ist ein länglicher, abgeplatteter,
Ebenso können im Bereich der Capsula interna an einen Pinienzapfen erinnernder Körper, der
auch Verschlüsse kleinkalibriger Gefäße auftre- etwa erbsengroß ist und sich auf dem Zwischen-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 405

hirndach nach dorsal entwickelt. Der III. Vent- Verbindung zur Zirbeldrüse herstellen. Der
rikel hat einen kleinen Recessus pinealis an der Habenulakomplex erhält Afferenzen aus den
Epiphyse (s. Abb. 5.73). Die Zirbeldrüse liegt Septumkernen sowie aus dem rostralen Teil
der Vierhügelplatte auf und ist in Bindegewebs- des Hypothalamus. Seine Efferenzen ziehen als
trabekel der weichen Hirnhaut eingewoben. Sie Fasciculus retroflexus (Meynert), oder Trac-
wird von sympathischen Nervenfasern aus dem tus habenulointerpenduncularis, in die Tiefe
Ganglion cervicale superius erreicht (zur Funk- zum Nucl. interpeduneularis und zur Formatio
tion s. Kap. 5.4.11.4, S. 549). reticularis mesencephali. Die Habenulae (lat. =
Dieses unauffällige kleine Organ ist medizinhistorisch Zügel, Halter) stellen die Fortsetzung der Striae
immer wieder Anstoß wissenschaftlicher Spekulationen medulläres zur Epiphyse dar.
gewesen, die im jeweiligen theoretischen Kontext der
einzelnen Epochen standen. Rene Descartes lokalisierte Klinik: Über den Fasciculus retroflexus können
hier im 17. Jahrhundert das Verbindungselement des olfaktorische und limbische Impulse über
somatischen Körpers mit einer immateriellen Seele. Umschaltstationen im Mesencephalon Einfluss
Francois Magendie nahm im 19. Jahrhundert an, dass die
auf viszerale Funktionen nehmen. Das gilt
Zirbeldrüse ein Ventil darstelle, welches die Zirkulation
insbesondere für die Bedeutung der Riechemp-
des Liquor cerebrospinalis kontrollieren sollte. Heute
geht man davon aus, dass es sich um ein endokrines findung auf die Nahrungsaufnahme, so für die
Organ handelt. So hat etwa die vergleichende Physio- Speichelsekretion in der kephalen Phase oder
logie festgestellt, dass das Corpus pineale bei primitiven den Brechreiz bei widerwärtigen Gerüchen.
Wirbeltieren lichtempfindlich ist (Parietalauge) und die
zirkadiane Rhythmik der Hormonsekretion steuert. • Epithalamische Querverbindung, Commis-
sura epithalamica (posterior). Sie ragt auf der
Klinik: 1. Das Corpus pineale lagert im Lauf Höhe zwischen Pinealorgan und Lamina tecti in
des Lebens häufig Kalksalze, Acervulus (lat. = den III. Ventrikel vor und beinhaltet kreuzende
Hirnsand), ein. Hierdurch wird es als median Fasern der Area praetectalis und der Colliculi
liegende Struktur in Röntgenbild und cCT sicht- superiores (s. Abb. 5.39).
bar. Das Corpus pineale diente vor Einfuhrung
von cCT und MRT als topographischer Orien- Thalamus (Thalamus dorsalis)
tierungspunkt, da es sich annähernd zentral
im kugelförmig gedachten Schädel befindet. Der Thalamus dorsalis (im klinischen Sprachge-
Eine Lageverschiebung konnte daher sichtbar brauch wird auf den Zusatz „dorsalis" verzichtet)
gemacht und als Zeichen von Massenverschie- ist ein Derivat der dienzephalen Flügelplatte und
bungen des Hirnparenchyms gedeutet werden. stellt funktionell die wichtigste Relaisstation der
2. Pinealome stellen insbesondere frühkindliche Sinnesbahnen des Körpers (kutan, gustatorisch,
Tumoren dar, die oft eine ernste Prognose haben. optisch, akustisch und vestibulär) dar.
Durch Druckläsionen umgebender Strukturen
(Commissura posterior, Area praetectalis, Colli- Das griechische Wort thalamos bedeutet „Kam-
culus superior) stellt sich zunächst eine vertikale mer". Ursprünglich wurde der Thalamus als nach-
Blickparese ein, da in der Commissura posterior geschalteter Abschnitt der Sehbahn angesehen,
auch Fasern der vertikalen Blickregulation des was nach heutigem Wissensstand aber nur für das
Mesenzephalons kreuzen: Parinaud-Syndrom. Corpus geniculatum laterale zutrifft.
Anschließend kann es durch Druck auf die Area
Topographische Lage (Abb. 5.47). Der Thalamus
praetectalis zu einem Ausfall des Pupillenrefle-
nimmt den größten Teil des Dienzephalons ein. Er
xes kommen.
bildet die laterale Wand des III. Ventrikel, in dessen
Lumen er sich weit vorwölbt (s. Abb. 5.24, 29,
• Habenulakomplex. Am mediodorsalen Thala- 39, 40, 47). Auch an der Bildung des Bodens der
mus liegt eine längliche, sich nach dorsal ver- Seitenventrikels ist er stellenweise beteiligt. In der
breiternde Vorwölbung, der Nucl. habenularis Verlängerung der Haubenregion ins Diencephalon
thalami, auch: Trigonum habenulare (s. Abb. liegen beiderseits Kerne des zentralen thalamischen
5.50). Medial verlaufen zwei dünne Markbün- Höhlengraus (Nucll. mediani). Das Pulvinar (lat. n.
del, die Striae medulläres thalami, die eine = Sitzkissen) thalami und die Corpora geniculata
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
406 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Cavum septi pellucidi Genu corporis callosi


\ /
\ /
\ / Cornu anterius ventriculi lateralis

\ \
Columna fornicis (durchschnitten) \ / '
' / __ Septum pellucidum

Capsula interna \
ICrus anterius) N x N
χ /
X Caput nuclei caudati
X
\
V. thalamostriata-
Claustrum

Capsula interna. . - Capsula externa


(Genu)

Foramen Putamen
interventriculare Nucleus
lenti-
Nucleus Globus
formis
anterior pallidus
Nucleus
Thala-/ Nucleus - lateralis
Thalamus
mus lateralis Nucleus
medialis
Nucleus Cauda nuclei
media Iis
caudati

Ventriculus tertius Hippocampus

X
Colliculus superior X
X
Plexus choroideus
Calliculus inferior
ventriculi lateralis

Abb. 5.47: Horizontalschnitt durch das Gehirn in Höhe des Thalamus

liegen an der Oberfläche des Hirnstamms lediglich des Thalamus befindet sich die Capsula interna,
von der weichen Hirnhaut bedeckt. Häufig verbin- was besonders auf Frontalschnitten gut zu sehen ist
det eine schmale Brücke von Gliazellen die Tha- (s. Abb. 5.36).
lami beider Seiten als Adhaesio interthalamica
Beziehung zum III. Ventrikel. Dorsal liegt dem
(s. Abb. 5.29). Im Boden des Seitenventrikels liegt
Thalamus die dünne Lamina affixa auf, ein Teil
dem Thalamus der Nucl. caudatus dorsolateral auf
des Telenzephalonbläschens, welches zum Boden
(s. Abb. 5.25, 37 Mitte). Zwischen diesen beiden
der Pars centralis ventriculi lateralis wird. An der
Kerngebieten verläuft die Stria terminalis, eine
Lamina affixa ist der Plexus choroideus ventriculi
Faserbahn vom Corpus amygdaloideum zum Hypo-
lateralis befestigt (Taenia choroidea). Am Tha-
thalamus (Regio praeoptica et Nucl. ventromedialis
lamus selbst ist im Bereich der Stria medullaris
hypothalami), sowie die Vena thalamostriata.
die Plexus choroideus ventriculi tertii befestigt
Basal folgen dem Thalamus der Hypo- und der (Taenia thalami). Die darüber liegende Platte, Tela
Subthalamus. Der rostrale Pol des Thalamus wölbt choroidea, ist mit dem Plexus zwischen beiden
sich gegen das Foramen interventriculare (Monroi) Thalami ausgespannt und bildet das Dach des III.
vor. Den dorsalen Pol bildet das Polkissen, Pulvi- Ventrikels. Beide Anheftungsstellen werden bei der
nar, das an der Hirnoberfläche in die Cisterna Präparation des Thalamus und bei Entfernung des
ambiens hineinragt. Lateral unter dem Pulvinar Plexus choroideus sichtbar (s. Abb. 5.18, 24, 25,
liegen die beiden Kniehöcker: Corpora genicu- 29, 39, 40 und 47).
lata laterale et mediale, welche als Metathalamus
Innere Gliederung (Abb. 5.48). Der Thalamus ist
zusammengefasst werden. An der lateralen Seite
ein großer, aus etwa 150 Kerngebieten bestehender
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung d e s Z N S 407

A Nucl. anterior
Pallidum
Va Nucl. ventralis anterior
Ncl basatis Meynert -Tr. mamiliothalaniicus
VI Nucl. ventralis lateralis χ
Vp Nucl. ventrahs posterior Amygdala
MD Nucl. mediodorsalis Hypothalamus
CM Nucl. centromedianus
Lp Nucl. lateralis posterior
Ld Nucl. lateralis dorsahs
fith Nucl. reticularis thalami
CGM Corpus geniculatum mediale
CGL Corpus geniculatum laterale

X
ßasalganglien
Area 1 8 , 1 9 ^
Tr. opticus \
Kleinhirn
/
Colliculus inf.
Tractus lemniscus medialis u. Tr. spinothalamicus
opticus

Abb. 5.48: Thalamuskerne mit Hauptafferenzen und mit d e n Projektionen in die Großhirnrinde.
Herkunftsgebiete und Zielorte sind in gleicher Farbe dargestellt

Komplex, der durch feine Marklamellen, die mit unspezifische Truncothalamus, (unspezifische
bloßem Auge gerade noch erkannt werden können, Thalamuskerne) setzt sich hingegen aus den
unterteilt wird. Durch die gebogene Lamina kleinen, in den Marklamellen gelegenen Nucll.
medulläres interna werden mediale, laterale und mediani et intralaminares zusammen, wobei der
anteriore Kerngruppen getrennt. Hinsichtlich Nucl. centromedianus den größten Anteil der
ihrer Funktion und Verschaltung werden (stark letztgenannten Kerngruppe ausmacht.
vereinfacht) Palliothalamus und Truncothalamus
oder spezifische und unspezifische Thalamus- Der Thalamus wird von einer Marklamelle umge-
kerne unterschieden: ben, deren Fasern als Lamina medulläres externa
bezeichnet werden. Zwischen ihr und der Capsula
Spezifische Thalamuskerne: jede Kerngruppe ist
interna liegt der Nucl. reticularis thalami, wel-
mit einer bestimmten Region des Cortex verknüpft
cher basal mit der Zona incerta eine Verbindung
(Palliothalamus).
zum Subthalamus herstellt. Afferenzen stammen
Unspezifische Thalamuskerne: Es bestehen insbesondere vom Globus pallidus, aber auch aus
Faserbeziehungen zum Hirnstamm und zum Stri- anderen Regionen. Vom Nucl. reticularis tha-
atum, aber keine direkte Verbindung zum Cortex lami werden sie zu den einzelnen thalamischen
(Truncothalamus). Kerngebieten weiterprojiziert, so dass ihm eine
wichtige Integrationsfunktion thalamokortikaler
Zum spezifischen Palliothalamus (spezifische und kortikothalamischer Aktivitäten zugesprochen
Thalamuskerne) werden die Nucll. anterior, wird. Zusätzlich bestehen diverse Verbindungen
medialis, lateralis et ventralis sowie das Pulvi- zwischen dem Nucl. reticularis thalami und dem
nar gezählt. Ebenso rechnet man funktionsspezi- Cortex cerebri, so vom rostralen Kernbezirk zum
fische Zentren der Corpora geniculata dazu. Der frontalen Cortex, vom mittleren Teil zum medial

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
408 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

gelegenen Cortex und vom kaudalen Abschnitt


emotionaler Verflachung führte. Dies entspricht
zum okzipitalen Cortex.
Befunden nach stereotaktischen Läsionen im
1. Spezifische Thalamuskerne Bereich des Nucl. anterior thalami.
• Vorderer Kernkomplex, Nucl. anterior
• Lateraler Kernkomplex. Hierzu zählen der
thalami. Er Hegt in der Gabelung der Lamina
Nucl. lateralis dorsalis sowie der Nucl. late-
medullaris interna am rostralen Pol des Thala-
ralis posterior. Der Nucl. lateralis dorsalis
mus. Er erhält insbesondere über den Tractus
buchtet den Thalamus nach dorsal aus und
mamillothalamicus (Vicq d'Azyr) Afferenzen
erhält seine Afferenzen aus dem Fornixgebiet.
aus den Corpora mamillaria sowie Fasern aus
Er sendet seinerseits efferente Fasern in den
dem aufliegenden Fornix und dem Subiculum
dorsalen Abschnitt des Gyrus cinguli. Der Nucl.
zugeleitet (s. Abb. 5.119). Über das Crus anterius
lateralis posterior liegt im dorsalen Teil des
capsulae internae projiziert dieser Kernkomplex
Thalamus und wölbt sich schwach gegen den
zum Gyrus cinguli und zur Area entorhinalis.
Fornix vor. Dem dorsalen Anteil des lateralen
Elektrische Reizungen des anterioren Kernkom-
Kernkomplexes werden integrative Funktionen
plexes rufen vegetative Antworten (Veränderun-
zugeschrieben, während der posterolaterale
gen von Blutdruck und Atemfrequenz) hervor,
Anteil insbesondere Afferenzen aus den Trac-
welche im Zusammenhang mit hypothalami-
tus spinothalamicus et trigeminothalamicus
schen Verbindungen gesehen werden können.
(Schmerzbahn), dem Lemniscus medialis sowie
• Medialer Kernkomplex. Er wird v. a. vom den Tractus vestibulothalamicus et pallidothala-
Nucl. mediodorsalis gebildet, der sich medial micus bekommt.
gegen den III. Ventrikel vorwölbt und in einen
medialen großzelligen und einen lateralen klein-
Klinik: 1. Der laterale Kernkomplex des Thala-
zelligen Teil untergliedert ist. Von diesem ist der
mus ist häufig bei ischämischem Insult betroffen.
Kernkomplex nur durch die Mittellinie getrennt
Durch die Störung des Tractus spinothalamicus
und wird lateral durch die Lamina medullaris
werden die gegenüberliegenden Extremitäten
interna begrenzt wird. Er ist untergliedert in
deafferenziert, d. h. aufgrund einer kompletten
einen medialen großzelligen und einen lateralen
Sensibilitätsstörung findet sich eine schwere
kleinzelligen Teil. Seine Afferenzen stammen
Lagesinnstörung. Ohne Blickkontrolle verliert
besonders aus dem Globus pallidus sowie dem
der Patient das Gefühl für die Position seiner
Nucl. basalis (Meynert, s. Abb. 5.121) und
Gliedmaßen. 2. Mit zeitlicher Latenz entwickelt
werden ihm über den basalen Thalamusstiel
sich ein unangenehmer, quälender und bren-
zugeführt. Er selbst projiziert bevorzugt in den
nender Schmerz der betroffenen Körperhälfte:
frontalen Cortex. Fasern aus dem Hypothalamus
Thalamusschmerz. Aufgrund des Fehlens der
{Regio praeoptica und Tuber cinereum) und dem
sensiblen Afferenzen sind auch die Bewegungen
Corpus amygdaloideum erreichen das mediale
unkoordiniert.
großzellige Kernareal. Demgegenüber erhält
der laterale kleinzellige Bereich insbesondere
Fasern aus den Ventralkernen des Thalamus. • Ventraler Kernkomplex. Im ventralen thalami-
schen Kerngebiet unterscheidet man einen ante-
rioren, einen lateralen und einen posterioren
Klinik: Dem medialen Kernkomplex sollen
Kern:
insbesondere somatische und viszerale Impulse
aus dem Hypothalamus und den Ventralkernen • Nucl. ventralis anterior. Er buchtet den Tha-
zufließen, welche vom Thalamus verarbeitet und lamus nach rostral aus und erhält vorwiegend
anschließend an den frontalen Cortex weiterge- Afferenzen aus den Basalganglien, dem Globus
geben werden. Dies scheint seine Bedeutung pallidus medialis, der Substantia nigra (Pars
fiir die affektive Grundstimmung zu erklären. reticularis), dem Nucl. subthalamicus sowie der
Patienten mit schweren psychischen Erregungs- Formatio reticularis (Nucl. interstitialis Cajal
zuständen wurden im Rahmen einer präfron- - über den Fasciculus longitudinalis medialis).
talen Cingulotomie thalamokortikale Bahnen Nach ihrer Umschaltung im Kern ziehen die
durchtrennt, was zu affektiver Indifferenz und Fasern weiter zum primär motorischen Cortex

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des Z N S 409

(PMA) und zum supplementmotorischen im Palleothalamus) in weite Bereiche des Cortex


Areal (SMA) (s. Kap. 5.4.7.5.2, S. 503, und und besitzt eine generelle Aktivierungsfunktion.
Abb. 5.105). Seine Zuflüsse erhält er v. a. aus dem Nucl. embo-
• Nucl. ventralis lateralis. Er erhält seine liformis cerebelli über den Pedunculus cerebellaris
Afferenzen v. a. aus dem Kleinhirn über die superior (gekreuzt), aus der Formatio reticularis
gekreuzten Fasern des Pedunculus cerebellaris sowie dem Globus pallidus (über das Forel-Feld
superior sowie aus dem Globus pallidus über H2).
den Fasciculus thalami zugeleitet. Er projiziert
anschließend somatotopisch geordnet in die Klinik: 1. Aufgrund der weitgehend somato-
Rinde des Gyrus praecentralis (lateral liegt die topen Ordnung (bes. Nucl. ventralis lat.) sowie
Beinregion, anschließend Rumpf-, Arm- und den Beobachtungen nach neurochirurgischen
medial die Kopfregion), wodurch das Cerebel- Läsionsbefunden im Thalamusgebiet werden
lum Einfluss auf die Willkürmotorik nehmen stereotaktische Eingriffe insbesondere bei the-
kann. Der kaudale Nucl. ventralis intermedius rapieresistenten extrapyramidalmotorischen
erhält Zugänge über den Fasciculus tegmentalis Bewegungsstörungen (bes. Hyperkinesien)
dorsolateralis (Forel) aus den gleichseitigen sowie besonderen Schmerzsyndromen durch-
Vertebraliskernen. geführt. So werden bei nachlassender L-Dopa-
• Nucl. ventralis posterior. Hier enden gekreuzte Wirkung beim Parkinson-Syndrom v. a. die pal-
sensible Fasern (aus dem Nucl. gracilis lateral lidofugalen Bahnen durchtrennt. Sie verlaufen
und dem Nucl. cuneatus medial), sowie aus vorwiegend über den Nucl. ventralis anterior
dem Lemniscus medialis, dem Tractus trigemi- thalami sowie die subthalamische Zona incerta,
nothalamicus, dem Nucl. ventralis posterome- wo sie sich relativ treffsicher ausschalten lassen.
dialis und dem Tractus spinothalamics. Die Eine symptomatische Besserung des Parkinson-
sensiblen Informationen werden nach einer Syndroms, insbesondere des Tremors, tritt in
somatotopisehen Ordnung im kraniomedialen 75-80 % der Fälle auf. Da es sich bei diesen
Abschnitt (Nucl. ventralis posteromedialis) für Eingriffen jedoch um irreversible Schädigun-
den Kopfbereich und im basolateralen Abschnitt gen handelt, wird dieses Verfahren zunehmend
(Nucl. ventralis posterolateral is) für Rumpf von Elektrostimulationsverfahren verdrängt
und Extremitäten umgeschaltet. Anschließend werden (s. den klinischen Hinweis zum Nucl.
werden sie in somatotopi scher Ordnung in den subthalamicus). 2. Ein weiteres stereotaktisches
Cyrus postcentrals weiter geleitet. Operationsverfahren dieser Region stellen die
Schmerzthalamotomien dar, die bei konserva-
• Pulvinar. Die Kerne des Pulvinar schließen tiv nicht beeinflussbaren Schmerzzuständen
sich dorsobasal den vorgenannten an, wobei Anwendung finden (etwa bei Anaesthesia
das Pulvinar beim Menschen das größte relative dolorosa, postherpetischen Neuralgien, Stumpf-
Volumen und den höchsten Differenzierungs- und Phantomschmerzen sowie dem Thalamus-
grad aufweist. Bevorzugt treten hier afferente schmerz). Die günstigsten Ergebnisse wurden
Fasern aus dem Tractus opticus, der Hörbahn, hierbei mit einer kombinierten Ausschaltung
dem Hirnstamm und der Sehrinde ein. Nach des basalen Anteils des Nucl. ventralis posterior,
Umschaltung im Pulvinar werden sie in die des Nucl. centromedianus bzw. der Kerne der
visuellen Areae 18 und 19, in multimodale Asso- Mittellinie erreicht. 3. Eine wichtige Beobach-
ziationsgebiete um den Gyrus temporalis supe- tung war darüber hinaus, dass Läsionen oder
rior und in den Sulcus intraparietalis projiziert intraoperative Stimulationen des Pulvinars beim
(s. Abb. 5.48). Fasern aus dem CGM gelangen Menschen zu Sprachstörungen führen, so dass
zur Hörrinde. diese Region bei stereotaktischen Operationen
besonderen Schutz erfahren muss.
2. Unspezifische Thalamuskerne
Kerne der Mittellinie. Hier liegt als größter trun-
kothalamischer Kern der Nucl. centromedianus
(Corpus median de Luys). Er projiziert direkt zu
den Basalganglien und indirekt (nach Verschaltung

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
410 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Metathalamus lenticularis mit dem Tractus dentatothalamicus als


Fasciculus thalamicus vereinigt. Der Fasciculus
Als Metathalamus werden die Kniehöcker, lenticularis tritt von basal in den Thalamus ein.
Corpora geniculata mediale und laterale, zusam-
Der Subthalamus und der Globus pallidus medialis
mengefasst.
teilen eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte
und werden aus diesem Grund manchmal zusam-
• Mittlerer Kniehöcker, Corpus geniculatum
mengefasst. Da der Subthalamus jedoch komplexe
mediale, CGM. Der mediale Kniehöcker liegt
Verbindungen mit anderen Kerngebieten des Basal-
zwischen dem Pulvinar des Thalamus und dem
ganglien-Systems unterhält, wird er dort abgehan-
Colliculus inferior des Mesenzephalons (s. Abb.
delt (s. Kap. 5.4.7.5, S. 496). Zwischen dem Nucl.
5.47 und 92). Er ist als kleiner Höcker von
subthalamicus, der Zona incerta und dem Thalamus
dorsal sichtbar und über das Brachium colliculi
befinden sich Faserbündel und verstreute, abge-
inferioris mit dem Colliculus inferior verbunden
sprengte Zellgruppen, die als Forel-Campus (auch
(s. Abb. 5.50). In Brachium colliculi inferioris
Forel-Feld) bezeichnet werden.
sowie CGM verlaufen Fasern der Hörbahn,
wobei der mediale Kniehöcker die thalamische
Hypothalamus
Umschaltstation des akustischen Systems dar-
stellt (s. Kap. 5.4.2.3, S. 459) und Signale auf
Der Hypothalamus des Dienzephalons ist die
die primäre Hörrinde projiziert.
übergeordnete Schaltstelle vieler vegetativer
• Seitlicher Kniehöcker, Corpus geniculatum
und hormoneller Regulationssysteme. Der
laterale, CGL. Das CGL wölbt sich weniger
Hypothalamus stellt den kleineren Teil des
deutlich vor. Es liegt lateral vom CGM zwischen
Dienzephalons dar, welcher an der seitlichen
dem Pulvinar und dem Tractus opticus, der im
Wand und am Boden des III. Ventrikels gelegen
CGL endet (s. Abb. 5.51, 85). Das CGL stellt
ist (s.Abb. 5.36).
eine wichtige Umschaltstation der Sehbahn (s.
Kap. 5.4.2.2, S. 456) dar und bildet ein subkorti-
• Lage. Der Hypothalamus grenzt rostral an die
kales Zentrum für die visuelle Reflexsteuerung.
Lamina terminalis und die Commissura ante-
Hier enden die meisten Sehnervenfasern des
rior an, während basal das Chiasma opticum
Tractus opticus und bilden Synapsen mit den
angelagert ist. Dorsal befindet sich der dünne
Relaisstellen des CGL aus, welche die visuellen
Hypophysenstiel und das Tuber cinereum, das
Signale als Gratiolet-Sehstrahlung auf die pri-
ebenfalls an der Bildung des Bodens des III.
märe Sehrinde projizieren.
Ventrikels beteiligt ist. Basal sind hier die Cor-
pora mamillaria angelagert, und der Boden des
Subthalamus (Thalamus ventralis) III. Ventrikels geht in das Tegmentum mesence-
phali über (s. Abb. 5.26, 136). In der lateralen
Der Subthalamus ist ein Derivat der Grundplatte Wand des III. Ventrikels erfolgt die Abgrenzung
des Dienzephalons und steht im Dienst der vom Thalamus durch den Sulcus hypothalami-
Motorik. Er stellt eine Region basal des Tha- c s (Abb. 5.24). Die Furche ist vom Foramen
lamus dorsalis und lateral des Hypothalamus interventriculare in einem leicht basal-konve-
dar. Der größte Kern dieser Region ist der Nucl. xen Bogen bis zum Eingang in den Aquaeductus
subthalamicus (Luys-Körper, s. Abb. 5.111). mesencephali zu verfolgen. Lateral erstreckt
sich der Hypothalamus bis zum Nucl. subthala-
Dieser längliche, etwa linsengroße Kern wird durch micus, wo er an die Capsula interna grenzt.
die Capsula interna vom Globus pallidus getrennt, • Hypothalamus und Hypophyse. Basal sind
welcher über den Fasciculus subthalamicus quer Tuber cinereum und Infundibulum mit der
durch die Capsula interna zum Nucl. subthalamicus Hirnanhangsdrüse, Hypophysis cerebri, verbun-
projiziert. Unmittelbar benachbart findet sich die den. Beide Strukturen sind morphologisch und
Zona incerta, die eine dienzephale Fortsetzung funktionell so eng miteinander verknüpft, dass
der Formatio reticularis mesencephali darstellt. sie am besten zusammen als Zwischenhirnhypo-
Die gesamte Region ist sehr faserreich, da sich physensystem (Konzept Bargmanns) besprochen
unter den Nucll. laterales thalami der Fasciculus werden (s. Kap. 5.4.11.2, S. 544).
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des Z N S 411

Diaphragma sellae

Hypophysenstiel
_ — Ν oculomotorius

Hypophyse A » - Ν. trochlears

Sinus cavernosus ~ ~ Ν ophthalmicus

A. carotis interna, N. abducens


Septum sinuum sphenoidalium -
N. maxillaris
A

Sinus sphenoidales Nasenhöhlen 2 Blätter der


Dura mater encephali

Abb. 5.49: Schematischer Frontalschnitt durch Hypophyse, Sinus cavernosus und


Keilbeinhöhlen. Beachte die klinisch wichtige topographische Beziehung der Hirn-
nerven zum Sinus cavernosus (vgl. Abb. 5.70)

• Hirnanhangsdrüse, Hypophysis. Die boh- (s. Abb. 5.136, 137, 138, sowie Kap. 5.4.11,
nenförmige, ca. 0,6-0,8 g schwcre Drüse liegt S. 543). Dorsal der Ansatzstelle des Hypophy-
in der durch die Sella turcica gebildeten Fossa senstiels verdickt sich der Zwischenhirnboden
hypophysialis des Keilbeins und hängt mit zur Eminentia mediana. Sie ist Teil des Tuber
einem trichterförmigen Stiel am Hypothalamus cinereum, das die Umrandung des Infundibulum
(s. Abb. 5.26, 27, 34, 69). Dieser Stiel zieht bildet (s. Abb. 5.26).
durch ein Loch im von der harten Hirnhaut
gebildeten Diaphragma sellae hindurch (Abb.
5.49). Man unterscheidet eine vordere, makro- 5.2.6 Regionale Anatomie
skopisch bräunlich gefärbte Adenohypophyse des Hirnstamms
(Hypophysenvorderlappen) und eine hintere,
gräuliche Neurohypophyse (Hypophysenhin- Lernziele: Hirnstammgliederung, regionale
terlappen). und topographische Anatomie des Hirnstamms,
• Adenohypophyse. Sie bildet den Hypophysen- Mittelhirn, Vierhügelplatte, Mittelhirnhaube,
vorderlappen, der % des Organs einnimmt. Auf Rautenhirn, Hirnnerven im supra- und infraten-
das Infundibulum legt sich die Pars tuberalis; toriellen Raum, verlängertes Mark
den Hauptteil bildet die Pars distalis, und zur
Neurohypophyse hin lässt sich die Pars inter- Der Hirnstamm, Truncus encephali, wird aus
media abgrenzen. Neben anderen Wirkungen Mesencephalon, Pons und Medulla oblongata
ist die Adenohypophyse den Gonaden, der (Bulbus) gebildet.
Schilddrüse und den Nebennieren übergeordnet,
deren Funktion sie durch gonadotrope undglan- Lagebeziehungen des Hirnstamms. Sie richten
dotrope Hormone steuert. sich nach der Meynert-Achse (s. Abb. 2.16). Mit
• Neurohypophyse. Diese bildet den Hypo- Ausnahme des I. und II. gehen alle Hirnnerven aus
physenhinterlappen, die Pars nervosa oder dem Hirnstamm hervor, bzw. treten in ihn ein.
den „Lobus nervosus" und geht als Hypo-
Nach einer anderen Sichtweise werden dem Hirn-
physenstiel, Infundibulum, ins Diencephalon
stamm auch sämtliche Anteile zugerechnet, die
über. In der Neurohypophyse werden keine
aus der aufrecht erhaltenen Unterscheidung von
Hormone gebildet. Sie dient als Speicher- und
Grund- und Flügelplatte bis zur Lamina terminalis
Abgabeort derjenigen Hormone, die ihr durch
im Diencephalon hervorgehen. Danach bleibt der
axonalen Transport aus dem Hypothalamus
Hirnstamm übrig, wenn man die Cortices cerebri et
über den Hypophysenstiel zugeführt werden
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
412 5 Zentrales N e r v e n s y s t e m , G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k

cerebelli entfernt, wodurch die telenzephalen Kerne


Klinik: Bei akuter Hirndrucksteigerung kann
und das Diencephalon ebenfalls zu Hirnstammge-
es zum so genannten Klivuskantensyndrom
bieten, bzw. seinem rostralen Anteil, werden. Diese
kommen. Es ist insbesondere durch eine Myd-
Sichtweise findet immer noch in der klinischen
riasis auf der Läsionsseite gekennzeichnet,
Verwendung des Begriffs der Stammganglien für
da durch die druckbedingte Verlagerung des
die Basalganglien ihren Ausdruck.
Hirnstammes der N. oculomotorius in seinem
Lage und Form Verlauf über die Klivuskante gequetscht werden
kann. Zuerst betroffen sind die parasympathi-
Hirnstamm und Kleinhirn füllen die hintere schen Begleitfasern. Hierdurch überwiegt die
Schädelgrube, Fossa cranii posterior, aus, pupillenerweiternde sympathische Innervation.
wobei der Hirnstamm in situ mit Pons und Fossa Später kommen Augenmuskellähmungen hinzu.
interpeduncularis schräg aufsteigend auf dem
Clivus ruht.
5.2.6.1 Mittelhirn, M e s e n c e p h a l o n
Der Hirnstamm ist etwa 8 cm lang. Er reicht
vom Foramen magnum bis zur Incisura tentorii. Übersicht und Gliederung
Als basale Begrenzung des Hirnstamms wird die
s. Abb. 5.52, 53
oberste Wurzel der Zervikalnerven bzw. die Decus-
satio pyramidum herangezogen (s. Abb. 5.26). Die
Auf Querschnitten durch das Mittelhirn lassen
kraniale Begrenzung verläuft dorsal der Corpora
sich von dorsal nach rostral 3 Ebenen abgren-
mamillaria, dann laterobasal des Tractus opticus
zen: 1. Vierhügelplatte, Lamina tecti, Tectum,
und schließlich rostral der Vierhügelplatte (Abb.
2. Mittelhirnhaube, Tegmentum mesence-
5.50,51).

Crus fornicis Ventriculus tertius Trigonum habenulare


\ I (Tela aufgerissen)
Thalamus v \ I
ι / Brachium colliculi superioris
Κ
Stabkranz __ pr~ ν • Brachium colliculi inferioris
(Corona radiata)
s / 11' "ΤΗ
Lamina affixa —

Taenia choroidea —
•-rT /
/
mfigpv^„>
/
/
/
/
/ , '
/ j
^ ^ Trigonum lemnisci

^ Pulvinar thalami

Stria medullaris thalami— · / /


y r'j^ „ Frenulum veli medullaris
S S,

Corpus pineale — — — Nervus trochlears


Colliculi superiores e t _
inferiores (Lamina tecti) Pedunculus cerebellaris superior

Pedunculus cerebellaris medius


Lingula cerebelli auf dem . Jäh •
Velum medulläre superius
Area vestibularis
Colliculus facialis
~~" Pedunculus cerebellaris inferior
Flocculus— •• —
f —•
Trigonum nervi hypoglossi
Tubercula nuclei cuneati^, •
Trigonum nervi vagi
et gracilis
Sulcus lateralis posterior
Sulcus medianus posterior

Abb.5.50: D i e n c e p h a l o n , M e s e n c e p h a l o n u n d R h o m b e n c e p h a l o n n a c h Entfernung d e s Kleinhirns von dorsal


g e s e h e n , so d a s s die R a u t e n g r u b e frei liegt (s. Kap. 5.2.6.2, S. 4 1 5 )
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 A l l g e m e i n e Topographie, Präparation u n d B i l d g e b u n g d e s Z N S 413

Corpus geniculatum
mediale laterale N. trochlearis, Insula, Corpora Substantia
Pulvinar thalami Crus cerebri Tractus opticus mamillaria perforata anterior
\ \ 1 / Stria olfactoria
Lamina tecti \ \ / / lateralis
\ \ Ν x
\
Cerebellum \ \ ν Tuber cinereum,
\ s v
Infundibulum

• N. opticus

Chiasma opticum

_ Stria olfactona
medialis
Fissura longitudinalis
— — " cerebri

Bulbus olfactorius

Plexus / Tractus olfactorius


choroideus / / /
ventriculi IV, /
N.X ' Trigonum olfactorium
Oliva Ν. XII lobus Nn. VII, Pons, Ν III Stria olfactoria
temporalis VIII Ν. V lateralis

Abb. 5.51: Das Gehirn v o n rechts u n d basal g e s e h e n . D u r c h Entfernung d e s rechten S c h l ä f e n l a p p e n s w e r d e n


der g e s a m t e Verlauf d e s Tr. o p t i c u s u n d die C o r p o r a g e n i c u l a t a sichtbar. Die Hirnnerven-Austrittsstellen a m seit-
lichen H i r n s t a m m w e r d e n deutlich

phali, auch Pars dorsalis pedunculi cerebri, um sich nachfolgend um den Pedunculus cerebri
3. Großhirnschenkel, Crura cerebri, auch: nach rostral zu wenden. Vom unteren Hügel zieht
Pars ventralis pedunculi cerebri (vom Cortex ein deutlicher Wulst, das Brachium colliculi infe-
absteigende Bahnen: Tractus pyramidalis und rioris, schräg lateral und aufwärts zum CGM, wäh-
die Tractus corticopontini, die sich dem Mesen- rend vom oberen Hügel das schmale Brachium
cephalon angelagert haben). colliculi superioris zum CGL führt.
In der Dorsalansicht (s. Abb. 5.50) überblickt man
Vierhügelplatte, Lamina tecti (Corpora qua-
das Crus cerebri sowie das Trigonum lemnisci, ein
drigemina). Nach Entfernung des Kleinhirns ist
von Brachium colliculi inferioris, Crus cerebri und
das Mittelhirn von dorsal gut zu erkennen (s. Abb.
Pedunculus superior cerebelli begrenztes Dreieck.
5.50). Diese Ansicht zeigt die Lamina tecti mit den
In ihm verläuft der Lemniscus lateralis, die late-
Colliculi superiores und den Colliculi inferiores,
rale Schleife der Hörbahn (s. Abb. 5.53 und Kap.
welche durch kreuzförmige Furchen voneinander
5.4.3.3, S. 470). Der Lemniscus lateralis verläuft
getrennt sind. Der Furche zwischen den beiden
zum Colliculus inferior und zum CGM. Rostrai legt
oberen Hügeln liegt das Corpus pineale auf. Zwi-
sich der Tractus opticus dem Pedunculus cerebri
schen den beiden unteren Hügeln beginnt ein feiner
an, um mit seiner breiten Radix lateralis zum CGL
weißer Streifen, das Frenulum veli medullaris
sowie mit seiner schmaleren Radix medialis zum
superioris, das nach basal in das Velum medulläre
Colliculus superior zu gelangen (s. Abb. 5,51,
superius des Kleinhirns übergeht. Lateral des Fre-
85).
nulums tritt am basalen Rand des Colliculus infe-
rior der dünne N. trochlearis aus (s. Abb. 5.53),

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
414 5 Zentrales N e r v e n s y s t e m , G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k

Substantia grisea Aquaeductus Colliculus


centralis cerebri superior . Lamina tecti

Nuclei η. oculomotorii / Tractus mesencephalicus η. V


Brachium colliculi inferioris
Decussatio tegmenti Tract, spinotectalis et spinothalamicus
dorsalis" - Fasciculus longitudinalis medialis
Tegmentum mesencephali
Tract, tectospinal is
Lemniscus medialis

-Nucleus ruber
cerebri

x Tractus
occipitotemporopontmus
X Tractus corticospinals
"""" ~ Tractus corticonuclearis
Substantia nigra Tractus Decussatio Ν. oculomotorius Tractus frontopontinus
rubrospinalis tegmenti
ventral is

Abb. 5.52: Querschnitt d u r c h d a s M e s e n c e p h a l o n in H ö h e der Colliculi superiores

Aquaeductus cerebri
Nucleus colliculi inferioris
! Ν trochlearis /Substantia grisea centralis
/
Tractus
Pedunculus cerebellaris
superior mesencephalicus η. V

Nucleus n. trochlearis
Lemniscus lateralis . .
Fasciculus longitudinalis
Tractus spinothalamicus - „ •"""" medialis

Lemniscus medialis __ _ Tractus tegmentalis


centralis
Formatio reticulars Tractus tectospinal is
Tractus rubrospinalis
Decussatio pedunculorum
cerebellarium superiorum
. Tractus cortico-
Substantia nigra - pontinus

— Tractus corticospinalis

Tractus corticonuclearis
Recessus posterior fossae ·
interpeduncular^
Tractus frontopontinus

Abb. 5.53: Querschnitt d u r c h d a s M e s e n c e p h a l o n in H ö h e der Colliculi inferiores (stark schematisiert)

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 415

Mittelhirnhaube, Tegmentum mesencephali. Das Großhirnstiel, Pedunculus cerebri. Damit


Tegmentum mesencephali tritt außer im Trigonum bezeichnet man die Summe der in eine Hemisphäre
lemnisci nur in der Fossa interpeduncularis auf der eintretenden und aus ihr austretenden Faserbündel.
Hirnbasis an die Oberfläche. Es wird lateral von
den Crura cerebri bedeckt, durch den Sulcus medi- Die aufsteigenden Fasern ziehen als Lemniscus
al is der Fossa verlässt der N. oculomotorius den durch das Tegmentum, die absteigenden Fasern
Hirnstamm (s. Abb. 5.27, 51, 52). Das Tegmentum bilden das Crus cerebri.
mesencephali stellt die mittlere Ebene des Mesen-
zephalons dar und ist die rostrale Fortsetzung des Die Grube an der Basis des Tegmentum zwischen
Tegmentum rhombencephali, der Brückenhaube im den beiden Crura cerebri heißt deshalb Fossa
Rhombencephalon. In der Mittelhirnhaube befin- interpeduncularis. Da hier von der Hirnbasis aus
den sich neben den Kerngebieten der III. und IV. zahlreiche Gefäße zur Versorgung des Tegmentum
Hirnnerven auch diejenigen phylogenetisch älterer eintreten, wird diese Stelle auch Substantia perfo-
motorischer Systeme. Hierunter zählen der Nucl. rata posterior genannt.
ruber und die Substantia nigra.

• Roter Kern, Nucl. ruber. Er ist Ursprung 5 . 2 . 6 . 2 Rautenhirn, R h o m b e n c e p h a l o n


des Tractus rubrospinalis, der als Decussatio
tegmenti ventralis (Forel-Haubenkreuzung) Übersicht
auf die Gegenseite kreuzt (s. Abb. 5.52). Seine
Afferenzen erhält er aus dem Kleinhirn über Das Rautenhirn besteht aus Myelencephalon
den Pedunculus cerebel/aris superior (s. Kap. (verlängertes Mark, Medulla oblongata oder
5.4.8.5, S. 514). Bulbus cerebri) sowie rostral dem Pons des
• Schwarzer Kern, Substantia nigra. Dieser Metencephalon. Das ebenfalls zum Metence-
Kern besteht aus mehreren Zellgruppen, die phalon gehörende Cerebellum wird meist nicht
dorsomedial an der Grenze von Cms cerebri zum Rautenhirn hinzugezählt. Das Rhomben-
und Tegmentum liegen. Es handelt sich um cephalon umschließt den IV. Ventrikel, dessen
einen Kern, der sich über die ganze Länge des rautenförmiger Boden die Rautengrube, Fossa
Mesenzephalons ausdehnt und aus zwei Antei- rhomboidea, darstellt (s. Abb. 5.50, 54-58).
len besteht (s. Abb. 5.18,31,37 und 52):
• Rautengrube, Fossa rhomboidea, Ansicht.
• Pars compacta. Sie ist durch dicht beieinander
Der durch das Mesencephalon verlaufende
liegende Neurone charakterisiert, welche mit
Aquaeductus mesencephali erweitert sich im
schwarzem, makroskopisch sichtbarem Neuro-
Metencephalon zum IV. Ventrikel, auf dessen
melanin-Pigment angefüllt sind.
Boden man nach Entfernung des Kleinhirns
• Pars reticularis. Sie enthält keine melaninhalti-
sieht (s. Abb. 5.50). Dieser Boden der Rauten-
gen Zellen und liegt zwischen der Pars compacta
grube wird vom Tegmentum rhombencephali
und den Fasern der Crura cerebri, wobei sie ros-
gebildet. Die Rautengrube wird rostral von den
tral bis an den Nucl. subthalamicus reicht.
oberen Kleinhimstielen, Pedunculi cerebellares
superiores, und basal von den unteren Klein-
Beide Teile stellen wichtige Schaltstellen für
hirnstielen, Pedunculi cerebellares inferiores,
die Funktion der Basalganglien dar (s. Kap.
eingefasst und durch den Sulcus medianus in
5.4.7.5.2, S. 503).
zwei Hälften geteilt (s. Abb. 5.58). An der Stelle
ihrer größten Breite ziehen die weißen Striae
Großhirnschenkel, Crus cerebri, Pars ventra-
medulläres ventriculi quarti (eine Verbindung
lis pedunculi cerebri. Die vorn vorspringenden
vom Ncl. cochlearis posterior zu den Neil, cor-
Teile der Großhirnstiele, Pedunculi cerebri,
poris trapezoidei, s. Abb. 5.92) häufig bereits
sind während der Neuhirnentwicklung angelegte
makroskopisch sichtbar über das Tegmentum
Bahnen. Beiderseits der Fossa interpeduncularis
hinweg. Sie trennen die basale, der Medulla
konvergieren die Hirnschenkel, in denen die kor-
oblongata zugerechnete Hälfte der Rautengrube
tikalen Projektionsbahnen zum Hirnstamm und ins
vom rostralen, zum Pons gerechneten Teil ab.
Rückenmark ziehen (s. Abb. 5.52).

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
416 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Die Oberfläche der Rautengrube wird von Epen- ris, das Olivensystem sowie unterschiedliche
dym und einer schmalen Schicht des zentralen Neuronengruppen und Bahnen spezifischer
Höhlengraus gebildet. Die unmittelbar dahinter Transmittersysteme.
gelegenen Kerne und Faserbahnen wölben die • Kerngebiete der Rautengrube (s. Abb. 5.54).
Oberfläche stellenweise sichtbar vor (s. u.). Unmittelbar unter der Rautengrube liegen viele
• Rautenhaube, Tegmentum rhombencephali. Hirnnervenkerne, die sich gegen den IV. Vent-
Der Boden der Rautengrube wird vom Teg- rikel vorwölben. Basal der Striae medulläres
mentum rhombencephali eingenommen. Es neben dem Sulcus medianus liegt das Trigo-
enthält vegetative und somatische Faserbahnen num n. hypoglossi. Darunter befindet sich der
verschiedener Herkunft, die Formatio reticula- Nucl. n. hypoglossi, und rostral liegt der Nucl.

- Epiphysis
Nucleus ruber—
- Nucleus accessorius
(autonomicus) n. oculomotor»
Nucleus (motorius) n.
oculomotorii
- Nucleus tractus mesenceph η. V

- N. trochlearis (IV) et
R. meningeus n. trigemini

Nucleus motorius n. trochlearis

- Nucleus motorius η. trigemini

• Ν. facialis, Genu internum

Nucleus (motorius) η. abducentis


Nuclei vestibuläres

— Nucleus motorius n. facialis

Nuclei cochleares

— Tractus solitarius

Nucleus saiivatoris |^ u P e r | o r Nucleus dorsalis n. vagi


I inferior.
IX-
XII ^ ~ " Nucleus (motorius) n. hypoglossi

~ Nucleus ambiguus

— Tractus solitarius

Nucleus olivaris Nucleus tractus spinalis η. V

Nucleus (motorius) n. accessorii

Abb. 5.54: Räumliche Darstellung der Hirnnervenkerne. Motorische Kerne = rot, sensible Kerne = blau, Vesti-
bulariskerne = hellgrün, Cochleariskerne = dunkelgrün, parasympathische Kerne = gelb (nach Braus und Elze,
1960)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 417

praepositus n. hypoglossi. Laterobasal des Supratentorielle Hirnnerven


Trigonum n. hypoglossi befindet sich ein läng-
Das Tentorium cerebetli, die mittlere Schädelgrube,
liches, vertieft liegendes Feld, das Trigonum n.
die Sella turcica und die vordere Schädelgrube
vagi, worunter der Nucl. n. vagi liegt. An der
bilden die Basis des supratentoriellen Raums. Die
kaudalen Spitze der Rautengrube am Eingang
Schädelkalotte stellt seine obere Begrenzung dar,
in den Zentralkanal (Obex, S. Abb. 5.58) liegt
wobei er durch die Falx cerebri partiell unterteilt
die Area postrema, ein Brechzentrum (s. Kap.
wird (s. Abb. 5.18).
5.4.11.2, S. 544, und Abb. 5.117, 138). An der
breitesten Stelle der Rautengrube, medial vom
Inhalt des supratentoriellen Raums sind das Vor-
Eingang in den Recessus lateralis ventriculi
derhirn, Prosencephalon, und die Hypophyse.
quarti, erhebt sich die Area vestibularis mit
Im supratentoriellen Raum verlaufen die Hirn-
den Nucll. vestibuläres (s. Abb. 5.57). Rostrai
nerven I-IV.
von den querliegenden Striae medulläres wird
die Rautengrube durch den Nucl. n. abducentis
und das innere Knie des Fazialisnerven, Genu I. Hirnnerv, N. olfactorius. Er besteht aus den Fila
internum η. facialis, zum Colliculus facialis olfactoria, die in ihrer Gesamtheit als N. olfactorius
vorgebuchtet. Rostrai davon, jedoch lateral des bezeichnet werden. Die Fila olfactoria sind die zen-
Sulcus limitans liegt ein graubläuliches Feld tripetalen Fortsätze der primären Riechsinneszellen
(Locus coeruleus) an, dessen Eisenpigmente der Nasenschleimhaut, die durch die Lamina cri-
durch das Ependym schimmern (s. Kap. 5.4.9.2, brosa treten (Kap. 4.4.2.1, S. 209), um im Bulbus
S. 518, Abb. 5.117). olfactorius zu enden. Der Bulbus olfactorius stellt
die primäre Riechrinde des I. Hirnnerven dar und
• Brücke, Pons zählt zum basalen Telencephalon (s. Kap. 5.4.4, S.
477).
Der Pons erstreckt sich zwischen der Fossa
II. Hirnnerv, N. opticus. Er tritt mit seinen senso-
interpeduncularis und der Medulla oblongata
rischen Fasern als zentralen Fortsätzen der Gangli-
und geht lateral in den Pedunculus cerebellaris
enzellen der Retina über den Canalis opticus in die
medius zur Verbindung mit dem Kleinhirn über.
mittlere Schädelgrube ein (Kap. 4.4.2.2, S. 210).
Seine Fasern kreuzen zum Teil im Chiasma opti-
Rostrai des Tegmentum erkennt man auf Schnit-
cum und verlaufen danach als Tractus opticus bis
ten durch das Rhombencephalon die Brücke. Sie
zum Corpus geniculatum laterale des Dienzepha-
besteht aus dem Brückenfuß, der Pars basilaris
lons (s. Kap. 5.4.2 und Kap. 6.1.3.2, S. 567).
pontis, welcher einen queren Wulst darstellt. In
Höhe der Nucll. facialis et trigemini geht letzte- III. Hirnnerv, N. oculomotorius. Dieser enthält
rer in die Brückenarme, Pedunculi cerebellares somatomotorische Fasern vom Nucl. n. oculo-
medii, über (s. Abb. 5.27). Außerdem wird die Pars motorii (für die äußere Augenmuskulatur außer
dorsalis (auch: Pars tegmentalis) dazu gezählt, die M. rectus lateralis und M. obliquus sup.) und visze-
an den rostralen Teil der Rautengrube angrenzt. romotorische Fasern vom paarigen Nucl. Edinger-
Westphal (für den M. sphincter pupillae) sowie
• Hirnnerven, Nn. craniales
vom unpaarigen Nucl. Perlia (für den M. ciliaris)
Nach ihrem Austrittsort werden supra- und und tritt in der Fossa interpeduncularis aus, durch-
infratentorielle Hirnnerven unterschieden, deren läuft die gleichnamige Zisterne (s. Kap. 5.3.2.1,
Faserzusammensetzung und intrakranieller Verlauf Abb. 5.69), um zwischen A. cerebri posterior
hier besprochen wird. Der periphere Hirnnerven- und A. cerebetli superior zum Sinus cavernosus
verlauf nach Durchtritt durch die Schädelbasis wird zu ziehen und zur Fissura orbitalis superior zu
im Kapitel Kopf und Hals (s. Kap. 4.12.1, S. 255), gelangen (s. Kap. 4.4.2.2, S. 210, 6.4.2, S. 588).
funktionelle Details in den Kapiteln Sinnesorgane
IV. Hirnnerv, N. trochlearis. Er enthält ausschließ-
(Kap. 6, S. 555 und 7.1.2.1, S. 600) und am Ende
lich Fasern des rein somatomotorischen Nucl. n.
dieses Kapitels mit den funktionellen Systemen
trochlearis (für den M. obliquus sup.) und verlässt
(s. Kap. 5.4, S. 456) dargestellt. Über Unterschiede
als einziger Hirnnerv den Hirnstamm an der
zu den Nn. spinalies s. Kap. 2.6.5, S. 94
Dorsalfläche, und zwar an der Grenze zwischen

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
418 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

infra- und supratentoriellem Raum. Er tritt unter-


Klinik: Bei intrakraniellem Druckanstieg
halb des Colliculus inferior aus dem Mittelhirn aus
kann eine Verlagerung bzw. Einklemmung der
(s. Abb. 5.50), um in seinem weiteren Verlauf in der
Medulla oblongata sowie der Kleinhirntonsillen
Cisterna ambiens das Mesencephalon zu umlaufen.
im Foramen magnum resultieren. In der Folge
Sein Eintritt in die Dura befindet sich innerhalb
kommt es zur Entstehung eines Druckkonus
des Anheftungsbereichs der Incisura tentorii am
aus absinkenden Kleinhirnanteilen, welcher die
Processus clinoideus post. Anschließend verläuft
Medulla oblongata einklemmen kann. Da hier
der IV. Hirnnerv im Dach des Sinus cavernosus
Atem- und Kreislaufzentrum lokalisiert sind,
(s. Abb. 5.49) und tritt durch die Fissura orbitalis
besteht akute Lebensgefahr! Der Patient bedarf
superior (s. Kap. 4.4.2.2, S. 210) in die Orbita ein.
einer dringenden intensivneurologischen oder
neurochirurgischen Versorgung.
Infratentorielle Hirnnerven
V. Hirnnerv, N. trigeminus. Er tritt lateral aus dem
Im infratentoriellen Raum befindet sich der Pons aus (Abb. 5.55). Er nimmt Fasern des visze-
Hirnstamm bestehend aus Mesencephalon, Pons rosensiblen Nucl. mesencephalicus n. trigemini
und Medulla oblongata, zusammen mit dem (direkte Afferenz von den Muskelspindeln der Kau-
Kleinhirn. Basal läuft der infratentorielle Raum muskulatur, also hier als Ausnahme keine periphere
ins Foramen magnum aus. Im infratentoriellen Verschaltung in einem Ganglion!), des gemischt
Raum verlaufen die Hirnnerven V-XI1. somato/viszerosensiblen Nucl. pontinus (principa-

Fasciculus longi- Tractus spino-


Ventriculus IV tudinals medialis Formatio reticularis cerebellaris anterior Pedunculus
/ /
\ I / ^ -- cerebellaris superior

Tractus mesencephalicus η. V

Nucleus sensorius superior η. V


Sulcus medianus

Nucleus motorius η. V

Tractus tegmentalis centralis

Tractus spinalis η. V

Tractus rubrospinalis

Lemniscus lateralis

Tr. spinothalamicus ι
I Lemniscus

~ ~ Tr. bulbothalamicus J medialis

~ Pedunculus cerebellaris medius

Ganglion trigeminale

\\
\\
/ \
Tractus Cellulae Tractus Tractus corticospinalis
corticopontinus nucleorum pontis corticonuclearis

Abb. 5.55: Querschnitt durch die Mitte des Pons in Höhe des Trigeminusaustritts
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des Z N S 419

Iis) n. trigemini (für die Berührungsempfindung des


Klinik: Irritationen im Verlauf von Hirnnerven
Gesichts), des somatomotorischen Nucl. motorius
können zu Neuralgien führen. Die häufigste
n. trigemini (für die Kau- und Mundbodenmuskula-
Hirnnerven-Neuralgie ist die idiopathische Tri-
tur und den M. tensor tympani) sowie des gcmischt
geminusneuralgie: der Tic douloreux. Es beste-
somato/viszerosensiblen Nucl. spinalis η. trigemini
hen bis Minuten lang anhaltende Schmerzatta-
(für die Schmerz- und Temperaturempfindung
cken von fast unerträglicher Intensität. Neben
der Mundhöhle und der Zähne) auf. Er verläuft
medikamentösen Behandlungsformen (Carba-
in der hinteren Schädelgrube und tritt durch den
mazepin), kommt dabei die neurochirurgische
Poms n. trigemini über der Impressio trigemini
mikrovaskuläre Dekompression der Trigemi-
des Felsenbeins in eine Duratasche der mittleren
nuswurzel zum Einsatz. Ältere, heute nur noch
Schädelgrube (Meckel-Cavum) ein. Rostrai seines
selten angewandte Behandlungsformen waren
Ganglion trigeminale (Gasseri) spaltet sich der
die temperaturgesteuerte Elektrokoagulation
V. Hirnnerv in seine drei Hauptäste auf: den N.
und die Blockade des Ganglion Gasseri etwa mit
ophthalmicus (sensible Fasern), den N. maxil-
Glycerin-Lösung. Dabei wird die Injektionsna-
laris (sensible Fasern) und den N. mandibularis
del vom Gesicht aus durch das Foramen ovale
(gemischt sensibel, Radix sensoria, und somatomo-
einen Zentimeter nach kranial geführt.
torisch, Radix motoria). Sie verlassen die mittlere
Schädelgrube in gleicher Folge über die Fissura
orbitalis superior, das Foramen rotundum und VI. Hirnnerv, N. abducens. Er verlässt mit seinen
das Foramen ovale (s. Kap. 4.4.2.2, S. 210, und somatomotorischen, aus dem Nucl. n. abducentis
Kap. 6.4.2, S. 588). stammenden Fasern (für den M. rectus lateralis)
die basale Hirnstammfläche zwischen Pons und

Tractus spinocerebellars posterior Vermis cerebelh Nuclei fastigii, emboliformis, globosus


/
\
• ys
/

Nucleus dentatus

Tractus olivocerebellars - ^ ^ Hemisphaerium cerebelli

_ Pedunculus cerebellaris
superior
Pars_
Pedunculus mediaiis - Ventricutus IV
cerebellaris
inferior Pars _
lateralis Nuclei vestibuläres
Pedunculus cerebellaris
Pedunculus cerebellaris
medius inferior

Tr. spinalis et nucl — Nucleus η. abducentis


tractus spinalis η. V
~ Nucleus η facialis
Fasciculus longitudinal —
mediaiis Tractus rubrospinalis
Tractus tegmental is' "
centralis Tractus vestibulospinalis

Pars vestibularis η . - ^Nucleus dorsalis corporis


vestibulocochlear'^ trapezoidei
"Pars vestibularis η.
vestibulocochlear^
Fasem des Tractus- ""
corticonulearis

VIT /
Tractus corticonuclearis Tractus Formatio Corpus trapezoideum
et corticospinalis corticopontinus reticularis et lemniscus mediaiis

Abb. 5.56: Querschnitt durch das Metencephalon in Höhe des Nucl. abducens und des inneren Fazialisknies; die
Kleinhirnhemisphären sind nur zum Teil dargestellt (stark schematisiert)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
420 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Medulla oblongata (Abb. 5.56). Er durchzieht


betroffen, während die von beiden Hemisphären
die Cisterna basalis rostral des Pons, um an der
innervierte Stirnmuskulatur weiterhin beweglich
Klivuskante durch die Dura mater in den Sinus
bleibt. Dieser Unterschied stellt ein wichtiges
cavernosus einzutreten (s. Abb. 5.49). Dabei
Kriterium in der neurologisch-topischen Dia-
beträgt seine intrazisternale Länge nur etwa 1,5
gnostik dar. Oft bleibt die Ursache einer peri-
cm, während er seinen längeren Weg im Sinus
pheren Fazialisparese ätiologisch ungeklärt, so
cavernosus zurücklegt. Über diesen erreicht er die
dass sie dann als ,, idiopathische Fazialisparese "
Fissura orbitalis superior und tritt in die Orbita
bezeichnet wird. 2. Bei jedem dritten Menschen
über. (s. Kap. 4.4.2.2, S. 210, 6.4.2, S. 588).
besteht eine Gefäßaberration der A. cerebelli
inferior anterior, die in unmittelbare Nachbar-
Klinik: Sein Verlauf macht den N. abducens bei schaft zum N. facialis geraten kann. Hieraus
Massenbewegungen des Gehirns sehr anfällig, vermag sich eine pathologische Gefaßschlinge
so dass eine Abduzensparese als frühes Hirn- zu bilden, die den VII. Hirnnerven komprimiert
drucksymptom zu werten ist. und starke Zuckungen einer Gesichtshälfte
auslöst: hemifazialer Spasmus. Zur Separation
VII. Hirnnerv. Dieser besteht aus dem N. facialis, beider Strukturen kann - analog der Trigemi-
mit seinen somatomotorischen Fasern aus dem nusneuralgie - ein neurochirurgischer Eingriff
Nucl. n. facialis (für die mimische Muskulatur und notwendig werden.
den M. stapedius), sowie dem N. intermedins, der
basal und parallel zum N. facialis verläuft und vis-
VIII. Hirnnerv, N. vestibulocochlearis. Er enthält
zeromotorische Fasern aus dem Nucl. salivatorius
sensible Axone aus dem Hör- und Gleichgewichts-
sup. (fur die Gil. lacrimales, nasales, sublinguales
organ und erreicht die laterale Medulla oblongata
und submandibulares) und viszerosensible Fasern
an der Grenze zum Pons. Die Fasern ziehen zu den
zum Nucl. solitarius sup. (für die Geschmacksemp-
Nucl. cochlearis anterior et posterior bzw. den
findung der vorderen 2/3 der Zunge) enthält. Die
Nucll. vestibuläres superior, medius, lateralis et
Fasern aus dem Nucl. nervi facialis ziehen zunächst
inferior, welche am weitesten lateral in der Medulla
nach dorsal als inneres Fazialisknie (Abb. 5.56)
oblongata liegen. Er verläuft ebenfalls ca. 1,5 cm
zum Nucl. n. abducentis, den sie dann umlaufen,
intrazisternal, um dann in den Porus acusticus
um in der Seitenwand zwischen Pons und Medulla
internus einzutreten (s. Kap. 4.4.2.3, S. 213).
oblongata auszutreten. 1,5 cm nach seinem Austritt
erreicht der N. facialis den Porus acusticus inter-
nus (s. Kap. 4.4.2.3, S. 213). Im Felsenbein hat Klinik: Der vestibuläre Anteil des VIII. Hirnner-
der Nerv dann 3 Verlaufsstrecken (s. Kap. 7.1.2.1, ven stellt das bevorzugte Gebiet der Entstehung
S. 600). von Neurinomen dar. Sie werden Akustikusneu-
rinom genannt, sind benigne und wachsen in den
Kleinhirnbrückenwinkel infiltrierend ein. Neuri-
Im klinischen Sprachgebrauch bezeichnet man
nome gehen von den Schwann-Zellen der Ner-
beide Anteile des VII. Hirnnerven als N. facia-
venscheiden aus, weshalb man sie oft auch als
lis.
Schwannome bezeichnet. Durch Kompression
entstehen Hirnnervenausfälle, Hydrocephalus
Klinik:. 1. Bei den Gesichtslähmungen wird (Wasserkopf durch Liquorabflussstörungen)
eine peripherer von einer zentralen Fazialläh- oder zerebelläre bzw. Ponsläsionen. Leitsymp-
mung unterschieden. Nach peripherer Fazia- tome sind Hypakusis und Tinnitus. Die Sym-
lislähmung tritt eine Lähmung der gesamten ptome entwickeln sich oft über viele Jahre in
mimischen Gesichtsmuskulatur auf. Die idio- einer charakteristischen Reihenfolge: zunächst
pathische periphere Fazialislähmung wird nach Schwindel, dann Blickrichtungsnystagmus (s.
Charles Bell benannt, der sie 1827 an sich selbst Kap. 5.4.2.4, S. 461). Schließlich kann eine Stö-
beschrieb (Bell's palsy). Nach zentraler Fazi- rung des V. Hirnnerven mit Erlöschen des Kor-
alislähmung (supranukleäre Läsion, also zwi- nealreflexes sowie eine periphere Fazialisparese
schen Hirnnervenkernen und Cortex gelegene hinzutreten. Häufig kommen auch Kopfschmer-
Schäden, ζ. B. bei Schlaganfall auf einer Seite) zen und andere Hirndrucksymptome vor.
ist insbesondere die orale mimische Muskulatur
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 421

N u c l e u s dorsalis Nucleus Tractus soiitarius et N u c l e u s


Nucleus η.X(Pars dorsalis tractus solitarn
Nucleus dorsalis η. IX η. XII parasympathica]
X
η.
/ ^
' / x
χ „ N u c l e u s cuneatus et Nucl.
/
cuneatus a c c e s s o r i u s

Tractus soiitarius.
Pedunculus cerebellaris
inferior
Fasciculus.
longitudinalis medialis
N u c l e u s tractus spinalis
Tractus teclospinalis n.V

Tractus spinalis n . V
Nucleus ambiguus

Nucleus ambiguus
Tractus rubrospinalis
Tractus olivocerebellaris
et Tr. spinocerebellaris
posterior
Tractus spino- Ganglion superius
t h a l a m i c s lateralis Tr. spinocerebellaris
posterior
Tr. spinocerebellaris
anterior
Tractus tegmentalis
centralis inferius

Nucl. otivaris
accessorius dorsalis

Lemniscus medialis
N u c l e u s oiivaris

Nucl. oiivaris
accessorius medialis Tractus
Pyramis
(Tractus corticospinalis) olivocerebellaris

Abb. 5.57: Querschnitt durch das Myelencephalon (Medulla oblogata) in Höhe der Olive und des Austritts der
Nn. glossopharyngeus et vagus

IX. und X. Hirnnerv, N. glossopharyngeus und äußeren Gehörgangs), zum viszerosensiblen Nucl.
N. vagus, s. Abb. 5.57. Sie weisen eine Vielzahl soiitarius inf. (für die Geschmacksempfindung des
unterschiedlicher Faserqualitäten auf (somato- und Rachens), des viszeromotorischen Nucl. ambiguus
viszerosensibel, somato- sowie viszeromotorisch) (für die Pharynxmuskulatur) sowie des großen
und haben als Schlundbogennerven mehrere mor- viszeromotorischen Nucl. dorsalis n. vagi (für die
phologische Gemeinsamkeiten. Im IX. Hirnner- Innervation der Eingeweidemuskulatur bis zum
ven verlaufen Fasern des viszerosensiblen Nucl. Cannon-Böhm-Punkt (s. Kap. 12.3.5.1, S. 996)
spinalis η. trigemini (für Schmerz- und Tempera- und verläßt die Cavitas cranii durch das Foramen
turempfindung des Gaumens und des Rachens), jugulare (s. Kap. 4.4.2.3, S. 213).
des viszerosensiblen Nucl. soiitarius inf. (fur die
XI. Hirnnerv, N. accessorius. Er stammt aus
Geschmacksempfindung des hinteren 1/3 der
2 Wurzeln, die somatomotorische Fasern (für
Zunge), des viszeromotorischen Nucl. salivatorius
den M. trapezius und M. sternoleidomastoideus)
inf. (für die Gl. parotidea) sowie des viszeromotori-
führen. Seine spinale Wurzel entspringt aus den
schen Nucl. ambiguus (für die Pharynxmuskulatur).
Rückenmarkssegmenten C1-C5, verläuft dann
Beide Hirnnerven treten aus der Medulla oblongata
kranial aus dem Canalis vertebralis durch das
aus und verlassen die Schädelhöhle durch das
Foramen magnum in die hintere Schädelgrube. Die
Foramen jugulare (s. Kap. 4.4.2.3, S. 213).
kraniale Wurzel tritt hingegen mit 3 - 6 Wurzelfa-
X. Hirnnerv, N. vagus. Dieser verlässt die den aus der Medulla oblongata aus (s. Abb. 5.58).
Medulla oblongata lateral mit etwa 10-18 feinen Hiernach vereinigen sich die beiden Anteile nahe
Wurzelfäden. Bis zum Poms duralis beträgt seine dem Poms duralis, um mit dem IX. und X. Hirn-
intrazisternale Verlaufsstrecke ca. 1,5 cm. Er enthält nerven, um durch das mediale Foramen jugulare
Fasern zum viszerosensiblen Nucl. spinalis η. trige- zu ziehen (s. Kap. 4.4.2.3, S. 213).
mini (für Schmerz- und Temperaturempfindung des
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
422 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

- Nervus trochlears

Nervus trigeminus auf der


Impressio trigemim

"'•-'ι:''
! - ' Nervi facialis etvestibulococh-
learis im Porus acusticus int.

, - Nervi glossopharyngeus, vagus


et accessorius im Foramen
jugulare, Pars nervosa

- Sinus transversus

- - Fossa rhomboidea
(Sulcus medianus)

' - Nervus hypoglosus im


Canalis hypoglossi

- Nervus accessorius,
radices craniales

Obex

~ - Nervus accessorius,
radices spinales

Abb. 5.58: Hirnstamm in situ mit Austritten der Hirnnerven

XII. Hirnnerv, N. hypoglossus. Er verlässt die spinalis, über. Kranial endet die Medulla oblon-
Medulla oblongata mit seinen 12-16 somatomoto- gata am basalen Brückenrand sowie dorsal etwa
rischen Wurzelfäden aus dem Nucl. n. hypoglossi in der Mitte der Rautengrube, in Höhe der Striae
(für die Zungenmuskulatur) zwischen der Pyramide medulläres ventriculi quarti. Die ventrale
und der Olive, wonach sich die einzelnen Radices Fläche ruht auf der Pars basilaris ossis occi-
zu mehreren Bündeln vereinigen. Diese Bündel pitalis und lässt eine Fissura mediana anterior
lagern sich meist dorsal der A. vertebralis an, um erkennen. Beiderseits der Fissur liegen medial
dann zum Canalis nervi hypoglossi zu ziehen (s. die Pyramiden, deren Fasern zum größten Teil
Kap. 4.4.2.3, S. 213). in der Pyramidenkreuzung, Decussatio pyrami-
dum, über die Mittellinie hinweg nach kontrala-
Verlängertes Mark, Medulla oblongata teral ziehen. Lateral der Pyramide wölbt sich die
Olive vor.
Die Medulla oblongata ist der unscharf begrenzte • Hirnnervenaustrittspunkte (s. Abb. 5.51, 54).
Bereich zwischen Pons und Rückenmark. Zwischen Pyramide und Olive treten die Wur-
zelfasern des XII. Hirnnerv, N. hypoglossus, aus
• Allgemeines. Das verlängerte Mark ist rostral- der Medulla aus. Weiter lateral findet sich der
wärts in zunehmendem Maße zwiebeiförmig Pedunculus cerebellaris inferior und zwischen
verdickt und wird deshalb auch Bulbus genannt. beiden Strukturen treten von kranial nach basal
Von diesem Namen leiten sich auch einige ana- die folgenden Hirnnerven aus: direkt am Winkel
tomische und neurologische Begriffe ab, wie zwischen Medulla, Pons und Cerebellum (auch:
Tractus corticobulbaris (vom Cortex zu den Kleinhirnbrückenwinkel) treten als kompakte,
Hirnnervenkernen), Tractus spinobulbaris oder dicke Nerven der VII. Hirnnerv, N. facialis, und
die Bulbärparalyse. der VIII. Hirnnerv, N. vestibulocochlearis, aus,
• Topographie (s. Abb. 5.27). Kaudal geht die um gemeinsam dem Porus acusticus internus
Medulla oblongata in Höhe des 1. Zervikal- zuzustreben. Im Sulcus retroolivaris erkennt
nerven bzw. der Pyramidenkreuzung ohne eine man anschließend die Wurzelfäden der Nerven
scharfe Grenze in das Rückenmark, Medulla der Vagusgruppe, des N. glossopharyngeus,
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 423

IX. Hirnnerv, des N. vagus, X. Hirnnerv, und


ckenfußes, Millard-Gubler-Syndrom, sowie das
des N. accessorius, XI. Hirnnerv (s. Abb. 5.26),
Syndrom der ventralen paramedianen Medulla
die sich dem Foramen jugulare (Pars nervosa)
Oblongata, Jackson-Syndrom.
zuwenden.
• Dorsalansicht (Abb. 5.50, 58). Sie zeigt den
Sulcus medianus posterior und den Sulcus
lateralis posterior. Der Fasciculus gracilis des
Hinterstrangs (s. Kap. 5.4.6.2, S.482, Abb. 5.98) 5.2.7 Rückenmark, Medulla spinalis
verdickt sich rostralwärts keulenförmig zum
Tuberculum nucl. gracilis und der Fascicu- Lernziele: Morphologie und Topographie der
lus cuneatus zum Tuberculum nucl. cuneati. Medulla spinalis, regional typische Rücken-
Lateral hiervon bildet der Vorderseitenstrang marksquerschnitte, laminare Gliederung nach
des Rückenmarks, insbesondere bei Kindern, Rexed, Cornua, Columnae, Tractus, Eigenappa-
häufig einen dunklen Höcker aus: das Tuber- rat, Spinalnerv, segmentale Innervation
culum cinereum. Unter diesem liegt der Nucl.
spinalis η. trigemini, die kraniale Fortsetzung
der Substantia gelatinosa des Rückenmarks. 5.2.7.1 Übersicht
Einen wichtigen Orientierungspunkt stellt der
Querbalken, Obex, als der am weitesten kaudal
gelegene Punkt der Rautengrube dar. Hier liegt Die Wirbelsäule bildet mit dem Wirbel- oder
die Area postrema, und in der Tela choroidea Spinalkanal, Canalis vertebralis, einen schüt-
die Apertura mediana ventriculi quarti. Teile zenden Raum für das Rückenmark mit seinen
des Vorderseitenstranges, die zum Rückenmark Häuten und Gefäßen. Er reicht vom Foramen
ziehen, gehen in den Pedunculus cerebellaris magnum bis zum Hiatus sacralis, dem kaudalen
über und treten ins Kleinhirn ein, wobei sich Ende des Kreuzbeinkanales. Das Rückenmark
ihnen Teile des Hinterstrangs und auch olivoze- hat eine Länge von ungefähr 50 cm und einen
rebelläre Bahnen anschließen. Als Fibrae arcu- Durchmesser von bis zu 2 cm. Es endet beim
atae externae, die manchmal an der Oberfläche Erwachsenen ungefähr in Höhe des 1. lumba-
der Medulla sichtar sind, verlaufen Axone von len Wirbelkörpers. Kaudal davon verlaufen die
Neuronen der Nucll. pontis. Wurzelfasern als Cauda equina zu ihren Aus-
trittsorten aus dem Spinalkanal, den Foramina
intervertebralia (s. Kap. 8.1.1, S. 632).
Klinik: Aufgrund der topographischen Nach-
barschaft zwischen den Hirnnervenkernen und
Spinalkanal. Er wird von den Dorsalflächen der
den langen Bahnen des Hirnstamms rostral der
Wirbelkörper und der Zwischenwirbelscheiben
Decussatio pyramidum fahren Schädigungen in
sowie den Wirbelbögen gebildet (s. Kap. 8.1,
diesem Gebiet zu so genannten Alternanssyn-
S. 629). Durch die Bänder der Wirbelsäule ist er bis
dromen. Diese sind durch umschriebene ipsi-
auf die ventral der Processus transversi vertebrae
laterale Hirnnervenausfälle und kontralaterale
gelegenen Foramina intervertebralia abgedichtet,
periphere Lähmungen, Hemiparesen, gekenn-
durch welche die Rückenmarksnerven, Nn. spina-
zeichnet, die meist nach vaskulären unilateralen
les, ein- bzw. austreten (s. Kap. 2.6.5.1, S. 94). In
Hirnstammläsionen auftreten. Durch eine nukle-
der Hals- und Lendenregion ist der Kanal weit und
äre Läsion bedingt liegt der Hirnnervenausfall
besitzt im Lumen einen dreieckigen Querschnitt.
jedoch ipsilateral. Die durch Läsion der langen
In der Thorakalregion ist er hingegen eng und im
Bahnen zusätzlich auftretenden Symptome (in
Querschnitt kranial rund, nach kaudal queroval; auf
Abhängigkeit von der Einbeziehung kortiko-
der Höhe des Os sacrum ist er halbmondförmig.
nukleärer Bahnen) imponieren hingegen auf der
kontralateralen Seite. Die 4 häufigsten Alter-
nanssyndrome sind das dorsolateral Oblon- 5.2.7.2 Rückenmarksquerschnitte
gata-Syndrom, Wallenberg-Syndrom (ohne
Hemiparese), das Syndrom des Mittelhirnfußes, Das Volumen der weißen Substanz nimmt von
Weber-Syndrom, das Syndrom des basalen Brü- kaudal nach kranial fortlaufend zu, da immer mehr

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
424 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

- - Cl
dorsal ventral
- Atlas

Halswirbelsäule Halsmark
(Wirbel 1—VI I) (Segmente 1-8)

Intumescentia cervicalis

Thl

Brustmark
Costa II
(Segmente 1-12)

Dura mater spinalis


mit Schnittrand Brustwirbelsäule
(Wirbel l-XII)

Schnittrand der
Dura mater spinalis

Lig. denticulatum Lendenmark


(Segmente 1-5)

Ganglion spinale Sakralmark


(Segmente 1-5)

Steißmark
Intumescentia lumbalis Lendenwirbelsäule 2 (1 Segment)
(Wirbel l-V)

-3

Conus medullaris

LI

Kreuzbein
(Wirbel l-V)

Filum terminale

- Cauda equina
Steißbein
(Wirbel H l l )

Abb. 5.60: Lagebeziehung der Rückenmarkssegmente


zur Wirbelsäule. Wirbel = römische Zahlen; Rücken-
markssegmente und Spinalnerven = arabische Zahlen.
Beachte die nach kaudal zunehmende Höhendifferenz
zwischen Rückenmarkssegment und zugehörigem
Wirbelkörper

Filum durae
matris spinalis

Abb. 5.59: Rückenmark im Wirbelkanal. Durasack von


dorsal eröffnet und teilweise entfernt

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 425

Funiculus posterior , Sulcus medianus posterior et


\ / Septum medianum posterius

Columna posterior


Columna lateralis

— Columna anterior

— Rssura mediana anterior


Funiculus anterior --*=- —

— Sulcus lateralis anterior

Abb. 5.61: Weiße und graue Substanz des Rückenmarks

®>
zervikal thorakal lumbal sakral

Abb. 5.62: Querschnitt durch das Rückenmark in verschiedenen Höhen. Rostrai überwiegt die weiße
Substanz. Rückenmarkssegmente, die viele Muskeln versorgen besitzen ein breites Vorderhorn:
Zervikal: Schnitt durch den Übergang des 5. auf das 6. Zervikalsegment (C5-6)
Thorakal: Schnitt in Höhe des 5. Thorakalsegments (Th5)
Lumbal: Schnitt durch das 5. Lumbaisegment (L5)
Sakral: Schnitt auf Höhe des Übergangs des 4. zum 5. Sakralsegment (S 4-5)

aufsteigende sensible Bahnen den Faserumfang 5.2.7.3 Morphologie und Topographie


vermehren und absteigende motorische Fasern des Rückenmarks
im Rückenmark enden. Ebenso verändert sich die
Form der Schmetterlingsfigur der grauen Substanz Topographie. Das Rückenmark, Medulla spinalis,
auf unterschiedlichen Niveaus des Rückenmarks liegt im Wirbelkanal umgeben von der weichen
in Abhängigkeit der zu versorgenden Muskulatur: Hirnhaut, die im Cavam subarachnoideale den
Zwischen den Segmenthöhen C4 und Th2 sowie Liquor cerebrospinalis enthält (s. Kap. 5.3.2).
L3 und S3 sieht man die Intumescentia cervicalis Das Rückenmark reicht beim Erwachsenen vom
bzw. lumbalis (Intumescentia = Anschwellung), Foramen magnum bis etwa zum 1. oder 2. Lenden-
die die Masse an Fasern und Neuronen für die wirbelkörper (LWK), wo es als Conus medullaris
Extremitätenversorgung widerspiegelt (s. Abb. ausläuft (s. Abb. 5.60). Je nach Körpergröße kann
5.59, 62). Durch den Ascensus medullae spinalis (s. es bei Frauen auch bis zum 3. LWK, bei Kindern
Kap. 5.1.3) liegen die Intumescentiae weiter kranial sogar bis zum 4. LWK reichen. Nach kaudal setzt
als die Foramina intervertebralia, durch die die aus es sich in einen nervenzellfreien, gliösen Endfaden,
ihnen stammenden Spinalnerven den Wirbelkanal Filum terminale, fort, der am kaudalen Ende
verlassen (s. Abb. 5.7). des Spinalkanals befestigt ist. Beidseits lateral
des Filum terminale verlaufen die Wurzelfasern,
Fila radicularia, nach kaudal, wobei sie in ihrer
Gesamtheit einem Pferdeschwanz, Cauda equina,
gleichen (s. Abb. 5.59, 63). Durch die Fissura
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
426 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

mediana anterior an der ventralen und den Sulcus belsäulendurchtritt des 1. Paars zwischen Os
medianus dorsalis (posterior) an der Dorsalseite occipitale und Atlas und des 8. Paares zwischen
des Rückenmarks werden die beiden symmetri- dem 7. zervikalen und dem 1. thorakalen Wir-
schen Rückenmarkshälften markiert (s. Abb. 5.61). belkörper.
• 12 Brustnerven, Nn. thoracici, aus den 12 Tho-
Spinalwurzeln und Spinalnerven. Zu beiden
rakalsegmenten (Thl-Thl2); mit Austritt des
Seiten des Rückenmarks treten Nervenfasern dor-
ersten Paares zwischen dem 1. und 2. Thorakal-
solateral ein und ventromedial aus. Die Hinterwur-
wirbel.
zeln, Radices posteriores, und die Vorderwurzeln,
• 5 Lendennerven, Nn. lumbales, die aus den 5
Radices anteriores, vereinigen sich seitlich zu 31
Lumbaisegmenten (L1-L5) stammen; Austritt
(32) Nervenpaaren (bei fehlenden oder zusätzli-
des 1. Nervenpaares zwischen 1. und 2. Lumbal-
chen Wirbelkörpern entsprechend mehr bzw. weni-
wirbel.
ger), Nn. spinales, die sich nach ca. 1 cm Länge
• 5 Kreuzbeinnerven, Nn. sacrales, aus den
in ihre Äste aufteilen (s. Kap. 2.6.5.1 mit Abb.
5 Sakralsegmenten (S1-S5); Austritt des 1. Ner-
2.27, S. 94 und Abb. 5.6). In den Hinterwurzeln
venpaares durch die oberen Foramina sacralia.
liegen im Bereich der Foramina intervertebralia
und sacralia die Spinalganglien. Sie enthalten • 1 (2) Steißbeinnerv, N. coccygeus, aus dem
sensible pseudounipolare Nervenzellen. Der erste Kokzygealsegment (Col); mit Austritt zwischen
zervikale Spinalnerv besitzt meist kein oder nur dem 1. und 2. Kokzygealwirbel, insofern diese
ein rudimentäres Spinalganglion, denn der Ramus Wirbel tatsächlich abgrenzbar sind und nicht als
dorsalis des 1. Spinalnerven ist rein motorisch: Blockwirbel vorliegen.
N. suboccipitalis.
Cave: Der Spinalnerv C1 tritt oberhalb des
Eine Wurzel setzt sich aus 5 bis 10 Wurzelfaden 1. zervikalen Wirbelkörpers aus, die Spinalner-
zusammen, den Fila radicularia. ven Thl und LI jeweils unterhalb des 1. tho-
rakalen bzw. lumbalen Wirbelkörpers. Aufgrund
Die Fila radicularia radicis posterioris n. spinalis
des Rückenmarksaszensus projizieren sich die
bestehen aus den Axonen der Spinalganglienzellen
Rückenmarkssegmente nicht auf die zugehö-
und treten ins Rückenmark ein (Radix sensibilis).
rigen Wirbelkörper, wobei diese Verschiebung
Die Fila radicularia radicis anterioris enthalten nach kaudal zunimmt (s. Abb. 5.7). Eine Angabe
die austretenden Axone der a- und γ-Motoneurone wie „L5" kann deshalb missverständlich sein,
und der viszeromotorischen (= vegetativen) Neu- da je nach Zusammenhang das Rückenmarks-
rone der Columna lateralis (Radix motoria, die segment L5, das etwa auf Höhe des 12. Brust-
auch die vegetativen Fasern mitnimmt). wirbels liegt, oder der 5. Lumbalwirbel gemeint
sein können.
Die Trennung der Faserqualitäten entspricht
dem Bell-Magendie-Gesetz, wonach die Wurzelfaden. Die dorsalen Wurzelfäden treten in
vorderen Wurzeln motorisch und die hinteren einer Linie, Linea radicularis posterior, in das
sensibel sind. Erst durch die Bündelung der Ner- Rückenmark ein. Die etwas dickeren Vorderwur-
venfasern zum Spinalnerven entstehen Nerven zelfäden verlassen es hingegen in einer breiten
mit Fasern gemischter Qualitäten. Durch den Zone, Area radicularis anterior. Wegen der
Faseraustausch in den Plexus entsteht eine Längendifferenz zwischen Rückenmark und Wir-
weitere Mischung hinsichtlich der segmentalen belsäule verlaufen die oberen Wurzelfäden inner-
Herkunft der Axone im peripheren Nerven. halb des Durasacks annähernd horizontal, während
die unteren immer länger und steiler werdend fast
Unterteilung. Die Spinalnerven werden von kranial vertikal verlaufen. Die unteren Sakralsegmente und
den Wirbelsäulenteilen ihres Austritts entsprechend das Kokzygealsegment liegen im Conus medulla-
in Nn. cervicales, Nn. thoracici, Nn. lumbales, Nn. ris, also etwa auf Höhe des 1. Lumbalwirbels. In
sacrales und Nn. coccygei unterteilt (s. Abb. 5.60, ihrem gesamten Verlauf bis in die Foramina inter-
s. Kap. 2.6.5.1, S. 94): vertebralia auch unterhalb des Conus medullaris
werden die Wurzelfäden von Liquor umgegeben
• 8 Halsnerven, Nn. cervicales, die sich aus den
und von den Hirnhäuten umhüllt. Distal des Gan-
8 Zervikalsegmenten (C1-C8) bilden; mit Wir-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 427

Radices nervi spinalis


dem Konus-Kauda-Syndrom. Es ist neben einer
„Reithosenanästhesie" von Miktions-, Defa-
Arachnoidea spinalis
kations- und Sexualfunktionsstörungen sowie
Spatium subdurale von radikulären motorischen und sensiblen
(zwischen Dura mater
und Arachnoidea) Ausfällen bestimmt. Insgesamt ist ein isoliertes
Konussyndrom jedoch selten und dann meist
^ Ganglionsensorium
nervi spinalis
Folge eines intramedullären Tumors.
Ν
Ν
s
Conus medullaris
X 5.2.7.4 Graue und weiße Substanz
Ν
N
Filum terminale des Rückenmarks
\
s
Graue Substanz
• Dura mater spinalis

Im Rückenmarksquerschnitt hat die graue Sub-


v
Cauda equina
stanz eine Η-Form und erinnert dabei an einen
aufgespannten Schmetterling (s. Abb. 5.62 und 64),
In der grauen Substanz des Rückenmarks liegen
Filum durae matris
spinalis Projektions- und Interneurone, die innerhalb des
ZNS verschaltet sind, sowie nach peripher proji-
zierende Neurone.

Die Projektionsneurone sind die Strangzellen in


der Columna posterior (Abb. 5.65), deren Axone
Os coccygis die aufsteigenden Tractus des Vorderseitenstrangs
bilden. Die peripheren Neurone senden ihre Axone
Abb. 5.63: Cauda equina und kaudales Ende der über die Vorderwurzel aus dem Rückenmark zum
Medulla spinalis in situ im eröffneten Wirbelkanal. Die
Spinalnerven, mit dessen Ästen sie ihr Innervati-
Dura wurde aufgeschnitten, so dass im Subarachnoi-
dalraum die Cauda equina und der Conus medullaris
onsgebiet außerhalb des ZNS erreichen. Die prä-
sichtbar sind ganglionären sympathischen Neurone liegen in
der Columna lateralis der Rückenmarkssegmente
gl ion spinale geht die Dura ins Epineurium, die C8-L2, die präganglionären parasympathischen
Arachnoidea ins Perineurium des Spinalnerven Neurone in der Columna lateralis der Segmente
über (s. Kap. 5.3.2.2 und Abb. 5.63 und 5.72). S2-S4. Schließlich sind die Interneurone in allen
3 Columnae zu finden (s. Abb. 5.102). Sie dienen
Klinik: 1. Laterale Bandscheibenvorfälle (Her- dabei funktionell als Assoziations-, Kommissuren-,
nien des Nucleus pulposus durch den Anulus Reflex- oder Feedback-Zellen (Renshaw-Zellen der
fibrosus und den Bandaparat) treten meist α-Motoneurone; siehe Lehrbücher der Histologie
einseitig an Stellen auf, an denen die Längs- und Physiologie).
bänder der Wirbelsäule schwach ausgeprägt
Die im Querschnitt erkennbaren Kerngebiete
sind. Durch Druck auf die Spinalnervenwurzeln
oder Hörner, Cornua, entsprechen im Längs-
(s. Kap. 8.1.1, S. 632) rufen sie Schmerzen, Sen-
schnitt den Säulen, Columnae (Abb. 5.65):
sibilitätsausfalle im Dermatom (s. Kap. 2.6.5.4,
Hintersäule, Columna dorsalis, bzw. Hinter-
S. 97) und Muskelschwächen der entsprechen-
horn, Cornu dorsale; Vordersäule, Columna
den segmentalen Versorgung hervor. 2. Mediale
ventralis, bzw. Vorderhorn, Cornu ventrale;
Bandscheibenvorfälle, die aufgrund der Siche-
seitliche Säule, Columna lateralis, bzw. Seiten-
rung durch das Ligamentum longitudinale pos-
horn, Cornu laterale (nur im Brustmark sowie
terius relativ selten vorkommen, können nicht
dem angrenzenden Hals- (C8) und Lendenmark
nur die Nervenwurzeln komprimieren, sondern
(Ll-2)). Zentrales Verbindungsstück, bestehend
auch das Rückenmark selbst. Geschieht dies am
aus dem Zentralkanal, Canalis centralis, mit
Conus medullaris und der Cauda equina, kommt
der umgebenden Substantia grisea centralis.
es zu einer neurologischen Notfallsituation,

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
428 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Sulcus medianus posterior


Sulcus intermedius posterior Fasciculus gracilis (Göll)

Fasciculus cuneatus (Burdach)


Wurzeleintrittszone und Radix dorsalis

•Fasciculus interfascicularis
Zona terminalis -
(Scbultze-Komma)
Zona spongiosa -
- Nucl. proprius

Substantia gelatinosa —
Nucleus dorsalis —Tr. corticospinalis lat.
(Clarke-Säule) (Pyramidenseitenstrangbahn)

Tr. spinocerebellaris
dorsalis (Flechsig) "Tr. rubrospinal

Tr. spinocerebellaris — "Tr. vestibulospinalis


ventralis (Gowers) lateralis
Substantia intermedia

Tr. tectospinalis
Radix ventralis Tr. reticulospinalis lat.

'Tr. olivospinalis (Heiweg)

Tr. vestibulospinalis anterior


Fasciculus longitudinalis medialis
Fissura mediana anterior Tr. reticulospinalis med.

Tr. corticospinalis anterior (Pyramidenvorderstrangbahn)

Abb. 5.64: Querschnitt durch das Rückenmark. Es sind schematisiert links die Zellen und Zellgruppen der
grauen Substanz, rechts die Strangzellen (blau), die Vorderwurzelzellen (rot) sowie die Assoziationszellen und
Kommissurenzellen (schwarz) eingezeichnet. Die Felder der Rückenmarksbahnen sind als Umriss wiedergege-
ben. Assoziationszellen = vollschwarz; Kommissurenzellen = schwarz gestrichelt; blau = a: Neurit des Tractus
spinocerebellaris posterior; b: Neurit des Tr. spinocerebellaris anterior; c: Neurit des Tr. spinothalamicus lateralis;
Gr. B: Grundbündel; 0 : ovaläres Hinterstrangfeld. Die römischen Zahlen geben die aufsteigenden Bahnen, die
arabischen Zahlen die absteigenden Bahnen an

• Hinterhorn, Cornu posterius. Es wird insbe- (Nucl. anteromedialis sowie Nucl. posterome-
sondere vom Nucl. proprius columnae posteri- dialis) und einer lateralen Kerngruppe (Nucl.
oris gebildet. Als weiteres großes Kerngebiet anterolateralis, Nucl. posterolateralis sowie
liegt die Columna dorsalis (Clarke-Säule) in Nucl. retrodorsolateralis) bildet eine zentrale
Höhe C8-L2 an der Basis des Hinterhorns und Kerngruppe des Halsmarks zusätzlich den Nucl.
entsendet den Tractus spinocerebellaris poste- phrenicus (Motoneurone für das Zwerchfell) und
rior zum Kleinhirn. Dem Nucl. proprius liegt Nucl. accessorius. In der Versorgungsregion der
dorsal die Substantia gelatinosa (Rolandi) an, oberen Extremität (C5-Thl) ist das Vorderhorn
der wiederum kappenartig die Substantia spon- wegen der zu versorgenden Muskelmasse viel
giosa folgt. Von der Oberfläche des Rücken- stärker differenziert als im Brustmark und nimmt
marks trennt der Tractus dorsalis (Lissauer) im Lumbal- und Sakralmark (Beinmuskulatur)
das Hinterhorn von der Redlich-Obersteiner- an Masse zu, wobei sich auch hier wieder ver-
Wurzeleintrittszone ab (siehe Lehrbücher der mehrt Kerngruppen für einzelne Muskeln diffe-
Histologie). Zwischen dem Hinterhorn und dem renzieren lassen. Die Gruppen der Motoneurone
Seitenhorn liegt die lockere Substanz der For- für proximale Muskeln liegen medial, für distale
matio reticularis spinalis. Muskeln lateral in der Columna anterior.
• Vorderhorn, Cornu anterius. Hier sind die • Seitenhorn, Cornu laterale. Es erreicht seine
motorischen Neurone in Kerngruppen ange- größte Ausdehnung im kaudalen Halsmark (C8
ordnet. Neben einer medialen Kerngruppe und Th2, Centrum ciliospinale mit prägang-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 429

lionären Zellen für den Halsgrenzstrang und • Lamina I entspricht der Zona spongiosa (neue
oberen thorakalen Grenzstrang. Insbesondere Terminologie: Nucl. marginales), die die Wal-
liegen hier die 1. Neurone zur Versorgung des deyer-Marginalzellen enthält. Sie ist der am
M. dilatator pupillae (s. Kap. 6.4.2, S. 588), weitesten dorsal gelegene Teil des Hinterhorns.
die im Ganglion cervicale superius umgeschal- • Lamina II ist die äußere Zone der Substantia
tet werden, und mehrere Kerne mittelgroßer gelatinosa, die besonders glasig erscheint, da
sympathischer Nervenzellen (s. Abb. 5.61, 62). große Neurone fehlen. Das Gewebe ist mit
Hierunter zählen die mediale Kerngruppe, Nucl. radiär auf die kleine Einbuchtung, Hilus, aus-
intermediomedialis (Interneurone), und die gerichteten Axonendigungen, Synapsen und
laterale Kerngruppe, Nucl. intermediolateralis Dendriten ausgefüllt.
(präganglionäre Neurone). • Lamina III ist die innere Zone der Substantia
gelatinosa, welche durch kleinere Interneurone
Klinik: 1. Das Vorderhorn ist somatotopisch bedingt etwas mehr körnig wirkt.
gegliedert, wobei die Zellen der medialen • Lamina IV stellt den Hilus der Substantia
Kerngruppen die axiale Nacken-, Rücken-, gelatinosa dar; kleine und große Nervenzellen
Interkostal- und Abdominalmuskulatur versor- kommen hier nebeneinander vor.
gen. Die Zellen des Nucl. ventrolateralis im • Lamina V nimmt die engste Stelle, den Hals,
Halsmark versorgen hingegen die Extremitä- des Hinterhorns ein. Die laterale Zone dieser
tenmuskeln von Schultergürtel und Oberarm, Lamina enthält große Strangzellen mit reichlich
während die Zellen des Nucl. dorsolateralis Nissl-Substanz. Diese Strangzellen stellen sehr
die Extremitätenmuskulatur von Unterarm und dendritenreiche Zellen der grauen Substanz
Hand innervieren. Der Nucl. retrodorsolateralis dar, deren Neuriten in die weiße Substanz der
versorgt die kleinen Fingermuskeln. Im ventra- gleichen oder der Gegenseite gelangen; sie
len Bereich des Vorderhorns liegen insbesondere steigen in den Seitensträngen des Rückenmarks
Zellen für die Streck-, im dorsalen Bereich für auf oder geben Kollateralen ab, um als Tractus
die Beugemuskulatur. 2. Zusätzlich besteht eine das Rückenmark mit dem Gehirn zu verbinden.
höhenspezifische somatotope Gliederung. Dabei Die großen Zellen der medianen Zone enthalten
liegen Zellen für die Innervation des Schulter- weniger Nissl-Substanz, so dass diese Zone in
gürtels höher als die für den Oberarm, gefolgt der Nissl-Färbung blasser erscheint.
von Unterarm und Hand (s. Abb. 5.65). Die • Lamina VI bildet die Basis des Hinterhorns und
Kenntnis der Somatotopik des Rückenmarks ist in den Intumescentiae cervicalis et lumbalis
lässt sich diagnostisch nutzen, um pathologische besonders breit angelegt.
Prozesse des Wirbelkanals oder des Rücken- • Lamina VII stellt die mittlere Zone des Vor-
marks zu lokalisieren. derhorns, Zona intermedia oder Substantia
intermedia, dar. In ihr liegen die Kernsäulen der
Gliederung der grauen Substanz nach Rexed. Motoneurone wie Inseln eingebettet vor.
Die regionalen Unterschiede von Häufigkeit und • Lamina VIII ist ein medialer Teil des Vorder-
Verteilung der Zelltypen der grauen Substanz mit horns und umschließt die Zellsäulen der Moto-
den markscheidenfreien Endverzweigungen der neurone der Rückenmuskulatur und die Nucll.
Nervenfasern, Telodendria, und ihren verschiede- commissurales. Der Aufbau dieser Lamina wird
nen synaptischen Verschaltungstypen lassen histo- durch diejenigen Fasern bestimmt, welche die
logisch eine charakteristische Zytoarchitektonik Motoneurone versorgen.
der grauen Substanz erkennen. Diese Lamination • Lamina IX umfasst alle Zellsäulen der multipo-
bildet die Grundlage der Rexed-Gliederung: laren somatischen Motoneurone im Vorderhorn.
Dabei werden 10 Laminae (LI-LX) in der grauen • Lamina X bildet das um den Zentralkanal gele-
Substanz des Rückenmarks unterschieden, welche gene Gebiet der Substantia grisea centralis.
in Richtung von dorsal nach ventral klassifiziert
werden (Abb. 5.65).

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
430 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Abb. 5.65: Rückenmarksquerschnitt mit Somatotopik des Vorderhorns (rechts) und Gliederung
der grauen Substanz in zehn Laminae nach Rexed (links)

Weiße Substanz werden entweder als Bündel, Fasciculi, oder als


Bahnen, Tractus, bezeichnet (s. Abb. 5.66).
Die graue Substanz ist von auf- und absteigenden
Nervenfasern umgeben, welche sie wie ein weißer Eigenapparat. Am Übergang von grauer zu
Mantel umkleiden. weißer Substanz befinden sich die Grundbündel,
Fasciculi proprii. Sie bestehen aus auf- und abstei-
• Gliederung
genden Neuriten von Assoziationszellen, die den
Eigenapparat des Rückenmarks bilden (s. Abb.
Die weiße Substanz des Rückenmarks wird
5.64).
durch die Ein- bzw. Austrittszone der hinteren
und vorderen Wurzelfasern in 3 Stränge, Funi-
Durch den Eigenapparat werden komplexe
culi, unterteilt: der Hinterstrang, Funiculus
Bewegungen schon auf Rückenmarksebene
posterior; liegt zwischen dem Septum media-
gesteuert und synchronisiert.
num posterius und der Linea radicularis pos-
terior (bzw. der Hintersäule), der Seitenstrang,
In den Grundbündeln des Vorderstrangs sind die
Funiculus lateralis, befindet sich zwischen den
Neuriten lang und überbrücken große Rücken-
vorderen und hinteren Wurzelfasern, der Vor-
marksabschnitte. Dabei verknüpfen sie mehrere
derstrang, Funiculus anterior, liegt zwischen
Segmente. In den dorsolateralen Grundbündeln
den vorderen Wurzelfasern und der Fissura
sind die Neuriten hingegen kürzer und ermöglichen
mediana anterior (s. Abb. 5.65).
dadurch eine relativ eigenständige Funktion der
Segmente. Die von den Grundbündeln übermit-
Der Seitenstrang wird außerdem in einen Funicu-
telten exzitatorischen und inhibitorischen Impulse
lus dorso(postero-)lateralis und in einen Funiculus
richten sich insbesondere an die motorischen Vor-
ventro(antero-)lateralis unterteilt. Teilweise fasst
derhornzellen. Durch Ergebnisse vergleichender
man ihn auch mit dem Funiculus anterior zum
Untersuchungen an Vierfüßern, Quadrupeden,
Vorderseitenstrang zusammen (s. Kap. 5.4.6.3).
geht man davon aus, dass die Grundbündel für die
Die innerhalb der Stränge verlaufenden Fasern
Bewegungskoordination von oberen und unteren
mit gemeinsamem Ziel und gemeinsamer Funktion
Extremitäten von großer Bedeutung sind.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.2 Allgemeine Topographie, Präparation und Bildgebung des ZNS 431

Schultze-Komma Phillippe-Gombault Triangel (sakrai)


(zervikal!
/
s
1 / /
Flechsigsches ovales Feld (thorakal)
t

S =sacral
L = lumbal
Tractus spinocerebellaris
Th = thoracal
dorsalis

Tractus corticospinalis - C = cervical

Vasokonstriktorenbahn -

Tractus spinocerebellaris
ventralis

Abb. 5.66: Somatotope Gliederung der weißen Substanz des Rückenmarks, Ansicht von oben. 1. rezeptives
Neuron und 2 Neuron, die Strangzellen der Vorderseitenstrangbahn, sind eingezeichnet. Die Grundbündel
(Fasciculi proprii) rechts punktiert (Schema nach O. Förster und M. Clara). Im Hinterstrang sieht man zum
Eigenapparat gehörende rekurrente Faserbündel, die sakral die Phillippe-Gombault Triangel, thorakal das ovale
Flechsig-Feld und zervikal das Schultze-Komma bilden, die hier zur Vereinfachung gemeinsam in einem Schnitt
dargestellt wurden

Auf die Grundbündel folgen nach außen die langen neben der sensiblen Versorgung der Haut (Derma-
Leitungsbahnen (Tractus). Im Hinterstrang befin- tom) auch die Muskel- und Eingeweideinnervation
den sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf- gehört. Da durch die Plexusbildung der Rami
steigende Bahnen. Im Vorderseitenstrang kommen ventrales ein peripherer Nerv Fasern verschiedener
auf- und absteigende Bahnen gemeinsam vor. Alle Segmente fuhrt und umgekehrt Fasern aus einem
Bahnen werden zusammen mit den dazugehörigen Segment in verschiedenen Nerven verlaufen, sind
Systemen in Kapitel 5.4 detailliert besprochen. Dermatome und Innervationsgebiete bestimmter
peripherer Nerven nicht deckungsgleich.

5.2.7.5 Segmentale Gliederung des Folglich unterscheidet man: Radikuläre oder


Rückenmarks segmentale sensible Hautinnervation und peri-
phere sensible Hautinnervation
Spinalnerv. Die motorischen Vorder- und die sen-
siblen Hinterwurzeln des Rückenmarks vereinigen
Sowohl die Dermatome als auch die sensiblen
sich während der gemeinsamen Strecke durch das
Innervationsgebiete eines Nervs überlappen sich
Foramen intervertebrale und bilden den etwa 1 cm
an ihren Rändern. Das ausschließlich von einem
langen Spinalnerven des jeweiligen spinalen Seg-
bestimmten Hautnerven innervierte Areal bezeich-
ments (s. Kap. 2.6.5.1, S. 94 und Kap. 5.1.3).
net man als Autonomiegebiet.
Der Spinalnerv teilt sich nach Durchtritt durch das
Foramen intervertebrale in einen vorderen Ast, Klinik: 1. Bei Sensibilitätsstörungen wird das
Ramus anterior, der seine Richtung fortsetzt und ausgefallene Areal genau bestimmt, um dann
einen hinteren Ramus posterior, der nach dorsal zu überprüfen, ob es dem Dermatom eines
umbiegt und die autochthone Rückenmuskulatur Segmentes oder dem Autonomiegebiet eines
innerviert (s. Kap. 2.6.5.1, S. 94, Kap. 8, S. 629). Nerven entspricht. Auf diese Weise können
segmentale Störungen (ζ. B. bei Bandscheiben-
Radikuläre sensible Hautinnervation und peri-
vorfall, s.Kap. 8.2.1, S. 638) von peripheren
phere sensible Hautinnervation. Aus einem Seg-
Nervenläsionen (ζ. B. Engpasssyndromen wie
ment wird ein für den jeweiligen Spinalnerven cha-
Einklemmung des N. medianus im Canalis
rakteristisches Gebiet versorgt (s. Abb. 5.67), wozu
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
432 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Abb. 5.67: Vereinfachte Darstellung der Segmentgrenzen (Dermatome) mit muskulären Versorgungsgebieten
(unten rechts); nach April (1997) und P. Duus (1990). Im Gesicht ist die Versorgung durch den N. trigeminus
(V. Hirnnerv) dargestellt

carpi: Karpaltunnelsyndrom, s. Kap. 9.2.9, Myotom dieses Segmentes entwickelt hat (siehe
S. 760) unterschieden werden. 2. Ebenso wie Abb. 5.67). Durch Testung der adäquaten Mus-
jeder sensiblen Wurzel ein Hautdermatom zuge- keleigenreflexe (ζ. B. Bizepssehnenreflex für
ordnet werden kann, so kann vielen motorischen C5/6 oder Patellarsehnenreflex für L3/4) können
Wurzeln ein Leitmuskel zugeordnet werden, der Schäden daher auf segmentaler Ebene lokalisiert
sich mehr oder weniger vollständig aus dem werden.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- und Rückenmarkshäute, Ventrikelräume und Gefäßversorgung des Z N S 433

• Head-Zonen. Über die Rami communicantes die Diagnostik sowie für physiotherapeutische
der Rückenmarksnerven entstehen segmentale Behandlungsmethoden unentbehrlich. So stellt
Zuflüsse zu und aus dem autonomen Nerven- ζ. B. die Segmenttherapie eine Reizbehandlung
system. Durch die gemeinsame Verschaltung erkrankter innerer Organe dar, welche auf der
somatosensibler und viszerosensibler Signale in Nutzung kutiviszeraler Reflexe basiert, die sich
den Segmenten können Schmerzreize, Algesie, aus der segmentalen Gliederung des Körpers
oder eine Überempfindlichkeit, Hyperästhesie, ergeben. Entsprechende Methoden sind die
aus den Eingeweiden in dem entsprechenden Reflexzonenmassage (Bindegewebs-, Nerven-
Hautdermatom empfunden werden. Teilweise punkt- oder Periostmassage), die Applikation
lassen sich bestimmte Hautareale bestimm- thermischer und elektrotherapeutischer Reize
ten inneren Organen zuordnen: Head-Zonen sowie die lokale Anästhetikainfiltration.
(s. Kap. 2.6.5.4, S. 97). Diese Zuordnung ist für

5.3 Hirn- und Rückenmarkshäute, Ventrikelräume


und Gefäßversorgung des Z N S

Lernziele: Leptomeninx (weiche Hirnhaut): Pia den Häuten des Gehirnes ist wichtig fur das
mater und Arachnoidea mater; Pachymeninx Verständnis zahlreicher Erkrankungen, wie
(harte Hirnhaut): Dura mater; Liquor cerebro- intrakranieller Blutungen und Hydrocepha-
spinalis: Bildung und Resorption, Räume und lus, sowie diagnostischer Eingriffe, ζ. B. der
Zisternen, Liquorpunktion; Circulus arteriosus Liquorpunktion und verschiedenen Anästhesie-
cerebri (Willisii), Sinus durae matris, Gefaß- verfahren. 2. Es gibt Störungen der Bildung und
und Nervenversorgung der Hirn- und Rücken- Resorption des Liquors, die zu neurologischen
markshäute Erkrankungen führen können. Der Druck im
Liquorraum unterliegt großen physiologischen
Schwankungen, so dass der diagnostische
5.3.1 Übersicht Wert einer einmaligen Druckmessung gering
ist. Eine solche Liquordruckmessung erfolgt,
wie die normale Liquorpunktion, am liegenden
Gehirn und Rückenmark füllen die knöchernen
Patienten. Dabei werden eine entsprechend
Höhlen des Schädels und der Wirbelsäule nicht
weite Kanüle und ein Steigrohr verwendet, so
vollständig aus, sondern sie sind von Häuten
dass puls- und atemsynchrone Schwankungen
umgeben und in einer Flüssigkeit gelagert.
sichtbar werden können (Normwerte: 65-195
Hierdurch ist die empfindliche Nervensubstanz
mmHjO oder 5-15 mmHg).
von Gehirn und Rückenmark vor Erschütterun-
gen geschützt.

Liquor cerebrospinalis (kurz: Liquor, lat. liquidus: 5.3.2 Hirn- und Rückenmarkshäute,
flüssig). Der Liquor füllt die Hohlräume im und um Meninges
das ZNS. Der das ZNS umgebende Flüssigkeits-
raum wird als äußerer Liquorraum bezeichnet. Der das Gehirn nach außen begrenzenden
Er ist mit dem von den Ventrikelräumen, Aquädukt Membrana limitans gliae superficialis liegt die
und Canalis centralis des Rückenmarks, gebildeten Pia mater auf, die das innere Blatt der weichen
inneren Liquorraum durch 3 Öffnungen, Apertu- Hirnhaut, Leptomeninx, darstellt. Das äußere
rae, im IV. Ventrikel verbunden. Blatt wird als Arachnoidea mater bezeichnet,
die über das Neurothel in die Dura mater
Klinik: 1. Die Kenntnis der topographischen übergeht. Zwischen Pia mater und Arachnoi-
Lage der Liquorräume und der Blutgefäße zu dea mater liegt der äußere Liquorraum, Sub-

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
434 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

5.3.2.1 Die Hüllen des Gehirns


arachnoidealraum, Spatium subarachnoideum,
der an Orten, an denen Gehirn und umgebende
Arachnoidea mater und Pia mater,
Knochen inkongruent verlaufen, zu Zisternen
Leptomeninx
erweitert wird. Die Dura bildet an bestimmten
Stellen Duplikaturen, in denen sich die Sinus Einteilung. Die weiche Hirnhaut, Leptomeninx,
durae matris befinden. Über diese erfolgt der gliedert sich in 2 Blätter:
venöse Abfluss aus dem Gehirn. In diese Sinus
• Das äußere Blatt ist die der Dura mater anlie-
reichen Ausstülpungen der Arachnoidea mater,
gende Arachnoidea mater,
Arachnoidealzotten, hinein, welche für den
Abfluss des Liquors wichtig sind. • das innere Blatt die der Oberfläche des Gehirns
unmittelbar folgende Pia mater.

Neurothel

Arachnoidea

Trabecule archnoidealis

Spatium subarachnerideui
mit Liquor cerebrospinalis

Pia mater

Membrana limitansgliae
superficialis

Astrozyten
(bilden Membrana limitan
superficialis und perivasc

Makrophage
(perivaskuläre Zelle!

Membrana limitans gliae

perivaskulärer Raum
(Virchow-Robin)

Perizyt

Endothelzelle

Gefäßlumen

perivaskuläre Zellen

Neuropil

Abb. 5.68: Schematische Darstellung der Ultrastruktur der Hirnhäute mit den Virchow-Robin-Räumen
Gelb Subarachnoidal-perivaskulärer Raum mit Liquor.
Blau Basalmembranen auf der Membrana limitans gliae perivascularis et superficialis und um Perizyten
Rot Blutgefäße
Grau Neuropil
Zwischen der Basalmembran der Glialimitans und der Blutgefäße liegt der liquorgefüllte Virchow-Robin-Raum. In
der Tiefe verschmelzen die Basalmembranen, der Raum existiert dort nicht mehr (*).
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- und Rückenmarkshäute, Ventrikelräume und Gefäßversorgung des Z N S 435

• Aufbau der Leptomeninx. Die Oberfläche des


Die Virchow-Robin-Räume stellen eine Ver-
zentralnervösen Gewebes wird von der Memb-
bindung des leptomeningealen Bindegewebes
rana limitans gliae superficialis abgeschlos-
und des äußeren Liquorraums mit tief im Gehirn-
sen. Diese besteht aus einer dichten Schicht von
parenchym gelegenen perivaskulären Zonen dar,
Zellfortsätzen von Astrozyten und einer darauf
so dass die Makrophagen der weichen Hirnhaut
liegenden Basalmembran, welche die äußerste
unschwer in diese Bereiche vordringen können.
Begrenzung des ZNS darstellt. Auf dieser
Die Makrophagen der Virchow-Robin-Räume
Basalmembran befindet sich dann das zarte
werden auch als perivaskuläre Zellen bezeich-
Bindegewebe der Pia mater. Die flachen Binde-
net. Sie scheinen eine wichtige Rolle bei der
gewebszellen der Pia mater können in mehreren
Antigenpräsentation im ZNS wahrzunehmen.
Lagen übereinanderliegen, zwischen und über
denen viele Makrophagen vorkommen.
• Zisternen. Da die Arachnoidea über ihre Ver-
bindung mit der Dura dem Relief der Schädel-
Die Pia mater folgt der Oberfläche in jede
kapsel folgt, variiert die Breite des zwischen ihr
Vertiefung hinein, während die Arachnoidea
und Gehirn gelegenen Subarachnoidalraumes
mater als äußeres Blatt der Leptomeninx Ver-
beträchtlich. Sie schwankt zwischen einigen
tiefungen und Krümmungen in großem Bogen
Millimetern und mehreren Zentimetern an
überbrückt.
solchen Orten, an denen die Gehirnoberfläche
starke Krümmungen vom Schädel weg aufweist.
Zwischen beiden Blättern liegt so der liquorgefüllte
So entstehen die klinisch wichtigen Zisternen,
Subarachnoidalraum, Spatium subarachnoideum.
die also Erweiterungen des liquorgefullten Sub-
Er wird von zahlreichen bindegewebigen Bälkchen,
arachnoidalraumes darstellen.
Trabeculae arachnoideae, durchzogen, welche die
Pia und Arachnoidea mater verbinden. Die Trabe- Die wichtigsten Zisternen sind (s. Abb. 5.69):
culae geben der Arachnoidea mater (= spinnenge-
• Cisterna cerebellomedullaris: zwischen Klein-
webeähnliche Hüllschicht) den Namen, weil sie
hirnunterseite und Medulla oblongata über dem
wie Spinnweben radial verlaufen. Die Arachnoidea
Foramen magnum. In sie mündet die Apertura
mater geht über das so genannte Neurothel in die
mediana ventriculi quarti (Magendi). Aus ihr
Dura mater über, von der sie sich jedoch leicht
kann durch eine Subokzipitalpunktion Liquor
trennen lässt.
gewonnen werden.
• Cisterna corporis callosi verläuft über dem
Dura und Arachnoidea geben also das Innenre-
Balken und geht rostral über in die an der Him-
lief der Schädelkapsel wieder, während die Pia
basis gelegene
mater das Außenrelief des Gehirns nachzeich-
• Cisterna chiasmatis, welche das Chiasma opti-
net.
cum umschließt. Sie geht über in die
• Cisterna interpeduncularis, die die Fossa
• Virchow-Robin Räume (s. Abb. 5.68). Die
interpeduncularis erfüllt. Lateral davon beginnt
Pia mater folgt auch den Blutgefäßen, die von
die
der Oberfläche ins Gehirn eintreten. Zwischen
• Cisterna ambiens, die beidseits um die Crura
einer das Gefäß umgebenden Basalmembran
cerebri herumreicht und dorsal übergeht in die
und der die Gehirnoberfläche begrenzenden
• Cisterna venae cerebri magnae (Cisterna
Membrana limitans gliae entstehen so die mit
quadrigeminalis), die die Vierhügelplatte und
pialen Zellen und etwas Liquor aufgefüllten Vir-
die Epiphyse umgibt. An der Hirnbasis folgt die
chow-Robin-Räume. Sie bleiben mindestens bis
• Cisterna pontis, in die im Bereich des Klein-
in den präkapillären Raum erhalten. Dann wird
hirnbrückenwinkels beidseits die Aperturae late-
die Basalmembran der Blutgefäße direkt von der
rales ventriculi quarti (Luschkae) münden und
Membrana limitans gliae perivascularis ein-
so den inneren Liquorraum (Ventrikel) mit dem
gehüllt. Sie besteht wie die Membrana limitans
äußeren Liquorraum (Subarachnoidealraum)
gliae superficialis aus astrozytären (aber auch
verbinden. Schließlich liegt die
aus einigen) mikroglialen Fortsätzen.
• Cisterna fossae lateralis cerebri (Inselzis-
terne) zwischen Insel und den die Inselrinde
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
436 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Corpus callosum *
Recessus suprapinealis

Fornix - ^
Sinus sagittalis superior
in der Falx
Adhaesio
interthalamica · V. cerebri magna

Commissura anterior — -
Cisterna v. cerebri magnae

Ventriculus tertius — Aquaeductus cerebri

Cisterna chiasmatis
Recessus Sinus rectus im First
infundibuli des Tentorium cerebelli

Ventriculus quartus

Aperta mediana
ventriculi quarti

Cisterna cerebellomedullai
Falx cerebelli
Hypophysis

\
A. basilaris Cisterna interpeduncular

Abb. 5.69: Die Hirnventrikel (dunkelblau) und ihre Verbindung mit dem Cavum subarachnoideale (hellblau und
grau) auf einem Medianschnitt des Kopfs. Falx am Rand der Sinus entfernt

bedeckenden Abschnitten des Frontal-, Parie- matris, verlaufen (s. Abb. 5.70 und Kap. 5.3.4.3,
tal und Temporallappens. In der Inselzisterne S. 451), unterteilt sie den Schädelinnenraum und
verlaufen die Aa. insulares aus der A. cerebri gibt dem Gehirn Halt.
media.
• Bildungen der Dura mater cranialis
1. Falx cerebri ist eine in der Mediansagittal-
Dura mater cranialis (encephali),
ebene gelegene Duraplatte, welche die Groß-
Pachymeninx
hirnhemisphären bis nahezu herunter zum
• Aufbau der Dura mater. Die dünne Neuro- Balken trennt (s. Abb. 5.18). Sie ist rostral an
thelschicht verbindet die Arachnoidea mit dem der Crista galli, dorsolateral an den Rändern des
straffen kollagenen Bindegewebe der Dura Sulcus sagittalis und der Protuberantia occipi-
mater (lat. durus = hart, fest), welche auch als talis interna befestigt und geht über in das mehr
Pachymeninx (gr. pachys = stark, derb, meninx horizontal sich ausbreitende
= Hirnhaut) bezeichnet wird. Neurothel und 2. Tentorium cerebelli. Es liegt in der Fissura
Dura mater sind nur unvollständig verklebt, so transversa und trennt so die Okzipitallappen des
dass leicht Spalträume entstehen können. Die Großhirns vom darunter liegenden Kleinhirn.
Dura mater wiederum ist fest mit dem Peri- Im Giebel, wo die Falx cerebri das Tentorium
ost der Schädelknochen verwachsen oder ist cerebelli anhebt, verläuft der Sinus rectus zum
untrennbarer Bestandteil des inneren Periosts. Confluens sinuum auf der Protuberantia occipi-
So besteht normalerweise weder ein Subdu- talis interna (s. Abb. 5.69, 70). Das Tentorium
ralraum, zwischen arachnoidealem Neurothel cerebelli ist jeweils lateral an der Felsenbein-
und Dura mater, noch ein Epiduralraum, oberkante und rostral an den Processus clinoidei
zwischen Dura mater und Schädelknochen. anteriores befestigt. Zwischen linkem und rech-
Die Dura selbst ist eine derbe, reißfeste, sehnig tem Ansatzpunkt und dem Giebel bleibt eine
glänzende Haut, welche die Schädelkapsel aus- enge Lücke zum Durchtritt des Hirnstamms,
kleidet (s. Abb. 5.17). Durch 3 Duplikaturen, in die Incisura tentorii, die also supra- und infra-
denen große venöse Blutleiter, die Sinus durae tentoriellen Raum verbindet.
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- u n d R ü c k e n m a r k s h ä u t e , Ventrikelräume u n d G e f ä ß v e r s o r g u n g d e s Z N S 437

3. Falx cerebelli. Sie ist eine inkonstante kleine


und VI frei im Sinus cavernosus ist wichtig, um
Duraplatte kaudal des Tentorium cerebelli,
neurologische Komplikationen bei Läsionen in
welche die Kleinhirnhemisphären unvollständig
diesem Bereich verstehen zu können.
abtrennt und den Sinus occipitalis umschließt.
4. Cavum trigeminal? (Meckeli). Auf der Vor-
• Arachnoidalzotten, Granulationes arachnoi-
derseite der Felsenbeinpyramide bildet die Dura
deae, (s. Abb. 5.71). Durch die Dura ragen
beidseits eine abgeflachte Tasche aus, die die
in die großen venösen Sinus, insbesondere in
austretenden Fasern des N. trigeminus begleitet:
den Sinus sagitallis sup. entlang der Falx, die
das Cavum trigeminale, welches das Ganglion
Arachnoidalzotten hinein. Diese Zotten stellen
trigeminale (Gasseri) umkleidet.
liquorgefullte Ausstülpungen der Arachnoidea
5. Diaphragma sellae. Eine horizontale Dura-
ins venöse Blut der Sinus dar und spielen eine
platte bedeckt als Diaphragma sellae die Fossa
wichtige Rolle bei der Resorption des Liquor
hypophvsialis des Türkensattels und wird vom
cerebrospinalis. Sie können auch die in den
Hypophysenstiel (Infundibulum) durchbohrt.
einzelnen Schädelknochen liegenden Diploe-
Lateral des Türkensattels bildet die Dura bei-
Venen erreichen und werden dann als Pacchi-
derseits den Sinus cavernosus aus. Durch ihn
oni-Granulationen bezeichnet.
werden die Pulsationen der A. carotis interna
in ihrem Verlauf durch den Sulcus caroticus An der fixierten Leiche lässt sich die Dura relativ
wie durch ein Polster aufgefangen. Beachte die leicht vom Knochen trennen. Wenn man die Dura
durch die Wand des Sinus cavernosus hindurch unter Schonung der darunterliegenden Arachnoidea
ziehenden Hirnnerven (s. Abb. 5.49). mit dem von ihr umhüllten Liquorraum schlitzt,
sieht man in den physiologisch nicht vorhandenen
Klinik: Die Kenntnis des topographischen Subduralraum hinein (s. Abb. 5.17, 71).
Verlaufs der Hirnnerven III, IV, V2 in der Dura

V. meningea V. temporalis V». diploicae V. temporalis


media profunda temporales superficialis V. emissaria parietalis
; ' , , - Sinus sagittalis superior
\
\
\ ^ " Vv. cerebri superiores
\
— - Sinus sagittalis inferior
Sinus cavernosus ν

V supratrochlearis -
- - V . diploica occipitalis
V ophthalmica superior-
— V cerebri magna, Sinus rectus
V. angularis - *" -V. occipitalis

V. ophthalmica inferior ~ -Confluens sinuum

Plexus pterygoideus "Sinus petrosus sup. et inf.

V. facialis "" - Sinus transversus

' - · Sinus occipitalis


Plexus pharyngeus
"--Sinus sigmoideus
V. comitans η . XII
" ^Plexus venosus vertebra Iis
internus et externus
V. jugularis interna — —
"-V. cervicalis profunda
V. jugularis externa ^ *" ~ - V . vertebralis

* - V. subclavia
V. brachiocephalica

Abb. 5.70: Die Sinus d u r a e matris. S c h e m a der w i c h t i g s t e n V e r b i n d u n g e n der intrakraniellen (blau) mit d e n extra-
kraniellen ( s c h w a r z gestrichelt) Venen. 1. Fissura orbitalis superior. 2. Fissura orbitalis inferior. 3. F o r a m e n ovale.
4. F o r a m e n s p i n o s u m . 5. F o r a m e n lacerum. 6. Canalis caroticus. 7. F o r a m e n jugulare. 8. Canalis hypoglossi.
9. V. emissaria condylaris. 10. V. emissaria m a s t o i d e a . Vgl. a u c h A b b . 5.79
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
438 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn u n d R ü c k e n m a r k

Dura mater zurückgeschlagen

Subduralraum, durch eine

Sonde markiert

Granulationes arachnoideae

Venae cerebri superiores


(Brückenvenen)

feine Spinngewebshaut

(Arachnoidea), erst

unter dieser Hirnhaut befin-

det sich der Liquor cerebro-

spinalis und füllt den Sub-

arachnoidalraum aus

Abb. 5.71: Granulationes arachnoideae. A n s i c h t d e s Gehirns v o n o b e n ; Blick auf die A r a c h n o i d e a . Im physiolo-


g i s c h e n Z u s t a n d ist der S u b d u r a l r a u m (Sonde) nicht v o r h a n d e n . Einzig die B r ü c k e n v e n e n verlassen d e n Sub-
a r a c h n o i d a l r a u m , u m in d e n Sinus sagittalis superior zu drainieren (vgl. A b b . 5.17)

Klinik: Eine Vernarbung der Leptomeningen, Klinik: Die Topographie der Blutgefäße zu
wie sie ζ. B. als Zustand nach einer Meningitis den Hirnhäuten erklärt die Symptomatik von
auftreten kann, fuhrt (wahrscheinlich wegen Blutungen. 1. Epidurale Blutungen entstehen
einer Schädigung der Arachnoidealzotten) zu durch mechanisch verursachte Risse zumeist
Liquorresorptionsstörungen und damit zum der A. meningea media. Da sich die Dura durch
Druckanstieg im Schädelinneren. Das Krank- den arteriellen Druck erst langsam vom Schä-
heitsbild bezeichnet man deshalb als Hydro- delknochen ablösen muss, besteht zunächst ein
cephalus aresorptivus (gr. hydor = Wasser, beschwerdefreies Intervall. Die Blutung dauert
kephale = Kopf). so lange an, bis die Dura entsprechend stark
gespannt ist, um dem systolischen Blutdruck zu
• Gefäßversorgung der Hirnhäute widerstehen. Dieser Prozess kann bei Kindern
wegen der Elastizität der Dura relativ lange
Arterien. In den weichen Hirnhäuten sind aus- dauern, so dass die Einklemmung von großen
schließlich Äste der hirnversorgenden intrakra- Hirnarealen gegen Falx und Tentorium droht.
niellen Blutgefäße (Äste des Circulus arteriosus) zu Eine schnelle Eröffnung des Schädelknochens,
finden (s. Kap. 5.3.4). Demgegenüber liegen in der eine Notfalltrepanation, kann deshalb therapeu-
Dura mater die meningealen Arterien, welche auch tisch zur Druckentlastung nötig werden. 2. Sub-
Äste zum Diploe-Knochenmark abgeben. durale Blutungen entstehen durch Abriss der
Brückenvenen (s. u.). Dies kann bei älteren Men-
Die Dura mater hat 3 Arterien: die kleine schen spontan geschehen. Bei Kindern treten
A. meningea anterior aus der A. ethmoidalis sie gehäuft durch Schütteln des Körpers und
anterior, die wichtige A. meningea media aus Schläge auf. Bei Erwachsenen sind subdurale
der A. maxillaris und die kleine A. meningea Blutungen häufig Folge von Beschleunigungs-
posterior aus der A. pharyngea ascendens. oder Bremsmanövern beim Verkehrsunfall
(Rückstoß durch Airbag), wenn der Kopf abrupt
Venöser Abfluss. Er erfolgt über die Vv. diploicae hin- und hergerissen wird. Die resultierenden
und die Vv. emissariae (s. Abb. 5.70, s. Kap. 4.10.1,
S. 250).
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- und Rückenmarkshäute, Ventrikelräume und Gefäßversorgung des ZNS 439

5.3.2.2 Hüllen des Rückenmarks


venösen Sickerblutungen führen oft zu einem
langen beschwerdefreien Intervall, welches
Auch das Rückenmark ist von 3 Häuten, der
graduell in Bewusstseinstrübungen übergehen
Dura mater spinalis, der Arachnoidea mater
kann. 3. Eine subarachnoideale Blutung ent-
spinalis und der Pia mater spinalis, umgeben.
steht durch Einriss der basalen intrakraniellen
Anders als im Gehirn besteht jedoch zwischen
Gefäße vor dem Eintritt ins Gehirn. Häufig sind
dem Durasack und dem knöchernen Spinalkanal
angeborene oder erworbene (Arteriosklerose)
ein breiter Raum, der mit Fett und Venen ausge-
Gefäßaussackungen, Aneurysmen (gr. aneuryno
füllte Epiduralraum.
= erweitern), und/oder Bluthochdruck, Hyperto-
nie, die Ursache. Da es dann unter dem systo-
• Topographie der Rückenmarkshäute (s. Abb.
lischen Blutdruck zu einer fast ungehinderten
5.59, 72). Die Dura mater teilt sich am Foramen
Einblutung in den Liquorraum kommt, verläuft
magnum in 2 Blätter, von denen das dünnere
die Symptomatik äußerst akut. Zumeist steht ein
äußere das Periost des Wirbelkanals bildet, wäh-
schlagartig beginnender Vernichtungsschmerz
rend das dickere innere Blatt als Sack den äuße-
mit Bewusstseinsstörung und Erbrechen am
ren Liquorraum und das Rückenmark enthält.
Anfang. Je nach Blutungsort kann es zu fokalen
Zwischen den beiden Blättern der Dura liegt
neurologischen Ausfällen kommen.
der mit Fettgewebe und vielen großen Venen
{Plexus vertebralis internus) gefüllte Epidural-
Innervation der Hirnhäute. Dura und Pia mater
raum, Spatium epidurale, der in der Klinik auch
sind im Gegensatz zum Gehirn gut sensibel und
als Periduralraum bezeichnet wird (aufgrund
vegetativ innerviert. Die sensible Innervation
seiner Lage zwischen 2 Durablättem müsste
erfolgt aus allen 3 Ästen des Ν. V, aus den Nn. IX
er streng genommen Interduralraum heißen).
und X. Die vegetativen Versorgungswege sind recht
Zwischen Arachnoidea mater spinalis und Pia
kompliziert: Die Fasern des Sympathicus stammen
mater spinalis befindet sich der Subarachnoi-
aus den Ganglien des Halsgrenzstrangs und ver-
dalraum.
laufen zusammen mit den Arterien. Parasympa-
• Durataschen. Die große subarachnoideale Cis-
thische Fasern werden von folgenden Hirnnerven
terna lumbalis füllt den durch die wachstums-
abgegeben: Rr. meningei des N. ophthalmicus, Ν.
bedingte relative Verkürzung des Rückenmarks
maxillaris, Ν. mandibularis, Ν. glossopharyngeus
frei gewordenen Teil des Wirbelkanals (s. Abs.
und N. vagus.
1.3) zwischen dem Ende des Rückenmarks, also
kaudal des Conus medullaris auf der Höhe der
Vereinfacht kann man sich folgendes sensibles
Wirbelsegmente L I - 2 , und dem Ende des Dura-
Innervationsschema merken:
sacks auf der Höhe der Os sacrum (S2-3) aus.
vordere Schädelgrube: Rr. meningei aus dem
Dort verjüngt sich der Durasack zum Filum ter-
N. ethmoidealis ant. (Ν. VI),
minale durae matris, welches am 1. Steißbein-
mittlere Schädelgrube: Rr. meningei aus Nn.
wirbel befestigt ist (s. Abb. 5.63). Vom Durasack
VI und V2,
gehen segmental sackförmige Ausstülpungen,
hintere Schädelgrube: Rr. meningei aus Nn. IX
Recessus durae matris spinalis, bis in die
und X.
Foramina intervertebralia ab. Sie umhüllen die
vordere und die hintere Wurzel sowie das Spi-
Klinik: 1. Kopfschmerz ist meist Duraschmerz, nalganglion und gehen in die bindegewebige
der aus der sensiblen Innervation der Dura Nervenscheide, Epi- und Perineurium, über.
erfolgt. 2. Eine Reizung vegetativer Neurone Diese Durataschen verankern den Durasack
fuhrt zu einer Dilatation der meningealen Blut- auch in der Frontalebene. Zusätzlich erfolgt eine
gefäße, die für die Entstehung der Migräne und Befestigung durch epidurales Bindegewebe, das
anderer Kopfschmerzformen verantwortlich Durasack und Periost des Wirbelkanals verbin-
gemacht wird. Dabei wird u. a. Serotonin frei- det. Das Rückenmark ist durch die in der Mitte
gesetzt, dessen Antagonisierung an bestimm- zwischen Vorder- und Hinterwurzel liegenden,
ten Serotoninrezeptoren zur Schmerztherapie von der Pia gebildeten Ligg. denticulata frei-
erfolgreich angewendet wird. schwebend im Durasack aufgehängt).

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
440 5 Zentrales Nervensystem, G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k

Plexus venosus
vertebralis internus
\ Cavum epidurale
A. spinalis posterior \ Dura mater Periost (äußeres Durablatt)
\
\ / x „ Arachnoidea
R. spinalis a. intercostalis
•' /
. Cavum subarachnoidal

- Pia mater
Radix dorsalis
. Lig. denticulatum
. Ggl. spinale (im Ourasac
Ν spinalis

Radix ventralis

— Rr. communicantes

A. spinalis anterior A. sulcocommissuralis

Abb. 5.72: Die Hüllen u n d Arterien d e s R ü c k e n m a r k s . Querchnitt d u r c h d e n Wirbelkanal in H ö h e d e s 2. Brustwir-


bels. Links ist die W u r z e l t a s c h e geöffnet

Klinik: Zur Darstellung intraspinal raumfor- Klinik: 1. Entzündungen der Meningen fuhren
dernder Prozesse, wie den Rückenmarkstumo- zum klinisch beeindruckenden Bild des Menin-
ren, oder zur Diagnostik der Bandscheiben- gismus. Der Patient ist nackensteif und versucht
vorfälle bedient man sich neben den modernen jede Bewegung zu vermeiden, da die gereizte
CT- und MRT-Verfahren auch besonderer Rönt- Dura sonst heftigste Schmerzen hervorruft.
genaufnahmen nach Kontrastmittelinjektion in Dieser Bewegungsschmerz läßt sich klinisch
den epi-, subduralen oder subarachnoidealen durch Kopf- (Brudzinski-Zeichen) oder Bein-
Raum: Myelographie (gr. myelos = Mark; gra- anhebung (Lasegue-Zeichen) auslösen. 2. Bei
phein = schreiben, darstellen). Dabei lassen der Epiduralanästhesie (= Periduralanästhesie)
sich eventuelle Konturunterbrechungen bis zum wird in das peridurale Fettgewebe ein Lokal-
Kontrastmittelstopp im Spinalkanal wie auch anästhetikum injiziert, das dann die Spinal-
unvollständige oder fehlende Füllungen der nerven im gewünschten Areal betäubt. Bei der
Wurzeltaschen nachweisen. Spinalanästhesie wird dagegen der Subarach-
noidealraum mit einer Nadel erreicht. Um zu
Gefäße und Rückenmarkhäute verhindern, dass das Anästhetikum aufsteigt und
dann lebensnotwendige Zentren ausschaltet, ist
Arterien und Venen des Rückenmarks (s. Kap. eine besondere Lagerung sowie ein hohes spezi-
5.3.4,2, S. 450) versorgen auch die Häute. fisches Gewicht des Anästhetikums notwendig.
Innervation der Rückenmarkshäute. Die sen- 3. Bei der diagnostischen Lumbalpunktion wird
sible Innervation der Dura und des Periosts erfolgt zur Liquorgewinnung ebenfalls der Subarachno-
über die Rr. meningei der Spinalnerven (s. Kap. idealraum punktiert. Dies geschieht kaudal des
2.6.5.1, S. 94), die rückläufig durch die Foramina Conus medullaris im Bereich der Cauda equina,
intervertebralia ziehen. Sie teilen sich in einen um Verletzungen des Rückenmarks zu verhin-
auf- und einen absteigenden Ast, welche sich mit dern. Üblicherweise wird am sitzenden, nach
benachbarten Ästen zu einem Geflecht verbinden. vorne gebeugten Patienten eine Nadel unterhalb

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- u n d R ü c k e n m a r k s h ä u t e , Ventrikelräume u n d G e f ä ß v e r s o r g u n g d e s Z N S 441

prozesse der Hirnbläschen aus dem Neurairohr


des 4. Lendenwirbeldorns durch das kräftige
wider. Das gilt auch für den Plexus choroi-
Lig. interspinale sowie das ventral davon lie-
deus, der durch das embryonale Wachstum des
gende Lig. flavum gestoßen (s. Kap. 8.1.4,
Telencephalonbläschens einmal am Dach und
S. 635). Die Punktionsnadel wird dann weiter
einmal am Boden der Seitenventrikel zu liegen
durch den Epiduralraum und den Durasack in
kommt (s. Kap. 5.1.4, S. 363, Abb. 5.14, Tab.
den Subarachnoidealraum (also den äußeren
5.1, S. 382). Das Ependym stellt in der Ent-
Liquorraum) geführt.
wicklungsgeschichte die Proliferationszone der
Zellen des ZNS dar, und es mehren sich experi-
mentelle Hinweise, dass von dort aus auch beim
5.3.3 Ventrikelsystem Erwachsenen eine Neubildung von Gliazellen
und Neuronen erfolgen kann (Stammzellen).
Lernziele: Ventrikel, Liquor cerebrospinalis, • Plexus choroideus. Das in die Ventrikel hinein-
Plexus choroideus, Apertura mediana ventriculi ragende Adergeflecht bildet den Liquor cereb-
quarti (Magendii), Aperturae laterales ventriculi rospinalis, der als klare, eiweiß- und zellarme
quarti (Luschkae) Flüssigkeit in einer Menge von etwa 150 ml
innere und äußere Liquorräume ausfüllt. Da
insgesamt ca. 500 ml Liquor am Tag gebildet
Allgemeine Übersicht
werden, wird das Volumen etwa dreimal täglich
• Innerer Liquorraum (s.Abb. 5.73). Die Ventri- ausgetauscht. Nach der Bildung in den Seiten-
kel des Gehirns mit dem Aquädukt und der beim ventrikeln gelangt er über die Foramina inter-
Erwachsenen oft obliterierte Zentralkanal des ventricularia in den III. Ventrikel und von dort
Rückenmarks bilden den inneren Liquorraum. über den Aquaeductus mesencephali (Sylvii) in
Er ist von einem Ependym ausgekleidet. Die den IV. Ventrikel. Der Abfluss erfolgt über die
Form der Hirnventrikel spiegelt die Wachstums- Apertura mediana ventriculi quarti (Magen-

Cornua Foramina inter- Ventriculus Partes Recessus Recessus


anteriore ventricularia tertius centrales suprapinealis pinealis
I I ι / /
\ I /
I \ \ s
/
Abdruck des
I I y
/ ^ ^ Plexus choroideus
Λ / /
/I

Cornua posteriore

Adhaesio interthalamica Aquaeductus cerebri


χ
/
Commissure anterior'

Recessus opticus *
Ventriculus puartus
/
/
Chiasma opticum ' \
\
Recessus infundibuli Cornua inferiora Recessus laterales ventriculi quarti

Abb. 5.73: Darstellung der Hirnventrikel ( A u s g u s s p r ä p a r a t )


Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
442 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

dii) und die paarigen Aperturae laterales punkt zwischen lateraler Wand und Boden liegt
ventriculi quarti (Luschkae) in die Zisternen die Stria terminalis. Vom Boden aus stülpt sich
des äußeren Liquorraums. Schließlich wird der der Plexus choroideus ventriculi lateralis in den
Liquor über die Granulationes arachnoideae Ventrikel vor (s. Abb. 5.25).
ins Venensystem und über die Durataschen der • Cornu posterius (oder occipitale). Dieses
Hirnnerven und Spinalnerven auch ins Lymph- erstreckt sich individuell unterschiedlich weit
system abgeleitet. Durch Interzellularräume in den Hinterhauptslappen hinein. An seiner
im Ependym besteht ein Austausch mit der medialen Wand wölbt sich der Calcar avis als
interstitiellen Flüssigkeit des Gehirns, weshalb Einbuchtung des Sulcus calcarinus vor (s. Abb.
sich Neurotransmitter auch im Liquor nachwei- 5.24, 25).
sen lassen. Mit dem Blutraum ist dagegen kein • Cornu inferius (oder temporale), cm lang,
ungehinderter Austausch möglich (Blut-Hirn- erstreckt sich in einem nach laterokaudal gerich-
und Blut-Liquorschranke s. u.). teten Bogen in den Schläfenlappen, dessen Pol
es sich bis auf 2 cm nähert. An seiner medialen
Wand erhebt sich der mächtige Längswulst des
Einteilung der Ventrikel
Hippocampus, über dem die schmale Fimbria
Am Ventrikelausgusspräparat (s. Abb. 5.73) lassen hippocampi verläuft. Zwischen ihr und dem
sich die äußeren Konturen der Ventrikel darstellen. Dach (gebildet von der Cauda nuclei caudati)
Man unterscheidet die telenzephalen Seitenventri- stülpt sich der Plexus choroideus gegen den
kel, den dienzephalen Ventriculus tertius und den Ventrikel vor (s. Abb. 5.25).
rhombencephalen Ventriculus quartus. Vor Ein-
führung des cCT und MRT wurden die Ventrikel Cornu anterius und Cornu posterius entste-
luftgefüllt im traditionellen Röntgenbild zur Dar- hen erst mit der Ausbildung des Stirn- und
stellung gebracht: Pneumencephalographie (gr. Hinterhauptslappens. Nur die Pars centralis
pneuma = Luft; enkephalon = Gehirn). und das Cornu inferius besitzen als die älteren
Abschnitte einen Plexus choroideus.
Seitenventrikel, Ventriculi laterales. Sie werden
auch als I. (links) und II. (rechts) Ventrikel bezeich-
Dritter Ventrikel, Ventriculus tertius. Er stellt
net und ziehen als bogenförmige Hohlräume durch
einen median gelegenen spaltförmigen Raum dar,
alle Lappen des Endhirns. Die Seitenventrikel sind
der rostrolateral durch die Foramina interventri-
wie folgt gegliedert:
cularia mit den Seitenventrikeln und dorsal durch
• Cornu anterius (oder frontale). Es ist im den Aquaeductus mesencephali (Sylvii) mit dem
Frontalschnitt dreieckig, beginnt am Foramen IV. Ventrikel in Verbindung steht. Das dünne epi-
interventriculare und dringt etwa 3 cm weit in theliale Dach, die Tela choroidea ventriculi tertii,
den Stirnlappen vor. Das Dach wird vom Corpus spannt sich zwischen den Striae medulläres der
callosum, die mediale Wand vom Septum pel- beiden Thalami aus (s. Kap. 5.2.5.4, S. 404). Aus
lucidum und den Columnae fornicis und die der auf ihr liegenden Schicht weicher Hirnhaut
laterale Wand vom Caput nucl. caudati gebil- stülpen Blutkapillaren die dünne Epithellage gegen
det. Das Cornu anterius enthält keinen Plexus den Ventrikel vor und bilden so den Plexus choro-
choroideus. Der Übergang des großen Cornu ideus ventriculi tertii, der am Foramen interventri-
anterius in die abgeflachte Pars centralis wird culare in den Plexus choroideus der Seitenventrikel
radiologisch als Thalamustaille bezeichnet. übergeht. Die Wände des III. Ventrikels setzen sich
• Pars centralis (oder parietalis). Sie ist etwa wie folgt zusammen (vgl. ζ. B. Abb. 5.29, 30, 36,
4 cm lang, liegt im Scheitellappen und reicht 39, 50, 69):
vom Foramen interventriculare bis in die Höhe
• Seitenwände. Sie werden dorsal vom Thalamus
des Splenium corporis callosi, wo sie sich in das
und ventral vom Hypothalamus gebildet, die
Hinter- und das Unterhorn fortsetzt. Sein Dach
durch den Sulcus hypothalamicus getrennt sind.
stellt der Balken dar, die laterale Wand wird vom
Im vorderen Teil sind sie meist (in ca. 50 %)
Corpus des Ncl. caudatus gebildet. Ihren Boden
durch die Adhaesio interthalamica verbunden,
bilden der Thalamus bedeckt von der Lamina
die aus Gliazellen besteht und somit keine neu-
affixa sowie Corpus und Crus fornicis. Am Eck-
ronale Kommissur darstellt.
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- und Rückenmarkshäute, Ventrikelräume und Gefäßversorgung des Z N S 443

• Boden. Der dünnwandige Boden besteht aus oberen Kleinhirnstielen, Pedunculi cerebellares
dem Chiasma opticum, dem Tuber cinereum, superiores. Es beginnt rostral mit dem Velum
den Corpora mamillaria und der Substantia medulläre superius, das bis zum Dachgiebel,
perforata posterior. Hinter dem Chiasma ist er dem Fastigium, reicht. Der anschließende dor-
zum Reeessus infundibuli, vor ihm zum Reces- sale Teil wird von dem schmalen Velum medul-
sus opticus ausgebuchtet, in dessen lateraler läre inferius und der dünnen Tela choroidea
Wand der Nucl. supraopticus liegt. ventriculi quarti gebildet. Diese wölbt sich,
• Vorderwand. Sie ist schmal und wird von der von Ependym überzogen, gegen den Ventrikel-
dünnen Lamina terminalis, der Commissura raum als Plexus choroideus ventriculi quarti
anterior und den Columnae fornicis gebildet. vor.
• Hinterwand. Sie ist ebenfalls schmal und • Plexus. Er ist paarig, hat beiderseits die Form
zeigt den Reeessus pinealis und den Reeessus eines Winkels. Rechter und linker Plexus bilden
suprapinealis. Der Wandabschnitt zwischen zusammen eine M-Form. An der Vereinigungs-
dem Corpus pineale und der Area praeteetalis stelle der beiden Plexus liegt die Apertura medi-
(Eingang in den Aquaeductus mesencephali) ana ventriculi quarti (Magendii). Sie stellt eine
ist durch die Fasern der Commissura posterior Verbindung zwischen dem Ventrikelsystem und
verdickt. Der vordere, zwischen den Foramina der Cisterna cerebellomedullaris her.
interventricularia gelegene Teil des III. Ven-
Die Topographie der Ventrikel und ihrer begrenz-
trikels gehört entwicklungsgeschichtlich zum
enden Strukturen können Sie sich in den MRT- und
Endhirn.
cCT-Bildern in Kapitel 5.2.4 verdeutlichen.
Aquaeductus mesencephali (cerebri). Er verbin-
det III. und IV. Ventrikel miteinander und ist der Klinik: Nicht nur wenn der Aqueductus cerebri
engste Teil des Ventrikelsystems. Er durchzieht das ζ. Β. durch Tumoren eingeengt ist, sondern auch
Mittelhirn und wird ventral vom Tegmentum und wenn die Aperturae ventriculi quarti verlegt sind
dorsal von der Vierhügelplatte, Tectum, begrenzt. (ζ. B. bei Meningitis), können die Ventrikel
durch den gestauten Liquor zum Hydrocephalus
IV. Ventrikel, Ventriculus quartus. Er hat einen
internus ausgeweitet werden.
rautenförmigen Boden, ein zeltförmiges Dach und
liegt im Rhombencephalon.
• Den „Boden" (die Bezeichnung erfolgt aufgrund 5.3.4 Gefäßversorgung von Gehirn
der Lage der Hirnstammachse und meint hier die und Rückenmark
vordere Wand) bildet die Rautengrube (s. Kap.
5.2.6.2 und Abb. 5.50, 58). An seiner breites-
Lernziele: Aa. carotides internae, Aa. vertebra-
ten Stelle ist der Ventrikel zu den nach ventral
les. A. basilaris. Circulus arteriosus (Willisii):
abbiegenden Reeessus laterales ventriculi quarti
A. spinalis anterior aus den Aa. vertebrales.
ausgebuchtet, die zum Kleinhirnbrückenwinkel
der A. subclavia, den Aa. intercostales sowie
zeigen (s. Abb. 5.69 und 5.73). Die freien Enden
der A. radicularis magna (Aorta abdominalis).
der Reeessus laterales ventriculi quarti münden
Vv. cerebri superiores, Sinus durae matris.
mit den Aperturae laterales ventriculi quarti
Vv. basalis (Rosenthalii), Vv. internae cerebri.
(Luschkae) in das Cavum subarachnoideale
V. cerebri magna (Galeni). Plexus vertebralis
{Cisterna pontis). Ein kleiner Teil des Plexus
choroideus ventriculi quarti stülpt sich durch
die Aperturae laterales nach außen. Wegen der
roten Farbe der blutgefüllten Plexusgefäße wird 5.3.4.1 Arterien des Gehirns
dieser an der äußeren Hirnoberfläche sichtbare
Teil des Plexus choroideus auch Bochdalek- 2 paarige Arterien, die Aa. carotides internae
Blumenkörbchen genannt (beim fixierten Gehirn und d i e ^ a . vertebrales, die einen Circulus arte-
ist die rote Farbe allerdings meist nicht mehr zu riosus cerebri bilden, versorgen das Gehirn.
erkennen).
• Das Dach. Es ist abgeknickt und besteht aus
dem Kleinhirn und aus den lateral liegenden,
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
444 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

1. Circulus arteriosus cerebri (Willisii), Klinik: 1. Die A. communicans ant. aus dem
Abb. 5.74 Circulus arteriosus stellt ein wichtiges Kol-
lateralgefäß dar, um die Durchblutung beider
Die beiden Aa. vertebrales (aus der A. subclavia,
Hirnhemisphären auch im Falle eines Gefäß-
s. 10.7.2.1.2, S. 881) vereinigen sich am Oberrand
verschlusses oder einer hochgradigen Stenose
der Medulla oblongata zur A. basilaris, die dem
der A. carotis interna (klinisch oft abgekürzt:
Pons entlang verläuft, bis sie sich am Übergang
ACI) aufrechtzuerhalten. Hierbei kommt es zu
in die Fossa interpeduncularis in die beiden Aa.
einer Füllung des Kreislaufs durch die kontra-
cerebri posteriores aufteilt. Sie werden durch die
laterale, intakte A. carotis int.: Crossfilling. 2.
paarige, den Sehnerv unterkreuzende A. commu-
Das Crossfilling lässt sich mittels transkrani-
nicant posterior mit den Karotiden verbunden, die
eller Doppler-Sonographie nachweisen. Die
wiederum über die Aa. cerebri anteriores durch
Kompensation einer Stenose durch Crossfilling
die unpaare, rostral des Chiasma opticum gelegene
ist auch eine Erklärung dafür, dass viele Ver-
A. communicans anterior kommunizieren. So
schlüsse der A. carotis interna asymptomatisch
wird ein an der Hirnbasis gelegener Gefäßring, der
bleiben können.
Circulus arteriosus cerebri (Willisii), geschlos-
sen. Er muss den Blutbedarf des sehr empfindlichen
2. A. carotis interna und ihre Äste
Gehirns auch bei Schwankungen des Bedarfs und
der Zufuhr sicherstellen. Der Circulus arteriosus
cerebri und seine Äste liegen geschützt im Flüs- Die A. carotis interna verläuft von lateral
sigkeitspolster des liquorgefullten Subarachnoidal- betrachtet von der Schädelbasis bis in den Sinus
raums (s. Abb. 5.74). cavernosus in einer S-Form, die am Sinus als
Karotissiphon bezeichnet wird (s. Abb. 5.78,
79).

R. frontalis a. cerebri— ^ Corpus callosum


anterioris •—
, A . communicans anterior
Bulbus olfactorius— —

Tractus olfactorius —. . A. cerebri anterior mit


Rr. centrales

A. cerebri anterior - Rami corticales a. cerebri mediae

Chiasma opticum . A. cerebri media mit


Rr. centrales
- A. choroidea anterior
A. carotis interna

Irtfundibulum, - - A . communicans posterior,


R. hypophysialis Tuber cinereum
Corpus mamillare, - A. cerebri posterior,
N. oculomotorius M. trochlearis
Substantia perforata - R. choroideus a. cerebri
posterior posterioris
Rami ad pontem " - A. cerebelli superior
N. trigeminus
A. basilaris _ —
A. labyrinthi, Nn. facialis,
N. abducens
intermedius, vestibulocochlearis
Nn. VII, VIII, IX. X *""'
' A. cerebelli inferior anterior

N. hypoglossus' ~ N. vagus, Oliva

A.cerebelli inferior posterior" Ν. accessorius


A. vertebralis
""" A. spinalis anterior

Abb. 5.74: Basalansicht des Gehirns mit d e n Zerebralarterien (Circulus arteriosus cerebri in situ). Teile des linken
Stirn- und Schläfenlappens sind entfernt, um die A. cerebri anterior und media und den Plexus choroideus des
Unterhorns darzustellen
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- und Rückenmarkshäute, Ventrikelräume und Gefäßversorgung des Z N S 445

Verlauf parietalis bis zum Sulcus parietooccipitalis.


Die A. callosomarginalis versorgt noch über
Die A. carotis interna gibt noch im Sinus caver-
die Mantelkante hinweg einen ca. 1 cm breiten
nosus je ein Ästchen zur Hypophyse und zum Gan-
Streifen der Konvexität, der im Gyrus praecen-
glion trigeminale ab und tritt lateral des Chiasma
tralis das motorische Feld für die unteren Glied-
opticum durch die Dura. Diese Lagebeziehung
maßen enthält.
erklärt den Ausfall der nicht kreuzenden, im Chi-
asma lateral verlaufenden Opticusfasern bei einem
Klinik: In ihrem Verlauf über den Balken sind
Karotisaneurysma. Unterhalb des Sehnervs gibt sie
A. cerebri anterior (und A. pericallosa) in der
die A. ophthalmica zur Augenhöhle ab. Ein grö-
angiographischen anterior-posterioren Auf-
ßerer Ast dringt als A. choroidea anterior in das
nahmen nur für ein kurzes Stück vor dem Genu
Unterhorn des Seitenventrikels ein und versorgt
corporis callosi zu sehen, bevor sie einen zum
den Plexus choroideus der Seitenventrikel (der
Strahlenverlauf parallelen Weg über das Corpus
auch aus der A. cerebri post, über Rami choroidei
callosum nehmen. Durch leichte Neigung des
versorgt wird). Schließlich teilt sie sich in ihre
Kopfes zur Brust kann der Verlauf besser darge-
Endäste, die Aa. cerebri anterior und media.
stellt werden (s. Abb. 5.78).
Zusammen mit der rückläufigen A. recurrens
(Heubneri) geben die 3 letztgenannten Gefäße klei-
nere Äste ab, die durch die Substantia perforata t> A. cerebri media. Sie wendet sich als unmit-
anterior (Kap. 5.2.2.4 und Abb. 5.26) ins basale telbare Fortsetzung von der A. carotis interna
Telencephalon eindringen. Diese ziehen als Rami aus nach lateral und zieht über die Substantia
centrales senkrecht aufwärts zum Thalamus, Nucl. perforata anterior hinweg zur Fossa lateralis
caudatus, Nucl. lentiformis sowie zur Capsula cerebri, wo sie sich in 2 bis 4 Äste teilt, welche
interna (Versorgungsgebiete auch der nachfolgend die Konvexität der Großhirnhemisphären (mit
besprochenen Arterien: s. Abb. 5.75-77). Ausnahme des Okzipitallappens und eines
schmalen Streifens an der Mantelkante) und den
oberen Schläfenlappenrand versorgen. 10-20
Klinik: Den Ramus centralis, der über die
Aa. centrales anterolaterales durchbrechen die
Außenfläche des Linsenkerns, Nucl. lentiformis,
Substantia perforata anterior und ziehen zum
hinweg die innere Kapsel versorgt, bezeichnet
Thalamus, zum Ncl. caudatus, Ncl. lentiformis
man auch als Arterie der Gehirnhämorrhagie.
und zur Capsula interna. In einigen Fällen ent-
Bei der häufigen Ruptur dieses Gefäßes (blu-
springt auch die A. choroidea anterior aus der
tiger Insult) werden die Bahnen der inneren
A. cerebri media. Der Abgang liegt dann etwas
Kapsel komprimiert, wodurch eine Lähmung
weiter distal (s. Abb. 5.74).
der motorischen Bahnen entsteht (s. Abb. 5.75).
Größere Stammganglieninfarkte und Stamm-
Klinik: 1. Durchblutungsstörungen im Versor-
ganglienblutungen bewirken schwer wiegende
gungsgebiet der A. cerebri media sind die häu-
Halbseitenlähmungen ohne Arm- oder Beinbe-
figste Ursache von ischämischen Hirninfarkten.
tonung. Typischerweise führen diese „subkorti-
Bei Verlegung der A. cerebri media kommt es
kalen" Läsionen nicht zu neuropsychologischen
zu einem weitgehenden Ausfall des sensomo-
Ausfallen (wie ζ. B. aphasischen oder aprakti-
torischen Rindenfelds mit geringer Beteiligung
schen Störungen).
der unteren Gliedmaßen (entsprechend der
somatotopischen Gliederung des Homunculus).
Hauptäste
2. Eine Durchblutungsstörung im Bereich der
D> A. cerebri anterior. Sie zieht über den N. op- dominanten Gehirnhemispäre führt zum Ausfall
ticus schräg medialwärts zur Fissura longitu- der Sprachzentren.
dinalis cerebri, wo sie über die kurze A. com-
municans anterior mit der A. cerebri ant. der D> A. communicans posterior. Sie verläuft nach
kontralateralen Seite eine Verbindung besitzt. dorsomedial und stellt jederseits die Verbindung
Sie folgt dann als A. pericallosa der Rundung zwischen A. carotis interna und A. cerebri pos-
des Balkens und versorgt den Cortex der medi- terior her. Diese schickt zahlreiche feine Rami
alen Hemisphärenfläche des Lobus frontalis und centrales durch die Substantia perforata poste-

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
446 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

A. cerebri anterior Gebiet der


A . c e r e b r i anterior

Nucleus caudatus

Nucleus caudatus

Thalamus

Putamen Gebiet der


A. c e r e b r i m e d i a

-Claustrum

A. cerebri media

Putamen

Globus pallidus

Rami centrales a. cerebri /


mediae et a. cerebri anterioris G e b i e t der
A. c e r e b r i p o s t e r i o r

A. cerebri media A. cerebri Gebiet der A. choroidea


anterior anterior

Abb. 5.75: Die arterielle Versorgung des Großhirnes auf Frontalschnitten. Rechter Schnitt durch
die Mitte des Thalamus, linker Schnitt weiter rostral, durch Nucl. caudatus und Putamen

rior (s Kap. 5.2.2.4) zum Tegmentum mesence- 4. A. basilaris und ihre Äste
phali und zu den Crura cerebri. Über feine Äste
Die Arterie versorgt
versorgt sie die basalen Teile des Striatums und
des Thalamus und mit der Λ choroidea posterior t> mit der A. cerebelli inferior anterior die Unter-
den Plexus choroideus des III. Ventrikels. Das und Seitenfläche des Kleinhirns,
der A. choroidea post, zugeleitete Blut stammt > mit zahlreichen Rr. ad pontem (auch Aa.
zum größeren Teil aus der A. basilaris bzw. den pontis) den medialen Teil des Pons und der
Aa. vertebrales, jedoch nur zu einem geringeren Medulla oblongata,
Teil aus der A. communicans posterior. [> mit der A. labyrinthi zum Porus acusticus inter-
nus das Innenohr,
3. A. vertebralis und ihre Äste
[> mit der A. cerebelli superior die obere Fläche
• Die A. vertebralis (s. Kap. 10.7.2.1.2, S. 881) des Kleinhirns.
durchbohrt die Membrana atlantooccipitalis > A. cerebri posterior. Schließlich gabelt sich
posterior und die Dura mater und gelangt durch die A. basilaris vor der Brücke in die rechte und
das Foramen magnum in die Schädelhöhle, wo linke A. cerebri posterior. Diese Arterien stellen
sie sich mit jener der Gegenseite an der Grenze durch die A. communicans posterior die Ver-
zwischen Brücke und Medulla oblongata zur bindung zum Stromgebiet der A. carotis interna
Α. basilaris vereinigt (s. Abb. 5.31, 74). Vorher her, wenden sich dann um die Pedunculi cerebri
gibt sie noch folgende Äste ab: zur Facies inferior hemispherii cerebri, versor-
gen hier den gesamten Okzipitallappen mit der
[> die kleine A. spinalis anterior rückläufig zum
Sehrinde und bis auf den Schläfenpol die basale
Rückenmark und
Fläche des Schläfenlappens (s. Abb. 5.76 und
D> die A. cerebelli inferior posterior. Sie versorgt
Abb. 5.77; die klinisch wichtigen Versorgungs-
v. a. den Nucl. dentatus des Kleinhirns und
gebiete der Hirnarterien sind auch in Abb. 5.75
dessen Unterseite sowie ein Gebiet der dorso-
schematisch abgegrenzt).
l a t e r a l Medulla oblongata in der Umgebung
der Olive.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- und Rückenmarkshäute, Ventrikelräume und Gefäßversorgung des ZNS 447

Abb. 5.76

Sulcus centralis

Corpus callosum

Sulcus cinguli
Fornix

Septum pellucidum
Sulcus parietooccipital
Commissura anterior ·
Cuneus

Uncus
Sulcus calcarinus

Abb. 5.77: Die arterielle Versorgung des Cortex cerebri (Facies superolateral). Weiß = A. cerebri
media, hellblau = A. cerebri anterior und dunkelblau = A. cerebri posterior

Klinik: 1. Durchblutungsstörungen im Bereich und dreidimensional rekonstruiert werden.


der A. cerebri post, fuhren zu Gesichtsfeldaus- 3. Mangeldurchblutung (Ischämie): Die Aste
fallen (s. Kap. 5.4.2.3). Die röntgenologische der Aa. cerebri sind funktionelle Endarterien.
Darstellung der Hirnarterien nach Einfuhrung Ein lokales thrombotisches Gerinnsel oder ein
eines Kontrastmittels, Arteriographie (auch als Embolus (ein durch die Blutbahn verschleppter
digitale Subtraktionsangiographie, DSA, mög- Gefäßpfropf) fuhren zu einem lokalen Gefäßver-
lich), gestattet ihre Beobachtung hinsichtlich schluss und zum Ausfall der von diesem Gefäß
topographischer Lage und funktionellem Ver- versorgten Zentren distal des Verschlusses: Ter-
halten (Spasmen, Aneurysmen, Verdrängungen ritorialinfarkt. Eine Mangeldurchblutung, durch
durch Geschwülste usw.) am lebenden Patienten Blutdruckabfall und Atherosklerose bedingt,
(s. Abb. 5.78, 79). 2. Mittlerweile sind solche fuhrt dagegen in den Grenzzonen zwischen den
Gefäßdarstellungen auch im Magnetresonanz- Versorgungsgebieten zweier Endäste („Areal
tomogramm als Angio-MR möglich. Dabei der letzten Wiesen") zu Ausfallerscheinungen:
können die entstandenen Bilder in der digitalen Hämodynamischer Infarkt. Wird die Durchblu-
Computerbearbeitung beliebig im Raum gedreht tung schnell wieder hergestellt, sind die Ausfälle

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
448 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

" A. cerebri ant. (A. pericallosa)

A. cerebri ant.

— Äste der A, cerebri media

— A. ophthalmica

A.carotis int. im
Sinus cavernosus („Siphon")

_ Α. carotis int. im
Canalis caroticus

A. cerebri ant. (A. pericallosal

Aufzweigungen der A. cerebri media


im Inselbereich

Aa centrales

A. cerebri ant.

A. cerebri media

A. ophthalmica

A. carotis int. im
Sinus cavernosus {„Siphon")

A. carotis int.
im Canalis caroticus

Abb. 5.78: Karotisarteriogramm. Röntgenologische Darstellung der Arteria carotis interna durch Kontrastmittelfül-
lung (Digitale Subtraktionsangiographie), Seitenaufnahme (oben) und anterior-posteriore (a.-p.)-Aufnahme. Vor
allem im a.-p.-Bild sind die beiden Endäste der A. carotis int. gut z u differenzieren, während sich ihre Stämme in
Seitenansicht übereinander projizieren. Die A. cerebri ant. kann hier an ihrem g e s c h w u n g e n e n Verlauf um den
Balken herum erkannt werden. Der hintere, ausgesparte Hirnbezirk entspricht d e m Versorgungsgebiet der Aa.
vertebrates

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- und Rückenmarkshäute, Ventrikelräume und Gefäßversorgung des ZNS 449

Sinus sagittalis su

Vv. cerebri sup.


(„Brückenvenen")

- V .cerebri int.

~~ V. cerebri magna

ist:

. — — — Sinus rectus

w
Α — — Sinus cavernosus
V.
Sinus transversus

/ — Confluens sinuum

Sinus sigmoideus

f Sinus occipitalis

Sinus sagittalis sup

Sinus sagittalis inf.

V. cerebri magna
(Galeni)

Confluens sinuum

Sinus transversus

Sinus sigmoideus

— Sinus cavernosus

^ V. jugularis int.

Abb. 5.79: Röntgenologische Darstellung der Gehirnvenen und der Sinus durae matris (Phlebogramm), Seiten-
aufnahme (oben) und a.-p.-Aufnahme. Es handelt sich um spätere Aufnahmen aus der selben Untersuchung wie
in Abb. 5.78. Hier ist das Kontrastmittel über die Kapillaren bereits in die Venen abgeflossen. Die Seitenaufnahme
ist zeitlich kurz vor der a.-p.-Aufnahme angefertigt, weshalb sich hier die oberflächlichen Venen besser, Sinus
sigmoideus und Vena jugularis int. aber noch nicht oder nur flau darstellen

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
450 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

nur temporär: Transitorische Ischämische Atta-


cke (TIA). Gelingt die Wiederherstellung eines
ausreichenden Blutflusses nicht, droht der dau-
erhafte Funktionsverlust des betroffenen Gebie-
tes: ein kompletter Schlaganfall, Ischämischer
Insult. 4. Als Schlaganfall bezeichnet man aber
auch ein durch Einblutungen entstandenes neu-
rologisches Krankheitsbild: Hämorrhagischer
Insult, der meist Himmassenblutungen ent-
spricht. Hinsichtlich der klinischen Symptoma-
tik können zerebrale Ischämie und Hirnblutung
jedoch nicht sicher voneinander unterschieden
werden. Die Diagnose wird mit Hilfe der cereb-
ralen Computertomographie (cCT) gestellt. Ein-
blutungen sind oft Folge eines Bluthochdrucks
und können prinzipiell alle Strömungsabschnitte
der arteriellen Bahn betreffen. Dabei treten sie
gehäuft im Stromgebiet der A. cerebri media
auf.

In der Klinik werden die hirnzuführenden Arterien


oft abgekürzt. Gebräuchliche Abkürzungen sind
ζ. B. A.c.c. = Arteria carotis communis, A.c.i. =
Arteria carotis interna, A.c.e. = Arteria carotis
externa, A.c.a. = anteriore Cerebralarterie, M.c.a.
- mediale Cerebralarterie, P.c.a. = posteriore Cere-
bralarterie oder V.a. = Vertebralarterie.

5.3.4.2 Arterien des Rückenmarks

Das Rückenmark wird arteriell aus verschiede-


nen Quellen versorgt: aus den Aa. vertebrales
und den Aa. intercostales aus der Aorta descen-
dens. Oberhalb von Th3 tragen auch kleinere Abb. 5.80: Blutzufuhr zu den R ü c k e n m a r k s s e g m e n t e n
Aste der A. subclavia (aus dem Truncus thyro- über die Arteria spinalis anterior (nach P. Duus, 1990)

und costocervicalis) zur Versorgung bei. Die


Arterien treten durch die Foramina interverte-
brals in den Wirbelkanal ein.
Rückenmark ein, während sie sich im Lumbal-
ϊ> Zuflüsse aus der A. vertebralis. Die Aa. ver- und Sakralmark in 2 Äste teilen.
tebrales geben in Höhe der Decussatio pyrami- t> Zuflüsse aus den Aa. intercostales. Aus diesen
dum jeweils einen nach basal verlaufenden Ast Segmentarterien treten Rr. spinales durch die
ab. Diese beiden Äste vereinigen sich zur A. Foramina intervertebralia hindurch, um sich
spinalis anterior (s. Kap. 10.7.2.1.2, S. 881), mit den Spinalwurzeln in ventrale und dorsale
die am Vorderrand der Fissura mediana anterior Äste zu teilen (s. Abb. 5.81). Von den ursprüng-
verläuft (s. Abb. 5.80). Sie gibt zahlreiche Äste, lieh angelegten 31 segmentalen Spinalarterien
Aa. sulcocommissurales, in die Tiefe der Fis- erreichen nur etwa 4-10 das Rückenmark. Die
sura anterior ab. Im Zervikal- und Thorakalmark übrigen versorgen die Spinalganglien, die Radi-
treten sie dort alternierend links und rechts ins ces dorsalis et ventralis sowie die Rückenmarks-
häute (s. Kap. 10.5.3, S. 819).
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- und Rückenmarkshäute, Ventrikelräume und Gefäßversorgung des Z N S 451

Processus
spinosus" Ν
Medulla
Arcus spinalis
vertebrae ν /
Ramus spinalis
Processus
transversus

Canalis
vertebralis

Corpus
vertebrae

Abb. 5.81: Zuführende Blutwege zum Rückenmark


(nach Kahle, 1991)

> Zuflüsse aus der A. radicularis magna. Meist 5.3.4.3 Venen des Gehirns
über die zweite lumbale Wurzel erreicht, von
links oder rechts kommend, eine größere Arte- Innere Hirnvenen
rie, die A. radicularis magna, das Lumbaimark.
Sie entstammt den Arteriae lumbales, dorsalen Hirnvenen sind klappenlos, dünnwandig und
Ästen der Aorta abdominalis, und teilt sich in verlaufen zumeist unabhängig von den Arterien.
einen aszendierenden und deszendierenden Ast, Sie lassen sich in oberflächliche und tiefe Venen
der die A. spinalis anterior darstellt. Diese ist unterteilen.
also eine Anastomose zwischen der A. vertebra-
lis und der A. radicularis magna. Anastomosen Sie sammeln das Blut aus den zentralen Teilen des
zwischen Ästen der A. spinalis anterior und den Gehirns. Nach Ferner findet sich in der äußeren
mit der dorsalen Wurzel ans Rückenmark heran- Zone der weißen Substanz des Großhirns eine
tretenden Ästen bilden zahlreiche Gefäßschlin- „venöse Wasserscheide" (s. Abb. 5.82). Das venöse
gen um das Rückenmark. Blut aus dem Marklager fließt durch 5 große
innere Hirnvenen ab:
Klinik: 1. Bei Verschluss der A. spinalis anterior
D> V. septi pellucidi. Sie empfangt trotz ihrer
kommt es zu apoplektiform (schlagartig) auftre-
Lokalisation nur wenig Zufluss vom Septum
tenden Schmerzen und Empfindungsstörungen:
pelludicum, sondern sammelt das venöse Blut
A. spinalis anterior-Syndrom. Später treten
hauptsächlich aus dem Marklager des vorderen
durch Schädigung des Vorderhorns kaudal des
Frontalhirns.
Verschlusses schlaffe, durch isolierte Schädi-
D> V. thalamostriata (wegen ihres Verlaufs an der
gung der Pyramidenbahn (bei erhaltenem Vor-
Grenzlinie zwischen Diencephalon und Telence-
derhorn) spastische Lähmungen auf 2. Durch
phalon wird sie auch Vena terminales genannt).
Läsion des Vorderseitenstrangs ist außerdem mit
Diese nimmt das Blut aus dem Marklager des
herabgesetzter Schmerz- und Temperaturemp-
dorsalen Frontalhirns und des rostroten Pari-
findung zu rechnen. Die im Hinterstrang loka-
etalhirns, aber nicht aus dem Striatum und
lisierte Sensibilität und Propriozeption bleibt
Thalamus auf. Das Caput nucl. caudati und der
dagegen erhalten.
Thalamus besitzen einen eigenen Venenbaum
(V. thalamica in Abb. 5.82), der direkt in die
V. cerebri interna einmündet.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
452 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

D> V. parietooccipitalis interna. Sie sammelt das Äußere Hirnvenen


Blut aus dem Marklager des dorsalen Parietal-
Sie sammeln das Blut von der Oberfläche des
und dem Okzipitalem. Sie mündet in das dor-
Gehirns und leiten es in die benachbarten Sinus
sale Ende der V. cerebri interna oder auch direkt
durae matris.
in die V. cerebri magna.
D> V. temporalis interna. Das Gefäß aus dem > Vv. cerebri superiores (ca. 8-12 pro Hemi-
inneren Marklager des Schläfenlappens mündet sphäre) ziehen von der Außenfläche der Hemi-
in die von der unteren Hirnoberfläche kom- sphären zum Sinus sagittalis superior (s.Abb.
mende V. basalis (Rosenthalii). Die letztere 5.17, 70, 71). Dabei durchqueren sie den
erreicht über den medialen Kniehöcker und die Subarachnoidealraum, durchbohren dann die
Seitenfläche des Mittelhirns ziehend die V. cere- Arachnoidea, um als „Brückenvenen" in den
bri magna. Sinus zu gelangen. Zwischen Austrittspunkt
t> V. choroidea. Sie nimmt das Blut aus den Plexus aus der Arachnoidea und dem Eintrittspunkt in
choroidei auf und fließt in Höhe des Foramen den Sinus kann sich ein schmaler Subduralraum
interventriculare in die V. cerebri interna. bilden.
> Rechte und linke V. cerebri interna. Sie verlau- I> Die V. cerebri media profunda verläuft in
fen in der Leptomeninx auf dem Dach des III. Begleitung der A. cerebri media und sammelt
Ventrikels nach dorsal und vereinigen sich zur das Blut aus dem Gebiet der Fossa lateralis
unpaaren, kurzen V. cerebri magna (Galeni), cerebri. Sie vereinigt sich mit der V. cerebri
die sich dorsal des Splenium corporis callosi anterior und bildet die V. basalis (Rosenthalii),
aufwärts wendet und in den Sinus rectus ein- die meist in die Vena cerebri magna (Galeni)
mündet (s. Abb. 5.69, 70, 79). mündet. Bei fehlender Anlage des rostralen
Anteils der Vena basalis (etwa bei 15 %) mündet
Das Blut aus der subkortikalen Region fließt sie in den Sinus cavernosus.
also über die V. cerebri magna in den Sinus [> Die V. cerebri media superficialis sammelt
rectus ab. Er verläuft in der Anheftungslinie der das Blut aus den Opercula der Insel und ver-
Falx cerebri am Giebel des Tentorium cerebelli läuft nach medial zum Sinus cavernosus oder
(s. Abb. 5.18, 69). Sinus sphenoparietalis. Sie kann durch eine
V. anastomotica superior (Trolard) mit den
Vv. cerebri superiores und durch eine quer über
Zuflüsse zur V. fronto-
den Schläfenlappen ziehende V. anastomotica
parietalis interna
V. cerebri V. thalamo- (V. terminalis sive inferior (Labbe) mit den Vv. cerebri inferiores
in Verbindung stehen.
\> Die Vv. cerebri inferiores (von der Hirnbasis)
sowie die Vv. cerebelli superiores et inferiores
ziehen in variabler Zahl und Größe vorwiegend
zum Sinus transversus, aber auch zum Sinus
petrosus inferior und Sinus rectus.

Das Blut vom Cortex fließt also zu verschiede-


nen Sinus durae matris.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- und Rückenmarkshäute, Ventrikelräume und Gefäßversorgung des ZNS 453

Blutleiter der harten Hirnhaut I> Sinus transversus. Er folgt beiderseits dem
Ansatz des Kleinhirnzelts bis zur oberen Kante
Die Blutleiter, Sinus durae matris (Abb. 5.69, der Felsenbeinpyramide.
70), sind die Hauptabflussleiter des venösen t> Sinus sigmoideus. Als vordere Fortsetzung des
Blutes aus dem Gehirn. Sie verlaufen zwischen Sinus transversus verläuft er S-bogenförmig
den beiden Durablättern und nehmen das Blut zum Foramen jugulare, wo er in den Bulbus v.
der Venen des Gehirns, der Augenhöhle, des jugularis superior einmündet. Durch die dünne
Labyrinths und der Schädelknochen auf. Die Wand, die ihn von den Zellen des Warzenfortsat-
Blutleiter münden in die V. jugularis interna, die zes trennt, können infektiöse Prozesse leicht auf
am Foramen jugulare in der hinteren Schädel- den Blutleiter übergreifen.
grube beginnt. Der Abfluss des Venenblutes aus t> Sinus occipitalis. Er beginnt am Venengeflecht
den Sinus durae matris kann aber auch durch Vv. des Foramen magnum und zieht in der Wurzel
emissariae erfolgen. der Kleinhirnsichel zum Confluens sinuum.
D> Sinus cavernosus. Er umgibt den Türkensattel
Wandaufbau. Von den Venen unterscheiden sich und ist durch Bindegewebszüge gekammert.
die Blutleiter durch ihren Wandbau. Sie besitzen Beide Seiten sind vorn und hinten durch die
eine Intima, jedoch enthalten ihre starren Wände Sinus intercavernosi verbunden. Der Sinus
keine Muskelzellen, so dass sie sich nicht dehnen cavernosus erhält Zuflüsse vom Sinus sphe-
und kontrahieren können. Dadurch wird ein noparietalis, von den unteren Hirnvenen und
gleichmäßiger Rückstrom des Blutes gesichert und der V. ophthalmica superior (via V. angularis
verhindert, dass bei der Zirkulation auftretende = Infektionspforte, s. Kap. 4.19.1.2, S. 342).
Volumenschwankungen auf das Gehirn übertragen Außerdem anastomosiert der Sinus cavernosus
werden. mit allen extrakraniellen Venen der Schädel-
basis sowie über den Plexus basilaris mit den
Die einzelnen Sinus Venengeflechten des Wirbelkanals. Sein Abfluss
!> Sinus sagittalis superior. Er beginnt am Fora- erfolgt durch die Sinus petrosus superior und
men caecum vor der Crista galli, wo er bei inferior. Durch den Sinus cavernosus laufen die
Neugeborenen noch mit den Nasenvenen in A. carotis interna, die Augenmuskelnerven (Nn.
Verbindung steht. Er zieht dann am Ansatz der III, IV, VI) sowie die Nn. VI, V2 (s. Abb. 5.49).
Hirnsichel nach hinten und mündet in Höhe der Ο Sinus petrosus superior. Er verläuft vom Sinus
Protuberantia occipitalis interna in den Conflu- cavernosus auf der oberen Kante des Felsen-
ens sinuum. In seine seitlichen Ausbuchtungen, beins zum Sinus sigmoideus, der Sinus petrosus
Lacunae laterales, münden die oberen Venen inferior an der hinteren Unterkante des Felsen-
der Hirnrinde. beins zum Foramen jugulare. Letzterer nimmt
t> Sinus sagittalis inferior. Dieser zieht am unte- die Vv. labyrinthi auf.
ren Rand der Hirnsichel nach hinten und mündet D> Sinus sphenoparietalis. Er läuft am hinteren
in den Sinus rectus. Er nimmt die Venen aus dem Rand des kleinen Keilbeinflügels zum Sinus
Gebiet des Balkens und der benachbarten Hirn- cavernosus.
teile auf.
D> Sinus rectus ist die Fortsetzung des Sinus sagit- Klinik: 1. Nach dopplersonographischen Befun-
talis inferior. Er verläuft in der Verwachsungs- den (Valdueza) erfolgt die venöse Drainage aus
linie zwischen Kleinhirnzelt und Hirnsichel zum der Schädelhöhle nur in horizontaler Körperlage
Confluens sinuum. In ihn mündet die V. cerebri überwiegend über die Venae jugulares internae.
magna, die das Blut der tiefen Hirnvenen ablei- Bei aufgerichtetem Körper kollabieren diese
tet. Gefäße und das Blut wird über die vertebra-
D> Confluens sinuum. Er liegt an der Protuberan- len Venenplexus (s. u.) abgeleitet. 2. Über die
tia occipitalis interna. Hier vereinigen sich der V. dorsalis nasi, angularis und V. ophthalmica
Sinus sagittalis superior, Sinus rectus, Sinus besteht eine Verbindung zwischen Gesicht
occipitalis und Sinus transversus. (V. facialis) und intrakraniell-venösem Kreislauf
(s. Kap. 4.19.1.2, S. 342, und Abb. 5.70). Nor-
malerweise ist die Strömungsrichtung von innen

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
454 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

durch die Vv. intervertebrals mit den segmen-


nach außen gerichtet, sie kann sich aber wegen
talen Vv. intercostales et lumbales in Verbindung
des Fehlens von Venenklappen auch umkehren.
(s. Abb. 5.83 und 5.84).
Um eine Weiterleitung des infizierten Materials
in die Sinus durae matris zu vermeiden, ist bei
Furunkeln des Gesichts zumeist eine antibioti-
sche Therapie erforderlich, um eine septische
Sinusvenenthrombose zu vermeiden. Diese
äußert sich in einer Symptomatik aus Kopf-
schmerzen, generalisierten Krampfanfallen und
Paresen. Da das Blut nicht durch den venösen
Schenkel abfließen kann, entstehen bilaterale
Stauungsblutungen, die im cCT oder MRT gese-
hen werden können.

5.3.4.4 Venen des Rückenmarks

> Plexus venosus vertebralis internus. Er ist


ein im Spatium epidurale des Wirbelkanals
gelegenes klappenloses Venengeflecht, welches
über das Formanen magnum mit den intrakrani-
ellen Sinus in Verbindung steht. Über seine Vv.
radiculares fließt das Blut aus dem Rückenmark
ab. Durch die Vv. basivertebrales steht er mit
dem Plexus vertebralis externus anterior und

Abb. 5.83: Venengeflechte der Wirbelsäule (schemati-


sierter Querschnitt im Halsgebiet)
Vv.v.: Venae vertebrates mit Α. vertebralis; V.c.p.:
V. cervicalis profunda; 2 Äquivalente R. dorsalis der
Segmentalgefäße; 3 V. intervertebralis; 4 Plexus veno-
sus vertebralis externus anterior; 5 Vv. basivertebrales;
6 Plexus venosus vertebralis externus posterior in zwei
Schichten; 7 Plexus venosus vertebralis internus; 8 Vv. Abb. 5.84: Der Plexus venosus vertebralis internus
radiculares (Mediansagittalschnitt durch die Wirbelsäule)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.3 Hirn- und Rückenmarkshäute, Ventrikelräume und Gefäßversorgung des ZNS 455

[> Plexus venosus vertebralis externus poste- • Blut-Hirn- sowie Blut-Liquor-Schranke. Die
rior. Der innere Wirbelsäulenplexus ist über Blut-Hirn- und Blut-Liquor-Schranke stellen
zahlreiche das Ligamentum flavum durchbre- mechanische Barrieren dar, welche das Eintre-
chende Anastomosen mit dem äußeren Plexus ten unerwünschter Substanzen aus dem Blut ins
verbunden. Dieser liegt zwischen Dorn- und Gehirn verhindern sollen. Morphologisch ent-
Querfortsätzen der Wirbel und der autochthonen spricht ihnen die besondere Struktur der Blut-
Rückenmuskulatur. Kranial geht er in den Plexus gefäße im ZNS, die durch tight junctions des
sukoccipitalis über, der über die Vv. emissiariae Endothels abgedichtet sind. Hierdurch wird der
mastoideae, condyloideae et occipitales mit parazelluläre Transport inhibiert. Zudem sind
dem Schädelinneren in Verbindung steht. die Kapillaren nicht fenestriert, so dass insge-
samt eine Permeabilitätsbarriere fur wasserlösli-
Klinik: Die vertebralen Venenplexus stellen che Substanzen besteht. Solche Moleküle, etwa
einen wichtigen Umgehungsweg bei Verschluss Aminosäuren und Glukose, müssen erst über
oder Kompression der Vena cava inferior (Kavo- spezifische Transportersysteme eingeschleust
kavale-Anastomosen) dar, wie er ζ. B. bei Hepa- werden. Zusätzlich wird der Eintritt größerer
topathien, bei Vena-cava-inferior-Thrombose Moleküle durch die Glia limitans (Membrana
oder bei Schwangerschaften auftreten kann. limitans gliae perivascularis) behindert. Gase
und fettlösliche Moleküle wie Nikotin oder
Alkohol können dagegen per diffusionem ins
Gehirn gelangen.
5.3.4.5 Lymphabflüsse von Gehirn
und Rückenmark
Klinik: Zur medikamentösen Therapie der Par-
kinson-Krankheit, einem Mangel an Dopamin,
Lymphgefäße gibt es weder im Gehirn noch im
kann die fehlende Substanz selbst nicht verab-
Rückenmark. Antigene aus dem ZNS drainieren
reicht werden, da sie weder „schranken"- noch
aber durch die Lamina cribrosa des Siebbeines
„liquorgängig" ist. Statt dessen verabreicht man
und entlang der Perineuralscheiden der Hirn- und
das chirale L-Dopa, welches die Blut-Him-
Spinalnerven in die zervikalen bzw. paraaortalen
Schranke leichter zu überqueren vermag.
Lymphknoten. Dort können Immunreaktionen
gegen Antigene im Gehirn induziert werden.
• Immunprivileg. Wie andere besonders schüt-
zenswerte bzw. schlecht regenerierende Organe
(Hoden und Ovar, vordere Augenkammer, Pla-
5.3.4.6 Blut-Hirn-Schranke,
zenta) ist das Gehirn immunprivilegiert, d. h.
Blut-Liquor-Schranke und
Immunreaktionen werden durch Blut-Gewebe-
Immunprivileg des ZNS
Barrieren (Blut-Hirn- oder Blut-Hodenschranke)
und durch die Freisetzung anti-inflammatori-
Die Funktion des Gehirns ist offenbar abhängig von
scher Botenstoffe des Immunsystems (Zyto-
der Homöostase des Nervengewebes. So können
kine) unterdrückt. Dadurch laufen auch im ZNS
Änderungen der Ionenkonzentration, des Blut-
entzündliche Prozesse abgeschwächt ab, so dass
oder osmotischen Drucks wie auch des pH-Wertes
die postmitotischen Nervenzellen weitgehend
zu Bewusstseinsverlust oder sogar zum Tode
geschont werden. Der Preis hierfür ist, dass sich
fuhren. Hinzu kommt, dass Neurone zum größten
viele neurotrope Viren dauerhaft im ZNS vor
Teil postmitotische Zellen sind. Ein Ersatz bereits
dem Zugriff des Immunsystems „verstecken"
verlorener Nervenzellen findet nach heutigem
können. Offenbar ist deren latenter Verbleib im
Kenntnisstand beim Erwachsenen nicht mehr oder
ZNS für das Inviduum günstiger als eine Elimi-
nur in sehr geringem Ausmaß statt. Deshalb muss
nation infizierter Neurone.
die Homöostase im Gehirn in besonderer Weise
gesichert werden:

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
456 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

5.4 Funktionelle Systeme des ZNS

5.4.1 Was ist funktionelle der Netzhaut, Retina (s. Kap. 6.1.3.2, S. 567),
Neuroanatomie? besteht, sowie einen integrativen Abschnitt, der
einzelne Retinaneurone und Teile des Gehirns
umfasst.
Nachdem die Morphogenese des Zentralen Nerven-
systems, dessen regionale und topographische Ana-
Funktionell kann dem visuellen System auch die
tomie sowie seine Blutversorgung besprochen sind,
Okulomotorik hinzugerechnet werden. Vor der
sollen nun funktionell zusammenwirkende Regi-
Besprechung der visuellen Kortexareale im Lobus
onen zu Systemen zusammengefasst und erörtert
occipitalis soll hier nochmals eine knappe Zusam-
werden. Hierbei werden informationsleitende und
menfassung der Sehbahn erfolgen (s. Kap. 6.1.3.2,
modulierende Systeme unterschieden: Informati-
S. 567).
onsleitende Systeme leiten Informationen im enge-
ren Sinne (ζ. B. visuellen Input) und verarbeiten sie
im Zusammenspiel verschiedener Hirnregionen;
modulierende Systeme wie das ARAS (s. Kap. 5.4.2.2 Sehbahn
5.4.9.2) verändern dagegen die Aktivierbarkeit von
neuronalen Netzen häufig durch präsynaptische • Die Sehbahn bis zur Sehnervenkreuzung
Innervation. Auch wenn diese Unterscheidung (Chiasma opticum)
nicht immer scharf ist, können insbesondere höhere Die ersten 3 Neurone der Sehbahn liegen inner-
kognitive Funktionen als Ergebnis sowohl infor- halb der Retina. Ganz außen, d.h. dem ins Auge
mationsleitender als auch modulierender Systeme einstrahlenden Licht am weitesten abgewandt,
verstanden werden. befinden sich die Stäbchen- und Zapfenzellen
(1. Neuron), deren Erregung von den bipolaren
Die Kenntnis darüber, wie und wo Informationen Zellen (2. Neuron) an die retinalen Gangli-
von der Rezeption bis zur Wahrnehmung zuneh- enzellen (RGC oder Optikusganglienzellen,
mend prozessiert werden, erleichtert den klinisch 3. Neuron) weitergeleitet werden (s. Kap.
Tätigen die Lokalisation von Schädigungen anhand 6.1.3.2 und Abb. 6.20, S. 567). Die Axone der
charakteristischer Ausfallssymptome. Dies wird RGCs verlaufen nach Passage der Area cribrosa
schon im nächsten Abschnitt deutlich: Eine Schä- etwa 4,5 cm als N. opticus bis zum Chiasma
digung am Beginn der Sehbahn in der Retina führt opticum. Distal des Chiasma werden sie als
zu deutlich anderen klinischen Symptomen als eine Tractus opticus bezeichnet.
Schädigung am Ende der Sehbahn im visuellen
Jüngste Arbeiten (2002) haben ergeben, dass nicht nur die
Cortex.
Photorezeptoren (Stäbchen und Zapfen), sondern auch
eine Subpopulation der RGCs direkt auf Licht reagieren.
Ihre Axone zweigen am Chiasma ab und verlaufen im
5.4.2 Visuelles System Tractus retinohypothalamicus zum Nucl. suprachiasma-
ticus, wo sie die dort generierten zirkadianen Rhythmen
Lernziele: Sehbahn, Nervus und Tractus dem Tag-Nacht-Rhythmus anpassen.
opticus, Gesichtsfelddefekte, visueller Cortex
Klinik: 1. Unter einer Optikusatrophie werden
(Brodmann-Areale 17, 18, 19), Okulomotorik
sämtliche Formen der Degeneration von Mark-
und beteiligte Hirnnerven, sympathische und
scheiden und Axonen des N. opticus verstanden.
parasympathische Innervation des Auges, opti-
Sie ist also als eine Läsion des dritten Neurons
sche Schutzreflexe
der Sehbahn aufzufassen, wie sie etwa bei Glau-
kom oder nach toxischer Einwirkung zustande
kommt. Das charakteristische Merkmal einer
5.4.2.1 Definition Optikusatrophie ist die Abblassung der Papille,
die ophthalmoskopisch erkennbar wird. Eine
Das visuelle System enthält einen rezeptiven Optikusatrophie geht schließlich in einen irre-
Anteil, der insbesondere aus den Sinneszellen versiblen gliösen Umbau des Sehnerven über.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme d e s Z N S 457

Canalis opticus in die Cavitas cranii erreichen


Je nachdem welche und wieviele dritte Neurone
beide Sehnerven die Hirnbasis, wo sie die
geschädigt sind können die Gesichtsfelddefekte
Sehnervenkreuzung, das Chiasma opticum,
von einem Zentralskotom bis hin zur kompletten
bilden.
Erblindung reichen. 2. Da die Hirnhäute den
N. opticus durch den Canalis nervi optici bis
Im Chiasma opticum kreuzen die Optikusner-
zum Auge begleiten, können Drucksteigerungen
venfasern aus den nasalen Retinahälften in den
im Liquor cerebrospinalis die Optikus-Papille
kontralateralen Tractus opticus. Die Fasern aus
in den Augeninnenraum hinein vorwölben, was
den temporalen Retinahälften verlaufen außen
als Stauungspapille bezeichnet wird. Häufig
ungekreuzt im ipsilateralen Tractus opticus
sind Tumoren in der vorderen Schädelgrube die
weiter (s. Abb. 5.86).
Ursache.

Der Tractus opticus verläuft um das Crus cerebri


• Chiasma opticum und Tractus opticus. Ca.
bis zum Corpus geniculatum laterale (CGL)
1 cm nach Durchtritt des N. opticus durch den

Retina

- N. opticus

- Ganglion ciliare

- Chiasma opticum

- N. oculomotorius, Tractus opticus

- Nucl. accessorius n. oculomotorii

- Corpus geniculatum laterale

— Meyer-Schleife (Capsula interna}

Colliculus superior

Pulvmarthalami

—_ Radiatio optica (Gratiolet) entlang


des Sulcus calcarinus

~~" Cornu posterius ventriculi lateralis

Corpus callosum

optisches Erinnerungszentrum

I '
Radiatio optica (gefasert) Sehrinde (Area striata)

Abb. 5.85: H a l b s c h e m a t i s c h e Darstellung der S e h b a h n und d e s W e g s d e s Pupillenlichtreflexes von der Hirnbasis


aus gesehen. Das Mittelhirn ist in Höhe der Colliculi superiores (Area praetectalis) durchtrennt. Hinterhaupts- und
Schläfenlappen sind nach einem horizontalen Schnitt teilweise entfernt. An der rechten Hirnhälfte sind die Seh-
strahlung und der hintere Teil d e s Balkens herausgefasert, an der linken Hirnhälfte ist die Sehstrahlung s c h e m a -
tisch eingezeichnet. Fasern von der jeweils rechten Netzhauthälfte = schwarz, von der linken = rot

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
458 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

(s. Abb. 5.85). Im Chiasmabereich treten schon gerichteten Bogen, während die Fasern aus dem
einzelne Fasern in den unmittelbar benachbarten Punkt des schärfsten Sehens, der Macula lutea
Hypothalamus ein, wo sie lichtabhängige endo- (s. Kap. 6.1.3.2, S. 567), auf kürzestem Weg zur
krine Funktionen beeinflussen können. Sehrinde ziehen (s. Abb. 5.86).
Hirnhäute des N. opticus. Die Axone der Gang-
Klinik: Die Sehnervenkreuzung hat für die
lienzellen verlassen die Retina in der Papilla n.
neurologisch-topische Diagnostik einen hohen
optici, die dem „blinden Fleck" des Gesichtsfelds
Stellenwert, da hier sämtliche Fasern beider
entspricht, und erhalten hier eine Markscheide. In
medialer (nasaler) Retinahälften, die die late-
der Orbita ist der Sehnerv bereits von Hirnhäuten
ralen Gesichtsfeldhälften repräsentieren, zur
umgeben, und zwar als Vagina interna n. optici von
Gegenseite kreuzen. Demgegenüber setzen
Pia mater und Arachnoidea mater sowie als Vagina
sich die Fasern beider lateraler (temporaler)
externa nervi optici von der Dura mater, die am
Retinahälften, die das mediale Sehfeld repräsen-
Augapfel in die Sklera übergeht. Der N. opticus und
tieren, ungekreuzt in den Tractus opticus fort.
die Retina sind embryonal nach peripher verlagerte
Das heißt, dass sich im Tractus opticus sowohl
Hirnabschnitte, die sich aus Anteilen des Dienze-
Fasern der ipsilateralen temporalen als auch der
phalons entwickeln (Augenbecher und Augenstiel,
kontralateralen nasalen Retinahälften befin-
s. Kap. 6, Abb. 6.5, S. 553, und Abb. 5.10, 11).
den. Auf diese Weise werden Signale aus dem
rechten Gesichtsfeld der linken Hirnhälfte und
Signale aus dem linken Gesichtsfeld entspre- Klinik: Gesichtsfelddefekte (s. Abb. 5.86):
chend der rechten zugeleitet. Aufgrund dieser 1. Eine Unterbrechung des N. opticus, etwa
Faserkreuzung kann mit einfachen Methoden bei Optikusatrophie (s. o.), fuhrt zum mon-
zwischen einer Schädigung proximal oder distal okularen Gesichtsfeldausfall, Amaurose (voll-
des Chiasma unterschieden werden. ständige Blindheit). Der II. Hirnnerv stellt
also ein „Nadelöhr" dar, durch das sämtliche
Fasern der Netzhaut eines Augapfels hindurch-
• Sehbahn distal des Chiasma opticum treten müssen. 2. Eine heteronyme binasale
Corpus geniculatum laterale. Der Tractus Hemianopsie (der Begriff der Hemianopsie
opticus endet im CGL des Metathalamus. Dort bezeichnet eine Halbseitenblindheit, die sich
wird die Sehbahn auf das 4. Neuron umgeschal- auf das Blickfeld eines Auges bezieht) entsteht
tet. Zuvor zweigen Kol lateralfasern zur Area durch beidseitige Kompression des Chiasmas
praetectalis und Lamina tecti ab. Diese Kol- von lateral, wie sie ζ. B. (selten) bei Tumoren
lateralfasern ermöglichen die Aufrechterhaltung oberhalb der Sella turcica auftreten kann. 3. Die
einzelner optischer Reflexe auch bei Läsionen häufigere heteronyme bitemporale Hemianopsie
des CGL. Das CGL bildet 5 mit weißer Sub- („Scheuklappenblindheit") ist Folge einer medio-
stanz alternierende Schichten grauer Substanz dorsalen Kompression des Chiasmas, die ζ. B.
aus. Hier enden die ipsilateralen Fasern in den durch Tumoren der Hypophyse (häufig: Hypo-
Schichten 1, 3 und 5, die kontralateralen Fasern physenadenome) bedingt wird. 4. Bei Läsion des
in den Schichten 2 und 4. CGL oder der Radiatio optica entsteht oft eine
• Sehstrahlung. Vom CGL ausgehend setzt sich homonyme Hemianopsie zur Gegenseite (der
die Sehbahn als weit auslaufende Gratiolet- Begriff homonym meint die sich entsprechen-
Sehstrahlung, Radiatio optica, fort, die von den den Bilder gleicher Netzhauthälften; heteronym
Axonen der Relaiszellen des CGL gebildet wird. sind ungleiche Netzhauthälften), die sich jedoch
Die Fasern des unteren kontralateralen Gesichts- durch erhaltene optische Reflexe (Pupillenreflex)
feldes liegen in der Gratiolet-Strahlung im auszeichnet, da die hierfür notwendigen Fasern
oberen Bereich. Die Fasern des oberen kontra- bereits vor dem Metathalamus ins Mesence-
lateralen Gesichtsfelds liegen im unteren Anteil phalon abgehen. Läsionen im Verlauf der Seh-
der Sehstrahlung. Diese Kenntnis ermöglicht die strahlung im dorsalen Teil der Capsula interna
topische (ortsbezogene) Diagnostik spezifischer kommen als Folge eines Infarkts der A. cerebri
Gesichtsfeldausfalle, die Quadrantenanopsien media vor. Da das relativ kleine CGL schnell
(s. unten). Die Fasern aus der Retinaperipherie vollständig geschädigt wird, kommt es bei
bilden im Lobus temporalis einen nach rostral

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 459

1. Monokularer Gesichtsfeldausfall
Amaurose nach Durchtrennung oder
Kompression des Nervus opticus

2. Heteronyme binasale Hemianopsie


nach bilateraler Kompression des Chiasma
opticum, etwa als Folge eines suprasellären
Tumors

Retina 3. Heteronyme bitemporale Hemianopsie


nach mediodorsaler Kompression des Chias-
ma opticum, beispielsweise als Folge eines
Hypophysenadenoms
Nervus opticus
Chiasma opticum 4. Homonyme Hemianopsie
Sie tritt einerseits bei chiasmanahen Läsio-
Tractus opticus
nen (Tractus opticus oder CGL) häufig in-
Meyer-Schleife kongruent auf

5. Homonyme Hemianopsie
Gratiolet Sie tritt andererseits auch bei Läsion der ge-
Sehstrahlung samten Sehstrahlung in ihrem intrakapsulä-
ren Verlauf auf, etwa nach einem Infarkt der
Arteria cerebri media

I UHI 6. Quadrantenanopsie nach oben


Γ / entsteht nach kortexnahen Läsionen der
Sehstrahlung unterhalb des Sulcus calcan-
nus oder durch Läsion der Meyer-Schleife
visueller Cortex im Temporalpol, beispielweise als Folge
Folge eines Infarktes der Arteria cerebri
(Area striata)
posterior

7. Quadrantenanopsie nach unten


Sie tritt bei kortexnahen Läsionen der
Sehstrahlung oberhalb des Sulcus calcan-
nus auf und ist dann beispielsweise Folge
eines parietalen Tumors
Abb. 5.86: Synopsis der Gesichtsfelddefekte.
Verschiedene Schädigungsorte ergeben jeweils typische Gesichtsfeldausfälle. Diese werden klinisch bestimmt,
um im Umkehrschluss den Ort der Läsion zu bestimmen

seiner Läsion häufig zu einer kompletten Hemi- Sehbahn mit elektrophysiologisch nachweisba-
anopsie. Im Gegensatz dazu stellen 6. Quadran- rer Impulstätigkeit vorliegt. Gleichzeitig bleiben
tenanopsien die Folgen inkompletter Läsionen einige optische Reflexe erhalten.
der Sehstrahlung dar. Eine Quadrantenanopsie
nach oben stellt sich nach rindennahen Läsio-
nen unterhalb des Sulcus calcarinus oder nach
Läsion der Meyer-Schleife (weit lateral ziehende
5.4.2.3 Visueller Cortex
Fasern aus dem CGL) im Temporalpol ein, wie
Der visuelle Cortex liegt in der Rinde des Lobus
sie bei einem Infarkt der A. cerebri posterior
occipitalis und wird zytoarchitektonisch in die
entsteht. 7. Eine Quadrantenanopsie nach unten
Brodmann-Areale 17, 18 und 19 gegliedert. Die
ist als Folge kortexnaher Läsionen oberhalb des
Area 17 ist das primäre, die Areae 18 und 19
Sulcus calcarinus aufzufassen und geht meistens
sind die sekundären visuellen Rindenfelder.
auf einen parietalen Tumor zurück. 8. Kortikale
Blindheit. Da die Areae 17 beider Seiten im
In d e n l e t z t e n J a h r e n b e s c h r e i b t m a n unterschiedliche
Interhemisphärenspalt nahe beieinander liegen,
Felder (V1-V6), die durch funktionelle Charakteristika
entsteht bei pathologischen Prozessen häufig (ζ. B. a u s f u n k t i o n e l l e n M R T - S t u d i e n , m i t d e n e n sich
eine gemeinsame Schädigung. Hieraus resultiert kortikale A k t i v i e r u n g sichtbar m a c h e n lässt) v o n e i n a n d e r
das seltene Krankheitsbild einer vollständigen abgegrenzt werden. Sie gehen j e d o c h teilweise über die
kortikalen Blindheit, obwohl eine unbeschädigte B r o d m a n n - A r e a l e (s. K a p . 5 . 4 . 1 0 . 2 , S. 5 3 1 , A b b . 5 . 1 2 7 ,

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
460 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

128) hinaus. Ähnliches gilt fur den auditiven Cortex, den sche Veränderungen des Gesichtsfelds als auf statische
sensiblen und den motorischen Cortex. Formen und Muster. Dies hat zur Annahme einer modu-
laren Organisation des visuellen Cortex geführt. Außer-
• Primäre Sehrinde. Der physiologisch wich- dem geht man von der Existenz so genannter okulärer
tigste Teil des visuellen Cortex ist das primäre Dominanzsäulen aus, die eine vorwiegende Verarbeitung
optische Rindenfeld (Area 17 nach der zyto- aus dem linken oder dem rechten Auge aufweisen. Eine
architektonischen Felderung Brodmanns, weitere Interpretation roher Sehdaten, insbesondere die
Bilderkennung selbst, scheint in der primären Sehrinde
in dem die Sehstrahlung endigt. Die Area 17
aber noch nicht zu erfolgen.
grenzt an den Sulcus calcarinus und erstreckt
sich größtenteils über die mediale Wand des
• Sekundäre Sehrinde. Die primäre Sehrinde ist
Okzipitallappens. Dagegen setzt sie sich nur zu
efferent hauptsächlich mit den Areae 18 und
einem geringen Teil auf den konvexen Okzipi-
19 verknüpft, die die Area 17 umgeben. Area
talpol fort (s. Abb. 5.15). In der Rinde von Area
18 und 19 bilden die sekundäre Sehrinde, in der
17 ist bereits makroskopisch ein weißer Streifen
die integrative Verarbeitung optischer Impulse
erkennbar (Gennari- oder Vicq d'Azyr-Strei-
sowie die Bilderkennung erfolgt (s. Abb. 5.87).
fen). Wegen dieser intrakortikalen Assoziations-
In Area 18 liegt funktionell das Feld V2, in Area
fasern, die oberflächenparallel verlaufen, wird
die Area 17 auch als Area striata bezeichnet. 19 die Felder V3-V6, die aber interindividuell
Hauptsächlich kommen die Afferenzen des variieren. Ihre Afferenzen erhält die sekun-
visuellen Cortex aus dem CGL, von wo aus sie in däre Sehrinde hauptsächlich aus der Area 17.
retinotopischer Ordnung zur Sehrinde ziehen. Zusätzlich zur Integration optischer Impulse
Dabei entspricht jeder Netzhautregion ein kor- spielt sie eine wichtige Rolle als Relaisstation
respondierendes Rindenareal. Die Macula lutea für die Weitergabe der visuellen Informationen
als Ort des schärfsten Farbensehens projiziert an weitere Kortexareale mit assoziativen und
auf besonders große Areale der gesamten dor- integrativen Funktionen für die Bilderkennung
salen Rinde oberhalb des Sulcus calcarinus bis und -deutung.
hin zum Okzipitalpol. Die Signale von der Reti- Aufgrund der retinotopen Gliederung der Sehstrahlung
naperipherie werden von der rostralen Hälfte ist man früher davon ausgegangen, dass die beiden stria-
der Area 17 verarbeitet. So scheint das Bild des talen Felder des visuellen Cortex einzig für die Formation
Gesichtsfelds Punkt für Punkt übertragen zu der Bildwahrnehmung zuständig seien. Dieses Konzept
werden, wobei der Makula lupenartig vergrößert wurde auch als kortikale Retina bezeichnet. Es erwies
wird. Die primäre Sehrinde sendet eine Vielzahl sich jedoch als eine zu starke Vereinfachung und so
nimmt man heute eine Vielzahl von zusätzlichen visu-
kortikaler Efferenzen aus. Eine ihrer Hauptbah-
ellen Feldern in der sekundären Sehrinde oder anderen
nen zieht hierbei zum frontalen Augenfeld des Kortexarealen an, die außerhalb der Area striata liegen
Frontallappens. Dieses Kortexareal ist insbeson- (deshalb auch: extraxtriate areas). Sie weisen eine weit-
dere für Blickwendungen und Korrekturbewe- gehende Spezialisierung für diverse Sehqualitäten auf, so
gungen der Augen verantwortlich. ζ. B. V2 fur Konturen, V3 und V5 für Bewegungen sowie
V4 für Farben. Neben V2 bis V5 haben andere sekundäre
In elektrophysiologischen Experimenten sind bei Rei- Sehareale spezifische Namen erhalten, wobei bislang bei
zung der primären Sehrinde optische Wahrnehmungen Affen etwa zwanzig unterschiedliche Felder experimen-
auslösbar. Im Bereich dieses Kortexareals liegen beson- tell entdeckt worden sind, von denen ein jedes über eine
ders durch Hell-/Dunkelkontrast erregbare zusammen- annähernd vollständige Repräsentation des visuellen
hängende Neuronenketten, die jeweils Signale ihrer Feldes verfügt.
rezeptiven Felder in der Retina verarbeiten. Besonders
interessant ist, dass manche Neurone spezifisch auf die Klinik: 1. Aufgrund der Vielzahl morphologi-
räumliche Orientierung von Lichtstreifen reagieren. So scher Verbindungen spezialisierter Neuronen-
genannte einfache Zellen {simple cells) reagieren auf Ori- gruppen mit der primären Sehrinde können bei
entierungsunterschiede sowie auf Hell-/Dunkelkontrast-
Punktläsionen in den Areae 18 und 19 unter-
Linien. Komplexe Zellen (complex cells) sind im Zusam-
menhang eines überregionalen Neuronennetzes aktiv
schiedliche neurologische Ausfalle auftreten.
und reagieren auf bestimmte Winkelmuster. Überdies Diese gehen meistens mit dem Verlust selekti-
reagieren bewegungs- und richtungsabhängige Zellen ver Wahrnehmungsprozesse einher. Betroffene
(direction-selective cells) viel sensitiver auf dynami- Patienten vermögen ζ. B. keine Gesichter,

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 461

Abb. 5.87: Funktionelles MRT der visuellen Areale des menschlichen Cortex. Dem Probanden werden (A) horizon-
tale und vertikale Balken (Meridiane) bzw. (B) Bewegungsmuster dargeboten. Die funktionelle Aktivierung visu-
eller Areale ist auf den kortikalen Landkarten farbkodiert dargestellt (aus der Neurologischen Klinik der Charite,
Prof. Dr. med. A. Villringer)

Farbmuster oder bestimmte Gegenstände mehr meist durch Infarkt der Arteria cerebri media,
zu erkennen. Die isolierte Erregbarkeit spezi- können zu zentraler Alexie (mit Agraphie)
fischer Neuronengruppen (durch Schachbrett- führen: Patienten mit einer zentralen Alexie
muster) macht man sich etwa bei der Auslösung haben die Fähigkeit verloren, mit Schriftsprache
und Bestimmung visuell evozierter Potenziale umzugehen, wobei der Ausfall nicht allein auf
(VEP) zunutze, wobei nach Musterpräsentation die visuelle Modalität beschränkt bleibt, sondern
(Kontrastumkehr) die positiven Potenziale und auch vorbuchstabierte Worte und taktil empfun-
Latenzen über dem okzipitalen Cortex bestimmt dene Hautschrift umfasst.
werden. Das Ziel ist die Untersuchung der Seh-
bahn von der Retina bis zur Sehrinde, wobei die
VEPs insbesondere in der Diagnostik umschrie-
bener Markscheidenläsionen zum Tragen kom-
5.4.2.4 Okulomotorik
men, ζ. B. bei der Multiplen Sklerose. Durch
Der Bewegungsapparat des Auges besteht aus
den Verlust von Myelin ist ein verzögerter
4 geraden (M. rectus superior, inferior, medialis
Informationsfluss in die Sehrinde nachweisbar.
und lateralis) und 2 schrägen Muskeln (M. obli-
2. Wenn die sekundäre Sehrinde, die optische
quus superior, inferior). Der M. rectus lateralis
Erinnerungsbilder bewahren kann, durch einen
wird vom Ν VI., der M. obliquus superior vom
pathologischen Prozeß zerstört wird, entsteht
Ν IV., alle anderen äußeren Augenmuskeln vom
Seelenblindheit, optische Agnosie. Dabei
Ν III. innerviert, (s. Kap. 6.2, S. 575).
besteht eine Unfähigkeit, gesehene Gegenstände
wiederzuerkennen und zu deuten, weil die
Vergleichsmöglichkeit mit früheren optischen Zentren der Koordination
Eindrücken entfällt. Beeinträchtigungen des
Gyrus angularis im Lobus parietalis inferior, Damit die Sehachsen beider Augen sich im visu-
ellen Objekt treffen können, müssen beide Augen-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
462 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

bulbi entsprechend koordiniert bewegt werden. Das Area praetectalis und Colliculus superior. Effe-
ZNS steuert die Okulomotorik durch die simultane rente kortikofugale Bahnen ziehen von den o. g.
Innervation der äußeren Augenmuskeln. An diesem frontalen und okzipitalen Kortexfeldern zunächst
Vorgang sind mehrere Strukturen beteiligt: zur Area praetectalis und zum Colliculus superior.
Diese Zentren sind für sakkadische Blickfolgebewe-
1. Kortexareale: frontales und okzipitales Augen-
gungen (die schnelle Komponente des Nystagmus)
feld,
zuständig. Zusätzlich zu diesen Relaisstationen
2. die Area praetectalis und der Colliculus supe-
finden sich weitere präokulomotorische Umschalt-
rior,
zentren im Nucleus interstitialis (Cajal) des
3. die Hirnnervenkerne III, IV und VI. medialen Mesenzephalons („mesenzephales Blick-
Kortexareale. Das kleine frontale Augenfeld, das zentrum" fur vertikale Blickbewegungen) sowie in
im dorsalen Bereich der mittleren Frontalwindung der Formatio reticularis. Hierzu gehört das pontine
liegt, entspricht etwa dem Brodmann-Areal 8 (s. Blickzentrum rostral des Nucl. n. hypoglossi (Nucl.
Abb. 5.127, 128). Seine physiologische Funktion praepositus n. hypoglossi) für horizontale Blickbe-
besteht in der Steuerung von Willkürbewegungen wegungen (Abb. 5.88). Von hier aus bestehen Ver-
der Augäpfel sowie im periodischen Abtasten des bindungen zu den Kernen der Nn. III, IV, und VI,
Gesichtsfelds auf neue visuelle Reize hin. Außer- die außerdem durch den Tractus corticonuclearis
dem fallt die Integrationsfunktion unwillkürlicher beider Hemisphären mit Willkürimpulsen aus dem
Folgebewegungen der Augen auch in den Bereich Gyrus praecentralis versorgt werden.
der Sehrinde bzw. des okzipitalen Augenfelds,
Hirnnervenkerne III, IV und VI. Die Axone
das sich aus den Brodmann-Arealen 17,18 und 19
dieser Hirnnerven stammen von Motoneuronen in
zusammensetzt.

— M. rectus lat.
Nervus / |f
oculomotorius -
- Nervus abducens

Motoneuron im
Ncl. n. oculomotorii - Ν. VI

VI, III internukleäres


Neuron
(im Fasciculus
longitudinalis
medialis)
Ncl, n. abducentis

hemmendes /
Interneuron
erregendes
Neuron

Abb. 5.88: Regulation der horizontalen Blickbewegung (P. R R. F. = paramediane pontine (parapontine) retikuläre
Formation). Beim Blick nach außen erregt ein Neuron aus der R P. R. F. Motoneurone für den in Blickrichtung
zielen M. rectus medialis im Nucl. n. III und den M. rectus lateralis im Nucl. η. VI, hemmt aber gleichzeitig über
ein Interneuron im Nucl. praepositus die Aktivität des gegen die Bewegung arbeitenden M. rectus lateralis der
anderen Seite
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 463

den entsprechenden Hirnnervenkernen. Die Nuclei • Μ. rectus inferior (für den kontralateralen
des N. III befinden sich im Tegmentum mesence- Bulbus).
phali am Boden des Aquaeductus mesencephali auf
• Kern von Perlia. Zwischen den beiden Haupt-
der Höhe der Colliculi superiores, die Kerne des N.
kerngebieten des N. III liegt der unpaare Perlia-
IV in Höhe der Colliculi inferiores. Der Nucl. η. VI
Kern. Funktionell ist er an der Innervation des
liegt weiter kaudal im pontinen Abschnitt des Teg-
M. ciliaris beteiligt. Die Fasern des okulomo-
mentums (s. Abb. 5.54, 89).
torischen Kerngebietes verlaufen zusammen
• III. Hirnnerv. Die motorische Kernsäule des mit den parasympathischen Fasern aus den
N. oculomotorius gliedert sich in mehrere Edinger-Westphal-Kernen nach rostral, durch-
Einzelkerne für die inneren glatten und für die ziehen dabei manchmal den Nucl. ruber, um
äußeren quergestreiften Augenmuskeln. So lässt in der Fossa interpeduncularis zwischen Crus
sich ein mediales parasympathisches Kern- cerebri und Tegmentum den Hirnstamm als N.
gebiet mit den Edinger-Westphal-Kernen, oculomotorius zu verlassen (s. Abb. 5.52). Nach
den Nucll. accessorii autonomici (des III. Hirn- Durchtritt durch die Fissura orbitalis superior
nerven), ausmachen. Die parasympathischen zweigen in der Augenhöhle die parasympathi-
viszeromotorischen Fasern verlaufen ipsi lateral schen Nervenanteile ab und ziehen zum Gan-
zu den inneren Augenmuskeln M. ciliaris und glion ciliare. Hier werden die präganglionären
M. sphincter pupillae. Daneben besteht ein auf kurze postganglionäre Fasern umgeschaltet,
beidseits lateral gelegenes größeres motorisches welche in den Bulbus eintreten und in der Cho-
Kerngebiet für die externen Augenmuskeln roidea bis zum Corpus ciliare und zur Iris ver-
(s. Kap. 6.2.1, S. 575): laufen, wo sie die o. g. inneren Augenmuskeln
innervieren (s. Kap. 6.3.1, S. 581).
• M. levator palpebrae superioris und
• M. rectus superior (des ipsilateralen Bulbus),
• M. rectus medialis und M. obliquus inferior
(beider Bulbi) und

Ganglion ciliare

Radix oculomotoria [parasympathica]

Westphal-Edinger-Kern
(M. sphincter pupillae)

Perlia-Mediankern
(M. ciliaris)

Nucleus η. ocufomotorii
(großzelliger Lateralkem)

Nucleus η. trochlears

Fasciculus longitudinals medialis

Nucleus η. abducentis -

kortikales Blickzentrum

Abb. 5.89: Schema der Kerne und Nerven für die glatten und quergestreiften Augenmuskeln. Im Nucl. n. oculo-
motorii liegen die Neurone für: 1. M. levator palpebrae superioris; 2. M. rectus superior; 3. Μ. rectus medialis;
4. Μ. obliquus inferior; 5. M. rectus inferior. Die Verschaltung aus den 6 Unterkernen des Nucl. oculomotorius ist
vereinfacht dargestellt. Die Fasern des Ν. III verlaufen nur teilweise gekreuzt (für M. rectus med. und M. obliquus
inferior), dieFasem zum Ν. IV kreuzen vollständig (vgl. Abb. 5.53), während die Axone aus dem Nucl. η. VI unge-
kreuzt zum Ν. VI zielen (vgl. Abb. 5.54)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
464 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

• IV. Hirnnerv. Das motorische Kerngebiet des zephalons; gleiches gilt für Läsionen im Verlauf
Ν. IV befindet sich kaudal des Okulomotorius- des medialen Längsbündels, Fasciculus longitu-
kerngebiets in Höhe der Colliculi inferiores. dinalis medialis (s. Abb. 5.91). 3. Augenmuskel-
Seine Wurzelfasern ziehen um das zentrale paresen. Oft ist es nur bei akuten Lähmungen
Höhlengrau, die Substantia grisea centralis, eines einzelnen Augenmuskels möglich, mit
herum, verlaufen im Velum medulläre superius Hilfe der neurologisch-topischen Diagnostik
nach kontralateral, um basal der Colliculi inferi- gezielt das geschädigte Kerngebiet oder die
ores als einziger Hirnnerv den Hirnstamm dorsal okulomotorischen Nervenfasern auszumachen,
zu verlassen (s. Abb. 5.50, 5.51 und 5.53). In der weil die Schädigung mit der Zeit teilweise kom-
Augenhöhle erreicht der Ν. IV den M. obliquus pensiert wird. Bei älteren Lähmungen oder sol-
superior, den er innerviert. chen in übergreifenden Kerngebieten benötigt
• VI. Hirnnerv. Das Kerngebiet des N. abducens man zusätzlich ein ausgefeiltes diagnostisches
befindet sich kaudal des Colliculus facialis in Instrumentarium (Maddox-Kreuz oder Hess-
der Fossa rhomboidea des Tegmentum pontis. Schirm). Eine komplette Okulomotoriusparese
Es wird von den Fasern des N. facialis im inne- zieht die Lähmung der von ihm innervierten
ren Fazialisknie umfasst. Seine Fasern treten äußeren Augenmuskeln nach sich. Sie ist durch
zwischen Pons und Medulla oblongata als Ν. drei Symptome gekennzeichnet. Erstens kommt
abducens aus (s. Abb. 5.54). Im Fasciculus lon- es durch die Lähmung des M. levator palpebrae
gitudinalis medialis (s. u.) verlaufende Kollate- zu einem Herabsinken des oberen Augenlids,
ralen bewirken eine Abstimmung der Mm. recti Ptosis. Zweitens besteht eine fixierte Augenstel-
mediales, so dass von einer gekreuzten Inner- lung nach kaudolateral durch ein Überwiegen
vation gesprochen werden kann. Zusammen der Mm. recti lateralis et obliquus superior.
mit der dabei mitwirkenden Paramedianen Drittens findet sich eine Dilatationsstellung der
Pontinen Retikulären Formation (PPRF) und Pupille (Mydriasis) bei fehlendem Lichtreflex
dem Nucl. praepositus (Ν. XII) wird der Nucl. N. und aufgehobener Akkomodation. Hierfür ist
VI auch als selbständiges „pontines Blickzent- die Lähmung der parasympathischen Begleit-
rum" aufgefasst (s. Abb. 5.88). fasern des N. oculumotorius verantwortlich, die
die Mm. sphincter pupillae et ciliaris innervie-
Klinik: 1. Augenbewegungsstörungen sind ren. In vielen Fällen besteht diese Symptomatik
häufig klinisch relevant und haben eine große beidseits, was durch die topographische Nähe
Bedeutung für die neurologisch-topische des rechten und linken Okulomotoriuskernge-
Diagnostik. Es werden Blicklähmungen von biets bedingt ist (s. Abb. 5.52, 90). 4. Störun-
Störungen der Pupillomotorik abgegrenzt. 2. gen der Pupillomotorik sind auch auf Beein-
Blicklähmungen. Bei den Blicklähmungen im trächtigung der Reflexwege zurückzuführen.
engeren Sinn sind die konjugierten Augen- Seitengleich weite Pupillen sind Ausdruck von
bewegungen betroffen und das Blickfeld Mittelhirnläsionen. Eine Seitendifferenz der
eingeschränkt, während meist subjektiv keine Pupillen, Anisokorie, entsteht bei Schädigung
Doppelbilder bestehen. Die Läsionen sind bei der den N. oculomotorius begleitenden para-
diesen Blicklähmungen meist supranukleär, das sympathischen Fasern oder der komplemen-
heißt, sie liegen oberhalb der entsprechenden tären sympathischen Innervation. Wenn alle
Hirnnervenkerne in der Verbindung zwischen Muskeln, die vom N. oculomotorius innerviert
Cortex und Nucleus. Einseitige supranukleäre werden, gelähmt sind, Ophthalmoplegia totalis,
Läsionen führen wegen der bilateralen Verschal- dann handelt es sich zumeist um eine periphere
tung der Kerngebiete selten zu größeren Defek- Lähmung. Ist dagegen nur ein einzelner Muskel
ten der Okulomotorik. Einseitige Läsionen im gelähmt, besteht meistens eine nukleäre Läsion,
Kerngebiet selbst bedingen dagegen, je nach die häufig bilateral ist. 5. Trochlearisparese.
der oben dargestellten Verschattung, entweder Hierbei kommt es vor allem bei Neigung des
ipsilaterale oder kontralaterale Ausfälle. Die Kopfes zur erkrankten Seite zu einer Abwei-
enge Nachbarschaft der Okulomotorius- und chung des Auges nach medial und kranial, da
Trochleariskerne erklärt die oft beträchtlichen der M. obliquus superior im Normalfall neben
Ausfälle bei Läsionen im Bereich des Mesen- der Innenrotation des Bulbus (Ausgleichsbewe-

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 465

Okulomotoriusparese Trochlearisparese Abduzensparese

Blick geradeaus Blick geradeaus


Blick geradeaus
herunterhängendes
Augenlid (Ptosis)

Blick nach links


Blick nach links

Bulbusstand
.Jt>) (Φ
Blick nach rechts
laterokaudal Blick nach links
und Pupillen- - Blick nach rechts
erweiterung
(Mydriasis) ~m> ( Φ Blick nach oben

Blick nach rechts / _ /


^kX
Blick nach unten

Blick nach oben


Bulbusstand
laterokranial
mit Mydriasis mäl·

Blick nach unten

Abb. 5.90: Okulomotorius-, Trochlearis- und Abduzensparese des rechten Auges (nach J. Klingelhöfer/M. Spran-
ger, 1997)

die integrativen Fasern des medialen Längsbün-


gung bei Kopfneigung) auch für die Abduktion
dels, Fasciculus longitudinalis medialis, der die
und die Blickwendung nach unten zuständig ist.
verschiedenen Hirnnervenkerne des Himstammes
Beim Blick des Patienten nach kaudomedial
miteinander verbindet (Abb. 5.91). Der Fasciculus
fallt die lähmungsbedingte Einschränkung am
longitudinalis medialis bildet jedoch kein ein-
meisten auf, weil am gesunden Auge in Adduk-
heitliches Fasersystem, vielmehr treten multiple
tionsstellung die senkende Wirkung des M. obli-
Faserstränge auf unterschiedlichen Ebenen des
quus sup. am größten ist. Um Doppelbilder zu
Himstamms ins mediale Längsbündel ein und aus.
vermeiden, neigt der Patient den Kopf zur kon-
Das mediale Längsbündel liegt beiderseits der Mit-
tralateralen Schulter. 6. Abduzensparese. Eine
tellinie in der Formatio reticularis und erstreckt
Läsion des N. abducens fuhrt zum Einwärts-
sich rostral vom Mesencephalon bis nach kaudal
schielen, Strabismus convergens, da der Patient
in die Medulla oblongata (s. Abb. 5.52, 55, 56).
das Auge nicht mehr nach lateral bewegen kann.
Ansammlungen von Neuronen, die am weitesten
Der Patient vermeidet Doppelbilder, indem er
rostral zwischen den Fasern gelegen sind, werden
den Kopf zur kranken Seite dreht.
als Nucl. interstitialis (Cajal) bezeichnet.
Am Fasciculus longitudinalis medialis lassen sich
Willkürliche und reflektorische Innervation
ein vestibulärer und ein internukleärer Anteile
der Augenmuskeln
unterscheiden. Dabei verbindet der vestibuläre
Beteiligte Strukturen. Die kombinierte Aktion der Anteil die Vestibularis- mit den Augenmuskelker-
einzelnen Muskeln beider Augen führt zu konju- nen, wodurch er das morphologische Korrelat des
gierten (= zugeordneten, gepaarten), fein abgestuf- vestibulookulären Reflexes (VOR, s. u.) bildet.
ten Augenbewegungen. Verantwortlich hierfür sind Der internukleäre Anteil verbindet die einzelnen
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
466 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

willkürliche Blickbewe-
gungen
Sulcus
centralis Verbindung von Area
18 u. 19 zur Area 8

reflektorische
Augenbewegungen

Fasciculus longitudinalis
medialis

vestibuläre
Verbindungen

Bahn für reflektorische Blickbewegungen

von der Retina


k 0 e n d
Ncl. n. III T
Nucleus interstitialis
(Cajal)

Colliculus superior L
Colliculus inferior 1 Corpus geniculatum
laterale

Fasciculus • zum Cerebellum


longitudinalis medialis führend

Nuclei vestibuläres:

Nucleus superior

Nucleus lateralis

pontines Feld für Nucleus medialis


horizontale Blickwendungen Nucleus inferior
(Nucleus praepositus nervi
hypoglossi)
vom Halsmark
kommend
Tractus vestibulospinalis
lateralis

Abb. 5.91: F a s c i c u l u s longitudinalis medialis mit Verschaltung (nach P. Duus, 1990)

Augenmuskelkerne untereinander. Die internukle- Impulse von der Hals- und Nackenmuskulatur dem
ären Neurone liegen verstreut zwischen den Moto- pontinen Zentrum für vertikale Blickbewegun-
neuronen des Nucl. n. abducentis. Sie senden ihre gen zu.
Axone über den Fasciculus longitudinalis medialis • Formatio reticularis (s. Kap. 5.4.9.2, S. 518).
zu den kontralateralen Motoneuronen im Nucl. n. Sie ist mit dem Nucl. praestiticilis, dem Nucl.
oculomotorii zur Versorgung des M. rectus media- commissurae posterioris, dem Nucl. interstiti-
lis (s. Abb. 5.88). Zusätzlich fließen propriozeptive alis und dem Nucl. Darkschewitsch als hori-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 467

zontales Zentrum der Blickbewegungen ein- der Fovea centralis beider Augen fixiert wird. Drei
geschaltet. Durch diese spezifischen Verschat- unterschiedliche Vorgänge sind hierzu notwendig:
tungen können die Augen sowohl willkürlich
1. Konvergenz. Beidseits werden gleichzeitig die
als auch reflektorisch konjugiert bewegt und zur
Mm. recti mediales über die Nn. III innerviert,
Stellung des Körpers hin ausgerichtet werden.
um so das Objekt mit beiden Augenachsen
Die Blickstabilisierung von Eigenbewegungen
fixieren zu können. Hierdurch wird seine Abbil-
des Kopfs oder Körpers wird über den VOR
dung auf korrespondierenden Retinaabschnitten
vermittelt. Dabei reicht der Reflexbogen vom
gewährleistet.
pontomedullären Übergang zum Mittelhirn.
2. Akkomodation. Eine scharfe Abbildung naher
Weitere VestibularisafFerenzen stehen über den
Objekte auf der Netzhaut wird durch Kontrak-
Fasciculus longitudinalis medialis mit den oku-
tion des M. ciliaris, nach Innervation durch den
lomotorischen Hirnnerven in Verbindung, wobei
parasympathischen Anteil des N. III, erreicht,
eine durch Kopfbewegung ausgelöste Reizung
so dass die Linsenspannung nachläst und sie
der Bogengänge des Labyrinths zu einer reflek-
sich passiv abrunden kann. Beim Blick in die
torisch-kompensatorischen Augenbewegung
Ferne erschlafft der M. ciliaris und die Linse
führt.
wird durch die Zugkräfte der elastischen Bruch-
Membran erneut abgeflacht (s. Kap. 6.1.2.2,
Klinik: 1. Die Prüfung des vestibulookulären S. 561).
Reflexes (VOR) durch Kaltwasserspülung des
3. Pupillenverengung. Die Pupille verengt sich,
äußeren Gehörgangs erlaubt am bewusstlosen
ähnlich der Blende einer Fotokamera, um die
Patienten Hinweise auf Komatiefe und Lokali-
Bildschärfe auf der Retina zu erhöhen. Ihre
sation einer Hirnstammschädigung zu erhalten.
Motilität wird durch den vom N. oculomoto-
Physiologisch kommt es zu einem Nystagmus
rius parasympathisch innervierten Μ sphincter
nach kontralateral, der in tiefen Komastadien
pupillae und den vom Sympathicus innervierten
abwesend ist. Ist im tiefen Koma der Hirnstamm
M. dilatator pupillae gewährleistet (s. Abb.
intakt, erfolgt eine tonische Augenbewegung
6.15, S. 562).
zum gespülten Ohr hin. 2. Zwischen den
Hirnnervenkemen besteht eine Vielzahl von Diese 3 Vorgänge werden reflektorisch ausgelöst,
Reflexbögen, die insbesondere in der Formatio wenn sich ein Gegenstand im Gesichtsfeld plötz-
reticularis generiert und koordiniert werden. lich nähert. Die Sehimpulse verlaufen hierbei affe-
Wenn sich der M. rectus lateralis kontrahiert, rent zur Sehrinde, um dann efferent über die Area
sorgen die internukleären Neurone dafür, dass praetectalis zum parasympathischen Perlia-Kern
sich komplementär der M. rectus medialis des und anschließend zu den Edinger-Westphal-Kernen
kontralateralen Auges ebenfalls kontrahiert. zu gelangen. Von dort erreichen sie über das Gan-
Sind die Fasern des Fasciculus longitudinalis, glion ciliare den M. ciliaris für die Akkomodation
etwa bei Multipler Sklerose oder lakunären sowie den M. sphincter pupillae für die Pupillen-
Hirnstamminfarkten, geschädigt, entsteht das verengung. Diese Verbindungen weisen aber eine
Krankheitsbild der internukleären Ophthalmo- unterschiedliche Topographie auf und können
plegie. Bei einseitiger Schädigung tritt ein mon- isoliert voneinander ausfallen. Die Konvergenz
okularer Nystagmus auf. Da die Fasciculi beider der Augäpfel wird über die äußeren Augenmuskeln
Seiten jedoch eng benachbart sind, entsteht realisiert.
meist ein doppelseitiges Krankheitsbild, wobei
es sich bei den hier beschriebenen neurologi- Klinik: Bei der Neurosyphilis und anderen
schen Krankheitsbildern in der Hauptsache um Krankheitsprozessen des Tectums (Encephalitis,
horizontale Ausfallerscheinungen handelt. Multiple Sklerose, Tumor) findet sich ein Synd-
rom, das als Argyll Robertson-Pupille bezeich-
net wird: Es ist durch eine erloschene Lichtre-
Konvergenz- und Akkomodationsreaktionen
aktion gekennzeichnet, wobei Konvergenz und
Beim Fixieren eines nahe gelegenen Objektes Akkomodation jedoch intakt bleiben.
werden die Augen unwillkürlich durch reflektori-
sche Vorgänge so ausgerichtet, dass das Objekt auf

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
468 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

• Pupillenreflex. Lichteinfall auf die Netzhaut


Phänomen wird als reflektorische Pupillenstarre
fuhrt zu einer Anpassung der Pupillenweite,
(ähnlich der Argyll Robertson-Pupille) bezeich-
wobei Helligkeit eine Pupillenverengung und
net. Bei einer Läsion des efferenten Schenkels,
Dunkelheit eine Pupillenweitung bewirkt. Der
vom Okulomotoriuskerngebiet zu den inneren
Pupillenreflex reguliert durch diese Anpas-
Augenmuskeln, fehlt ebenfalls die Überleitung
sungsreaktionen die Lichtmenge, um einerseits
entsprechender Impulse, was zum Ausfall der
die Fotorezeptoren vor einer Blendung zu schüt-
Licht- und Naheinstellungsreaktion am betroffe-
zen und um andererseits Objekte im Gesichts-
nen Auge führt. Die Pupillenreaktion wird nicht
feld schärfer („tiefenschärfer") auf der Netzhaut
nur vom Lichteinfall ins Auge bedingt, sondern
abbilden zu können. Der Pupillenreflex verläuft
kann auch durch extraokuläre Reize, wie starke
im afferenten Schenkel (Retina, N. opticus,
Schmerzen oder psychische Erregung, hervor-
Chiasma opticum, Tractus opticus) zu den Colli-
gerufen werden.
culi superiores. Diese weisen eine sechsschich-
tige Zytoarchitektonik auf, wobei in die oberen
Schichten Afferenzen aus Retina und visuellem • Sympathische Augeninnervation. Das Sym-
Cortex eingehen. Die tiefen Schichten der Col- pathicus-Kerngebiet, Centrum ciliospinale,
liculi superiores nehmen Projektionen aus den liegt im Cornu laterale des Rückenmarks in der
oberflächlichen Schichten auf und dienen haupt- Höhe von C8 bis Th 2. Von hier aus erreichen
sächlich der Integration der Sinnesdaten, wobei Fasern über den Halsgrenzstrang das Ganglion
sie Verbindungen multimodaler und motorischer cervicale superius, wo eine Umschaltung auf
Eingänge herstellen. Nach den Colliculi superi- postganglionäre Fasern erfolgt. Anschließend
ores verläuft der Pupillenreflex weiter über die verlaufen die sympathischen Fasern gemein-
Area praetectalis, die o. g. Schaltstationen in sam mit der A. carotis interna nach kranial,
Mittel- und Stammhirn und von dort im efferen- um mit der A. ophthalmica in die Augenhöhle
ten Schenkel zum Auge (über die Nucll. n. ocu- einzutreten. Dort gelangen sie über die Arte-
lomotorii Edinger Westphal, N. oculomotorius, rien im Inneren des Bulbus oculi bis in die Iris
Ganglion ciliare und Nn. ciliares breves zum zum M. dilatator pupillae, den sie innervieren
M. sphincter pupillae). (s. Kap. 6.1.3, S. 573). Außerdem ist der Sym-
pathicus in dieser Region für die Innervation
des M. tarsalis superior (Müller-Muskel) und
Klinik: Eine Störung des Pupillenreflexes des M. tarsalis inferior, des M. orbitalis (in der
(s.Kap. 6.1.3, S. 567) kann in sämtlichen Knochenhaut der Fissura orbitalis inferior), der
Abschnitten des Reflexverlaufes auftreten. Bei Schweißdrüsen sowie der Gefäße der entspre-
Unterbrechung des efferenten Schenkels im chenden Gesichtshälfte verantwortlich.
Verlauf des N. oculomotorius oder durch Schä-
digung des Ganglion ciliare können Impulse
Klinik: Eine Läsion der zentralen Sympathi-
aus den Edinger-Westphal-Kernen nicht mehr
kusbahn (Tractus hypothalamospinalis), des
zum M. sphincter pupillae fortgeleitet werden.
Centrum ciliospinale, des Halsgrenzstrangs, des
Hieraus resultieren eine Mydriasis (weite
Ganglion cervicale superius oder im Verlauf der
Pupille) durch Überwiegen der sympathischen
postganglionären sympathischen Fasern fuhrt
Innervation sowie ein fehlender Lichtreflex;
zum so genannten peripheren Horner-Syndrom.
vollkommene Erblindung des Auges führt zu
Es ist durch eine Symptomentrias bestimmt:
amaurotischer Pupillenstarre. Dennoch kann
Herabhängen des Oberlides (Ptosis palpebrae)
vom gesunden Auge her der Pupillenreflex auf
durch Ausfall des M.. tarsalis superior, eine enge
beiden Augen ausgelöst werden. Sind beide
Pupille (Miosisj durch Ausfall des M. dilatator
Augen erblindet, so lässt sich immer noch
pupillae und Übergewicht des M. sphincter
durch die Konvergenzreaktion der Bulbi eine
pupillae sowie einen tiefliegenden Bulbus
Pupillenverengung herbeiführen. Ist die Area
(Enophthalmus) durch Ausfall des M. orbitalis.
praetectalis des Mittelhirns geschädigt, kommt
Zusätzlich können eine Anhidrosis sowie eine
es ebenfalls zum Ausfall der Lichtreaktion,
Vasodilatation in der betroffenen Gesichtshälfte
obwohl beide Augen sehen und die Pupillen sich
hinzutreten. Ein zentrales Hornersyndrom
bei Naheinstellung verengen können; dieses
kommt beim Infarkt der A. cerebelli posterior
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 469

inferior (Wallenberg-Infarkt) vor. Hierbei beste-


um dort insbesondere mit der Motorik, aber auch
hen zusätzlich eine ipsilaterale Ataxie sowie
mit vegetativen Zentren, integriert zu werden.
eine dissoziierte Sensibilitätsstörung der kontra-
Das Vestibularsystem (Gleichgewichtsorgan;
lateralen Körperhälfte.
s. Kap. 7.2, S. 611) ist für die Übermittlung
von Informationen über Kopfposition und
• Optischer Schutzreflex. Bei überraschendem
-bewegung im Raum verantwortlich. Über seine
Auftauchen eines visuellen Objekts kommt es
Verbindungen zur Motorik sorgt es für die Auf-
reflektorisch zu einem schützenden Lidschluss.
rechterhaltung des Körpergleichgewichts und
Die afferenten Impulse dieses Reflexes gelangen
trägt zur Beeinflussung vegetativer Funktionen
von der Retina über die Lamina tecti und den
bei. Es ist in die Steuerung der Augenmuskeln
Tractus tectonuclearis zum Fazialiskemgebiet,
mit einbezogen. Außerdem bestehen Verbindun-
da der N. facialis für die Innervation der Mm.
gen mit der Motorik über Kerne in der Formatio
orbiculares oculi beider Seiten und damit für
reticularis sowie eine enge Koordination mit
den Lidschluss verantwortlich ist. Ebenfalls
dem Kleinhirn.
können Impulse über tektospinale Fasern die
Vorderhornzellen des Halsmarks erreichen, um
Im Rahmen der neuroanatomischen Erörterung des
durch Innervation der Hals- und Nackenmus-
auditorischen und des vestibulären Systems wird,
kulatur das schützende Abwenden des Kopfs
wie auch schon im vorherigen Abschnitt, nur kurz
auszulösen.
auf die jeweiligen Sinnesorgane, wie Bogengänge
• Begleitende Lidbewegung. Die Größe der
und Macula oder das Corti-Organ eingegangen
Lidspalte wird auf dem gleichen Weg der Posi-
(s. Kap. 7.2, S. 611). Die statische Funktion des
tion der Bulbi angepasst. Beim Blick nach oben
vestibulären Systems wird mit dem Kleinhirn in
hebt sich das Lid, beim Blick nach unten senkt
Kap. 5.4.8 besprochen.
es sich.

5.4.3 Auditorisches (akustisches) 5.4.3.2 Spiralorgan, Corti-Organ, Organum


und vestibuläres System spirale und Hörnerv, N. cochlearis
(s. Kap. 7.2.2.2, S. 620)
Lernziele: Corti-Organ, Hörbahn, auditiver
Das Corti-Organ besitzt sowohl Afferenzen als
Cortex: Bau und Funktion, vestibuläres System,
auch Efferenzen.
afferente und efferente Bahnsysteme
Afferenzen. Die 30 000 bis 40 000 bipolaren
Nervenzellen des Ganglion spirale bilden die
5.4.3.1 Definition afferenten Neurone, welche die Erregungen der
äußeren Haarzellen dendritisch aufnehmen und
Das auditorische und das vestibuläre System stel- axonal weiterleiten. Sie stellen also das 1. Neuron
len phylogenetisch sehr alte Systeme dar, die zwar der Hörbahn dar. Ab dem Eintritt in den Modiolus
morphologisch eng benachbart sind, aber beim (s. Kap. 2.1.3, S. 17) sind die Fortsätze der bipo-
Menschen unterschiedliche Funktionen erfüllen. laren Ganglienzellen von Markscheiden umgeben,
Wie das visuelle System bestehen auch diese sen- wobei sie am Fundus meatus acustici interni des
sorischen Systeme aus rezeptiven und integrativen Felsenbeins den N. cochlearis ausbilden. Dieser
Anteilen, die in den jeweiligen Abschnitten näher tritt gemeinsam mit dem N. vestibularis am Klein-
besprochen werden. hirnbrückenwinkel in den Hirnstamm ein (s. Abb.
5.51, 54, 58), wo es zu einer Trennung der Fasern
Das auditorische System (Hörorgan; s. Kap. des N. cochlearis kommt. Ein Teil der Axone endet
7.1, S. 593) dient der Schallaufnahme und im Nucl. cochlearis posterior, der andere Teil im
-analyse. Dabei werden die rohen Sinnesdaten Nucl. cochlearis anterior. Die Neurone dieser
in einer tonotopen Anordnung sowohl über den beiden Kerngebiete bilden das 2. Neuron der
Hörnerven zum Cortex geleitet als auch über Hörbahn. Sie liegen lateral der Kerngebiete des N.
Kollateralfasern in den Hirnstamm projiziert.
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
470 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

vestibularis an der breitesten Stelle im Boden der 5.4.3.3 Hörbahn


Rautengrube (s. Abb. 5.54 und 5.56-58).
Zu den zentralen Schaltstellen der Hörbahn
Efferenzen. Die Efferenzen zu den Haarzellen des
zählen:
Corti-Organs werden vom Tractus olivocochlearis
(Rasmussen-Bündel) gebildet, der vom Nucl. oli- Kochleariskerne, Nucl. cochlearis anterior und
varis superior aus über den N. cochlearis ins Corti- Nucl. cochlearis posterior,
Organ gelangt. Der Nucl. olivaris superior stellt
Obere Olive, Nucl. olivaris superior,
ein kleines Kerngebiet lateral des Trapezkörpers
dar. Die den Nucl. olivaris superior erreichenden Trapezkörperkerne, Nucll. corporis trapezo-
Informationen aus den Nucll. cochleares werden idei anterior et posterior,
zu den Haarzellen zurückgesandt und können ihre
Kerne der lateralen Schleife, Nucll. lemnisci
Empfindungsfahigkeit modulieren. Experimentell
lassen sich durch Reizung des Tractus olivococh- laterales,
learis Impulse des Hörnerven abschwächen. Im Untere Hügel, Colliculi inferiores der Lamina
Allgemeinen dienen die efferenten Anteile der tecti,
Hörbahn der Filterung und Adaptation akusti-
scher Sinnesdaten, so etwa dem Heraushören von Corpus geniculatum mediale (CGM) des
bestimmten Signalen aus Hintergrundgeräuschen Metathalamus sowie
bzw. Umgebungslärm. Hörrinde, auditiver Cortex im Lobus tempo-
ralis.
Gyrus temporalis
superior

(kreuzende Hörbahnfasern) Nervus


cochlearis

Abb. 5.92: Schema der Hörbahn; „ventrale Hörbahn" = schwarz, „dorsale Hörbahn = blau und Tractus olivococh-
learis = rot; Kerngebiete der Formatio reticularis = schwarz gepunktet. Vom ventralen Kern kreuzt eine Faser-
platte, Corpus trapezoideum, zum Lemniscus lateralis, in die die Kerngebiete der oberen Olive und des Nucl.
corporis trapezoidei eingelagert sind
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 471

Diese Strukturen sollen im Folgenden unter Zuord-


Klinik: Die Untersuchung der unteren Hör-
nung zu den Hauptkerngebieten der Hörbahn, Nucl.
bahnabschnitte, beginnend vom Hörnerven bis
cochlearis posterior und Nucl. cochlearis anterior,
zum Mesencephalon, wird mittels akustisch
besprochen werden:
evozierter Potenziale (AEP) durchgeführt. Nach
• Nucl. cochlearis posterior (dorsalis), dorsale Reizgabe per Kopfhörer werden über beiden
Hörbahn. Die von den Perikarya der Neurone Processus mastoidei die unterschiedlichen
im Nucl. cochlearis posterior (2. Neuron) Latenzen bestimmt, welche auch getrennt als
ausgehenden Axone ziehen als Stria acustica Kochleogramm abgelesen werden können. Mit
dorsalis oberflächlich über den Boden der Fossa dieser Untersuchung lassen sich häufig Läsionen
rhomboidea, wobei sie sich kaudal den Striae im Kleinhirn-Brücken-Winkel (Akustikus-Neu-
medulläres ventriculi quarti anlagern. Sie kreu- rinom) oder im Himstamm (Multiple Sklerose)
zen größtenteils in der Tiefe auf die Gegenseite, nachweisen.
wo ein kleiner Teil der Fasern in den Nucli
corporis trapezoidei anterior et posterior und • Kollateralfasern. Von den höheren subkorti-
im Nucl. olivaris superior umgeschaltet wird. kalen Zentren der Hörbahn, insbesondere aus
Teilweise ziehen sie direkt als Lemniscus latera- den Colliculi inferiores, gelangen kollaterale
lis weiter. Alle Fasern verlaufen dann als laterale Fasern zur kontralateralen Seite zurück (s. Abb.
Schleife, Lemniscus lateralis, zum Colliculus 5.92). Sie ziehen durch das Mesencephalon, das
inferior des Mesencephalon, wobei in den Nucli Rhombencephalon und als Tractus tectospinalis
lemnisci laterales ein zusätzliches Neuron ein- bis ins Rückenmark zu den motorischen Neu-
geschaltet sein kann. Anschließend projiziert ronen, deren Muskelinnervation Bewegungen
das 3. Neuron (oder 4.) durch das Brachium der Augen oder des Kopfs zur Schallquelle hin
colliculi inferioris zum CGM des Diencephalon. ermöglichen („Zuwendereflex" oder „akustische
Nach der Umschaltung auf die 4. Neurone pro- Reflexbahn"). Zusätzlich sind Neurone der For-
jizieren deren Axone als Hörstrahlung, Radiatio matio reticularis zu den eigentlichen Fasern der
acustica, zur primären Hörrinde des temporalen Hörbahn parallel geschaltet.
Cortex (Brodmann-Areale 41 und 42, s. Abb.
5.23,92, 127, 128). Klinik: Schäden des Innenohres. 1.1 Bei
• Nucl. cochlearis anterior (ventralis, ventrale einseitiger Destruktion des Ganglion spirale
Höhrbahn). Die Neuriten der Perikarya dieses der Cochlea oder auch der Nucli. cochleares
Kerns ziehen als Corpus trapezoideum zu kommt es zu ipsilateraler Taubheit. 1.2 Wenn
kontralateralen Trapezkörperkernen oder zur einseitig höhere subkortikale oder kortikale
oberen Olive. Sie nehmen danach den gleichen Zentren betroffen sind, entsteht demgegenüber
Verlauf im kontralateralen Lemniscus lateralis keine vollständige (kontralaterale) Taubheit,
wie der dorsale Anteil der Hörbahn. Lediglich da nicht alle Fasern der Hörbahn kreuzen. 2.1
ein kleinerer Teil der ventralen Hörbahn gelangt Nicht nur tumoröse oder traumatische Ursachen
ipsilateral über die oben genannten Zentren zum vermögen die bipolaren Zellen des Corti-Organs
primären akustischen Cortex. zu zerstören, sondern auch funktionelle. So
kommt es insbesondere bei Durchblutungsstö-
Kreuzende Fasern der Hörbahn bilden im Rhombence-
phalon den quer zwischen Tegmentum und Pons liegen-
rungen der A. labyrinthi zum Krankheitsbild des
den Trapezkörper, C o r p u s trapezoideum (s. Abb. 5.92). Hörsturzes, der mit oder ohne Ohrgeräusche,
Die teilweise Kreuzung der Fasern ist Voraussetzung für Tinnitus, auftreten kann. 2.2 Die Haarzellen
das Richtungshören. Durch die Konvergenz der Sinnes- des Corti-Organs werden durch Dauerlärm mit
daten beider Seiten können bereits auf Hirnstammebene, Schalldrücken über 90 Phon irreversibel zerstört
vor allem im Nucl. olivaris superior und im Colliculus (berufsbedingter Lärm, Rock-Konzerte und Dis-
inferior, die unterschiedlichen Informationen beider kotheken, Walkman etc.): Lärmtaubheit. 3. Seit
Seiten verrechnet und zum Eindruck des räumlichen ca. 10 Jahren werden bei Läsion des Corti-
Hörens integriert werden.
Organs bzw. bei Destruktion der dort endigen-
den bipolaren Neurone Mikrophone implantiert
und mit dem N. cochlearis verbunden. Derartige

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
472 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Anterolateral liegen eher tiefe Frequenzen (ab


Cochlea-Imptantate dienen somit im Sinne
200 Hz) und posteromedial vermehrt hohe Fre-
eines direkten Akustikwandlers als Prothese des
quenzen (bis 20 000 Hz). Ähnlich dem primären
Corti-Organs.
somatosensiblen (Areae 1, 2, 3) oder dem visuel-
len Cortex (Area 17) bildet die primäre Hörrinde
(Area 41) ein morphologisches Areal, das für die
5.4.3.4 Hörrinde, Auditiver Cortex Primärwahrnehmung roher, im Falle der Hörrinde
akustischer Sinnesdaten verantwortlich ist. Dieser
• Primäre Hörrinde (Funktionell: A l , oder Wahrnehmungsmodus scheint sich relativ interpre-
zytoarchitektonisch: Brodmann-Areal 41; die- tations- und integrationsfrei abzuspielen.
ses und die nachfolgend erwähnten Brodmann-
Reizexperimente der primären Hörrinde haben bei
Areale s. Abb. 5.129). In der Tiefe des Sulcus
Probanden oder Patienten lediglich zur subjektiven
lateralis bzw. in der Rinde des Operculum
Wahrnehmung einzelner Lautfrequenzen (Töne)
temporale liegen zwei bis vier Hirnwindungen,
geführt. Es wurden keine größeren syntaktischen
die quer zu dem lateral sichtbaren Gyrus tempo-
Einheiten, wie Worte oder Sätze, und auch keine
ralis superior verlaufen. Diese Gyri temporales
melodischen Anteile wahrgenommen.
transversi werden nach ihrem Erstbeschreiber
Heschl-Querwindungen genannt (s. Abb. 5.23 • Sekundäre Hörrinde (Funktionell: A2, oder
und 93). Hier endet die Hörstrahlung, Radiatio zytoarchitektonisch: Brodmann-Areale 22
acustica, welche die Hauptafferenz der primä- und 42). Im Gyrus temporalis superior und
ren Hörrinde darstellt. dorsal anschließenden Rindenarealen liegt das
sekundäre Hörzentrum gemeinsam mit dem sen-
In jeder Hemisphäre werden Signale beider sorischen Sprachzentrum (s. Abb. 5.131). Letz-
Ohren verarbeitet, wobei jedoch die Signale teres wird auch als Wernicke-Sprachregion
der kontralateralen Seite überwiegen. Jede bezeichnet. Die sekundäre Hörrinde empfangt,
Tonfrequenz besitzt ein korrespondierendes analog der sekundären Sehrinde, größtenteils
Kortexareal. Afferenzen aus der primären Hörrinde, die aber
nicht mehr tonotop gegliedert sind. Daneben
Physiologische Experimente haben ergeben, dass laufen ihr auch Afferenzen aus dem CGM zu.
die afferenten Fasern der Hörbahn und der Area Die integrative und interpretative Verarbeitung
41 tonotop (oder: cochleotop) angeordnet sind. akustischer Signale hat hier ihre hauptsächliche

Lobus insularis

Sulcus lateralis

A2 (Areae 22 + 42)

- A1 (Area 41)

s
v Gyrus temporalis
superior

— Lobus temporalis

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 473

Lokalisation. In den nachgeschalteten Hörrin- 5.4.3.5 Afferenzen der Vestibulariskerne


den werden größere syntaktische Einheiten aus
kleineren zusammengesetzt und semantische In den Ampullen der Bogengänge sowie in den
Einheiten, wie Wörter oder Melodien, explizit Maculae von Sacculus und Utriculus des Laby-
wahrgenommen. Im Temporallappen liegt auch rinthorgans liegen die sensorischen Rezeptorzel-
der Bereich für das akustische Erinnerungsver- len des vestibulären Systems, die Haarzellen der
mögen. Maculae staticae und der Cristae ampullares
• Afferente Verbindungen der sekundären Hör- (s. Kap. 7.2.2, S. 615).
rinde. Der akustische Cortex erhält Afferenzen
insbesondere aus dem Gyrus angularis, der Der charakteristische Reiz für die Sinneszellen
außerdem eine wichtige Rolle für die Integration der Bogengänge sind Drehbeschleunigungen
visueller Reize mit Gedächtnisleistungen und des Kopfs, während die Sinneszellen des Saccu-
sprachlichen Äußerungen zu besitzen scheint. lus und des Utriculus auf Linearbeschleunigun-
So erhält der Gyrus angularis die Mehrzahl gen und auf die Schwerkraft reagieren.
seiner afferenten Zuflüsse aus dem Bereich der
sekundären Sehrinde. Aufgrund der afferenten Die Perikarya des ersten Neurons liegen im Gan-
Faserverbindungen mit dem sekundären Hör- glion vestibuläre, wobei sich im kraniodorsalen
zentrum wird dem Gyrus angularis rechts die Teil des Ganglions die Perikarya der die Ampullae
Leistung des Erinnerns von Tönen, links die des anterior et lateralis versorgenden Neurone befin-
Hörvergleichs mit gesprochener Sprache zuge- den. Im rostrobasalen Bereich liegen hingegen die
schrieben. Bei der engen strukturellen und funk- Perikarya, die den Sacculus, den Utriculus und die
tionellen Verschränkung von Sprache und Hören Ampulla posterior versorgen. Somit ergibt sich
beim Menschen resultieren aus pathologischen auch für das Ganglion vestibuläre eine somatoto-
Prozessen in diesen Rindenbereichen vielfältige pische Anordnung. Die zentripetalen Fortsätze des
neuropsychologische Symptome, wie Probleme ersten peripheren Neurons der Gleichgewichtsbahn
des Sprachverständnisses, Wortfindungsstörun- verlaufen als Pars vestibularis im VIII. Hirnnerven
gen oder Leseschwäche. Sie werden von den zum Kleinhirnbrückenwinkel.
Patienten meist bewusst als Störung erlebt und
deshalb als sehr belastend empfunden. Die zentripetalen Fortsätze des N. vestibulo-
cochlearis enden am Boden der Fossa rhombo-
Klinik: Eine linksseitige, totale Destruktion der idea in der Area vestibularis in vier Vestibula-
sekundären Hörzentren führt zu Seelentaubheit, riskerngruppen: Nucl. vestibularis superior
auditiver Agnosie, das heißt zur Unfähigkeit, (Bechterew-Kern), Nucl. vestibularis medialis
Worte, Töne, Geräusche etc. zu verstehen. Neuro- (Schwalbe-Kern), Nucl. vestibularis lateralis
psychologisch wird davon ausgegangen, dass (Deiters-Kern) und Nucl. vestibularis inferior
die akustischen Engramme, die für das Erken- (Roller-Kern). Zusätzlich besteht eine direkte
nen notwendig sind, bei diesem pathologischen Projektion von Fasern aus dem Ganglion vesti-
Prozess verlorengehen. Dies ist insbesondere buläre zum Lobus flocculonodularis cerebelli.
bei Verschluss oder Ruptur der A. temporalis
posterior, einem Ast der A. cerebri media, der Die Nucll. vestibuläres liegen an der breitesten
Fall (s. Kap. 5.3.4.1). Stelle im Boden der Fossa rhomboidea (s. Abb.
5.50, 54, 56, 57 und 94). Der Nucl. vestibularis
• Efferente Verbindungen der sekundären lateralis erhält primäre vestibuläre Afferenzen aus
Hörrinde. Das Wemicke-Areal des akustischen der Macula utriculi. Demgegenüber erhalten der
Cortex ist efferent mit zahlreichen anderen Nucl. vestibularis medialis und der Nucl. vesti-
kortikalen Assoziationsfeldern verbunden. bularis superior ihre Afferenzen vornehmlich von
So bestehen insbesondere Verbindungen über den Cristae ampullares der Bogengänge. Schließ-
Assoziationsfasern zum motorischen Broca- lich ist der Nucl. vestibularis inferior afferent mit
Sprachzentrum in der Pars triangularis gyri den Maculae utriculi und sacculi verbunden.
frontalis inferioris (s. Kap. 5.4.10.2).

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
474 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Nuclei nervi oculomotorii

Nucleus nervi externe Augenmuskulatur

cochlearis """ — _

Fasciculus longitudinals
medialis

Nucl. nervi
Vestibularorgan
abducentis,

Nucl. vestibularis sup.


(Bechterew) -

Nucl. vestibularis lat.


(Deiters)

Nucl. vestibularis med.


(Schwalbe)

Nucl. vestibularis inf.


(Roller)

Tractus vestibulo-
spinalis

Muskelspindelapperate

Substantia grisea
medullae spinalis

Abb. 5.94: Kontrolle der Augenstellung durch Auswertung der Informationen im vestibulären System (nach
K. Zilles 1984)

Klinik: Die Informationseingänge aus den • den Kleinhirnhemisphären (dem Nodulus


Bogengängen sind insbesondere für die Kon- des Vermis und dem Flocculus, die Gleichge-
trolle der Augenbewegungen notwendig, damit wichtssignale verarbeiten und deshalb auch als
bei Kopfbewegungen gewährleistet werden Vestibulocerebellum bezeichnet werden),
kann, dass die optischen Achsen beider Bulbi • den α - und γ-Motoneuronen des Rückenmar-
auf das Objekt gerichtet bleiben. Die Vestibula- kes über den ipsilateralen Tractus vestibulospi-
riskerne und ihre Reflexbögen bilden auch die nalis,
Grundlage des vestibulären Nystagmus (s. Kap. • den Augenmuskelkernen über den Fasciculus
5.4.2.4). longitudinalis medialis,
• den Kernen der Formatio reticularis und
• ventralen Anteilen des Thalamus.
5.4.3.6 Efferenzen der Vestibulariskerne • Verbindungen mit dem Kleinhirn. Mit dem
Kleinhirn sind die Vestibulariskerne über den
Das zweite Neuron des vestibulären Systems liegt
Pedunculus cerebellaris inferior verbunden.
in den Vestibulariskernen. Die Neurone der Nucll.
Ein Teil der Fasern aus den Nucll. vestibuläres
vestibuläres sind mit ihren Axonen verbunden mit:
superior, medialis et inferior gelangt ipsilateral
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 475

• Tractus vestibulospinalis medialis. Dabei


bilden die Efferenzen hauptsächlich des Nucl.
medialis den Tractus vestibulospinalis medialis,
der sein Terminationsgebiet an den Motoneuro-
- Fase, longitudinalis medialis nen der Nackenmuskulatur im Zervikalmark hat.
- Ncl. n. oculomotorii Auf diesem Wege können Augen- und Kopfbe-
wegungen miteinander abgestimmt werden.
• Tractus vestibulospinalis lateralis. Die Effe-
renzen des Nucl. vestibularis lateralis bilden
- Ncl. n. trochlears
den Tractus vestibulospinalis lateralis, der bis
ins Sakralmark reicht. Sein Terminationsgebiet
Nell, vestibuläres
stellen (über weitere Interneuronen vermittelt)
medialis
die α - und γ-Motoneurone der Extensorenmus-
superior kulatur von Rumpf und Extremitäten dar. Der
lateralis Tonus der Extensoren wird erhöht, während der
inferior
der Flexoren vermindert und somit die Standsi-
cherheit verbessert wird. Hierdurch können über
Ncl. n. abducentis den Tractus vestibulospinalis lateralis Stand und
Fase, longitudinalis Gang bzw. die feinere Abstimmung der Extre-
medialis mitäten- zu den Rumpfbewegungen beeinflusst
werden.
Tr. v e s t i b u l o s p i n a l lat.
Noch im Vestibulariskerngebiet kommt es zu einer
Tr. vestibulospinal^ med.
im Fase, sulcomarginalis Konvergenz mit Signalen von Kol lateralfasern aus
dem Tractus spinocerebellaris posterior. Diese
Fasern vermitteln Informationen des propriozepti-
ven Systems über die Stellung der Extremitäten im
Fase, sulcomarginalis
Raum, was für die Koordination der Extremitäten
von großer Wichtigkeit ist. Gleichzeitig sind die
Abb. 5.95: Efferenzen der Vestibulariskerne
Neurone der Nucll. vestibuläres laterales direkt mit
Efferenzen aus dem Vermis cerebelli verbunden,
zu archi- und paläozerebellären Anteilen des welcher die Feinabstimmung des Tonus der axialen
Kleinhirns (Lobus flocculonodularis, s. Kap. Muskulatur bewirkt.
5.4.8, S. 509). Dabei erreichen den Flocculus
• Verbindungen mit den Kernen der Okulomo-
neben ipsilateralen auch kontralaterale Zuflüsse,
torik. Efferente Fasern der Nucll. vestibuläres,
die dem zerebellären Moosfasersystem zuzu-
insbesondere aus dem Nucl. vestibularis infe-
rechnen sind. Des weiteren ziehen Fasern aller
rior, gelangen aufsteigend über den Fasciculus
drei Kerne zum Nucl. olivaris inferior, von
longitudinalis medialis ipsi- und kontralateral
dem aus das Kletterfasersystem das Kleinhirn
zum Nucl. n. III. Ausschließlich kontralateral
erreicht. Umgekehrt projizieren die Purkinje-
wird der Nucl. η. IV erreicht, während die Nucll.
Zellen des Lobus flocculonodularis direkt als
η. VI ipsi- und kontralateral innerviert werden.
kortikovestibuläre Fasern zu den Vestibularis-
Aus den letztgenannten Kernen kreuzen jeweils
kernen. Dabei versorgen sie insbesondere dieje-
kontralaterale Fasern auf die Nucll. n. III zurück
nigen Kerngebiete, die ihrerseits Fasern zu den
(s. Kap. 5.4.2.4). Solche Schaltmuster lassen
Kemgebieten der Nerven der äußeren Augen-
sich schwer merken; sie können aber klinisch
muskeln entsenden, weniger jedoch Kerngebiete
relevant sein und sind deshalb hier zum Nach-
des Tractus vestibulospinalis.
schlagen angeführt (s. Abb. 5.96).
• Verbindungen mit dem Rückenmark. Effe-
rente Bahnen erreichen auch das obere Rücken-
mark über den Fasciculus longitudinalis medi-
alis, dessen Fasern aus den Nucll. vestibuläres
superior, medialis et inferior hervorgehen.
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
476 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Areae 2 und 3 Areae 2 und 3 Cortex cerebri

t
Nucleus Nucleus
ventralis ventralis Diencephalon
posterior posterior
thalami thalami

t ί Nucleus η. HI Nucleus n. HI
t I Himstamm

Nucleus η. IV Nucleus η. IV

Nucleus η. VI Nucleus η. VI

Γ" +T Τ
Nucleus Nucleus Nucleus Nucleus Nucleus Nucleus Nucleus Nucleus
vestibularis vestibularis vestibularis vestibularis Fasciculus vestibularis vestibularis vestibularis vestibularis
lateralis superior inferiq medialis ^ longitudinalis medialis inferior superior lateralis
Γ medialis

Nucleus inter Nucleus inter-


stitialis rostralis stitialis rostralis
FLM FLM
Nucleus inter- Nucleus inter-
stitialis CAJAL stitialis CAJAL

Nucleus prae- Nucleus prae-


positus n. XII positus η XII

Cerebellum
Cerebellum Cerebellum

Medulla spinalis
Medulla spinalis Medulla spinalis

Abb. 5.96: Schematische Darstellung der wichtigsten zentralen Leitungsbahnen des Gleichgewichtssystems

Klinik: Die efferenten Bahnsysteme, die zum pontine Blickzentrum dar. Darüber hinaus ist
Teil nicht mehr als 2 synaptische Unterbre- der Nucl. interstitialis auch Ursprungsgebiet des
chungen aufweisen, fuhren zu einer besonders kleinen Tractus interstitiospinalis mit seinen
effektiven und schnellen Kontrolle der Oku- zum Rückenmark hin absteigenden Bahnen. Der
lomotorik durch Gleichgewichtssignale. So Nucl. praepositus (Ν. XII) hat mit dem N. hypo-
bleiben im Kippversuch eines Patienten auf glossus keine funktionellen Gemeinsamkeiten,
der Krankenliege die Augen nahezu zeitgleich sondern wird lediglich so genannt, weil er topo-
in der Senkrechten fixiert. Diese physiologi- graphisch neben dem Kerngebiet des XII. Hirn-
schen Anpassungsreaktionen sind jedoch beim nerven liegt (lat. praeponere = voranstellen).
dienzephalen Syndrom, das bei einer Einklem- • Verbindungen zum Thalamus. Die Nucll.
mungssymptomatik durch Hirnschwellung vor- vestibuläres superior, medialis et lateralis pro-
kommt, aufgehoben. In diesem Zustand ist der jizieren zum Thalamus. Diese Fasern kreuzen
okulozephale Reflex gestört und es kommt zum auf die Gegenseite und ziehen als Tractus vesti-
Puppenkopfphänomen: Die gegenläufig koor- bulothalamicus zum Nucl. ventralis posterior
dinierte Mittelstellung des Bulbus bei passiven thalami. Dieser Kern stellt eine Relaisstation
Kopfdrehungen wird erst sehr langsam erreicht, des somatosensorischen Systems in das entspre-
was man sich diagnostisch zunutze macht. chende Primärgebiet der Hirnrinde (Area 3a,
s. Abb. 5.35) dar. Nach Umschaltung setzt sich
• Verbindungen zur Formatio reticularis. die Gleichgewichtsbahn bis zum Kortex der in
2 Kerngebiete der Formatio reticularis werden der Tiefe des Sulcus centralis gelegenen Areae
auch von efferenten Bahnen des vestibulären 3a und 2 fort, wobei sie in der Regio postcen-
Systems angesteuert: Der Nucl. interstitialis tralis nahe dem sensiblen Gesichtsbezirk endet.
Cajal, zusammen mit dem Nucl. interstitialis Dieses Kortexareal scheint an der Bewusstwer-
rostralis des Fasciculus longitudinalis media- dung der vestibulären Informationseingänge
lis, und der Nucl. praepositus (Ν. XII). Beide beteiligt zu sein. Auch über den Nucl. ventralis
Kerngebiete stellen jeweils mit der umgebenden posterior ziehen Bahnverbindungen zum Cortex
Formatio reticularis das mesenzephale bzw. das cerebri im Übergangsbereich vom Gyrus post-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 477

centralis zum rostralen Ende des Sulcus intra- Die Dendriten der Neurone der Riechschleimhaut
parietalis, der Area 2. In diesen Kortexarealen stellen die rezeptiven Zellabschnitte des Organum
konvergieren also vestibuläre mit propriozepti- olfactorium dar. Sie ziehen an die Oberfläche des
ven und zerebellären Fasersystemen. Epithels, während ihre Axone die feinen Fila olfac-
toria bilden, die durch die Lamina cribrosa des
Das vestibuläre System weist nur wenige affe- Siebbeins (s. Kap. 4.15.1.3, S. 315) in die Schädel-
rente Verbindungen zum Cortex cerebri auf, höhle gelangen und im Bulbus olfactorius enden.
während die Verknüpfungen im Hirnstamm sehr
vielfaltig sind. Dadurch werden Gleichgewichts- Die Summe der Fila olfactoria wird als N. olfac-
impulse ohne Mitwirkung des Bewusstseins torius (I. Hirnnerv) bezeichnet, auch wenn
meist reflektorisch für Korrekturen der Körper- sie nicht gemeinsam als 1 Nerv bindegewebig
haltung wirksam. ummantelt sind.

Das olfaktorische Sinnesepithel ist zeitlebens


Klinik: 1. Akute Läsionen des vestibulären Sys-
mitoseaktiv und regenerationsfahig, so dass ständig
tems fuhren zu starken Gleichgewichtsstörun-
neue Axone in den Bulbus einwachsen können.
gen mit ausgeprägten Schwankbewegungen und
Entsprechend ihrer Eigenart, Informationen am
Fallneigung. Subjektives Leitsymptom ist der
Dendriten aufzunehmen und mit einem eigenen
Schwindel, der aber vielfaltige weitere Ursachen
Axon nach zentral weiterzuleiten, werden sie als
haben kann. Außerdem kann ein vestibulärer
primäre Sinneszellen bezeichnet.
Nystagmus auftreten. 2. Bei peripherer Destruk-
tion des Vestibularorgans (ζ. B. bei Durchblu-
tungsstörung oder Felsenbeinfraktur) tritt ein
horizontaler, häufig rotatorischer Nystagmus
5.4.4.2 Riechhirn, Rhinencephalon
zur gesunden Seite auf. 3. Zentrale Läsionen im
Hirnstamm oder dem Kleinhirn (ζ. B. bei laku- Der Bulbus olfactorius als primäre Riechrinde,
nären Infarkten oder bei der Multiplen Sklerose) der Tractus olfactorius, das Trigonum olfac-
können auch zu einem vertikalen Nystagmus torium, die beiden Striae olfactoriae und die
führen. 4. Bei peripheren Läsionen wie dem Substantia perforata anterior (auch: Area
Morbus Meniere, dem akuten Labyrinthausfall olfactoria) an der Hirnbasis bilden zusammen
oder einem Akustikusneurinom findet sich in das Riechhirn, Rhinencephalon.
der kalorischen Prüfung oft eine verminderte
Labyrintherregbarkeit. Demgegenüber weisen Riechkolben, Bulbus olfactorius
ein Richtungsüberwiegen des Nystagmus oder Während das Rhinencephalon beim menschli-
zusätzlich bestehende Augenmotilitätsstörungen chen Feten noch deutlich ausgeprägt entwickelt
auf eine zentrale Störung hin. ist, kommt es während der Ontogenese zu seiner
Involution. Dabei ist der Bulbus olfactorius wie
bei anderen Mikrosmatikern (geringes Riech-
5.4.4 Olfaktorisches System vermögen) nur unscharf in einzelne Schichten
gegliedert. Die auffälligsten Zellen sind die großen
Mitralzellen, mit deren Dendriten die Axone der
Lernziele: Sinnesepitel der Nase, Riechbahn,
Riechzellen Synapsenfelder, Glomerula, bilden.
Riechhirn: Autbau und Funktion
Beim Menschen enden die Axone vieler Riechsin-
neszellen konvergent an den Dendriten einer Mitral-
zelle. Afferenzen aus verschiedenen Regionen
5.4.4.1 Riechhärchen, Fila olfactoria des Gehirns enden dagegen an den Körnerzellen
(eine Schicht sehr kleiner Neurone im Bulbus
Das olfaktorische System dient der Geruchs-
olfactorius). Eine wichtige Rolle bei der Geruchs-
wahrnehmung. Die primären Sinneszellen
wahrnehmung spielen außerdem periglomeruläre
(Sinnesepithelzellen, 1. Neuron) liegen in der
dopaminerge Zellen. Bei makrosmatischen Tieren
Regio olfactoria der Nasenschleimhaut (Riech-
(gutes Riechvermögen) wie dem Igel ist das Rhin-
schleimhaut) und sind bipolar.
encephalon im Verhältnis zum übrigen Gehirn stark
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
478 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

ausgeprägt. Bei ihnen divergiert eine Riechsinnes- tex, dem ältesten Rindenbezirk des Telenzephalons.
zelle auf mehrere Mitralzellen und die Fläche des Hier, über dem Gyrus ambiens und Gyrus semilu-
Riechepithels ist wesentlich größer (beim Men- naris und der Amygdala (s. Kap. 5.4.10.1, S. 521),
schen 2 - 4 cm 2 , beim Hund etwa 100 cm2). soll der Ort der bewussten Wahrnehmung von
Gerüchen liegen.

5.4.4.3 Riechstrang, Tractus olfactorius Die Riechbahn ist die einzige sensorische Bahn,
die ohne Umschaltung im Thalamus kortikale
Die Axone der Mitralzellen des Bulbus (2. Neuron) Areale erreicht.
bilden den Tractus olfactorius, welcher an der
Orbitalen Fläche des Frontallappens liegt und zu Unangenehme Gerüche aktivieren über die Amyg-
den sekundären Riechrinden zieht. Der Tractus dala Unlustgefühle und Abwehrverhalten. Zum
olfactorius teilt sich in die Stria olfactoria latera- Riechsystem gehören die mediokortikalen Kerne
lis und die Stria olfactoria medialis. Die beiden der Amygdala. Von ihnen sollen Riechsignale über
Striae umfassen das Trigonum olfactorium, unter die Stria terminalis in den Hypothalamus ziehen,
dem der Nucl. olfactorius als Schaltstelle liegt. von wo aus vegetative Reaktionen (Übelkeit,
Eine schwach ausgeprägte Stria olfactoria media- Erbrechen) ausgelöst werden können.
lis erreicht die Septumkerne (s. Abb. 5.121). Hier
Von der periamygdalären Rinde gelangen Signale
werden die Fasern auf Neurone umgeschaltet,
zum basolateralen Kernkomplex der Amygdala
deren Axone im Fasciculus telencephalicus medi-
und über die Area entorhinalis, einem Übergangs-
alis verlaufen, welcher rostral in das Cingulum
gebiet zwischen Archi- und Neocortex, auch zum
übergeht (Anschluss an das limbische System).
Hippocampus. Diese Verbindung zum Limbischen
Fasern der Stria olfactoria medialis kreuzen auch
System erklärt den engen Zusammenhang zwi-
über die Commissura anterior zum Bulbus olfacto-
schen Geruchseindrücken und vegetativen sowie
rius der Gegenseite.
emotionalen Reaktionen. Von der Area praepirifor-
mis und der Amygdala gelangen Fasern via Tha-
5.4.4.4 Verschattung der Riechsignale lamus außerdem zu einem umschriebenen Gebiet
im orbitofrontalen Cortex, der damit auch an das
Die größte Teil der Efferenzen des Bulbus olfac- olfaktorische System angeschlossen ist. Schließlich
torius zieht über die Stria olfactoria lateralis zur verbinden Fasern aus den Septumkernen und dem
Area praepiriformis und zur Regio periamygdalaris Hypothalamus zu den Nucll. habenulares und der
des Lobus temporalis. Area praepiriformis und Formatio reticularis das olfaktorische System mit
Regio periamygdalaris gehören zum Palaeocor- dem Hirnstamm. Diese verlaufen im Fasciculus

Bulbus olfactorius

Tractus olfactorius
Polus temporalis
Stria olfactoria medialis
Stria olfactoria lateralis
- Area praepiriformis
timen insulae —
- Regio periamygdalaris
Substantia perforata
Tjy Corpus
anterior
• —j· amygdaloideum
Gyrus ambiens
"" -ι. Bandaletta diagonalis
Gyrus semilunaris (Broca-Band)

- Uncus

Abb. 5.97: Rhinencephalon in der Ansicht von basal. Der rechte Schläfenlappen ist entfernt (nach P. Duus,
1990)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 479

longitudinalis dorsalis (Schütz-Bündel) und im onen teilweise erheblich, was die Bedürfnisse
medialen Vorderhirnbündel (medial forebrain einer bestimmten Spezies widerspiegeln dürfte.
bundle). Über diese Verbindung soll die salvato- Wie sich die Wahrnehmung in Abhängigkeit
rische Reaktion (Speichelfluss) auf den Geruch von vom Nahrungsangebot entwickelt hat, bleibt
Nahrung zu Stande kommen. eine offene Frage (B. Lindemann).

Klinik: 1. Bei Störungen des olfaktorischen


Systems sind eine fehlende, eine zu geringe, 5.4.5.1 Geschmacksknospen,
eine falsche oder falsch-unangenehme Geruchs- Caliculi gustatorii
empfindung möglich {An-, Hyp-, Par- und
Kakosmie\ gr. osme = Geruch, Duft). Bei Hyp- Geschmacksreize werden von Geschmacks-
und Anosmie liegt der Läsionsort meist peripher knospen rezipiert, deren Zellen wie die des
im Bereich der Riechschleimhaut, der Fila oder Riechepithels zu den Chemorezeptoren gehören.
des Bulbus. Hierfür sind meist das Rauchen, Geschmacksknospen sind Differenzierungen des
Rhinitiden oder Schädel-Hirn-Traumata (SHT) mehrschichtigen Plattenepithels und somit sekun-
verantwortlich. Bei letztgenannten kommt däre Sinneszellen. Anders als die primären Sinnes-
es infolge der Kopfbeschleunigung zu einem zellen des olfaktorischen Systems leiten die Sinnes-
Abscheren der Fila olfactoria mit Zerreißung. zellen der Geschmacksknospen ihre Informationen
Deshalb gehört bei jedem Schädel-Hirn-Trauma also nicht selbst ins ZNS, sondern werden von
die Riechprüfung zur obligatorischen Standard- Nervenfasern des 1. Neurons der gustatorischen
untersuchung. 2. Par- und Kakosmien (Wahr- Bahn kontaktiert.
nehmung falscher und/oder übler Gerüche)
werden meist durch zentraler gelegene Läsionen Die Geschmacksknospen liegen in den Wänden
hervorgerufen, wobei häufig Verbindungen mit der Zungenpapillen, Papillae linguales (Papillae
Geschmacksstörungen bestehen. Ursache hier- vallatae, fungiformes und foliatae) sowie ver-
für sind meist degenerative ZNS-Erkrankungen, einzelt in der Gaumen- und Rachenschleimhaut
Diabetes mellitus, frontobasale Tumoren, basale (Kehldeckel) (s. Kap. 4.13.1.1.2, S. 274, Kap.
Meningitiden oder die Paget-Krankheit. 4.14.2.2, S. 305).

Die Zellen der Knospen exprimieren Rezeptoren,


die jeweils spezifisch die Eindrücke süß, sauer,
5.4.5 Gustatorisches System bitter, salzig und umami vermitteln. (Umami,
japanisch für köstlich, ist ein dominanter Eindruck,
Lernziele: Sensorische Innervation der Zunge, der durch Speisen ausgelöst wird, die reich sind an
Geschmacksbahn L-Glutamat, etwa Fleischextrakt und reifer Käse).
Die verschiedenen Rezeptoren kommen in allen
Knospen vor. So kann jede einzelne Geschmacks-
Der Geschmacksinn dient v. a. der Überprüfung
knospe alle Geschmacksqualitäten rezipieren. Die
der Nahrung. Obwohl diese Funktion von olfak-
häufig zitierte regionenspezifische Wahrnehmung
torischen und visuellen Eindrücken unterstützt
von süß auf der Zungenspitze über salzig, sauer und
wird, beruht die Geschmackswahrnehmung
bitter bis zur Zungenwurzel kann also bestenfalls
letztlich auf chemorezeptiven Vorgängen im
als geringgradige Bevorzugung, nicht aber als aus-
Mund. Emotionale Zustände zwischen höchs-
schließliche Wahrnehmung einer einzigen Qualität
tem Genuss und akuter Übelkeit steuern die
durch eine bestimmte Zungenregionen angesehen
Nahrungsauswahl und sind von großer Bedeu-
werden.
tung für die Lebensqualität insgesamt. Schon
wenige Tage alte Neugeborene können zwi-
schen süß und bitter unterscheiden und drücken 5.4.5.2 Geschmacksnerven und
ihren Genuss bzw. ihr Unbehagen über diese Geschmacksbahn
Geschmackssensationen aus. Abhängig vom
jeweiligen Organismus und der ökologischen • Die Dendriten des 1. Neurons der Geschmacks-
Nische, die er besetzt, variieren solche Emoti- bahn verlaufen mit den Hirnnerven (s. Kap.
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
480 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

5.2.6.2), die die Geschmacksfasern fuhren: die bekommen sie Anschluss an das Limbische
Chorda tympani des Intermediusanteils des System. Der Hypothalamus wird nach Umschal-
N. facialis (Ν. VII), der N. glossopharyngeus tung im ventralen Haubenkern über den Fasci-
(Ν. IX) und der N. vagus (Ν. Χ). culus longitudinalis dorsalis erreicht.
• Die dazugehörigen pseudounipolaren Nerven-
Klinik: 1. Geschmacksstörungen treten
zellen liegen in den sensiblen Ganglien dieser
als Hypo- oder Ageusie auf (gr. geusis
Nerven:
= Geschmack). Aufgrund der Zungeninnerva-
• Ganglion geniculi, sensibles Ganglion des sen- tion aus verschiedenen Hirnnerven (vordere 2/3:
siblen und parasympathischen N. intermedius. N. facialis, hinteres 1/3: N. glossopharyngeus,
Dieser Nerv legt sich dem N. facialis auf einer Zungengrund: N. vagus, Kap. 4.13.1.2, S. 276)
Strecke von 1,5 cm vom Kleinhirn-Brücken- dient die Geschmacksprüfung der neurologisch-
Winkel bis zum Ρ orus acusticus internus an. topischen Diagnostik. Für die Untersuchung
Vom Ganglion geniculi aus werden die vorde- bedient man sich entsprechender Sets mit unter-
ren 2/3 der Zunge über die Chorda tympani schiedlichen Geschmacksstoffen. 2. Zur Lokali-
innerviert, die neben dem N. petrosus major den sation der Schädigung bei einer Fazialisparese
Intermediusanteils des N. facialis bildet (s. Kap. kann man sich die Prüfling der Geschmacks-
7.1.2.1, S. 600). wahrnehmung ebenfalls zu Nutze machen: Bei
• Ganglion superius und inferius η. IX. Von hier einer Läsion distal des Abgangs der Chorda
werden insbesondere die Papillae vallatae des tympani bleibt die Geschmackswahrnehmung
dorsalen Drittels der Zunge über die Rr. lin- in den vorderen 2/3 der Zunge erhalten. Ist die
guales und mit den Rr. tonsillares der weiche Geschmackswahrnehmung der vorderen 2/3
Gaumen erreicht. dagegen ausgefallen, muss der N. facialis proxi-
• Ganglion superius et inferius η. X. Von hier mal des Abganges der Chorda tympani (etwa im
erreichen sensorische Fasern über die Rr. pha- Porus acusticus internus) geschädigt sein. Trotz
ryngei den Rachen und den Kehlkopfeingang. der topographisch exponierten Lage der Chorda
tympani medial des Kiefergelenks tritt eine
• Die Axone der pseudounipolaren Nervenzellen umschriebene Schädigung selten auf.
der Ganglien projizieren mit den zugehörigen
Hirnnerven in den Hirnstamm, wo sie im Nucl.
solitarius (s. Abb. 5.54) das 2. Neuron der
Geschmacksbahn erreichen. Vom Nucl. solita- 5.4.6 Topographie und funktionelle
rius gelangen Kollateralen zum Nucl. salivato- Gliederung der sensiblen
rius superior und inferior wie auch zum Nucl. Systeme und Bahnen
dorsalis η. X, die die reflektorische Speichel-
und Magensaftsekretion ermöglichen. Über die Lernziele: Hinterstrangbahn, anterolaterales
Formatio reticularis gelangen Informationen System, spinozerebelläre Bahnen, trigeminales
zu den Motoneuronen des N. phrenicus im System
Zervikalmark, die Husten- und Brechreflexe zur
Abwehr ungeeigneter Nahrung vermitteln.
Als Grundbauplan sensibler Bahnen gilt, dass
• Im Lemniscus medialis (s. Abb. 5.98) werden
bis zum Thalamus mindestens 3 Neurone in
die Axone der 2. Neurone teilweise kontralateral
Reihe geschaltet sind. Das 1. Neuron liegt mit
zum Nucl. ventralis posterior thalami weiterge-
Ausnahme der Afferenz aus der Kaumuskulatur
leitet und dort auf das 3. Neuron umgeschaltet.
in einem Ganglion. Das 2. Neuron kann im Hin-
Dieses projiziert zum Gyrus postcentralis im
terhorn oder in Kernbieten der Medulla oblon-
Bereich des Operculum parietale, welches sich
gata oder des Ports liegen. Das 3. Neuron liegt
nahe dem somatosensorischen Gebiet der Zunge
in der Regel im Thalamus und projiziert in den
im Gyrus postcentralis befindet. Ein zweites
sensiblen Cortex (Gyrus postcentralis). Nach
Geschmackszentrum liegt im Bereich des
der Qualität der Informationen lassen sich epi-
Lobus insularis. Abzweigungen aus dem Lem-
kritische (Vibration, Druck, Berührung, Punkt-
niscus medialis erreichen über den Pedunculus
zu-Punkt-Diskrimination) und protopathische
mamillaris die Corpora mamillaria. Hierdurch
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 481

Sensibilität (emotional gefärbte Wahrnehmung Wir unterscheiden verschiedene Rezeptoren:


von Schmerz und Temperatur) unterscheiden,
1. Propriozeptoren. Sie erteilen epikritisch als
die über verschiedene Bahnen geleitet werden.
Sehnenorgan oder Muskelspindel Auskunft über
Bewegungen und die Lage des Körpers im Raum
(s. Kap. 5.4.7, S. 489): Lagesinn.
5.4.6.1 Allgemeiner Bauplan
2. Interozeptoren. Sie messen als Viszerozepto-
der sensiblen Bahnen
ren bestimmte physiologische Parameter (Osmo-,
Chemo-, Barorezeptoren) oder leiten als proto-
Gemischte periphere Nerven. Sie enthalten
pathische Mechanorezeptoren viszerosensible
marklose, markarme und markreiche, der Qualität
Schmerzempfindungen aus dem Körperinneren
nach vegetative und somatische sensible und moto-
(ζ. B. bei Koliken).
rische Nervenfasern. Der afferente Anteil erreicht
entweder über die Radix dorsalis (s. Kap 2.6.5.1, Die Viszerosensibilität wird meist dem vegetativen
S. 94 und 5.2.7.5, S. 496) das Rückenmark oder Nervensystem zugeordnet. Häufig findet sich auch die
als sensibler Hirnnervenanteil das Gehirn, von wo Unterscheidung zwischen einem bewussten somatischen
aus die Informationen über aufsteigende Bahnen und einem unbewussten vegetativen Nervensystem.
Die Einteilung in bewusst = somatisch und unbewusst =
weitergeleitet werden. Die meisten Fasersysteme
vegetativ ist aber unscharf und problematisch: In der Tat
kreuzen in ihrem Verlauf auf die kontralaterale
bleibt die Koordination der Organe, etwa die Darmperis-
Seite. Nach mehreren Umschaltungen gelangen sie taltik, durch das vegetative Nervensystem weitgehend
in den Thalamus und von dort in den Cortex, wo unbewusst und willentlich nicht beeinflussbar (Visze-
sie bewusst wahrgenommen werden können, oder romotorik), während der Bewegungsapparat durch das
die Fasern projizieren in das Kleinhirn und in die somatische Nervensystem größtenteils bewusst gesteuert
Formatio reticularis des Hirnstamms, von wo aus wird (Somatomotorik). Afferenzen aus beiden Systemen
wichtige Reflexe und das Gleichgewicht gesteuert (Somatosensibilität und Viszerosensibilität) können
werden. aber ζ. B. als Schmerz bewusst werden.

3. Exterozeptoren. Sie sprechen als epikritische


Unterschiedliche Empfindungsqualitäten wer-
Mechanorezeptoren auf Berührung, Vibration
den in topographisch verschiedenen Tractus
und Druck an. Für diese Qualitäten sind die ein-
vom Rückenmark bis zum Cortex geleitet
gekapselten, stärker differenzierten Rezeptoren
(s. Abb. 5.98 und Tab. 5.3).
zuständig (etwa Meißner-Tastkörperchen der Palma
manus und Planta pedis; Vater-Pacini-Tastkörper-
Epikritische und protopathische Sensibilität.
chen der Subkutis oder die Merkel-Tastscheiben
Diese Unterscheidung stammt aus der klassischen
der Epidermis) (s. Kap. 15.6, S. 1226). Dagegen
Sinnesphysiologie:
sprechen die ebenfalls zu den Mechanorezeptoren
• Mit epikritischer Sensibilität ist die genau gehörigen freien Nervenendigungen protopa-
lokalisierbare Empfindung von Vibration, Druck thisch als Thermorezeptoren auf Temperaturver-
und Berührung gemeint sowie die Fähigkeit, änderungen und als Nozizeptoren auf potenziell
Berührungen von zwei eng beieinanderliegen- gefährliche und deshalb zentral zu Schmerzempfin-
den Punkten getrennt wahrzunehmen (Punkt- dung fuhrende Reize an.
zu-Punkt-Diskrimination).
• Unter protopathischer Sensibilität fasst man Myelinisierung und Leitgeschwindigkeit. Den
die emotional gefärbte, weniger gut lokalisier- verschiedenen Qualitäten lassen sich jeweils
bare Empfindung von Schmerz-, Temperatur- andere Nervenleitgeschwindigkeiten zuordnen, die
und grober Druckwahrnehmung zusammen. sich histologisch in unterschiedlich ausgeprägten
Auch komplexere Empfindungen wie das Myelinisierungsgraden der Nervenfasern wider-
Jucken gehören in diese Kategorie. spiegeln. Nach Erlanger und Gasser unterscheidet
man verschiedene Fasertypen (Tab. 5.2):
• Rezeption. Die sensiblen Informationen werden
zunächst von Rezeptoren aufgenommen.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
482 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Tabelle 5.2: Fasertypen und Nervenleitgeschwindigkeiten

Fasertyp Funktion Mittlerer Durchmesser der Leitungs-


Nervenfasern (Axon + geschwindigkeit
Myelinscheide) in μηι in m/s
Act Primäre Muskelspindelafferenz, 15 70-120
Motorisch zum Skelettmuskel
Aß Hautafferenz für Berührung und 8 30-70
Druck
Αγ Motorisch zur Muskelspindel 5 15-30
Αδ Hautafferenz für Temperatur, < 12-30
Druck und hellen Schmerz 3
Β Sympathisch präganglionär 3 3-15
C Dumpfer Schmerz 1 (marklos) 1

Neben dieser Klassifikation ist auch eine Einteilung zum großen Zeh etwa 1 m) und sind myelinisiert.
der Fasern nach Leitungsgeschwindigkeiten von Sie werden deshalb auch als dendritische Axone
I—IV üblich, wobei I der schnellsten (Aa) Faser bezeichnet. Das weitergeleitete Potential wird
entspricht. im entsprechenden Rezeptor oder in einer freien
Nervenendigung generiert. Das eigentliche Axon
Als Regel gilt, dass die Propriozeption am
(Fortsatz, der Informationen vom Soma weg leitet)
schnellsten, die protopathische Sensibilität am
fuhrt dann ins ZNS, wo die systemspezifische
langsamsten von den Nervenfasern geleitet wird.
Umschaltung auf das 2. Neuron erfolgt.
Die schnell leitenden, stark myeliniserten Fasern
treten an der medialen Seite der Hinterwurzel ins
Die multipolaren sekundären Neurone
Rückenmark ein und reichen in die tiefen Schich-
(2. Neuron) der sensiblen Bahn befinden
ten, die langsamen, schwach myelinisierten Fasern
sich in den Kernen des Rückenmarks oder der
treten dagegen an der ventrolateralen Seite der
Medulla oblongata. Sie projizieren größtenteils
Radix posterior ins Rückenmark ein und erreichen
ins Kleinhirn oder den Thalamus. Im Thalamus
dort die oberflächlichen Schichten (s. zytoarchitek-
liegen die tertiären Neurone (3. Neurone) der
tonische Rexed-Gliederung, Kap. 5.2.7.4). Vor dem
sensiblen Bahn, deren Axone als Radiationes
Eintritt ins Hinterhorn liegt die Redlich-Oberstei-
thalamicae in die sensorischen Felder des Gyrus
ner-Zone, in der die Fasern marklos erscheinen.
postcentralis des Cortex ziehen.
Distal davon wird die Markscheide von Schwann-
Zellen, proximal davon von Oligodendrozyten
gebildet. Dieser Bauplan ist durch Divergenz (ein vorge-
schaltetes Neuron endet an mehreren nachgeschal-
teten Neuronen) und Konvergenz (ein nachge-
Das primäre Neuron (1. Neuron) der sensib-
schaltetes Neuron erhält Informationen aus meh-
len Bahn ist immer eine pseudounipolare Ner-
reren vorgeschalteten Nervenzellen) sehr komplex
venzelle und liegt - mit Ausnahme der primär
gestaltet. Über Interneurone und direkte Einflüsse
sensorischen Nervenzellen der Kaumuskulatur
übergeordneter Zentren kann der Informationsfluss
im Nucl. mesencephalicus n. trigemini - in
moduliert werden.
einem Ganglion: Im Falle peripherer Nerven im
Spinalganglion, bei Hirnnerven in den entspre-
chenden Hirnnervenganglien.
5.4.6.2 Hinterstrangbahn
Dendrit und Axon des primären Neurons. Die
Die Hinterstrangbahn leitet Informationen
Dendriten (Fortsätze, die Informationen zum
über die Intensität und Lokalisation von Vib-
Soma hin leiten) dieser pseudounipolaren Neurone
rations- und Tastempfindungen von der Körper-
können sehr lang sein (ζ. B. vom Spinalganglion L5

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 483

Oberfläche (exterozeptiv) sowie Informationen


bei der Funikutären Myelose bei Vitamin B12-
über den Muskel- und Sehnentonus aus dem
Mangel geschädigt werden. Es kommt dann zum
Körperinneren (propriozeptiv). Sie stellt dem-
klinischen Bild der spinalen Ataxie, wobei die
nach die Bahn der exterozeptiven und propri-
Informationen aus den Muskelspindeln fehlen.
ozeptiven epikritischen Sensibilität dar.
Schließt ein stehender Patient die Augen, dann
kann er sich nicht mehr räumlich orientieren
Verschaltung. Die Leitung erfolgt im peripheren
und stürzt {positives Romberg-Zeichen). Zudem
Nerven über myelinreiche Fasern. Das im Spinal-
ist die Punkt-zu-Punkt Diskriminierung und die
ganglion liegende 1. Neuron der sensiblen Bahn
Vibrationsempfindung gestört, was man klinisch
sendet sein Axon ohne Umschaltung im Rücken-
leicht mit zwei Nadeln und einer Stimmgabel
mark zu den Hinterstrangkernen der Medulla
nachweisen kann.
oblongata. Die Fasern der unteren Körperhälfte
verlaufen ipsilateral als Fasciculus gracilis zum
Nucl. gracilis (Göll). Lateral schließen sich eben-
falls ipsilateral die Fasern aus den Segmenten Th3 5.4.6.3 Anterolaterals System
bis C2 als Fasciculus cuneatus an, der zum Nucl.
cuneatus (Burdach) zieht (s. Abb. 5.50). Erst nach Das anterolateral System leitet Schmerz-,
der Umschaltung auf das 2. Neuron in diesen Hin- Temperatur- und grobe Druckempfindungen
terstrangkernen kreuzt die epikritische Bahn in zentralwärts und stellt somit die Bahn der
der Decussatio lemniscorum der Medulla oblon- exterozeptiven und interozeptiven protopa-
gata. Anschließend erreicht sie als Lemniscus thischen Sensibilität dar.
medialis den Ncl. ventralis posterior thalami
der Gegenseite. Die dort gelegenen 3. Neurone der Das System besteht aus 3 Anteilen:
sensiblen Bahn projizieren dann in die sensiblen
Felder des Gyrus postcentralis des Parietallappens • Tractus spinothalamicus anterior et lateralis.
(s. Abb. 5.98 und 5.99). Dabei sind sie in einer Hier verlaufen aus der Haut, den Gelenken, den
somatotopischen Ordnung gegliedert (sensibler Muskeln und Eingeweiden stammende Fasern.
Homunculus: s. Abb. 5.107). Die Axone des 1. Neurons im Spinalganglion
enden in allen Laminae des Hinterhorns, wo die
Umschaltung auf das 2. Neuron der sensiblen
Klinik. 1. Der in der Klinik verwendete Begriff
Bahn stattfindet. Die Axone dieser Hinterhom-
der „Tiefensensibilität beschreibt die Prop-
zellen kreuzen in der Commissura alba (meist
riozeption und das Vibrationsempfinden und
des nächsthöheren Segments, s. Abb. 5.98) und
wird der „Oberflächensensibilität gegenüber-
steigen im Vorderseitenstrang der Gegenseite
gestellt. Diese Begrifflichkeit ist jedoch miss-
als Tractus spinothalamicus anterior (angeb-
verständlich, da sie suggeriert, dass es keinen
lich hauptsächlich für die grobe Druck- und
Unterschied zwischen Propriozeption und
Tastempfindung) und Tractus spinothalamicus
Interozeption gibt. Tiefensensibilität und Ober-
lateralis (für die Schmerzafferenzen) auf. Im
flächensensibilität haben epikritische und pro-
vorderen Hirnstamm legt sich diese Bahn dem
topathische Komponenten (s. Tab. 5.3). 2. Das
Lemniscus medialis als Lemniscus spinalis
Begriffspaar epikritisch versus protopathisch ist
an. Im Pons tritt der Lemniscus trigeminalis zu
ebenfalls nicht ganz scharf getrennt. Es drückt
diesen beiden hinzu. Der Tractus spinothalami-
einen Unterschied der genauen Lokalisierbarkeit
cus endet im ventralen kleinzelligen Teil des
(epikritisch) versus der emotionalen Einfarbung
Ncl. ventralis posterior thalami und im Ncl.
(protopathisch) einer Empfindung aus. Der
posterior thalami. Lemniscus medialis und
protopathische Schmerz ist jedoch teilweise
trigeminalis erreichen die großzelligen Anteile
gut lokalisierbar. 3. Deutlich werden die Unter-
der Thalamuskerne. Die 3. Neurone dieser Tha-
schiede zwischen den sensiblen Informationen
lamuskerne projizieren zum primär sensiblen
der Hinterstrang- und der Vorderseitenstrang-
Cortex (s. Abb. 5.98, 99).
bahn bei selektivem Ausfall nur einer Bahn. Die
Hinterstränge können etwa bei der Tabes dorsa- • Tractus spinoreticularis. Er soll hauptsächlich
lis als Spätkomplikation der Neurosyphilis und Informationen von C-Fasern weiterleiten, die

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
484 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

das Substrat des dumpfen, lang anhaltenden


3. Bei der palliativen Chordotomie wird der
Schmerzes bilden. Die Axone des 1. Neurons
Tractus spinothalamicus durchtrennt, um
im Spinalganglion werden in der Substantia
unheilbar Kranken mit nicht behandelbaren
gelatinosa (s. Abb. 5.64) umgeschaltet. Die
Schmerzen Linderung zu verschaffen. Auch
Weiterleitung in der Substantia gelatinosa wird
nach diesem Eingriff bleiben Schmerzen beste-
durch Opiatrezeptoren moduliert. Die Axone der
hen, was für eine zusätzliche Schmerzleitung im
2. Neurone verlaufen sowohl gekreuzt als auch
dorsalen Rückenmark spricht.
ungekreuzt mit dem Tractus spinothalamicus
aufwärts. In der Medulla oblongata trennen sie
sich, um in der Formatio reticularis zu enden,
wo sie das aufsteigende retikuläre aktivierende 5.4.6.4 Spinozerebelläre Bahnen
System, ARAS (s. Kap. 5.4.9.2), aktivieren.
Diese Projektion scheint auch für die Schmerz- Die spinozerebellären Bahnen leiten Infor-
verarbeitung eine besondere Rolle zu spielen mationen zum Cerebellum, wo sie zu einem
(Schlafhemmung bei Schmerzen). Gesamtbild des Körpers im Raum integriert
• Tractus spinotectalis. Er legt sich medial an werden.
den Tractus spinothalamicus lateralis an und
fuhrt Fasern zum Mittelhirndach. Er soll für die Tractus spinocerebellares. Sie leiten pro-
Pupillenerweiterung bei Schmerzen verantwort- priozeptive Informationen ins Kleinhirn. Im
lich sein. Rückenmark verlaufen sie als Tractus spinocere-
bellaris posterior (Flechsig-Strang) und Tractus
Klinik: 1. Bei Schädigungen des a n t e r o l a t e r a l spinocerebellaris anterior (Gowers-Strang). Die
Systems kommt es zu Ausfällen der Schmerz- verantwortlichen Propriorezeptoren befinden sich
und Temperaturempfindung. Der getrennte in den Gelenkkapseln, in den Muskel- und Sehnen-
Verlauf der epikritischen (im Hinterstrang) und spindeln, im Unterhautgewebe sowie an der Hauto-
protopathischen (im Vorderseitenstrang) Bahn berfläche und werden von dendritischen Axonen
kann zu dissoziierten Empfindungsstörungen der 1. Neurone im Spinalganglion kontaktiert.
bei umschriebenen Läsionen des Rückenmarks Die Erregungsleitung im Rückenmark erfolgt über
führen. Beispielsweise kommt es bei einer Höh- myelinreiche Fasern. Beide Bahnen informieren
lenbildung im Canalis centralis, Syringomyelie, das Kleinhirn über die muskuläre Situation (Tonus,
zu einer Schädigung der in der Commissura alba Extremitäten- und Gelenkstellung), was als Affe-
kreuzenden Fasern, woraus in frühen Krank- renzkopie bezeichnet wird.
heitsstadien eine segmentale dissoziierte Sen-
• Tractus spinocerebellaris posterior (Flech-
sibilitätsstörung resultieren kann. Die protopa-
sig). Seine Fasern kommen von 2. Neuronen
thische Empfindung ist dann kaudal der Läsion
im Nucl. dorsalis der Segmente C8-L2, der
bilateral zerstört, während die epikritischen
Stilling-Clarke-Säule (auch: Nucleus thoracicus
Bahnen vollkommen erhalten sind. 2. Zu einem
post.). An dieser Zellgruppe enden Afferenzen
Brown-Sequard-Syndrom kommt es bei halb-
aus der unteren Körperhälfte. Der entsprechende
seitiger Rückenmarksläsion. Hier findet sich
Kern für die Afferenz der oberen Körperhälfte
kaudal der Läsion ein Ausfall der ipsilateralen
ist der Ncl. cuneatus accessorius in der Medulla
epikritischen und der kontralateralen protopathi-
oblongata. Die Neurone der Stilling-Clarke-
schen Empfindung. Wegen der Pyramidenbahn-
Säule besitzen dicke, schnell leitende Axone, die
läsion besteht zudem eine ipsilaterale spastische
ungekreuzt ipsilateral zum äußeren Rand des
Lähmung unterhalb der Läsionshöhe. Im Seg-
Rückenmarkseitenstrangs verlaufen und dann
ment der Schädigung ist die Lähmung durch die
als Tractus spinocerebellaris posterior aufstei-
Schädigung der Vorderhörner schlaff, während
gen (s. Abb. 5.99). Diese Bahn gelangt über den
das theoretisch zu erwartende hypästhetische
unteren Kleinhirnstiel (s. Kap. 5.4.8.5, S. 514,
Areal im Segment durch das Überlappen der
Tab. 5.7) zum spinozerebellären Teil des Klein-
Dermatome klinisch meist nicht nachweisbar
hirns auf dem Lobus posterior vermis cerebelli
ist (Zu den Schäden des ischämisch bedingten
und zeigt eine somatotopische Anordnung.
A. spinalis anterior-Syndroms, s. Kap. 5.3.4.2).

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle S y s t e m e d e s Z N S 485

Ncl. ventraifspost,
Fasciculus thalani
thalamocortical,
Capsula interna

Lemniscus
Lemniscus medialis
spinalis

- Ν trigeminus
— Tractus spinalis η. V

_ Ν.vagus

Nccl. gracilis et uneatus

Fibrae arcuatae
""internae
V
Decussatio lemniscorum

Vorderseiten- Hinterstrangbahn
strangbahn
_ — · Radix dofsalis

VI
• η, spinalis
Columna post.
_ — - Radix dorsahs
VII

Commissure alba

Abb. 5.98: Schema der beiden sensiblen Systeme: Blau = L e m n i s c u s medialis als Fortsetzung der Hinterstrang-
bahn. S c h w a r z = L e m n i s c u s spinalis als Fortsetzung der a u f s t e i g e n d e n Fasern d e s Vorderseitenstrangs (auch:
Fase, anterolateralis)

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
486 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Fasciculus gracilis (Göll)


/ Fasciculus cuneatus (Burdach)

Fase, interfascicularis
/ (Schuitze-Komma)

, Tr. corticospinalis lat.


(Pyramidenseitenstrangbahn)

Tr. spinocerebellaris
posterior (Flechsig)
,-Tr. rubrospinalis

Tr spinocerebellaris
anterior (Gowers)
Tr. vestibulospinalis
Tr, spinothalamicus lateralis
lateralis
Tr. tectospinalis

Tr. reticulospinalis lat.

Tr. spinotectalis' r. olivospinal (Heiweg)

Tr. spinoolivaris Tr. vestibulospinalis anterior


Tr. reticulospinalis med.
Tr. corticospinalis anterior (Pyramidenvorderstrangbahn)

Fasciculus longitudinalis medialis (mediales Längsbündel, schraffiert)

Abb. 5.99: Lage der großen Bahnen in der weißen Substanz des Rückenmarks.
Absteigende Bahnen = rot, aufsteigende Bahnen = blau. Grundbündel (Fasciculi proprii) hellgrau punktiert. Der
Tr. spinothalamicus anterior ist im Vorderstrang in mehrere Gruppen gebündelt und deshalb nicht eingetragen

• Tractus spinocerebellaris anterior (Gowers). Die spinozerebellären Bahnen liegen an der Ober-
Er nimmt seinen Ursprang von Strangzellen fläche des Seitenstrangs zwischen dem Ein- bzw.
der Substantia intermedia und des basolatera- Austrittsort von Hinter- und Vorderwurzel. Die
len Hinterhornes. Die Axone des 2. Neurons Grenze zwischen den Tractus spinocerebellares
dieser sensiblen Bahn kreuzen teilweise in der anterior und posterior wird durch den Ansatz des
Commissura alba auf die kontralaterale Seite, Lig. denticulatum der Arachnoidea markiert.
verlaufen aber auch ipsilateral. Die Fasern
steigen am Rand des Rückenmarkseitenstrangs
ventral der dorsalen Kleinhirnbahn bis zum 5.4.6.5 Trigeminales System
Hirnstamm auf. Sie durchlaufen den Pons, um
im Mittelhirn über den oberen Kleinhirnstiel Auch die Afferenzen aus der Gesichtsregion
umzubiegen, von wo aus sie das Cerebellum verlaufen nach Sinnesqualitäten getrennt. Alle
erreichen. Gekreuzte Fasern gelangen wieder Fasern erreichen das Gehirn in der Portio major
nach ipsilateral zurück. Wie bei der dorsalen n. trigemini (Ν. V) (s. Kap. 5.2.6.2, S. 415).
Kleinhirnseitenstrangbahn enden sie im spino-
zerebellären Teil des Kleinhirns und fuhren • Epikritische Bahn. Sie hat ihr 1. (pseudo-
diesem Informationen der ipsilateralen unteren unipolares) Neuron im Ganglion trigeminale
Körperhälfte zu. (Gasseri). Die Axone ziehen zum Nucl. ponti-
nus (principalis) η. V. Die Axone der dort gele-
Weitere, indirekte Verbindungen zum Kleinhirn
genen 2. Neurone der sensiblen Bahn kreuzen
bestehen über den Tractus spino-olivo-cerebel-
größtenteils auf die Gegenseite und schließen
laris und den Tractus spino-reticulo-cerebellaris.
sich als Lemniscus trigeminalis dem Lemniscus
Diese Verbindungen dienen ebenfalls der Orientie-
medialis an, mit dem sie zum 3. Neuron im
rung des Körpers im Raum (s. u.).
Thalamus ziehen. Die Hauptfelder im Gesicht
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 487

entsprechen den Versorgungsgebieten der Nucl. mesencephalicus n. trigemini. Über eine


3 Trigeminusäste: Ν. VI zwischen Scheitel Verschaltung mit dem Nucl. motorius η. V wird
und Lidspalte, N. V2 zwischen Lidspalte und der monosynaptische Masseterreflex ausgelöst.
Mundspalte und N. V3 zwischen Mundspalte
und Unterkieferrand (s. Abb. 4.70). Auch mit dem Ν. X und Ν. IX gelangen sensible
• Protopathische Bahn. Auch die 1. Neurone der Afferenzen ins Gehirn. Sie werden mit den Hirn-
protopathischen Bahn liegen im Ganglion trige- nerven besprochen (s. Kap. 4.12.1, S. 255, Kap.
minale. Von dort steigen die Fasern als Tractus 5.2.6.2, S. 415).
spinalis η. V zum langgestreckten Nucl. spinalis
η. trigemini herab, wo die Verschattung auf das Schmerzreize werden von freien Nerven-
2. Neuron erfolgt. Die Fasern sind somatoto- endigungen aufgenommen und nach zentral
pisch gegliedert, wobei die Endigungen der weitergeleitet (nozizeptiver Schmerz). Auch die
perioralen Fasern (Zähne!) am weitesten kranial Irritation und Schädigung eines Nerven kann zu
liegen (s. Abb. 5.100). Die Fasern des zweiten Schmerzen führen (neuralgischer Schmerz). Zu
Neurons kreuzen in der Medulla oblongata und unterscheiden sind somatischer und viszeraler
lagern sich als Tractus trigeminothalamicus Schmerz: Beim somatischen Schmerz kann
lateralis dem Tractus spinothalamics lateralis ein Oberflächenschmerz (aus der Haut) von
an, mit dem sie zum Thalamus und damit zum einem Tiefenschmerz aus dem Bindegewebe,
3. Neuron der sensiblen Bahn ziehen. der Muskulatur, den Knochen und den Gelen-
ken unterschieden werden. Der Hautschmerz
Klinik: Eine Konvergenz von Fasern des zwei- besteht aus einer gut lokalisierbaren, schnell
ten Spinalganglions (N. occipitalis major) und abklingenden „hellen" Komponente und einer
von trigeminalen AfFerenzen auf ein gemeinsa- langanhaltenden, schlecht lokalisierbaren
mes zweites Neuron soll die Ausstrahlung von „dumpfen" Komponente. Der viszerale Schmerz
Nackenschmerzen ins Gesicht erklären. Dies ist ebenfalls dumpf und schwer lokalisierbar. Er
wird auch für die Schmerzprojektion komplexer kann ausstrahlen und mit vegetativen Begleit-
Gesichtsschmerztypen verantwortlich gemacht. erscheinungen einhergehen. Ursachen können
Sauerstoffmangel und Spasmen der glatten
Muskulatur sein. Somatischer und viszeraler
Die Perikarya der propriozeptiven Afferenzen Schmerz werden auch als peripherer Schmerz
der Kaumuskulatur liegen als einzige sensible zusammengefasst. Dem steht ein zentraler
Afferenzen nicht in einem Ganglion, sondern im Schmerz gegenüber, der bei Schädigung der

sensible Kerngebiete des


Nervus trigeminus

Ncl. mesencephalic! pa _ ^ propriozeptiv


^ Kaumuskulatur

\ \
Ncl. sensorius principalis I p l f l r - 2 epikritisch
wJ?

Ncl spinalis protopathisch

Abb. 5.100: Somatotopische Gliederung des Nucl. tractus spinalis η. trigemini (nach M. Trepel, 1995)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
488 5 Zentrales Nervensystem, G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k

•Ζ Ü2 Ν
Ω. cd ιΟ c § ®
ω φ
Φ Ν Ν Ε
s § _g φ > Ό §
Ν CO -£Ζ Vr Ο)
δ CO S > υ
c ω ΐ ζ φ Ο
φ CO
c I CO φ
0) Ρ Ο)
δ Ν
CD to Φ ξ CO
C 5 Ν > m
C ω
ο 2
Q. CD ο Ε ο-
0) ~ Ε ο φ
£ =o Φ CO
α ο ο
Ν
Φ ο
C
Φ
C
ε Ο
CD C Q-
"Ö φ Ε
CO C
φ φ" Ο ο
c c q_
Q- η C CO φ ω
CO -C
φ Ο) φ Ν [φ
ν 1 GX
co ο £ ω ο Ο φ < Q.
"c ~ Ε
εφ ο.
ο φ
C Ζ!
Φ Ό
ο. χ. SZ -
CO g c υ ®
<a
ο t D Ω. Φ
co φ co ~σ CO CO
~ 00 φ
c .95
J2 ΙΛ
-— >- Ζ3 CO
α. cn
φ c > ω Ν £ Ν Ί
CO Ο _
~ CO Ω-
η
"οο
φ
Cl>
Ν ^ I
co
% ΐ
CO ο
Φ Ξ
ο
C
Φ ^

CJ c Φ p. σ>
C C- φ co φ
co v—' Ο- μ ,9 CO.
Χ Γ > ^ (5 Ν Ü < Ζ
ο φ ο
CI) -σ 05
CD fc
C 3 "Π
.c rs C C
•ffi c c" φ φ
D LU φ Νφ i i s
c φ ο CO -C
3
δ
co
D Q. C co C5O
II Φ φ
CL CO Ν XI £ 03
δ φ Ο) i ο Φ c
CO Φ φ C
•έ 5
Q. "
qj 3ö
sCO Ν
Ο
C
α
3 c
CL
φ
ι Ο.
- s «
® ο
Φ
φ
t ε χ: 3 χ. Ο Ο) .- α
CD ο ο ο c ® φ
Φ
'·—
•O CO φ sz Φ c Ν
φ φ tΟ Ω TJ Φ φ
5 Q.
Φ
Ε η CO c α:ι
Ο ο CO CO.
6 χ < c °
Ε Q. Ο)
C
δ Ε •5 ε
φ CD ο.
1 5 CO
γ- W έ § φ= "Ο
I to > φ CO
Ι έ φ < >.
'φ φ Ό 2 ! ™ φ
I 5 Φ I 8- c μ ι S-c
φ Χ Ο 5
a 2 •L· Ν Φ © ο
ο ® η
ο _5ί C r φ 5 "Ω
φ φ
α 2 CI) υ sΟ) Ο)I
XT > σι
φ Ο Ν ο c = C <
C φ
(1)
•7 c ο ^ Φ Ο)
CO g Φ Ζ
Ε Ο) to Q. Χ3 Ω C
φ Τ) 3 <- CO Q. CO ω φ
Φ I Φ — φ Ο
> ο Π) Γ CO
α. ω η
Ο ω" φ Χ υ co Q-
"
Ζ3 ο !
Ε Φ
Ν © - CO Ο-
Ο ι Φ
8 υ ® => £ 5 cc
Φ c 13 2 r
c φ
Λ Ε 9> - ο Ö Ο)
> σ> 5 c" Ο Ζ3
Ε c φ Φ C_ CO CO Ν - C
φ ο C
:Q co D CD ν " 3 Φ Ω-
25 §
c
Ω> -S3 £ - to Ω Ο
φ Ό Φ < Ο «
c .c C CO 2
CD φ c Φ C CO
co Φ ω ο ^ d φ
D
CL Β ρ
Q. C\l CO ο.
> Φ I ä «j -
ο. -t—· c
CO φ 1—
φ Ο
© =5 "Ό Ν CO > 5< < ιι
CO CO Ο φ CO
CO 3 α: LL <
LL CT CM CO ^t· CO H

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 489

schmerzverarbeitenden Zentren und Bahnen bedeutet, dass motorische efferente Systeme, die
(am häufigsten als Thalamusschmerz) auftreten die Bewegung ermöglichen, im engen Zusam-
kann. Der psychische Schmerz entsteht bei psy- menhang mit sensorischen afferenten Systemen
chischen, nicht bewältigten Problemen. gesehen werden müssen, welche Anlass zu einer
solchen Bewegung geben.
Zusammenfassung sensibler Systeme s. Tab.5.3.
Reflex. Der einfachste sensorisch-motorische
Regelkreis findet sich im menschlichen Organis-
5.4.7 Motorisches System mus auf der Ebene des Rückenmarks und seiner
Verbindung mit der Muskulatur. Die Verschaltung
Lernziele: Monosynaptisches spinales System, der afferenten mit den efferenten Neuronen des
polysynaptisches spinales System; übergeord- Rückenmarkvorderhoms ermöglicht eine einfache
nete motorische Systeme, Pyramidalmotori- Bewegung (Eigenreflex). Diese primitivste Art von
sches System, Motokortex, Pyramidenbahn; Bewegungsmustern ist die funktionelle Grundein-
Extrapyramidalmotorisches System heit der Motorik.

Klinik: Im Rahmen der motorischen Reifung


5.4.7.1 Übersicht
des Menschen beobachtet man in den ersten
Wochen nach der Geburt das Überwiegen sol-
Das motorische System erlaubt es dem Orga-
cher einfachen Systeme. In der Säuglingsphase
nismus, seinen eigenen Standort in der Dreidi-
finden sich verschiedene Primitivreflexe, die
mensionalität des Raums zu verändern. Diese
später durch zunehmende Ausreifung hierar-
Fähigkeit, die sich im Laufe der Evolution
chisch übergeordneter motorischer Systeme
als ein bedeutender Selektionsfaktor erwiesen
unterdrückt werden. Bei Schädigungen dieser
hat, unterscheidet tierisches von pflanzlichem
höheren motorischen Systeme kann es zum Wie-
Leben. Bewegung läuft dabei als Regelkreis im
derauftreten solcher, dann pathologischer Pri-
Sinne eines Reiz-Reaktionsgeschehens ab. Das
mitivreflexe kommen (ζ. B. Babinski-Reflex).

Tabelle 5.4: Einteilung der motorischen Funktionsebenen (nach J. Rohen)

Systeme Lokal isation Funktion Afferenzen

1. Rückenmark Eigenreflexe Muskelspindeln,


Monosynaptisches (gleiches Segment) (bevorzugt Streckreflexe) Sehnenorgane
spinales System (Eigenreflexapparat) unbewusst

2. Rückenmark Fremdreflexe, isolierte, zweck- Muskel- und Haut-


Polysynaptisches (mehrere Segmente) bezogene Einzelbewegungen rezeptoren
spinales System (Fremdreflexapparat) (bevorzugt Beugereflexe)
unbewusst

3. Rückenmark, Kleinhirn und Gleichgewichts- und Tonusre- Gleichgewichtsre-


Statisch-vestibuläres Rautenhirn gulation (Stell- und Haltereflexe) zeptoren,
System zunehmend bewusst Haut- und Muskel-
rezeptoren

4. Zentren in Zwischen- Affektive und erlernte Bewegun- Indirekt alle Sinnes-


Extrapyramidal- und Mittelhirn, Kleinhirn, gen, rezeptoren
motorisches System Basalganglien, Großhirn- bewusst beeinflussbar
rinde
5. Großhirnrinde Freie Bewegungsformen, will- Indirekt alle
Pyramidalmotori- kürliche Zielmotorik, bewusste Sinnesrezep-
sches System Steuerung toren

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
490 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

5.4.7.2 Funktionsebenen der Motorik Seite vorkommen. Der adäquate Reiz ist hier eine
Berührung der Haut, die Reflexantwort eine Bewe-
Nach funktionellen Gesichtspunkten, die sich gung und das Zurückziehen des Körperteils als
auch in ihrer anatomischen Lokalisation nach- Schutzreaktion (s. Abb. 5.101).
vollziehen lassen, bildet das motorische System
Das α-Motoneuron und die von ihm versorgten
5 hierarchische Funktionsebenen aus, in
Muskelfasern bilden eine motorische Einheit.
denen die Steuerung der Motorik vom Rücken-
Durch die polysynaptische Verschaltung solcher
mark über Hirnstamm und Basalganglien bis zur
Einheiten ist der Organismus in der Lage, nicht
Großhirnrinde zunehmend komplexer erfolgt
nur durch direkte Kontraktion auf einen Außen-
und letztlich bewusst beeinflusst werden kann.
stimulus zu reagieren, sondern auch zweckmäßige
Bewegungen auszufuhren. Ein Reiz fuhrt etwa zur
Zwar sind einzelne Funktionsebenen in der Lage,
gegensinnigen Innervation antagonistischer Beuge-
auch isolierte Grundfunktionen auszuüben, jedoch
und Streckmuskeln und erlaubt so eine Bewegung
ist immer ein Zusammenwirken sämtlicher Funkti-
hin zu oder weg von einem Stimulus.
onsebenen erforderlich, wenn harmonische Bewe-
gungen erreicht werden sollen. Zur Einteilung
Klinik: 1. Bei weitgehendem Funktionsausfall
motorischer Systeme s. Tabelle 5.4.
des Gehirns (etwa nach einem Schädel-Hirn-
Trauma) mit Zeichen des organischen Hirntods
Erklärung der Funktionsebenen gelingt es teilweise durch äußere Stimuli (etwa
Kneifen am Bein) beim Patienten Bewegungen
1. Monosynaptisches spinales System. Der pri-
auszulösen. Diese oft rhythmischen Schreitbe-
märe Reflexbogen des motorischen Systems rea-
wegungen sind jedoch nicht als Korrelat des
lisiert eine einfache Bewegung (Muskelzuckung)
funktionsfähigen Gehirns anzusehen, sondern
unter Beteilung von lediglich zwei Neuronen. Als
spiegeln die Innervation von Beuge- und Streck-
Rezeptor dient ihm die im Muskel gelegene Mus-
muskulatur durch den spinalen Eigenapparat
kelspindel, deren Dehnung das afferente Neuron
wider. 2. Durch Wegfall hierarchisch höher
(pseudounipolare Zelle) erregt und welches mono-
angeordneter motorischer Systeme steht dieses
synaptisch auf das α-Motoneuron umschaltet. Das
spinale System nicht mehr unter übergeordneter
α-Motoneuron sendet sein Axon über die Vor-
Kontrolle, wodurch sich bei solchen Patienten
derwurzel zum Spinalnerven und über periphere
noch (häufig gesteigerte) Eigenreflexe und
Nerven weiter zu den Skelettmuskelfasern, die
pathologische Fremdreflexe auslösen lassen.
sie über motorische Endplatten (s. Abb. 5.105) zur
Kontraktion bringen. Da der Muskel hier sowohl
Rezeptor als auch Effektor ist, wird dieser Reflex- 3. Statisch-vestibuläres System. Im Laufe der
bogen auch Muskeleigenreflex genannt. Alle Phylogenese entwickelte sich fur Lebewesen
anderen motorischen Systeme können funktionell zunehmend die Notwendigkeit, nicht nur in direk-
wie auch phylo- und ontogenetisch als hierarchisch tem Kontakt zu einer gegebenen Oberfläche, das
übergeordnete Kontrollsysteme des primären moto- heißt im zweidimensionalen Raum, Bewegungen
rischen Systems verstanden werden. Diese basale auszufuhren. Statt dessen wurde durch die Auf-
Funktionseinheit bildet die Endstrecke jeglicher richtung ihres Körperbaus und die Fortbewegung
motorischer Aktivität (s. Abb. 5.101, 116). in Medien ohne feste Bezugsgröße (Wasser, Luft)
auch eine Ausrichtung ihrer Bewegungen in der
2. Polysynaptisches spinales System. Im Eigen- dritten Dimension erforderlich. Für entsprechende
reflexapparat findet die Verschaltung nur auf der Leistungen war die Entwicklung eines Gleich-
Ebene eines Rückenmarkssegmentes statt und die gewichtssystems (vestibuläres System) und des
Kontraktion des Muskels antagonisiert den Deh- Zerebellums nötig. Diese Leistungen werden vom
nungsreiz. Demgegenüber wird auf der Ebene des 3. motorischen System, dem statisch-vestibulären
zweiten Systems (der Fremdreflexe) die Verschal- System, übernommen, das aufgrund seiner engen
tung über Interneurone in mehreren Rückenmarks- Beziehung zum Cerebellum mit ihm gemeinsam
segmenten realisiert, wobei auch Verbindungen mit besprochen wird (s. Kap. 5.4.8, S. 509).
einer Erregungsausbreitung zur kontralateralen

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 491

Dehnungsrezeptor Interneuron
Muskelspindel (Schaltzelle) primäres sensibles Neuron
I (Spinalganglienzelle)
I
I
Haut
Berührungs-
rezeptoren
im Dermatom
— sensible
Afferenz
— motorische
Efferenz Muskel
neuron
Abb. 5.101: Reflexe. Links: monosynaptischer Eigenreflex; rechts: polysynaptischer Reflex

4. Extrapyramidalmotorisches System. Dem sta- gungsfreiheit der Hand, und sind anatomisch in den
tisch-vestibulären System ist die motorische Steue- primären motorischen Arealen der Großhirnrinde
rung unwillkürlicher (wie Mimik und Gestik), aber angesiedelt (s. Abb. 5.105).
auch aller erlernten Bewegungen als 4. motorisches
Im Folgenden werden die neuroanatomischen
System übergeordnet. Anatomische Korrelate
Grundlagen der motorischen Systeme detailliert
dieses Systems bilden Anteile des Hirnstamms, der
besprochen.
Basalganglien, des Zerebellums sowie spezialisier-
ter Großhirnrindenanteile. Die Entwicklung dieses
5.4.7.3 Monosynaptisches spinales System
4. motorischen Systems lässt sich gut im Verlauf
(Muskeleigenreflex)
des Heranwachsens eines Menschen verfolgen. Die
„Geschmeidigkeit" von Bewegungen, das Erlernen • Das α-Motoneuron und die motorische Ein-
bestimmter Bewegungsmuster (koordinierte Bewe- heit. Das α-Motoneuron im Vorderhom des
gungen beim Gehen, Stehen oder Sitzen und bei Rückenmarks bzw. in den motorischen Kernge-
allen anderen Verrichtungen des täglichen Lebens, bieten der Hirnnerven mit motorischen Anteilen
auch im Sport oder beim Spielen eines Musikin- (Nn. Ill, IV, V, VI, VII, IX, Χ, XI, XII) ist die
struments) werden von diesem System gesteuert. gemeinsame motorische Endstrecke für sämt-
Hierbei kommt es zu starken interindividuellen liche Impulse, welche die Kontraktionen der
Unterschieden. Darüber hinaus gelingt das Einüben quergestreiften Muskulatur bewirken. Die a -
komplexer Bewegungsmuster für bestimmte Kör- Motoneurone befinden sich im Rückenmarkvor-
perregionen unterschiedlich. derhom in der Lamina IX in somatotoper Ord-
nung (s. Kap. 5.2.7.4, Abb. 5.65). Nervenzellen,
Klinik: Erkrankungen im Bereich der Extrapy- die die axiale Muskulatur (Brust, Bauch und
ramidalmotorik führen zu typischen Bewegungs- authochthone Muskulatur) innervieren, finden
störungen, wie sie bei der Parkinson-Krankheit, sich dabei ventromedial, während die Zellen für
der Huntington-Chorea und dem Hemiballismus die Innervation der Extremitäten weiter lateral
auftreten, bei denen Bewegungen noch mög- lokalisiert sind. Die ventromediale Zellsäule
lich, aber in ihrer Initiierung und ihrem Ablauf ist deshalb über die ganze Länge des Rücken-
gestört sind. marks vorhanden, während sich die lateralen
Zellgruppen (in größeren Gruppen konzentriert)
5. Pyramidalmotorisches System. Die bewusste im Bereich der zervikalen und lumbalen Intu-
Steuerung spezifischer Bewegungen (Willkür- meszenzen finden. Diese Zellgruppen können
motorik) kooperiert eng mit dem 4. motorischen wiederum in eine zentrale, ventrolaterale und
System und stellt die oberste Hierarchie-Ebene der dorsolateral Säule unterteilt werden. Die
motorischen Systeme dar. Phylogenetisch am wei- zentrale Säule ist für die Versorgung der pro-
testen ausgebildet findet sich dieses 5. motorische ximalen Schultergürtel- und Hüftmuskulatur,
System bei Primaten und beim Menschen. Diese die ventrolaterale Zellsäule für die Innervation
Leistungen beziehen sich vornehmlich auf die der proximalen Extremitätenmuskulatur (Ober-
distalen Extremitätenregionen, v. a. für die Bewe- arm und Oberschenkel) und die dorsolateral
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
492 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Zellsäule für die Innervation der distalen Extre- • Rezeptoren der Muskulatur. Die Aktivi-
mitätenmuskulatur (Unterarm und Hand sowie tät der α-Motoneurone wird durch afferente
Unterschenkel und Fuß) zuständig. Fasern beeinflusst, welche ihnen Erregungen
von Rezeptoren im Muskel und seinen Sehnen
Klinik: Die somatotopische Lokalisation der zuleiten. Die Muskelspindel (s. Abb. 5.102),
α-Motoneurone ist für segmentale Paresen die intrafusale Fasern (Kernketten- und Kern-
nach umschriebenen Läsionen des Vorderhorns sackfasern nach der Anordnung der Zellkerne
verantwortlich. innerhalb der Faser) enthält und parallel zu den
extrafusalen Fasern (den eigentlichen Mus-
• Axone der α-Motoneurone, motorische kelfasern) organisiert ist, misst die Länge der
Nervenfasern des schnell leitenden Typs Aa, Muskulatur als statische Größe. Ebenso kann
verlassen das Vorderhorn durch die Radix die Muskelspindel auch die Längenänderung
anterior. Nach Vereinigung mit der Radix pos- der Muskulatur als dynamische Größe regist-
terior verlaufen die Fasern im Spinalnerven und rieren. Hierbei wird die Längenmessung durch
gelangen im Ramus ventralis n. spinalis zu dünne intrafusale Fasern, die Geschwindigkeits-
den segmentalen (Interkostal-) Nerven (s. Kap. messung der Dehnungsänderung durch dickere
10.5.3, S. 819) oder zu den Plexus und von dort intrafusale Fasern aufgenommen. Die afferenten
in die peripheren Nerven. Über die Rr. dorsales Nervenfasern der Muskelspindeln werden in 2
n. spinalis verlaufen Fasern zur Innervation der Gruppen unterteilt:
autochthonen Muskulatur (s. Kap. 8.8, S. 654). 1. Die schnell leitenden Αα-Fasern gehen von
Dabei innerviert ein α-Motoneuron eine unter- der Mitte der intrafusalen Muskelfasern aus und
schiedliche Anzahl von Muskelfasern. dienen der Messung der Geschwindigkeit der
Dehnungsänderung.
Die Gesamtheit aller Muskelfasern, die von 2. Die langsamer leitenden Aß-Fasern gehen
einem α-Motoneuron innerviert werden, bilden von den Enden der intrafusalen Muskelfasern
mit diesem gemeinsam eine motorische Einheit aus und registrieren die Muskellänge (s. Tab.
(s. Kap. 2.2.3.4, S. 70). 5.3, S. 499, Kap. 5.4.6.1, S. 481).
• γ-Motoneurone. Die dünnen intrafusalen Mus-
• Größe der motorischen Einheiten. Sie steht kelfasern werden von fusimotorischen Ner-
in Abhängigkeit zu den spezifischen Aufgaben venfasern, den Axonen der γ-Motoneurone,
der Muskulatur: Je feiner ein Muskel bewegt innerviert. Die Perikarya der γ-Motoneurone
werden muss, desto weniger Muskelfasern liegen in direkter Nachbarschaft zu denen der a -
werden von einem Motoneuron innerviert. Motoneurone im Vorderhorn des Rückenmarks.
So wird die Innervation der Handmuskulatur Die Axone der γ-Motoneurone verlaufen mit
durch kleine motorische Einheiten geleistet, die den α-Fasern in die entsprechenden Muskeln.
weniger als hundert Muskelfasern umfassen, a - Sie enden an den intrafusalen Muskelfasern mit
Motoneurone für die äußere Augenmuskulatur kleinen motorischen Endplatten und regulieren
bilden die kleinsten motorischen Einheiten mit die Länge der Spindel. Hierdurch ist es möglich,
weniger als zehn Muskelfasern pro Neuron. dass während der gesamten Kontraktionsdauer
Im Gegensatz dazu finden sich jedoch bei den eines Muskels die Sensitivität der Muskelspindel
großen Muskeln des Körpers (z.B. M. gluteus entsprechend eingestellt werden kann. Je kürzer
maximus) motorische Einheiten, die mehrere die Spindel ist, desto empfindlicher reagiert sie
tausend Muskelfasern umfassen. Sämtliche axo- auf Dehnungsreize durch die Kontraktion der
nalen Aufzweigungen stellen mit der jeweiligen Antagonistenmuskulatur.
Muskelfaser einen synaptischen Kontakt an • Spindelaktivität. Sie wird über die sensiblen
der motorischen Endplatte her. Dabei werden Afferenzen von der Spindel auf die α-Moto-
sowohl mit weißen (schnell zuckenden = pha- neurone übertragen. Je stärker oder schneller
sischen; Typ II) als auch mit roten (langsam die Dehnung des Muskels war, umso schneller
zuckenden = tonischen; Typ I) Muskelfasern feuern die α-Motoneurone und die Fasern der
motorische Einheiten gebildet (s. Lehrbücher Arbeitsmuskulatur kontrahieren sich. Dieser
der Physiologie). Mechanismus verhindert eine Überdehnung und

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 493

Kernsackfaser

Kernkettenfaser
\
\

la-Faser 1 , .. „
II Faser J ίΡΓ°ΡΓ! osens ι bei!
^ » γ-Fasern (fusimotorisch)

Kapsel

/
γ-Endnetz
{statische
Aufgaben) γ-Endplatte
(dynamische
Aufgaben)

Abb. 5.102: Schematische Darstellung von Typen intrafusaler Muskelfa-


sern in der Muskelspindel (nach R. F. Schmidt/G. Thews, 1990).

das Reißen der Muskelfasern. Die Spindelakti- zelle befindet sich die einzige neuro-neuronale
vität erleichtert außerdem die Ausführung will- Synapse des Schaltkreises, die dem monosy-
kürlicher Bewegungen („Anlasserfunktion"). naptischen Reflexbogen seinen Namen gibt).
• Golgi-Sehnenorgane. Neben den Muskel- Das α-Motoneuron im Vorderhorn des Rücken-
spindeln befinden sich auch in den Sehnen marks innerviert dann die entsprechenden Mus-
Dehnungsrezeptoren, Golgi-Sehnenorgane, kelfasern über sein Axon. Dieses Axon verläuft
die ihre Signale über schnell leitende Typ A a - über den Spinalnerven und anschließend im
Fasern weiter leiten. Sie sind im Regelfall in peripheren Nerv bis zur motorischen Endplatte
Kollagenfaserbündeln am Übergang zwischen (neuromuskuläre Synapse, s. Abb. 5.103). Dort
Muskulatur und Sehne lokalisiert. Dort sind wird über eine elektrochemische Kopplung mit
etwa 10 Muskelfasern mit einem Sehnenorgan Acetylcholin (Ach) als Transmitter der Impuls
verbunden. Hierdurch kann das Sehnenorgan auf den Muskel übertragen, wodurch sich der
Informationen über die Spannung aufnehmen, monosynaptische Reflexbogen schließt und der
die vom sich kontrahierenden (oder passiv Muskeleigenreflex zustande kommen kann.
gedehnten) Muskel auf die Sehne weitergegeben • Monosynaptischer Reflex. Die klassische
wird. Funktionell weisen die Sehnenorgane viel- Bezeichnungist ist insofern missverständlich,
faltige Parallelen mit den Muskelspindeln auf. als auch Interneurone durch Kollateralen
• Verschattung des Eigenreflexes. Die afferenten der den Reflex auslösenden afferenten Faser
Fasern aus den beiden Muskelrezeptorsystemen innerviert werden. Diese Interneurone hemmen
treten in das Spinalganglion ein, wo sich ihr zeitgleich zur Kontraktion eines Muskels a -
Perikaryon, die pseudounipolare Nervenzelle, Motoneurone der entsprechenden Antagonisten.
befindet, über deren zentralen Neuriten der Diese Antagonistenhemmung erfolgt also
entsprechende Reiz ohne Umschaltung weiter reflektorisch über mindestens 2 Synapsen. Als
geleitet wird (an der motorischen Vorderhorn- Charakteristikum fur den monosynaptischen
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
494 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

die zielgerichtete Bewegung des Einzelmuskels


nur erreicht werden kann, wenn viele motori-
sche Einheiten in Koordination aktiviert und
gleichzeitig die motorischen Einheiten der Ant-
agonisten gehemmt werden.

Klinik: 1. Elektromyographische Untersuchun-


gen (EMG) haben gezeigt, dass auch in Ruhe
nur bei sehr wenigen Individuen eine komplette
Unterdrückung der Aktivität von a-Motoneuro-
nen zu beobachten ist. In diesem Falle kommt
es zu einem vollständig schlaffen Muskeltonus.
2. Geringgradige Aktivität von a-Motoneuro-
nen, wie sie im Normalfall auftritt, führt jedoch
nicht zu einer klinisch feststellbaren Erhöhung
des Muskeltonus. 3. Beim Wegfall spezieller
übergeordneter motorischer Systeme, welche
die Spontanaktivität von α-Motoneuronen
kontrollieren, erhöht sich jedoch dieser Mus-
keltonus, wobei als klinisches Phänomen eine
Schwann-Zell-Scheide
Spastik auftritt.
Präsynapse
Mitochondrion
synaptische Vesikel — __ __ Durch Reizung der muskulären Rezeptoren
aktive Zone (ACh) ~ (etwa durch die Muskeldehnung nach einem
präsynaptische Membran — __ " ~ -
Schlag mit dem Reflexhammer auf seine Sehne)
s y n a p t i s c h e r Spalt ~~ lassen sich beim Menschen typische mono-
synaptische Reflexe auslösen, die in genau
Postsynapse definierten Segmenthöhen des Rückenmarks
postsynaptische Zellmembran
mit ACh-Rezeptoren ^ ^
geschaltet werden (s. Abb. 5.104).
postsynaptische Einfaltungen ·"

Abb. 5.103: Die motorische Endplatte als Grundlage


Klinisch wichtige monosynaptische Reflexe
der Willkürmotorik. Die Kästchen zeigen an, welcher
Ausschnitt darunter stärker vergrößert dargestellt 1. Bizepssehnenreflex (BSR): Beugung des Ellen-
wurde. Das unterste Kästchen zeigt schematisch die
bogens nach Dehnung des M. biceps brachii;
neuromuskuläre Synapse, wie sie unter dem Elektro-
nenmikroskop erscheint
Segmenthöhe: C5/C6.
2. Brachioradialissehnenreflex: (BRR) - auch:
Radiusperiostreflex (RPR) Beugung des
Reflex bleibt aber, dass die primär reflektorische
Ellenbogens und Supination des Unterarms
Kontraktion nach Muskeldehung über I einzige
nach Schlag auf den Processus styloideus radii;
Synapse vermittelt sein kann.
Segmenthöhe: C5/C6.
• Kontrolle des Eigenreflexes. Für die Motorik
3. Trizepssehnenreflex (TSR): Streckung des
ist dieser Reflexbogen von grundsätzlicher
Ellenbogens nach Dehnung des M. triceps bra-
Bedeutung, da übergeordnete motorische Sys-
chii; Segmenthöhe: C7/C8.
teme als Regulationssysteme des Reflexgesche-
4. Patellarsehnenreflex (PSR): Streckung des
hens angesehen werden können. Fallen solche
Knies nach Schlag auf das Ligamentum patel-
übergeordneten Kontrollzentren aus, verbleibt
lae: Segmenthöhe: L3/L4.
lediglich ein ungeregeltes Reflexgeschehen auf
5. Achillessehnenreflex (ASR): Plantarflexion
der Ebene des monosynaptischen Rückenmarks-
des Fußes nach Dehnung der Mm. gastrocnemii
apparats zurück. Durch die hohe Aktivitätsrate
et soleus; Segmenthöhe: S1
der α-Motoneurone kommt es zu ungeordneten
Entladungen in diesem Reflexbogen, während
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 495

Spinalganglion
(Perikaryon des pseudounipolaren
1 Neurons der sensiblen Bahn)

Muskelspindeltaser
M. quadriceps femoris mit primärer Endigung
/
Perikaryon des
α-Motoneurons
(multipolar)
Dehnungsreiz 1 N
neuromuskuläre -
Synapsen
(motorische Endplatten)

•do-Effereni

Reflexhammer

Abb. 5.104: Patellarsehnenreflex: Verschaltung (nach J. Nolte, 1993)

Klinik: 1. Die Erhebung des Reflexstatus ist 5.4.7.4 Polysynaptisches spinales System
eine Grundlage der neurologischen Untersu- (Hautreflexe, Fremdreflexe)
chung. Hierbei können Informationen über den
Muskeltonus und die funktionelle Integrität der • Polysynaptische Regelkreise. Bei monosyn-
motorischen Systeme gewonnen werden. 1.1 Bei aptischen Regelkreisen endigt die EfFerenz in
Totalausfall eines Reflexes ist von der Störung demselben Organ, aus dem die Afferenz stammt,
des primären motorischen Regelkreises auszuge- wobei Afferenz und Efferenz über eine einzige
hen. Ursache kann die Läsion eines peripheren Synapse verbunden sind. Dagegen beziehen
Nerven, Spinalnerven oder einer Nervenwurzel polysynaptische Systeme Interneurone des
(efferent oder afferent) sein. 1.2 Ebenso kann ein Rückenmarks ein und verschalten einerseits
solcher Funktionsausfall durch primäre Schädi- verschiedene monosynaptische Systeme mitein-
gung der Muskulatur, des α-Motoneurons oder ander. Andererseits nutzen sie afferente Stimuli,
der Muskelrezeptoren bedingt sein. 1.3 Eine die von weiteren rezeptiven Strukturen des
Erhöhung des Reflexniveaus (überschießende Körpers auch außerhalb der Muskulatur (ζ. B.
Reflexe, Erweiterung der Reflexzonen) deutet aus der Haut) stammen, um eine Bewegung
auf die Schädigung übergeordneter motorischer auszulösen. Auch auf dieser Ebene der Moto-
Regelkreise hin (Spastik). 2. Hinsichtlich des rik bleibt das Reiz-Reaktions-Schema erhalten.
Reflexniveaus bestehen beachtliche interindivi- Die ipsilaterale Hemmung und kontralaterale
duelle Unterschiede. Klinisch ist es daher wich- Innervation antagonistischer Muskeln bilden
tig, Reflexe jeweils im Seitenvergleich, sowie ebenso wie die Mitinnervation anderer, in höher
im Vergleich oberer gegen untere Extremitäten oder tiefer gelegenen Segmenten gelegener
zu untersuchen. α-Motoneurone die Grundlage für rhythmi-
sche Muskelbewegungen. Typischerweise sind
nicht nur direkte muskuläre Reize Auslöser sol-
cher rhythmischer Bewegungen, sondern auch
afferente Informationen, die das Hinterhorn

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
496 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

von der Körperoberfläche erreichen. So können 5.4.7.5 Übergeordnete motorische


die Sinnesorgane der Haut (s. Kap. 5.4.6.1, Systeme
S. 481) ζ. B. beim Kontakt mit einem heißen
Gegenstand einen Schutzreflex (Zurückziehen Auf der Ebene des Rückenmarks besteht auf-
des gefährdeten Körperteils) auslösen. Aufgrund grund der Verschaltung von Afferenzen und
der polysynaptischen Signalweiterleitung ist die Efferenzen durch den Eigenapparat und die
Reflexzeit (vom Reiz bis zur Antwort) deutlich Interneurone ein System, das bereits komplexe
länger als bei Eigenreflexen. Bewegungen ausführen kann. Übergeordnete
• Verschattung. Dendritische Axone (s. Kap. Systeme sind jedoch zusätzlich notwendig, um
5.4.6.1, S. 481) aus der Haut bringen die im Gehirn initiierte und willkürliche Bewegun-
Information zu pseudounipolaren Nerven- gen auszuüben, in eingeübte Bewegungsmuster
zellen im Spinalganglion. Deren Axone treten umzusetzen sowie die Koordination dieser
über die Hinterwurzeln ins Rückenmark ein. Bewegungen im dreidimensionalen Raum unter
Dort können sie entweder im Bereich des Berücksichtigung der Ausgangsstellung zu
Hinterhorns umgeschaltet werden, oder als ermöglichen.
Hinterstrangbahn zur Medulla oblongata
verlaufen (s. Kap. 5.4.6.1, S. 481). Für das poly- Alle hemmenden und aktivierenden Einflüsse der
synaptische spinale System ist die Verschattung übergeordneten Systeme verlaufen über deszen-
der Afferenzen im Rückenmark durch die Inter- dierende (absteigende) supraspinale (vom Gehirn
neurone des Eigenapparates (s. Kap. 5.2.7.4, - inklusive Medulla oblongata - ausgehende)
S. 427) entscheidend. Die Schaltzellen eines Bahnen, deren Axone indirekt (über Interneurone)
Segments können hierbei als Assoziationszel- oder direkt am α-Motoneuron enden, das deshalb
len polysynaptische Netzwerke ipsilateral über als gemeinsame motorische Endstrecke aller
mehrere Segmente hinweg oder als Kommissu- Einflüsse bezeichnet wird (s. Kap. 5.4.8.7, Abb.
renzellen zur kontralateralen Seite hin (ζ. B. zur 5.116). Innerhalb der deszendierenden supraspi-
Antagonistenhemmung) ausbilden. nalen Bahnen werden unterschieden: eine laterale
Gruppe, in der unter anderem der Tractus corti-
Typische polysynaptische Reflexe werden cospinalis lateralis (als Teil der Pyramidenbahn)
durch die Stimulation eines Hautareals ausge- sowie der Tractus rubrospinalis verläuft, sowie
löst und führen zur Kontraktion eines diesem eine ventromedial Gruppe, in der außer dem
Segment zugehörigen Muskels (Haut-Muskel- Tractus corticospinalis anterior auch vestibulospi-
Reflex oder Fremdreflex). nale, tektospinale und verschiedene retikulospinale
Fasersysteme verlaufen (s. Abb. 5.99). Letztere
Klinisch wichtige polysynaptische Reflexe sind die phylogenetisch älteren.

1. Bauchdeckenreflex Tabelle 5.5


Bestreichen der Bauchdecke in verschiedenen
Höhen führt zur Kontraktion der Bauchdecken- Laterale Gruppe Ventromediale Gruppe
(oder Seitenstrang) (oder Vorderstrang)
muskulatur. Segmenthöhe: Th8-Ll.
2. Cremasterreflex Tractus corticospinalis Tractus corticospinalis anterior
Bestreichen der Innenseite des Oberschenkels lateralis Tractus vestibulospinalis
Tractus rubrospinalis Tractus tectospinalis
führt zur Kontraktion des M. cremaster. Seg-
Tractus reticulospinalis
menthöhe: Thl2-Ll.
3. Analreflex Die Fasern der lateralen Gruppe leiten im wesent-
Bestreichen der perianalen Hautregion führt zur lichen Informationen zur willkürlichen Kontrolle
Kontraktion des M. sphincter ani externus. Seg- der Extremitätenmuskulatur, besonders der Hand-
menthöhe S4-S5. bewegungen. Fasern in der ventromedialen Gruppe
kontrollieren Bewegungen der axialen Rumpfmus-
Darüber hinaus gibt es komplexe polysynaptische
kulatur, sind für die Balance, den aufrechten Gang
Fremdreflexe wie die Schutzreflexe, Fluchtreflexe,
und die Tonuskontrolle der Muskulatur innerhalb
vegetativen Reflexe und die Beugereflexe.
einer Extremität verantwortlich.
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 497

• Tractus rubrospinalis. Er verläuft neben der liegen in den Schichten III und V (s. Abb. 5.106
Pyramidenbahn in der lateralen Gruppe. Seine und Lehrbuch der Histologie) die großen Pyrami-
Fasern reichen nur zu den oberen spinalen Seg- denzellen, deren Axone als kortikofugale Fasern
menten. Afferenzen für diesen Fasertrakt stam- des Tractus corticonuclearis zu den motorischen
men im Wesentlichen aus dem Spinocerebellum, Hirnnervenkernen und als Fasern des Tractus cor-
welches über den Pedunculus cerebellaris supe- ticospinalis zu den Kernsäulen im Vorderhorn des
rior zum Nucl. ruber projiziert. Rückenmarks verlaufen. Die prominentesten die-
ser Nervenzellen, Betz-Riesenpyramidenzellen,
Klinik: Der Tractus rubrospinalis dient haupt- liegen auschließlich im Motocortex (Brodmann-
sächlich der erlernten (willkürlichen) Feinmoto- Areal 4). Im Tractus corticospinalis verlaufen etwa
rik. Läsionen dieses Trakts, ebenso wie des Nucl. 1 Million Axone, im menschlichen Cortex kommen
ruber führen kontralateral zum Intentionstremor aber nur etwa 30 000 Betz- Riesenpyramidenzellen
und weisen hierdurch auf eine Funktionsstörung vor, so dass nur etwa 2-5% der Pyramidenbahnfa-
des Neuronenkreises vom Kleinhirn über den sem axonale Projektionen der Riesenpyramiden-
Nucl. ruber auf die Olive und zurück hin. zellen darstellen.
Der Begriff „Pyramidenbahn" beschreibt die Tatsache,
dass der Tractus corticospinalis in der Pyramide der
5.4.7.5.1 Pyramidalmotorisches System Medulla oblongata verläuft und große Teile des Tractus
oberflächlich sichtbar als Decussatio pyramidum auf
die Gegenseite kreuzen (s. Abb. 5.27). Die Bezeich-
Das pyramidalmotorische System entspricht nung bezieht sich also nicht auf die Pyramidenzellen als
weitgehend der „Willkürmotorik", indem es Ursprungszellen der Pyramidenbahn; diese sind auch an
Informationen direkt aus dem Cortex über die der Bildung von Kommissuren- und Assoziationssyste-
Pyramidenbahn ohne weitere Umschaltung men beteiligt.
zu den motorischen Hirnnervenkernen (als
2. Faserzusammensetzung der Pyramidenbahn.
Tractus corticonuclearis) und ins Vorderhorn
Etwa 80 % der kortikospinalen Fasern stammen
des Rückenmarks (als Tractus corticospinalis)
aus der Area 4 (=Motocortex) und der sich rostral
trägt.
davon über die Mantelkante erstreckende Area 6
(= Supplementärmotorisches Areal, SMA). Die
1. Ursprungsgebiete des pyramidalmotorischen
verbleibenden 20 % der Fasern enstammen dem
Systems. Kortikale Ursprunggebiete sind die
unterhalb des SMA gelegenen prämotorischen
motorischen Areale 4 und 6 des Gyrus praecentra-
Cortex (PMA) sowie der im ventralen Gyrus cin-
lis im Lobus frontalis (Abb. 5.105, 127, 128). Dort

supplements motorischer Motocortex


Cortex (SMA)
Sulcus centralis
posteriorer parietaler
prämotorischer s Cortex (Area 5.7}
Cortex (PMA)

- Sulcus
froritales parietooccipitalis
Augenfeld

Broca-Sprachzentrum
(Area 44,45)

Abb. 5.105: Motorische Areale auf der Kortexoberfläche (nach K. Zilles,


1994)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
498 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

l. Itfolekularschicht

III äußere Kcrne'schicnt

äußere Mauptsjucht
»t κ " i V i ^·*
:
fi- Ii
· " . » · ; : kν 1- V ^ ν : . . . . . .
ll '•v.? ;.· . i , ι - - r - ~
FVFamideMeffsefikht

IV. inne'e Kornerschicht äußerer IGrennari)

Ba ili ianger-Stireif et
V. inner® Pyrsmidertzellschicrtt
innerer

> innere Hauptschicht

VI. multiforme Schicht

' i ^ ' . ^ j fi·)·/ s


; ! :.··1|· ·; ,
ζ ,. ·· · ·Ί · > Γ."
Μ ·· .·,·
Mark {
Abb. 5.106: Histologisches Schichtenbild der Zytoarchitektur des Motocortex (nach K. Brodmann). A: Silberim-
prägnation; B: Zellfärbung (Nissl); C: Markscheidenfärbung. Der äußere Baillarger-Streifen entsteht durch die tha-
lamokortikalen Afferenzen (im visuellen Cortex als Gennari-Streifen vom CGL besonders ausgeprägt). Der innere
Baillarger-Streifen stellt intrinsische und assoziative Fasern dar (zur Schichtung s. Kap. 5.4.10.2, Abb. 5.126)

guli liegenden cingular motor area (CMA). Mit Lage und Verbindungen. Das primäre motori-
der Pyramidenbahn ziehen auch afferente Fasern sche Areal (Area 4) befindet sich in der Rinde des
zu sensorischen Arealen (Area 3a; Areale: s. Abb. Gyrus praecentralis. Dieser breitet sich von medial
5.105, 127-130). Diese sensorischen Areale stehen oberhalb des Gyrus cinguli (Lobulus paracentralis)
in direkter Beziehung zu motorischen Funktionen. über die Mantelkante nach lateral hinab zum Sulcus
Insbesondere enden hier die Bahnen von Muskel- lateralis aus (s. Abb. 5.17, 20, 24). Der motorische
spindeln und anderen Rezeptorsystemen. Die Tat- Cortex bezieht insbesondere afferente Zugänge aus
sache, dass auch sensorische Fasern teilweise mit prämotorischen Arealen (Areae 6-8) und aus den
der Pyramidenbahn verlaufen, macht deutlich, dass somatosensorischen Arealen des Gyrus postcen-
das kortikospinale motorische System ein komple- t r a l (Areae 1, 2 und 3). Darüber hinaus erhält
xes sensomotorisches Funktionssystem ist. er Informationen vom Nucl. ventralis lateralis
thalami. Von den Pyramidenneuronen der Laminae
III und V des motorischen Cortex entspringen etwa
3. Motocortex
50 % der Fasern der Pyramidenbahn. Diese Neu-
rone benutzen Glutamat und Aspartat als exzitato-
Im Motocortex, Area 4, liegen die Ursprungs-
rischen Transmitter.
neurone der Willkürmotorik.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 499

Somatotopie, Homunculus. Der Motocortex ist in phäre, während der Oberschenkel auf die Facies
seiner gesamten Ausdehnung somatotopisch geglie- superolateralis übergeht. Es folgen nacheinander
dert, wobei die einzelnen Repräsentationsfelder der Rumpf- und Oberarmmuskulatur, dann das große
motorischen Körperfunktionen eine unterschiedli- Hand- und Gesichtsareal sowie das Areal für den
che Größe einnehmen. Ihre Verteilung wird durch Mund-, Zungen- und Kehlkopfbereich am Sulcus
den ,/notorischen Homunculus" (lat. = Mensch- lateralis. Die Informationen vom präzentralen
lein) dargestellt, welche über den Cortex gelegt die Cortex gelangen also als Tractus corticonuclearis
einzelnen Innervationsbereiche (Muskeln des Kör- (Verschattung in den motorischen Hirnnervenker-
pers) repräsentieren soll (Abb. 5.107). Dabei gilt: nen) und Tractus corticospinalis (Verschaltung im
Je feiner und differenzierter die Muskelfunktion Vorderhorn) zu den Muskeln, die vom kortikalen
ist, desto größer ist auch das Kortexareal, welches Herkunftsareal repräsentiert werden.
sie steuert. Die Bereiche fur die axiale Muskulatur
und die Muskulatur der unteren Extremität werden 4. Pyramidenbahn, Tractus corticospinalis
folglich in relativ kleinen kortikalen Arealen reprä- et corticonuclearis
sentiert, wohingegen Hand und Mund als Bereiche
hoher motorischer Funktionspräzision vergleichs- Zur Pyramidenbahn zählt man funktionell
weise große Kortexflächen einnehmen. Die Areale sowohl den Tractus corticospinalis als auch den
der unteren Extremität sind im Gyrus praecentralis Tractus corticonuclearis (auch corticobulbaris),
über der Mantelkante lokalisiert und nehmen eine obwohl nur der Tractus corticospinalis durch die
vergleichsweise kleine Fläche ein. Unterschenkel Pyramide der Medulla oblongata zieht (Abb.
und Fuß liegen auf der Medianfläche der Hemis- 5.108).

Abb. 5.107: Darstellung des Homunculus der Großhirnrinde. Rostrai des Sulcus centralis liegt der motosensori-
sche (Ms I) Cortex, dorsal des Sulcus centralis der sensomotorische Homunculus (Sm l), denn auch der Gyrus
postzentralis ist somatotopisch gegliedert. Beide Kortexabschnitte reichen über die Mantelkante hinweg, wo
jeweils lateral der Falx cerebri die Repräsentationsgebiete der Füße liegen. Das sensomotorische Feld (Sm II)
liegt in der Tiefe der Insel und reicht ζ. T. bis rostral des Sulcus centralis. Er ist teilweise somatotopisch geglie-
dert

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
500 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

zentrale motorische Neurone


(kortikale Pyramidenzellen)

Capsula interna

Crus cerebri
N. oculomotorius

^ periphere motorische
/ Neurone in Hirnnervenkernen
Λ
•^N. trigeminus

— — N. hypoglossus

Pyramide""

κ 1 UV / i — N. accessorius
\ ··. 1 V - T T Ü i W
~ Decussatio pyramidum
Tractus coticospinalis lat.
(Pyramidenseitenstrangbahn)
— — __ Tractus corticospinals ant.
IPyramidenvorderstrangbahn)
periphere motorische
Neurone |a-Motoneurone)

Radix ventralis n. spinalis

Abb. 5.108: Verlauf der Pyramidenbahn; Tractus corticospinalis (= rot) und Tractus corticonuclearis (= schwarz)

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 501

Abb. 5.109: Schema der Topographie der Capsula interna (nach P. Duus, 1990). Die Capsula interna hat die Form
eines Winkels, dessen hinterer Schenkel (Crus posterius) medial vom Thalamus und dessen vorderer Schenkel
(Crus anterius) medial vom Kopf des Nucleus caudatus begrenzt wird. Zwischen beiden Schenkeln liegt das
Knie (Genu capsulae internae). Lateral wird die Capsula interna vom Linsenkern (Putamen und Globus pallidus)
begrenzt (vgl. Abb. 5.34, 43, 46, 47). Die Pyramidenbahn verläuft im Crus posterius bis ans Genu der Capsula
interna

Verlauf durch die Capsula interna. Fächerför- Klinik: 1. Einblutungen und Infarkte im Bereich
mig vom prämotorischen, primären motorischen der Capsula interna sind ein häufiges klinisches
und dem supplementärmotorischen Areal ausge- Ereignis. Hiervon sind im Regelfall (bis auf
hend konvergieren die Fasern zu einem dichten, kleine lakunäre Infarkte) nicht allein die Fasern
geschlossenen Bündel, das die Capsula interna des Tractus corticospinalis und des Tractus cor-
am Knie, Genu, und dem sich dorsal anschließen- ticonuclearis befallen. Typischerweise kommt es
den Crus posterius passiert. Der Tractus corticonu- zur Mitschädigung der weiter rostral in der Cap-
clearis verläuft in der Capsula interna rostral der sula interna gelegenen frontopontinen Bahnen
Fasern des Tractus corticospinalis. Im Gegensatz des extrapyramidalmotorischen Systems sowie
zu früheren Vorstellungen nehmen die Fasern einen weiter dorsal gelegener Fasern. Letztere sind
sehr umschriebenen Bereich innerhalb der Cap- Bestandteil der hinteren Brückenbahn, der
sula interna ein, wobei sie nach rostral nicht über Tast-, seltener der Seh- und Hörbahn. Hierdurch
den Bereich des Genu capsulae internae ins Crus erklärt sich die oft komplexe Symptomatik einer
anterius reichen (Abb. 5.109). Am Eingang in die solchen Schädigung. 2. Bei einer (seltenen)
Capsula interna verläuft der Tractus corticospinalis isolierten Schädigung der Pyramidenbahn (ζ. B.
direkt am Knie, im unteren Abschnitt weiter dorsal der Area 4 oder der Pyramide) tritt eine rein
im Crus posterius. schlaffe Lähmung auf, während Blutungen und
Infarkte in der Capsula interna durch den Befall
auch der extrapyramidalmotorischern Fasern zur
Entwicklung spastischer Lähmungen fuhren.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
502 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Weiterer Verlauf des Tractus corticospinalis. einem großen Anteil direkt α-Motoneurone, zu
Beim Austritt aus der Capsula interna verlaufen einem weiteren Anteil aber auch Interneurone,
die Fasern des Tractus corticospinalis lateral des so dass erst indirekt die α-Motoneurone erreicht
Tractus corticonuclearis und durchziehen die Crura werden.
cerebri des Mesencephalon, den Pons und die
Medulla oblongata, bis sie in die Medulla spinalis Eine solche direkte kortikospinale Innerva-
gelangen: tion von α-Motoneuronen findet sich erst bei
höheren Primaten und besonders beim Men-
• Crura cerebri (Abb 5.108 II). Die Fasern ziehen
schen. Bei der Katze beispielsweise ist eine
durch den mittleren Bereich des Hirnstiels, Crus
solche direkte Innervation der α-Motoneurone
cerebri (s. Abb. 5.51), und werden hier von der
noch nicht nachweisbar.
vorderen (Tractus frontopontinus) und der hinte-
ren (Tractus parieto-occipito-temporopontinus)
Besonders fur die Bewegungsfähigkeit der kontrala-
Brückenbahn (Tractus corticopontinus) beglei-
teralen Hand ist der Tractus corticospinalis lateralis
tet (s. Abb. 5.52-53). Die verschiedenen Bündel von entscheidender Bedeutung. Phylogenetisch handelt
der Pyramidenbahn verlaufen weiterhin in es sich dabei um einen relativ neuen Evolutionsschritt.
somatotopischer Ordnung, wobei Fasern zu a - Frühere Durchschneidungsexperimente haben gezeigt,
Motoneuronen der oberen Extremität innerhalb dass die Durchtrennung der Pyramidenbahn auf Höhe
des Crus cerebri mehr medial, Fasern zu denen des Hirnstamms bei einer Katze nicht zu nennenswerten
der unteren Extremität mehr lateral liegen. motorischen Ausfallen fuhrt. Bei Affen kam es nach
Läsion der Pyramidenbahn dagegen zu einer auf die
• Pons (Abb. 5.108 III-IV). Am Unterrand des
Handmotorik begrenzten Bewegungseinschränkung,
Mesenzephalons treten die Fasern des Tractus
die besonders bei Greif- und Fassbewegungen auffällig
corticospinalis in den Pons ein. Hier fächert sich wurde. Die Bewegung von Daumen und kleinem Finger
der Trakt in Bündel auf, die zwischen den Nucll. sowie das koordinierte Bewegen der Finger waren
pontis verlaufen (s. Abb. 5.55). Am basalen gestört.
Ende der Brücke tritt der Tractus corticospinalis
wieder geschlossen als Pyramide an die Oberflä- Verlauf des Tractus corticonuclearis. Die
che der Medulla oblongata (s. Abb. 5.56, 57). Ursprungsneurone dieser auch als Tractus cortico-
• Decussatio pyramidum: Aufteilung in den bulbaris bezeichneten Bahn liegen im Gesichtsa-
Tractus corticospinalis anterior und lateralis real des Motocortex und des SMA, also im mitt-
(Abb. 5.108 V-VII). Im kaudalen Abschnitt der leren Bereich der lateralen Cortexoberfläche von
Pyramide kreuzen etwa 80% der Fasern in die Area 4 und Area 6. Weiterhin treten Fasern aus dem
Pyramide der Gegenseite und verlaufen weiter frontalen Augenfeld in Area 8 und aus der Area 46
als Tractus corticospinalis lateralis im Vorder- im Gyrus frontalis medius für die Bewegungen
seitenstrang des Rückenmarks. Etwa 20% der der willkürlichen Augenmuskulatur hinzu (s. Abb.
Fasern des Tractus corticospinalis kreuzen nicht 5.105, 107). Diese innervieren Blickzentren im
in der Pyramide. Sie verlaufen als Tractus cor- Mesenzephalon und im Pons. Der Tractus corti-
ticospinalis anterior im ipsilateralen Vordersei- conuclearis verläuft medial in der Pyramidenbahn
tenstrang des Rückenmarks direkt an der Fissura und gibt Fasern zu den motorischen Hirnnerven-
mediana, kreuzen größtenteils im Segment und kernen (Nucll. motorii oder Nucll. origines) ab,
innervieren dort beidseitig die Lamina VIII die die Muskeln an Kopf und Hals innervieren.
(s. Abb. 5.65) und ventromediale Anteile des Im Gegensatz zum Tractus corticospinalis, der
Vorderhorns. Der Tractus corticospinalis ante- fast vollständig (80%, s. o.) auf die Gegenseite
rior innerviert vornehmlich die axiale Muskula- kreuzt, gibt es beim Tractus corticonuclearis eine
tur, wodurch er bei der Steuerung von Körper- bilaterale Projektion: Gekreuzte und ungekreuzte
stammbewegungen eine wichtige Rolle spielt. Fasern erreichen die Kerne der Nn. III, IV und
An der Feinmotorik der distalen Extremitäten VI (äußere Augenmuskeln und Lidheber) sowie
ist er im Gegensatz zum Tractus corticospina- kraniale Anteile des Nucl. η. VII (Mm. frontalis et
lis lateralis nicht beteiligt. In jedem Segment orbicularis oculi).
scheren dann Fasern zu den Vorderhornarealen
der α-Motoneurone aus. Dort innervieren sie zu Zur klinisch wichtigen Topographie und zum Ver-
lauf der Pyramidenbahn über die Capsula interna

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme d e s Z N S 503

Abb. 5.110: Aktivierungsmuster d e s primär somatosensorischen Cortex im funktionellen MRT (fMRT) bei Stimula-
tion einzelner Finger (Digiti 1-5; in der A b b i l d u n g Dig 1 - 5 abgekürzt). Diese Untersuchungsmethode erlaubte in
d e n letzten Jahren eine genauere somatotope und funktionelle Gliederung d e s Cortex. Auf bestimmte Reize oder
Befehle hin werden die hiervon aktivierten Kortexabschnitte im fMRT sichtbar (aus der Neurologischen Klinik der
Charite, Prof. Dr. med. A.Villringer)

zu den Himnervenkernen bzw. bis ins Rückenmark heutiger Sicht kann dieses System aber nur in enger
siehe auch Abb. 5.43, 46, 47, 52, 53, 55-57, 64, funktioneller Verknüpfung mit dem System der
108, 109. pyramidalen Willkürmotorik gesehen werden.
Aus diesem Grund wird es verschiedentlich (etwa
Klinik: Bei einer einseitigen Läsion der Capsula in der Neurophysiologie) auch parapyramidalmo-
interna sind durch die bilaterale Versorgung die torisches System genannt. In der Klinik ist aber
von diesen Motoneuronen versorgten Augen- der Begriff Extrapyramidalmotorik noch immer
muskeln nicht vollständig gelähmt, sondern in Gebrauch und soll daher auch hier verwendet
nur geschwächt. Da die ipsilaterale Projektion werden.
erhalten bleibt, zeigt sich in Ruhestellung eine
Abweichung beider Augen zur betroffenen Seite Beim Menschen koordiniert das EPS die für die
hin, was als Deviation conjuguee („der Kranke Bewegungsabläufe der pyramidalen Willkürmo-
blickt den Herd/die Läsion an") bezeichnet wird. torik eingeübten Grundmuster des Bewegungs-
Dies ist insbesondere bei ausgeprägten Media- ablaufs.
infarkten, aber auch bei akuten Frontalhirnsyn-
dromen der Fall, wenn das frontalmotorische
Klinik: 1. Der Ausreifungsprozess des EPS
Augenfeld in Mitleidenschaft gezogen wird.
lässt sich anhand der Entwicklung der Motorik
des heranwachsenden Kindes sehr gut studieren.
Die Geschmeidigkeit der Bewegung, das Erler-
5.4.7.5.2 Extrapyramidalmotorisches nen komplexer Bewegungsmuster durch sport-
S y s t e m (EPS) liche Aktivität und die Entwicklung komplexer
Bewegungsaufgaben unter bewusster Kontrolle
Im EPS sind Kerngruppen verschaltet, die für
repräsentieren die Ausreifung der Extrapyrami-
die Steuerung der Begleitmotorik (Mimik,
dalmotorik, die also Jahre in Anspruch nimmt,
Gestik und Körperhaltung) sowie eingeübter
sich aber doch - im Gegensatz zu den mono-
Bewegungsmuster verantwortlich sind.
und polysynaptischen Reflexen - im funktionel-
len Sinne trainieren lässt. 2. Schädigungen im
Definiton des EPS. Lange Zeit ging man von einem
Rahmen eines Infarkts oder einer Hirnblutung
selbstständigen und unabhängig vom pyramidal-
betreffen meist sowohl das pyramidal- als auch
motorischen System fungierenden, also eigentlich
das extrapyramidalmotorische System. Des-
„extra"-pyramidalmotorischen System aus. Aus
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
504 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

findet sich aber im Gegensatz zum Motocortex


halb lassen sich sowohl Einschränkungen der
eine doppelte und weniger genaue Organisation
bewussten Zielmotorik als auch von eingeübten,
dieser Somatotopik. Neben der direkten Inner-
koordinierten Bewegungsabläufen beobachten.
vation des Motocortex durch PMA und SMA
zeigen diese Areale spezifische Projektionen zu
Zentren des extrapyramidalmotorischen
subkortikalen Kerngebieten des motorischen
Systems
Systems.
Das EPS wird aus mehreren Kerngebieten der
• PMA. Das auf der dorsolateralen Seite des
Großhirn- und Kleinhirnhemisphären und des Hirn-
Frontallappens gelegene PMA projiziert auch
stamms aufgebaut, die aber strukturfunktionell so
zum medialen Anteil der Formatio reticularis
eng miteinander vernetzt und verschaltet sind, dass
(Nucl. reticularis magnus) des Hirnstamms (s.
sie als einheitliches System aufgefasst werden.
Kap. 5.4.9.2, S. 518). Über diese Verschaltung
und den Tractus reticulospinal is ist das PMA
Zum EPS zählen:
in die Stabilisation des aufrechten Gangs und
• die prämotorischen Areale des frontalen die Kontrolle der axialen und der proximalen
Cortex cerebri, Extremitätenmuskulatur eingebunden. Es selbst
• die Basalganglien: bekommt afferente Zuflüsse aus den Areae 5
und 7 des oberen Parietallappens (sekundäre
• Nucl. caudatus,
sensible Rinde). Das PMA spielt eine wichtige
• Putamen,
Rolle bei willkürlichen Bewegungen, die von
• Globus pallidus, taktilen (Area 5) oder multimodalen (Area 7)
• Nucl. subthalamicus, sensorischen Informationen ausgelöst werden.
• Substantia nigra, Hierbei scheint es besonders die sensomoto-
- Pars compacta und rische Integration bei hochkomplexen Bewe-
- Pars reticularis, gungsmustern umzusetzen. Ebenso wie der
• Nucl. ruber. Motocortex erhält das PMA Eingänge von ven-
• die Area tegmentalis ventralis (VTA) des trolateralen und ventroanterioren Kerngruppen
Metenzephalons und des Thalamus (s. Abb. 5.48).
• das Neocerebellum. • SMA. Das supplementärmotorische Areal ist
eine Integrationsstation vielfältiger Eingänge
Häufig werden auch hinzu gezählt:
aus anderen kortikalen Arealen des Frontal-,
• der Nucl. vestibularis lateralis (Deiters) und Temporal- und des Parietallappens. Ebenso
• das gesamte Cerebellum erhält dieses Areal Informationen aus subkorti-
kalen Kerngebieten wie dem Corpus amygdalo-
• Prämotorischer Cortex. Unter diesem Begriff ideum und dem Thalamus. Das SMA integriert
fasst man das prämotorische Areal, PMA, das auf diese Weise verschiedene Einflüsse auf die
supplementärmotorische Areal, SMA, sowie das motorischen Funktionen. Im Besonderen beein-
im vorderen Gyrus cinguli gelegene zinguläre flusst es die proximale Extremitätenmuskulatur
motorische Areal, CMA, zusammen (s. Abb. und den Bewegungsentwurf, wobei es für die
5.105). Das PMA liegt in der Area 6 auf der Initiation von Bewegungen von großer Bedeu-
lateralen Oberfläche des Frontallappens rostral tung ist.
des Gyrus praecentralis. Das SMA erstreckt
Die kortikalen Areale des EPS grenzen somit
sich nach medial über die Mantelkante ebenfalls
unmittelbar an die Bereiche des Motocortex an,
rostral des Motocortex und zählt noch zur Area
wobei insbesondere das SMA eine Schnittstelle
6. Das Gebiet des CMA befindet sich in Antei-
von Pyramidal- und Extrapyramidalmotorik dar-
len der rostralen zingulären Areae 23 und 24.
stellt. Ebenso gehören die Bereiche des PMA, des
Fasern aus diesen Arealen projizieren direkt in
frontalen Augenfeldes, der Area 8 und der Parie-
den Motocortex. Fasern aus dem SMA verlaufen
tallappenfelder 3, 5a und 5b funktionell zum EPS.
allerdings auch ohne Umschaltung im Tractus
Kortikofugale Fasern aus diesen Arealen ziehen zu
corticospinalis. Ebenso wie der Motocortex
den Basalganglien des Telenzephalons.
sind diese Felder somatotopisch organisiert. Es
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 505

• Basalganglien, Nuclei basales (s. Kap. 5.2.5.2, Cortex sowie dopaminerge Afferenzen aus
S. 398). Der Begriff wird uneinheitlich ver- der Substantia nigra, pars compacta (Abb.
wendet. In funktioneller Hinsicht zählt man 5.111). Letztere innervieren im Striatum
den Nucl. caudatus und das Putamen sowie mittelgroße Neurone, deren Dendriten einen
den Globus pallidus lateralis (als Anteilen des starken Dornenbesatz aufweisen. Diese endo-
Telenzephalons), den Globus pallidus medialis striatalen Neurone {spiny neurons) sind die
und den Nucl. subthalamicus (als Anteilen des Projektionsneurone des Striatums, die den
Dienzephalons) sowie den Nucl. ruber und die Globus pallidus lateralis und die Substantia
Substantia nigra (als Anteilen des Mesenzepha- nigra, pars reticularis, innervieren und dabei
lons) zu den Basalganglien (oder: Kerngebieten Gamma-Aminobuttersäure (GABA) als inhi-
des EPS). Klinisch wird mit dem Begriff der bitorischen Neurotransmitter benutzen. Diese
„Basalganglien" aber oft nur Bezug auf die Projektionsneurone sind vielfaltig über auffallig
Telenzephalonkerne genommen. Entwick- große Interneurone im Striatum miteinander
lungsgeschichtlich bezeichnet der Terminus die verschaltet, die Acetylcholin als exzitatorischen
Telenzephalonkerne, einschließlich des Corpus Neurotransmitter verwenden.
amygdaloideum.
Im Striatum bildet sich eine Matrix aus, die sich histo-
chemisch aufgrund ihrer Acetylcholinesterase- und Tyro-
Nucl. caudatus und Putamen werden häufig sinhydroxylase-Aktivität anfärben lässt. Es finden sich
als Streifenkörper, Striatum, Putamen und jedoch kleine, fleckförmig verteilte Areale eingelagert,
Pallidum als Linsenkern, Nucl. lentiformis, die sich kaum mit diesen Techniken anfärben lassen und
zusammengefasst. (Zur Lage der Basalganglien die den Namen Striosomen tragen. Ihre funktionelle Rele-
s. auch Abb. 5.29, 34, 36, 43, 46.) vanz ist bisher nicht eindeutig geklärt. Sie repräsentieren
eine morphologische Organisation, die der kolumnären
Organisation des Cortex cerebri vergleichbar ist.
• Nucl. caudatus und Putamen. Das Stria-
tum erhält glutamaterge Afferenzen aus dem

Striatum (Nucleus caudatus et Putamenl

H ü Globus pallidus (Pars lateralis et medialis)

] Nucleus subthalamicus

Thalamus

H Substantia nigra (Pars compacta)

I I Substantia nigra (Pars reticularis)

Abb. 5.111: Schematische Darstellung der wichtigsten motorischen Verschaltungen der Basalganglien
(nach K. F. Masuhr/M. Neumann, 1992)

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
506 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

• Globus pallidus. Er bildet den medialen über dem Crus cerebri im Tegmentum mesence-
Abschnitt des Nucl. lentiformis (s. Abb. 5.47) phali und erstreckt sich von der rostralen Grenze
und gliedert sich in 2 Anteile. Der laterale Anteil des Pons bis zum Nucl. subthalamicus. Durch
erhält vielfältige Zuflüsse aus dem Striatum. die schwarze Färbung seines zellreichen Anteils,
Projektionsneurone in diesem Teil des Globus der Pars compacta, lässt sich die Substantia
pallidus benutzen ebenfalls GABA als inhibi- nigra im Hirnschnitt bereits mit dem bloßen
torischen Transmitter und innervieren den Nucl. Auge erkennen (s. Abb. 5.37, 52, 53). Diese
ventralis anterior thalami. Der Globus pallidus durch ihren Neuromelaningehalt (eisenhaltiges
medialis steht auch in enger Verbindung mit der Pigment) dunkel erscheinenden Neurone der
Substantia nigra, pars reticularis. Pars compacta projizieren über den Tractus
• Nucl. subthalamicus. Der Nucl. subthalamicus nigrostriatalis zum Nucl. caudatus und Put-
liegt medial der Capsula interna an der Grenze amen (Striatum) und benutzen Dopamin als
zwischen Di- und Mesencephalon direkt über inhibitorischen Transmitter. Weiter zur Mittelli-
der Substantia nigra, pars reticularis. Seine nie hin liegen im VTA dopaminerge Zellen, die
Projektionsneurone benutzen Glutamat als zum ventralen Striatum, zum Nucl. accumbens,
exzitatorischen Transmitter. Direkte afferente aber auch zur Amygdala und zum frontalen und
Eingänge stammen aus motorischen Kortexare- limbischen Cortex projizieren und so die so
alen; aus dem Globus pallidus lateralis kommen genannte mesolimbische dopaminerge Pro-
inhibitorische Zuflüsse. Der Nucl. subthalami- jektion bilden. Rostrai der zelldichten, Neuro-
cus beeinflusst die motorische Aktivität haupt- melanin-enthaltenden Pars compacta findet sich
sächlich durch Innervation des Globus pallidus die im makroskopischen Schnitt gräuliche Pars
und der Substantia nigra, pars reticularis. Auf reticularis. Die Pars reticularis enthält GABA-
diese Weise stellt der Nucl. subthalamicus eine erge Projektionsneurone, deren Afferenzen
wichtige Station in der Endkontrolle des motori- aus dem Striatum stammen. Genauso wie der
schen Regelkreises der Basalganglien durch den Globus pallidus stellt sie ein wichtiges Zentrum
Cortex dar (s.Abb. 5.111). des motorischen Regelkreises der Basalganglien
dar. Aus diesem Grund werden beide Kerne oft
Klinik: 1. Aufgrund des Verschaltungsmusters als funktionelle Einheit gesehen.
der Basalganglien mit dem Nucl. subthalamicus
sowie Läsionsbefunden ist der neurochirur- Klinik: 1. Die dopaminergen Zellen des VTA,
gische Therapieansatz der Elektrostimulation die zur Amygdala und zum zerebralen Kortex
beim therapierefraktären Parkinson-Sysndrom projizieren, spielen eine wichtige Rolle als
und verschiedenen Dystonieformen entstanden: unspezifisch aszendierendes dopaminerges
Hier werden in den Globus pallidus medialis System. Störungen dieses Systems werden für
oder in den Nucl. subthalamicus beider Gehirn- viele psychiatrische Erkrankungen (insbeson-
häften Stimulationselektroden eingeführt, die dere Depression und Schizophrenie) verant-
über einen subkutanen Schrittmacher versorgt wortlich gemacht. 2. Im Rahmen der Parkinson-
werden. Die Stimulation verursacht eine Hyper- Erkrankung (auch: Paralysis agitans) kommt
polarisationsblockade, so dass die Neurone in es zur Degeneration der Dopamin-haltigen
den stimulierten Regionen keine Aktionspoten- Ursprungszellen des Tractus nigrostriatalis in der
tiale mehr generieren. So ist die Bewegungs- Substantia nigra, Pars compacta. Diese zumeist
inhibition aus diesen Zentren gedämpft, was im mittleren und höheren Alter beginnende
klinisch zu einer deutlichen Besserung führen Erkrankung äußert sich in der Symptomentrias
kann. 2. Bei zumeist vaskulären Schädigungen Rigor, (Ruhe-) Tremor, Akinese. Klinisch zeigt
des Nucl. subthalamicus kommt es zum Krank- sich eine Steifheit der Muskulatur, die mit einem
heitsbild des Hemiballismus. Hierbei treten typischen Fehlen der Gesichtsmimik (Masken-
unwillkürliche ausladende Bewegungen der gesicht) einhergeht. Des weiteren besteht ein
Extremitäten kontralateral zur Läsionsseite auf. besonders die Hand betreffender Ruhetremor
sowie ein typisches Gangbild mit kurzen, trip-
• Substantia nigra und ventrales tegmentales pelnden Schritten (Marche ä petit pas). Da in
Areal (VTA). Die Substantia nigra liegt direkt einigen Fällen auch kognitive Einbußen auftre-

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 507

Neurone, die Glutamat als exzitatorischen


ten, scheint der Morbus Parkinson nicht nur das
Transmitter benutzen, zurück in den Motocortex
nigrostriatale System, sondern auch andere Sys-
sowie die prämotorischen Areale, inklusive dem
teme zu betreifen. Die medikamentöse Therapie
SMA.
der Parkinson-Krankheit basiert auf dem Ersatz
des Neurotransmitters Dopamin durch seine
Auf diese Weise schließt sich ein Neuronen-
Vorläufersubstanz L-Dopa, auf der Gabe wei-
schaltkreis im motorischen System, der als Par-
terer Dopaminagonisten und auf dem Einsatz
allelschaltkreis zum pyramidalmotorischen
von Anticholinergika. In den letzten Jahren hat
System eine zentrale Rolle bei der Regulation
es darüber hinaus neurochirurgische Therapie-
und Optimierung von motorischen Abläufen
versuche auf der Basis von Transplantationen
spielt.
Dopamin-produzierender Zellen aus fetalem
Hirngewebe gegeben.
Beide Systeme werden während des motorischen
Lernens maximal beansprucht; hinzu kommen
In jüngster Zeit traten durch das Nebenprodukt einer
Designerdroge, dem (IJ-Methyl-4-Phenyl-l,2,3,6,-Tetra- Leistungen des kortiko-ponto-zerebellären Sys-
hydropyridin (MPTP) schwere Parkinson-Syndrome bei tems. Sobald komplexe Bewegungsmuster durch
den Konsumenten, meist jungen Menschen, auf. Auch Einüben erworben worden sind, steuert das EPS die
bei Primaten lässt sich durch MPTP der motorische Sym- Bewegung selbsttätig und ist von der Mitwirkung
ptomkomplex des Morbus Parkinson auslösen. Hierdurch des Bewusstseins weitgehend unabhängig.
ist ein experimentelles Modell für die Untersuchung der
Erkrankung verfugbar. Transmitter und Co-Transmitter. Im Gegensatz
zur elektrischen Synapse, die Zellen über Poren
Verbindungen des extrapyramidalmotorischen koppelt, kann die synaptische Transmission der
Systems chemischen Synapse ζ. B. durch Modifizierung der
Rezeptormoleküle fein moduliert werden. Hierbei
• Motorischer Schaltkreis der Basalganglien
spielen Co-Transmitter oder Modulatoren, die
(s. Abb. 5.111). Aus dem Bereich des gesam-
neben den Neurotransmittern mit in den synapti-
ten Cortex cerebri entstammen Fasern, die das
sche Spalt freigesetzt werden und lange wirksam
Striatum unter Beibehaltung ihrer Somatotopik
sind, eine zentrale Rolle. Die Einteilung in schnell
innervieren. Den Hauptanteil stellen Fasern
wirksame Neurotransmitter („klassische Transmit-
aus dem frontalen Motocortex zum Caput und
ter") und langsam wirksame Neuromodulatoren
Corpus nucl. caudati sowie zum Putamen dar.
ist nicht immer scharf durchzuhalten, aber aus
Die Projektion aus dem sensorischen Cortex
historischen Gründen immer noch gebräuchlich.
zur Cauda nucl. caudati ist geringer ausgeprägt.
Trennschärfer ist jedoch eine Unterteilung nach
Die letztgenannten Fasern benutzen Glutamat
direkt auf Ionenkanäle wirksamen ionotropen
als exzitatorisehen Transmitter und innervieren
Transmitter/Rezeptorsystemen und den über
hemmende GABA-erge Neurone des Stria-
intrazelluläre Signalkaskaden (Second-Messenger)
tum. Diese hemmenden Neurone wiederum
indirekt wirksamen metabotropen Transmitter/
projizieren zum Globus pallidus lateralis, zum
Rezeptorsystemen (s. Lehrbücher der Physiolo-
Globus pallidus medialis und zur Substantia
gie). Für viele Neurotransmitter (ζ. B. Glutamat)
nigra. Striatale GABA-erge Neurone, die den
gibt es sowohl metabotrope als auch ionotrope
Globus pallidus lateralis innervieren, enthalten
Rezeptoren (s. Tab. 5.6).
zusätzlich das Neuropeptid Encephalin als
Co-Transmitter (s. u.). Demgegenüber weisen • Tractus reticulospinalis und Tractus tectospi-
GABA-erge Neurone des Striatums, die den nalis. Neurone im Bereich des Globus pallidus
Globus pallidus medialis und die Substantia medialis und der Substantia nigra, pars reticula-
nigra innervieren, auch das Neuropeptid Sub- ris, senden auch Axone zu den Colliculi superi-
stanz Ρ als Co-Transmitter oder Neuromodula- ores und zur Formatio reticularis im mesoponti-
tor auf. Im Globus pallidus lateralis innervieren nen (gr. meso- = mitten, zwischen) Tegmentum.
diese Fasern GABA-erge Neurone, welche die Von dort aus entspringen Fasern, die als retiku-
Nucl!. ventralis anterior et lateralis thalami lospinaler Trakt, Tractus reticulospinalis medi-
erreichen. Von dort aus projizieren thalamische alis et lateralis, und als tektospinaler Trakt,

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
508 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Tabelle 5.6: Übersicht der wichtigsten Transmitter und Co-Transmitter im ZNS

Wirkung und Lokalisation der Transmitter und Co-Transmitter des Nervensystems

Transmitter Co-Transmitter Lokalisation Rezeptor Wirkung

Acetylcholin Substanz Ρ aszendierende Faserbahnen muskarinerg Exzitation,


(Ach) des Rhombencephalon (mAChR) Inhibition
VIP veg. Ganglien, Cortex
Encephalin prägangl. sympath. Neurone nikotinerg Exzitation
Galanin Tr. septohippocampalis (nAChR)
CGRP Himnervenkerne

Monoamine

- Katecholamine
Dopamin CCK VTA D, Erregungszunahme
Neurotensin Hypothalamus D, Erregungsabnahme
Noradrenalin Somatostatin Sympathische Ganglien A1 Erregungszunahme
(Norepinephrin, Encephalin Ganglion cervicale superius a2 Erregungsabnahme
NE) Neurotensin Locus coeruleus
Adrenalin Neuropeptid Υ Sympathisches NS PI Erregungszunahme
Vasopressin Locus coeruleus ß2 Erregungszunahme
- Indolamine
Serotonin Substanz Ρ Nucll. raphae, RM 5-HT, Inhibition
(5-Hydroxytrypt- CCK Rhombencephalon, RM
amin, 5-HT) Encephalin Nucll. raphae, RM 5-HT, Zunahme von Inhibi-
TRH Rhombencephalon, RM tion und Exzitation
Histamin dorsaler Hypothalamus Exzitation, Mastzell-
degranulation

Aminosäuren

γ-Aminobutter- Encephalin Corpus striatum, Amygdala GABA a schnelle Inhibition


säure (GABA) VIP Hippocampus, Neocortex
ß-Endorphin Corpus striatum, Amygdala
Somatostatin Hippocampus, Neocortex GABA b langsame Inhibition
CCK Hippocampus, Neocortex
Substanz Ρ Nucl. gracilis und Nucl, cunea-
tus
Glutamat ubiquitär, Cortex NMDA Exzitation, synapt.
Plastizität
ΑΜΡΑ Exzitation
L-AP4 Hemmung der Gluta-
matfreisetzung
Kainat
metabotroper Exzitation
Rezeptor Erregungszunahme
Glycin Hirnstamm und RM Glycin- Inhibitorisch
Rezeptoren

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 509

Tractus tectospinal^, bis in die Vorderhörner Telenzephalons und zum Nucl. accumbens septi.
des Rückenmarkes projizieren, wo sie über Es bestehen weiterhin Verbindungen einerseits
Interneurone vermittelt die motorische Aktivi- über den Tractus tegmentalis centralis zur Oliva
tät der α-Motoneurone beeinflussen. Während inferior und von dort zum Kleinhirn, ande-
das retikulospinale System besonders bei der rerseits auch zum Nucl. accumbens und zum
Regulation von Muskeltonus und Körperhaltung Cortex. Auf der Grundlage dieser unterschied-
eine wichtige Rolle spielt und in engem Zusam- lichen Dopamineffekte im Striatum wie auch im
menhang mit dem vestibulospinalen System frontalen und limbischen Cortex ergeben sich
gesehen werden muss (s. Abs. 5.4.3), stellt die neue Erklärungsansätze des differenten Symp-
Umschaltung im mesopontinen Tegmentum die tomenbildes der Parkinson-Krankheit (s. o.).
Einbindung der sog. mesenzephalen lokomoto-
rischen Regionen der Formatio reticularis dar.
Die Projektion zum Colliculus superior fuhrt 5.4.8 Funktionelle Anatomie
zu einer Verknüpfung mit okulomotorischen des Kleinhirns, Cerebellum
Funktionen (s. Abs. 5.4.2.4). Auf diese Weise
gelingt die koordinierte Einbindung von Augen- Lernziele: Gliederung des Kleinhirns; sta-
und Kopfmotorik im Rahmen extrapyrami- tisch-vestibuläres System, Afferenzsysteme
dalmotorischer Bewegungsmuster. Ebenso ist des Cortex cerebelli. Kleinhirnkerne, efferente
dieses Areal in die Integration autonomer und Fasersysteme, Kleinhirnfunktionen und Verbin-
somatomotorischer Aktivitäten im Rahmen des dungen zum Rückenmark
emotionalen Verhaltens eingebunden.

Es ist offensichtlich, dass die menschlichen Bewe- Die Regulation des Muskeltonus, das Ausfuhren
gungen sehr komplex organisiert sein müssen, unwillkürlicher, der Gleichgewichtssitutation
wenn man an solche herausragenden Leistungen dienender „Mitbewegungen" und damit die
eines Dirigenten der Berliner Philharmoniker, einer Feinabstimmung der Körperhaltung sind Auf-
Ski-Abfahrtsläuferin bei 120 km/h oder eines Fahr- gaben des Kleinhirns. Sowohl die pyramidale
radfahrers der Tour de France denkt. Jeder Leserin Willkürmotorik als auch eingeübte extrapyra-
und jedem Leser werden sofort Beispiele aus dem midalmotorische Bewegungsmuster können
eigenen Leben einfallen, in dem durch unterschied- nur realisiert werden, wenn es dem Organismus
liche Außeneinflüsse höchste Anforderungen an die gelingt, seine Motorik im dreidimensionalen
Lokomotorik gestellt werden, wie ζ. B. beim Fahr- Raum auszurichten. Eine zentrale Rolle spielt
radfahren auf vereisten Straßen. Aus Beobachtun- hier das enge Zusammenwirken des vestibu-
gen bei depressiv gestimmten Patienten wie auch lären Systems (s. Kap. 5.4.3, S. 469) mit dem
der Körperhaltung bei „schlechter Laune" wird Cerebellum.
darüber hinaus deutlich, dass die Psyche ebenfalls
einen großen Einfluss auf die menschliche Motorik Afferenz- und Efferenzkopie. Um diese Aufgabe
besitzt. erfüllen zu können, benötigt das Kleinhirn einer-
seits eine Informationskopie der in den motori-
• Nigrostriatales System. Zellen in der Sub- schen Arealen induzierten Willkürbewegung (als
stantia nigra, pars compacta, sind Teil des Efferenzkopie) sowie genaue Informationen über
dopaminergen Projektionssystems. Zu diesem die aktuelle Stellung und den Muskeltonus der
gehören auch die dopaminergen Zellen im VTA. Extremitäten (als Afferenzkopie). Das Cerebellum
Die Zellen der Pars compacta projizieren zum stellt somit einen der Motorik beigeordneten Hirn-
Striatum und innervieren dort GABA-erge Pro- teil dar, der die Informationsverarbeitung für eine
jektionsneurone (s. Abb. 5.111). Hierbei wird zielgerichtete Bewegungsoptimierung in Raum
einerseits der exzitatorisch wirkende Dl-, ande- und Zeit leistet. Insofern bildet das Cerebellum
rerseits aber auch der inhibitorisch wirkende eine Schnittstelle zwischen EPS (4. motorisches
D2-Rezeptor angesteuert. Zwischenzeitlich System) und dem statisch-vestibulären System
konnten weitere Dopaminrezeptortypen gefun- (3. motorisches System).
den werden. Vom VTA verläuft auch eine Pro-
jektion in die Substantia innominata des basalen
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
510 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

sich eine funktionelle Dreiteilung bewährt, wobei


Klinik: 1. Das anlagebedingte Fehlen des Cere-
die anatomischen Grenzen der 3 Anteile nicht
bellum, Kleinhirnaplasie, ist durchaus mit dem
ganz scharf sind. Außerdem gibt es geringfügige
Leben vereinbar und wird gelegentlich bei radio-
Unterschiede in der topographischen Zuordnung,
logischen Routineuntersuchungen entdeckt. Bei
je nachdem ob die Entwicklungsgeschichte, der
der angeborenen Aplasie und auch bei frühkind-
Zielort der Afferenzen der Kleinhirnrinde (vgl.
lichen Schädigungen des Kleinhirns können
Abb. 5.112) oder der Ursprungsort der Efferenzen
andere Gehirnteile die Aufgaben des Kleinhirns
zur Grundlage der Einteilung gemacht wird.
weitgehend übernehmen. 2. Spätere degene-
rative (Kleinhirnhypoplasie) oder läsionsbe- • Vestibulocerebellum. Es ist für die Abstim-
dingte Schädigungen (Kleinhirnblutungen oder mung der Motorik auf die Informationen aus
-infarkte) werden dagegen schlecht kompensiert dem Vestibularorgan zuständig (Körperhaltung,
und klinisch insbesondere durch motorische und Augenbewegungen) und wird daher zum sta-
statisch-vestibuäre Symptome manifest. tisch-vestibulären motorischen System gezählt
(s. auch Abb. 5.56). Es entspricht anatomisch-
topographisch dem Lobus flocculonodularis und
kaudalen Anteilen des Vermis, die Afferenzen
5.4.8.1 Funktionelle und entwicklungs- direkt aus dem Labyrinth und den Vestibularis-
geschichtliche Gliederung des kernen empfangen. Efferenzen aus dem ganzen
Cerebellum Vermis projizieren auf die Vestibulariskerne.
Dieser funktionell definierte Teil entspricht
Das Cerebellum erhält seine Afferenzen über die weitgehend dem Archicerebellum, dem phylo-
Kleinhirnstiele, Pedunculi cerebellares superior, genetisch ältesten Teil des Kleinhirns,
medius und inferior. Die Informationsverarbei-
• Spinocerebeüum. Es erhält über das Rücken-
tung findet in der Kleinhirnrinde statt, die dann
mark Informationen aus dem Bewegungsapparat
die Kleinhirnkerne ansteuert. Von hier gehen
und ist für Stützmotorik und Feinabstimmung
alle Efferenzen aus, die das Kleinhirn über den
von Bewegungen zuständig und wird ebenfalls
oberen und unteren Kleinhirnstiel verlassen und
zum statisch-vestibulären System gezählt. Es ist
motorische Zentren in Hirnstamm und Dience-
vor allem in der Pars intermedia (den medialen
phalon erreichen (s. Tab. 5.7, S. 515).
Anteilen der Hemisphären) und dem Vermis
kranial der Fissura prima, aber auch in ent-
Die Informationsverarbeitung in der Kleinhirn-
sprechenden kaudalen Abschnitten (Pyramis)
rinde wird abhängig von der geleiteten Information
lokalisiert. Im kranialen Teil terminieren Fasern
in verschiedenen Abschnitten durchgeführt. Es hat

Entwicklungsgeschichte afferente Verbindungen über

Archi- Vestibulo- I 1 Tr. vestibulocerebellar


cerebellum cerebellum bzw. Ν vestibularis

| Paleo- Spino- M · · Tr. spinocerebellars anterior


i cerebellum cerebellum (Gowers) et posterior (Flechsig)

Neo- Ponto- Tr. corticopontinus


cerebellum cerebellum Tr. pontocerebellaris

Abb. 5.112: S c h e m a d e r e n t f a l t e t e n K l e i n h i r n o b e r f l ä c h e mit T o p o g r a p h i e d e r P r o j e k t i o n e n auf Archi-, Palaeo- u n d


N e o c e r e b e l l u m u n d s o m a t o t o p i s c h e r O r g a n i s a t i o n d e s Cortex cerebellaris, (l-XII: T r a n s v e r s a l e L ä p p c h e n g l i e d e -
r u n g n a c h Larseil, L = Lingula, Ρ = Pyramis, U = Uncus, Τ = Tonsilla, Ν = Nodulus u n d F = Flocculus). Vgl. A b b .
5.12
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 511

aus dem Tractus spinocerebellaris anterior, im 5.4.8.2 Organisation der Afferenzsysteme


kaudalen Teil Fasern aus dem Tractus spinocere- des Cortex cerebelli
bellaris posterior sowie Fasern aus dem Tractus
trigeminocerebellaris. Die Fasern des Tractus Bis auf die aus der Oliva inferior stammenden
spinocerebellaris anterior sind entwicklungs- Fasern enden sämtliche in das Cerebellum ein-
geschichtlich älter und vermitteln Informationen tretenden Axone als so genannte Μ oosfasern in
von Mechanorezeptoren. Die Fasern des Tractus der Körnerzellschicht der Kleinhirnrinde. Die
spinocerebellaris posterior sind entwicklungs- aus der Oliva inferior stammenden Fasern enden
geschichtlich jünger (bei Fischen noch nicht als Kletterfasern direkt an den Purkinje-Zellen
vorhanden) und vermitteln Informationen der des Kleinhirns (s. Abb. 5.113).
Muskelspindeln ans Kleinhirn. Zusätzlich erhal-
ten diese Kleinhirnabschnitte Fasern aus der kor- In der Kleinhirnrinde werden die afferenten Moos-
tikopontozerebellären Projektion, also indirekt fasern auf Körnerzellen umgeschaltet, deren Axone
aus dem SMA des Kortex. Das Spinocerebellum als Parallelfasern bezeichnet werden. Sie bilden
entspricht weitgehend dem Palaeocerebellum, an den distalen Dendriten der Purkinje-Zellen
dem phylogenetisch mittelalten Kleinhirnanteil. Synapsen aus.
• Pontocerebellum. Sein Name rührt her vom
• Zytoarchitektur. Die Afferenzen und Efferen-
Ursprungsort seiner Afferenzen, der Brücke. Zu
zen des Corte.χ cerebelli sind in zwei senkrecht
ihm zählen die gesamten lateralen Anteile der
zueinander stehenden Ebenen organisiert. Die
Kleinhirnhemisphären, aber auch kleinere mitt-
Purkinje-Zellen liegen mit ihren spalierbaum-
lere Anteile des Wurms, Vermis. Die Ursprungs-
artig geformten Dendritenbäumen in der Ebene,
gebiete seiner Zuflüsse von der Großhirnrinde
die senkrecht zum Verlauf der schmalen Win-
liegen in frontalen, parietalen und temporalen
dungen des Kleinhirns, Foliae cerebelli, orien-
Assoziationsarealen. Diese kortikopontinen
tiert sind. Dagegen verlaufen die Parallelfasem
Fasern verlaufen im Tractus frontopontinus, im
- deshalb der Name - parallel zur Längsrichtung
Tractus parietopontinus und im Tractus tempo-
der Windungen und treffen so auf die senkrecht
ropontinus gemeinsam mit der Pyramidenbahn
zu ihnen angeordneten Purkinje-Zelldendriten
durch die Capsula interna (s. Abb. 5.109) zur
(s. Abb. 5.113). Mit Ausnahme der Grenze
Brücke. Dort werden sie in den Nucll. pontis
zwischen Wurm und Hemisphäre sind diese
umgeschaltet und erreichen das kontralaterale
Schichten makroskopisch nicht sichtbar. Die
Kleinhirn über den mittleren Kleinhirnstiel
Axone der Purkinje-Zellen, welche das einzige
(s. Abb. 5.55). Über den v e n t r o l a t e r a l Tha-
Efferenzsystem des Cortex cerebelli darstellen,
lamus hat dieser Kleinhirnabschnitt wiederum
projizieren vornehmlich zum Nucl. dentatus des
Einfluss auf die motorischen Areale der Groß-
Kleinhirns.
hirnrinde. Er ist in die Planung höherer moto-
rischer Leistungen der frontalen Hirnrinde ein- • Somatotopische Organisation. Auch im Cere-
gebunden und stellt einen Teil des EPS dar. Er bellum besteht eine hohe somatotopische Orga-
entspricht dem Neocerebellum, dem phyloge- nisation des kortikopontozerebellären Eingangs
netisch jüngsten Anteil des Kleinhirns. Entspre- (s. Abb. 5.112). Zusätzlich zu diesen Faser-
chend seiner Verbindung mit der Großhirnrinde systemen erreichen den Cortex cerebelli auch
und deren Vergrößerung im Laufe der Evolution serotoninerge Fasern aus dem Nucl. raphe und
macht das Neocerebellum beim Menschen den noradrenerge Fasern aus dem Locus coeruleus.
größten Teil des Kleinhirns aus. • Gekreuzte und ungekreuzte Afferenzen. Die
Fasersysteme aus der Oliva inferior (Kletterfa-
sern) sowie aus den Nucll. pontis (Moosfasern)
Zum statisch-vestibulären System gehören
kreuzen in der Mittellinie und erreichen die
zusammenfassend folgende Strukturen: das
kontralaterale Seite des Cortex cerebelli. Fasern
Gleichgewichtsorgan (mit dem Nuci. vestibu-
aus dem Rückenmark sowie dem vestibulären
laris), das Vestibule- und das Spinocerebellum,
System weisen sowohl eine ipsilaterale als
der Nucl. ruber und die Oliva inferior.
auch bilaterale Termination auf. Ebenso enden
Moosfasern aus der Formatio reticularis, Trac-
tus reticulocerebellaris, sowohl ipsi- als auch
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
512 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Korbzelle

gangliosum

Abb. 5.113: Innerer Kleinhirnaufbau. Die vordere Schnittfläche ist quer durch eine Windung gelegt, während die
seitliche in Längsrichtung verläuft. Moos- und Kletterfasern = rot; Neurit einer Purkinje-Zelle = schwarz; Purkinje-
Zelle = grau; Körnerzelle = blau; Korb-, Stern- und Golgizellen = schwarz. Zu erkennen ist die Schichtengliede-
rung, die sich uniform im Cerebellum findet. Der schmalen Schicht weißer Substanz (Substantia medullaris) folgt
die dreischichtige Rinde mit der Körnerschicht (Stratum granulosum), der Purkinje-Schicht (Stratum gangliosum)
und der Molekularschicht (Stratum moleculare)

kontralateral. Der Tractus spinocerebellaris zu den Zuflüssen von den GABAergen Pur-
anterior kreuzt auf der Ebene des Rückenmarks- kinje-Zellen erhalten die Kleinhirnkerne exzi-
Eintrittssegments und dann wieder zurück beim tatorische Zuflüsse über Kollateralen aus den
Eintritt ins Cerebellum, der Tractus spinocere- KleinhirnafFerenzen (Moos- und Kletterfasern).
bellaris posterior hingegen kreuzt in seinem
ganzen Verlauf nicht zur Gegenseite. Das Klein- Die Benennung der Kleinhirnkerne erfolgt
hirn ist also überwiegend mit der ipsilateralen teils nach ihrer Gestalt, teils nach ihrer Lage
Körperseite und der kontralateralen Großhirn- (s.Abb. 5.114): 1. Nucl. dentatus (= gezähnt),
rinde verbunden. 2. Nucl. emboliformis (embolus = Pfropfen), 3.
Nucl. globosus (= kugelförmig), und 4. Nucl.
fastigii (fastigium = Dachgiebel; hier: Dach des
5.4.8.3 Kleinhirnkerne, Nuclei cerebellares IV. Ventrikels).

• Definition. In der weißen Substanz des Klein- • Verbindungen. Axone von Purkinje-Zellen
hirns finden sich Ansammlungen grauer erreichen die jeweils nächstgelegenen Klein-
Substanz, die als Kleinhirnkerne bezeichnet hirnkerne, wobei der Nucl. vestibularis lateralis
werden. Hier enden die Neuriten der großen (Deiters-Kern,) im Hirnstamm funktionell als
Purkinje-Zellen der Kleinhirnrinde. Zusätzlich zusätzlicher Kleinhirnkern angesehen werden
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 513

• Lobulus centralis

Nucleus fastigii

Nucleus globosus

Nucleus emboliformis

Nucleus dentatus

.Arbor vitae"

Vallecula cerebelli

Tonsilla cerebelli

Abb. 5.114: Kleinhirnkerne (nach W. Kahle, 1991)

kann. Der Vermis ist also überwiegend mit dem • Fasern aus dem Lobulus centralis des kranialen
Nucl. fastigii und auch direkt mit dem Deiters- Kleinhirnwurms, als Teil des Spinocerebellums,
Kern verschaltet (Vestibulocerebellum). Von erreichen den Nucl. vestibularis lateralis.
der an den Vermis angrenzenden intermediären
Aus dem Nucl. fastigii entstammen außerdem zere-
Zone der zerebellären Hemisphäre (Spinocere-
belloretikuläre Fasern, die die Formatio reticularis
bellum) bestehen Verbindungen mit dem Nucl.
im Pons und in der Medulla oblongata erreichen.
emboliformis und dem Nucl. globosus, die auch
als Nucl. interpositus zusammengefasst werden. • Efferenzen zum Nucl. ruber. Über den Pedun-
Die große laterale Zone mit der restlichen Hemi- culus cerebellaris superior verlassen Fasern des
sphäre (Pontocerebellum) ist mit dem Nucl. den- Nucl. dentatus, Nucl. emboliformis und Nucl.
tatus verbunden. globosus das Cerebellum. Sie kreuzen in der
Mittellinie auf die Gegenseite und erreichen
den Nucl. ruber, die okulomotorischen Areale
5.4.8.4 Efferente Fasersysteme des Mesenzephalons sowie den ventrolateralen
des Kleinhirns Thalamuskern.

Das Cerebellum übt seinen Einfluss auf die Moto- Klinik: 1. Nach Läsion des Nucl. ruber ent-
rik nicht durch eine direkte Verschaltung mit den steht kontralateral ein lntentionstremor bei
motorischen Neuronen im Vorderhorn aus. Statt willkürlichen Bewegungen sowie eine Hypo-
dessen enden die efferenten Fasern aus dem Cere- tonie (Abnahme des Muskeltonus). Außerdem
bellum in den Nucll. vestibuläres, in der Formatio kommt es bei Schädigung des Nucl. ruber zu
reticularis und in okulomotorischen Zentren des choreatisch-athetotischen Bewegungen, die
Hirnstamms (vom Vestibulocerebellum ausge- sich in unkontrollierteren, weit ausladenden,
hend), im Nucl. ruber des Mesencephalon (vom aber auch engen schraubenhaften Bewegungen
Spinocerebellum ausgehend) und im ventrolatera- äußern, welche bis zu stärksten Verrenkungen
len Thalamus (vom Pontocerebellum ausgehend). der Extremitäten gehen können. 2. Da die
Fasern des N. oculomotorius auf dem Weg zur
• Efferenzen zum Hirnstamm. Die Fasern zu
Hirnaustrittsstelle den Nucl. ruber teilweise
den Nuclei vestibuläres verlassen das Kleinhirn
durchziehen, kann bei Schädigung dieses Kerns
durch den Pedunculus cerebellaris inferior und
auch eine Okulomotoriuslähmung auftreten
sind in zwei Fasersystemen organisiert:
(.Nothnagel-Syndrom).
• Über den Nucl. fastigii erreichen Fasern aus dem
Lobus flocculonodularis, als Teil des Vestibulo- • Efferenzen zum Thalamus. Informationen aus
cerebellums, alle vier Nucll. vestibuläres. dem Neocerebellum (Pontocerebellum) werden
im Nucl. dentatus umgeschaltet, der wichtigsten
Schaltstelle innerhalb des Kleinhirns. Seine
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
514 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Axone verlassen das Cerebellum im Peduncu- derum im Rückschluss über Kletterfasern die
lus cerebellaris superior und enden, wie auch Kleinhirnrinde erreicht. Somit wird ein weiterer
Fasern aus den Basalganglien, im ventrolatera- neuronaler Regelkreis geschaltet, welcher auf
len und im ventroanterioren Thalamus (Tractus die motorischen Systeme des Hirnstamms Ein-
dentatothalamicus). Es kommt jedoch nicht fluss nehmen kann.
zu einer Überschneidung, da die zerebellären
Fasern mehr dorsal gelegene Bereiche dieser
Thalamuskerne innervieren, während die aus 5.4.8.5 Kleinhirnstiele
den Basalganglien stammenden Fasern eher ros-
tral enden. Die Abschnitte des ventrolateralen Die schon mehrfach erwähnten Pedunculi cere-
Thalamus, welche vom Cerebellum innerviert bellares sollen hier noch einmal zusammenge-
werden, projizieren hauptsächlich zum Moto- fasst werden (s. Tab. 5.7). Der größte, am wei-
cortex. Die aus den Basalganglien innervierten testen lateral gelegene Pedunculus cerebellaris
Regionen projizieren hingegen hauptsächlich medius fuhrt die Afferenzen von der Brücke zur
zum SMA. Kleinhirnrinde und enthält keine Efferenzen. Der
• Motorische Schaltkreise (s. Abb. 5.115). obere Kleinhirnstiel enthält vor allem Efferenzen
Fasern aus dem Cerebellum, die über den vent- in Hirnabschnitte oberhalb der Brücke (Mesen-
rolateralen Thalamus den Motocortex erreichen, cephalon und Thalamus). Diese Bahnen werden
schließen auf diese Weise über den Tractus cor- hier auch Brachium conjunctivum genannt und
ticopontocerebellaris einen neuronalen Regel- kreuzen in Höhe der Colliculi inferiores auf die
kreis, wodurch das Kleinhirn direkt Einfluss auf Gegenseite (Decussatio pedunculorum cerebel-
die höheren Steuersysteme der Motorik nimmt. larium superiorum, auch: Stilling-Schere). Der
Des weiteren reichen Fasern aus dem Nucl. untere Kleinhirnstiel verbindet das Kleinhirn
ruber über den Tractus rubrospinalis bis zu mit Arealen unterhalb der Brücke, also Medulla
den Rückenmarkssegmenten. Über den Tractus oblongata und Rückenmark. Nur der Tractus
tegmentalis centralis erreichen Fasern aus dem spinocerebellaris anterior weicht von diesem
Nucl. ruber den Nucl. olivaris inferior, der wie- Grundschema ab.

Cortex cerebri
J

Tractus corticorubralis

Tractus corticospinalis

Thalamus

Nucleus ruber

Tractus tegmentalis centralis

Nucleus dentatus

Oliva

Cortex cerebelli
I I
Moosfasern Kletterfasern

Abb. 5.115: Schema der Verbindungen vom Kleinhirn zum Nucl. ruber und zum Thalamus (nach P. Duus, 1990)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 515

Tabelle 5.7: Wichtigste Bahnen in den Kleinhirnstielen

Afferenzen Efferenzen

Pedunculus cerebellaris superior Tr. spinocerebellaris ant. Tr. dentatothalamicus


Tr. cerebellorubralis
Pedunculus cerellaris medius Tr. pontocerebellars
Pedunculus cerebellaris inferior Tr. spinocerebellaris post. fastigiobulbäre Fasern
Tr. reticulocerebellaris
direkte Fasern z u m Nucl. vestibularis lat.
Tr. olivocerebellars
Tr. v e s t i b u l o c e r e b e l l a r

5.4.8.6 Funktionen des Kleinhirns gung an der Ausführung und der Feinabstim-
mung von Bewegungen, insbesondere einfacher
Insgesamt ist das Kleinhirn ein Ubergeordnetes Bewegungen, die noch nicht eingeübt sind.
motorisches Zentrum, das Informationen aus • Pontocerebellum oder Neocerebellum. Es
dem Vestibular- und dem Bewegungsapparat erhält über die Brückenkerne die Efferenzkopie,
und aus höheren bewegungsplanenden Zentren eine Art Vörab-Information aus der Großhirn-
integriert und durch Rückmeldung zum Moto- rinde über intendierte Bewegungen (Zielmoto-
cortex und zu motorischen Hirnstammzentren rik). Insbesondere komplexe zusammengesetzte
die Motorik beeinflusst. Bewegungen werden vom Neocerebellum durch
die präzise zeitliche Koordination der beteilig-
Es sorgt für eine allgemeine Kontrolle des Muskel- ten Muskelgruppen (Synergie) mitgesteuert.
tonus, für die Erhaltung des Gleichgewichts und für Die geschieht einerseits durch den ständigen
eine präzise räumliche und zeitliche Koordination „Vergleich" mit der Afferenzkopie, also mit
von Bewegungen. Die 3 Anteile des Cerebellums den Informationen über den aktuellen Zustand
wirken dabei in unterschiedlicher Weise auf die des Bewegungsapparates, die dem Motocortex
motorischen Funktionen ein: nicht im gleichen Maße zur Verfügung stehen
wie dem Kleinhirn. Andererseits können hier
• Vestibulocerebellum. Dieser funktionelle Anteil
Bewegungsprogramme angelegt und abgerufen
koordiniert die Motorik mit den Informationen
werden (motorisches Lernen). Komplizierte
aus dem Gleichgewichtsorgan. Es nimmt vor
schnelle Bewegungsmuster, ζ. B. beim Klavier-
allem Einfluss auf die Ausgleichsbewegungen
spielen oder auch beim Sprechen, können so
der Augen bei Veränderung der Kopfstellung
nach einer Phase der Einübung von der Groß-
(vestibulo-okuläre Reflexe). Beim Stehen und
hirnrinde initiiert und im Kleinhirn abgerufen
Gehen wirkt es gleichgewichtserhaltend auf die
werden, ohne dass jeder einzelne Schritt der lau-
der Schwerkraft entgegenwirkenden Muskeln
fenden bewussten Kontrolle unterliegen muss.
ein (Stützmotorik). In dieser Funktion ist es nur
unscharf abgrenzbar vom
Klinik: 1. Kleinhirnläsionen führen typischer-
• Spinocerebellum, das bei dieser Aufgabe
weise zu Ataxie, Nystagmus und dysarthrischer
zusätzlich die propriozeptiven Informationen
Sprache (Charcot-Trias). In diesen Symptomen
über die aktuelle Stellung der Glieder im Raum
spiegelt sich die Einbindung des Kleinhirns
verarbeitet. So kann im Zusammenwirken dieser
in die Gang-, Stand- und Blickmotorik sowie
Systeme bei jeder Bewegung, die den Körper-
die Feinabstimmung von Präzisionsbewegun-
schwerpunkt verlagert (ζ. B. Vorstrecken des
gen wider. Weitere Kleinhirnsymptome sind
Wurfarms beim Speerwurf), die übrige Musku-
die Abnahme der Muskelspannung und -kraft
latur so beeinflusst werden, dass das Gleichge-
(Hypotonie) und das Auftreten überschießender
wicht erhalten bleibt. Vestibulo- und Spinoce-
Bewegungen (Hypermetrie). In Abhängigkeit
rebellum kommt damit eine wichtige Rolle in
von den Läsionsorten kommt es zu unterschied-
der Kontrolle des allgemeinen Muskeltonus zu.
lichen klinischen Symptomen. 2. Das Archi-
Die propriozeptiven Informationen ermöglichen
cerebellum und das Palaeocerebellum sind für
dem Spinocerebellum außerdem eine Beteili-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
516 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

5.4.8.7 Verbindungen der motorischen


die achsengerechte Orientierung des Körpers
Systeme zum Rückenmark:
im Raum zuständig. Schädigungen im Bereich
motorische Endstrecke
des Wurms und medialer Anteile des Kleinhirns
fuhren dementsprechend zu einer Unfähigkeit
Die Struktur, die im menschlichen ZNS sämt-
gerade zu stehen oder zu sitzen (Stand- und
liche motorischen Informationen integriert und
Gangataxie). Wenn die Patienten passiv aufge-
als motorisches Signal abgestimmt an die Mus-
richtet werden, fallen sie hin. Kleinhirnwurm-
kulatur weiterleitet, ist das α-Motoneuron. An
atrophien kommen bei degenerativen Erkran-
dieser Zelle müssen alle efferenten Fasersysteme
kungen, bei toxischen Hirnschäden und beim
höherer motorischer Systeme konvergieren, so
chronischen Alkoholismus vor. Ein weiteres auf-
dass man die „motorische Einheit" (Abb. 5.116)
fallendes Symptom ist der Intentionstremor der
auch als gemeinsame motorische Endstrecke
Willkürmotorik. 3. Eine Ataxie wird nicht allein
aller motorischen Bahnen bezeichnen kann.
durch Kleinhirnschädigungen hervorgerufen:
So fuhrt eine Schädigung des spinozerebellä-
ren Systems, etwa der Hinterstrangbahn bei der Output, Input. Die Gesamtheit aller efferenten
Tabes dorsalis, ebenso zu Koordinationsstörun- spinalen Fasersysteme stellt den „Output" der zen-
gen der Gang- und Standmotorik. Diese wird als tralnervösen Motorik und somit den „ I n p u t der ex-
sensorische Ataxie von der zerebellären Ataxie Motoneurone dar. Letztere erhalten außerdem noch
abgegrenzt. Die Kleinhirnataxie wird mit dem Signale über Reflexkollateralen von sensiblen,
Finger-Nasen-Versuch und dem Knie-Hacken- pseudounipolaren Neuronen und von Interneuro-
Versuch geprüft. nen des Rückenmarkeigenapparats.

Tractus rubrospinalis _ Tractus corticospinal is


anterior

Tractus o l i v o s p i n a l - — Tractus tectospinalis

Tractus corticospinalis lateralis absteigende sensible


Hinterwurzelfaser
Tractus vestibulospinalis Tractus reticulospinalis

Anulospirale Faser (la)


Fasciculus interfascicularis
(Schultze-Komma)
Golgi-Faser(lb)

α-Faser
(motorisch)

γ-Faser
(fusimotorisch) ,, '
y-Motoneuron

Abb. 5.116: Schematische Darstellung der die Motorik beeinflussenden Fasersysteme im Rückenmark in ihrer
Konvergenz auf das α-Motoneuron als gemeinsame motorische Endstrecke (nach P. Duus, 1990)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 517

Tabelle 5.8: Zusammenfassung der efferenten motorischen Bahnen

Bahn 1. Neuron 2. Neuron Zielneuron Kreuzung Funktion

Tractus cortico- Gyrus prae- Schaltzellen α-Motoneuron Decussatio Pyramidalmotorik von


spinalis lateralis centralis (Betz- im Rücken- des Rücken- pyramidum Rumpf und Extremi-
Pyramidenzellen) mark marks, Inter- täten (hauptsächlich
neurone Hand und Fuß)
Tractus cortico- Gyrus prae- Schaltzellen α-Motoneuron im Zielseg- Pyramidalmotorik
spinalis anterior centralis (Betz- im Rücken- des Rücken- ment des von Rumpf und Extre-
Pyramidenzellen) mark marks, Inter- Rückenmarks mitäten
neurone
Tractus cortico- Gyrus prae- Schaltzellen α-Motoneurone im Hirnstamm Pyramidalmotorik der
nuclearis (auch: centralis (Betz- im Hirn- der motorischen Kopfmuskulatur
corticobulbaris) Pyramidenzellen) stamm Hirnnervenkerne (Ausnahme: Augen-
muskulatur)
Tractus cortico- Cortex Nucll. pontis Körnerzellen in der Brücke Kleinhirnafferenzen
pontocerebel- . (Moosfasern) im für die motori-
laris Neocerebellum sche Koordination
zwischen pyrami-
dalem und extra-
pyramidalem System
Tractus cerebel- Purkinje-Zellen Nucl. den- Nucl. ruber Decussatio efferente Hauptbah-
lorubralis und des Kleinhirns tatus (Neorubrum), pedunculo- nen des Kleinhirns für
dentato- Thalamus rum cerebel- die motorische Koor-
thalamicus larium superi- dination zwischen
orum pyramidalem und
extrapyramidalem
System
Tractus rubro- Nucl. ruber 0 α- u. γ-Motoneu- ventrale alte, efferente Bahn
spinalis (Palaeorubrum) rone im Rücken- Hauben- der extrapyramidalen
mark kreuzung Motorik
Tractus reticulo- Formatio reticu- 0 α- u. γ-Moto- nicht neue Bahn der extra-
spinalis laris (Nucl. reti- neurone im gekreuzt pyramidalen Motorik
cularis magno- Rückenmark
cellularis)
Tractus vestibu- Nucl. vestibularis 0 α- u. γ-Motoneu- nicht Gleichgewichts-
lospinalis lat. (Deiters) rone im Rücken- gekreuzt regulation
(Ν. VIII) mark

Klinik: 1. Bei der spinalen Kinderlähmung, sie daueraktiv werden, was eine spastische Läh-
der Poliomyelitis (epidemica anterior acuta), mung ohne Muskelatrophien nach sich zieht.
werden die α-Motoneurone durch Viren zer-
stört. Dabei kommt es zu atonischen (schlaffen) Am Beispiel der Spastik wird deutlich, dass die
Lähmungen mit nachfolgender Muskelatrophie, motorischen Systeme nicht nur sichtbare Bewe-
die bei Einbeziehung der Atemmuskulatur sogar gungen, sondern auch die Statik als Funktion
letal verlaufen können. 2. Solche peripher- des Muskeltonus regulieren. Entsprechend sind
motorischen Lähmungen stehen im Gegensatz inhibitorische Einflüsse auf das α-Motoneuron
zu zentralen motorischen Lähmungen, wie sie keineswegs weniger wichtig als exzitatorische!
bei Ausfall der Pyramidenbahn und des EPS auf-
treten. Wegen der hier noch funktionstüchtigen Tabelle 5.8 fasst alle wichtigen efferenten Bahnen
α-Motoneuronen mit zahlreich vorhandenen des Motorischen Systems zusammen.
Afferenzen steigt deren Empfindlichkeit, so dass

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
518 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

5.4.9 Vegetative Steuersysteme umschriebene Kerngebiete, etwa die Nucll. raphe


und der Locus coeruleus, abgegrenzt werden
Lernziele: Formatio reticularis, Kreislaufzen- können. Zahlreiche lokale Verschaltungen der
trum, Atemzentrum, Brechzentrum, Miktions- Neuronengruppen untereinander und kurze Faser-
zentrum, Hypothalamus, Fasciculus longitudi- systeme zu den Kernen der Hirnnerven bilden das
nalis dorsalis (Schütz-Bündel) neuronale Netzwerk dieser Struktur aus.
2. Fasersysteme. Die Formatio reticularis ist Aus-
gangsort zweier Fasersysteme, des aufsteigenden
5.4.9.1 Organisation und Hierarchie und des absteigenden Retikularissystems:
vegetativer Zentren
• Aufsteigendes Retikularissystem. Es erhält
Afferenzen aus vielen Regionen, v. a. über
Die vielfaltigen Anpassungsreaktionen des
die spinoretikulären Bahnen des Vorderseiten-
Organismus an äußere Umweltbedingungen
strangs aus dem Rückenmark, aber auch von
sowie die Steuerung physiologischer Vorgänge
den Hirnnervenkernen und der Hirnrinde. Die
wie der Atmung und der Kreislaufregulation
aufsteigenden Fasern enstammen hauptsäch-
setzen das enge Zusammenwirken von Rezep-
lich dem Tegmentum, besonders dem Locus
tor· und Effektorsystemen voraus. Die meisten
coeruleus (noradrenerge Neurone), der Area
dieser Vorgänge beanspruchen das menschliche
tegmentalis ventralis (VTA, dopaminerge Neu-
Bewusstsein für ihre Regulationsaufgaben nicht.
rone) und dem Ncl. raphe dorsalis (serotonin-
Sie können aber zum Teil in ihrem Ergebnis, u. a.
erge Neurone). Die Axone dieser Kerngebiete
als beschleunigter Herzschlag oder Schwitzen
verlaufen mit dem aufsteigenden Fasciculus
wahrgenommen werden (s. Kap. 2.6.6, S. 98).
longitudinalis dorsalis, der im rostralen
Mesencephalon nach ventral an die Hirnbasis
Auch wenn die Vernetzung der beteiligten Zentren umbiegt und als mediales Vorderhirnbündel,
komplex und stark ausgebildet ist, lassen sich doch Fasciculus telencephalicus medialis, durch
nach funktionellen, neurochemischen und topo- das basale Telencephalon nach rostral zieht.
graphischen Kriterien verschiedene Systeme von- Im Bereich der Septumkerne wendet sich das
einander abgrenzen. Als übergeordnetes Zentrum Bündel als Tractus diagonalis (Broca-Bündel)
vieler solcher Prozesse kann der Hypothalamus nach dorsal, zieht um das Genu corporis callosi
aufgefasst werden, der direkt über den Tractus und geht mit Anteilen seiner Fasern in das Cin-
hypothalamospinalis oder indirekt über die For- gulum über. Vom Cingulum geht eine diffuse
matio reticularis vegetative Funktionen reguliert. Projektion in die entsprechenden kortikalen
Hypothalamus und vegetative Zentren sind auf- Terminationsgebiete aus. Im ganzen Verlauf der
und absteigend über den Fasciculus longitudinalis aufsteigenden Fasern zweigen Verbindungen
dorsalis (Schütz-Bündel) miteinander verbunden. zu den Basalganglien, dem Cerebellum und u.
Im Schütz-Bündel verlaufen auch absteigende a. auch zu den Kerngebieten des Mesenzepha-
Fasern aus dem gustatorischen und olfaktorischen lons ab. Gleichermaßen treten Fasern hinzu,
System zu den Nucll. salivatorii. insbesondere im basalen Telencephalon aus dem
Ncl. basalis (Meynert), dem Ncl. praeopticus
magnocellularis und dem Ncl. septi medialis,
5.4.9.2 Formatio reticularis deren Axone eine diffuse cholinerge Projektion
in weite Bereiche des Cortex ausbilden.
Die Formatio reticularis nimmt das Tegmentum
des gesamten Hirnstamms ein und erstreckt sich
Bei Aktivierung des Systems kommt es inner-
von den Nucll. intralaminares des Thalamus bis
halb kürzester Zeit durch diese Projektionen
zur Zona reticularis des Rückenmarks (s. Abb.
in den Cortex zu einem Zustand hellwachen
5.117).
Bewusstseins. Das aufsteigende Retikularissys-
tem wird deshalb auch als ARAS „aufsteigendes
1. Kerngebiete. In wechselnder Dichte liegen
retikuläres aktivierendes System" bezeichnet.
Neuronenfelder beieinander, so dass nur wenige

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 519

• Laterale Zone. In dieser Zone befinden sich


Klinik: Bei Schädigung der Formatio reticularis
adrenerge und cholinerge Zellgruppen sowie der
(im Rahmen einer Hirnstammläsion) kommt es
wichtige noradrenerge Locus coeruleus. Der
zunehmend zur Bewusstseinseintrübung, die
Locus coeruleus liegt am Boden des kranialen
vom somnolenten über das soporose bis hin zum
Teils der Rautengrube (s. Kap. 5.2.6.2, S. 415)
komatösen Stadium verlaufen kann.
im Winkel neben dem Pedunculus cerebellaris
superior und dem Nucl. tractus mesencephali
• Absteigendes Retikularissystem. Es leitet
η. V. Er enthält Neuromelanin-haltige Neurone
Impulse aus verschiedenen Regionen über die
und erscheint in der Aufsicht am frischen Präpa-
Formatio reticularis ins Rückenmark, wo es
rat dunkelblau.
vegetative und motorische Funktionen sowie die
Schmerzleitung moduliert.
Der Locus coeruleus ist das Hauptkerngebiet
3. Zonen der Formatio reticularis des noradrenergen Systems.
Die Neurone der Formatio reticularis lassen sich
Die noradrenergen Fasern projizieren über das
auf der Grundlage ihrer Zellgröße entlang ihrer
mediale Vorderhirnbündel unter anderem ins
kraniokaudalen Achse in 3 Zonen einteilen: Die
Limbische System und in den Cortex, wo sie
mediane Zone, die mediale magnozelluläre Zone
eine modulierende Wirkung haben (Bestandteil
und die laterale parvozelluläre Zone. Anhand der
des ARAS). Neben ihrem Einfluss auf vegetative
verwendeten Neurotransmitter lassen sich sero-
Funktionen werden in der lateralen Zone auch
toninerge (5-HT), noradrenerge (NA) und (acetyl-)
bulbäre Reflexe reguliert. Das sind komplexe
cholinerge (Ach) Systeme unterscheiden.
polysynaptische Schutz- oder Abwehrreflexe wie
• Mediane Zone. Hier finden sich direkt an der die Schluck-, Saug- und Speichelsekretionsreflexe,
Mittellinie die Nucll. raphe, die serotoninerge Nies- und Husteneflexe sowie das Gähnen. Die
Verbindungen zum Cortex und zum Limbischen Afferenzen verlaufen hauptsächlich in den Nn. V,
System und via absteigendem Retikularissystem IX und X und werden an die Formatio reticularis
zum Rückenmark unterhalten. Die Projektionen weiter geleitet.
in den Cortex und ins Limbische System schei-
Auch aus dem N. facialis und dem N. olfactorius
nen eine Rolle bei der Generation von Gemüts-
sind Afferenzen in die laterale Zone beschrieben.
lagen sowie der Schlafregulation zu spielen.
Von dort aus werden komplexe Bewegungsmuster
Gesichert ist eine Schmerz-supprimierende Wir-
über die verschiedenen motorischen Hirnnerven-
kung im Rückenmark, die durch die Freisetzung
kerne und über spinale Motoneurone induziert,
von körpereigenen Opiaten, den Endorphinen,
welche die Atemmuskulatur (Interkostalmuskeln
erklärt wird („Zentrales Analgesiesystem")-
und Zwerchfell) innervieren. Weitere von der
Durch eine Verbindung zum thorakalen Rücken-
Formatio reticularis kontrollierte polysynaptische
mark werden auch sympathische Funktionen
Reflexe sind der Kornealreflex, der vestibulo-oku-
beeinflusst.
läre (VOR) und der okulo-zephale Reflex (OZR).
• Mediale magnozelluläre Zone. Hier liegen
große Neurone mit horizontal orientierten Den-
dritenbäumen, deren Axon sich in einen auf- und
5.4.9.3 Vegetative Zentren
einen absteigenden Ast gabelt. Diese Neurone
scheinen an der Integration von Informationen
Unter dem Einfluss von Hypothalamus und For-
beteiligt zu sein, die vom Tractus spinoreticula-
matio reticularis werden vegetative Funktionen
ris und als Kollateralen vom Lemniscus media-
in den Kreislaufzentren, dem Atemzentrum,
lis eintreffen. Zudem ist die mediale Zone durch
dem Brechzentrum und dem Miktionszent-
den Tractus reticulospinal is anterior an der
rum reguliert.
Extrapyramidalmotorik und der Regulation des
Muskeltonus beteiligt und beinhaltet die Zen-
• Kreislaufzentren. Diese liegen in der Formatio
tren zur Koordination der Augenbewegungen
reticularis der Medulla oblongata unterhalb des
und des (physiologischen) Nystagmus (s. Kap.
Nucl. ambiguus und damit kaudal des Atemzent-
5.4.2.4, S. 461).

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
520 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Nucleus raphe dors.

Nucleus tegmenti pedunculopont.

Nucleus centralis sup.

Locus coeruleus

Nucleus raphe pontis

Nucleus raphe magnus

Nucleus reticularis magnus

Nucleus raphe obscurus

hypothalamische
Kerne

optische Raumorientierung,
übergeordnete vegetative
Koordination der Nahrungsauf-
nahme (Kauen,Lecken, Saugen)

pneumotaktisches Kerngebiet,
vegetative Koordination
von Atmung und Kreislauf, Niesen,
akustisch-vestibuläre Raumordnung Nucleus
Schlucken dorsalis
vegetative Koordinations- n. vagi
vasomotorische
gebiete für
Kontrolle
Blutdruck, Herztätigkeit,
Kerngebiet für
Gefäßweite, Exspiration,
Inspiration, somatische Reflexe, Exspiration
Schlucken, Würgen, Erbrechen Kerngebiet für
Inspiration

Area postrema
(„Brechzentrum")

Abb. 5.117: Formatio reticularis mit schematischer Darstellung der wichtigsten Regulationszentren von Medulla
oblongata, Pons und Mesencephalon. Ansicht von dorsal und lateral. Die römischen Zahlen bezeichnen die
motorischen Kerngebiete der Hirnnerven, die mit der Formatio reticularis verschaltet sind (nach P. Duus, 1990).

rums. Sie erhalten Informationen über Blutdruck kus) und über den Tractus reticulospinalis zur
und Gefäßtonus aus den Nn. IX und X über den Columna lateralis des Thorakalmarks.
Nucl. solitarius und den Nucl. dorsalis η. X. Man • Atemzentrum. Dieses Zentrum findet sich in
unterscheidet pressorische und depressorische der lateralen Zone der Formatio reticularis
Zentren, die beide auch auf die Herzfrequenz in der Medulla oblongata (parvozelluläre Grup-
einwirken können. Die Efferenzen erreichen ihr pen rostral des Nucl. ambiguus und des Nucl.
Ziel über den Nucl. dorsalis η. X (Parasympathi- solitarius). In Abhängigkeit von 0 2 - und C 0 2 -
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 521

Partialdruck werden über die retikulospinale 5.4.10 Integrative und kognitive Systeme
Bahn motorische Neurone des N. phrenicus
im Halsmark (C2-C4) angesteuert. Das Ende Lernziele: Limbisches System, Papez-Neuro-
der Einatmung wird über im Ν. X verlaufende nenkreis, Corpus amygdaloideum (Mandelkern-
Informationen durch den Dehnungszustand der komplex), Septumkerne, Hippokampusforma-
Lunge reguliert. tion, Brodmann-Kartierung der Kortexareale
• Brechzentrum. Es befindet sich in der Area
postrema, die unmittelbar unter der Oberfläche
des IV. Ventrikels in Höhe der Apertura mediana
5.4.10.1 Limbisches System
ventriculi quarti liegt. Sie erhält Afferenzen aus
dem Nucl. dorsalis n. A'und dem Tractus solita-
1. Übersicht
rius. Die Area postrema gehört zu den zirkum-
ventrikulären Organen, in denen keine Blut-
Unter dem Sammelbegriff „Limbisches System"
Hirn-Schranke besteht (s. Kap. 5.3.4.5, S. 455,
fasst man sowohl kortikale als auch subkortikale
und 5.4.11.3, S. 548). Man vermutet deshalb,
Regionen zusammen (s. Abb. 5.118). Diese
dass über noch unbekannte, mit dem Blutstrom
umfassen (Anteile von): Gyrus cinguli, Gyrus
herangeführte Signale Chemorezeptoren das
parahippocampalis, Hippokampusformation,
Erbrechen auslösen.
Nucll. septales, Corpora mamillaria, Corpus
amygdaloideum, Nucl. anterior thalami.
Klinik: 1. Die topographische Nähe zum IV.
Ventrikel bedingt, dass es bei Anstieg des
Darüber hinaus werden u. a. Kerngebiete im
Liquordrucks zum Nüchternerbrechen kommen
Hirnstamm (Nucll. raphe) und im Diencephalon
kann. Übelkeit und Erbrechen stellen teilweise
(Nucl. accumbens, Habenula) sowie das mediale
das einzige Symptom in der Frühphase eines
Vorderhirnbündel und der Fasciculus longitudi-
gesteigerten intrakraniellen Druckes dar. 2. Die
nalis dorsalis (Schütz-Bündel) zum „Limbischen
Neurotransmitter Dopamin und Serotonin
System" gerechnet. Man geht davon aus, dass das
scheinen beim Auslösen des Brechreflexes eine
Verschaltungssystem dieser Kerngruppen eines
wichtige Rolle zu spielen, da sich durch ihre
der wichtigsten morphologischen Substrate für
Antagonisierung gute therapeutische Effekte
Gedächtnisleistungen und emotionale Zustände
erzielen lassen.
darstellt.

• Miktionszentrum. Neben einem Miktionszent- • Limbisches System: Ein funktionelles Modell-


rum im Conus medullaris des Rückenmarks konzept. Bereits im 19. Jahrhundert entwickelte
findet sich in der lateralen Zone der Formatio sich die Vorstellung, dass diese Hirngebiete,
reticularis das pontine Miktionszentrum. Bei die sich wie in einem Saum oder einer Bor-
gefüllter Harnblase wird es über aufsteigende, düre, Limbus (,X<? grand lobe limbique" nach
viszerosensible Fasern aktiviert und fördert die Broca), an der Medianfläche um den Balken
Blasenentleerung. Willkürliche (kortikale) Affe- herum gruppieren, funktionell zusammengehö-
renzen vermögen diesen Vorgang durch Hem- ren. Dabei können definierte Leistungen nicht
mung des pontinen Miktionszentrums zeitweise einfach bestimmten Abschnitten dieses Systems
zu blockieren. zugeordnet werden.

Die Formatio reticularis hat also eine funk- Vielmehr scheint das Limbische System eine
tionelle Bedeutung: bei der Bildung der neuronale Verschaltungskette zu bilden, die ihre
Weckreaktion im ARAS, bei der Bildung der Funktionsaufgaben nur als komplexer Schalt-
absteigenden Fasersysteme ins Rückenmark zur kreis für o. g. Leistungen des ZNS wahrnimmt.
Schmerzunterdrückung und zur Tonusregulation
der Muskulatur, beim Aufbau von Schutz- und Da die Neurone des Limbischen Systems mit ver-
Abwehrreflexen, bei der Ausbildung lebens- schiedenen anderen Arealen des ZNS, besonders
wichtiger Atemzentren und Kreislaufregulati- mit dem Hypothalamus und dem Cortex cerebri,
onszentren. in enger funktioneller Verbindung stehen und eine

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
522 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Gyrus cinguli

Fornix

s
y/
Nuclei septales

/ \
/
Amygdala / ι Hippocampus
Uncus
/
Regio entorhinalis Gyrus parahippocampalis

Abb. 5.118: Kortikale Anteile des Limbischen Systems (nach P. Brodal, 1992).

abgrenzbare Struktur des „Limbischen Systems"


Degeneration der Corpora mamillaria (Korsa-
nicht nachgewiesen werden konnte, ist der Begriff
kow-Syndrom) oder der Hippokampusformation
von verschiedenen Autoren als überflüssig bezeich-
(Alzheimer-Krankheit) Gedächtnisstörungen als
net worden. Dass „Limbische System" ist also eher
gemeinsames Symptom auftreten.
ein funktionelles Modellkonzept als ein strukturell
klar abgrenzbarer Anteil des ZNS.
Inzwischen haben viele Untersuchungen zur Ver-
• Papez-Neuronenkreis. Gut präparierbare, schaltung der neuronalen Zellgruppen innerhalb
massive Faserbündel, die Teile des Limbischen des Limbischen Systems zeigen können, dass
Systems miteinander verbinden, haben zur Vor- diese erheblich komplexer ist als man zunächst
stellung der spezifischen Verschaltung von Ner- annahm. Vor allen Dingen wurde deutlich, dass
venzellgruppen des Limbischen Systems zum der entorhinale Cortex den Hauptzugang zum
Papez-Neuronenkreises gefuhrt. Dabei wird Hippocampus darstellt, und dass die Zellgruppen
davon ausgegangen, dass die efferenten Fasern innerhalb des Limbischen Systems nicht nur in
aus der Hippokampusformation über die Fim- einer Kreisverbindung miteinander stehen, sondern
bria und den Fornix die Corpora mamillaria vielfaltig-reziproke interne Verbindungen und auch
erreichen, die wiederum über das Vicq-d'Azyr- solche zum Cortex und zum Hirnstamm ausbilden.
Bündel (Tractus mamillothalamicus) mit dem Darüber hinaus sind auch Korrekturen an der bis-
Nucl. anterior thalami in Verbindung stehen. herigen Vorstellung über die Verschaltung inner-
Von dort aus erreichen Fasern über die Capsula halb des Limbischen Systems nötig geworden. So
interna die Nervenzellgruppen im Gyrus cinguli, sind etwa an der Innervation der Mamillarkörper
welche selbst wieder in die Hippokampusforma- nicht nur der Hippocampus, sondern auch direkt
tion projizieren und so den Kreis schließen. angrenzende Gebiete des Subiculum beteiligt.
• Verbindungen zum Cortex cerebri. Der Gyrus
Klinik: Dieses nicht unumstrittene Konzept
cinguli, der Gyrus parahippocampalis mit dem
wurde mit neurochirurgischen Operationen in
entorhinalen Areal und der Hippocampus, mit
Verbindung gebracht. So traten nach Läsionen
dem Gyrus dentatus und dem Cornu ammonis,
des Neuronenkreises mnestische Störungen
stellen den limbischen Cortex dar. Der Gyrus
auf, wobei insbesondere der Lernvorgang, die
cinguli und die Area entorhinalis weisen geson-
Erinnerungsfähigkeit und die Emotionalität ver-
derte kortikale Verbindungen mit der Hemi-
ändert waren. Das Konzept erklärt, warum bei
sphäre auf. Der Gyrus cinguli erhält neben den

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle S y s t e m e d e s Z N S 523

Afferenzen aus dem Nucl. anterior thalami auch


Klinik: 1. Beidseitige Entfernung des Gyrus
solche aus den Nucll. septales sowie aus fronta-
cinguli fuhrt bei Affen zu einem zahmen Ver-
len, parietalen und temporalen Abschnitten des
haltensmuster, welches von sozialer Gleichgül-
Cortex cerebri. Besonders die Verschaltungen
tigkeit begleitet ist. 2. Durch eine Cingulotomie,
zum Cortex sind reziprok ausgebildet (s. Abb.
die chirurgische Entfernung von Teilen des
5.119). Dabei ist der anteriore Anteil des Gyrus
Gyrus cinguli, kann bei Patienten mit chroni-
cinguli in die Verhaltenssteuerung eingebunden,
schen Schmerzen, die nicht konventionell zu
weil er ein motorisches Areal, das CMA, aus-
therapieren sind, eine Besserung erzielt werden.
bildet (s. Kap. 5.4.7.5, S. 496). Auf diese Weise
Hierbei scheint besonders die Schmerzbeurtei-
wird der Einfluss des Papez-Neuronenkreises
lung verändert zu sein.
auf den Muskeltonus, die Motorik und die
Sprachmelodie, Prosodie, verständlich.
2. Corpus amygdaloideum, Amygdala,
Man geht davon aus, dass durch die Verschaltung Mandelkernkomplex
frontaler und parietaler Assoziationsfelder des
Cortex mit dem Gyrus cinguli neokortikale Erre- Die Amygdala (= Mandel) befindet sich im
gungsmuster der Sinneswahrnehmungen und ihrer anteromedialen Teil des Temporallappens,
motorischen Reaktionen dem Limbischen System direkt unter dem Gyrus ambiens und dem Gyrus
zugeführt werden. So können kortikale Einflüsse semilunaris. Sie ist eine zentrale Schaltstelle
auf das autonome Nervensystem und das endokrine vieler vegetativer Funktionen.
System erklärt werden.

parietaler und temporaler Assoziationskortex

frontaler Assoziationskortex Nucleus anterior


^ et mediodorsalis thalami

Tractus mamillothalamicus
(Vicq d'AzYr-Bündel)

Nuclei septales
zum Striatum und
Cerebellum via Pons

Corpus mamillare

Amygdala

\
\
Subiculum

Regio entorhinalis

Abb. 5.119: H a u p t v e r b i n d u n g e n d e s G y r u s c i n g u l i mit d e n k o r t i k a l e n u n d d i e n z e p h a l e n A n t e i l e n d e s L i m b i -


s c h e n S y s t e m s ( P a p e z - N e u r o n e n k r e i s ) ( n a c h P. Brodal, 1992). Blau: A f f e r e n z e n , rot: E f f e r e n z e n
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
524 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Gyrus cinguli
\
\
\

Lobis frontalis Stria terminalis


Cortex cerebri

Nucleus mediodorsalis
thalami
Nuclei septales

Hypothalamus

Bulbus olfactorius

" Subiculum

\
Lobus temporalis Regio entorhinalis
Cortex cerebri Amygdala

Abb. 5.120: Verbindungen des Amygdala-Kernkomplexes (nach P. Brodal, 1992).


Blau: Afferenzen, rot: Efferenzen

• Gliederung. Die Amygdala wird in verschie-


Funktionell kann man somit den kortikome-
dene Unterkerne eingeteilt, welche jeweils über
dialen Anteil der Amygdala mit der Steuerung
eine spezifische Zytoarchitektonik, Verschaltung
autonomer Funktionen und den basolateralen
und Funktion verfugen. Dabei kann man von
Anteil mit der Beeinflussung höherer kortikaler
einer kleinen kortikomedialen und einer grö-
Leistungen in Verbindung bringen:
ßeren basolateralen Zellgruppe sprechen. Bei
Primaten und dem Menschen ist die basolaterale
• Parasympathische Steuerung. Durch Sti-
(= limbische) Kerngruppe besonders stark ent-
mulationsexperimente bei höheren Primaten
wickelt. Zwischen diesen beiden Gruppen liegt
konnte gezeigt werden, dass die Amygdala eine
der Nucl. centralis.
wichtige Rolle für autonome Funktionen sowie
• Verbindungen und Funktion (Abb. 5.120).
emotionale Zustände spielt. Dabei fuhren Sti-
Die kortikomedialen Kerne sind v. a. mit
mulationen der kortikomedialen Zellgruppe
Riechhirnanteilen (Bulbus olfactorius), über die
zu starken parasympathischen Effekten wie
Stria terminalis mit dem Hypothalamus sowie
Speichelfluss, Kaubewegungen und Erhöhung
einigen Hirnstammkernen verbunden. Demge-
der Darmmotilität bis hin zur Defakation.
genüber weist der basolaterale Kernkomplex
Verschaltungen mit dem Nucl. dorsomedialis Eine wichtige Verbindung besteht zwischen der
thalami und dem frontalen Cortex cerebri über Amygdala und dem Hypothalamus. Auch vom
den Fasciculus uncinatus auf und besitzt eine basolateralen limbischen Teil ziehen Fasern in die
Verbindung zum ventralen Striatum. Über diese Stria terminalis, welche in der Wand des Seiten-
Wege kann die Amygdala extrapyramidalmoto- ventrikels zwischen Nucl. caudatus und Thalamus
rische Funktionen beeinflussen. verläuft. Sie enden in den Nucll. ventromediales
hypothalami. Einige Fasern treten in die Stria
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 525

medullaris und den Thalamus ein, wo sie v. a. den


zende allokortikale Areale für die Steuerung des
Nucl. dorsomedialis innervieren. Auf diese Weise
Sexualverhaltens von Bedeutung sind. Hierbei
können Signale von der Amygdala ausgehend den
spielt besonders die Verbindung zum Nucl. ven-
präfrontalen Kortex erreichen. Besonders ausge-
tromedialis hypothalami eine Rolle. 3. Bezug
prägte Verbindungen der Amygdala finden sich
nehmend auf solche Befunde wurden stereotak-
dabei mit der Hippokampusformation und den
tische Läsionen der Amygdala (und des Nucl.
Nucll. septales.
ventromedialis hypothalami) bei Sexualstraftä-
• Aufmerksamkeitsreaktion. Stimulation der tern durchgeführt. Dieser als ,J*sychochirurgie"
basolateralen (limbischen) Zellen fuhrt zu bezeichnete Ansatz führte jedoch zu keiner
einer charakteristischen Erhöhung der Auf- spezifischen Verhaltensänderung bei diesen
merksamkeit. Dabei kommt es zur Pupillener- Menschen. Solche Eingriffe sind als moralisch
weiterung und einer Exploration der Umwelt, höchst zweifelhaft zu beurteilen, insbesondere
die typischerweise in Richtung der stimulierten auch deshalb, weil hier voreilig wissenschaft-
Seite besonders stark ausgeprägt ist. Im EEG liche Hinweise in den Status vollgültiger the-
finden sich Aktivierungszeichen. Bei Zunahme oretischer Erklärungen erhoben wurden. Des
der Stimulation kommt es jedoch zum Auftreten weiteren kam diesen Praktiken eine eindeutig
von Angst- und Erregtheitszuständen (beim Tier amputierende und strafende Funktion zu (ähn-
Angriffsverhalten). Auch beim Menschen lassen lich den Zwangssterilisationen der NS-Zeit),
sich der Amygdala ähnliche Symptomkomplexe was ihre medizinisch-therapeutische Bedeutung
zuordnen, wobei typischerweise Stimulationen äußerst fragwürdig erscheinen lässt.
der Amygdala (im Rahmen von hirnchirurgi-
schen Eingriffen) zu Halluzinationen und Dejä-
vu-Erlebnissen fuhren. 3. Septumkerne

Rostrai der Commissura anterior an der Basis


Klinik: 1. Der Mandelkernkomplex ist im
des Septum pellucidum liegen Kerngebiete
Zusammenhang mit anderen Teilstrukturen des
des basalen Vorderhirns (s. Abb. 5.121), die
Temporallappens, insbesondere der parahip-
als Nucll. septales et basales (Meynert) das
pokampalen Region, im letzten Jahrzehnt
Ursprungsgebiet cholinerger Afferenzsysteme
stark ins allgemeine Forschungsinteresse der
zum Hippocampus und zum Cortex cerebri dar-
Neurowissenschaften gerückt. So scheint diese
stellen. Dabei fungieren sie als Relaisstation für
Struktur eine wichtige Rolle bei diversen Hirn-
die Verbindung zum Hypothalamus.
funktionen zu spielen, wie etwa dem Lern- und
Gedächtnisvorgang, der Emotionsbildung
Verschaltung. Die Nucll. septales sind in beide
sowie der Entstehung von komplexen Verhal-
Richtungen intensiv mit der Hippokampusforma-
tensmustern. Außerdem sind diese Regionen
tion und dem Hypothalamus verschaltet. Darüber
wohl auch an unterschiedlichen und teilweise
hinaus bestehen Verbindungen mit dem Gyrus cin-
schwer wiegenden pathologischen Prozessen
guli, dem Thalamus und der Amygdala.
beteiligt, wie ζ. B. der Alzheimer-Erkrankung,
der Schizophrenie oder auch der Epilepsie.
Limbische Strukturen im basalen Telenzephalon
2. Als typische Prodromi (Frühsymptome) eines
sind über das mediale Vorderhirnbündel mit-
epileptischen Anfalls, der vom Temporallappen
einander verschaltet.
ausgeht, werden Deja-entendu-, Dejä-vu- und
Deja-vecu- („schon einmal gehört", bzw. gese-
hen und erlebt) Erlebnisse berichtet, wie sie Dies gilt für die Septumkerne, den Nucl. basalis
auch bei Erschöpfung und im Traum auftreten. (Meynert), für hypothalamische Kemgebiete sowie
Diese führt man auf eine Mit- und Übererre- Bereiche bis hinab zum periaquäduktalen Grau
gung der Amygdala zurück. Daneben bestehen im Mesenzephalon. Aufsteigende Fasersysteme
teilweise olfaktorische, auditorische und epi- monoaminerger Zellgruppen im Hirnstamm (Nucl.
gastrische Halluzinationen neben psychischen coeruleus) erreichen den Cortex cerebri einschließ-
Auren. Darüber hinaus zeigen Läsionsstudien lich der Hippokampusformation über das mediale
an Affen, dass die Amygdala, aber auch angren- Vorderhirnbündel.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
526 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Globus pallidus lateralis


Nucleus caudatus et medialis Putamen

Claustrum

Capsula interna

Nuclei septales Capsula externa

Fornix
Capsula extrema

Commissure anterior
(Crus posterius)
Area praeoptica

Nucleus centralis

Nucleus medialis > Amygdala

Nucleus basolateralis

Chiasma opticurm Nucleus basalis


Meynert

A. = cholinerge Neurone

/\ = GABAerge Neurone

Abb. 5 . 1 2 1 : Schema der Strukturen des Basalen Telenezephalons mit den Neuronen der Septumkerne und ihrer
topographischen Beziehungen zur Commissura anterior und zum Nucl. lentiformis (nach L. Heimer, 1995)

Klinik: Die Septumregion stellt eine wichtige pus sowie dessen physiologischen Beitrag zum
Verbindung zwischen Hypothalamus und Hip- Lernvorgang zugeschrieben. 3. Schädigung der
pocampus dar. 1. Läsionen in diesem Bereich Septumkerne fuhren in experimentellen Unter-
fuhren zu Abschwächung und Verlust des Theta- suchungen zu ähnlichen Symptomen, wie sie
Rhythmus im EEG, der von der Hippokampusre- bei Läsionen des Hippocampus, der Amygdala
gion generiert wird. 2. Die Formatio reticularis oder des rostralen Teils des Gyrus cinguli auf-
erreicht mit ihren adrenergen Neuronen über das treten. Hierbei kommt es zu einer Hemmung von
mediale Vorderhirnbündel die Septumregion und Aggressionsverhalten und zur Hypersexuality.
den Hippocampus. Dem medialen Septum wird 4. Auch die cholinergen Neuronenverbände sind
eine Schrittmacherfunktion für den Hippocam- in den letzten Jahren besonders stark beforscht

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 527

worden, wobei man herausfand, dass die Zellen cholinesterase-Hemmer gefuhrt, wobei dieser
in den Nucll. septales mediales und im Nucl. Ansatz rein symptomatischen Charakter hat.
basalis (Meynert) Acetylcholin als Neurotrans- Die morphologischen Veränderungen, wie sie
mitter benutzen. Diese Projektion erreicht den beim Morbus Alzheimer auftreten, gehen weit
Hippocampus und den Cortex auf unspezifische über eine Schädigung des cholinergen Systems
Weise, so dass sie dort zu einer Stimulation und im basalen Vorderhirn hinaus, wobei weitläu-
Modulation der Signalübertragung spezifischer fige Kortexatrophien entstehen. 7. Demenzielle
Verschaltungen aus der Hirnrinde führt. 5. Bei Erkrankungen stellen eine so gravierende
Patienten mit präsenilen und senilen Demen- Abnahme intellektueller Fähigkeiten dar, dass
zen, wie dem Morbus Pick und dem Morbus die soziale und berufliche Situation der betrof-
Alzheimer, konnte man postmortal eine starke fenen Patienten stark beeinträchtigt werden. Bei
Neuronendegeneration im Kerngebiet des Nucl. voller Ausprägung des Krankheitsbilds bestehen
basalis beobachten. Außerdem fanden sich in Gedächtnis- und Denkstörungen, eine Abnahme
diesen Kerngebieten des basalen Vorderhirns des Urteilsvermögens, Persönlichkeitsverände-
und des Cortex cerebri eine Reduktion des rungen sowie zeitliche und räumliche Desorien-
Acetylcholingehaltes sowie eine veränderte tierung mit Verlust der Sprache und schließlich
Rezeptorausstattung. Der modulatorische Effekt auch körperliche Pflegebedürftigkeit.
von Acetylcholin auf die Erregbarkeit kortikaler
Neurone scheint also beim Morbus Alzheimer
reduziert zu sein, was bei den demenziellen 4. Hippokampusformation
Erkrankungen wohl auch im Zusammenhang
mit diffusen Atrophien weiter Großhirnareale Die Hippokampusformation ist ein Teil des
sowie des Limbischen Systems steht. Hierdurch Archicortex und umfasst den Gyrus dentatus,
ergibt sich auch eine Erklärung für den bei das Cornu ammonis (die CA-Region) und das
dieser Erkrankung auftretenden Gedächtnisver- Subiculum. Nach der Ansicht einiger Autoren
lust. 6. Die Acetylcholinhypothese des Morbus wird außerdem die Area entorhinalis (Area 28)
Alzheimer hat inzwischen zu einer Substitu- des Gyrus parahippocampalis zur Hippokam-
tionstherapie durch zentral wirksame Acetyl- pusformation gezählt (s. Abb. 5.122-124).

Hippocampus
(Sektoren CA1-CA3)
Fimbria hippocampi
\
\
f Ventriculus lateralis,
Cornu temporale
Gyrus dentatus

Sulcus hippocampi -

Subiculum

\
\
Regio entorhinalis, abgesetzt im
Gyrus parahippocampalis Sulcus rhinalis

Abb. 5.122: Korrespondierende Frontalschnitte durch die Hippokampusformation und den Gyrus parahippo-
campalis. Die rechte Abbildung zeigt einen von mehreren Impulsleitungswegen durch den Hippocampus:
1 = Pyramidenzelle in der Regio entorhinalis, 2 = Körnerzelle im Gyrus dentatus, 3 = Pyramidenzelle in CA3,
4 = Pyramidenzelle in CA1 (nach P. Brodal, 1992). Beim Menschen wird häufig noch eine CA4 Region unter-
schieden
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
528 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Gyrus dentatus (GD)

Sulcus hippocampi - — —

- Cornu ammonis
- Gyrus dentatus
RE - Regio entorhinalis
S - Subiculum

Abb. 5.123: Lageverschiebungen der Hippokampusformation in der Ontogenese durch die Ausbildung des Tem-
porallappens (linke Seite, Ansicht von vorn). Von oben nach unten: zunehmende Einrollung der Rindenzellschicht
zum Ammonshorn (CA) und kappenartige Umhüllung durch die Körnerzellschicht des Gyrus dentatus (nach
K. Zilles, 1994)

• Topographie. Das Cornu ammonis erstreckt im Gyrus parahippocampalis direkt neben


sich medial im Temporal läppen entlang des dem Uncus gelegene Gebiet ist die Hauptum-
Cornu inferius ventriculi lateralis. Auf seiner schaltstelle für polysensorische isokortikale
Medianseite findet sich der Gyrus dentatus Informationen zur Hippokampusformation.
aufgelagert. Die Area entorhinalis legt sich Dabei bilden sich Zellinseln in der Schicht II
mit einer schmalen Übergangszone, dem trans- und der Schicht III des entorhinalen Cortex aus,
entorhinalen Cortex, aber getrennt durch den die diese sensorischen Informationen (optische,
Sulcus rhinalis, an den Neokortex an. Im Gegen- olfaktorische, auditorische, polymodal assozia-
satz zum sechsschichtigen Neocortex finden wir tive) integrieren und sie über einen gebündelten
in dieser Region einen allokortikalen Rinden- Fasertrakt in den Hippocampus weiter leiten.
aufbau (3 Schichten). Diese Faserverbindung wird Tractus perforans
• Entorhinaler Cortex (Area 28). In der Area genannt, da ihre Fasern die Zellschichten des
entorhinalis findet sich ein modifizierter drei- Subiculum in Richtung zum Gyrus dentatus
schichtiger Aufbau als Übergangszone zwischen durchdringen (s. Abb. 5.122 rechts). Diese
Neocortex und Hippokampusformation. Dieses Verbindung stellt ein „Nadelöhr" für sämtliche

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 529

sensorischen Informationen dar, die den für rechts). Diesem neuronalen Schaltkreis wird
Gedächtnisleistungen wichtigen Hippocampus eine wichtige Funktion bei der Generation von
(und damit das Limbische System) erreichen. Gedächtnisinhalten zugeschrieben. Dabei ist
Die Fasern des Tractus perforans benutzen dem Hippocampus weniger die Speicherfunk-
Glutamat als exzitatorischen Neurotransmitter tion an sich, als vielmehr die Selektion von
(s. u.). Gedächtnisinhalten und somit die Ablage von
Informationen in kortikalen Gedächtnisspei-
Entwicklung (s. Abb. 5.123). Als archikortikaler
chern zuzuordnen.
Bereich laufen die Zellschichten des Cortex cerebri
in der Hippokampusformation aus und stülpen sich
Durch seine efferente Faserverbindung (s. Kap.
C-förmig ineinander. Entwicklungsgeschichtlich
5.2.5.1, S. 395) zu den Corpora mamillaria und
stammen kortikale Neurone von so genannten
dem Hypothalamus (mit Umschaltung in der
Matrixzellen ab. Dabei hat sich in jüngster Zeit
Septumregion) stellt der Hippocampus eine
gezeigt, dass aus dem Bereich der ventrikulären
Verbindung zwischen dem Cortex cerebri (über
Zone des Gyrus dentatus (unterhalb der Kömer-
die Area entorhinalis) und dem vegetativen Ner-
zellschicht) auch bei adulten Organismen noch
vensystem her (s. Abb. 5.124).
neuronale Vorläuferzellen heranreifen können.
Die Wanderung dieser neuronalen Vorläuferzellen
Schichtenspezifität. Gyrus dentatus und Cornu ammonis
von der ventrikulären Platte zur pialen Oberfläche
zeigen eine sehr klare anatomische Gliederung. Beson-
findet während des gesamten adulten Lebens statt ders bemerkenswert ist die Tatsache, dass sowohl die
und kommt nicht zum Abschluss. Auf der Basis Verschaltung der Körnerzellen als auch die der Pyrami-
solcher Befunde sind in jüngster Zeit Hoffnungen denzellen in Schichten entlang ihrer Dendriten organisiert
formuliert worden, neuronales Ersatzmaterial ist. So enden Fasern des Tractus perforans an den distalen
aus diesen Vorläuferzellen gewinnen zu können Abschnitten der Dendriten von Körner- und Pyramiden-
(Stammzelltherapie). Außerdem wurde vermutet, zellen (äußeres und mittleres Drittel), wohingegen Fasern
dass diese Zellen reparative Kapazität bei Schä- aus den Nucll. septales und dem Nucl. basalis (Meynert)
digung des ZNS aufweisen könnten. Experimente weiter proximal, Assoziations- und kommissurale Fasern
aber zellkörpemah am Stamm der Dendriten enden.
mit neuronalen Stammzellen und der Stimulation
Hierbei findet sich die kortikale Schichtung vereinfacht
der Neurogenese im Gyrus dentatus befinden sich
wieder. Gyrus dentatus und Hippocampus sind Gegen-
jedoch noch im Entwicklungsstadium. Insbeson- stand vielfältiger neurobiologischer Untersuchungen.
dere bleibt die Frage offen, ob sich Stammzellen Die Möglichkeit, auf experimentellem Weg unterschiedli-
als Neurone in die bestehenden Schaltkreise inte- che Afferenzen des Hippocampus zu schädigen und somit
grieren. eine partielle, selektive Deafferenzierung zu induzieren,
erlaubt ein modellhaftes Studium der Umbau Vorgänge
• Cornu ammonis und Gyrus dentatus. Auf nach Hirnschädigungen.
Frontalschnitten verlaufen die Zellbänder des
entorhinalen Cortex über das Subiculum in die Plastizität. Läsionsstudien zeigen, dass nach Schädigung
Pyramidenzellschicht der Regionen CA1 (Cornu des entorhinalen Fasersystems diese Fasern durch andere
verbliebene hippokampale Afferenzen ersetzt werden,
ammonis 1), CA2 und CA3 sowie in einer C-
etwa aus dem Septumgebiet oder dem kontralateralen
Form in den Hilus gyri dentati. Das Zellband Hippocampus. Dabei verweisen sowohl die normale
des Gyrus dentatus, das aus Körnerzellen Schichtung als auch der Reorganisationsprozess nach
besteht, bildet eine weitere C-förmige Struktur, Läsion, der wiederum schichtenspezifisch verläuft,
die kappenartig dem Pyramidenzellband der auf genetische molekulare Mechanismen, die auch der
CA3-Region aufsitzt (s. Abb. 5.122). Entwicklungsmorphologie des Gyrus dentatus und des
• Tractus perforans. In ihrer Entwicklung errei- Hippocampus zugrundeliegen. An diesem System sind
chen die Fasern des Tractus perforans aus dem beispielhaft die Konzepte der neuronalen Plastizität und
entorhinalen Cortex im Gyrus dentatus die Den- die Vorstellung formuliert worden, dass auch das adulte
Nervensystem nach Verlust von synaptischen Eingängen
driten von Körnerzellen, aber auch von Pyrami-
diese durch reaktive Synaptogenese ersetzen kann.
denzellen des Cornu ammonis. Es bildet sich Hoffnungen, dass dieser Prozess auch klinisch-therapeu-
eine Verschaltungskette zwischen entorhinalem tisch erfolgreich genutzt werden könnte, sind bis heute
Cortex, Gyrus dentatus, Cornu ammonis, Subi- allerdings nicht eingelöst.
culum und entorhinalem Cortex (s. Abb. 5.122

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
530 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Striae longitudinales(Lancisi)

Fornix

Nuclei septales
med. et lat.

Hippocampus

Corpus mamillare

Subiculum

Amygdala

Regio entorhinalis

Abb. 5.124: Hauptverbindungen des H i p p o c a m p u s (nach P. Brodal, 1992). Erläuterung der Afferenzen und Effe-
renzen des H i p p o c a m p u s im Text. Blau: Afferenz, rot: Efferenz

LTP. Neben dem Nachweis, dass das ZNS nach einer


kommt es häufig zur Ammonshornsklerose mit
Schädigung plastisch reagieren kann und neue Synapsen
bildet, ist am Hippocampus auch das physiologische einer Induration sowie weißlichen Verfärbung
Phänomen der Langzeitpotenzierung (Long-term poten- des Hippocampus. Histologisch findet man eine
tiation - LTP) nachgewiesen worden. Hierbei kommt Gliose (Vermehrung von Gliazellen) mit Verlust
es zu einer anhaltenden Verstärkung der synaptischen von Nervenzellen. 3. Die Ursprungsneurone des
Signalübertragung bei repetitiver oder paralleler Stimu- Tractus perforans in Schicht II und III des ento-
lation. Dieses Phänomen wird als zelluläres Korrelat von rhinalen Cortex sind frühzeitig bei der Alzhei-
Gedächtnisfunktionen betrachtet. mer-Erkrankung betroffen. Hierdurch kommt es
zu einer Unterbrechung der Signal weiterleitung
Klinik: 1. Die Hippokampusregion erfüllt viel- in den Hippocampus. 4. Afferenzsysteme aus
faltige Funktionen im Rahmen von emotionalem den Nucll. raphe, mit Serotonin als Transmitter,
Verhalten (Affektionen, Sexualverhalten), der und dem Nucl. coeruleus, mit Noradrenalin als
Integration vegetativ-somatischer Reaktionen Transmitter, sind modulatorisch auf die Aktivi-
sowie Gedächtnis- und Bewusstseinsfunk- tät hippokampaler Signalweiterleitung wirksam.
tionen. Nach beidseitiger Läsion medialer Schädigungen dieser Gebiete können so auf eine
Temporallappenanteile (Amygdala und Hip- Beeinflussung von Lern- und Gedächtnisfunkti-
pokampusformation), ζ. B. nach Traumata, onen bezogen werden, für die der Hippocampus
Herpes-simplex-Encephalitis oder paraneoplas- eine wesentliche Rolle spielt. 5. Ischämische
tischen Syndromen, kann sich ein Klüver-Bucy- Episoden im Stromgebiet der Arteria cerebri pos-
Syndrom entwickeln. Es ist von Hypersexuali- terior können sehr frühzeitig zu Schädigung des
tät, emotionaler Verflachung, Furchtlosigkeit hippokampalen Sektors CA1 (Sommer-Sektor)
und Gedächtnisverlust gekennzeichnet. 2. Im führen. Die Empfindlichkeit dieser Neurone auf
Rahmen von epileptischen Anfallserkrankungen Blutunterversorgung ist ein auffallendes, aber

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 531

ein Langzeitgedächtnis, ein Arbeits- und Ortsge-


bis heute ungeklärtes Phänomen. Dafür werden
dächtnis sowie unterschiedliche Gedächtnisinhalte
einerseits die Verschaltung dieser Nervenzellen,
voneinander abgegrenzt werden.
etwa besonders starke exzitatorische Eingänge
bzw. geringgradig hemmende (GABAerge) Es gibt vielfaltige experimentelle und klinische
Interneuronverschaltungen, sowie andererseits Befunde, die eine Zuordnung der verschiedenen
intrazelluläre Eigenschaften (niedrige Reiz- Gedächtnisleistungen zu bestimmten Abschnitten
schwelle und Spontanaktivität) verantwortlich des Temporallappens nahelegen. Dem Hippocam-
gemacht. 6. In der Area entorhinalis finden sich pus werden besonders die Bildung von Gedächtnis-
häufig Zonen von Übererregbarkeit, die epilep- inhalten zugesprochen, die Objektzuordnungen und
tische Anfälle auslösen können. Etwa 20 % sol- das Erinnern von komplexen Abläufen beinhalten
cher epileptischer Areale zeigen sich gegenüber (s. Patientenkasuistik Η. M.). Außerdem sind
einer pharmakologischen Therapie resistent. Aus andere Strukturen des Temporallappens und auch
diesem Grund führt man neurochirurgische Ein- des übrigen Cortex cerebri für die Ausbildung von
griffe durch, bei denen der entorhinale Cortex Gedächtnisfunktionen von entscheidender Bedeu-
(zum Teil mit angrenzendem Temporallappen tung. Hierzu zählen insbesondere Bereiche des
und Hippocampus) entfernt wird. Diese Ein- präfrontalen Cortex.
griffe dürfen jedoch nur unilateral durchgeführt
werden: 7. Bei bilateraler Entnahme dieser Hirn-
teile kommt es zu einer ausgeprägten anterogra- 5.4.10.2 Kortikale Systeme
den Amnesie (was nach dem Eingriff passiert,
kann nicht erinnert werden, was zuvor geschah, Lernziele: Neocortex: Struktur und Funktionen;
bleibt im Gedächtnis). Ebenso tritt eine leichtere Hirnrinde: Zytoarchitektur, Assoziationsareale
retrograde Amnesie (entsprechend: Was zuvor höherer kognitiver Leistungen (parietealer,
geschah, wird vergessen) auf. Im Jahre 1957 frontaler, temporaler Assoziationskortex),
berichteten die kanadischen Chirurgen W. Sco- motorisches und sensorisches Sprachzentrum,
ville und B. Milner von ihrem Patienten Η. M., Hemisphärendominanz
dem sie wegen therapieresistenter Epilepsie
die Hippokampusformation und die Amygdala
beidseitig operativ entfernt hatten: Η. M. konnte 1. Struktur und Funktionen des Neocortex
nach der Operation zwar alte Gedächtnisinhalte
abrufen, aber keine neuen mehr hinzu gewin- Im Verlaufe der Phylogenese hat sich der
nen. So erinnerte er sich an seine alte Adresse, Neocortex als der größenmäßig dominierende
konnte aber nach einem Umzug nicht mehr seine Anteil des ZNS herausgebildet. Bei höheren
neue Adresse erlernen. Tätigkeiten des täglichen Primaten, besonders beim Menschen, überdeckt
Lebens waren ihm kurz danach nicht mehr ver- der Neocortex praktisch das gesamte andere
fügbar, während seine abstrakte Intelligenz Hirnparenchym. Dieses Phänomen wird Ne(o)-
nicht eingeschränkt war. encephalisation genannt.

Der menschliche Corteχ cerebri enthält beim


5. Bedeutung des Limbischen Systems Erwachsenen etwa 1012 (1 Billion) Nervenzellen
für Lernen und Gedächtnis und bildet damit mehr als die Hälfte der grauen
Substanz des ZNS. Diese enorme phylogeneti-
Schädigungen des Temporallappens im Allgemei-
sche Massenzunahme legt eine Verbindung des
nen und der Hippokampusformation im Besonde-
Neocortex mit den typischen Eigenschaften und
ren wurde aufgrund experimenteller Befunde eine
Potenzialen höherer Primaten und besonders des
besondere Bedeutung für die Entwicklung von
Menschen nahe. Diese Massenzunahme ist von
Störungen der Gedächtnisleistung zugeschrieben.
einer enormen Vergrößerung der Oberfläche des
Es hat sich herausgestellt, dass das Gedächtnis Neocortex begleitet. Sie beträgt beim Menschen
eine komplexe Himfunktion darstellt, also nur im etwa 0,2 m : . Dabei sind nur 1/3 dieser Fläche auf
Gefüge aller beteiligten Strukturen seine Leistung der freien Oberfläche vorzufinden, während der
vollbringt. Dabei müssen sowohl ein Kurz- als auch Rest in der Tiefe der Sulci liegt. Während sich der

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
532 5 Zentrales N e r v e n s y s t e m , G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k

— Cerebellum
. Mesencephalon
Striatum \

ι I
Lobus olfactorius
Mesencephalon
Medulla oblongata

— Cerebellum

Eidechse

Mesencephalon
Lobus olfactorius

Cerebellum

Kaninchen

\
Bulbus olfactorius

Mensch

I Abb. 5.125: Die P h y l o g e n e s e d e s Cortex cere-


Bulbus olfactorius — -Cerebellum bri. P a l a e o e n c e p h a l o n = grau, N e e n c e p h a l o n
Mesencephalo =* s c h w a r z . M e d i a n s c h n i t t e d u r c h die G e h i r n e
v o n Hai, Eidechse, K a n i n c h e n u n d M e n s c h

Cortex cerebri bei Nagetieren noch als eine Struk- zur Hirnoberfläche angeordnet (s. Abb. 5.106,
tur mit glatter Oberfläche darstellt (lissenzephaler 126). Austretende (efferente) Fasern und eintre-
Cortex; gr. lissos = glatt), finden sich bei höheren tende (afferente) Fasern enden in spezifischen
Säugetieren, bei Primaten und dem Menschen die Schichten. Daneben ordnen sich Nervenzellen
typischen Vertiefungen, welche die Oberflächen- verschiedener Laminae gemeinsam in vertika-
vergrößerung ermöglicht haben (gyrenzephaler len Säulen, Columnae oder Kolumnen, an, die
Cortex, gr. gyros = Windung, s. Abb. 5.125). einen Durchmesser von ca. 0,5 mm haben.
2. Innere Struktur des Neocortex
Die Kolumnen, Columnae, spiegeln funktionelle
Einheiten wider.
Alle neokortikalen Areale zeigen eine typische
sechsschichtige Gliederung.
Kortikale Laminae
• Organisation in Schichten und Kolumnen. Nach zytoarchitektonischen Gesichtspunkten
Die Nervenzellen der Hirnrinde befinden sich wird der Isokortex in 6 Schichten eingeteilt, die
in abgrenzbaren Schichten, Laminae, parallel in der Reihenfolge von außen nach innen, also

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle S y s t e m e d e s Z N S 533

Okularitäts-Säulen orientierungsspezifische Säulen


ι ι
links rechts links rechts

Blob-Region ς ; —
Interblob-Region

-assoziatives und
Lamina Komrmmikationssystem
molecularis (I)

Lamina
granulans
externa (II)

Lamina - Afferenzen (Thalamus)


pyramidalis
externa (III)
(IVA)
Lamina - Projektionsfasern
granulans (IVB)
interna

(IVCß)
Lamina
pyramidalis
interna (V)

Lamina
multiformis (VI)

Afferenzen

aus dem Thalamus


-< Afferenzen

Abb. 5.126: O r g a n i s a t i o n s s c h e m a d e s Isokortex (am Beispiel der primären Sehrinde, A r e a 17)

von der Hirnoberfläche bis zur Rinden-Mark- • Lamina III: äußere Pyramidenzellschicht
Grenze, üblicherweise mit römischen Ziffern (Lamina pyramidalis externa)', besteht aus
bezeichnet und ggf. weiter unterteilt werden. mittelgroßen Nervenzellen mit einem im
Schnittpräparat dreieckigen „pyramidalen" Zell-
Von der Hirnoberfläche zur weißen Substanz unter- körper, deren apikale Dendriten bis in Lamina I
scheidet man: reichen.
• Lamina IV: innnere Körnerzellschicht
• Lamina I: Molekularschicht (Lamina mole-
{Lamina granulans interna)·, enthält (ähnlich
cularis oder Lamina plexiformis): enthält neben
wie die Lamina III) Nervenzellen mit einem
wenigen Perikaryen (Nervenzellkörpern) über-
kleinen runden Zellkörper. Diese Schicht ist
wiegend horizontal verlaufende Axone und die
besonders in den primärsensorischen kortikalen
apikalen Dendriten von Pyramidenzellen tiefe-
Arealen (Areae 3, 17 und 41) stark ausgebildet.
rer Schichten.
In Area 17 (deshalb auch: Area striata) ist die
• Lamina II: äußere Körnerzellschicht {Lamina
Lamina IV durch ein breites Faserband, dem
granulans externa): enthält dicht gepackte
makroskopisch sichtbaren Gennari-Streifen
Zellen mit einem zumeist runden und kleinen
(auch Vicq d'Azur: die Afferenz vom CGL;
Zellkörper.
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
534 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

nicht verwechseln mit dem Vicq d'Azur-Bündel:


Die Laminae III und V sind hingegen die
Tractus mamillothalamicus, Abb. 5.119), in 2
efferenten Schichten des Neocortex und aus
Abschnitte unterteilt (s. auch Abb. 5.106). Die
diesem Grund in den primär motorischen Area-
Lamina IV ist zelldicht mit wenig Neuropil, die
len besonders gut entwickelt.
Zellkörper sind relativ klein.
• Lamina V: innere Pyramidenzellschicht
In primär sensorischen Arealen sind sie sehr redu-
(Lamina pyramidalis interna): besteht aus
ziert. Die Nervenzellen von Lamina III senden
großen Nervenzellen mit einem pyramidalen
ihre Axone hauptsächlich als Assoziations- und
Zellkörper, deren apikale Dendriten bis zur
Kommissuralfasern in andere kortikale Areale. Die
Kortexoberfläche reichen. Außerdem bilden sie
aus Lamina V entstammenden Fasern bilden die
Lateraldendriten und einen Kranz von Basalden-
langen, vom Cortex absteigenden Projektionsbah-
driten aus. In den primären motorischen Arealen
nen in tiefer liegende Abschnitte des ZNS.
(Area 4) ist dieser Neuronentyp besonders aus-
geprägt. Dort befinden sich auch die Betz-Rie-
senpyramidenzellen (s. Kap. 5.4.7.5.1, S. 497). Die Lamina VI ist ebenfalls hauptsächlich effe-
Die Lamina V ist wegen der starken Ausprägung rent und Ursprungsgebiet für die Fasern zum
der Dendritenbäume und ihrer Synapsen eine Thalamus.
neuropilreiche Schicht.
• Brodmann-Areale (Abb. 5.127 und 128).
• Lamina VI: multiforme Schicht (Lamina mul-
Histologische Präparate mit einer Zellkör-
tiformis): enthält nur wenige mittelgroße Ner-
perfarbung der Nervenzellen erlauben eine
venzellen, die zumeist einen spindelförmigen
Unterteilung der verschiedenen Abschnitte des
Zellkörper aufweisen. In dieser Schicht finden
Neocortex. Eine solche Klassifizierung stützt
sich sehr viele senkrecht verlaufende Axone, die
sich auf Unterschiede in der Dicke der Laminae,
zu den Columnae auf- bzw. von ihnen kommend
des Neuropilreichtums oder der Zellausstat-
absteigen.
tung. Diese zytoarchitektonische Einteilung,
Unterhalb der multiformen Schicht befindet sich welche zuerst von K. Brodmann (1908) durch-
die weiße Substanz. Sie besteht aus den Fasersyste- geführt worden ist, wurde seitdem mit funktio-
men (Tractus) der Projektions-, Assoziations- und nellen Unterschieden isolierter Kortexareale
Kommissuralfasern. Diese Fasern erreichen meist in Verbindung gebracht. Neuere funktionelle
gebündelt ihre Kolumnen. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren
(fMRT, PET) haben unsere Kenntnisse über
Alle Kortexschichten enthalten neben den Prin- die Funktionseinteilung des Neocortex weiter
zipalzellen auch hemmende und erregende Inter- entwickelt (ein Beispiel zeigt das fMRT in Abb.
neurone. 5.110). Zunehmend werden heute auch andere
Charakteristika neokortikaler Areale, etwa die
3. Generelle Organisation Rezeptorausstattung und die Verschaltungs-
der kortikalen Verschattungen eigenschaften herangezogen, um den Neocortex
funktionell besser verstehen und damit auch
Die Laminae II und IV können als afferente noch genauer klassifizieren zu können.
Schichten des Neocortex angesehen werden.
4. Zelluläre Organisation des Neocortex
• Sie sind deshalb besonders stark in den primär
sensorischen Arealen (granuläre Rinde) ausge-
Die neuronalen Zelltypen des Neocortex lassen
bildet, während sie in den primärmotorischen
sich in 3 Klassen unterteilen: Pyramidenzellen,
Arealen (agranuläre Rinde) sehr reduziert sind.
Körnerzellen und kortikale Interneurone.
In der Lamina II treffen hauptsächlich Afferen-
zen aus anderen kortikalen Arealen ein (Assozi-
• Pyramidenzellen (in den Laminae III und V)
ations- und Kommissuralfasern), während in der
senden ihre Axone in die weiße Substanz und
Lamina IV vor allem Fasern aus dem Thalamus,
innervieren entweder andere kortikale Areale
d. h. Fasern der langen afferenten Projektions-
oder subkortikale Strukturen. Dabei bilden ihre
bahnen enden.
Axone regelmäßig rekurrente Kollateralen aus,
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 535

die benachbarte Zellen, zumeist Interneurone, kortikaler Areale (vornehmlich in Lamina II),
erreichen. Pyramidenzellen machen etwa die und sind mit Pyramidenzellen verschaltet. Diese
Hälfte aller kortikalen Neurone aus und benut- Verschaltung bildet stellenweise das Korrelat
zen meist Glutamat als exzitatorischen Trans- einer sensomotorischen Interaktion, also einer
mitter. Sie erregen ihr Zielgebiet sowohl direkt Verschaltung zwischen sensorischen Afferenzen
als auch indirekt durch rekurrente Kollateralen. und den Ursprungszellen motorischer Efferen-
• Körnerzellen befinden sich vornehmlich in den zen (den Pyramidenzellen).
Laminae II und IV und stellen die afferenten • Kortikale Interneurone sind Nervenzellen
Neurone des Neocortex dar. Sie empfangen mit Axonen, die in einem bestimmten, eng
sowohl Fasern aus subkortikalen Arealen, umschriebenen kortikalen Areal verbleiben.
besonders dem Thalamus (hauptsächlich in Sie finden sich in allen Schichten des Neo-
Lamina IV), als auch Assoziationsfasern anderer cortex. Die meisten Intemeurone benutzen
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
536 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

y-Aminobuttersäure (GABA) als inhibitorischen 5. Funktionelle Bedeutung


Transmitter. Auf diese Weise hemmen sie direkt der zellulären Organisation
benachbart liegende Pyramidenzellen. Vertikal
Wir können davon ausgehen, dass ein aus dem Tha-
organisierte Interneurone fuhren zu einer Hem-
lamus stammendes Axon, das die Lamina IV einer
mung innerhalb einer Kolumne, horizontal
Kolumne des Neocortex erreicht, sich hier mit den
organisierte Interneurone zu einer lateralen
Dendriten von etwa 5000 kortikalen Neuronen
Inhibition (s. Abb. 5.126). Im somatosensori-
verbindet. Die induzierte Erregung in diesen Neu-
schen Cortex spielt diese laterale Inhibition eine
ronen wird durch rekurrente Kollateralen auf inhi-
entscheidende Rolle für die Abgrenzung von
bitorische Interneurone weitergegeben. Die genaue
Kolumnen, die sich in Feldern anordnen (barrel
Verschattung in den verschiedenen Arealen mit
fields). Diese werden für die räumliche Auf-
ihren jeweiligen Kolumnen ist unterschiedlich, was
lösung des sensorischen Eindrucks im Cortex
mit der spezifischen Funktion in Zusammenhang
cerebri verantwortlich gemacht. Die laterale
gebracht wird. In den verschiedenen Schichten
Ausdehnung dieser horizontalen Axone ist
findet man einen unterschiedlicher Grad an Kon-
auf 1-2 mm beschränkt. Kolumnen, die weiter
vergenz (viele Neurone projizieren auf wenige)
entfernt voneinander liegen, sind durch Asso-
oder Divergenz (wenige Neurone projizieren auf
ziationsfasern (innerhalb einer Hemisphäre)
viele). Jeweils eine Betz-Riesenpyramidenzelle des
oder kommissurale Fasern (zur kontralateralen
Motocortex (Area 4) besitzt etwa 60000 Synapsen
Hemisphäre) verschaltet. GABAerge Intemeu-
und integriert die Informationen von annähernd
rone enthalten häufig auch Neuropeptide als
600 benachbarten kortikalen Zellen.
Co-Transmitter. Der Gehalt an Neuropeptiden,
die als Co-Transmitter oder Neuromodulatoren Die Axone inhibitorischer Neurone enden vor-
fungieren, kann mit der spezifischen Funktion nehmlich somanah und bilden axosomatische Syn-
verschiedener Subklassen von Interneuronen in apsen aus, wohingegen exzitatorische Eingänge
Verbindung gebracht werden. anderer Pyramidenzellen an den Dendritendornen
(axodendritische Synapsen) Kontakte ausbilden.
Eine besondere Gruppe kortikaler Interneurone zeigt
morphologisch einen sternförmigen Zellkörper. Diese
Neben der letztgenannten exzitatorischen Innerva-
Sternzellen bilden entlang ihrer Dendriten Dornen aus, tion aus spezifischen Arealen, die der funktions-
worin sie den Pyramidenzellen ähneln. Sie benutzen orientierten Signalweiterleitung (Information im
ebenso wie Pyramidenzellen Glutamat oder Aspartat engeren Sinne) dienen, enden an diesen Zellen auch
als exzitatorischen Transmitter. Somit haben sie andere Axone aus subkortikalen Kerngebieten: Afferenzen
funktionelle Aufgaben als typische GABAerge Interneu- aus dem Nucl. coeruleus (adrenerg), aus dem Nucl.
rone. raphe (serotoninerg), aus dem VTA (dopaminerg)
und aus den Nucll. septales et basales (cholinerg)
Klinik: 1. Die Veränderung der kortikalen Hem- wirken modulatorisch, indem sie den Aktivitäts-
mung spielt bei der Epilepsie eine entscheidende zustand kortikaler Zellen beeinflussen (s. Kap.
Rolle. Als ätiopathologische Mechanismen 5.4.1, S. 456). Auf diese Weise wird die spezifische
werden Verlust von inhibitorischen GABAergen Informationsweiterleitung durch die vorgenannten
Interneuronen, unterschiedliche Rezeptoraus- aufsteigenden Fasersysteme aktivitätsmoduliert.
stattung und Veränderungen der membran- Ebenso kann auch GABAerge Inhibition (ausge-
ständigen Kanäle des inhibitorischen Systems hend von Interneuronen) eine schnelle Hemmung
diskutiert. 2. Ein unterschiedlicher Gehalt an kortikaler Neurone bewirken oder (zumeist durch
Neuropeptiden und Kalzium-bindenden Prote- Co-Transmission von Neuropeptiden) den Charak-
inen wird mit der Empfindlichkeit GABAerger ter einer langsamen Hemmung aufweisen. Hierbei
Interneurone gegenüber hypoxischen Schäden spielen unterschiedliche Rezeptorsysteme des
und Temperaturschwankungen (im Vorfeld GABAergen Systems eine entscheidende Rolle.
einer Epilepsie) in Verbindung gebracht. 3. Der
Wegfall kortikaler Hemmung führt nach dieser
Vorstellung zu unkontrollierter Übererregbar-
keit von Pyramidenzellen und klinisch zum
epileptischen Anfallsgeschehen.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 537

6. Höhere kognitive Leistungen Lokalisation solcher Areale. Entsprechend findet


sich in den Verschaltungen der Assoziationskorti-
Kortikale Areale, die nicht dem primär motori- zes ein hoher Grad von Divergenz und Konvergenz.
schen Kortex (Area 4) oder dem primär sensori- Überdies stehen die Bereiche des Assoziationskor-
schen Kortex (Areae 3, 17 und 41) zugerechnet tex in enger Verbindung zu subkortikalen Zentren
werden, kann man als Assoziationskortex (Thalamus und Limbisches System). Durch das
zusammenfassen. Assoziationskortizes sind Wechselspiel des Informationsaustauschs zwischen
multimodal, d. h. sie verarbeiten Informationen den Assoziationskortizes einerseits sowie solchen
mehrerer Sinneskanäle und integrieren sie zu subkortikalen Strukturen andererseits entsteht nach
einer Objektwahrnehmung. heutiger Vorstellung ein neuronales Netzwerk,
welches die Voraussetzung fur höhere kognitive
• Areale des Assoziationskortex finden sich in Leistungen und mentale Funktionen beim Men-
allen 4 Lobi des Telencephalon. Dort werden schen darstellt.
in sekundären und tertiären Assoziationsfel-
Für die Untersuchung höherer kognitiver Leistun-
dern
gen des menschlichen Gehirns sind besonders in
• entweder die primären sensorischen Informati- jüngster Zeit Messungen des zerebralen Blutflusses
onen weiterverarbeitet (parietal, okzipital und und des Glukoseverbrauchs unter Zuhilfenahme
temporal) bildgebender Verfahren (fMRT und PET) vorge-
• oder motorische Bewegungsmuster entworfen nommen worden. Es hat sich gezeigt, dass bei
(im Lobus frontalis), die an das primärmotori- verschiedenen Aufgaben mehrere Areale des Asso-
sche Areal weitergegeben werden. ziationskortex gleichzeitig aktiviert sein können.
Gleiches gilt etwa auch für die Sprach- und soma-
• Lokalisationshypothese (s. Abb. 5.129 und tosensorischen Zentren des Cortex (s. Abb. 5.110,
5.130). Im Verlauf der Phylogenese entwickelte 132).
sich die Ausdehnung der kortikalen Areale,
die dem Assoziationskortex zuzuordnen sind, • Parietaler Assoziationskortex. Im Gyrus post-
dramatisch. Selbst zwischen (Menschen-)Affen- centralis des Lobus parietalis liegen als wich-
und Menschengehirnen existiert noch ein deutli- tiges Primärgebiet die Areae 3, 1 und 2 („Kör-
cher Unterschied. Somit scheint man die Areale perfiihlsphäre"), in denen die sensiblen Bahnen
des Assoziationskortex mit den höheren kogni- enden. Von dort erhalten die Areae 5 und 7 im
tiven Leistungen des Menschen in Verbindung kranialen Lobus parietalis, die 2 wichtige Asso-
bringen zu können. Medizinhistorisch gesehen, ziationsfelder des Cortex für die Integration sen-
hatte man insbesondere seit dem späten 18. sibler Informationen darstellen, ihre Eingänge.
und frühen 19. Jahrhundert versucht, innerhalb Zusätzlich erhalten diese Areale Informationen
dieser Assoziationskortizes Areale zu definie- aus extrastriatalen visuellen Bereichen und
ren, die als Zentren bestimmter Hirnfunktionen sind wiederum mit dem Supplementär-Moto-
dienen sollten. Diese Vorstellung wird als Loka- rischen Areal (SMA) und dem Primär-Moto-
lisationshypothese bezeichnet (s. Abb. 5.139). rischen-Areal (PMA) verbunden. Ebenso sind
sie über lange Assoziationsfasern, wie dem
Für einige Areale der Assoziationskortizes gelingt
Fasciculus longitudinalis superior, mit präfron-
in der Tat eine vergleichsweise präzise Funktions-
talen Arealen verschaltet und verfügen über eine
zuschreibung. Darüber hinaus ist allerdings die
Verbindung zum Gyrus cinguli. Auf diese Weise
Vorstellung von kortikalen Zentren, in denen auch
scheinen parietale Assoziationsfelder den Ein-
höhere kognitive Leistungen bis hin zu Bewusst-
fluss somatosensorischer und visueller Stimuli
seinsvorgängen und spezifischen Fähigkeiten
auf emotionale Zustände, Aufmerksamkeit und
des menschlichen Gehirns lokalisiert seien, nicht
Motivation zu vermitteln.
belegbar. Hierbei spielt eine Rolle, dass Areale in
unterschiedlichen Abschnitten des Gehirns ähnli-
Klinik: 1. Bei Schädigung des posteroparie-
che Funktionen übernehmen oder sogar regelmä-
talen Cortex treten Schwierigkeiten bei der
ßig mehrere Funktionen gleichzeitig ausführen
Umsetzung sensorischer Stimuli in adäquate
können. Es bestehen sehr starke interindividuelle
motorische Abläufe auf. Dabei ist auch die
(auch interkulturelle) Unterschiede in der genauen
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
538 5 Zentrales N e r v e n s y s t e m , G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k

, 3a Schmerzempfindung einschließlich
3b Termperaturempfindung perzeptive und
1 Berührungsempfindung digitale
Fertig- y 2 kinästhetische Empfindung Tastauffassung
keiten

Fall· u n d \ \/
Zeige- \ Rumpfwendungen \ Handeln
reakti- V - - y (sensorisch)
\ onen Kopf- / λ Bein, Rumpf
Antrieb \ Wendungen s r J P
Anstrengungs- und
Kraftgefühle
Orts-
gedächtnis

Handeln S Rechnen
Augen-
tätige Einzelhandlung /
wendungen
Gedanken Handlungsfolgen (sensorisch)
—...Schreiben konstruktives Zahlen
Gesicht Handeln erkennen
motorische
Handlungs- Namen <Meln/ tast-
folgen (spon- Melodie· y (sen-·' erkennen
tan) Wort- Satz-
1 spre- Ibildung I verständnis
chen
Setier
Hellig-
keiten,
Opt. Ding- flung ^Farben.
Formen,
Tonfolgen " Lautfolgen ^ennun9 X optische 8ewe-
gesinnungsmäßige Handlungen gungs-
V , Ausdauer _____—" (Melodie- (Wortverständnisl/ Namen- \ \ Auf- sehen j
verständnis) ver- \ \ Smerk-
am
ständnis \\ Ζ Λ. \
fart»n \ k e i t
\ erkennen \
Horcfibewegungen
akustische Aufmerksamkeit

Sinnverständnis für Abb. 5.129: Lokalisation der Hirnfunk-


Geräusche und Musik tionen n a c h K. Kleist (1934); laterale
Ansicht

• Frontaler Assoziationskortex. Im Frontallap-


Bedeutungszuschreibung zu sensorischen Sti-
pen liegt als wichtiges Primärgebiet der Gyrus
muli gestört. Dieses Symptom wird als Agnosie
praecentralis, Area 4, der Beginn der willkür-
(gr. gnosis = Erkenntnis) bezeichnet und tritt
motorischen Bahnen. Der frontale Assoziations-
jeweils in Bezug auf eine bestimmte sensori-
kortex erhält seine Eingänge aus den primären
sche Qualität auf, ζ. B. als visuelle Agnosie oder
oder sekundären motorischen Arealen
taktile Agnosie. Des weiteren kann eine Apraxie
(gr. praxis = Tun) auftreten, bei der der Pati- • PMA, SMA sowie
ent früher beherrschte Tätigkeiten nicht mehr • aus dem frontalen Augenfeld (Area 8).
ausführen kann. Unilaterale Läsionen führen
Diese Informationen werden vom frontalen Asso-
häufig zu einem kontralateralen Neglect, bei
ziationskortex integriert (s. Abb. 5.105). Innerhalb
dem der Patient die kontralaterale Körperseite
des frontalen Assoziationskortex befinden sich
nicht mehr wahrnehmen kann. 2. Bei bilateraler
unterschiedliche zytoarchitektonische Gebiete, die
Schädigung des parietalen Cortex besteht häufig
jeweils spezifische Verschaltungen aufweisen. Der
eine Unfähigkeit, visuelle Informationen und
frontale Assoziationskortex erhält afferente asso-
Bewegungen aufeinander abzustimmen. Bei-
ziative Verbindungen von
spielsweise gelingt das Füllen einer Kaffeetasse
nicht mehr, da der Patient den Kaffee nicht in die • den okzipitalen, den parietalen und den tempo-
Tasse, sondern daneben gießt oder das Auffullen ralen Kortexbereichen,
der Tasse nicht beenden kann. Dabei ist die Seh- • dem Gyrus cinguli,
fähigkeit vollkommen ungestört und es liegen • dem Thalamus; diese Fasern entstammen über-
auch keine Paresen (= Lähmungen) vor. wiegend dem Nucl. mediodorsalis thalami, der
seine Afferenzen selbst hauptsächlich aus der
Amygdala erhält (s. Abb. 5.48).
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 539

Sensibilität

Einzel- \
Fertigkeiten
bewe-
Rümpfwendungen Fu8. \ gungen Handeln
Blase, Mast- I (sensorisch)
darm \ /
Fallreaktionen

(Eigen-Erleben) Orts- \
Antrieb gedächtnis

Blickbewegungen
nach unten
Hand- I
lungs- \
folgen
(motorisch)

Blickbewegungen
Selbst- und Gemein·
nach oben
schafts-lch

Geruchs Ding-erkennen
"erkennen Namen-
verständnis

Sinnverständnis für
Geräusche und Musik
Abb. 130: Lokalisation der Hirn-
funktionen nach K. Kleist (1934);
mediale Ansicht

Somit werden Informationen sämtlicher sensori-


tationsfahigkeit. 2. Deutlich werden diese Symp-
scher Modalitäten in den präfrontalen Cortex gelei-
tome oft erst bei bilateraler Läsion des präfron-
tet. Efferente Verbindungen aus dem präfrontalen
talen Cortex. Ein typisches Phänomen ist die so
Cortex bestehen
genannte verbale oder taktile Perseveration, ein
• zu den sekundär- und primärmotorischen Area- krankhaftes Verweilen bei ein und demselben
len, Denkinhalt, eine Art „Klebrigkeit" der Sprache
• zum Nucl. caudatus und und des Verhaltens, die wenig Anpassungsfähig-
• zum Hypothalamus. keit an neue Situationen erlaubt. Darüber hinaus
sind Veränderungen des präfrontalen Kortex im
Auf diese Weise kann der präfrontale Kortex
Rahmen psychiatrischer Erkrankungen (etwa
unmittelbar auf die motorischen Funktionen und
der Schizophrenie) vermutet worden. Gesicherte
das vegetative Nervensystem Einfluss nehmen.
Erkenntnisse hierzu gibt es allerdings bislang
nicht.
Klinik: 1. Schädigungen des präfrontalen
Cortex, Frontalhirnsyndrom, betreffen v. a. die
• Temporaler Assoziationskortex. Im Lobus
Persönlichkeitsmerkmale des Patienten. Um
temporalis liegen als wichtige Primärgebiete
pathologische Veränderungen exakt beschrei-
die Gyri transversi (Heschl-Querwindungen des
ben zu können, ist besonders bei unilateralen
Gyrus temporalis superior = Areae 41 und 42
Schädigungen eine genaue Kenntnis der Primär-
= primärer auditorischer Kortex). Ein weitaus
persönlichkeit wichtig. Solche Veränderungen
größerer Teil des Lobus temporalis wird dem
zeigen sich in emotionaler Verflachung, Verlust
temporalen Assoziationskortex zugerechnet.
des Kritikvermögens sowie der Lern- und Adap-

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
540 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Gyrus
praecentralis Sulcus centralis
\ /
/

/ Abb. 5.131: Die Lage der kortikalen


motorisches Sprachzentrum Sprachzentren, die über den Fasciculus
\
nach Broca sensorisches Sprachzentrum arcuatus reziprok miteinander verschaltet
nach Wernicke sind (nach P. Brodal, 1992)

Die temporalen Assoziationsareale im Gyrus tem- net wird. Der dorsale Teil der Area 22, die Area
poralis superior weisen starke Verbindungen mit 39 (Gyrus angularis) und die Area 40 (Gyrus
dem primären auditorischen Cortex (Area 41, 42) supramarginalis) bilden das ausgedehnte Wer-
auf. Abschnitte im inferioren Anteil des Temporal- nicke-Sprachzentrum {sensorisches Sprach-
lappens sind hingegen besonders mit den extrastri- zentrum). Motorisches und sensorisches Sprach-
atalen visuellen Arealen verschaltet (s. Abb. 5.133). zentrum sind über den Fasciculus arcuatus rezi-
Ausgeprägte Verbindungen bestehen zwischen den prok miteinander verschaltet (Abb. 5.131).
temporalen Arealen mit limbischen Strukturen. Der
perirhinale (Area 35) und der entorhinale Cortex • Broca-Sprachzentrum. Dabei handelt es sich
(Area 28) stellen Eingangspforten in das Limbische um einen Anteil des Assoziationskortex, der
System dar. Ebenso finden sich Verbindungen zum für die Zusammenführung motorischer Sprach-
Corpus amygdaloideum, das im rostralen Tempo- muster wichtig ist. Die Area 44 projiziert über
rallappen liegt. den PMA und dem SMA zu den primärmotori-
schen Arealen. Sie nimmt daher keinen direkten
Klinik: 1. Eine bilaterale Schädigung des Einfluss auf die motorischen Hirnnervenkerne,
Temporallappens führt zum Gedächtnisverlust, die bei der Sprachbildung beteiligt sind. Zur
während unilaterale Schädigungen des Tempo- Initialisierung sinnvoller motorischer Sprach-
rallappens Konzentrationsstörungen und visu- funktionen ist die Broca-Region außerdem auf
elle Agnosie bewirken. 2. Resektionen des Tem- den ungestörten Input von Informationen aus
porallappens (unilateral) werden therapeutisch dem sensorischen Sprachzentrum, der Werni-
im Rahmen nicht medikamentös behandelbarer cke-Region (s.u.), angewiesen, da die Sprach-
Epilepsien durchgeführt. 3. Bei beiderseitigen bildung funktionell neben dem Hörvermögen
Läsionen der Sehrinde kann es zur Rindenblind- auch auf das Sprachverständnis angewiesen
heit (optische Agnosie, auch Seelenblindheit), ist. Die Verbindungen werden der Area 44 über
bei Läsionen der Hörrinde zu Rindentaubheit den Fasciculus arcuatus zugeführt.
(akustische Agnosie) kommen.
• Wernicke-Sprachzentrum. Es handelt sich
um einen Bereich des sensorischen Assoziati-
• Motorisches und sensorisches Sprachzent-
onskortex des Temporallappens, der zusammen
rum
mit umliegenden kortikalen Bereichen die Inte-
gration roher Sprachlaute und phonetischer
Unterhalb der prämotorischen Areale findet sich
Einheiten in Verständniskontexte umsetzt. Die
in der Pars opercularis des Gyrus frontalis infe-
Aktivierung der Sprachzentren kann im fMRT
rior die Area 44, die auch als Broca-Sprachzen-
sichtbar gemacht werden (Abb. 5.132).
trum („motorisches Sprachzentrum") bezeich-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 541

Abb. 5.132: Kortexareale im fMRT bei Sprachaktivierung im Sagittalschnitt (SAG), Frontalschnitt (FRO) und Hori-
zontalschnitt (HÖR); rostral = Ro, dorsal = D, rechts = R und links = L (Aus der Neurologischen Klinik der Charite,
Prof. Dr. med. A. Villringer)

Klinik: 1. Bei Läsionen in den unterschiedli- Lage, den semantischen Gehalt von präsen-
chen Arealen entstehen spezifische Sprachstö- tierten Gegenständen zu erfassen, ohne diesen
rungsmuster, die zur neurologisch-topischen aber „auf den Begriff bringen" zu können. Sie
Diagnostik benutzt werden können. Dabei benutzen umständliche Umschreibungen und
bilden Aphasien etwa 3 Viertel aller neuropsy- Neologismen, fur eine dargebotene Uhr ζ. B.
chologischen Syndrome. 2. Bei Läsionen des „etwas, das die Zeit misst". 3. Beide Aphasiefor-
motorischen Broca-Zentrums steht die Störung men können auch, etwa bei ausgedehnten Hemi-
der expressiven Sprachbildung im Vordergrund, sphären-Infarkten, kombiniert auftreten: globale
während das Sprachverständnis selbst ungestört Aphasie. Die Verbindung beider Sprachzentren
ist. Insbesondere die Spontansprache ist ver- über Assoziationsfasern bedingt auch, dass sie
langsamt und die Sätze in einem Telegramm- morphologisch intakt bleiben können, während
stil verkürzt. Die Patienten wollen sprechen, ihre Verbindungsfasern destruiert wurden: Lei-
was durch eine vermehrte Sprachanstrengung tungsaphasie.
gekennzeichnet ist. Sie sind aber meist nicht
im Stande, längere Sätze hervorzubringen, was • Kommissurale Verschaltungen
als motorische Aphasie bezeichnet wird. 2. Bei der Hemisphären
Ausfall der sensorischen Sprachregion, bzw. des
Wernicke-Areals, nehmen die Patienten Gespro- Die Areale beider Hemisphären sind durch
chenes akustisch wahr, ohne aber den tieferen Kommissurenfasem verbunden. Diese kreu-
Sinn zu begreifen. Der Sprachfluss selbst ist zen die Mittellinie als Corpus callosum. Nur
nicht beeinträchtigt. Dieses Krankheitsbild wird 2% der Fasern kreuzen in der Commissura
als sensorische Aphasie bezeichnet. Häufig ist anterior, verbinden den Paleocortex beider
die sensorische Aphasie mit einer Unfähig- Temporallappen und gehören überwiegend zum
keit zu Lesen, Alexie, verbunden. Da solche olfaktorischen System. In der Commissura
Prozesse oft inkomplett ablaufen und zudem posterior kreuzen überwiegend Fasern der prä-
nur im Wernicke- oder umgebenden Arealen tektalen Kerngebiete.
auftreten, wirken die Patienten stark verwirrt
oder erleben ihre Beeinträchtigung bewusst, Nicht alle kortikalen Areale sind bilateral mit-
ohne sie verändern zu können. Dies fuhrt nicht einander verschaltet. Gebiete des primärmoto-
selten zu erheblichen Frustrationen oder sogar rischen und -sensorischen Kortex für die distalen
Depressionen. Eine Läsion des Gyrus angularis Extremitätenabschnitte weisen ebenso wie die Area
äußert sich insbesondere in Lese- und Recht- striata (Area 17, primäres optisches Rindenfeld, s.
schreibstörungen wie Dyslexie und Dysgraphie. Abb. 5.133) keine kommissuralen Verbindungen
Oft sind entsprechende Patienten zwar in der auf. Kommissurenfasem bestehen hingegen in den

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
542 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Assoziationskortizes und solchen Arealen, die für Aus funktionellen MRT-Studien (fMRI) wie
die koordiniert-bilateralen Abläufe verantwortlich auch aus Positronen-Emissions-Tomographie
sind.. (PET)-Untersuchungen an Probanden geht hervor,
dass auch die 0 2 - und Glucose-Versorgung der
sekundären Hörrinden beider Hemisphären von
unterschiedlichen Impulsangeboten abhängt. In
Übertragung auf die funktionelle Bedeutung beider
Regionen geht man inzwischen davon aus, dass in
der meist linksseitig gelegenen sprachdominan-
ten Hemisphäre eher rationale Aufgaben gelöst
werden und ein semantisches Erinnerungsver-
mögen für Zeichen und Symbole lokalisiert ist.
Demgegenüber gewährleistet die nicht-sprachdo-
minante Hemisphäre (meist rechts) die Integration
musischer Sinnesdaten sowie die phantasievolle
Assoziation und bildliche Mustererkennung.
Gelegentlich wurden auch geschlechtsspezifische
Unterschiede der Wahrnehmungsintegration pos-
tuliert, aufgrund der gewählten Untersuchungs-
verfahren bleiben diese Behauptungen jedoch
umstritten.

Klinik: 1. Der Zustand nach Balkendurchtren-


nung (split brain, s. Abb. 5.134) ist nicht durch
eine Veränderung der Persönlichkeit oder der
Intelligenz gekennzeichnet, so dass Patienten
nach Durchtrennung des Corpus callosum,
Abb. 5.133: Assoziative Verbindungen des visuellen Kallosotomie, wie sie heute nur noch sehr selten
Cortex des Primaten (nach P. Brodal, 1992) praktiziert wird, im Alltag unauffällig erschei-
nen. Dieser chirurgische Ansatz sollte früher
der Verhinderung des Überspringens eines
• Hemisphärendominanz epileptischen Fokus von der einen zur anderen
Hirnseite dienen. 2. Lediglich durch besondere
Einige Leistungen des Cortex cerebri sind in Testung des visuellen und taktilen Systems
einer Hemisphäre dominant. lassen sich Anomalien beobachten. Zunächst ist
festzuhalten, dass das Tastempfinden der Hände
Lateralisation von Funktionen. Sie betrifft v. a. in den jeweils kontralateralen Hemisphären
die Sprache, wobei die linke Hemisphäre bei etwa verarbeitet wird, und die optischen Reize aus
9 5 % aller Menschen für Sprachverständnis und dem betreffenden Gesichtsfeld kontralateral
-Produktion verantwortlich ist. Dies gilt für alle registriert werden. 3. Da entsprechend der
Rechtshänder, aber auch für eine große Zahl von Hemisphärendominanz bei Rechtshändern das
Linkshändern, von denen nur 30 % eine rechtshe- Sprachvermögen zu etwa 90 % in der linken
misphärische Sprachdominanz besitzen. Bei diesen Hemisphäre lokalisiert ist, können diese, bei
kommt es allerdings gehäuft zu einer bilateralen entsprechender Testung, nur noch mit ihren
Lokalisation der Sprachfähigkeit. Ebenso ist die linken Netzhauthälften lesen und Gegenstände,
Händigkeit (Links- oder Rechtshändigkeit) durch die sie in die linke Hand nehmen, nicht benen-
die Lateralisation der Hemisphärenfunktion zu nen: partielle Agnosie. Das heißt, Wahrnehmun-
erklären. Die Kombination von Sprachdominanz gen der einen Hemisphäre werden der anderen
und Händigkeit ist quantitativ häufig. Dennoch gibt nicht mehr mitgeteilt, so dass etwa das Greifen
es keine klare Einteilung von spezifischen Leistun- eines Gegenstands mit der linken Hand nur zu
gen der linken oder rechten Hemisphäre, sondern einem Wahrnehmungskonzept auf der rechten
eher einen kontinuierlichen Übergang.
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 543

Seite führt. Dennoch vermögen sie durch ent-


sprechende Handbewegungen den Gebrauch
der Gegenstände zu veranschaulichen. 4. Das
gleiche Phänomen tritt auch bei verdeckter Sicht
auf, wenn die Patienten Gegenstände in die linke
Hand nehmen (s. Abb. 5.134). Bewegungen der
einen Extremität können darüber hinaus nicht
von der kontralateralen Seite wiederholt werden,
da sich die eine Hemisphäre nicht an die Impulse
der anderen Hemisphäre „erinnert".

5.4.11 Neuroendokrine Systeme

Lernziele: Hypothalamo-hypophysäres System,


zirkumventrikuläre Organe, Zirbeldrüse

5.4.11.1 Überblick

Für die Regulation von Stoffwechsel- und


Organfunktionen bildet der Hypothalamus
des Dienzephalons die zentrale Struktur. Der
Hypothalamus steuert diese Vorgänge über
2 Wege: nerval über die Bahnen und Neurone
des vegetativen Nervensystems und neuro-
schematisch: Kallosotomie
humoral über das neuroendokrine System.
Dem Hypothalamus hierarchisch untergeordnet Abb. 5.134: Darstellung der Untersuchung eines „Split
ist die Hypophyse. Das Corpus pineale steu- Brain"-Patienten. die Einsichten in die Lateralisation
ert zirkadiane Rhythmen in Abhängigkeit vom der Hemisphärenfunktion ergab. Der Patient sieht
oder tastet einen Gegenstand, kann ihn aber nicht
Tageslicht.
benennen, da die optischen und taktilen Informationen
in die rechte Hemisphäre gelangen und der Weg zum
Die Informationsübertragung zwischen Neuronen links lokalisierten Sprachzentrum durch die Balken-
und peripheren EfTektorzellen, aber auch innerhalb durchtrennung nicht mehr zur Verfügung steht (nach
des Gehirns, ist nicht auf die Baueinheit Synapse/ W. Kahle, 1991)
Neurotransmitter beschränkt. Einige Neurone
sind zusätzlich in der Lage, Hormone zu bilden

Hormon

Abb. 5.135: Wege neuronaler und neuroendokriner Kommunikation (nach W. Kahle, 1991). Ein Aktionspotential
bewirkt die Freisetzung von neurosekretorischen Vesikeln ins Blut. Die darin enthaltenen Neurohormone indu-
zieren eine Änderung der Zielzellen, etwa die Kontraktion einer Muskelzelle. Dabei wird kein Aktionspotential
ausgelöst.
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
544 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

und ins Blut freizusetzen. Solche Neurone haben Diese Freisetzung wird durch positive und nega-
Eigenschaften von Drüsenzellen und werden als tive Rückkopplungskreisläufe {feedback-loops)
neuroendokrine Zellen, der Vorgang als Neuro- reguliert, die im Detail noch nicht genau ver-
sekretion bezeichnet (s. Abb. 5.135). Im Gegensatz standen sind. Über besondere Rezeptoren, insbe-
zu Drüsenzellen besitzen neuroendokrine Zellen sondere im Hypothalamus, werden Änderungen
aber Dendriten und ein Axon, über welches das von Messgrößen (ζ. B. Hormon-, Glucose- und
Hormon zum Blutgefäß transportiert wird. Ionenkonzentrationen, Osmolarität, Tempera-
tur) ermittelt. Danach werden die Messgrößen
Die Trennung zwischen Neurotransmitter und
in einer mehrere Schritte umfassenden Signal-
Hormon ist nicht scharf. Zahlreiche Substanzen
weiterleitung durch Sekretion (oder Einstellung
wirken als Transmitter, indem sie über synaptische
der Sekretion) zum Richtwert hin beeinflusst.
Rezeptoren eine Veränderung des postsynaptischen
Die Signalweiterleitung vom Hypothalamus
Membranpotentials erzeugen. Klassische Transmit-
zur Hypophyse erfolgt entlang von Axonen (in
ter können aber auch, nachdem sie über den Blut-
die Neurohypophyse) und über Hormone des
weg zu den Erfolgsorganen gelangt sind, Effekte
Hypothalamus, welche als Releasing- oder
auf nicht-neuronale Zellen erzielen, z.B. das
Inhibiting Factors auf die Hormonfreisetzung
Adrenalin und Noradrenalin auf nicht-gestreifte
der Adenohypophyse wirken.
Muskelzellen. Umgekehrt können klassische Hor-
mone, wie das Östrogen, Effekte auf die synapti-
sche Transmission haben. Die Hormone der Adenohypophyse wirken als
glandotrope Hormone auf die großen Drüsen
Während zahlreiche Neuronenpopulationen des des Körpers (Schilddrüse, Nebennierenrinde),
Gehirns Rezeptoren für Hormone haben (ζ. B. für als gonadotrope Hormone auf die Gonaden
Östrogen, Testosteron und Schilddrüsenhormone), (Eierstock und Hoden) und andere Reproduk-
ist die Bildung und Neurosekretion von Hormo- tionsorgane sowie als somatotrope Hormone
nen im wesentlichen auf 2 Regionen beschränkt, auf zahlreiche im Körper verteilte Gewebe und
das hypothalamo-hypophysäre System und die Organsysteme.
Zirbeldrüse.
• Komplexität des Systems. Sie ist dadurch
Einschränkend muss bemerkt werden, dass in den
gesteigert, dass eine physiologische Stellgröße
letzten Jahren die Bildung von Sexualhormonen
(ζ. B. das Wachstum der Epiphysenfugen) der
(Steroiden) in beträchtlichem Maße auch im Hip-
Freisetzung mehrerer Hormone unterliegen
pocampus gezeigt wurde.
kann. Umgekehrt kann auch die Freisetzung
eines Hormons durch mehrere Signale regu-
liert werden (ζ. B. Kortisolausschüttung durch
5.4.11.2 Hypothalamo-hypophysäres Schmerzreize). Hinzu kommt, dass ein Hormon
System an verschiedenen Erfolgsorganen und sogar an
unterschiedlichen Zellen innerhalb eines Gewe-
Die Hirnanhangsdrüse, Hypophyse, besteht
bes verschiedene Wirkungen aufweisen kann.
aus 2 funktionell und entwicklungsgeschicht-
So wird eine feinabgestimmte Kontrolle des
lich verschiedenen Regionen, dem Hypophy-
inneren Milieus und des Stoffwechsels sowie
senvorderlappen (HVL, Adenohypophyse),
eine enge Kontrolle der Reproduktionszyklen
dem Hypophysenhinterlappen (HHL, Neuro-
möglich.
hypophyses sowie der dazwischen liegenden
Pars intermedia als Rest des Hohlraums der
Klinik. 1. Der Hypothalamus als übergeord-
Rathke-Tasche.
netes endokrines Regulationssystem bildet das
zentrale Steuerungsorgan der neuroendokri-
• Zwischenhirnhypophysensystem. Hypothala-
nen Systeme. Über vielfaltige Verbindungen
mus und Hypophyse bilden ein eng zusammen
ist er mit weiteren Hirnregionen verknüpft.
arbeitendes System: das Zwischenhirnhypo-
Erkrankungen des Hypothalamus können zu
physensystem (ein Begriff von W. Bargmann),
definierten Stoffwechselstörungen wie Diabetes
welches zahlreiche endokrine Funktionen im
insipidus, Adipositas und Anorexie fuhren. 2.
Körper durch Hormonfreisetzung steuert.
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des Z N S 545

Außerdem können endokrine Entwicklungsstö- Die Neurone, deren Axone in die Neurohypo-
rungen sowie sexuelle Störungen auftreten (ζ. B. physe ziehen, produzieren das antidiuretische
Pubertas praecox und Hypogonadisms). Hormon Adiuretin (ADH oder wegen der Wir-
kung auf den Tonus von Blutgefäßen Vasopres-
Entwicklung der Hypophyse sin) und Oxytocin.
Das ektodermale Epithel des Rachendachs senkt
Transport der Hormone. ADH wird zum größten
sich beim ca. 4 Wochen alten Keimling zu einer
Teil von Neuronen im Ncl. supraopticus und das
Grube, Rathke-Tasche, ein. Diese wächst als
Oxytocin vorwiegend von Neuronen im Ncl. para-
Epithelsäckchen nach kranial der trichterförmigen
ventricularis gebildet. Beide Hormone erreichen
Ausstülpung des Zwischenhirnbodens entgegen.
die Neurohypophyse über einen anterograden
Die zunächst schlauchförmige Verbindung zur
axonalen Transport, wobei sie an so genannte
primitiven Mundhöhle obliteriert zu einem soliden
Neurophysine gebunden sind. Die in den Axonen
Zellstrang, der durch den Canalis craniopharyn-
tropfenartig gespeicherten Hormon- und Neuro-
geus des Keilbeinkörpers zieht. Das Hypophysen-
physingranula fallen lichtmikroskopisch in axona-
säckchen legt sich an die Neurohypophyse und
len Auftreibungen als Gomori-positive Herring-
wächst mit einem Fortsatz, der Pars tuberalis, am
Körper auf. Stimulation der Ursprungsneurone
Infundibulum herauf bis zum Zwischenhirnboden.
fuhrt zur Freisetzung der gespeicherten Hormone
Die Hinterwand des Säckchens und der sich all-
in die Kapillaren, von wo aus sie auf humoralem
mählich verkleinernde Hohlraum liefern die Pars
Wege die Erfolgsorgane im Körper erreichen.
intermedia. Die dicke Vorderwand differenziert
sich zum Lohns anterior, Adenophyse. Die Aus-
stülpung des Zwischenhirnbodens differenziert Klinik: 1. ADH fordert die Rückresoprtion von
sich in den Hypophysenstiel, Infundibulum, und Wasser in der Niere. Das adäquate Signal für die
den Hinterlappen, Lobus posterior, Neurohypo- Ausschüttung ist der Anstieg der Osmolarität der
physe. Körperflüssigkeiten. Osmorezeptoren werden an
verschiedenen Orten (Vena portae hepatis und
direkt im Hypothalamus) vermutet, wobei die
Die Adenohypophyse entwickelt sich zu einer
Informationen peripherer Rezeptoren wahr-
endokrinenen Drüse, die Neurohypophyse
scheinlich über den N. vagus geleitet werden.
dagegen stellt einen Hirnabschnitt dar, in dem
Es kommt dann über eine noch unbekannte
die Axone neuroendokriner hypothalamischer
Verschaltung zur Stimulation der ADH-produ-
Neurone enden.
zierenden Neurone. Lösen solche erregenden
Potentiale ein Aktionspotential aus, so wird das
Hypophysenhinterlappen, Neurohypophyse
gespeicherte Hormon ins Blut freigesetzt. Eine
Lage und Verschaltung. Die Neurohypophyse Störung dieses Regelkreises kann zum Diabetes
ist ein ca. 0,15 g schweres, grauweißliches Organ, insipidus fuhren, einem Wasserverlust über die
das den dorsalen Teil der Hypophyse und Teile des Niere, der nur durch Zufuhr großer Mengen von
Infundibulums (Hypophysenstiel) einnimmt. Darin Wasser (bis zu 20 l/d) überlebt wird. 2. Oxyto-
finden sich eine besondere Art von Gliazellen (die cin verursacht den Wehenbeginn durch direkte
mit den Astrozyten verwandten Pituizyten) und Wirkung auf die nicht-gestreifte Uterusmusku-
die zumeist marklosen Fasern des Hypothalamus, latur, weshalb eine Oxytocin-Infusion auch zur
die an den Basallaminae der gefensterten Blutka- Geburtseinleitung benutzt wird. Außerdem wirkt
pillaren enden. Die Axone stammen aus dem Nucl. Oxytocin auf das Myoepithel der Brustdrüse
supraopticus und dem Nucl. paraventricularis und reguliert so den Milchfluss. Der Sekreti-
und gelangen als Tractus supraopticohypophysia- onsreiz ist hier das Saugen an der Brustdrüse.
lis und Tractus paraventriculohypophysialis vom Über mechano-sensible Bahnen kommt es zur
Hypothalamus zur Neurohypophyse (s. Abb. 5.136, Reizung hypothalamischer Kerngebiete, so dass
137). man vom Milchejektionsreflex als einem nerval-
hormonellen Reflexbogen sprechen kann.

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
546 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Nucleus paraventricularis

Hypothalamus Nucleus supraopticus

Nucleus tuberalis

Tractus tuberoinfundibularis
Chiasma
opticum

Tractus hypothalamohypophysialis

Arteria hypo-
venöse Portalgefäße
physialis superior

Neurohypophysis
Adenohypophysis (Lobus posterior)
(Lobus anterior)

Vv. hypophysiales Arteria hypophysialis inferior

Abb. 5.136: Das Hypothalamus-Hypophysen-System (nach K. Zilles 1994). Hypothalamische Axone sezernieren
Hormone in Kapillaren, die nach Zusammenschluss zu venösen Portalgefäßen ein zweites Kapillarbett in der
Adenohypophyse bilden. Dort steuern die releasing und inhibiting factors die Sekretion der Hormone der Adeno-
hypophyse

Hypophysenvorderlappen, Adenohypophyse und medialen Hypothalamus {Neil, infundibularis


et paraventricularis) gebildet und über Axone,
Lage und Afferenz. Die Adenohypophyse ist ein
welche sich zum Tractus tuberoinfundibularis
gelbliches, ca. 0,45 g schweres Organ. Sie besteht
vereinigen, über die Eminentia mediana zum
aus einer größeren Pars distalis und einer rost-
Infundibulum geleitet. Von hier aus gelangen sie
ral den Hypophysenstiel teilweise umgebenden
über das hypophysäre Pfortadersystem (s. u.) zu
kleineren Pars tuberalis. Die Drüsenzellen der
den Zellen der Adenohypophyse.
Adenohypophyse lassen sich aufgrund bestimmter
Färbeeigenschaften einteilen (chromophile, chro- • Pars intermedia. Der Zwischenlappen macht
mophobe, azidophile, basophile Zellen) und eini- etwa 2% der Hypophyse aus und ist durch kol-
gen Hormonen zuordnen. Eine wesentlich bessere loidgefullte Hohlräume (Zysten, Follikel) cha-
Zuordnung gelingt mit der Technik der Immunzy- rakterisiert. Daneben kommen tubulöse Drüsen
tochemie, die den Nachweis der Hormone selbst vor.
erlaubt. Anders als in der Neurohypophyse werden • Hormone des Zwischenhirnhypophysensys-
in den Zellen der Adenohypophyse selbst Hormone tems. Die Hormone des Hypothalamus und der
gebildet (s. Abb. 5.137). Ihre Freisetzung ins Blut Hpophyse sind ihrer chemischen Struktur nach
unterliegt der hormonellen Steuerung durch den Peptide (Abb 5.137).
Hypothalamus. Die Steuerhormone (inhibiting
und releasing factors) werden v. a. im vorderen
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle S y s t e m e d e s Z N S 547

> Hypothalamus
Nucleus supraopticus
penventrikulärer Hypothalamus
et

Eminentia mediana Wasserresorption

Portalgefäßsystem s
ft
Niere
Kontraktion
Adenohypophyse

chromophobe — Oxytocin
Zelle Brustdrüse
Kontraktion

Τ
basophile —- azidophile Zelle
Zelle
Glucocorticoid
Mineralocorticoid
Uterus
Androgen
-Sekretion J AC ™ Pigmentierung
Melanotropin
Nebennierenrinde •

Thyroxin Λ r \ TSH
Trijodthyronin |f 1 <
-Sekretion ^ f
Thyroidea s-—-^Wachstum
Foilikelentwicklung
Östrogen
-Produktion *
Ovar X FSH
IICSH) Epiphysenplatte

Testosteron Wachstum "


Spermatogenese
Muskel
Hoden
Hyperglykämie
Ovulation
Progesteron
-Produktion LH
ÖX Λ...-·

Ovar Fettgewebe

Sekretion
Testosteron
-Sekretion
Prolactin
Hoden
w
Brustdrüse

Steuerungshormone Effektorhormone

Abb. 5.137: Die p h y s i o l o g i s c h e W i r k u n g v e r s c h i e d e n e r H y p o p h y s e n h o r m o n e ( n a c h Τ. H. Schiebler/W. Schmidt,


1991). Die H o r m o n e d e s H y p o t h a l a m u s u n d der H y p o p h y s e sind ihrer c h e m i s c h e n Struktur n a c h Peptide, w ä h -
rend die H o r m o n e der G o n a d e n u n d der N e b e n n i e r e n r i n d e Steroide sind

Brought to you by | Universität Wien


Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
548 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

Es sind noch zahlreiche weitere Hormone in


Klinik: 1. Primär gutartige Tumoren kommen
diesem System bekannt. Ihre Wechselwirkungen
in allen neuroendokrinen Zellpopulationen vor.
und Rückkopplungsmechanismen werden intensiv
Dabei sind benigne Hypophysenadenome im
erforscht. So ist ζ. B. bis heute die genaue Ver-
Krankengut neurochirurgischer Stationen relativ
schaltung unklar, die als positiver und negativer
häufig. Sie machen etwa 7-8 % aller Hirntumo-
Feedbackmechanismus die Freisetzung von LH
ren aus, die zwischen dem 30. und 50. Lebens-
und FSH in Abhängigkeit von der Östrogenkonzen-
jahr diagnostiziert werden. Oftmals fallen die
tration reguliert. Die LHRH-produzierenden Zellen
Patienten durch Symptome auf, die durch die
des Hypothalamus, deren Steuerhormon die Frei-
Überproduktion von Hormonen entarteter Zell-
setzung von LH und FSH reguliert, besitzen jeden-
populationen ausgelöst wurden, ζ. B. erhöhtes
falls keine Östrogenrezeptoren, so dass sie wohl
Wachstum bei STH-Überschuss Dieser äußert
selbst die Östrogenkonzentration nicht „messen"
sich bei Kindern vor dem Epiphysenschluss als
können. Über teilweise unbekannte Regelkreise
Riesenwuchs, beim Erwachsenen als Akromega-
der hormonellen Steuerung sind Anteile des poste-
lie. 2. Beim Prolaktinom besteht bei Frauen eine
rioren Hypothalamus ebenfalls an der Steuerung
Unfähigkeit schwanger zu werden. Es gilt aber
komplexer Vorgänge wie Hunger/Sättigung (u. a.
zu beachten, dass nicht alle Hypophysentumoren
durch das Hormon Leptin), Sexualverhalten und
hormonell aktiv sind. Auf Grund verdrängen-
Aggression beteiligt. Dieser Abschnitt des Hypo-
den Wachstums und Tumoreinblutungen kann
thalmus ist eng mit dem limbischen System (Hip-
auch eine hormonelle Unterfunktion auftreten,
pokampusformation und Nucl. anterior thalami)
wodurch bei Frauen eine pathologisch verfrühte
verbunden.
Menopause ausgelöst werden kann (vorzeitiger
Blutgefäße der Hypophyse LH- und FS7/-Konzentrationsabfall). 3. Durch
die topographische Lage der Hypophyse dorsal
Die arterielle Versorgung erfolgt aus paarigen des Chiasma opticum werden bei Tumoren
Gefäßen der A. carotis interna: zunächst die kreuzenden Fasern des N. opticus
• A. hypophysialis superior: Zum Infundibulum. gequetscht (bitemporale Hemianopsie, s. Abb.
Die rechte und die linke Arterie bilden einen 5.86). Bei Einwachsen des Tumors in den Sinus
Ring. cavernosus besteht die Gefahr einer Mitschädi-
• A. hypophysialis inferior: Zur Neurohypophyse gung von Hirnnerven. Dabei ist der Ν. VI auf-
(die Adenohypophyse erhält demnach keinen grund seiner Lage besonders gefährdet (s. Abb.
direkten arteriellen Zufluss!) 5.49); es können aber auch Läsionen der Nn.
III und V auftreten. 4. Reste der Rathke-Tasche
Sowohl aus den Infundibulum als auch aus der können als Rachendachhypophyse verbleiben
Neurohypophyse gelangen Portalgefäße in das und Tumoren, Kraniopharyngeome, bilden, die
Kapillarnetz der Adenophypophyse. zu typischen hypophysären Störungen, etwa
dem Diabetes inspidus, fuhren.
Pfortadersystem. Kapillarkonvolute breiten
sich nach Vereinigung zu größeren Gefäßen
als zweites Kapillarsystem in Sinusoiden um 5.4.11.3 Zirkumventrikuläre Organe
die Drüsenzellen der Adenohypophyse aus
(s. Abb. 5.136). Aufgrund der Analogie zum Neurohypophyse, Plexus choroideus,
doppelten Kapillarsystem des Darms und der Organum vasculosum laminae termina-
Leber bezeichnet man diesen Weg als Portal- lis, Organum subfornicale und Organum
gefäßsystem der Hypophyse. An den Zellen der subcommissurale, Area postrema, Teile des
Adenohypophyse regulieren die Steuerhormone Hypothalamus und die Epiphyse werden als
die Freisetzung der glandotropen, gonadotropen zirkumventrikuläre Organe zusammengefasst
und somatotropen Hormone ins venöse Blut der (Abb. 5.138).
Hypophyse.
Gemeinsames Kennzeichen der zirkumventriku-
• Venöser Abfluss: Er erfolgt vorwiegend über lären Organe ist die Aufhebung der selektiven Fil-
die Sinus durae matris. terfunktion der Blut-Hirnschranke in diesen Regi-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
5.4 Funktionelle Systeme des ZNS 549

Corpus callosum _

Fornix —

Organum subformcale

Commissure
anterior

Corpus pineale
Organum vascutosum _.
laminae terminalis

Organum subcommissuraie
Chiasma opticum

Infundtbulum ^ ^ Liquor cerebrospinalis


/ /

Adenohypophysis
X /
/
(Lobus anterior) /
/
/
/
Neurohypophysis / Area postrema
(Lobus posterior)

Abb. 5.138: Lage der neuroendokrinen und zirkumventrikulären Organe (nach Benninghoff, 1994)

onen. Rezeptorsysteme zur Messung von Blut Para- • Lage und Aufbau. Das Pinealorgan ist ein
metern (pH, Osmolarität, CO,-Gehalt, Angiotensin länglicher, an einen Pinienzapfen erinnern-
II-Gehalt u. a.) sind dort lokalisiert. Die Organa der Körper, der durch die Habenulae mit den
vasculosum laminae terminalis, subfomicale und Trigona habenularia verbunden ist (s. Abb.
subcommissuraie scheinen an der Regulation des 5.50). Da es sich aus dem Zwischenhirndach
Wasser- und Elektrolythaushaltes beteiligt zu sein. nach dorsal entwickelt, wird es auch als Epi-
Zum Brechzentrum in der Area postrema s. Kap. physis cerebri bezeichnet. Die Epiphyse ist in
5.4.9.3, S. 519, Abb. 5.117. die weiche Hirnhaut gebettet, von der aus sie
Blutgefäße und sympathische Nervenfasern
5.4.11.4 Zirbeldrüse, Corpus pineale, erreichen. Histologisch besteht sie aus Zellhau-
Glandula pinealis, Epiphyse fen, die bindegewebig voneinander abgegrenzt
sind. Sie bestehen aus nervenzellähnlichen, ver-
Das ca. 1 cm lange, ca. 120 mg schwere, zweigten Pinealozyten, die in einem Gerüst von
zwischen den Colliculi superiores der Vierhü- Gliazellen liegen. Daneben kommen maulbeer-
gelplatte aufliegende Corpus pineale enthält förmige, konzentrisch geschichtete, bis zu 1 mm
modifizierte Photorezeptorzellen, Pinealozyten. dicke Kalkkonkremente (Hirnsand, Acervulus)
Im Gegensatz zu niederen Wirbeltieren (Parie- vor.
talauge) reagieren diese nicht direkt auf Licht. • Sympathische Innervation, zirkadiane
Statt dessen erhalten sie ihre Informationen über Rhythmik, Melatonin. Der endogene Oszilla-
den Tag-Nacht-Wechsel von retinalen Ganglien- tor im Nucl. suprachiasmaticus (biologische
zellen nach komplizierter Weiterleitung, an der Uhr) wird durch retinale Afiferenzen nach den
Nucleus suprachiasmaticus, Nucleus paravent- aktuellen Tag-Nacht-Rhythmen synchronisiert.
ricularis und das sympathische Nervensystem Er projiziert zum Nucleus paraventricularis,
beteiligt sind. der Informationen über den Tractus hypotha-
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM
550 5 Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark

lamospinalis (Zentrale Sympathikusbahn)


Klinik: 1. Dem Melatonin werden weiterere
zu den sympathischen Neuronen des Zervi-
Wirkungen zugeschrieben: Es soll immuno-
kalmarks (C8-Thl) weiterleiten kann. Deren
logische Vorgänge modulieren, wegen seiner
präganglionäre Fasern werden im Ganglion
antioxidativen Effekte vor Krebs schützen,
cervicale superius umgeschaltet. Die postgang-
den Schlaf steuern, Müdigkeit auslösen und
lionären sympatischen Fasern gelangen als
verantwortlich für die abgeschwächte Schmerz-
Nervengeflecht um die A. carotis interna und
wahmehmung bei Nacht sein. Keine dieser Wir-
entlang ihrer Äste im Subarachnoidalraum zur
kungen ist jedoch gesichert. 2. Da der Acervulus
Epiphyse, wo sie die Pinealozyten innervieren.
konventionell radiologisch sichtbar ist, diente
Bei Säugetieren stimuliert diese noradrenerge
die Lagebestimmung der Epiphyse vor Einfuh-
Innervation bei Dunkelheit die Synthese des
rung der Computertomographie als wichtiger
Pinealozyten-Hormons Melatonin (gr. mela
diagnostischer Hinweis für Raumforderungen
= schwarz, lat. tonia = Spannung, Druck). Nach
und damit einhergehende Massenverschiebun-
der Abgabe des Hormons ins Blut erreicht es
gen im Gehirn.
Rezeptoren im Nucl. suprachiasmaticus und
wirkt somit auf die biologische Uhr zurück.

Abb. 5.139: Beschrifteter phrenologischer Schädel: Der deutsche Arzt Franz Josef Gall (1758-1828) unterschied
27 affektive und intellektuelle Fähigkeiten, die in bestimmten Gehirnbereichen lokalisiert seien. Ihre jeweilige
A u s p r ä g u n g habe Einfluss auf die äußere Gestalt des Schädels, wodurch der jeweilige Charakter eines Men-
schen (als Ergebnis der individuellen Ausprägung der 27 Fähigkeiten) aus der Schädelform ersichtlich sei. Auch
wenn letzteres heute sicherlich nicht mehr haltbar ist, war die Idee der Lokalisierbarkeit bestimmter menschli-
cher Eigenschaften in umschriebenen Regionen des Gehirns sehr fruchtbar für die Neurowissenschaften. Galls
Schüler Johann Christoph Spurzheim (1776-1832) entwickelte dieses Konzept weiter und prägte den Begriff der
Phrenologie entscheidend mit. Von ihm wurde der abgebildete Schädel markiert. (Aus d e m Besitz des Institutes
für Anatomie der Charite)
Brought to you by | Universität Wien
Authenticated
Download Date | 11/22/19 11:04 AM

Das könnte Ihnen auch gefallen