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Neuronen und Gliazellen

Teil I
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Die Neuronendoktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Die Grundstruktur von Neuronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Klassifizierung von Neuronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Gliazellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 25


M.F. Bear, B.W. Connors, M.A. Paradiso, Neurowissenschaften,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57263-4_2
26 2 Neuronen und Gliazellen

Einführung
Teil I

Alle Gewebe und Organe des Körpers bestehen aus Zellen. Die spezialisierten Funktionen
von Zellen und ihre Art der Wechselwirkung untereinander bestimmen die Funktionen der
Organe. Das Gehirn ist mit Sicherheit das ausgefeilteste und komplizierteste Organ, das
die Natur hervorgebracht hat. Aber die grundlegende Vorgehensweise, wie seine Funk-
tionen entschlüsselt werden, unterscheidet sich nicht von derjenigen für das Pankreas
oder die Lunge. Wir müssen damit beginnen, herauszufinden, wie Gehirnzellen einzeln
funktionieren, um dann zu ermitteln, wie sie im Zusammenschluss arbeiten. In der Neu-
rowissenschaft ist es nicht notwendig, zwischen Geist und Gehirn zu trennen: Sobald wir
die individuellen und gemeinsam wirkenden Aktivitäten der Gehirnzellen verstehen, kön-
nen wir auch die Ursprünge unserer geistigen Fähigkeiten erkennen. Der Aufbau dieses
Buches spiegelt diese Grundannahme wider. Wir beginnen mit den Zellen des Nervensys-
tems – ihrer Struktur, Funktion und ihren Kommunikationsweisen. In weiteren Kapiteln
werden wir untersuchen, wie diese Zellen zu Schaltkreisen zusammengesetzt sind, die
Sinneswahrnehmung, Empfindung, Bewegung, Sprache und Gefühle vermitteln.
In diesem Kapitel befassen wir uns mit der Struktur der verschiedenen Zelltypen im Ner-
vensystem: Neuronen und Gliazellen. Unter diese weit gefassten Kategorien fallen viele
Zelltypen, die sich in Bezug auf ihre Struktur, Chemie und Funktion unterscheiden. Den-
noch ist die Unterscheidung zwischen Neuronen und Gliazellen wichtig. Obwohl das
Gehirn in etwa gleich viele Neuronen wie Gliazellen enthält (jeweils etwa 85 Mrd.), sind
die Neuronen für die einzigartigen Funktionen unseres Gehirns am wichtigsten. Es sind die
Neuronen, die Veränderungen der Umgebung wahrnehmen, diese Veränderungen anderen
Neuronen mitteilen und die körperlichen Reaktionen auf diese Wahrnehmungen auslösen.
Gliazellen tragen zur Gehirnfunktion vor allem dadurch bei, dass sie benachbarte Neuro-
nen isolieren, stützen und ernähren. Wäre das Gehirn ein Keks mit Schokoladenstücken,
dann wären die Neuronen die Schokoladenstücke und die Gliazellen der Teig, der den
übrigen Raum ausfüllt und bewirkt, dass die Schokoladenstücke an Ort und Stelle gehal-
ten werden. Tatsächlich wurde der Begriff „Glia“ von dem griechischen Wort für Leim
abgeleitet. Dies vermittelt den Eindruck, die Hauptfunktion dieser Zellen bestehe darin
zu verhindern, dass uns das Gehirn aus den Ohren fließt. Auch wenn diese einfache Be-
trachtungsweise der Bedeutung der Gliazellen nicht gerecht wird, wie wir später in diesem
Kapitel noch sehen werden, sind wir uns doch sicher, dass die Informationsverarbeitung
im Gehirn überwiegend von Neuronen durchgeführt wird, und daher werden wir uns auch
hauptsächlich mit Neuronen beschäftigen.
Die Neurowissenschaft hat, wie andere Gebiete auch, eine eigene Sprache. Um diese Spra-
che anwenden zu können, muss man das Vokabular erlernen. Wenn Sie dieses Kapitel
gelesen haben, nehmen Sie sich einige Minuten Zeit, um die Liste der Schlüsselbegriffe
zu wiederholen, und vergewissern Sie sich, dass Sie ihre Bedeutung verstanden haben. Ihr
Wortschatz der Neurowissenschaft wird sich zunehmend erweitern, während Sie das Buch
durcharbeiten.

Die Neuronendoktrin
Um die Struktur von Gehirnzellen zu untersuchen, mussten Wissenschaftler mehrere Hin-
dernisse überwinden. Das erste war die geringe Größe. Die meisten Zellen haben einen
Durchmesser von 0,01–0,05 mm. Die Spitze eines ungespitzten Bleistifts misst etwa 2 mm,
Neuronen sind also 40- bis 200-mal kleiner. (Tab. 2.1 enthält eine Übersicht über das me-
trische System.) Da Neuronen mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen sind, waren vor der
Entwicklung des zusammengesetzten Mikroskops im späten 17. Jahrhundert Fortschritte
in der Neurowissenschaft unmöglich. Selbst danach bestanden weitere Hindernisse. Um
Gehirngewebe mithilfe eines Mikroskops betrachten zu können, musste man sehr dünne
Schnitte herstellen, im Idealfall nicht dicker als der Zellendurchmesser. Gehirngewebe hat
jedoch eine Konsistenz wie Wackelpudding – nicht fest genug für dünne Schnitte. Die
Die Neuronendoktrin 27

Tab. 2.1 Längeneinheiten im metrischen System

Teil I
Längeneinheit Abkürzung Angabe in Meter Zum Vergleich
Kilometer km 103 m Etwa die Länge von 10 Fußballfeldern
Meter m 1m Etwa die Schrittlänge eines Menschen
Zentimeter cm 102 m Dicke des kleinen Fingers
Millimeter mm 103 m Dicke eines Zehennagels
Mikrometer m 106 m Nahe der Auflösungsgrenze eines Lichtmikroskops
Nanometer nm 109 m Nahe der Auflösungsgrenze eines Elektronenmikroskops

Untersuchung der Anatomie von Gehirnzellen musste also noch auf die Entwicklung ei-
ner Methode warten, das Gewebe zu verfestigen, ohne seine Struktur zu zerstören, und auf
ein Instrument zur Erzeugung sehr dünner Schnitte. Im frühen 19. Jahrhundert entdeckten
Wissenschaftler, wie man Gewebe härten oder „fixieren“ kann, indem man es in Formal-
dehyd einlegt, und sie entwickelten eine spezielle Vorrichtung namens Mikrotom, um sehr
dünne Schnitte herzustellen.
Diese technischen Fortschritte eröffneten das Gebiet der Histologie, der mikroskopischen
Untersuchung der Gewebestruktur. Aber Wissenschaftler, die das Gehirn untersuchen, wa-
ren noch mit einem weiteren Hindernis konfrontiert: Frisch präpariertes Gehirn sieht unter
dem Mikroskop einheitlich cremefarben aus. Das Gewebe zeigt keine Unterschiede in der
Pigmentierung, die es den Histologen ermöglichen würden, einzelne Zellen voneinander
abzugrenzen. Der endgültige Durchbruch in der Neurohistologie war die Einführung von
Färbemethoden, mit denen sich einzelne Zellteile im Hirngewebe markieren ließen.
Eine dieser Färbemethoden, die auch heute noch Anwendung findet, wurde vom deutschen
Neurologen Franz Nissl im späten 19. Jahrhundert entwickelt. Nissl zeigte, dass basische
Farbstoffe einer bestimmten Klasse die Zellkerne aller Zellen sowie Materialansammlun- Abb. 2.1 Neuronen nach Nissl-Fär-
gen um die Zellkerne von Neuronen herum anfärben (Abb. 2.1). Diese Ansammlungen bung. Ein Dünnschnitt von Hirngewebe
bezeichnet man als Nissl-Schollen, die Methode als die Nissl-Färbung. Sie ist aus zwei wurde mit dem Nissl-Farbstoff Kresyl-
Gründen besonders hilfreich: Zum einen lassen sich Neuronen und Gliazellen voneinander violett gefärbt. Die Ansammlungen von
unterscheiden, zum anderen können Histologen so die Anordnung oder Cytoarchitek- stark gefärbtem Material um die Zell-
kerne sind Nissl-Schollen. (Hammersen
tur von Neuronen in verschiedenen Teilen des Gehirns untersuchen. (Die Vorsilbe Cyto-
1980, Abb. 493)
stammt von dem griechischen Wort für Zelle.) Die Untersuchung der Cytoarchitektur führ-
te zu der Erkenntnis, dass das Gehirn aus vielen spezialisierten Regionen besteht. Wir
wissen jetzt, dass jede Region eine eigene Funktion hat.

Die Golgi-Färbung

Die Nissl-Färbung liefert jedoch nicht alle Informationen. Ein nach Nissl gefärbtes Neu-
ron sieht nicht wesentlich anders aus als eine Ansammlung von Protoplasma mit einem
Zellkern darin. Neuronen sind jedoch viel mehr als das. Wie viel mehr, konnte man erst
erkennen, als die Arbeit des italienischen Histologen Camillo Golgi (Abb. 2.2) publiziert
wurde. 1873 entdeckte Golgi, dass bei Einlegen von Hirngewebe in eine Silberchromatlö-
sung – eine Methode, die man heute als Golgi-Färbung bezeichnet – ein geringer Anteil
der Neuronen vollständig dunkel gefärbt wird (Abb. 2.3). Das zeigte, dass der neuronale
Zellkörper – also der Bereich des Neurons um den Zellkern, der bei der Nissl-Färbung
sichtbar wird – tatsächlich nur einen geringen Teil der Gesamtstruktur eines Neurons dar-
stellt. Abb. 2.1 und 2.3 demonstrieren, wie verschiedene histologische Färbemethoden
deutlich unterschiedliche Ansichten desselben Gewebes liefern können. Heute ist die Neu-
rohistologie weiterhin ein aktives Gebiet der Neurowissenschaft, und hier gilt das Credo:
„The gain in brain is mainly in the stain“ („Der Wissenszuwachs beim Gehirn ist vor
allem eine Frage der Färbemethode“).
Die Golgi-Färbung zeigt, dass Neuronen aus mindestens zwei unterscheidbaren Teilen be-
stehen: einer Zentralregion, die den Zellkern enthält, und zahlreichen dünnen Fortsätzen, Abb. 2.2 Camillo Golgi (1843–1926).
die von der Zentralregion abgehen. Für den zentralen Bereich mit dem Zellkern gibt es (Finger 1994, Abb. 3.22)
28 2 Neuronen und Gliazellen
Teil I

Abb. 2.3 Nach Golgi gefärbte Neuronen. (Hubel 1988, S. 126)

verschiedene Bezeichnungen, die gleichbedeutend verwendet werden: Zellkörper, Soma


(Plural: Somata) und Perikaryon (Plural: Perikarya). Die dünnen Fortsätze, die vom Soma
ausgehen, bezeichnet man als Neuriten. Sie umfassen zwei Typen: Axone und Dendriten
(Abb. 2.4).
Vom Zellkörper geht normalerweise ein einziges Axon ab. Das Axon besitzt auf seiner
Soma gesamten Länge einen einheitlichen Durchmesser, und wenn es sich verzweigt, bilden die
Zweige im Allgemeinen fast einen rechten Winkel zueinander. Da sich Axone im Körper
über große Entfernungen erstrecken können (1 m oder mehr), erkannten die Histologen,
dass Axone als „Drähte“ wirken müssen, die die Ausgangssignale der Neuronen weiter-
leiten. Dendriten erstrecken sich hingegen selten über eine Länge von mehr als 2 mm. Vom
Zellkörper gehen viele Dendriten ab; sie verjüngen sich im Allgemeinen zu einer feinen
Spitze. Schon die Histologen in früherer Zeit erkannten, dass Dendriten als Antennen des
Neurons wirken müssen, die hereinkommende Signale aufnehmen, da sie in Kontakt mit
Dendriten Neuriten vielen Axonen stehen.
Axon

Der Beitrag von Cajal

Golgi erfand die Färbung, aber es war ein Zeitgenosse von Golgi in Spanien, der sie
mit größter Effektivität anwandte. Santiago Ramón y Cajal (Abb. 2.5) war ein begabter
Histologe und Künstler, der im Jahr 1888 von Golgis Methode erfuhr. In einer Reihe be-
merkenswerter Publikationen in den folgenden 25 Jahren nutzte Cajal die Golgi-Färbung,
Abb. 2.4 Die grundlegenden Bestand- um die Verschaltung vieler Gehirnregionen zu bestimmen (Abb. 2.6). Paradoxerweise
teile eines Neurons zogen Cajal und Golgi entgegengesetzte Schlussfolgerungen über die Neuronen. Golgi
favorisierte die Sichtweise, dass die Neuriten von verschiedenen Zellen miteinander ver-
schmolzen sind und ein kontinuierliches Reticulum oder Netzwerk bilden, ähnlich den
Arterien und Venen des Kreislaufsystems. Nach dieser Reticulumtheorie bildet das Gehirn
eine Ausnahme der Zelltheorie, die besagt, dass die einzelne Zelle die funktionelle Grund-
einheit aller Gewebe von Tieren bildet. Cajal hingegen argumentierte vehement, dass die
Die Grundstruktur von Neuronen 29

Neuriten von verschiedenen Neuronen nicht durchgehend miteinander verbunden sind und

Teil I
über Kontaktstellen kommunizieren. Diese Vorstellung, die das Neuron in die Zelltheorie
einbezog, bezeichnete man als die Neuronendoktrin. Obwohl Golgi und Cajal sich 1906
den Nobelpreis teilten, blieben sie bis zum Schluss Rivalen.
Die wissenschaftlichen Befunde der folgenden 50 Jahre sprachen stark für die Neuro-
nendoktrin, aber auf einen abschließenden Beweis musste man noch warten, bis in den
1950er-Jahren das Elektronenmikroskop erfunden wurde (Exkurs 2.1). Mit zunehmender
Auflösungsstärke des Elektronenmikroskops war es schließlich möglich zu zeigen, dass
die Neuriten von verschiedenen Neuronen nicht miteinander verbunden sind (Abb. 2.7).
Unser Ausgangspunkt für die Erforschung des Gehirns muss demnach das einzelne Neu-
ron sein.

Die Grundstruktur von Neuronen Abb. 2.5 Santiago Ramón y Cajal


(1852–1934). (Finger 1994, Abb. 3.26)

Wie wir bereits erfahren haben, besteht das Neuron (das man auch als Nervenzelle bezeich-
net) aus mehreren Teilen: Soma, Dendriten und Axon. Das Innere des Neurons wird von
der Außenseite durch eine Grenzschicht, die Nervenzellmembran, getrennt. Diese liegt wie
ein Zirkuszelt auf einem komplexen inneren Gerüst und verleiht jedem Teil der Zelle seine
spezifische dreidimensionale Erscheinungsform. Wir wollen nun das Innere des Neurons
erkunden und etwas über die Funktionen der verschiedenen Teile erfahren (Abb. 2.8).

Das Soma

Wir beginnen unseren Rundgang mit dem Soma, dem in etwa kugelförmigen Teil des Neu-
rons. Dieser Zellkörper eines typischen Neurons hat einen Durchmesser von etwa 20 m.
Die wässrige Flüssigkeit im Inneren der Zelle, die man als Cytosol bezeichnet, ist eine sal-
zige, kaliumreiche Lösung, die von der Umgebung durch die Neuronenmembran getrennt
ist. Im Soma befindet sich eine Anzahl von Strukturen, die von einer Membran umgeben
sind und die man als Organellen bezeichnet.

Abb. 2.6 Eine von Cajals zahlreichen


Zeichnungen der Verschaltung im
Gehirn. Die Buchstaben markieren
die verschiedenen Elemente, die Cajal
in einem Bereich der menschlichen
Gehirnrinde identifiziert hat, die die
Willkürbewegungen steuert. In Kap. 14
werden wir noch mehr über diesen Teil
des Gehirns erfahren. (DeFelipe und
Jones 1998, Abb. 90)

Abb. 2.7 Kontaktstelle zwischen Neuriten. Diese Neuriten wurden aus einer Serie elektronenmi-
kroskopischer Bilder rekonstruiert. Das Axon (gelb) steht in Kontakt mit einem Dendriten (blau).
(Quelle: Dr. Sebastian Seung, Princeton University, und Kris Krug, Pop Tech)
30 2 Neuronen und Gliazellen
Teil I

Exkurs 2.1  Perspektive


Fortschritte in der Mikroskopie

Das menschliche Auge kann zwei Punkte nur dann vonein- Inzwischen platzieren Neurowissenschaftler routinemäßig
ander unterscheiden, wenn sie mehr als einen Zehntelmilli- Moleküle in Neuronen, die fluoreszieren, wenn sie mit Laser-
meter (100 m) voneinander entfernt sind. Wir können also licht beleuchtet werden. Die Fluoreszenz wird von empfind-
sagen, dass 100 m nahe an der Auflösungsgrenze für das lichen Detektoren registriert, und der Computer rekonstruiert
bloße Auge liegt. Neuronen haben einen Durchmesser von anhand dieser Daten das Bild des Neurons. Im Gegensatz
etwa 20 m, und Neuriten können sogar nur den Bruchteil zu herkömmlichen Verfahren der Licht- und Elektronenmi-
eines Mikrometers dick sein. Deshalb war das Lichtmikro- kroskopie, bei denen eine Fixierung der Gewebe notwendig
skop eine notwendige Entwicklung, bevor man die neuronale ist, ermöglichen diese Methoden den Neurowissenschaftlern
Struktur untersuchen konnte. Aber diese Art der Mikroskopie zum ersten Mal, lebendes Hirngewebe zu betrachten. Zudem
unterliegt einer theoretischen Grenze, die durch die Eigen- erlauben sie „super-hochauflösende“ Abbildungen, die die
schaften der Linsen und des sichtbaren Lichts bedingt ist. Grenzen der traditionellen Lichtmikroskopie durchbrechen
Mit dem normalen Lichtmikroskop liegt die Auflösungsgren- und Strukturen mit einem Durchmesser von nur 20 nm dar-
ze bei 0,1 m. Der Zwischenraum zwischen zwei Neuronen stellen können.
misst jedoch nur 0,02 m (20 nm). Daher ist es kein Wunder,
dass zwei ausgewiesene Wissenschaftler, Golgi und Cajal,
darüber uneinig waren, ob Neuriten von einer Zelle zur
nächsten durchgängig sind. Diese Frage ließ sich nicht beant-
worten, solange nicht das Elektronenmikroskop entwickelt
worden war und bei biologischen Proben angewendet wur-
de. Das geschah vor etwa 70 Jahren.
Im Elektronenmikroskop dient ein Elektronenstrahl anstelle
des Lichtes dazu, Bilder zu erzeugen, sodass sich das Auf-
lösungsvermögen deutlich erhöht. Die Auflösungsgrenze für
ein Elektronenmikroskop liegt bei 0,1 nm – eine Million Mal
besser als beim bloßen Auge und 1000-mal besser als das
Lichtmikroskop. Unsere Erkenntnisse über die Feinstruktur
im Inneren von Neuronen – die Ultrastruktur – stammen alle
aus Untersuchungen des Gehirns mithilfe der Elektronen-
mikroskopie.

Heute verwendet man in Mikroskopen der neuesten tech- Ein Lasermikroskop mit Computerdarstellung eines fluores-
nischen Entwicklungsstufe Laserstrahlen, um Gewebe zu zierenden Neurons samt Dendriten. (Quelle: Dr. Miquel Bosch,
belichten, und Computer erzeugen digitale Bilder (Abb.). Massachusetts Institute of Technology)

Der Zellkörper des Neurons enthält die gleichen Organellen, die in allen Tierzellen vor-
kommen. Am wichtigsten sind der Zellkern, das raue endoplasmatische Reticulum, das
glatte endoplasmatische Reticulum, der Golgi-Apparat und die Mitochondrien. Alles, was
sich innerhalb der Grenzen der Zellmembran befindet, einschließlich der Organellen, aber
ohne den Zellkern, bezeichnet man insgesamt als Cytoplasma.

Der Zellkern
Die lateinische Bezeichnung „Nucleus“ bedeutet „Kern“. Der Zellkern einer Zelle ist ku-
gelförmig, liegt in der Mitte und misst im Querschnitt etwa 5–10 m. Er ist von einer
Doppelmembran umgeben, die man als Kernhülle bezeichnet. Die Kernhülle ist von Poren
durchzogen, die einen Durchmesser von 1 m aufweisen.

Im Zellkern befinden sich die Chromosomen, die das genetische Material enthalten, die
DNA (Desoxyribonucleinsäure). Die DNA wird von den Eltern weitergegeben, und sie
enthält Baupläne für den gesamten Körper. Die DNA aller Neuronen ist identisch und
stimmt auch mit der DNA in den Zellen der Leber und der Niere überein. Ein Neuron un-
Die Grundstruktur von Neuronen 31

Teil I
Mitochondrium
Zellmembran
Zellkern

raues ER

Ribosomen Polyribosomen
Golgi-Apparat

glattes ER

Axon-
hügel

Mikrotubuli

Axon

Abb. 2.8 Die interne Struktur eines typischen Neurons


32 2 Neuronen und Gliazellen

terscheidet sich von einer Leberzelle durch die spezifischen DNA-Abschnitte, die für den
Teil I

Aufbau der Zelle verwendet werden. Diese DNA-Abschnitte bezeichnet man als Gene.

Jedes Chromosom enthält ein durchgehend doppelsträngiges Band von DNA mit 2 nm
Breite. Wenn man die DNA von allen 46 Chromosomen beim Menschen hintereinander-
legen würde, ergäbe das eine Länge von zwei Metern. Betrachtet man diese Gesamt-DNA
als analog zu der Abfolge von Buchstaben, die sich in diesem Buch befinden, entsprächen
die Wörter den einzelnen Genen. Gene können von 0,1 m bis mehrere Mikrometer lang
sein.

Das „Ablesen“ der DNA bezeichnet man als Genexpression. Das Endprodukt der Genex-
pression ist die Synthese von Molekülen, die man als Proteine bezeichnet. Diese kommen
in einer großen Vielfalt von Formen und Größen vor, übernehmen viele verschiedene
Funktionen und verleihen den Neuronen praktisch alle spezifischen Eigenschaften. Die
Proteinbiosynthese, also der Zusammenbau von Proteinmolekülen, erfolgt im Cytoplas-
ma. Da die DNA den Zellkern niemals verlässt, muss es eine Zwischenstufe geben, die
die genetische Botschaft ins Cytoplasma und an den Ort der Proteinbiosynthese trans-
portiert. Für diese Funktion ist ein anderes langes Molekül zuständig, das man als Mes-
senger-Ribonucleinsäure (Boten-RNA, mRNA) bezeichnet. Die mRNA besteht aus vier
verschiedenen Nucleotiden, die zu unterschiedlichen Sequenzen zusammengefügt werden,
um eine Kette zu bilden. Die genaue Sequenz der Nucleotide in der Kette repräsentiert die
Information im Gen, genauso wie die Abfolge von Buchstaben einem geschriebenen Wort
den Sinn gibt.

Der Vorgang, ein Stück mRNA zusammenzufügen, das die Information eines Gens ent-
hält, bezeichnet man als Transkription, und die entstehende mRNA ist das Transkript
(Abb. 2.9a). Proteincodierende Gene werden von DNA-Abschnitten flankiert, die nicht
der Codierung von Proteinen dienen, aber für die Regulierung der Transkription von Be-
deutung sind. An einem Ende des Gens befindet sich der Promotor. Dies ist der Bereich,
an dem das RNA-synthetisierende Enzym, die RNA-Polymerase, bindet, um die Transkrip-
tion in Gang zu setzen. Die Bindung der Polymerase an den Promotor wird durch andere
Proteine, die man als Transkriptionsfaktoren bezeichnet, genau reguliert. Am anderen
Ende befindet sich eine DNA-Sequenz, die man als Terminator oder Stoppsequenz be-
zeichnet und die die RNA-Polymerase als Endpunkt der Transkription erkennt.

Neben den nichtcodierenden DNA-Regionen, welche die Gene flankieren, gibt es häufig
weitere DNA-Abschnitte innerhalb eines Gens, die ebenfalls nicht der Proteincodierung
dienen. Diese eingestreuten Regionen bezeichnet man als Introns, die codierenden Se-
quenzen als Exons. Das ursprüngliche Transkript enthält sowohl Introns als auch Exons.
Die Introns werden jedoch durch einen Vorgang entfernt, den man als RNA-Spleißen be-
zeichnet, und die verbleibenden Exons werden miteinander verknüpft (Abb. 2.9b). Manch-
mal werden zusammen mit den Introns auch spezifische Exons entfernt, sodass eine „al-
ternativ gespleißte“ mRNA entsteht, die tatsächlich ein anderes Protein codiert. Die Tran-
skription eines einzigen Gens kann also am Ende zu mehreren unterschiedlichen mRNAs
und Proteinprodukten führen.

Die mRNA-Transkripte gelangen über die Poren in der Kernhülle aus dem Zellkern heraus
und wandern zu den Orten der Proteinsynthese an anderer Stelle im Neuron. An die-
sen Stellen wird ein Proteinmolekül zusammengesetzt, auf sehr ähnliche Weise wie das
mRNA-Molekül: durch Verknüpfung von vielen kleinen Molekülen zu einer Kette. Im Fall
des Proteins sind die Bausteine Aminosäuren, von denen es 20 verschiedene gibt. Die-
ser Zusammenbau von Proteinen aus Aminosäuren unter der Regie der mRNA bezeichnet
man als Translation.

Die wissenschaftliche Untersuchung dieses Vorgangs, der mit der DNA im Zellkern be-
ginnt und mit der Synthese des Proteinmoleküls in der Zelle endet, bezeichnet man als
Molekularbiologie. Das „zentrale Dogma“ der Molekularbiologie lässt sich folgenderma-
ßen zusammenfassen:

Transkription Translation
DNA ! mRNA ! Protein
Die Grundstruktur von Neuronen 33

Teil I
b Gen

Gen
Promotor Terminator

DNA DNA
Exon 1 Exon 2 Exon 3
1 Transkription
Intron 1 Intron 2

DNA
Transkription

RNA-Polymerase RNA
RNA

2 RNA-Prozessierung Spleißen

mRNA-
Transkript mRNA

3 Export aus dem Zellkern

Cytoplasma

Abb. 2.9 Gentranskription. a RNA-Moleküle werden durch die RNA-Polymerase synthetisiert und dann zu mRNA prozessiert, um die geneti-
schen Anweisungen für den Zusammenbau von Proteinen aus dem Zellkern in das Cytoplasma zu transportieren. b Die Transkription wird an der
Promotorregion des Gens in Gang gesetzt und an der Terminatorregion beendet. Die ursprüngliche RNA muss gespleißt werden, um die Introns
zu entfernen, die kein Protein codieren

Neuronale Gene, genetische Variation und Gentechnik


Neuronen unterscheiden sich von anderen Zellen im Körper aufgrund der spezifischen
Gene, die sie als Proteine exprimieren. Inzwischen ist ein neues Verständnis dieser Gene
möglich, da das menschliche Genom – die gesamte Länge der DNA, die die genetische
Information in unseren Chromosomen enthält – sequenziert worden ist. Wir kennen nun
die 25.000 „Wörter“, die unser Genom umfasst, und wir wissen, wo auf jedem Chro-
mosom wir diese Gene finden können. Zudem lernen wir, welche Gene allein in Neuro-
nen exprimiert werden (Exkurs 2.2). Dieses Wissen hat den Weg zum Verständnis vieler
Krankheiten des Nervensystems geebnet. Bei einigen Erkrankungen fehlen lange DNA-
Abschnitte, die mehrere Gene enthalten; bei anderen sind Gene dupliziert, was zu einer
Überexpression bestimmter Proteine führt. Derartige Missgeschicke, die als Kopienzahl-
variationen (gene copy number variations) bezeichnet werden, geschehen oft im Moment
der Empfängnis, wenn sich mütterliche und väterliche DNA mischen, um das Genom
des Nachwuchses zu schaffen. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass einige ernste psy-
34 2 Neuronen und Gliazellen
Teil I

Exkurs 2.2  Fokus


Die Expression des menschlichen Verstandes im postgenomischen Zeitalter

Die Sequenzierung des menschlichen Genoms war wirklich dann zu dem Microarray gegeben. Stark exprimierte Gene
eine außerordentliche Leistung und wurde 2003 abgeschlos- zeigen hell fluoreszierende Spots, und Unterschiede in der re-
sen. Das Humangenomprojekt identifizierte alle der ungefähr lativen Genexpression zwischen den Gehirnen werden durch
25.000 Gene in der menschlichen DNA. Wir leben jetzt in ei- Farbunterschiede in der Fluoreszenz nachgewiesen (Abb.).
ner Zeit, die man als „postgenomisches Zeitalter“ bezeichnet,
in der also die Informationen über die in unseren Gewe- Gehirn 1 Gehirn 2
ben exprimierten Gene dazu dienen können, Krankheiten zu
diagnostizieren und zu behandeln. Neurowissenschaftler ver-
wenden diese Informationen nun, um seit Langem offene
Fragen über die biologischen Grundlagen von neurologi-
schen und psychischen Erkrankungen anzugehen und um
die Ursprünge der Individualität noch genauer zu ergründen.
Der Gedankengang ist folgender: Das Gehirn ist das Produkt
der Gene, die im Gehirn exprimiert werden. Unterschiede
in der Genexpression zwischen einem normalen und einem
erkrankten Gehirn oder einem Gehirn mit ungewöhnlichen
Fähigkeiten können dabei helfen, die molekularen Grund-
lagen der beobachteten Symptome oder Besonderheiten zu
erkennen. Gefäß mit Gefäß mit
mRNA aus mRNA aus
Das Niveau der Genexpression wird üblicherweise definiert Gehirn 1, Gehirn 2,
als die Anzahl der mRNA-Transkripte, die von verschiede- rot markiert grün markiert
nen Zellen und Geweben synthetisiert werden, um die Syn-
these von spezifischen Proteinen zu steuern. Die Analyse der nach dem Mischen auf
Genexpression erfordert also eine Methode, mit der sich die DNA-Microarray geben
Spot mit synthe-
relativen Mengen von unterschiedlichen mRNAs in den Ge- tischer DNA, die
hirnen von zwei verschiedenen Gruppen von Menschen oder genspezifische
Tieren vergleichen lassen. Eine Möglichkeit, einen solchen Sequenz enthält
Vergleich durchzuführen, ist die Verwendung von Micro-
arrays. Diese werden von automatischen Maschinen erzeugt,
welche Tausende von kleinen Spots aus synthetischer DNA
auf einen Objektträger aufbringen. Jeder Spot enthält eine
einzige DNA-Sequenz, die jeweils eine spezifische mRNA- Objekt-
Sequenz erkennt und bindet. Um die Genexpression von zwei Gen mit Gen mit Gen mit ver- träger für
Gehirnen zu vergleichen, beginnt man damit, von beiden Ge- verringerter gleicher ringerter Mikroskop
Expression Expression Expression in
hirnen eine mRNA-Probe zu nehmen. Die mRNA des einen in Gehirn 2 in beiden Gehirn 1
Gehirns wird mit einer chemischen Markierung versehen, die Gehirnen
grün fluoresziert, die Probe aus dem anderen Gehirn mit ei-
ner rot fluoreszierenden Markierung. Diese Proben werden Bestimmung von Unterschieden in der Genexpression

chische Störungen, darunter Autismus und Schizophrenie, bei den betroffenen Kindern
auf Kopienzahlvariationen zurückgingen. (Psychische Erkrankungen werden in Kap. 22
diskutiert.)
Andere Störungen des Nervensystems werden von Mutationen – „Tippfehlern“ – in einem
Gen oder einer flankierenden Region der DNA ausgelöst, die die Expression des Gens
reguliert. In manchen Fällen kann ein einzelnes Protein stark von der Norm abweichen
oder völlig fehlen, was die neuronale Funktion beeinträchtigt. Ein Beispiel ist das Fragile-
X-Syndrom, eine Störung, die zu kognitiver Behinderung sowie Autismus führt und von
der Veränderung eines einzigen Gens hervorgerufen wird (Näheres dazu in Kap. 23). Vie-
le unserer Gene weisen kleine Mutationen auf, die als Einzelnucleotid-Polymorphismen
(single nucleotide polymorphisms) bezeichnet werden; sie lassen sich mit kleinen Schreib-
fehlern vergleichen, wie sie durch Veränderung eines einzigen Buchstabens entstehen.
Die Grundstruktur von Neuronen 35

Solche Mutationen sind gewöhnlich gutartig, so wie der Unterschied zwischen Schiffahrt

Teil I
(alte) und Schifffahrt (neue deutsche Rechtschreibung) – unterschiedliche Schreibweise,
dieselbe Bedeutung. Manchmal können diese Mutationen jedoch die Proteinfunktion be-
einträchtigen (denken Sie nur an den Unterschied zwischen „Rose“ und „Eros“ – dieselben
Buchstaben, unterschiedliche Bedeutung). Solche Einzelnucleotid-Polymorphismen kön-
nen, allein oder gemeinsam mit anderen, die neuronale Funktion beeinflussen.
Gene steuern Entwicklung und Aufbau des Gehirns, und eines der Hauptziele der Neu-
rowissenschaften ist es zu verstehen, wie sie bei gesunden und bei kranken Organismen
zur neuronalen Funktion beitragen. Ein wichtiger Durchbruch war die Entwicklung von
gentechnischen Werkzeugen, um Organismen durch Genmutationen oder Einfügungen
(Insertionen) gezielt zu verändern. Gentechnik ist am häufigsten bei Mäusen angewandt
worden, weil es sich bei ihnen um sich rasch reproduzierende Säuger mit einem Zen-
tralnervensystem ähnlich dem unseren handelt. Heute ist es in den Neurowissenschaften
üblich, Knock-out-Mäuse (englisch knock out = „außer Gefecht setzen“) zu verwenden,
bei denen ein Gen eliminiert wurde. Anhand solcher Mäuse lässt sich die Progression einer
Krankheit wie des Fragilen-X-Syndroms mit dem Ziel untersuchen, die Störung zu korri-
gieren. Ein anderer Ansatz ist die Schaffung transgener Mäuse, bei denen Gene eingefügt
und überexprimiert werden; diese Gene werden als Transgene bezeichnet. Inzwischen sind
auch Knock-in-Mäuse erzeugt worden, bei denen ein eigenes Gen durch ein modifiziertes
Transgen ersetzt wurde.
Wir werden in diesem Buch auf viele Beispiele stoßen, die zeigen, wie genetisch modi-
fizierte Tiere in den Neurowissenschaften zum Einsatz kommen. Die Entdeckungen, die
eine genetische Modifizierung von Mäusen erlaubten, haben die Biologie revolutioniert.
Die Forscher, die diese Arbeit leisteten, wurden 2007 mit dem Nobelpreis für Physiolo-
gie oder Medizin geehrt: Martin Evans von der Cardiff University, Oliver Smithies von
der University of North Carolina (Chapel Hill) und Mario Capecchi von der University of
Utah (Exkurs 2.3).

Raues endoplasmatisches Reticulum


Neuronen nutzen die Information in Genen, indem sie Proteine synthetisieren. Die Pro-
teinsynthese findet an dichten kugelförmigen Strukturen im Cytoplasma statt, die man
als Ribosomen bezeichnet. Die mRNA-Transkripte binden an die Ribosomen, und die
Ribosomen übersetzen die in der mRNA enthaltenen Instruktionen, um ein Proteinmo-
lekül zusammenzufügen. Mit anderen Worten benutzen Ribosomen die von der mRNA
gelieferte Blaupause, um Proteine aus Rohmaterial in Form von Aminosäuren herzu-
stellen.
In Neuronen haften viele Ribosomen an Membranstapeln, die man als raues endoplasma-
tisches Reticulum oder raues ER bezeichnet (Abb. 2.10). Das raue ER ist in Neuronen in
großer Menge vorhanden, viel mehr als in Glia- oder anderen nichtneuronalen Zellen. Wir
sind dem rauen ER bereits im Zusammenhang mit einem anderen Begriff begegnet: den
Nissl-Schollen. Dieses Organell lässt sich mit Farbstoffen anfärben, die Nissl vor 100 Jah-
ren eingeführt hat.
Das raue ER ist in Neuronen ein wichtiger Ort der Proteinsynthese, aber nicht alle Ribo-
Zellkern
somen sind am rauen ER angelagert. Viele können frei diffundieren und werden als freie
Kern-
Ribosomen bezeichnet. Mehrere freie Ribosomen können wie auf einer Schnur aufgereiht hülle
erscheinen und werden dann als Polyribosom bezeichnet. Die Schnur ist ein einzelner Kern-
mRNA-Strang, und die assoziierten Ribosomen erzeugen daran viele Kopien desselben pore
Proteins.
Welcher Unterschied besteht zwischen den Proteinen, die am rauen ER und an den freien
Ribosomen synthetisiert werden? Die Antwort liegt offenbar in der vorgegebenen Bestim-
mung des jeweiligen Proteinmoleküls. Wenn es für das Cytosol des Neurons bestimmt ist,
wandert die mRNA für dieses Protein nicht an die Ribosomen des rauen ER, sondern zu raues ER Ribosomen
freien Ribosomen (Abb. 2.11a). Wenn ein Protein jedoch in die Membran der Zelle oder
eines Organells eingebaut werden soll, wird es am rauen ER synthetisiert. Während des Abb. 2.10 Raues endoplasmatisches
Zusammenbaus des Proteins wird es vorwärts und rückwärts durch die Membran des rauen Reticulum (raues ER)
36 2 Neuronen und Gliazellen
Teil I

Exkurs 2.3  Köpfe und Ideen


Gene Targeting bei Mäusen

Kopf-zu-Schwanz-Anordnung, die als Concatemer bezeich-


net wird (Abb. B). Das war erstaunlich und konnte kein
Zufall sein. Wir machten uns daran, eindeutig zu bewei-
sen, dass homologe Rekombination – der Prozess, bei dem
homologe Chromosomen bei der Zellteilung genetische In-
formation austauschen – für den Einbau von fremder DNA
verantwortlich war (Folger et al. 1982). Diese Experimen-
te demonstrierten, dass alle somatischen Säugerzellen eine
sehr effiziente Maschinerie enthalten, um DNA-Segmente
auszutauschen, die gleichartige Nucleotidsequenzen aufwei-
sen. Injektionen von 1000 Kopien einer Gensequenz in einen
Zellkern führten zu einer chromosomalen Insertion eines
Concatemers, der 1000 Kopien dieser Sequenz enthielt, alle
in derselben Richtung orientiert. Diese einfache Beobach-
Von Mario Capecchi
tung führte bei mir direkt zu der Vorstellung, jedes beliebige
Wie kam ich zuerst auf die Idee, gezielte Genmutationen Gen bei lebenden Mäusen in jeder beliebigen Weise mittels
(Gene Targeting) bei Mäusen vorzunehmen? Das lag an ei- Gene Targeting zu mutieren.
ner simplen Beobachtung. Mike Wigler, inzwischen am Cold
Spring Harbor Laboratory, und Richard Axel an der Colum-
bia University hatten 1979 einen Artikel veröffentlicht, in Haltepipette
dem sie zeigten: Wenn man Säugerzellen einer Mischung
von DNA und Calciumphosphat aussetzt, nehmen einige der befruchtete
Zellen die DNA in funktioneller Form auf und exprimieren Mäuse-Eizelle
die codierten Gene. Das war aufregend, denn sie hatten klar
demonstriert, dass man exogene funktionelle DNA in Säu-
gerzellen einbringen kann. Aber ich fragte mich, warum ihre
Effizienz so gering war. War es ein Problem mit der Einbrin-
gung in die Zelle, der Insertion von exogener DNA in das
Chromosom oder mit der Expression der Gene nach Einbau
in das Wirtschromosom? Was würde passieren, wenn man
gereinigte DNA direkt in den Kern einer Säugerzelle in Kul- Mikropipette
mit der
tur injizierte? DNA-Lösung
Um das herauszufinden, verwandelte ich die elektrophysio-
logische Ableitevorrichtung eines Kollegen in eine Miniatur- A Befruchtete Mäuse-Eizelle, in die fremde DNA injiziert wird.
Injektionsapparatur, um DNA mithilfe mechanischer Mikro- (Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Dr. Peimin Qi,
manipulatoren und eines Lichtmikroskops direkt in den Kern Division of Comparative Medicine, Massachusetts Institute of Tech-
einer lebenden Zelle einzubringen (Abb. A). Das Verfah- nology)
ren war bemerkenswert effizient (Capecchi 1980). Mit dieser
Methode stieg die Häufigkeit einer erfolgreichen Integration
von eins zu einer Million wie früher auf eine von drei Zellen.
Diese hohe Effizienz führte direkt zur Entwicklung transge-
ner Mäuse via Injektion und zufälliger Integration exogener
DNA in Chromosomen befruchteter Mäuse-Eizellen oder Zy-
goten. Um eine hohe Expressionseffizienz exogener DNA in
der Empfängerzelle zu erreichen, musste ich an diese exoge-
ne DNA kleine Fragmente viraler DNA anheften, die, wie wir
heute wissen, Enhancer enthalten, welche für die eukaryoti-
sche Genexpression von entscheidender Bedeutung sind.

Was mich aber faszinierte, war folgende Beobachtung: Wenn


viele Kopien eines Gens in einen Zellkern injiziert wur-
den, dann endeten all diese Moleküle schließlich in einer B
Die Grundstruktur von Neuronen 37

Fasziniert von dieser Möglichkeit, stellte ich einen Förderan- wir lernten, diese wunderbaren Zellen zu züchten und zu

Teil I
trag an die U.S. National Institutes of Health (NIH) und benutzen, um Mäuse zu schaffen, die zu einer Keimlinien-
schlug vor, DNA-Sequenzen von Genen in Kultur gehalte- transmission fähig waren.
ner Säugerzellen mittels homologer Rekombination direkt
zu verändern. Die Gutachter lehnten den Vorschlag ab, und Forscher haben oft eine vorgefasste Meinung, was die spezi-
ihre Argumente waren nicht unvernünftig. Die Wahrschein- elle Rolle des sie interessierenden Gens in der Mäusebiologie
angeht, und sind gewöhnlich sehr erstaunt über das Ergebnis,
lichkeit, dass die exogen zugefügte DNA-Sequenz jemals
die DNA-Sequenz findet, die ihr so ähnlich ist, dass es wenn dieses Gen ausgeschaltet wird (Knock-out). Gene Tar-
zu einer homologen Rekombination bei lebenden Säuger- geting hat uns in viele neue Richtungen geführt; dazu gehört
in jüngster Zeit beispielsweise die Erforschung der Mikro-
zellen (die 3  109 Nucleotidbasenpaare enthalten) kommt,
sei verschwindend gering, argumentierten sie. Zum Glück glia, also Zellen, die nach ihrer gemeinsamen Entstehung
enthielt mein Antrag zwei weitere Vorschläge, die den NIH- mit Immun- und Blutzellen im Knochenmark ins Gehirn ein-
wandern. Eine Mutation dieser Zellen führt bei Mäusen zu
Gutachtern gefielen, und sie förderten diese Projekte. Ich
benutzte diese Gelder, um das Gene-Targeting-Projekt zu einer Pathologie, die einer Erkrankung des Menschen bemer-
finanzieren. Vier Jahre später konnten wir Ergebnisse vorle- kenswert ähnelt, die als Trichotillomanie bezeichnet wird;
dabei handelt es sich um eine Zwangsstörung, bei der die
gen, die zeigten, dass wir in der Lage waren, Gene Targeting
bei in Kultur gehaltenen Säugerzellen durchzuführen. Dar- Betroffenen einen starken Drang verspüren, sich die Haare
aufhin stellte ich einen neuen Förderantrag beim selben auszureißen. Erstaunlicherweise lässt sich dieses pathologi-
Gutachtergremium des NIH, in dem ich nun vorschlug, mit- sche Verhalten bei Mutantenmäusen durch die Transplan-
hilfe von Gene Targeting Mutantenmäuse zu erzeugen. Der tation von Knochenmark auf Dauer kurieren (Chen et al.
Bewertungsbogen des Gremiums, den ich als Antwort er- 2010). Nun arbeiten wir intensiv daran zu verstehen, wie
hielt, begann mit folgenden Worten: „Wir freuen uns, dass Mikroglia den Output neuronaler Schaltkreise kontrolliert,
Sie unserem Rat nicht gefolgt sind.“ und versuchen, was noch wichtiger ist, die enge Bezie-
hung zwischen Immunsystem (in diesem Fall Mikroglia)
Es dauerte zehn Jahre, um Gene Targeting bei Mäusen zu und neuropsychiatrischen Erkrankungen wie Depressionen,
entwickeln (Thomas und Capecchi 1987). Vor diesem Erfolg Autismus, Schizophrenie und Alzheimer-Krankheit zu ver-
mussten wir die Maschinerie zur homologen Rekombination stehen.
bei eukaryotischen Zellen verstehen. Da die Häufigkeit des
Gene Targeting zudem gering war, brauchten wir, wenn wir Literatur
unsere Methode erfolgreich bei Mäusen anwenden wollten,
embryonale Stammzellen von Mäusen, die in der Lage wa- Capecchi MR (1980) High efficiency transformation by
ren, zur Bildung der Keimlinie – Eizellen und Spermien – direct microinjection of DNA into cultured mammalian
bei adulten Tieren beizutragen. Unser ausbleibender Erfolg cells. Cell 22:479–488
mit Zellen aus embryonalen Karzinomen (embryonal car- Chen SC, Tvrdik P, Peden E, Cho S, Wu S, Spangrude G,
cinoma, EC) begann, mich zu deprimieren. Dann hörte ich Capecchi MR (2010) Hematopoietic origin of pathologi-
gerüchteweise, Martin Evans in Cambridge, England, sei da- cal grooming in Hoxb8 mutant mice. Cell 141(5):775–
bei, vielversprechendere Zellen zu isolieren, die er EK-Zellen 785
nannte und die den EC-Zellen ähnelten, aber von einem nor- Folger KR, Wong EA, Wahl G, Capecchi MR (1982) Pat-
malen Mäuseembryo statt aus Tumoren stammten. Ich rief terns of integration of DNA microinjected into cultured
ihn an und fragte ihn, ob die Gerüchte stimmten, und er be- mammalian cells: evidence for homologous recombina-
jahte dies. Meine nächste Frage war, ob ich ihn in seinem tion between injected plasmid DNA molecules. Mol Cell
Labor besuchen und lernen könnte, mit diesen Zellen zu ar- Biol 2:1372–1387
beiten, und er stimmte erneut zu. Die Weihnachtszeit 1985 Thomas KR, Capecchi MR (1987) Site-directed mutage-
in Cambridge war wunderbar. Meine Frau, die mit mir ar- nesis by gene targeting in mouse embryo-derived stem
beitete, und ich hatten ein paar schöne Wochen, in denen cells. Cell 51:503–512

ER gefädelt, wo es festgehalten wird (Abb. 2.11b). Es ist nicht verwunderlich, dass Neu-
ronen so gut mit rauem ER ausgestattet sind, da es spezielle Membranproteine sind, die
diesen Zellen ihre bemerkenswerten Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung verleihen.

Glattes endoplasmatisches Reticulum und Golgi-Apparat


Das übrige Cytosol im Soma ist mit Stapeln von Membranorganellen ausgefüllt, die im
Wesentlichen so aussehen wie das raue ER mit den Ribosomen. Darum bezeichnet man
sie als glattes endoplasmatisches Reticulum oder glattes ER. Das glatte ER ist eigent-
lich aber recht heterogen und erfüllt an verschiedenen Orten unterschiedliche Aufgaben.
Ein Teil des glatten ER geht in das raue ER über. Deshalb nimmt man an, dass es sich
um den Bereich handelt, wo die Proteine, die aus der Membran herausragen, ordnungsge-
38 2 Neuronen und Gliazellen
Teil I

mRNA

mRNA mRNA

freies
raues ER
Ribosom

mRNA bei der mRNA bei der


Translation Translation

neu erzeugtes
Protein

neu synthetisiertes, mit der


Membran assoziiertes Protein

a Proteinbiosynthese an einem freien b Proteinbiosynthese am rauen ER


Ribosom

Abb. 2.11 Proteinbiosynthese an einem freien Ribosom und am rauen ER. Boten-RNA (mRNA)
bindet an ein Ribosom und startet die Proteinsynthese. a Proteine, die an freien Ribosomen synthe-
tisiert werden, sind für das Cytosol bestimmt. b Proteine, die am rauen ER synthetisiert werden,
sollen in eine Membran eingeschlossen oder in eine Membran eingebaut werden. Mit Membranen
assoziierte Proteine werden in die Membran eingefügt, während sie zusammengebaut werden

mäß gefaltet werden und dadurch ihre dreidimensionale Struktur erhalten. Andere Arten
des glatten ER besitzen für die Prozessierung von Proteinmolekülen keine direkte Funk-
tion, sondern regulieren stattdessen die internen Konzentrationen bestimmter Substanzen
wie etwa Calcium. (Dieses Organell ist in Muskelzellen besonders ausgeprägt, wie wir in
Kap. 13 feststellen werden.)
Der Stapel aus von einer Membran umgebenen Scheiben im Soma, der am weitesten vom
Zellkern entfernt liegt, ist der Golgi-Apparat (Abb. 2.12), 1898 erstmals von Camillo
Golgi beschrieben. Dies ist ein Bereich, in dem eine intensive posttranslationale chemi-
sche Prozessierung von Proteinen stattfindet. Eine wichtige Funktion des Golgi-Apparats
besteht wahrscheinlich darin, bestimmte Proteine zu sortieren, die für die Freisetzung in
unterschiedlichen Bereichen des Neurons bestimmt sind, wie etwa im Axon oder in den
Dendriten.

Mitochondrium
Ein weiteres, sehr häufig vorkommendes Organell im Soma ist das Mitochondrium (Plu-
ral: Mitochondrien). In Neuronen sind diese wurstförmigen Strukturen etwa 1 m lang.
Die Grundstruktur von Neuronen 39

raues ER neu synthetisiertes Golgi-

Teil I
Protein Apparat

Abb. 2.12 Der Golgi-Apparat. Dieses komplexe Organell sortiert neu synthetisierte Proteine für
die Freisetzung an den Bestimmungsort im Neuron

Unterhalb der äußeren Membran liegt die innere Membran mit vielen Einfaltungen, die
man als Cristae (Singular: Crista) bezeichnet. Zwischen den Cristae befindet sich ein in-
nerer Bereich, die sogenannte Matrix (Abb. 2.13a).
Mitochondrien sind der Ort der Zellatmung (Abb. 2.13b). Wenn ein Mitochondrium „ein-
atmet“, nimmt es Pyruvat (das aus Zuckern, abgebauten Proteinen und Fetten stammt)
und Sauerstoff auf, die beide im Cytosol diffundieren. Im inneren Kompartiment des
Mitochondriums tritt das Pyruvat in eine komplexe Abfolge biochemischer Reaktionen
ein, die man als Krebs-Zyklus bezeichnet, nach dem deutsch-britischen Wissenschaftler äußere
Hans Krebs, der diesen Zyklus erstmals 1937 postulierte. Die biochemischen Produkte des Membran
Krebs-Zyklus liefern Energie, die in einer weiteren Abfolge von Reaktionen innerhalb der
innere
Cristae (in der sogenannten Atmungskette) dazu führt, dass an Adenosindiphosphat (ADP) Membran
eine Phosphatgruppe angehängt wird, wobei Adenosintriphosphat (ATP) als zelluläre
Energiequelle entsteht. Wenn das Mitochondrium „ausatmet“, werden für jedes aufge- Cristae
nommene Pyruvatmolekül 17 ATP-Moleküle freigesetzt.
ATP ist die Energiewährung der Zelle. Die chemische Energie, die in ATP gespeichert
ist, dient dazu, die meisten chemischen Reaktionen des Neurons anzutreiben. So nutzen
beispielsweise spezielle Proteine in der Nervenzellmembran die Energie, die durch den
Abbau von ATP zu ADP freigesetzt wird, um bestimmte Substanzen quer zur Membran
zu pumpen und zwischen dem Innenraum und der Umgebung des Neurons Konzentrati- Matrix
onsunterschiede aufzubauen (Kap. 3).
b

Die Nervenzellmembran
+ O2 + CO2

Die Zellmembran dient als Barriere, die das Cytoplasma innerhalb des Neurons umgibt
und bestimmte Substanzen ausschließt, die in der Flüssigkeit um das Neuron herum vor- Pyruvat
handen sind. Die Membran ist etwa 5 nm dick und mit Proteinen besetzt. Wie bereits
erwähnt, pumpen einige der mit der Membran assoziierten Proteine Substanzen von innen Energiequellen in
nach außen. Andere bilden Kanäle, die regulieren, welche Substanzen in das Innere des Protein
Zucker der Nahrung und in
Neurons gelangen dürfen. Ein wichtiges Merkmal von Neuronen besteht darin, dass die Fett Form von Speichern
Proteinzusammensetzung der Membran variiert, abhängig davon, ob es sich um das Soma,
die Dendriten oder das Axon handelt. Abb. 2.13 Die Funktion der Mito-
chondrien. a Bestandteile eines
Die Funktionen der Neuronen kann man nicht verstehen, ohne die Struktur und die Funk- Mitochondriums. b Zellatmung. ATP
tion der Membran und ihrer assoziierten Proteine verstanden zu haben. Dieses Thema ist ist die Energiewährung, die in den Neu-
so wichtig, dass sich die folgenden vier Kapitel (Kap. 3–6) zu einem großen Teil damit ronen biochemische Reaktionen antreibt
40 2 Neuronen und Gliazellen
Teil I

Exkurs 2.4  Perspektive


Die Alzheimer-Krankheit und das neuronale Cytoskelett

Die Neuriten sind die auffälligsten Strukturmerkmale ei- genstände hin und her, versteckte sie, zuweilen glaubte sie, man
nes Neurons. Ihre komplexen Verzweigungsmuster, die für wolle sie umbringen, und begann laut zu schreien.
die Informationsverarbeitung von entscheidender Bedeutung In der Anstalt trug ihr ganzes Gebaren den Stempel völliger
Ratlosigkeit. Sie ist zeitlich und örtlich gänzlich desorientiert.
sind, spiegeln die Organisation des zugrunde liegenden Cy-
Gelegentlich macht sie Äußerungen, dass sie alles nicht verstehe,
toskeletts wider. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es sich nicht auskenne. Den Arzt begrüßt sie bald wie einen Besuch
zu einem katastrophalen Verlust der Gehirnfunktion kom- und entschuldigt sich, dass sie mit ihrer Arbeit nicht fertig sei,
men kann, wenn das Cytoskelett von Neuronen zerstört wird. bald schreit sie laut, er wolle sie schneiden, oder sie weist ihn
Ein Beispiel dafür ist die Alzheimer-Krankheit. Eines ihrer voller Entrüstung mit Redensarten weg, welche andeuten, dass
kennzeichnenden Merkmale ist die Zerstörung des Cytoske- sie von ihm etwas gegen ihre Frauenehre befürchtet. Zeitweilig
letts der Neuronen in der Hirnrinde, einer Gehirnregion, die ist sie völlig delirant, schleppt ihre Bettstücke umher, ruft ihren
Mann und ihre Tochter und scheint Gehörshalluzinationen zu ha-
für die kognitiven Funktionen entscheidend ist. Der deutsche ben. Oft schreit sie viele Stunden lang mit gräßlicher Stimme.
Mediziner Alois Alzheimer hat diese Erkrankung und die [. . . ] die allgemeine Verblödung [macht] Fortschritte. Nach 4 1=2
zugrunde liegende pathologische Veränderung des Gehirns jähriger Krankheitsdauer tritt der Tod ein. Die Kranke war
erstmals im Jahr 1907 in einem Artikel mit dem Titel Über schließlich völlig stumpf, mit angezogenen Beinen zu Bett ge-
eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde beschrieben. Im legen . . .
Folgenden einige Auszüge:

Eine Frau von 51 Jahren zeigte als erste auffällige Krankheitser-


Nach dem Tod der Frau untersuchte Alzheimer ihr Gehirn un-
scheinung Eifersuchtsideen gegen den Mann. Bald machte sich ter dem Mikroskop. Er machte besonders Notizen über Ver-
eine rasch zunehmende Gedächtnisschwäche bemerkbar, sie fand änderungen der „Neurofibrillen“. Dies sind Bestandteile des
sich in ihrer Wohnung nicht mehr zurecht, schleppte die Ge- Cytoskeletts, die sich mit einer Silberlösung färben lassen.

a b c

A Neuronen in einem menschlichen Gehirn mit Alzheimer-Krankheit. Normale Neuronen enthalten Neurofilamente, aber keine Neu-
rofibrillenbündel. a Hirngewebe, gefärbt mit einer Methode, durch die neuronale Filamente grün fluoreszieren und so lebende Neuronen
sichtbar machen. b Dieselbe Region des Gehirns, dieses Mal so gefärbt, dass das Vorhandensein von Tau in den Neurofibrillenbündeln
durch rote Fluoreszenz angezeigt wird. c Überlagerung der Bilder von a und b. Das mit der Pfeilspitze markierte Neuron enthält Neu-
rofilamente, aber keine Neurofibrillenbündel, ist also gesund. Das mit dem großen Pfeil markierte Neuron besitzt Neurofilamente, zeigt
aber schon eine beginnende Akkumulation von Tau und ist demnach erkrankt. Das in b und c mit dem kleinen Pfeil markierte Neuron ist
abgestorben, da es keine Neurofilamente enthält. Die übrig gebliebenen Neurofibrillenbündel bilden den „Grabstein“ eines Neurons, das
durch die Alzheimer-Krankheit abgetötet wurde. (Mit freundlicher Genehmigung von Dr. John Morrison und verändert nach Vickers et al.
1994)
Die Grundstruktur von Neuronen 41

An Präparaten, die mit der Bielschowskyschen Silbermethode mente aus dem mit Mikrotubuli assoziierten Protein Tau

Teil I
angefertigt sind, zeigen sich sehr merkwürdige Veränderungen bestehen.
der Neurofibrillen. Im Innern einer im übrigen noch normal
erscheinenden Zelle treten zunächst eine oder einige Fibrillen Tau fungiert normalerweise als Brücke zwischen den Mikro-
durch ihre besondere Dicke und besondere Imprägnierbarkeit tubuli in den Axonen und bewirkt, dass diese gerade und
stark hervor. Im weiteren Verlauf zeigen sich dann viele neben-
einander verlaufende Fibrillen in der gleichen Weise verändert.
parallel zueinander verlaufen. Bei der Alzheimer-Krankheit
Dann legen sie sich zu dichten Bündeln zusammen und treten löst sich Tau von den Mikrotubuli ab und akkumuliert im So-
allmählich an die Oberfläche der Zelle. Schließlich zerfällt der ma. Diese Zerstörung des Cytoskeletts führt dazu, dass die
Kern und die Zelle, und nur ein aufgeknäueltes Bündel von Fi- Axone verkümmern und dadurch der normale Informations-
brillen zeigt den Ort, an dem früher eine Ganglienzelle gelegen fluss in betroffenen Neuronen beeinträchtigt ist.
hat.
Da sich diese Fibrillen mit anderen Farbstoffen färben lassen Was führt zur Veränderung von Tau? Hier gilt die Auf-
als normale Neurofibrillen, muss eine chemische Umwandlung merksamkeit einem weiteren Protein, das im Gehirn von
der Fibrillensubstanz stattgefunden haben. Diese dürfte wohl die
Alzheimer-Patienten akkumuliert und als Amyloid bezeich-
Ursache sein, dass die Fibrillen den Untergang der Zelle über-
dauern. Die Umwandlung der Fibrillen scheint Hand in Hand net wird. Auf dem Gebiet der Alzheimer-Forschung gibt es
zu gehen mit der Einlagerung eines noch nicht näher erforsch- sehr schnelle Fortschritte, aber heute herrscht der Konsens,
ten pathologischen Stoffwechselproduktes in die Ganglienzelle. das die anormale Freisetzung des Amyloids durch die Neuro-
Etwa 1=4 bis 1=3 aller Ganglienzellen der Hirnrinde zeigt sol- nen der erste Schritt des Vorgangs ist, bei dem es zur Bildung
che Veränderungen. Zahlreiche Ganglienzellen, besonders in den der Neurofibrillenbündel und Demenz kommt. Neueste Hoff-
oberen Zellschichten, sind ganz verschwunden (Alzheimer 1907,
nungen auf therapeutische Maßnahmen betreffen Verfahren,
S. 146–148).
mit denen die Amyloidablagerungen im Gehirn verringert
werden. Die Entwicklung einer wirksamen Therapie ist drin-
Die Schwere der Demenz bei der Alzheimer-Krankheit
gend geboten: Allein in den USA sind über fünf Millionen
korreliert gut mit der Anzahl und Verteilung der soge-
Menschen von dieser folgenschweren Krankheit betroffen.
nannten Neurofibrillenbündel, den „Grabsteinen“ toter und
absterbender Neuronen (Abb. A). Tatsächlich verursacht
die Bildung dieser Fibrillen in der Hirnrinde mit großer
Wahrscheinlichkeit die Symptome der Krankheit, wie schon
Alzheimer spekulierte. Im Elektronenmikroskop lässt sich 100 nm

zeigen, dass gepaarte helikale Filamente, also lange faser-


förmige Proteine, die wie die Stränge eines Seils mitein-
ander verflochten sind, die Hauptbestandteile der Fibrillen B Gepaarte helikale Filamente eines Neurofibrillenbündels.
ausmachen (Abb. B). Man weiß heute, dass diese Fila- (Goedert 1996, Abb. 2b)

beschäftigen, wie die Membran Neuronen mit der bemerkenswerten Fähigkeit ausstattet,
überall im Gehirn und im Körper elektrische Signale weiterleiten zu können.

Das Cytoskelett

Weiter oben haben wir einmal die Neuronenmembran mit einem Zirkuszelt verglichen, das
über ein inneres Gerüst gespannt wurde. Dieses Gerüst bezeichnet man als Cytoskelett;
es verleiht dem Neuron seine charakteristische Form. Die „Knochen“ des Cytoskeletts
sind Mikrotubuli, Mikrofilamente und Neurofilamente (Abb. 2.14). Die Analogie mit ei-
nem Gerüst bedeutet nicht, dass das Cytoskelett statisch ist. Im Gegenteil, Elemente des
Cytoskeletts werden dynamisch reguliert und befinden sich wohl kontinuierlich in Bewe-
gung.

Mikrotubuli
Mit einem Durchmesser von 20 nm sind Mikrotubuli recht groß und verlaufen in Längs-
richtung der Neuriten. Ein Mikrotubulus erscheint als gerades, dickwandiges Rohr. Die
Wand des Rohres setzt sich aus kleineren Strängen zusammen, die sich wie ein Seil
um einen hohlen Kern wickeln. Jeder der kleineren Stränge besteht aus dem Protein Tu-
bulin. Ein einzelnes Tubulinmolekül ist klein und kugelförmig, und der Strang besteht
aus Tubulinmolekülen, die wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind. Der Vorgang der
Verknüpfung kleiner Proteine, um einen langen Strang zu bilden, bezeichnet man als Poly-
42 2 Neuronen und Gliazellen

merisierung, den entstehenden Strang als Polymer. Durch verschiedene Signale innerhalb
Teil I

des Neurons können Polymerisierung und Depolymerisierung von Mikrotubuli und damit
auch die Form eines Neurons reguliert werden.
Eine Klasse von Proteinen, die an der Regulierung des Zusammenbaus und der Funkti-
on der Mikrotubuli mitwirken, sind die Mikrotubuli-assoziierten Proteine (MAP). Neben
anderen Funktionen (von denen noch viele unbekannt sind) verankern die MAP die Mi-
krotubuli untereinander und mit anderen Bestandteilen des Neurons. Pathologische Ver-
änderungen in einem axonalen MAP namens Tau wurden mit der Demenz in Verbindung
gebracht, die bei der Alzheimer-Krankheit auftritt (Exkurs 2.4).

Mikrofilamente
Mit einem Durchmesser von nur 5 nm besitzen Mikrofilamente dieselbe Dicke wie ei-
ne Zellmembran. Sie kommen überall in einem Neuron vor, sind aber in den Neuriten
besonders zahlreich. Mikrofilamente bestehen aus zwei umeinander gewundenen dünnen
Strängen, die wiederum Polymere des Proteins Aktin sind. Aktin ist in allen Zelltypen
und auch in den Neuronen eines der häufigsten Proteine. Wahrscheinlich ist es bei Verän-
derungen der Zellform von Bedeutung. Tatsächlich wirken Aktinfilamente entscheidend
beim Mechanismus der Muskelkontraktion mit (Kap. 13).
Tubulin- Wie Mikrotubuli werden auch Mikrofilamente ständig auf- und wieder abgebaut, und die-
molekül Aktin- ser Prozess wird durch Signale im Neuron reguliert. Mikrofilamente verlaufen nicht nur
molekül
wie die Mikrotubuli in Längsrichtung im Inneren von Neuriten, sondern sind auch eng mit
der Membran assoziiert. Sie sind durch Befestigung an einem Netzwerk von faserförmigen
Proteinen, das die Innenseite der Membran wie ein Spinnennetz bedeckt, in der Membran
verankert.
20 nm

Mikrotubulus
10 nm 5 nm Neurofilamente
Neurofilament Mikrofilament Mit einem Durchmesser von 10 nm besitzen Neurofilamente eine mittlere Größe zwi-
schen Mikrotubuli und Mikrofilamenten. Sie kommen in allen Körperzellen als Inter-
Abb. 2.14 Bestandteile des Cytoske- mediärfilamente vor; nur in den Neuronen bezeichnet man sie als Neurofilamente. Die
letts. Die Anordnung der Mikrotubuli, verschiedenen Bezeichnungen sollen auf geringfügige Strukturunterschiede zwischen den
Neurofilamente und Mikrofilamente ver- einzelnen Geweben hinweisen. Ein Beispiel für ein Intermediärfilament aus einem anderen
leiht dem Neuron seine charakteristische
Gewebe ist Keratin, das in gebündelter Form die Haare bildet.
Form
Von den Typen fibröser Strukturen, die wir bereits diskutiert haben, ähneln Neurofilamente
den Knochen und Ligamenten des Skeletts. Ein Neurofilament besteht aus mehreren Un-
tereinheiten (Bausteinen), die zu einer seilförmigen Struktur umeinander gewunden sind.
Jeder Strang des Seils besteht aus einzelnen langen Proteinmolekülen, was Neurofilamente
mechanisch sehr widerstandsfähig macht.

Das Axon

Bisher haben wir das Soma, die Organellen, die Membran und das Cytoskelett betrachtet.
Keine dieser Strukturen kommt jedoch nur bei Neuronen vor, sondern in allen Zellen un-
seres Körpers. Dagegen ist das Axon eine Struktur, die es nur bei Neuronen gibt und die
für die Informationsübertragung im Nervensystem über Entfernungen hinweg hochgradig
spezialisiert ist.
Das Axon beginnt in einem Bereich, den man als Axonhügel bezeichnet. Dieser verjüngt
sich und bildet so den eigentlichen ersten Abschnitt des Axons (Abb. 2.15). Das Axon
unterscheidet sich vom Soma durch zwei Besonderheiten:
1. Das raue ER erstreckt sich nicht in das Axon, und es gibt in reifen Axonen nur wenige
oder gar keine freien Ribosomen.
2. Die Proteinzusammensetzung der Axonmembran ist grundlegend anders als die der
Somamembran.
Die Grundstruktur von Neuronen 43

Diese Strukturunterschiede bedingen die jeweiligen Funktionen. Da es keine Ribosomen

Teil I
gibt, erfolgt im Axon auch keine Proteinbiosynthese. Das bedeutet, dass alle Proteine
im Axon aus dem Soma stammen müssen. Und es sind die spezifischen Proteine in der
Axonmembran, die es ermöglichen, dass das Axon als „Telefonleitung“ fungiert, die In-
formationen über große Entfernungen sendet.
Axone können von weniger als 1 mm bis über 1 m lang sein. Sie verzweigen sich häufig,
diese Verzweigungen, die man als Axonkollaterale bezeichnet, können weite Entfernun-
gen zurücklegen, um mit verschiedenen Teilen des Nervensystems zu kommunizieren.
Manchmal wendet sich ein Axon auch zurück und kommuniziert mit derselben Zelle, aus
der es hervorgeht, oder mit den Dendriten von Nachbarzellen. Diese Seitenäste der Axone
bezeichnet man als rekurrente Kollateralen.
Der Durchmesser von Axonen ist unterschiedlich groß und reicht beim Menschen von
unter 1 bis 25 m und bis zu 1 mm beim Tintenfisch. Diese Variabilität der Axongröße ist
wichtig. Wie in Kap. 4 erklärt wird, hängt die Geschwindigkeit, mit der sich ein Signal –
der Nervenimpuls – am Axon entlangbewegt, vom Durchmesser des Axons ab. Je dicker
Axonhügel
das Axon, desto schneller wird der Impuls fortgeleitet.

Die Axonterminale
Alle Axone besitzen einen Anfang (den Axonhügel), einen Mittelteil (das eigentliche
Axon) und ein Ende. Das Ende, das normalerweise wie eine gewölbte Scheibe aussieht, Axonkollaterale

bezeichnet man als Axonterminale oder Synapsenendknöpfchen (Abb. 2.16). Es ist die
Abb. 2.15 Das Axon und die Axon-
kollateralen. Das Axon wirkt als
„Telefonleitung“, um elektrische Impulse
an entfernt liegende Orte zu senden. Die
Pfeile geben die Richtung des Informati-
onsflusses an

Synapsen-
endknöpfchen

Mitochondrien
Synapse

synaptische
Vesikel

postsynaptischer Dendrit
synaptischer
Spalt
Rezeptoren

Abb. 2.16 Das Synapsenendknöpfchen und die Synapse. Axonterminalen bilden Synapsen mit
den Dendriten oder Somata anderer Neuronen. Wenn an der präsynaptischen Axonterminale ein
Nervenimpuls ankommt, werden aus den synaptischen Vesikeln Neurotransmittermoleküle in den
synaptischen Spalt freigesetzt. Die Neurotransmitter binden dann an spezifische Rezeptorproteine
und erzeugen so elektrische oder chemische Signale in der postsynaptischen Zelle
44 2 Neuronen und Gliazellen

Stelle, an der das Axon mit anderen Neuronen (oder anderen Zellen) in Kontakt tritt und
Teil I

Axon an diese Informationen überträgt. Diese Kontaktstelle bezeichnet man als Synapse. Das
Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „eng verbunden“. Manchmal
besitzen Axone viele Verzweigungen an ihren Enden, und jede Verzweigung bildet mit
Synapse Dendriten oder Zellkörpern im selben Bereich Synapsen. Diese Verzweigungen bezeich-
net man insgesamt als Endbaum. Manchmal bilden Axone auf ihrer gesamten Länge an
Dendrit aufgewölbten Bereichen Synapsen, setzen sich dann fort und enden woanders (Abb. 2.17).
Solche Aufwölbungen bezeichnet man als boutons en passant („Endknöpfchen im Vor-
Abb. 2.17 Ein bouton en passant. Ein übergehen“). Immer wenn ein Neuron mit einer anderen Zelle einen Synapsenkontakt
Axon (gelb) bildet eine Synapse auf
herstellt, bezeichnet man das als Innervation.
einem Dendriten (blau), während sie sich
kreuzen. Diese Synapse wurde aus einer Das Cytoplasma des Synapsenendknöpfchens unterscheidet sich von dem des übrigen
Serie von elektronenmikroskopischen Axons auf mehrfache Weise:
Bildern rekonstruiert. (Quelle: Dr. Se-
bastian Seung, Princeton University, und 1. Die Mikrotubuli erstrecken sich nicht in das Synapsenendknöpfchen.
Kris Krug, Pop Tech) 2. Das Synapsenendknöpfchen enthält zahlreiche kleine Membranbläschen, die man als
synaptische Vesikel bezeichnet und die einen Durchmesser von 50 nm besitzen.
3. Die innere Oberfläche der Membran, die zur Synapse zeigt, ist besonders dicht mit
Proteinen bedeckt.
4. Das Synapsenendknöpfchen enthält zahlreiche Mitochondrien, was auf einen hohen
Energiebedarf schließen lässt.

Die Synapse
Die Kap. 5 und 6 sind zwar vollständig dem Thema gewidmet, wie die Information an
der Synapse von einem Neuron auf ein anderes übertragen wird, hier soll aber schon ein
vorläufiger Überblick gegeben werden. Die Synapse besitzt zwei Seiten: präsynaptisch
und postsynaptisch (Abb. 2.16). Diese Bezeichnungen geben die normale Richtung des
Informationsflusses an, der von „prä“ nach „post“ verläuft. Die präsynaptische Seite be-
steht generell aus einem Synapsenendknöpfchen, während die postsynaptische Seite ein
Dendrit oder das Soma eines anderen Neurons sein kann. Den Raum zwischen der präsy-
naptischen und der postsynaptischen Membran bezeichnet man als synaptischen Spalt.
Die Informationsweitergabe von einem Neuron auf ein anderes an einer Synapse bezeich-
net man als synaptische Übertragung.
Bei den meisten Synapsen wird die Information, die in Form von elektrischen Impulsen
vom Axon übertragen wird, im Synapsenendknöpfchen in ein chemisches Signal umge-
wandelt, das den synaptischen Spalt überquert. An der postsynaptischen Membran wird
dieses chemische Signal wieder in ein elektrisches umgewandelt. Das chemische Signal
bezeichnet man als Neurotransmitter. Dieser wird in synaptischen Vesikeln im Synap-
senendknöpfchen gespeichert und von dort freigesetzt. Verschiedene Arten von Neuronen
verwenden unterschiedliche Neurotransmitter.
Diese Informationsumwandlung von elektrisch zu chemisch zu elektrisch ermöglicht dem
Gehirn einen großen Teil seiner Rechenleistung. Eine Abwandlung dieses Vorgangs spielt
beim Gedächtnis und beim Lernen eine Rolle. Eine Fehlfunktion der synaptischen Über-
tragung führt zu bestimmten Geistesstörungen. Die Synapse ist auch der Angriffsort für
viele Toxine und die meisten psychoaktiven Drogen und Medikamente.

Axoplasmatischer Transport
Wie bereits erwähnt, besteht ein besonderes Merkmal des Cytoplasmas von Axonen dar-
in, dass Ribosomen fehlen. Da Ribosomen die Proteinfabriken der Zelle sind, bedeutet
ihr Fehlen, dass die Proteine des Axons im Soma erzeugt und dann das Axon entlang
„abwärts“ transportiert werden müssen. Tatsächlich konnte der englische Physiologe Au-
gustus Waller im 19. Jahrhundert zeigen, dass Axone nicht erhalten bleiben, wenn man
sie vom Körper ihrer „Mutterzelle“ trennt. Den Abbau von Axonen, der eintritt, wenn sie
durchtrennt werden, bezeichnet man heute als Waller’sche Degeneration. Da dieser Vor-
gang mit bestimmten Färbemethoden nachweisbar ist, kann man mithilfe der Waller’schen
Degeneration Axonverbindungen im Gehirn verfolgen.
Die Grundstruktur von Neuronen 45

Teil I
Axon

Richtung des
anterograden
Transports

Vesikel

Kinesin

Mikrotubuli

Abb. 2.18 Ein Mechanismus für die Bewegung von Material über die Mikrotubuli des Axons.
In membranumschlossenen Vesikeln wird das Material durch die Aktivität des Proteins Kinesin vom
Soma zur Axonterminale transportiert. Kinesin wandert unter Verbrauch von ATP die Mikrotubuli
entlang

Die Waller’sche Degeneration tritt auf, weil der normale Materialfluss vom Soma zum
Synapsenendknöpfchen unterbrochen ist. Diese Bewegung von Material entlang des
Axons bezeichnet mal als axoplasmatischen Transport. Der amerikanische Neuro-
biologe Paul Weiss und seine Mitarbeiter konnten ihn in den 1940er-Jahren erstmals
nachweisen. Sie stellten fest, dass sich nach dem Abbinden eines Axons mit einem Faden
an der dem Soma zugewandten Axonseite Material ansammelt. Wenn man die Schlinge
löste, bewegte sich das angesammelte Material wieder mit einer Rate von 1–10 mm pro
Tag das Axon entlang.

Dies war eine bemerkenswerte Entdeckung, aber es war noch nicht alles. Wenn das ge-
samte Material allein durch diesen Mechanismus transportiert würde, müsste es bei den
längsten Axonen mindestens ein halbes Jahr dauern – zu lange, um hungrige Synapsen zu
versorgen. In den späten 1960er-Jahren hat man Methoden entwickelt, um Bewegungen
von Proteinmolekülen das Axon entlang zum Endknöpfchen zu beobachten. Zu diesen
Methoden gehört auch, in die Somata von Neuronen radioaktive Aminosäuren einzu-
schleusen. Zur Erinnerung: Aminosäuren sind die Bausteine von Proteinen. Die „heißen“
Aminosäuren werden zu Proteinen zusammengefügt, und das Auftreten von radioaktiven
Proteinen im Synapsenendknöpfchen wurde gemessen, um die Transportgeschwindigkeit
zu berechnen. Bernice Grafstein von der Rockefeller University entdeckte, dass dieser
46 2 Neuronen und Gliazellen
Teil I

Exkurs 2.5  Perspektive


Per Anhalter mit dem retrograden Transport unterwegs

Der schnelle anterograde Transport von Proteinen in den ruft. In ähnlicher Weise gelangt auch das Tollwutvirus über
Axonen ließ sich nachweisen, indem man radioaktive Ami- retrograden Transport durch Axone in der Haut in das Ner-
nosäuren in das Soma injizierte. Durch den Erfolg dieser vensystem. Sobald es jedoch das Soma erreicht hat, vermehrt
Methode hatte man nun die Möglichkeit, Verbindungen im sich das Virus unmittelbar in riesiger Zahl und tötet so seine
Gehirn unmittelbar zu verfolgen. Um beispielsweise zu be- neuronale Wirtszelle ab. Das Virus wird dann von anderen
stimmen, wohin die Ganglienzellen des Auges ihre Axone Neuronen im Nervensystem aufgenommen, und der Vorgang
aussenden, wurde in das Auge die radioaktive Aminosäure wiederholt sich so lange immer wieder, bis das Opfer daran
Prolin injiziert. Prolin wurde in den Somata in Proteine ein- stirbt.
gebaut, die dann in die Axonterminalen transportiert wurden.
Mithilfe einer Autoradiografie ließ sich die Radioaktivität in
den Axonterminalen lokalisieren und man konnte erkennen,
in welchem Umfang das Auge mit dem Gehirn verbunden
ist.
In der Folge entdeckten die Forscher, dass auch der retro-
HRP injizieren zwei Tage später, nach
grade Transport genutzt werden kann, um Verbindungen im dem retrograden
Gehirn zu bestimmen. Interessanterweise wird das Enzym Transport
Meerrettichperoxidase (HRP) von Synapsenendknöpfchen
leicht aufgenommen und gelangt dann über den retrograden
Transport in das Soma. Um HRP in Hirngewebeschnitten zu
lokalisieren, wird eine chemische Reaktion angewendet. Die-
ses Verfahren wird häufig angewandt, um Verbindungen im
Gehirn zu verfolgen (Abb.).
Einige Viren nutzen den retrograden Transport auch, um
Neuronen zu infizieren. So dringt beispielsweise die oral HRP-
übertragbare Form des Herpesvirus in die Axonterminale der Ablagerung
Lippen und des Mundes ein und wird dann in die zugehöri- im Gehirn
gen Zellkörper transportiert. Hier bleibt das Virus in einem
Ruhezustand, bis physischer oder emotionaler Stress auftritt. mit HRP
Dann repliziert sich das Virus und kehrt an die Nervenenden markierte
zurück, wo es einen schmerzhaften Gesichtsherpes hervor- Neuronen

schnelle axoplasmatische Transport (nicht zu verwechseln mit dem langsamen axoplas-


matischen Transport, den Weiss beschrieben hatte) mit einer Geschwindigkeit von bis zu
1000 mm pro Tag erfolgt.
Inzwischen weiß man viel darüber, wie der axoplasmatische Transport funktioniert. Das
Material wird in Vesikel eingeschlossen, die dann die Mikrotubuli des Axons entlangwan-
dern. Die „Beine“ liefert ein Protein, das man als Kinesin bezeichnet, und der Vorgang
wird durch ATP angetrieben (Abb. 2.18). Kinesin bewegt Material immer nur vom So-
ma zum Endknöpfchen. Jede Materialbewegung in dieser Richtung bezeichnet man als
anterograden Transport.
Neben dem anterograden Transport gibt es einen Mechanismus für die Bewegung von
Material im Axon „aufwärts“, also hin zum Soma. Dieser Vorgang liefert wahrschein-
lich Signale über Veränderungen des Stoffwechselbedarfs am Synapsenendknöpfchen.
Eine Bewegung in dieser Richtung, von der Terminale zum Soma, bezeichnet man als
retrograden Transport. Der molekulare Mechanismus entspricht dem des anterograden
Transports, nur stammen die „Beine“ des retrograden Transports von einem anderen Pro-
tein, dem Dynein. Sowohl der anterograde als auch der retrograde Transportmechanismus
wurden von Neurowissenschaftlern intensiv genutzt, um Verbindungen im Gehirn zu ver-
folgen (Exkurs 2.5).
Die Grundstruktur von Neuronen 47

Teil I
Abb. 2.19 Dendriten, die synaptische Signale von den Synapsenendknöpfchen empfangen.
Neuronen wurden zu grüner Fluoreszenz angeregt. Dafür verwendete man eine Methode, die die Ver-
teilung eines mit Mikrotubuli assoziierten Proteins anzeigt. Die Synapsenendknöpfchen fluoreszieren
orangerot, hier zeigt die Methode die Verteilung synaptischer Vesikel an. Die Zellkerne fluoreszieren
blau. (Quelle: Dr. Asha Bhakar, Massachusetts Institute of Technology)

Dendriten

Das Wort „Dendrit“ leitet sich aus dem griechischen Wort für „Baum“ ab, entsprechend
der Tatsache, dass diese Neuriten den Ästen eines Baumes ähneln, die vom Soma abstehen.
Die Dendriten eines einzigen Neurons in ihrer Gesamtheit nennt man Dendritenbaum,
wobei jede Verzweigung des Baumes als Dendritenast bezeichnet wird. Die große Vielfalt
an Formen und Größen von Dendritenbäumen dient dazu, die Neuronen in verschiedene
Gruppen einzuteilen.
Da Dendriten als Antennen des Neurons fungieren, sind sie mit Tausenden von Synap-
sen bedeckt (Abb. 2.19). Die Dendritenmembran unter der Synapse (die postsynaptische
Membran) enthält zahlreiche spezialisierte Proteinmoleküle, die man als Rezeptoren be-
zeichnet; sie erkennen Neurotransmitter im synaptischen Spalt.
Die Dendriten einiger Neuronen sind mit spezialisierten Strukturen bedeckt, die man
als dendritische Dornfortsätze bezeichnet und die bestimmte Arten synaptisch ankom-
mender Signale empfangen. Die Dornfortsätze sehen aus wie kleine Sandsäcke für das
Boxtraining, die an dem Dendriten hängen (Abb. 2.20). Die ungewöhnliche Morphologie
der Dornfortsätze hat seit ihrer Entdeckung durch Cajal immer das besondere Interesse
der Neurowissenschaftler geweckt. Wahrscheinlich dienen sie dazu, verschiedene bioche- Abb. 2.20 Dendritische Dornfort-
mische Reaktionen isoliert ablaufen zu lassen, die durch bestimmte synaptische Signale sätze. Dargestellt ist die Nachbildung
aktiviert werden. Die Struktur der Dornfortsätze wird durch die Art und das Ausmaß der eines Dendritenabschnitts mithilfe eines
synaptischen Aktivität beeinflusst. In Gehirnen von Personen mit kognitiven Beeinträchti- Computers, erkennbar sind die unter-
gungen hat man ungewöhnliche Veränderungen der Dornfortsätze gefunden (Exkurs 2.6). schiedlichen Formen und Größen der
Dornfortsätze. Jeder Dornfortsatz ist
Das Cytoplasma von Dendriten ähnelt größtenteils dem der Axone. Es ist angefüllt mit postsynaptisch zu einem oder zwei Syn-
Elementen des Cytoskeletts und Mitochondrien. Ein interessanter Unterschied ist, dass apsenendknöpfchen. (Harris und Stevens
in Dendriten Polyribosomen vorkommen, häufig direkt unter Dornfortsätzen (Abb. 2.21). 1989, Titelbild)
48 2 Neuronen und Gliazellen
Teil I

Exkurs 2.6  Perspektive


Geistige Behinderungen und dendritische Dornfortsätze

Der hoch entwickelte Aufbau des Dendritenbaums eines nem gehemmten Wachstum, Anomalien in der Struktur von
Neurons spiegelt gut die Komplexität seiner synaptischen Kopf, Händen und Körper), zeigen sich in den meisten Fällen
Verbindungen mit anderen Neuronen wider. Die Gehirnfunk- nur Verhaltensauffälligkeiten. Die Gehirne dieser Menschen
tion hängt stark von der genauen Verschaltung synaptischer erscheinen insgesamt normal. Wie lassen sich also die grund-
Verbindungen ab, die sich während der fetalen Entwicklung legenden kognitiven Störungen erklären? Einen wichtigen
bilden und im Kleinkindalter und in der Kindheit noch ver- Hinweis lieferten in den 1970er-Jahren die Untersuchungen
feinert werden. Daher verwundert es nicht, dass dieser hoch- von Miguel Marin-Padilla am Dartmouth College und Do-
komplexe Entwicklungsvorgang für Störungen empfindlich minick Purpura am Albert Einstein College of Medicine in
ist. Man spricht von einer geistigen Behinderung, wenn eine New York. Sie untersuchten Gehirne von geistig behinderten
Störung der Gehirnentwicklung zu unterdurchschnittlichen Kindern mithilfe der Golgi-Färbung und entdeckten deutli-
kognitiven Fähigkeiten führt, die das Verhalten im Alltag be- che Veränderungen der Dendritenstruktur. Die Dendriten der
einträchtigen. geistig behinderten Kinder besaßen viel weniger dendriti-
Die Anwendung standardisierter Tests zeigt, dass sich sche Dornfortsätze als die gesunder Kinder, außerdem waren
die Intelligenz im Bevölkerungsdurchschnitt in Form ei- die vorhandenen Dornfortsätze ungewöhnlich lang und dünn
ner Gauß’schen Glockenkurve verteilt. Vereinbarungsgemäß (Abb.). Das Ausmaß der Veränderungen an den Dornfort-
setzt man den durchschnittlichen Intelligenzquotienten (IQ) sätzen korrelierte recht gut mit dem Umfang der geistigen
bei 100 an. Etwa zwei Drittel der Gesamtbevölkerung liegen Behinderung.
innerhalb von 15 Punkten um den Durchschnittswert (eine
Standardabweichung), 95 % liegen innerhalb von 30 Punkten Dendrit aus Dendrit aus einem
(zwei Standardabweichungen). Menschen mit einem Intelli- einem gesunden geistig behinderten
genzquotienten von unter 70 betrachtet man als geistig behin- Kleinkind Kleinkind
dert, wenn die kognitive Störung die Fähigkeit beeinträchtigt,
das eigene Verhalten an die jeweiligen Lebensbedingungen
anzupassen. Das betrifft 2–3 % aller Menschen.
Eine geistige Behinderung kann viele Ursachen haben. Die
schwersten Formen hängen mit genetischen Störungen zu-
sammen. Ein Beispiel ist eine Erkrankung, die man als
Phenylketonurie bezeichnet. Die zugrunde liegende Anoma-
lie ist ein Defekt des Leberenzyms, das die in der Nahrung
enthaltene Aminosäure Phenylalanin metabolisiert. Klein-
kinder, die mit Phenylketonurie geboren wurden, zeigen eine
anormal hohe Konzentration dieser Aminosäure im Blut und
im Gehirn. Wenn die Krankheit nicht behandelt wird, ist die
Entwicklung des Gehirns gehemmt, und es kommt zu einer
gravierenden geistigen Behinderung. Ein anderes Beispiel ist
das Down-Syndrom. Es tritt dann auf, wenn der Fetus eine 10 µm
zusätzliche Kopie des Chromosoms 21 besitzt, das die nor-
male Genexpression während der Gehirnentwicklung stört. Normale und anormale Dendriten. (Purpura 1974, Abb. 2A)
Eine zweite bekannte Ursache für eine geistige Behinde-
rung sind Ereignisse während der Schwangerschaft und der Die dendritischen Dornfortsätze sind ein wichtiges Ziel für
Geburt, beispielsweise eine Infektion der Mutter mit Rö- ankommende Signale. Purpura konnte zeigen, dass die den-
teln (Rubella) oder eine Neugeborenenasphyxie (Erstickung) dritischen Dornfortsätze geistig behinderter Kindern denen
bei der Geburt. Eine dritte Ursache für eine geistige Be- des normalen menschlichen Fetus ähneln. Er nahm daher an,
hinderung ist der übermäßige Alkoholkonsum während der dass die geistige Behinderung auf ein Versagen des norma-
Schwangerschaft, das zum fetalen Alkoholismussyndrom, ei- len Aufbaus von Schaltkreisen im Gehirn zurückzuführen
ner Entwicklungsstörung bei Kindern, führt. Eine vierte ist. In den drei Jahrzehnten seit der Publikation dieser grund-
Ursache, die wahrscheinlich für die Mehrzahl der Fälle ver- legenden Arbeiten hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass
antwortlich ist, ist die umgebungsbedingte Verarmung – das die normale Entwicklung der Synapsen, einschließlich der
Fehlen einer gesunden Ernährung, der Sozialisierung und der Reifung der dendritischen Dornfortsätze, entscheidend von
sensorischen Stimulierung – während des Kleinkindalters. der Umgebung während des Kleinkindalters und der frü-
Während einige Formen der geistigen Behinderung mit klar hen Kindheit abhängt. Eine verarmte Umgebung während
erkennbaren physischen Merkmalen einhergehen (etwa ei- einer frühen „kritischen Periode“ der Entwicklung kann zu
Klassifizierung von Neuronen 49

grundlegenden Veränderungen der Schaltkreise im Gehirn sich umkehren, wenn der Eingriff früh genug erfolgt. Das

Teil I
führen. Es gibt jedoch auch gute Nachrichten: Viele der Kap. 23 beschäftigt sich näher mit der Rolle von Erfahrun-
durch Mangel verursachten Veränderungen im Gehirn lassen gen bei der Gehirnentwicklung.

Wie die Forschung gezeigt hat, kann die synaptische Signalübertragung in einigen Neu-
ronen tatsächlich eine lokal begrenzte Proteinsynthese beeinflussen. In Kap. 25 werden
wir erfahren, dass die synaptische Regulierung der Proteinbiosynthese für die Informati-
onsspeicherung im Gehirn von entscheidender Bedeutung ist.

Klassifizierung von Neuronen


Es ist unwahrscheinlich, dass wir jemals verstehen können, wie jedes der 85 Mrd. Neuro- Abb. 2.21 Postsynaptische Polyribo-
nen im Nervensystem auf seine spezifische Weise zur Gehirnfunktion beiträgt. Was wäre somen. Diese elektronenmikroskopische
jedoch, wenn es gelänge, alle Neuronen im Gehirn in eine kleine Zahl von Gruppen einzu- Aufnahme zeigt einen Dendriten (den)
teilen, und wenn innerhalb einer Gruppe alle Neuronen auf dieselbe Weise funktionierten? mit einem Cluster von Polyribosomen
Die Komplexität des Problems ließe sich dann darauf reduzieren, nur den spezifischen Bei- (Pfeil) an der Basis eines Dornfortsat-
trag jeder Gruppe herausfinden zu müssen und nicht den jeder einzelnen Zelle. Aufgrund zes (s), der einen synaptischen Kontakt
dieser Hoffnung haben Neurowissenschaftler Schemata entwickelt, um Neuronen zu kate- mit einer Axonterminale (t) unterhält.
gorisieren. (Quelle: Dr. Oswald Steward, University
of California, Irvine)

Klassifizierung aufgrund der neuronalen Struktur

Ernsthafte Bemühungen, Neuronen zu klassifizieren, begannen mit der Entwicklung der Soma
Golgi-Färbung. Diese Klassifikationsschemata, die auf der Morphologie von Dendriten,
Axonen und der Strukturen basieren, die sie innervieren, sind auch heute noch in Ge-
brauch.

Anzahl der Neuriten unipolar


Neuronen lassen sich anhand der Gesamtzahl der Neuriten (Axone und Dendriten) ein-
teilen, die sich vom Soma aus erstrecken (Abb. 2.22). Ein Neuron mit einem einzigen
Neuriten bezeichnet man als unipolar. Wenn zwei Neuriten vorhanden sind, ist die Zelle
bipolar und bei drei oder mehr multipolar. Die meisten Neuronen des Gehirns sind multi-
polar.

Dendriten
Dendritenbäume können sich bei den verschiedenen Neuronentypen stark unterscheiden.
Einige tragen so fantasievolle Bezeichnungen wie „Zellen mit zwei Blumensträußen“
oder „Leuchterzellen“. Bei anderen sind die Bezeichnungen weniger auffällig, wie et-
bipolar
wa bei den „Alpha-Zellen“. Die Systematisierung gilt häufig nur für einen bestimmten
Gehirnabschnitt. So gibt es beispielsweise in der Hirnrinde (der Struktur, die direkt unter
der Oberfläche des Großhirns liegt) zwei große Zellklassen (entsprechend ihrer äußeren
Form): die Sternzellen und die Pyramidenzellen (Abb. 2.23).
Eine andere einfache Art zur Einteilung der Neuronen ist die Unterscheidung, ob ihre
Dendriten Dornfortsätze tragen oder nicht. Zellen mit Dornfortsätzen bezeichnet man als
bedornt, die anderen als unbedornt. Diese Einteilung anhand der Dendriten kann zu
Überschneidungen führen. So sind beispielsweise in der Hirnrinde alle Pyramidenzellen
bedornt, andererseits können Sternzellen bedornt oder unbedornt sein.
multipolar
Verknüpfungen
Neuronen, die Neuriten an den sensorischen Oberflächen des Körpers besitzen, etwa in der Abb. 2.22 Einteilung der Neuronen
Haut oder in der Retina des Auges, liefern Informationen an das Nervensystem. Zellen mit aufgrund der Anzahl ihrer Neuriten
50 2 Neuronen und Gliazellen

solchen Verknüpfungen bezeichnet man als sensorische Neuronen. Andere Neuronen ha-
Teil I

ben Axone, die mit Muskeln Synapsen bilden und Bewegungen auslösen; diese bezeichnet
man als motorische Neuronen. Die meisten Neuronen des Nervensystems sind jedoch nur
mit anderen Neuronen verknüpft. Solche Neuronen werden als Interneuronen bezeichnet,
wenn sie in erster Linie kurze lokale Verbindungen unterhalten.

Axonlänge
Einige Neuronen besitzen lange Axone, die sich von einem Teil des Gehirns in einen
anderen erstrecken; diese bezeichnet man als Golgi-Typ-I-Neuronen oder Projektionsneu-
ronen. Andere Neuronen weisen kurze Axone auf, die sich nicht über die Umgebung des
Zellkörpers hinaus erstrecken; diese nennt man Golgi-Typ-II-Neuronen oder lokale Schalt-
kreisneuronen. Beispielsweise haben die Pyramidenzellen in der Hirnrinde normalerweise
lange Axone, die sich in andere Teile des Gehirns erstrecken und deshalb zu den Golgi-
Typ-I-Neuronen gehören. Im Gegensatz dazu besitzen die Sternzellen Axone, die sich
nicht über die Hirnrinde hinaus erstrecken, sodass es sich bei Sternzellen um Golgi-Typ-
II-Neuronen handelt.

Sternzelle

Klassifizierung aufgrund der Genexpression

Inzwischen ist klar, dass sich die meisten Unterschiede zwischen Neuronen letztlich auf
der Ebene der Genetik erklären lassen. Beispielsweise führen Unterschiede in der Genex-
pression dazu, dass Pyramidenzellen und Sternzellen unterschiedliche Formen entwickeln.
Sobald ein genetischer Unterschied bekannt ist, kann man diese Information verwenden,
um transgene Mäuse zu schaffen, die eine detaillierte Untersuchung von Neuronen die-
ser Klasse erlauben. Beispielsweise lässt sich ein fremdes Gen einschleusen, das für ein
fluoreszierendes Protein codiert und das unter die Kontrolle eines zelltypspezifischen Gen-
Promotors gestellt werden kann. Grün fluoreszierendes Protein (gewöhnlich als GFP
abgekürzt), das von einem in einer Qualle entdeckten Gen codiert wird, wird in der neuro-
wissenschaftlichen Forschung häufig eingesetzt. Wenn GFP mit der richtigen Wellenlänge
bestrahlt wird, fluoresziert es leuchtend grün und erlaubt ein Sichtbarmachen des Neurons,
in dem es exprimiert wird. Inzwischen werden gentechnische Methoden routinemäßig ein-
gesetzt, um die Funktionen von Neuronen in verschiedenen Kategorien festzustellen und
zu manipulieren (Exkurs 2.7).
Wir wissen schon seit einiger Zeit, dass eine wichtige Hinsicht, in der sich Neuronen un-
terscheiden, der Neurotransmitter ist, den sie verwenden. Neurotransmitterunterschiede
erwachsen aus Unterschieden in der Expression von Proteinen, die an der Transmittersyn-
these, -speicherung und -verwendung beteiligt sind. Diese genetischen Unterschiede zu
verstehen, erlaubt es, Neuronen auf der Basis ihrer Neurotransmitter zu klassifizieren. So
setzen beispielsweise die motorischen Neuronen, die willkürliche Bewegungen kontrol-
lieren, an ihren Synapsen den Neurotransmitter Acetylcholin frei. Diese Motoneuronen
werden daher ebenfalls als cholinerg klassifiziert, was darauf hinweist, dass sie die Gene
exprimieren, die die Verwendung dieses speziellen Neurotransmitters erlauben. Gruppen
von Zellen, die einen gemeinsamen Neurotransmitter verwenden, bilden die Neurotrans-
mittersysteme des Gehirns (Kap. 6 und 15).

Gliazellen
Pyramidenzelle
Wir haben in diesem Kapitel den größten Teil unserer Aufmerksamkeit den Neuronen
Abb. 2.23 Einteilung der Neuro-
gewidmet. Diese Entscheidung ist zwar aufgrund des derzeitigen Erkenntnisstandes ge-
nen aufgrund der Strukturen ihrer
Dendritenbäume. Sternzellen und
rechtfertigt, aber einige Neurowissenschaftler betrachten die Gliazellen als die „schla-
Pyramidenzellen, die sich durch die An- fenden Giganten“ der Neurowissenschaft. Tatsächlich stellen wir ständig fest, dass die
ordnung ihrer Dendriten unterscheiden, Gliazellen für die Informationsverarbeitung im Gehirn viel bedeutsamer sind, als bisher
sind zwei Typen von Neuronen, die in angenommen (Exkurs 2.8). Dennoch deuten die Befunde darauf hin, dass die Gliazellen
der Hirnrinde vorkommen vor allem durch die Unterstützung der neuronalen Prozesse zur Gehirnfunktion beitragen.
Gliazellen 51

Teil I
Exkurs 2.7  Fokus
Mit dem fantastischen Cre die neuronale Struktur und Funktion verstehen

Ein Zelltyp im Körper lässt sich von einem anderen durch sen, das aufgrund seiner gentechnischen Modifikation unter
das unverwechselbare Muster von Genen unterscheiden, die der Kontrolle desselben Promotors steht, wird dieses fremde
er als Proteine exprimiert. Ebenso lassen sich unterschied- Transgen ebenfalls nur in cholinergen Neuronen exprimiert
liche Neuronenklassen im Gehirn auf der Basis der expri- werden. Wenn das Transgen das Enzym Cre-Rekombinase
mierten Gene identifizieren. Dank moderner gentechnischer exprimiert, das ursprünglich von einem bakteriellen Virus
Methoden kann das Wissen, dass ein Gen ausschließlich stammt, können wir diese cholinergen Neuronen dazu brin-
in einem ganz bestimmten Neuronentyp exprimiert wird, gen, ihre Geheimnisse in vielfältiger Weise preiszugeben.
helfen, den Beitrag dieses Zelltyps zur Gehirnfunktion zu Lassen Sie uns näher schauen, wie das funktioniert.
klären.
Die Cre-Rekombinase erkennt kurze DNA-Sequenzen, loxP-
Als Beispiel sollen uns die Neuronen dienen, die als Einzige Stellen oder loxP-Sites genannt, die auf beiden Seiten eines
das Gen exprimieren, das das Protein Cholinacetyltransfera- anderen Gens eingefügt werden können. Man sagt, die DNA
se codiert (ChAT). ChAT ist ein Enzym, das den Neurotrans- zwischen den loxP-Sites sei „gefloxt“. Die Aufgabe der
mitter Acetylcholin synthetisiert. Es wird nur in choliner- Cre-Rekombinase besteht nun darin, das Gen zwischen den
gen Neuronen exprimiert, die Acetylcholin als Transmitter loxP-Stellen herauszuschneiden. Durch Kreuzen der „Cre-
benutzen, denn nur diese Neuronen besitzen die Transkrip- Maus“ mit der „gefloxten Maus“ kann man Mäuse züchten,
tionsfaktoren, die auf den Promotor dieses Gens einwirken. bei denen ein Gen nur in einem ganz bestimmten Neuronen-
Wenn wir in das Genom einer Maus ein Transgen einschleu- typ ausgeschaltet ist.

Cre-Rekombinase, exprimiert
loxP loxP ChAT-Promotor
Gen X nur in cholinergem Neuron

Gen, das für


DNA DNA Cre-Rekombinase codiert

Eltern X

gefloxte Maus ChAT-Cre-Maus

Gen X
nur in Cre-exprimierenden
Zellen ausgeschaltet
loxP loxP

DNA

Nachkomme

cholinergspezifische
Gen-X-Knock-out-Maus

A Um eine Maus mit einem Gen-Knock-out nur in cholinergen Neuronen zu erhalten, kreuzt man eine gefloxte Maus, bei der das interessie-
rende Gen (Gen X) von loxP-Sites flankiert wird, mit einer anderen Maus, deren Cre-Rekombinase unter der Kontrolle des ChAT-Promotors
steht. Bei den Nachkommen ist Gen X nur in den Zellen herausgeschnitten, die Cre exprimieren, nämlich in den cholinergen Neuronen
52 2 Neuronen und Gliazellen

Als einfaches Beispiel können wir fragen, wie cholinerge flankiert von loxP-Sites. Wenn wir diese Maus mit unserer
Teil I

Neuronen auf die Deletion eines anderen Gens reagieren, ChAT-Cre-Maus kreuzen, so führt dies zu Nachkommen, bei
das sie normalerweise exprimieren; wir wollen dieses Gen X denen das Transgen nur in cholinergen Neuronen exprimiert
nennen. Um diese Frage zu beantworten, kreuzen wir Mäu- wird, weil die Stoppsequenz nur in diesen Neuronen entfernt
se, bei denen das Gen X gefloxt ist (die „gefloxten Mäuse“) wurde (Abb. B).
mit unseren Mäusen, die Cre unter der Kontrolle des ChAT-
Wenn wir dieses Transgen so gestalten, dass es für ein
Promotors exprimieren (die „ChAT-Cre-Mäuse“). Bei den
fluoreszierendes Protein codiert, können wir Struktur und
Nachkommen fehlt das gefloxte Gen dann nur in denjenigen
Verbindungen dieser cholinergen Neuronen mithilfe von
Neuronen, die Cre exprimieren, das heißt nur in den choli-
Fluoreszenz sichtbar machen. Wenn wir dieses Transgen so
nergen Neuronen (Abb. A).
gestalten, dass es für ein Protein codiert, das nur dann fluo-
Wir können Cre auch dazu verwenden, neuartige Transge- resziert, wenn die Neuronen Impulse generieren, können
ne in cholinergen Neuronen zu exprimieren. Normalerweise wir die Aktivität der cholinergen Neuronen durch Messung
erfordert die Expression eines Transgens, dass wir „strom- der Lichtblitze registrieren. Wenn wir dieses Transgen so
aufwärts“ von der proteincodierenden Region zusätzlich eine gestalten, dass es für ein Protein codiert, das das Neuron
Promotorsequenz einbringen. Die Transkription des Trans- inaktiviert oder degenerieren lässt, können wir feststellen,
gens findet nicht statt, wenn zwischen diesem Promotor und wie sich die Gehirnfunktion durch Ausfall der cholinergen
der proteincodierenden Region eine Stoppsequenz einge- Neuronen verändert. Den Manipulationsmöglichkeiten cho-
fügt wird. Nun überlegen Sie sich, was passiert, wenn wir linerger Neuronen durch gentechnische Eingriffe dieser Art
eine transgene Maus mit dieser Stoppsequenz generieren, sind nur durch die Fantasie der Forschenden Grenzen gesetzt.

Cre-Rekombinase, exprimiert
loxP loxP ChAT-Promotor
Stopp nur in cholinergem Neuron

Gen, das für


ubiquitärer Promotor Transgen X DNA Cre-Rekombinase codiert

Eltern
X

lox-Stopp-lox-transgene Maus ChAT-Cre-Maus


Stoppsequenz
nur in Cre-exprimierenden
Zellen ausgeschaltet

Transgen X, exprimiert nur


in Cre-exprimierenden Zellen

DNA

Nachkomme

cholinerge-Neuronen-spezifische
transgene Maus

B Ein interessierendes Transgen (Transgen X) kann ebenfalls ausschließlich in cholinergen Neuronen exprimiert werden. Zunächst wird
eine Maus erzeugt, bei der die Expression des Transgens durch Insertion einer gefloxten Stoppsequenz zwischen einem starken ubiquitären
Promotor und der codierenden Region des Gens verhindert wird. Kreuzt man diese Maus mit der ChAT-Maus, so führt dies zu Nachkom-
men, bei denen die Stoppsequenz nur in den cholinergen Neuronen entfernt wurde, sodass das Transgen nur in diesen Neuronen exprimiert
wird
Gliazellen 53

Teil I
Exkurs 2.8  Köpfe und Ideen
Gliazellen – mehr als nur der Kitt, der die Nerven zusammenhält

Mikroelektroden machte ich Ableitungen von diesen Zellen


(dies war vor der Zeit der Patch-Clamp-Technik) und war mit
der Technik auch erfolgreich, nicht jedoch mit dem Ergeb-
nis. Die Zellen waren nicht in der Lage, Aktionspotenziale
zu generieren. Was mich jedoch verwirrte, war, dass diese
Zellen auf die Neurotransmitter GABA und Glutamat rea-
gierten. Ich hatte ein Problem.
Zur selben Zeit entwickelte Ilse Sommer, ebenfalls Dokto-
randin bei Melitta Schachner, Antikörper zur Erkennung von
Oligodendrocyten – die O1- und O4-Antikörper. Mithilfe ih-
rer Antikörper konnte ich zeigen, dass es sich bei den von
mir untersuchten Zellen um Oligodendrocyten handelte. Die-
Von Helmut Kettenmann ser Befund war natürlich nicht mehr mit dem Dogma der
Glia als passive Zellen vereinbar, und es dauerte eine Weile,
Gliazellen wurden vor über 150 Jahren von Rudolf Virchow bis allgemein akzeptiert wurde, dass Gliazellen funktionelle
entdeckt, und mit ihrem Namen sollte auch ihre Funkti- Neurotransmitterrezeptoren besitzen. Kurz darauf, im Jahre
on beschrieben sein: Glia kommt aus dem Griechischen 1982, fanden wir – zur selben Zeit wie Harold Kimelberg in
und bedeutet Kitt; als Nervenkitt sollten sie das Nervensys- Albany – heraus, dass auch Astrocyten, die zweite Gruppe
tem zusammenhalten. Sie sollten der Füllstoff des Gehirns der Makrogliazellen, im Besitz von Glutamat- und GABA-
sein. Das Interesse der Neurobiologen beschränkte sich über Rezeptoren sind. Im Laufe der nächsten Jahre konnte mei-
viele Jahre nur auf pathologische Veränderungen dieser Zel- ne Arbeitsgruppe und eine Zahl weiterer Labore zeigen, dass
len, und konzeptionell waren sie in keiner Weise in die Astrocyten und Oligodendrocyten, die Makrogliazellen des
normale Informationsverarbeitung im Zentralnervensystem zentralen Nervensystems, in der Lage sind, beinahe alle Neu-
eingebunden. Alle damaligen Konzepte über die Funktionen rotransmitterrezeptoren zu exprimieren. Damit war belegt,
des Gehirns basierten auf einem Netzwerk von Neuronen, dass Gliazellen potenziell in der Lage sind, neuronale Ak-
dessen Aktivität und Verschaltung allen Gehirnfunktionen tivität zu detektieren. Dennoch war lange nicht klar, ob diese
zugrunde lag. Rezeptoren eine funktionale Rolle bei der Signalübertragung
In den 1950er- bis 1980er-Jahren leiteten Elektrophysiolo- im Gehirn spielen oder nur ein Epiphänomen sind.
gen Aktionspotenzialmuster einzelner Neuronen mit feinen Im Folgenden etablierte sich die Gliaforschung als ein wich-
Mikroelektroden ab. Dabei fanden sie auch immer wieder tiger Zweig der Neurowissenschaften. Forschungsergebnisse
Zellen, die vollkommen passiv waren und ein sehr negatives der letzten Dekade, zu denen auch meine Arbeitsgruppe bei-
Membranpotenzial aufwiesen. Diese Zellen waren Astrocy- tragen konnte, haben bestätigt, dass Gliazellen aktive Partner
ten, die ein großes Syncytium im Cortex bildeten. Ihr passives der Neuronen sind und dass neuronale Aktivität eine Aktivi-
Verhalten schien zu bestätigen, dass Gliazellen an der Infor- tät der Gliazellen auslösen kann.
mationsverarbeitung im Nervensystem nicht beteiligt sind.
Nur ist diese Aktivität nicht in Form von Aktionspoten-
In meiner Diplom- und Doktorarbeit am Institut für Neuro- zialen, sondern über die viel langsamere Veränderung der
biologie an der Universität Heidelberg bei Melitta Schachner intrazellulären Calciumkonzentration codiert. Dies wurde
wollte ich Motoneuronen im Rückenmark charakterisieren. erst klar, als sich in den 1980er-Jahren die bildgebenden
Zuvor hatte ich in den USA elektrophysiologische Metho- Verfahren zur Messung der intrazellulären Calciumkonzen-
den gelernt, und am Ende meines einjährigen Aufenthalts tration ausbreiteten. Es mehrten sich die Hinweise darauf,
1978 bekam ich die Gelegenheit, die Arbeitsgruppe von dass Gliazellen nicht nur Signale empfangen können, son-
Phil Nelson am NIH zu besuchen. Dort hatte man disso- dern, dass sie auf vielfältige Art und Weise das neuronale
ziierte Kulturen vom Rückenmark etabliert, in denen die Netzwerk beeinflussen und maßgeblich am Prozess der In-
physiologischen Eigenschaften und die Verschaltung von formationsverarbeitung, -speicherung und -weiterleitung im
Motoneuronen beschrieben wurden. Zurück in Heidelberg Gehirn mitwirken.
begann ich 1979, mit diesen Kulturen zu arbeiten, bekam
aber von einem Gastwissenschaftler im Institut den Tipp, es Zudem deutet eine Reihe neuer Untersuchungen darauf hin,
mit Explantatkulturen zu versuchen, die sich schneller an- dass Astrocyten ein Kopplungsglied zwischen neuronaler
legen ließen. In der Tat war die Handhabung dieser Kultur Aktivität und Blutfluss sind und damit für die Interpretation
einfacher, und ich fand eine große Zahl von Zellen, die den von Daten aus funktioneller Kernspin-Bildgebung eine zen-
Motoneuronen in den dissoziierten Kulturen ähnelten. Mit trale Rolle spielen.
54 2 Neuronen und Gliazellen

In den letzten Jahren hat ein weiterer Gliazelltyp, die Mikro- beeinflussen auch den Krankheitsverlauf – sei es bei der Alz-
Teil I

gliazelle, das Interesse der Wissenschaftler geweckt. Auch heimer-Erkrankung oder bei multipler Sklerose. Inzwischen
ich habe mich nun mehr auf diesen Zelltyp fokussiert. Die- gibt es mehr Publikationen über Mikrogliazellen als über
se Zellen zeigen eine Form der Aktivierung, wann immer die anderen beiden Makrogliazellen, die Astrocyten und die
im zentralen Nervensystem eine Veränderung auftritt, das Oligodendrocyten. Heute ist es ganz klar, dass Hirnaktivi-
heißt, sie reagieren bei allen Erkrankungen des Nervensys- tät eine konzertierte Aktion von Neuronen und Gliazellen
tems. Sie reagieren aber nicht nur bei Erkrankungen, sondern ist.

Gliazellen mögen zwar von untergeordneter Bedeutung sein, aber ohne sie würde das Ge-
hirn nicht richtig funktionieren.

Astrocyten

Die häufigsten Gliazellen im Gehirn bezeichnet man als Astrocyten (Abb. 2.24). Diese
Zellen füllen die Bereiche zwischen den Neuronen aus. Der Abstand zwischen Neuronen
und Astrocyten beträgt nur 20 nm. Demzufolge beeinflussen die Astrocyten wahrschein-
lich, ob ein Neurit wachsen kann oder sich zurückzieht.
Eine wichtige Funktion der Astrocyten besteht darin, das chemische Milieu des Extrazellu-
lärraumes zu regulieren. So umhüllen Astrocyten beispielsweise die Synapsen im Gehirn
(Abb. 2.25) und begrenzen so die Ausbreitung von freigesetzten Neurotransmittermolekü-
Abb. 2.24 Ein Astrocyt. Astrocyten
füllen den größten Teil des Raumes aus,
len. Spezielle Proteine in den Membranen der Astrocyten entfernen viele Neurotransmitter
der nicht von Neuronen und Blutgefäßen aktiv aus dem synaptischen Spalt. Vor einiger Zeit hat man überraschenderweise entdeckt,
besetzt ist dass Astrocytenmembranen auch Rezeptoren für Neurotransmitter besitzen, die wie die
Rezeptoren der Neuronen im Inneren der Gliazellen elektrische und biochemische Reak-
tionen auslösen können (Exkurs 2.8). Neben der Regulation von Neurotransmittern kon-
trollieren Astrocyten auch genau die extrazelluläre Konzentration mehrerer Substanzen,
postsynaptischer die die korrekte neuronale Funktion stören können. So regulieren Astrocyten beispiels-
dendritscher
Dornfortsatz Astrocytenfortsatz weise die Konzentration von Kaliumionen in der extrazellulären Flüssigkeit.

präsynaptische
Axonterminale

Myelinisierende Gliazellen
Synapse
0,5 µm
Im Gegensatz zu den Astrocyten ist die Funktion von Oligodendrogliazellen oder
Schwann-Zellen eindeutig bekannt. Diese Gliazellen bilden Schichten von Membra-
nen, die Axone isolieren. Der Anatom Alan Peters von der Boston University, der bei
Abb. 2.25 Astrocyten hüllen Synap- der elektronenmikroskopischen Untersuchung des Nervensystems Pionierarbeit geleistet
sen ein. Die elektronenmikroskopische hat, konnte zeigen, dass sich diese als Myelin bezeichnete Umhüllung um die Axone
Aufnahme eines Dünnschnitts durch im Gehirn herumwickelt (Abb. 2.26). Da das Axon in diese spiralförmige Umhüllung
eine Synapse zeigt die präsynaptische wie ein Schwert in seine Scheide passt, umschreibt die Bezeichnung Myelinscheide sehr
Axonterminale und den postsynaptischen gut die gesamte Abdeckung. Die Scheide ist in regelmäßigen Abständen unterbrochen,
dendritischen Dornfortsatz (grün) sowie
sodass immer ein kurzer Abschnitt der Axonmembran freiliegt. Einen solchen Bereich
einen Astrocytenfortsatz (blau), der sie
umhüllt und den extrazellulären Raum bezeichnet man als Ranvier-Schnürring (Abb. 2.27).
begrenzt. (Quelle: Dr. Cagla Eroglu und In Kap. 4 werden wir erfahren, dass das Myelin dazu dient, die Weiterleitung von Ner-
Dr. Chris Risher, Duke University)
venimpulsen entlang des Axons zu beschleunigen. Oligodendroglia- und Schwann-Zellen
kommen in verschiedenen Bereichen vor und weisen auch andere Unterschiede auf. So
findet man Oligodendrogliazellen nur im Zentralnervensystem, während es Schwann-Zel-
len nur im peripheren Nervensystem gibt (außerhalb des Schädels und der Wirbelsäule).
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass eine Oligodendrogliazelle mehrere Axone mit
Myelin versorgt, während jede Schwann-Zelle nur ein einziges Axon mit Myelin umgibt.
Gliazellen 55

Andere nichtneuronale Zellen

Teil I
Selbst wenn man alle Neuronen, Astrocyten und Oligodendrogliazellen entfernt, bleiben
noch andere Zellen vom Gehirn übrig. Der Vollständigkeit halber müssen diese Zellen
hier auch erwähnt werden. Zum einen kleiden spezielle Zellen, sogenannte Ependym-
zellen, die mit Flüssigkeit gefüllten Ventrikel im Inneren des Gehirns aus. Diese Zellen
steuern auch die Zellwanderung während der Gehirnentwicklung. Zum anderen fungiert
eine Klasse von Zellen, die man als Mikroglia bezeichnet, als Phagocyten und besei-
tigt die Überreste abgestorbener oder degenerierter Neuronen und Gliazellen. In jüngerer
Zeit hat die Mikroglia viel Interesse geweckt, denn offenbar spielt sie bei der Remo-
dellierung synaptischer Verbindungen eine Rolle, indem sie diese schlucken. Wie wir in
Exkurs 2.3 gesehen haben, kann Mikroglia aus dem Blut ins Gehirn einwandern, und eine
Störung dieser Mikrogliainvasion kann die Hirnfunktion und das Verhalten beeinträchti-
gen. Und schließlich wären da auch noch die Blutgefäße des Gehirns – Arterien, Venen
und Kapillaren, die den Neuronen via Blutstrom essenzielle Nährstoffe und Sauerstoff
liefern.

Abb. 2.26 Myelinierte optische Ner-


venfasern im Querschnitt. (Quelle: Dr.
Alan Peters)

Oligodendrogliazellen

Myelin-
scheide
Axon

Cytoplasma der Ranvier-


Oligodendrogliazelle Schnürring Mitochondrium

Abb. 2.27 Eine Oligodendrogliazelle. Wie die Schwann-Zellen in den Körpernerven bilden die
Oligodendrogliazellen Myelinscheiden um die Axone im Gehirn und im Rückenmark. Die Myelin-
scheide eines Axons ist durch die Ranvier-Schnürringe in regelmäßigen Abständen unterbrochen
56 2 Neuronen und Gliazellen
Teil I

Abschließende Bemerkungen
Wenn man die strukturellen Besonderheiten untersucht, erhält man Einblicke in die Funk-
tionsweise der Neuronen und ihrer verschiedenen Bestandteile, da die Struktur mit der
Funktion korreliert. So deutet beispielsweise das Fehlen von Ribosomen im Axon darauf
hin, dass die Proteine des Synapsenendknöpfchens vom Soma aus über den axoplasmati-
schen Transport dorthin gelangen müssen. Die große Anzahl von Mitochondrien in der
Axonterminale deutet ebenso zutreffend auf einen hohen Energiebedarf hin. Die hoch
entwickelte Struktur der Dendritenbäume ist anscheinend ideal geeignet, ankommende
Informationen zu empfangen, und tatsächlich werden hier die meisten Synapsen mit den
Axonen anderer Neuronen gebildet.
Aus der Zeit von Nissl ist bekannt, dass ein wichtiges Merkmal der Neuronen das raue
ER ist. Was sagt uns das über die Neuronen? Wir haben festgestellt, dass das raue ER
ein Syntheseort für Proteine ist, die in Membranen eingefügt werden sollen. Wir werden
nun erfahren, wie die verschiedenen Proteine in der Nervenzellmembran die einzigartige
Eigenschaft von Neuronen hervorbringen, Informationen zu übertragen, zu empfangen
und zu speichern.

Wiederholungsfragen
1. Formulieren Sie die Neuronendoktrin in einem einzigen Satz. Wem haben wir diese
Erkenntnis zu verdanken?
2. Welche Teile eines Neurons lassen sich durch eine Golgi-Färbung markieren, nicht
aber durch eine Nissl-Färbung?
3. Durch welche drei Merkmale unterscheiden sich Axone von Dendriten?
4. Welche der folgenden Strukturen sind ausschließlich für Neuronen spezifisch und wel-
che nicht: Zellkern, Mitochondrien, raues ER, synaptische Vesikel, Golgi-Apparat.
5. Über welche Schritte bewirkt die DNA im Zellkern die Synthese eines membranasso-
ziierten Proteinmoleküls?
6. Colchicin ist ein Wirkstoff, der zum Zerfall (der Depolymerisierung) der Mikrotubuli
führt. Welche Auswirkung hat diese Substanz auf den anterograden Transport? Was
geschieht im Synapsenendknöpfchen?
7. Ordnen Sie die Pyramidenzellen der Hirnrinde in die Systematik ein: (a) aufgrund der
Anzahl der Neuriten, (b) des Vorhandenseins oder Fehlens von dendritischen Dornfort-
sätzen, (c) von Verknüpfungen und (d) der Länge des Axons.
8. Das Wissen über Gene, die nur in einer bestimmten Kategorie von Neuronen exprimiert
werden, lässt sich verwenden, um zu verstehen, wie diese Neuronen funktionieren.
Nennen Sie ein Beispiel, wie man genetische Information einsetzen kann, um eine
Kategorie von Neuronen zu untersuchen.
9. Was ist Myelin? Welche Funktion hat es? Welche Zellen bilden es im Zentralnerven-
system?

Literatur
Direkt zitierte Literatur

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Die neuronale Membran im
3

Teil I
Ruhezustand

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Das chemische Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Die Bewegung von Ionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Ionen als Grundlage des Ruhepotenzials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

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60 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand

Einführung
Teil I

Betrachten wir das Problem, mit dem das Nervensystem konfrontiert wird, wenn man auf
eine Reißzwecke tritt. Die Reaktionen erfolgen automatisch. Man schreit vor Schmerz auf,
während man den Fuß ruckartig nach oben zieht. Damit diese einfache Reaktion erfolgen
kann, muss die Verletzung der Haut durch die Reißzwecke in Nervensignale übersetzt wer-
den, die sich schnell und zuverlässig in den langen sensorischen Nerven des Beins nach
oben bewegen. Im Rückenmark werden diese Signale auf Interneuronen übertragen. Eini-
ge dieser Neuronen sind mit Bereichen im Gehirn verbunden, die die Signale als Schmerz
interpretieren. Andere sind mit den motorischen Neuronen verbunden, welche die Bein-
muskeln kontrollieren, die den Fuß zurückziehen. Selbst dieser einfache Reflex, wie er in
Abb. 3.1 dargestellt ist, erfordert, dass das Nervensystem Informationen sammelt, verteilt
und integriert. Ein Ziel der zellulären Neurophysiologie besteht darin, die biologischen
Mechanismen zu erforschen, die diesen Funktionen zugrunde liegen.
Das Neuron löst die Aufgabe, Informationen über eine bestimmte Entfernung weiterzu-
leiten, mithilfe elektrischer Signale, die am Axon entlang fortgeleitet werden. In diesem
Sinne wirken Axone wie Telefonkabel. An dieser Stelle endet jedoch auch schon die Ana-
logie, da die Art des Signals, das ein Neuron verwendet, durch die Bedingungen in der
speziellen Umgebung des Nervensystems bestimmt wird. In einem Telefonkabel aus Kup-
fer können die Informationen mit hoher Geschwindigkeit über lange Strecken übertragen
werden (etwa mit der halben Lichtgeschwindigkeit), da ein Telefonkabel ein ausgezeich-
neter Leiter für Elektronen ist und eine gute Isolierung aufweist. Elektronen bewegen sich
deshalb in dem Kabel und streben nicht in alle Richtungen davon. Im Gegensatz dazu
tragen im Cytosol des Axons anstelle von freien Elektronen elektrisch geladene Atome

zum Gehirn

Rücken-
mark
3

Zellkörper des
motorischen
Neurons
Zellkörper des
sensorischen Neurons
4

1
2

Axon des
sensorischen Neurons
Axon des
motorischen Neurons

Abb. 3.1 Ein einfacher Reflex. ➀ Ein Mensch tritt auf eine Reißzwecke. ➁ Die Verletzung der Haut wird in Signale umgesetzt, die entlang
sensorischer Nervenfasern zum ZNS wandern (die Richtung des Informationsflusses ist durch Pfeile angegeben). ➂ Im Rückenmark wird die
Information auf Interneuronen verteilt. Von einigen dieser Neuronen führen Axone ins Gehirn, wo die Schmerzempfindung wahrgenommen wird.
Andere bilden Synapsen mit motorischen Neuronen, die absteigende Signale in die Muskeln senden. ➃ Die motorischen Befehle führen zur
Muskelkontraktion und zum Zurückziehen des Fußes
Das chemische Milieu 61

(Ionen) die Ladung. Dadurch ist das Cytosol wesentlich weniger leitfähig als ein Kupfer-

Teil I
draht. Außerdem ist das Axon nicht besonders gut isoliert, und es liegt in einer salzigen
extrazellulären Flüssigkeit mit hoher elektrischer Leitfähigkeit. Genauso wie also Was-
ser aus einem löcherigen Gartenschlauch herausfließt, würde auch elektrischer Strom, der
passiv ein Axon entlangfließt, nicht sehr weit kommen und sich irgendwo verteilen.
Glücklicherweise besitzt die Axonmembran Eigenschaften, die es ihr ermöglichen, eine
bestimmte Art von Signalen zu übertragen – den Nervenimpuls oder das Aktionspoten-
zial –, die diese biologischen Beschränkungen überwindet. Wie wir gleich sehen werden,
bezieht sich der Begriff „Potenzial“ auf die Trennung von elektrischen Ladungen über der
Membran. Im Gegensatz zu passiv weitergeleiteten Signalen nehmen Aktionspotenziale
mit der Entfernung nicht ab; sie sind Signale mit einer festgelegten Stärke und Dauer.
Die Information wird durch die Frequenz und das zeitliche Muster der Aktionspotenzia-
le an den einzelnen Neuronen codiert, ferner durch die Verteilung und die Anzahl der
Neuronen, die in einem bestimmten Nerv Aktionspotenziale „abfeuern“. Diese Art von
Codierung ist teilweise analog zum Morsecode, der über eine Telegrafenleitung gesendet
wird: Die Information wird durch ein Muster von elektrischen Impulsen codiert. Zellen,
die Aktionspotenziale erzeugen und weiterleiten können und zu denen sowohl Nerven- als
auch Muskelzellen gehören, besitzen eine sogenannte erregbare Membran. Die „Aktion“
erfolgt beim Aktionspotenzial an der Zellmembran.
Wenn eine Zelle mit einer erregbaren Membran keine Impulse erzeugt, befindet sie sich
„im Ruhezustand“. In einem ruhenden Neuron weist das Cytosol entlang der inneren
Membranoberfläche im Verhältnis zur Außenseite eine negative elektrische Ladung auf.
Diesen Ladungsunterschied bezeichnet man als Ruhepotenzial. Das Aktionspotenzial ist
einfach eine kurze Umkehrung dieses Zustands, und einen Augenblick lang – etwa eine
Tausendstelsekunde – wird die Innenseite der Membran im Verhältnis zur Außenseite po-
sitiv geladen. Um also zu verstehen, wie sich Neuronen untereinander Signale zusenden,
muss man herausfinden, wie die Nervenzellmembran im Ruhezustand die elektrischen
Ladungen trennt, wie die elektrische Ladung beim Aktionspotenzial quer zur Membran
schnell umverteilt werden kann und wie der Impuls zuverlässig entlang dem Axon fortge-
leitet werden kann.
In diesem Kapitel beschäftigen wir uns bei der Untersuchung der neuronalen Signalüber-
tragung zuerst mit der Frage, wie es zum Ruhepotenzial an der Membran kommt. Es ist
sehr wichtig, das Ruhepotenzial verstanden zu haben, da es die Grundlage für die übri-
ge Neurophysiologie bildet. Die Kenntnis dieser basalen physiologischen Mechanismen
ist von zentraler Bedeutung, um die Fähigkeiten und Grenzen der Gehirnfunktion zu er-
fassen.

Das chemische Milieu


Bei der Besprechung des Ruhepotenzials wollen wir uns am Anfang mit den drei wich-
tigsten Komponenten beschäftigen: den salzigen Flüssigkeiten auf beiden Seiten der Mem-
bran, der Membran selbst und den Proteinen, die die Membran durchziehen. Jeder dieser
Bestandteile besitzt spezifische Eigenschaften, die zum Entstehen des Ruhepotenzials bei-
tragen.

Cytosol und Extrazellulärflüssigkeit

Wasser ist der Hauptbestandteil der Flüssigkeit im Inneren des Neurons – der intrazel-
lulären Flüssigkeit beziehungsweise des Cytosols – und der Flüssigkeit, die das Neuron
umgibt – der extrazellulären Flüssigkeit. In diesem Wasser sind elektrisch geladene Ato-
me – Ionen – gelöst, die für das Ruhepotenzial und die Aktionspotenziale verantwortlich
sind.
62 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand

a H2O = O = +

+
Teil I

H H
b – +
–+



+

+
+

+

Na+ Cl–
+


+
+ + +
+ –

+
+ – –

+
+

– +
– +

+ –

+
– +

+
+
+ +

+
+ –

+
– +
+
+ –
– + – +
+ – + + – – +
+
+ +
+ +

– +
+ –

+ –
+
+

+
Na+

+
– +

+
– +

– +
Cl– +

+

+ + + –
Na+
+

+

+ –
Cl– +

+ –+
– +
Na+
+ +

+

– +
– +
+

+ –
+

NaCl-Kristall Na+ und Cl–
in Wasser gelöst

Abb. 3.2 Wasser ist ein polares Lösungsmittel. a Verschiedene Darstellungen der atomaren Struk-
tur des Wassermoleküls. Das Sauerstoffatom hat eine negative, die Wasserstoffatome haben eine
positive elektrische Nettoladung, sodass Wasser ein polares Molekül ist. b Ein Natriumchloridkris-
tall (NaCl) löst sich in Wasser, da die polaren Wassermoleküle die Natrium- und Chloridionen stärker
anziehen als die Ionen sich untereinander

Wasser
Für unsere Betrachtung besteht die wichtigste Eigenschaft des Wassermoleküls (H2 O) dar-
in, dass es eine ungleichmäßige Verteilung der elektrischen Ladung aufweist (Abb. 3.2a).
Die beiden Wasserstoffatome und das Sauerstoffatom sind kovalent miteinander verbun-
den, das heißt, sie haben gemeinsame Elektronen. Das Sauerstoffatom hat jedoch eine
größere Affinität für Elektronen als ein Wasserstoffatom. Das führt dazu, dass die gemein-
samen Elektronen mehr Zeit in Assoziation mit dem Sauerstoffatom verbringen als mit
den Wasserstoffatomen. Darum nimmt das Sauerstoffatom eine negative Ladung an (da
es zusätzliche Elektronen besitzt), und die Wasserstoffatome erhalten eine positive Net-
toladung. Deshalb bezeichnet man H2 O als polares Molekül, das von polaren kovalenten
Bindungen zusammengehalten wird. Diese elektrische Polarität macht H2 O zu einem sehr
wirksamen Lösungsmittel für andere geladene oder polare Moleküle, das heißt, andere
polare Moleküle haben das Bestreben, sich in Wasser zu lösen.

Ionen
Atome oder Moleküle mit einer elektrischen Ladung bezeichnet man als Ionen. Koch-
salz ist ein Kristall aus Natrium(NaC )- und Chlorid(Cl )-Ionen, die durch die elektrische
Anziehungskraft zwischen entgegengesetzt geladenen Ionen zusammengehalten werden.
Diese Anziehungskraft bezeichnet man als ionische Bindung. Kochsalz löst sich in Wasser
leicht auf, da die geladenen Teile des Wassermoleküls eine stärkere Anziehungskraft für
die Ionen besitzen als die Ionen untereinander (Abb. 3.2b). Jedes Ion, das sich vom Kris-
tall ablöst, wird von einer Kugel aus Wassermolekülen umgeben. Jedes positiv geladene
Ion (in diesem Fall NaC ) wird von Wassermolekülen umgeben, die so ausgerichtet sind,
dass das Sauerstoffatom (der negative Pol) zum Ion zeigt. Entsprechend wird jedes negativ
geladene Ion (Cl ) von den Wasserstoffatomen der Wassermoleküle umgeben. Die Was-
sermoleküle, die jedes Ion umgeben, bezeichnet man als Hydrathülle, und sie isolieren die
Ionen wirksam voneinander.
Das chemische Milieu 63

Die elektrische Ladung eines Atoms hängt von der Differenz zwischen der Anzahl der Pro-

Teil I
tonen und der Elektronen ab. Wenn diese Differenz 1 beträgt, bezeichnet man das Ion als
einwertig, bei einer Differenz von 2 ist das Ion zweiwertig und so weiter. Ionen mit einer
positiven Nettoladung bezeichnet man als Kationen, Ionen mit einer negativen Nettola-
dung als Anionen. Zur Erinnerung: Ionen sind die hauptsächlichen Ladungsträger, die der
Weiterleitung von elektrischer Energie in biologischen Systemen dienen, etwa im Neuron.
Die Ionen mit einer gewissen Bedeutung für die zelluläre Neurophysiologie sind die ein-
wertigen Kationen NaC (Natriumion) und KC (Kaliumion), das zweiwertige Kation Ca2C
(Calciumion) und das einwertige Anion Cl (Chloridion).

Die Phospholipidmembran

Wir haben erfahren, dass sich Substanzen mit einer unausgeglichenen elektrischen Ladung
aufgrund der Polarität des Wassermoleküls in Wasser lösen. Diese Substanzen, zu denen
Ionen und polare Moleküle gehören, bezeichnet man als „wasserliebend“ oder hydrophil.
Verbindungen, deren Atome durch unpolare kovalente Bindungen miteinander verknüpft
sind, sind nicht dazu in der Lage, mit Wasser chemische Wechselwirkungen einzugehen.
Eine unpolare kovalente Bindung entsteht, wenn sich die gemeinsamen Elektronen gleich-
mäßig im Molekül verteilen, sodass kein Bereich eine elektrische Nettoladung erhält.
Solche Verbindungen lösen sich nicht in Wasser und man bezeichnet sie als „wassermei-
dend“ oder hydrophob. Ein bekanntes Beispiel für eine hydrophobe Substanz ist Olivenöl,
und wie Sie wissen, lassen sich Öl und Wasser nicht mischen. Ein anderes Beispiel sind
Lipide, eine Gruppe von wasserunlöslichen biologischen Molekülen, die für die Struk-
tur von Zellmembranen wichtig sind. Die Lipide der Nervenzellmembran tragen dadurch
zum Ruhe- und zum Aktionspotenzial bei, dass sie zwischen wasserlöslichen Ionen und
tatsächlich dem Wasser selbst eine Barriere bilden.

Die Phospholipiddoppelschicht
Die wichtigsten chemischen Bausteine der Zellmembranen sind die Phospholipide. Wie
andere Lipide auch enthalten Phospholipide lange, unpolare Ketten aus Kohlenstoff-
atomen, die mit Wasserstoffatomen verbunden sind. Darüber hinaus enthält jedoch ein
Phospholipid an einem Ende des Moleküls eine polare Phosphatgruppe (ein Phosphor-
atom, das mit drei Sauerstoffatomen verknüpft ist). Phospholipide besitzen also einen
polaren „Kopf“ (mit dem Phosphat), der hydrophil ist, und einem unpolaren „Schwanz“
(aus Kohlenwasserstoff), der hydrophob ist.
Die Nervenzellmembran besteht aus einer zwei Moleküle breiten Schicht aus Phospholi-
piden. Ein Querschnitt durch die Membran (Abb. 3.3) zeigt, dass die hydrophilen Köpfe
an die äußere und innere wässrige Umgebung grenzen und die hydrophoben Schwänze
einander zugewandt sind. Diese stabile Anordnung bezeichnet man als Phospholipid-
doppelschicht, und sie isoliert das Cytosol des Neurons wirksam von der extrazellulären
Flüssigkeit.

Proteine

Durch die Art und die Verteilung der Proteinmoleküle unterscheiden sich Neuronen von
anderen Zelltypen. Die Enzyme, die im Neuron chemische Reaktionen katalysieren, das
Cytoskelett, das einem Neuron seine besondere Form gibt, die Rezeptoren, die auf Neu-
rotransmitter reagieren – sie alle bestehen aus Proteinmolekülen. Das Ruhe- und das
Aktionspotenzial beruhen auf speziellen Proteinen, die die Phospholipiddoppelschicht
durchspannen. Diese Proteine ermöglichen es den Ionen, die Nervenzellmembran zu
durchqueren.
64 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand
Teil I

polarer „Kopf“ mit


Phosphatgruppe

unpolarer „Schwanz“
aus Kohlenwasserstoff

Außenseite der Zelle

Phospholipid-
doppelschicht

Innenseite der Zelle

Abb. 3.3 Phospholipiddoppelschicht. Die Phospholipiddoppelschicht ist der Kernbereich der Nervenzellmembran und bildet für wasserlösliche
Ionen eine Barriere

Proteinstruktur
Um ihre zahlreichen Funktionen im Neuron erfüllen zu können, besitzen die verschiede-
nen Proteine sehr unterschiedliche Formen, Größen und chemische Merkmale. Um diese
Vielfalt zu verstehen, wollen wir uns kurz mit der Proteinstruktur beschäftigen.
Wie in Kap. 2 erwähnt, sind Proteine Moleküle, die aus zahlreichen Kombinationen
von 20 verschiedenen Aminosäuren zusammengesetzt sind. Die Grundstruktur einer
Aminosäure ist in Abb. 3.4a dargestellt. Alle Aminosäuren besitzen ein zentrales Koh-
lenstoffatom (˛-Kohlenstoff), das mit vier Molekülgruppen kovalent verknüpft ist: einem
Wasserstoffatom, einer Aminogruppe (NHC 
3 ), einer Carboxylgruppe (COO ) und einer
variablen Gruppe, die man als R-Gruppe (R für Rest) bezeichnet. Die Unterschiede zwi-
schen den Aminosäuren entstehen durch die unterschiedlichen Größen und Eigenschaften
dieser R-Gruppen (Abb. 3.4b). Die Eigenschaften der R-Gruppe legen die chemischen
Beziehungen fest, an denen jede Aminosäure beteiligt sein kann.
Proteine werden an den Ribosomen im Zellkörper der Neuronen synthetisiert. Bei diesem
Vorgang werden die Aminosäuren zu einer Kette zusammengefügt, wobei die Aminosäu-
ren untereinander durch Peptidbindungen verknüpft werden. Es wird immer die Ami-
nogruppe einer Aminosäure mit der Carboxylgruppe der vorigen Aminosäure verbunden
(Abb. 3.5a). Proteine, die aus einer einzigen Kette von Aminosäuren bestehen, bezeichnet
man auch als Polypeptide (Abb. 3.5b).
In Abb. 3.6 sind die vier Ebenen der Proteinstruktur dargestellt. Die Primärstruktur ist
eine Kette, in der die Aminosäuren durch Peptidbindungen verknüpft sind. Wenn jedoch
ein Proteinmolekül synthetisiert wird, kann die Polypeptidkette eine spiralförmige Konfi-
Das chemische Milieu 65

Teil I
H
+
H3N C COO–

b
Aminosäuren mit stark hydrophoben R-Gruppen:

H H H H H
+ + + + +
H3N C COO– H3N C COO– H3N C COO– H3N C COO– H3N C COO–
CH CH2 H C CH3 CH2 CH2
H3C CH3 CH CH2 CH2
H3C CH3 CH3 S
CH3

Valin Leucin Isoleucin Phenylalanin Methionin


(Val oder V) (Leu oder L) (Ile oder I) (Phe oder F) (Met oder M)

Aminosäuren mit stark hydrophilen R-Gruppen:

H H H H H H H
+ + + + + + +
H3N C COO– H3N C COO– H3N C COO– H3N C COO– H 3N C COO– H3N C COO– H3N C COO–
CH2 CH2 CH2 CH2 CH2 CH2 CH2
+
COO– CH2 C CH2 CH2 CH2 C N H
H2N O C CH2 CH2 CH
COO–
H2N O CH2 NH C N+
+
+ H H
NH3 C N H2
NH2

Asparaginsäure Glutaminsäure Asparagin Glutamin Lysin Arginin Histidin


(Asp oder D) (Glu oder E) (Asn oder N) (Gln oder Q) (Lys oder K) (Arg oder R) (His oder H)

Andere Aminosäuren:

H H H H H H H H
+ + + + + + +
H3N C COO– H3N C COO– H3N C COO– H3N C COO– H 3N C COO– H3N C COO– HN C COO– H3N C COO–
H CH3 CH2 CH2OH H C OH CH2 H2C CH2 CH2
SH CH3 CH2 C CH

NH

OH

Glycin Alanin Cystein Serin Threonin Tyrosin Prolin Tryptophan


(Gly oder G) (Ala oder A) (Cys oder C) (Ser oder S) (Thr oder T) (Tyr oder Y) (Pro oder P) (Trp oder W)

Abb. 3.4 Aminosäuren, die Bausteine der Proteine. a Alle Aminosäuren besitzen übereinstimmend ein zentrales ˛-Kohlenstoffatom, eine
Aminogruppe (NHC 
3 ) und eine Carboxylgruppe (COO ). Aminosäuren unterscheiden sich voneinander durch eine variable R-Gruppe. b Die
20 Aminosäuren, die die Neuronen für die Proteinsynthese verwenden. Die für die verschiedenen Aminosäuren verwendeten üblichen Abkürzun-
gen sind in Klammern angegeben

guration annehmen, die man als Alpha-Helix bezeichnet. Die Alpha-Helix ist ein Beispiel
für die sogenannte Sekundärstruktur eines Proteinmoleküls. Wechselwirkungen zwischen
den R-Gruppen können dazu führen, dass sich die dreidimensionale Struktur des Moleküls
noch weiter verändert. Auf diese Weise können sich Proteine biegen, falten und eine globu-
läre Form annehmen. Diese Form bezeichnet man als Tertiärstruktur. Schließlich können
verschiedene Polypeptidketten aneinander binden und so ein größeres Molekül bilden.
66 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand

a Peptidbindung b
Teil I

H R2 H R2 H R4
+ +
H3N C C N C COO– H3N C C N C C N C C N C COO–

R1 O H R1 O H H O H R3 O H H

Abb. 3.5 Die Peptidbindung und ein Polypeptid. a Peptidbindungen verknüpfen Aminosäuren miteinander. Die Bindung bildet sich
zwischen der Carboxylgruppe der einen Aminosäure und der Aminogruppe der nächsten Aminosäure. b Ein Polypeptid ist eine einzelne
Kette von Aminosäuren

Ein solches Protein besitzt eine sogenannte Quartärstruktur. Jedes dieser verschiedenen
Polypeptide, die an einem Protein mit Quartärstruktur beteiligt sind, bezeichnet man als
Untereinheit.

Kanalproteine
Die nach außen zeigende Oberfläche eines Proteins kann chemisch heterogen sein. Be-
reiche, in denen unpolare R-Gruppen nach außen zeigen, sind hydrophob und neigen
dazu, leicht mit Lipiden zu assoziieren. Bereiche mit exponierten polaren R-Gruppen
sind hydrophil und neigen dazu, eine Lipidumgebung zu meiden. Deshalb ist es nicht
schwer, sich Klassen von stäbchenförmigen Proteinen vorzustellen, an deren beiden En-
den polare Gruppen nach außen zeigen, während sich an der Oberfläche im mittleren
Bereich nur hydrophobe Gruppen befinden. Diese Art von Protein könnte in eine Phos-
pholipiddoppelschicht eingelagert sein, wobei sich der hydrophobe Anteil im Inneren der
Membran befindet und die hydrophilen Enden an beiden Seiten in die wässrige Umgebung
ragen.

Ionenkanäle bestehen aus genau dieser Art von membrandurchspannenden Proteinmole-


külen. Normalerweise sind für einen funktionsfähigen Kanal quer durch die Membran vier
bis fünf ähnliche Proteine erforderlich, die sich so zusammenlagern, dass sich zwischen
ihnen eine Pore bildet (Abb. 3.7). Die Kombination der Untereinheiten ist bei den ver-
schiedenen Kanaltypen unterschiedlich, wodurch ihre jeweiligen Eigenschaften festgelegt
werden. Eine wichtige Eigenschaft der meisten Ionenkanäle ist die Ionenselektivität. Sie
wird durch den Durchmesser der Pore und die Eigenschaften der R-Gruppen bestimmt, die
die Pore auskleiden. Kaliumkanäle sind selektiv für KC durchlässig. Entsprechend sind
Natriumkanäle ausschließlich für NaC , Calciumkanäle für Ca2C permeabel und so wei-
ter. Eine weitere wichtige Eigenschaft vieler Kanäle ist die „Steuerung“ (das „Gating“).
Kanäle mit dieser Eigenschaft können durch Veränderungen in der lokalen Mikroumge-
bung der Membran geöffnet oder geschlossen – also gesteuert – werden.

Beim Durcharbeiten des Buches werden Sie noch viel mehr über Kanäle erfahren. Wenn
Sie die Ionenkanäle in der Nervenzellmembran verstanden haben, besitzen Sie den Schlüs-
sel, um die zelluläre Neurophysiologie zu verstehen.

Ionenpumpen
Neben den Membranproteinen, die Kanäle bilden, finden sich auch andere membrandurch-
spannende Proteine zusammen und bilden Ionenpumpen. In Kap. 2 haben wir erfahren,
dass ATP die Energiewährung der Zellen ist. Ionenpumpen sind Enzyme, welche die Ener-
gie nutzen, die durch den Abbau von ATP entsteht, um bestimmte Ionen quer durch die
Membran zu transportieren. Wir werden feststellen, dass diese Pumpen bei der neurona-
len Signalübertragung eine entscheidende Rolle spielen, indem sie NaC und Ca2C vom
Inneren des Neurons nach außen pumpen.
Das chemische Milieu 67

a Aminosäuren

Teil I
c

Serin

Serin

Leucin

Untereinheiten
Alpha-Helix

Abb. 3.6 Proteinstruktur. a Primärstruktur: die Sequenz der Aminosäuren im Polypeptid. b Sekundärstruktur: Spiralisierung eines Polypeptids
zu einer Alpha-Helix. c Tertiärstruktur: dreidimensionale Faltung eines Polypeptids. d Quartärstruktur: verschiedene Polypeptide, die miteinander
verbunden sind und so ein größeres Protein bilden

Extrazellulärflüssigkeit

Polypeptid-
untereinheit

Cytosol Phospholipid-
doppelschicht

Abb. 3.7 Ein Ionenkanal in der Membran. Ionenkanäle bestehen aus membrandurchspannenden
Proteinen, die sich zusammenfügen und eine Pore bilden. In diesem Beispiel besitzt das Kanalprotein
fünf Polypeptiduntereinheiten. Jede Untereinheit enthält eine hydrophobe Oberflächenregion (schat-
tiert), die mit der Phospholipiddoppelschicht leicht assoziiert
68 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand

Die Bewegung von Ionen


Teil I

a
Ein Kanal quer durch eine Membran ist wie eine Brücke über einen Fluss (oder im Fall von
gesteuerten Kanälen wie eine Zugbrücke): Beide eröffnen einen Weg, von einer Seite auf
die andere zu kommen. Das Vorhandensein einer Brücke zwingt uns jedoch nicht notwen-
Na+ digerweise dazu, sie zu überqueren. Die Brücke, die wir an Werktagen im Pendelverkehr
überqueren, kann am Wochenende unbenutzt bleiben. Dasselbe lässt sich auch über Ionen-
kanäle in Membranen sagen. Das Vorhandensein eines offenen Kanals in der Membran
bedeutet nicht zwangsläufig, dass es eine Nettobewegung von Ionen quer zur Membran
Cl– gibt. Eine solche Bewegung erfordert auch, dass es äußere Kräfte gibt, die die Ionen durch
die Membran treiben. Da die Funktionsweise des Nervensystems die Bewegung von Ionen
quer zur neuronalen Membran verlangt, ist es wichtig, dass wir diese Kräfte verstehen. Die
Bewegungen von Ionen durch Kanäle werden durch zwei Faktoren beeinflusst: Diffusion
und Elektrizität.
b

Diffusion

Na+ In Wasser gelöste Ionen und Moleküle sind ständig in Bewegung. Diese temperaturab-
hängige, zufällige Bewegung führt – hinreichend lange Zeit vorausgesetzt – zu einer
gleichmäßigen Verteilung der Ionen in der gesamten Lösung. Auf diese Weise gibt es

Cl–
eine Nettobewegung von Ionen von Bereichen mit hoher Konzentration zu Bereichen mit
niedriger Konzentration; diese Bewegung bezeichnet man als Diffusion. Betrachten wir
beispielsweise einen Teelöffel voll Milch, der in eine Tasse mit heißem Tee gegeben wird.
Die Milch hat die Tendenz, sich in der Teelösung gleichmäßig auszubreiten. Wenn die
Wärmeenergie der Lösung verringert ist, etwa bei Eistee, dauert die Diffusion der Milch-
moleküle deutlich länger.
c Ionen durchqueren zwar eine Phospholipiddoppelschicht nicht direkt, aber die Diffusion
bewirkt, dass Ionen durch Kanäle in der Membran wandern. Wenn beispielsweise NaCl
in der Flüssigkeit auf einer Seite einer permeablen Membran (das heißt mit Kanälen, die
NaC und Cl passieren lassen) aufgelöst wird, so durchqueren die NaC - und Cl -Ionen die
Na+ Na+ Membran, bis sie in den Lösungen auf beiden Seiten der Membran gleichmäßig verteilt
sind (Abb. 3.8). Wie bei dem vorherigen Beispiel erfolgt die Nettobewegung vom Bereich
mit hoher Konzentration zum Bereich mit niedriger Konzentration. (Der Exkurs 3.1 enthält
eine Übersicht, wie Konzentrationen ausgedrückt werden.) Einen solchen Konzentrations-
Cl– Cl– unterschied bezeichnet man als Konzentrationsgradienten. Wir können also feststellen,
dass Ionen einen Konzentrationsgradienten entlangfließen. Um Ionen aufgrund von Diffu-
sion durch eine Membran zu treiben, muss die Membran zum einen Kanäle besitzen, die
für Ionen durchlässig sind, und zum anderen muss es einen Konzentrationsgradienten quer
zur Membran geben.
Abb. 3.8 Diffusion. a Auf der linken
Seite einer undurchlässigen Membran
wurde NaCl gelöst. Die Größen der Sym- Elektrizität
bole NaC und Cl geben die relativen
Konzentrationen dieser Ionen an. b In
die Membran werden Kanäle eingeführt, Neben der Diffusion einen Konzentrationsgradienten entlang gibt es einen anderen Me-
die den Durchtritt von NaC und Cl chanismus, in einer Lösung eine Ionenbewegung auszulösen: das Anlegen eines elektri-
zulassen. Da über die Membran ein schen Feldes, da Ionen elektrisch geladene Teilchen sind. Betrachten wir die Situation in
hoher Konzentrationsgradient besteht, Abb. 3.9, bei der von den Polen einer Batterie Drähte ausgehen und in eine Lösung gehal-
gibt es eine Nettobewegung von NaC ten werden, die gelöstes NaCl enthält. Wie bereits erwähnt, ziehen sich entgegengesetzte
und Cl aus dem Bereich mit der hohen Ladungen an, und gleiche Ladungen stoßen sich ab. Demzufolge gibt es also eine Netto-
Konzentration in den Bereich der nied- bewegung von NaC zum negativen Pol (der Kathode) und von Cl zum positiven Pol (der
rigen Konzentration, also von links nach
Anode). Die Bewegung der elektrischen Ladung bezeichnet man als elektrischen Strom.
rechts. c Wenn keine weiteren Faktoren
hinzukommen, endet die Nettobewegung Seine Stärke wird durch das Symbol I dargestellt und in Einheiten gemessen, die man mit
von NaC und Cl durch die Membran, Ampere (A) bezeichnet. Entsprechend der Übereinkunft, die Benjamin Franklin eingeführt
sobald sie auf beiden Seiten der durch- hat, wird der Strom in Richtung der Bewegung von positiver Ladung als positiv definiert.
lässigen Membran gleichmäßig verteilt In diesem Beispiel fließt also ein positiver Strom in Richtung der NaC -Bewegung von der
sind Anode zur Kathode.
Die Bewegung von Ionen 69

Teil I
Exkurs 3.1  Fokus
Mole und Molarität – ein Überblick

Konzentrationen von Substanzen werden als die Anzahl Mol pro Liter aufweist. Eine 1-millimolare Lösung (1 mM)
der Moleküle pro Liter Lösung dargestellt. Die Anzahl der enthält 0,001 mol pro Liter. Die Abkürzung für die Kon-
Moleküle drückt man normalerweise in Mol aus. Ein Mol zentration erfolgt durch die Angabe in eckigen Klammern.
sind 6;02  1023 Moleküle. Man bezeichnet eine Lösung ŒNaCl D 1 mM bedeutet also „die Konzentration von NaCl
als 1-molar (1 M), wenn sie eine Konzentration von einem ist 1-millimolar“.

Batterie

+ –

Na+ Kathode
(Kation) a
+ –
+ –
Anode Cl–
(Anion)
Na+ Na+

+ –
Abb. 3.9 Bewegung von Ionen unter dem Einfluss eines elektrischen Feldes
Cl– Cl–

Zwei wichtige Faktoren bestimmen, wie viel Strom fließt: das elektrische Potenzial und
die elektrische Leitfähigkeit. Das elektrische Potenzial, das man auch als Spannung be-
zeichnet, ist die Kraft, die auf ein geladenes Partikel ausgeübt wird, und sie resultiert kein Strom
aus dem Ladungsunterschied zwischen Anode und Kathode. Wenn sich der Unterschied
erhöht, fließt mehr Strom. Das Potenzial wird durch das Symbol V dargestellt und in b
Einheiten gemessen, die man mit Volt (V) bezeichnet. So beträgt beispielsweise die elek-
+ –
trische Potenzialdifferenz zwischen den Polen einer Autobatterie 12 V; das heißt, das
elektrische Potenzial ist an einem Pol 12 V positiver als an dem anderen.
Die elektrische Leitfähigkeit ist die relative Fähigkeit einer elektrischen Ladung, von Na+
einem Punkt zu einem anderen zu wandern. Die Leitfähigkeit wird durch das Symbol g –
dargestellt und in Einheiten gemessen, die man mit Siemens (S) bezeichnet. Die Leitfähig- +
keit hängt ab von der Anzahl der vorhandenen Partikel, die eine elektrische Ladung tragen
können, und der Leichtigkeit, mit der sich diese Partikel durch das betreffende Medium Cl–
bewegen können. Ein Begriff, der dieselbe Eigenschaft auf andere Weise bezeichnet, ist
der elektrische Widerstand, die relative Unfähigkeit einer elektrischen Ladung zu wan-
dern. Er wird durch das Symbol R dargestellt und in Einheiten gemessen, die man mit
Ohm () bezeichnet. Etwas vereinfacht kann der Widerstand als der Kehrwert der Leitfä- elektrischer Strom
higkeit aufgefasst werden (R D 1=g).
Abb. 3.10 Elektrischer Stromfluss
Es besteht ein einfacher Zusammenhang zwischen dem Potenzial V, der Leitfähigkeit g
durch eine Membran. a Wenn man
und der Strommenge I, die fließt. Diese Beziehung bezeichnet man als Ohm’sches Gesetz, quer zu einer Phospholipiddoppelschicht
das sich folgendermaßen ausdrücken lässt: I D V=R bzw. I D gV. Strom ist das Produkt eine elektrische Spannung anlegt, fließt
aus Leitfähigkeit und Potenzialdifferenz. Wenn die Leitfähigkeit gleich null ist, fließt kein noch kein elektrischer Strom, da es
Strom, selbst wenn die Potenzialdifferenz sehr groß ist. Entsprechend fließt auch kein keine Kanäle gibt, die den Durchtritt
Strom, wenn die Potenzialdifferenz gleich null ist und die Leitfähigkeit sehr groß. der Ionen von einer Seite auf die andere
zulassen; die Leitfähigkeit der Membran
Betrachten wir die Situation, die in Abb. 3.10a dargestellt ist. Hier wurde NaCl auf bei-
ist gleich null. b Wenn man in die Mem-
den Seiten einer Phospholipiddoppelschicht in derselben Konzentration gelöst. Wenn wir bran Kanäle einsetzt, können Ionen die
von zwei Polen einer Batterie auf jeder Seite einen Draht in die Lösung halten, erzeugen Membran durchqueren. In Richtung der
wir quer zur Membran eine hohe Potenzialdifferenz. Es fließt aber kein Strom, da es kei- Kationenbewegung fließt ein elektrischer
ne Kanäle gibt, die die Wanderung von NaC und Cl durch die Membran zulassen; die Strom (in diesem Beispiel von links nach
Leitfähigkeit der Membran ist gleich null. Um ein Ion elektrisch durch die Membran zu rechts)
70 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand

treiben, ist es also zum einen notwendig, dass die Membran Kanäle aufweist, die für das
Teil I

Ion durchlässig sind (um für Leitfähigkeit zu sorgen), und zum anderen muss quer zur
Membran eine elektrische Potenzialdifferenz bestehen (Abb. 3.10b).
Damit haben wir alle Komponenten zusammen. Es gibt auf jeder Seite der Nervenzell-
membran Ionen in Lösung, diese können die Membran nur über den Weg durch die Kanäle
überwinden. Die Membrankanäle können für spezifische Ionen hochselektiv sein. Die
Bewegung jedes Ions durch seinen Kanal hängt vom Konzentrationsgradienten und der
elektrischen Spannung an der Membran ab. Mithilfe dieser Kenntnisse wollen wir nun das
Ruhepotenzial betrachten.

Ionen als Grundlage des Ruhepotenzials


Das Membranpotenzial ist die Spannung an der Nervenzellmembran zu einem beliebigen
Zeitpunkt, dargestellt durch das Symbol Vm . Manchmal ist Vm „im Ruhezustand“, zu an-
deren Zeitpunkten jedoch nicht (etwa bei einem Aktionspotenzial). Vm lässt sich messen,
indem man eine Mikroelektrode in das Cytosol einführt. Eine normale Mikroelektro-
de ist ein dünnes Glasrohr mit einer besonders feinen Spitze (Durchmesser 0,5 m), das
die Membran eines Neurons mit minimaler Schädigung durchdringt. Die Elektrode ist
mit einer elektrisch leitfähigen Salzlösung gefüllt und mit einem Spannungsmessgerät
(Voltmeter) verbunden. Dieses Gerät misst die elektrische Potenzialdifferenz zwischen der
Spitze der Mikroelektrode und einem Draht außerhalb der Zelle (Abb. 3.11). Diese Me-
thode zeigt, dass die elektrische Ladung quer zur Nervenzellmembran ungleich verteilt ist.
Im Inneren des Neurons ist die Ladung im Verhältnis zur Außenseite elektrisch negativer.
Diese konstante Differenz, das Ruhepotenzial, wird aufrechterhalten, solange ein Neuron
keine Impulse erzeugt.
Das Ruhepotenzial eines normalen Neurons beträgt etwa 65 Millivolt (1 mV D 0;001 V).
Anders dargestellt, beträgt Vm für ein Neuron im Ruhezustand 65 mV. Dieses negative
Membranruhepotenzial innerhalb des Neurons ist für die Funktionsfähigkeit des Nerven-
systems zwingend erforderlich. Um das negative Membranpotenzial zu verstehen, betrach-
ten wir die verfügbaren Ionen und wie sie innerhalb und außerhalb des Neurons verteilt
sind.

Abb. 3.11 Messung des


Ruhepotenzials an der Mem-
bran. Ein Voltmeter misst die
elektrische Potenzialdifferenz Voltmeter
zwischen der Spitze einer Mi-
kroelektrode im Inneren der
Zelle und einem Draht in der
extrazellulären Flüssigkeit.
Normalerweise beträgt das Ru-
hepotenzial zwischen Innen-
Referenzelektrode
und Außenseite etwa 65 mV.
Dieses Potenzial entsteht durch
Mikroelektrode
die ungleiche Verteilung der
elektrischen Ladung quer zur
Membran (siehe Vergröße-
rung)

– +
– +
– +
– +
– +
Ionen als Grundlage des Ruhepotenzials 71

Gleichgewichtspotenziale

Teil I
Betrachten wir eine hypothetische Zelle, bei der das Innere durch eine reine Phospho-
lipidmembran ohne Kanalproteine von der Außenseite getrennt ist. Innerhalb der Zelle
befindet sich eine konzentrierte Kaliumsalzlösung mit KC und A , also einem beliebi-
gen negativ geladenen Molekül als Anion. Außerhalb der Zelle befindet sich eine Lösung
desselben Salzes, allerdings 20-fach mit Wasser verdünnt. Obwohl zwischen der Innen-
und der Außenseite der Zelle ein hoher Konzentrationsgradient besteht, findet aufgrund
der Phospholipiddoppelschicht, die keine Kanalproteine besitzt, keine Nettobewegung der
Ionen statt. Anders ausgedrückt ist Vm hier gleich 0 mV, da das Verhältnis von KC zu A
auf beiden Seiten der Membran gleich eins ist. Beide Lösungen sind elektrisch neutral
(Abb. 3.12a).

Abb. 3.12 Einstellen eines Gleichge- Innenseite Außenseite


wichts an einer selektiv permeablen der „Zelle“ der „Zelle“
Membran. a Eine undurchlässige Mem- a
bran trennt zwei Bereiche: einen mit
hoher Salzkonzentration (innen) und
einen mit niedriger Salzkonzentration
(außen). Die relativen Konzentrationen K+ K+
von Kaliumionen (KC ) und einem nicht-
permeablen Anion (A ) sind durch die
Buchstabengrößen dargestellt. b Wenn

A–
man in die Membran einen Kanal ein-
führt, der für KC selektiv permeabel ist, A–
kommt es zuerst zu einer Nettobewegung
der KC -Ionen entlang ihrem Konzentra-
tionsgradienten (von links nach rechts).
c Eine Nettoakkumulation von positi-
ver Ladung an der Außenseite und von
negativer Nettoladung an der Innenseite
verlangsamt die Bewegung der positiv b
geladenen KC -Ionen von innen nach
außen. Es stellt sich ein Gleichgewicht – +
ein, bei dem es keine Nettobewegung
von Ionen durch die Membran gibt und
zwischen den beiden Seiten eine La- K+ K+
dungsdifferenz besteht
– +

A– A–

– +

– +
– +
K+ – +
K+

– +
A– –

+
+
A–

– +
– +
72 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand

Betrachten wir nun, wie sich die Situation verändert, wenn man in die Phospholipiddop-
Teil I

pelschicht Kaliumkanäle einführt. Aufgrund der selektiven Permeabilität dieser Kanäle


könnte KC die Membran frei durchqueren, A jedoch nicht. Zuerst bestimmt die Diffusi-
on das Geschehen: KC -Ionen gelangen durch die Kanäle aus der Zelle heraus und folgen
dabei einem steilen Konzentrationsgradienten. Da jedoch A zurückbleibt, beginnt sich im
Inneren der Zelle sofort eine negative Nettoladung zu entwickeln, und quer zur Membran
baut sich eine elektrische Potenzialdifferenz auf (Abb. 3.12b). Da die negative Nettoladung
der Flüssigkeit im Inneren immer mehr zunimmt, beginnt die elektrische Kraft, positiv ge-
ladene KC -Ionen wieder in das Innere der Zelle zurückzudrücken. Wenn eine bestimmte
Potenzialdifferenz erreicht ist, gleicht die elektrische Kraft, die die KC -Ionen nach innen
drückt, genau die Diffusionskraft aus, die die Ionen nach außen bringt. So stellt sich ein
Gleichgewicht ein, bei dem die elektrische Kraft und die Diffusionskraft gleich groß und
entgegengesetzt sind, und die Nettobewegung von KC -Ionen durch die Membran hört auf
(Abb. 3.12c). Die elektrische Potenzialdifferenz, die einen Konzentrationsgradienten von
Ionen genau ins Gleichgewicht bringt, bezeichnet man als Gleichgewichtspotenzial von
Ionen oder einfacher als Gleichgewichtspotenzial. Es wird durch das Symbol EIon darge-
stellt. Bei unserem Beispiel liegt das Gleichgewichtspotenzial etwa bei 80 mV.
Das Beispiel in Abb. 3.12 zeigt, dass die Erzeugung einer konstanten elektrischen Poten-
zialdifferenz quer zu einer Membran eine relativ einfache Angelegenheit ist. Es sind nur
ein Konzentrationsgradient und eine selektive Permeabilität für Ionen erforderlich. Bevor
wir uns nun der Situation in wirklichen Neuronen zuwenden, wollen wir anhand dieses
Beispiels noch vier wichtige Aspekte verdeutlichen:
1. Große Veränderungen des Membranpotenzials werden durch kleinste Veränderungen
der Ionenkonzentrationen verursacht. In Abb. 3.12 wurden Ionenkanäle eingeführt,
und KC -Ionen flossen aus der Zelle, bis das Membranpotenzial von 0 auf 80 mV
abfiel. Wie sehr beeinflusst diese Umverteilung von Ionen die KC -Konzentration
auf den beiden Membranseiten? Kaum: Für eine Zelle mit 50 m Durchmesser, die
100 mM KC enthält, lässt sich berechnen, dass die Konzentrationsveränderung, die
notwendig ist, um die Spannung über die Membran von 0 auf 80 mV zu bringen, bei
0,00001 mM liegt. Als die Kanäle eingeführt wurden und die KC -Ionen ausströmten,
ausge- ausge- ausge- bis das Gleichgewicht erreicht war, hat sich demnach die innere KC -Konzentration
glichen glichen glichen von 100 mM zu 99,99999 mM verändert – eine Konzentrationsabnahme, die man
+,– +,– +,– vernachlässigen kann.
2. Die Nettodifferenz der elektrischen Ladung entsteht an der inneren und der äußeren
+ – + – + – + – Oberfläche der Membran. Da die Phospholipiddoppelschicht so dünn ist (weniger als
– + – + + 5 nm), können zwischen Ionen auf der einen Seite und Ionen auf der anderen Seite
+ + –
– + elektrostatische Wechselwirkungen auftreten. Die negativen Ladungen im Inneren des
+ – +
– – + – + Neurons und die positiven Ladungen außerhalb des Neurons ziehen sich in Richtung
+ Zellmembran gegenseitig an, ähnlich wie an einem warmen Sommerabend die Mücken
– + – + –
+ –
– – an die Außenseite einer Fensterscheibe gelockt werden, wenn innen das Licht einge-
+ – + – +
+ + – schaltet ist. Dementsprechend ist die negative Nettoladung im Inneren der Zelle nicht
– +
+ – + + – gleichmäßig im Cytosol verteilt, sondern an der Innenseite der Membran lokalisiert
– + +
– (Abb. 3.13). Deshalb sagt man, dass die Membran die elektrische Ladung speichert;
+ – – + – + –
diese Eigenschaft bezeichnet man als Kapazität.
– – + – + + – – 3. Die Rate des Ionenflusses durch die Membran ist zur Differenz zwischen Membran-
Cytosol extrazelluläre
potenzial und Gleichgewichtspotenzial proportional. In unserem Beispiel in Abb. 3.12
Flüssigkeit wird deutlich, dass es bei Einführung der Kanäle nur so lange zu einer Nettobewegung
Membran von KC kommt, wie sich das elektrische Membranpotenzial vom Gleichgewichtspo-
tenzial unterscheidet. Die Differenz zwischen dem tatsächlichen Membranpotenzial
Abb. 3.13 Die Verteilung der elek- und dem Gleichgewichtspotenzial (Vm  EIon ) für ein bestimmtes Ion bezeichnet man
trischen Ladung über die Membran. als elektrochemische Triebkraft. Wir werden uns damit in Kap. 4 und 5 noch ge-
Die ungleichen Ladungen innerhalb nauer befassen, wenn wir die Bewegung von Ionen durch die Membran während des
und außerhalb des Neurons lagern sich
Aktionspotenzials und der synaptischen Übertragung betrachten.
aufgrund der elektrostatischen Anzie-
hungskraft quer zu dieser sehr dünnen 4. Wenn der Konzentrationsunterschied an der Membran für ein Ion bekannt ist, lässt
Barriere entlang der Membran an. sich das Gleichgewichtspotenzial für dieses Ion berechnen. Bei unserem Beispiel in
Der größte Teil des Cytosols und der Abb. 3.12 sind wir davon ausgegangen, dass KC im Inneren der Zelle stärker kon-
extrazellulären Flüssigkeit ist jedoch zentriert ist als außerhalb. Aus dieser Vorstellung konnten wir schließen, dass das
elektrisch neutral Gleichgewichtspotenzial negativ ist, wenn die Membran für KC selektiv permeabel ist.
Ionen als Grundlage des Ruhepotenzials 73

Abb. 3.14 Ein anderes Beispiel für die Innenseite Außenseite


Entwicklung eines Gleichgewichts an

Teil I
der „Zelle“ der „Zelle“
einer selektiv permeablen Membran. a
a Eine undurchlässige Membran trennt
zwei Bereiche: einen mit hoher Salzkon-

Na+
zentration (außen) und einen mit geringer
Salzkonzentration (innen). b Bei Einfüh- Na+
ren eines Kanals in die Membran, der
für NaC selektiv permeabel ist, kommt
es zuerst zu einer Nettobewegung von

A–
NaC -Ionen den Konzentrationsgradi-
enten entlang (im Bild von rechts nach A–
links). c Eine Nettoakkumulation po-
sitiver Ladung an der Innenseite und
negativer Ladung an der Außenseite
verlangsamt die Bewegung der positiv
geladenen NaC -Ionen von außen nach in-
nen. Es stellt sich ein Gleichgewicht ein,
sodass keine Nettobewegung von Ionen b
durch die Membran mehr stattfindet und
zwischen beiden Seiten eine Ladungs- + –
differenz entsteht. In diesem Fall ist die
Innenseite der Zelle im Verhältnis zur
Außenseite positiv geladen
Na+ Na+
+ –
A– A–
+ –

+ –
+ –
Na+

Na+
+
+ –
+ –
A– + – A–
+ –
+ –

Betrachten wir ein anderes Beispiel, bei dem Natrium außerhalb der Zelle stärker kon-
zentriert ist (Abb. 3.14). Wenn die Membran Natriumkanäle enthielte, würden sich
Natriumionen den Konzentrationsgradienten entlang in die Zelle hinein bewegen. Das
Eindringen von positiv geladenen Ionen würde dazu führen, dass das Cytosol an der
inneren Oberfläche der Membran eine positive Ladung ausbildet. Das positiv geladene
Innere der Zelle würde jetzt NaC -Ionen abstoßen und sie durch ihre Kanäle zurück-
drücken. Bei einer bestimmten Potenzialdifferenz würde die elektrische Kraft, die die
NaC -Ionen nach außen bringt, diejenige Kraft genau ausgleichen, die sie nach innen
bringt. Bei diesem Beispiel wäre das Membranpotenzial im Gleichgewicht an der In-
nenseite positiv.
Die Beispiele in Abb. 3.12 und 3.14 veranschaulichen, dass man bei einem bekannten
Ionenkonzentrationsunterschied über die Membran für jedes Ion das Gleichgewichtspo-
74 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand
Teil I

Exkurs 3.2  Fokus


Die Nernst-Gleichung

Das Gleichgewichtspotenzial für ein Ion lässt sich mithilfe wie folgt vereinfachen:
der Nernst-Gleichung berechnen:
ŒKC a
RT ŒIona EK D 61;54 mV log
EIon D 2;303 log ŒKC i
zF ŒIoni ŒNaC a
ENa D 61;54 mV log
Wobei ŒNaC i
ŒCl a
EIon D Gleichgewichtspotenzial für das Ion, ECl D 61;54 mV log
ŒCl i
R D Gaskonstante,
T D absolute Temperatur, ŒCa2C a
ECa D 30;77 mV log
z D Ladung des Ions, ŒCa2C i
F D Faraday-Konstante,
log D Logarithmus zur Basis 10, Wenn wir also das Gleichgewichtspotenzial für eine be-
ŒIona D Ionenkonzentration außerhalb der Zelle, stimmte Ionenart bei Körpertemperatur berechnen wollen,
ŒIoni D Ionenkonzentration innerhalb der Zelle. müssen wir nur die Ionenkonzentration auf beiden Seiten der
Membran kennen. Für das Beispiel in Abb. 3.12 haben wir
Die Nernst-Gleichung lässt sich aus den Grundlagen der beispielsweise festgelegt, dass die KC -Konzentration im In-
physikalischen Chemie ableiten. Wir wollen das nun nach- neren der Zelle 20-fach über der Außenkonzentration liegen
vollziehen. soll:
Wie erwähnt, ist das Gleichgewicht der Ausgleich zweier ŒKC a 1
Wenn D
Effekte: Diffusion, die die Ionen einen Konzentrationsgra- ŒKC i 20
dienten entlang treibt, und Elektrizität, die dazu führt, dass 1
ein Ion von entgegengesetzten Ladungen angezogen und von und log D 1;3;
20
gleichen Ladungen abgestoßen wird. Wenn die thermische
Energie jedes Partikels zunimmt, verstärkt sich auch die dann gilt EK D 61;54 mV  1;3
Diffusion und damit die Potenzialdifferenz, die im Gleichge- D 80 mV
wicht erreicht wird. EIon ist also proportional zu T. Anderer-
seits verringert eine Zunahme der elektrischen Ladung jedes Festzuhalten ist, dass es in der Nernst-Gleichung keinen
Partikels die Potenzialdifferenz, die erforderlich ist, um die Term für Permeabilität oder Leitfähigkeit bezüglich eines
Diffusion auszugleichen. EIon ist also umgekehrt proportio- Ions gibt. Zur Berechnung von EIon ist es also nicht erfor-
nal zur Ladung des Ions (z). Über R und F brauchen wir uns derlich, die Selektivität oder Permeabilität der Membran für
in der Nernst-Gleichung keine Gedanken zu machen, da sie das Ion zu kennen. Es gibt für jedes Ion in der intrazellulären
Konstanten sind. und extrazellulären Flüssigkeit ein Gleichgewichtspotenzial.
EIon ist das Membranpotenzial, das den Konzentrationsgradi-
Bei Körpertemperatur (37 ı C) lässt sich die Nernst-Glei- enten des Ions gerade ausgleicht, sodass kein Nettostrom von
chung für die wichtigen Ionen – KC , NaC , Cl und Ca2C – Ionen fließt, selbst wenn die Membran für sie durchlässig ist.

tenzial bestimmen kann. Durchdenken Sie nun selbst ein weiteres Beispiel. Nehmen wir
an, dass Ca2C außerhalb der Zelle höher konzentriert ist als innerhalb und dass die Mem-
bran für Ca2C selektiv permeabel ist. Versuchen Sie herauszufinden, ob das Innere der
Zelle im Gleichgewicht positiv oder negativ geladen ist. Stellen Sie eine weitere Überle-
gung an, wobei jetzt die Membran für Cl selektiv permeabel und Cl außerhalb der Zelle
höher konzentriert sein soll. (Überlegen Sie genau; beachten Sie die Ladung des Ions.)

Die Nernst-Gleichung
Die bisherigen Beispiele zeigen, dass jedes Ion sein eigenes Gleichgewichtspotenzial be-
sitzt – das konstante elektrische Potenzial, das erreicht wird, wenn die Membran nur
für dieses Ion permeabel ist. Es gibt also ein Kaliumgleichgewichtspotenzial EK , Natri-
umgleichgewichtspotenzial ENa , Calciumgleichgewichtspotenzial ECa und so weiter. Und
mithilfe der elektrischen Ladung des Ions und des Konzentrationsunterschieds quer zur
Membran können wir leicht erschließen, ob das Innere der Zelle im Gleichgewicht positiv
Ionen als Grundlage des Ruhepotenzials 75

oder negativ ist. Tatsächlich kann man sogar den genauen Wert eines Gleichgewichts-

Teil I
potenzials berechnen, indem man eine Gleichung anwendet, die auf den Grundaussa-
gen der physikalischen Chemie beruht – die Nernst-Gleichung, in die die Ladung des
Ions, die Temperatur und das Verhältnis zwischen äußerer und innerer Ionenkonzentration
eingeht. Mithilfe der Nernst-Gleichung können wir für jedes Ion den Wert des Gleich-
gewichtspotenzials berechnen. Wenn beispielsweise KC im Inneren der Zelle 20-mal so
hoch konzentriert ist wie außen, besagt die Nernst-Gleichung, dass EK D 80 mV (Ex-
kurs 3.2).

Konzentrationsgradienten

Jetzt sollte klar sein, dass das neuronale Membranpotenzial von der Ionenkonzentration
auf beiden Seiten der Membran abhängt. In Abb. 3.15 sind ungefähre Werte dieser Kon-
zentrationen angegeben. Wichtig ist dabei, dass die K C -Konzentration innen höher ist als
außen und die NaC - und Ca2C -Konzentration außen höher als innen.

außen
innen

Konzentration Konzentration Verhältnis EIon


Ion
außen (mM) innen (mM) außen : innen (bei 37 C)
K+ 5 100 1 : 20 –80 mV
Na+ 150 15 10 : 1 62 mV
Ca2+ 2 0,0002 10.000 : 1 123 mV
Cl– 150 13 11,5 : 1 –65 mV

Abb. 3.15 Ionenkonzentrationen auf beiden Seiten einer Nervenzellmembran. EIon ist das Mem-
branpotenzial, das sich bei Körpertemperatur einstellt, wenn die Membran für das jeweilige Ion
selektiv permeabel ist
76 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand
Teil I

Extrazellulär- Natrium-Kalium-Pumpen
flüssigkeit

Na+
Na+ K+
K+
Na+
Na+
+
K+ Na+ K
Na+

Membran

Cytosol

Abb. 3.16 Die Natrium-Kalium-Pumpe. Diese Ionenpumpe ist ein mit der Membran assoziiertes
Protein, das unter Aufwendung metabolischer Energie Ionen gegen ihren Konzentrationsgradienten
durch die Membran transportiert

Wie können diese Konzentrationsgradienten entstehen? Die Konzentrationsgradienten von


Ionen werden durch die Aktivität von Ionenpumpen in der Nervenzellmembran aufge-
baut. Für die zelluläre Neurophysiologie sind vor allem zwei Pumpen von Bedeutung: Die
Natrium-Kalium-Pumpe ist ein Enzym, das ATP bei Anwesenheit von internem NaC
abbaut. Die chemische Energie, die diese Reaktion freisetzt, treibt die Pumpe an, die NaC
aus dem Inneren der Zelle gegen externes KC austauscht. Die Aktivität dieser Pumpe stellt
sicher, dass KC im Inneren des Neurons und NaC außerhalb konzentriert wird. Zu beach-
ten ist hier, dass die Pumpe diese Ionen gegen ihren Konzentrationsgradienten durch die
Membran transportiert (Abb. 3.16). Diese Arbeit erfordert die Umsetzung von metaboli-
scher Energie. Nach einer Schätzung verbraucht die Natrium-Kalium-Pumpe etwa 70 %
der ATP-Menge, die das Gehirn benötigt.
Die Calciumpumpe ist ebenfalls ein Enzym, und sie transportiert Ca2C aus dem Cy-
tosol aktiv durch die Zellmembran aus der Zelle heraus. Zusätzliche Mechanismen ver-
ringern die Ca2C -Konzentration im Inneren der Zelle bis zu einem sehr geringen Wert
(0,0002 mM). Dazu gehören calciumbindende Proteine in der Zelle und Organellen, etwa
die Mitochondrien und Teile des endoplasmatischen Reticulums, die beide Calciumionen
aus dem Cytosol aufnehmen und anreichern.
Ionenpumpen sind die „unbesungenen Helden“ der zellulären Neurophysiologie. Sie ar-
beiten im Hintergrund und stellen sicher, dass die Konzentrationsgradienten der Ionen
aufgebaut und aufrechterhalten werden. Diesen Proteinen fehlt vielleicht die Komplexität
eines gesteuerten Ionenkanals, aber ohne Ionenpumpen gäbe es kein Ruhepotenzial der
Membran, und das Gehirn könnte nicht funktionieren.

Ionenpermeabilitäten im Ruhezustand

Die Pumpen bauen die Ionenkonzentrationsgradienten durch die Zellmembran auf. Wenn
man diese Ionenkonzentrationen kennt, kann man mithilfe der Nernst-Gleichung die
Gleichgewichtspotenziale für die verschiedenen Ionen berechnen (Abb. 3.15). Aber zur
Erinnerung: Ein Gleichgewichtspotenzial für ein Ion ist das Membranpotenzial, das ent-
steht, wenn eine Membran für das Ion selektiv permeabel ist. In der Realität sind jedoch
Neuronen nicht nur für eine einzige Art von Ion durchlässig. Wie lässt sich das mit unseren
Überlegungen vereinbaren?
Ionen als Grundlage des Ruhepotenzials 77

Teil I
Exkurs 3.3  Fokus
Die Goldman-Gleichung

Wenn die Membran eines tatsächlichen Neurons nur für PK ŒKC a C PNa ŒNaC a
KC durchlässig wäre, würde das Ruhepotenzial gleich EK Vm D 61;54 mV log
PK ŒKC i C PNa ŒNaC i
sein, also etwa 80 mV betragen. Das trifft jedoch nicht
zu. Das gemessene Ruhepotenzial eines durchschnittlichen Dabei sind Vm das Membranpotenzial, PK und PNa die rela-
Neurons liegt etwa bei 65 mV. Dieser Widerspruch lässt tiven Permeabilitäten für KC beziehungsweise NaC und die
sich dadurch erklären, dass wirkliche Neuronen im Ru- übrigen Ausdrücke so wie in der Nernst-Gleichung.
hezustand nicht ausschließlich für KC durchlässig sind, Wenn die Ionenpermeabilität der Membran für KC 40-mal so
sondern auch zu einem gewissen Maß für NaC . Anders groß ist wie für NaC , dann lässt sich die Goldman-Gleichung
ausgedrückt, ist die relative Permeabilität der ruhenden durch Einsetzen der Konzentrationen aus Abb. 3.15 auflösen:
Nervenzellmembran für KC ziemlich hoch und für NaC 40.5/ C 1.150/
niedrig. Wenn die relative Permeabilität bekannt ist, lässt Vm D 61;54 mV log
40.100/ C 1.15/
sich mithilfe der Goldman-Gleichung das Membranpoten-
zial im Gleichgewicht berechnen. Es gilt dabei für eine 350
D 61;54 log
Membran, die nur für NaC und KC permeabel ist, bei 4015
37 ı C: D 65 mV

Betrachten wir einige Situationen unter Beteiligung von KC und NaC . Wenn die Mem-
bran eines Neurons nur für KC durchlässig wäre, würde das Membranpotenzial gleich
EK sein, das nach Abb. 3.15 80 mV beträgt. Andererseits wäre das Membranpotenzial
gleich ENa D 62 mV, wenn die Membran eines Neurons nur für NaC durchlässig wäre.
Wenn die Membran für KC und NaC gleichermaßen durchlässig wäre, ergäbe sich für das
Membranpotenzial ein Durchschnittswert aus ENa und EK . Was wäre, wenn die Membran
für KC 40-mal so durchlässig wäre wie für NaC ? Auch hier läge das Membranpotenzial
zwischen ENa und EK , aber viel näher bei EK als bei ENa . Das ist annähernd die Situation
bei wirklichen Neuronen. Das Ruhepotenzial von 65 mV ist dem Ruhepotenzial von Ka-
lium mit 80 mV angenähert, kommt ihm jedoch nicht gleich. Dieser Unterschied entsteht
dadurch, dass es trotz der hohen Permeabilität für KC einen ständigen Fluss von NaC in
die Zelle gibt.
Das Ruhepotenzial der Membran lässt sich mithilfe der Goldman-Gleichung berechnen.
In diese mathematische Formel gehen die relativen Permeabilitäten der Membran für die
verschiedenen Ionen ein. Wenn wir nur KC und NaC berücksichtigen, die Konzentratio-
nen aus Abb. 3.15 verwenden und annehmen, dass die Membrandurchlässigkeit für KC im
Ruhezustand 40-mal so groß ist wie für NaC , ergibt die Goldman-Gleichung ein Ruhepo-
tenzial an der Membran von 65 mV, also den tatsächlich gemessenen Wert (Exkurs 3.3).

Die große Welt der Kaliumkanäle


Wie wir erfahren haben, ist die selektive Permeabilität der Kaliumkanäle ein entscheiden-
der Faktor für das Ruhepotenzial und deshalb für die Neuronenfunktion. Welche moleku-
lare Grundlage besitzt die Ionenselektivität? Die Selektivität für KC -Ionen entsteht durch
die Anordnung der Aminosäurereste, die die Poren der Kanäle auskleiden. Deshalb war es
1997 ein großer Durchbruch, als es Lily und Yuh Nung Jan und ihren Studenten an der Uni-
versität von Kalifornien in San Francisco gelang, die Aminosäuresequenzen einer Familie
von Kaliumkanälen zu bestimmen. Die Untersuchung wurde mit der Taufliege Drosophila
melanogaster durchgeführt. Diese Insekten sind zwar in der Küche lästig, leisten im Labor
jedoch außerordentlich gute Dienste, da sich ihre Gene auf eine Art und Weise verändern
lassen, wie es bei Säugern nicht möglich ist.
Normale Fliegen können wie Menschen durch Ätherdämpfe betäubt werden. Bei der Un-
tersuchung betäubter Fliegen entdeckten die Forscher, dass die Fliegen eines Mutanten-
stammes auf Äther mit einem Schütteln der Beine, der Flügel und des Abdomens reagier-
ten. Dieser Stamm wurde als Shaker bezeichnet. Genaue Untersuchungen zeigten bald,
78 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand

a b Shaker-
Teil I

Kaliumkanal
Extrazellulär-
Membrane
flüssigkeit

Membran

Cytosol

Porenschleife

Abb. 3.17 Die Struktur eines Kaliumkanals. a Shaker-Kaliumkanäle in der Zellmembran der Taufliege Drosophila, Aufsicht
im Elektronenmikroskop. (Li et al. 1994, Abb. 2) b Der Shaker-Kaliumkanal besteht aus vier Untereinheiten, die wie Fassdauben
angeordnet sind und so die Pore bilden. Vergrößerung: Die Tertiärstruktur der Proteinuntereinheit enthält eine Porenschleife. Dieser
Teil des Polypeptids bildet in der Ebene der Membran eine haarnadelartige Schleife. Die Porenschleife ist entscheidender Bestandteil
des Filters, der den Kanal für KC -Ionen selektiv permeabel macht

dass diesem seltsamen Verhalten ein Defekt bei einer bestimmten Art von Kaliumkanal zu-
grunde lag (Abb. 3.17a). Mittels molekularbiologischer Methoden konnte die Jan-Gruppe
das Gen kartieren, das bei Shaker mutiert war. Mithilfe der bekannten DNA-Sequenz für
das heute als Shaker-Kaliumkanal bezeichnete Protein konnte man aufgrund von Sequenz-
ähnlichkeiten die Gene für weitere Kaliumkanäle entdecken. Diese Analyse zeigte, dass
es eine sehr große Anzahl verschiedener Kaliumkanäle gibt, zu denen auch diejenigen
gehören, die für die Aufrechterhaltung des Ruhepotenzials von Neuronen verantwortlich
sind.
Die meisten Kaliumkanäle bestehen aus vier Untereinheiten, die wie Fassdauben angeord-
net sind und so die Pore bilden (Abb. 3.17b). Trotz ihrer Vielfalt besitzen die Untereinhei-
ten verschiedener Kaliumkanäle übereinstimmende Strukturmerkmale, die die Selektivität
für KC -Ionen gewährleisten. Von besonderem Interesse ist eine Region, die man als Po-
renschleife bezeichnet; diese ist Teil des Selektivitätsfilters, der den Kanal vor allem für
Kalium durchlässig macht (Abb. 3.18).
Neben den Fliegen hat auch der tödliche Skorpion einen wichtigen Beitrag zur Entde-
ckung der Porenschleife als Selektivitätsfilter geliefert. Der Biologe Chris Miller von
der Brandeis University und sein Student Roderick MacKinnon stellten 1988 fest, dass
das Skorpiongift Kaliumkanäle blockiert (und so seine Opfer vergiftet), indem es fest
an eine Stelle innerhalb der Kanalpore bindet. Sie nutzten das Toxin, um den genauen
Abschnitt der Aminosäuresequenz zu identifizieren, der die inneren Wände und den Se-
lektivitätsfilter des Kanals bildet (Exkurs 3.4). Nach Einrichtung eines eigenen Labors an
der Rockefeller University machte sich MacKinnon daran, die dreidimensionale atomare
Struktur eines Kaliumkanals aufzuklären. Das Ergebnis ließ schließlich die physikalischen
Grundlagen der Ionenselektivität erkennen und brachte MacKinnon 2003 den Nobelpreis
Ionen als Grundlage des Ruhepotenzials 79

Teil I
Abb. 3.18 Ansicht der Pore des Kaliumkanals. Die atomare Struktur von kaliumselektiven Ionen-
kanälen ließ sich inzwischen aufklären. Hier blicken wir von außen in ein dreidimensionales Modell
der atomaren Struktur der Pore. Die rote Kugel in der Mitte ist ein KC -Ion. (Doyle et al. 1998)

für Chemie. Heute weiß man, dass schon Mutationen, die nur eine einzige Aminosäure in
dieser Region betreffen, die Funktion von Neuronen empfindlich stören können. 20

Ein Beispiel hierfür lässt sich bei einem Mäusestamm mit der Bezeichnung Weaver beob-
Membranpotenzial (mV)

0
achten. Diese Tiere haben Schwierigkeiten mit der Körperhaltung und können sich nicht
–20
normal bewegen. Der Defekt ließ sich der Mutation einer einzigen Aminosäure in der Po-
renschleife eines Kaliumkanals in spezifischen Neuronen des Kleinhirns zuordnen. Diese –40
Region des Gehirns ist für die Bewegungskoordination wichtig. Als Folge der Mutation –60
können sowohl NaC - als auch KC -Ionen durch den Kanal gelangen. Eine erhöhte Natri-
umpermeabilität bewirkt, dass das Membranpotenzial des Neurons weniger negativ wird, –80
was zu einer Störung der Neuronenfunktion führt. (Man nimmt auch an, dass das Fehlen –100
1 10 100
eines normalen negativen Membranpotenzials in diesen Zellen den vorzeitigen Tod der
[K+]a (mM)
Tiere bedingt.) In jüngerer Zeit hat sich zunehmend gezeigt, dass viele erbliche neurolo-
gische Erkrankungen beim Menschen, wie etwa bestimmte Formen der Epilepsie, durch
Abb. 3.19 Die Abhängigkeit des
Mutationen in spezifischen Kaliumkanälen verursacht werden. Membranpotenzials von der äußeren
Kaliumkonzentration. Da die Nerven-
zellmembran im Ruhezustand für Kalium
Bedeutung der extrazellulären Kaliumkonzentration
am durchlässigsten ist, führt eine Verän-
Da die Zellmembran im Ruhezustand für KC am durchlässigsten ist, liegt das Membranpo- derung von ŒKC a  auf das Zehnfache von
tenzial nahe bei EK . Eine andere Folge der hohen KC -Permeabilität besteht darin, dass das 5 mM zu 50 mM zu einer Depolarisation
Membranpotenzial für Veränderungen der extrazellulären Kaliumkonzentration besonders der Membran um 48 mV. Diese Funktion
empfindlich ist. Dieser Zusammenhang ist in Abb. 3.19 dargestellt. Eine Veränderung der wurde mithilfe der Goldman-Gleichung
KC -Konzentration außerhalb der Zelle ŒKC a  auf das Zehnfache, das heißt von 5 auf 50 mM, berechnet (Exkurs 3.3)
80 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand
Teil I

Exkurs 3.4  Köpfe und Ideen


Im Inneren eines Ionenkanals im Dunkeln tappen

nicht viel mehr wusste, als dass es sich um Proteine handel-


te, ihre Aufgabe als Produzenten von Bioelektrizität erfüllen
konnten. Parallel dazu jagten mir die überwältigende Kom-
plexität lebender Zellen und die Mehrdeutigkeit der mole-
kularen Interpretation, die unausweichlich mit ausschließlich
an Zellmembranen stattfindenden Experimenten einhergehen
würde, zunehmend Schrecken ein. Diese Kombination von
Faszination und Furcht führte mich zu vereinfachten „künst-
lichen Membranen“ definierter Zusammensetzung, die von
Paul Mueller in den 1960er-Jahren entwickelt worden waren;
mit diesen Membranen konnte man die elektrischen Aktivi-
täten von Ionenkanälen untersuchen, die aus ihrer komplexen
zellulären Umgebung herausgelöst worden waren. Ich entwi-
Von Chris Miller ckelte eine Methode, um einzelne Kanalmoleküle aus erreg-
baren Zellen in diese chemisch kontrollierbaren Membranen
Für mich hat wissenschaftliches Entdecken stets eine höchst einzusetzen, und benutzte sie, um von einzelnen KC -Kanälen
spielerische Komponente. Es ist die ungezügelte Freude, mit abzuleiten; dies war zu einer Zeit, als „richtige“ Neuro-
einem Problem zu spielen, welche die Frühstadien eines je-
biologen begannen, einzelne Kanäle in echten erregbaren
den Forschungsprojekts motiviert, mit dem ich mich bisher Membranen mit der damals neuen Patch-Clamp-Methode zu
beschäftigt habe. Erst später kommen die Phasen intensiver erforschen. Ich gestehe, dass meine frühen methodenaufbau-
Arbeit und Mühen, die nötig sind, um die Rätsel, die die Na-
enden Experimente nur Spielerei waren. Zu beobachten, wie
tur uns stellt, anzugehen – und manchmal auch zu lösen. Der einzelne Proteinmoleküle elektrisch vor meinen Augen tanz-
Sandkasten, in dem ich die letzten 40 Jahre gespielt habe, ten, und sie in Echtzeit zu kontrollieren, war und ist immer
enthält die Spielsachen, die mich ganz besonders faszinie-
noch unglaublich aufregend, ganz gleich, welche Aufgaben
ren: Ionenkanäle, die membrandurchspannenden Proteine, diese Kanäle in der Zelle übernehmen.
die die elektrischen Signale der Neuronen buchstäblich er-
zeugen und das Nervensystem zum Leben erwecken. In dem
Ausmaß, wie das Gehirn ein Computer ist – eine nicht ganz
zutreffende, aber plastische Analogie –, sind die Ionenkanäle
die Transistoren. In Antwort auf biologische Diktate bilden
diese winzigen Proteinporen Diffusionswege für Ionen wie
NaC , KC , Ca2C , HC und Cl , die elektrische Ladungen durch
Skorpiongift
Membranen transportieren können und dadurch Spannungs-
signale der Zelle generieren, fortleiten und regulieren. Ich
verliebte mich schon vor langer Zeit in diese Proteine, als
ich bei Experimenten, die eigentlich auf etwas ganz ande-
res, nämlich ein Ca2C -aktiviertes Enzym, abzielten, zufällig
über einen unerwarteten KC -Kanal stolperte. Und im Laufe
der Jahre, in denen ich in dem wimmelnden elektrophy-
siologischen Zoo herumgewandert bin, der viele Arten von Öffnung des
Ionenkanalproteinen beherbergt, ist diese Liebe immer grö- Kaliumkanals 2 nm
ßer geworden.
Ich habe mich als Student mit Physik beschäftigt, dann
als High-School-Lehrer Mathematik unterrichtet und in den
1970er-Jahren an einer Graduate School studiert; anschlie- Die extrazelluläre Öffnung eines K+-Kanals mit gebundenem
ßend arbeitete ich als Postdoktorand und eröffnete schließ- Skorpiongift. In der „prästrukturellen“ Zeit indirekt vergegenwär-
tigt durch Sondieren des Kanals mit dem Toxin bekannter Struktur.
lich mein eigenes Labor an der Brandeis University; damals
Punkte, an denen es zu Wechselwirkungen kommt: Stelle am Ka-
besaß ich keine formelle Ausbildung (und ziemlich wenig nal, die mit dem Toxin Kontakt aufnimmt (dunkelblaue Kreise),
Wissen) in Neurobiologie und Elektrophysiologie. Nachdem Schlüssel-Lysinrest auf dem Toxin, der in die enge Pore eindringt
ich mir einige Kenntnisse aus der Literatur angelesen und per (hellblauer Kreis mit C), ein KC , durch Bindung des Toxins nach
Osmose aus meiner Umgebung angeeignet hatte, faszinierte unten in die Pore verlagert (gelber Kreis mit C). (Verändert nach
mich zunehmend, wie Ionenkanäle, von denen man damals Goldstein et al. 1994)
Ionen als Grundlage des Ruhepotenzials 81

Schließlich führte mich dieses Spiel zu faszinierenden Pro- lokalisierten Region in der Aminosäuresequenz des Kanals,
die den äußeren Zugang der KC -selektiven Pore bildet, ein

Teil I
blemen, die sich mit diesem reduktionistischen Ansatz gut
bearbeiten ließen. Ab der Mitte der 1980er-Jahre arbeiteten Ergebnis, das sich sofort auf die ganze Familie spannungs-
in meinem Labor zahlreiche außerordentlich begabte Post- abhängiger KC -, NaC - und Ca2C -Kanäle übertragen ließ.
doktoranden – darunter Gary Yellen, Rod MacKinnon und Einige Jahre später schossen sich Rod und Gary als frisch
Jacques Neyton –, die sich mit der bemerkenswerten Io- gebackene unabhängige Experimentatoren auf diese Poren-
nenselektivität verschiedener KC -Kanäle beschäftigten: Wie sequenzen ein, um die ionenselektiven Hotspots zu finden,
unterscheiden diese Kanäle Ionen, die sich so ähnlich sind und das Ergebnis führte Rod sieben Jahre später dazu, die
wie KC und NaC – so wie sie es tun müssen, damit Neu- erste Röntgenkristallstruktur eines KC -Kanals vorzustellen
ronen Aktionspotenziale generieren und wir denken, fühlen und damit eine völlig neue „strukturelle Ära“ von Ionenka-
und handeln können? Nachdem wir durch zielloses Herum- nalstudien einzuläuten.
experimentieren mit natürlichen Neurotoxinen auf ein Skor-
piongiftpeptid gestoßen waren, das KC -Kanäle blockiert, Wenn ich auf mein Ringen um die Erforschung von Ionen-
fanden wir mittels Einzelkanalanalyse heraus, dass die Wir- kanälen zurückschaue, dann wird mir klar, dass meine größte
kung dieses Toxins darauf beruht, dass es die KC -selektive Freude bei diesem Unterfangen aus der Überraschung er-
Pore des Proteins verschließt wie ein Korken eine Flasche wuchs, neue und unerwartete Elemente der Schönheit und
(Abb.). 1988 nahm Rod unser Toxinpeptid zu einem Labor- Kohärenz in der Natur zu entdecken. Dieses Gefühl wur-
kurs in Cold Spring Harbor mit, an dem er teilnahm, um de treffend von dem großen theoretischen Physiker Richard
zu lernen, wie man Ionenkanäle mittels rekombinanter DNA Feynman ausgedrückt, der in einer Entgegnung auf ein Ge-
exprimiert. Dort machte er eine Schlüsselentdeckung: Das dicht von W. H. Auden, das die wissenschaftliche Motivation
Toxin blockiert auch Shaker, den ersten genetisch manipu- als rein utilitaristisch abtat, betonte, dass Forscher ebenso
lierbaren KC -Kanal, der im Jahr zuvor im Labor von Lily wie Dichter allein von ästhetischen Kräften getrieben wer-
und Yuh Nung Jan geklont worden war. Dieser Zufallsfund den: „Wir wollen wissen, damit wir die Natur noch mehr
führte uns durch Erzeugen bestimmter Mutationen zu einer lieben können.“

würde das Membranpotenzial von 65 auf 17 mV verringern. Eine Veränderung des
Membranpotenzials vom normalen Ruhewert (65 mV) zu einem weniger negativen Wert
bezeichnet man als Depolarisation der Membran. Eine Zunahme der extrazellulären Ka-
liumkonzentration depolarisiert also die Neuronen.
Die Empfindlichkeit des Membranpotenzials in Bezug auf ŒKC a  hat in der Evolution zur K+
K+

Entwicklung von Mechanismen geführt, die die extrazelluläre Kaliumkonzentration im K+

Gehirn genau regulieren. Einer dieser Mechanismen ist die Blut-Hirn-Schranke, eine K+ K+
Spezialisierung der Wände von Gehirnkapillaren, die die Bewegung von Kalium (und an-
deren Substanzen im Blut) in die extrazelluläre Flüssigkeit des Gehirns begrenzt. K+
K+

Gliazellen, besonders die Astrocyten, verfügen auch über einen wirksamen Mechanismus, Astrocyt
extrazelluläre KC -Ionen aufzunehmen, sobald die Konzentration zunimmt, wie es nor-
malerweise bei neuronaler Aktivität der Fall ist. Wie wir wissen, füllen Astrocyten den
größten Teil des Raumes zwischen den Neuronen des Gehirns aus. Astrocyten besitzen in K+
den Membranen Kaliumpumpen, die die KC -Konzentration in ihrem Cytosol erhöhen, und K+ a +
K
verfügen auch über Kaliumkanäle. Wenn ŒKC a  zunimmt, gelangen KC -Ionen durch die K+
Kaliumkanäle in die Astrocyten und verursachen eine Depolarisation ihrer Membran. Das
Eindringen von KC -Ionen erhöht die Kaliumkonzentration im Zellinneren ŒKC i , die sich Abb. 3.20 Der räumliche Kaliumpuf-
wahrscheinlich in dem ausgedehnten Netzwerk der Astrocytenfortsätze über einen großen fer der Astrocyten. Wenn sich ŒKC a  als
Bereich verteilt. Dieser Mechanismus für die Regulierung von ŒKC a  durch die Astrocyten Folge einer lokalen neuronalen Aktivität
bezeichnet man als räumlichen Kaliumpuffer (Abb. 3.20). verändert, dringt KC über Membrankanä-
le in die Astrocyten ein. Das ausgedehnte
Es ist wichtig, festzuhalten, dass nicht alle erregbaren Zellen vor Erhöhungen der Ka- Netzwerk der Astrocytenfortsätze unter-
liumkonzentration geschützt sind. So besitzen beispielsweise Muskelzellen keine Blut- stützt die Verteilung von KC über einen
Hirn-Schranke oder Puffermechanismen wie die Gliazellen. Deshalb kann es, obwohl das weiten Bereich
Gehirn relativ gut geschützt ist, dennoch durch eine Erhöhung von [KC ] im Blut zu gra-
vierenden Folgen für die Körperphysiologie kommen (Exkurs 3.5).
82 3 Die neuronale Membran im Ruhezustand
Teil I

Exkurs 3.5  Perspektive


Tod durch eine tödliche Injektion

Am 4. Juni 1990 schockierte Dr. Jack Kevorkian die medi- Ionenabhängigkeit des Ruhepotenzials erklärt, warum das
zinische Welt, indem er die Selbsttötung von Janet Adkins Herz aufhörte zu schlagen.
unterstützte. Frau Adkins war eine 54 Jahre alte, glück-
lich verheiratete Mutter von drei Kindern. Bei ihr war die Wie bereits erwähnt, erfordert das ordnungsgemäße Funktio-
Alzheimer-Krankheit diagnostiziert worden, eine fortschrei- nieren erregbarer Zellen (zu denen auch die Herzmuskelzel-
tende Erkrankung des Gehirns, die immer zu einer senilen len gehören), dass das Ruhepotenzial an ihren Membranen
Demenz und zum Tod führt. Frau Adkins war Mitglied der immer aufrechterhalten wird, wenn sie nicht gerade feuern.
Hemlock Society, die Euthanasie als Alternative zum Tod Das negative Ruhepotenzial ist eine Folge der selektiven Io-
durch eine unheilbare Krankheit befürwortet. Dr. Kevorkian nenpermeabilität für KC und der metabolischen Pumpen, die
stimmte zu, Frau Adkins dabei zu helfen, sich das Leben zu die Kaliumkonzentration im Inneren der Zelle erhöhen. Wie
nehmen. Sie wurde in einem Bus auf einem Campingplatz jedoch Abb. 3.19 zeigt, ist das Membranpotenzial in Bezug
in Oakland County, Michigan, USA, an eine intravenöse auf Veränderungen der extrazellulären Kaliumkonzentration
Infusion angeschlossen, die ihr eine harmlose Salzlösung sehr empfindlich. Eine zehnfache Erhöhung der extrazellu-
verabreichte. Um sich das Leben zu nehmen, wechselte lären KC -Konzentration vermindert das Ruhepotenzial. Die
Frau Adkins zu einer Lösung, die ein Betäubungsmittel ent- Neuronen im Gehirn sind zwar in einem gewissen Maß vor
hielt, automatisch gefolgt von einer Kaliumchloridlösung. größeren Änderungen von ŒKC a geschützt, aber andere er-
Das Betäubungsmittel führte dazu, dass Frau Adkins das regbare Zellen im Körper, wie etwa die Muskelzellen, sind
Bewusstsein verlor, indem es die Aktivität von Neuronen es nicht. Ohne negatives Ruhepotenzial können die Herzmus-
in einem als Formatio reticularis (Kap. 19) bezeichneten kelzellen keine Impulse mehr erzeugen, die zu einer Kontrak-
Teil des Gehirns unterdrückte. Herzstillstand und Tod wur- tion führen, und das Herz hört sofort auf zu schlagen. Eine
den jedoch durch die Injektion von KCl hervorgerufen. Die intravenöse Injektion von Kaliumchlorid ist also tödlich.

Abschließende Bemerkungen
Wir haben uns in diesem Kapitel mit dem Ruhepotenzial an Membranen beschäftigt.
Die Aktivität der Natrium-Kalium-Pumpe erzeugt quer zur Membran einen hohen
KC -Konzentrationsgradienten und erhält ihn aufrecht. Die Nervenzellmembran ist im
Ruhezustand für KC sehr durchlässig, was auf die in der Membran vorhandenen Kalium-
kanäle zurückzuführen ist. Die Bewegung von KC -Ionen durch die Membran entlang ih-
rem Konzentrationsgradienten führt dazu, dass das Innere des Neurons negativ geladen ist.
Die elektrische Potenzialdifferenz lässt sich als Batterie verstehen, deren Ladung durch die
Arbeit von Ionenpumpen aufrechterhalten wird. Im nächsten Kapitel werden wir erfahren,
wie diese Batterie unser Gehirn in Gang hält.

Wiederholungsfragen
1. Welche beiden Funktionsweisen zeigen Proteine in der Nervenzellmembran, um das
Ruhepotenzial an der Membran aufzubauen und aufrechtzuerhalten?
2. Auf welcher Seite der Nervenzellmembran befinden sich mehr NaC -Ionen?
3. Wenn an der Membran das Kaliumgleichgewichtspotenzial herrscht, in welche Rich-
tung (nach innen oder nach außen) gibt es dann eine Nettobewegung von Kaliumionen?
4. Innerhalb der Zelle ist die Kaliumkonzentration viel höher als außerhalb. Warum ist
dann das Ruhepotenzial an der Membran negativ?
5. Wenn dem Gehirn Sauerstoff entzogen wird, produzieren die Mitochondrien in den
Neuronen kein ATP mehr. Welche Auswirkung hat das auf das Membranpotenzial und
warum?
Literatur 83

Teil I
Literatur

Direkt zitierte Literatur

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Stoffel M, Jan LY (1998) Epilepsy genes: excitement traced to potassium channels. Nat
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Das Aktionspotenzial
4

Teil I
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Eigenschaften des Aktionspotenzials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Das Aktionspotenzial in der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Das Aktionspotenzial in der Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Fortleitung des Aktionspotenzials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Aktionspotenziale, Axone und Dendriten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 85


M.F. Bear, B.W. Connors, M.A. Paradiso, Neurowissenschaften,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57263-4_4
86 4 Das Aktionspotenzial

Einführung
Teil I

Wir kommen jetzt zu dem Signal, das im Nervensystem Informationen über weite Entfer-
nungen transportiert – zum Aktionspotenzial. Wie wir in Kap. 3 erfahren haben, ist das Cy-
tosol des Neurons im Ruhezustand im Verhältnis zur extrazellulären Flüssigkeit negativ ge-
laden. Das Aktionspotenzial ist eine schnelle Umkehrung dieser Situation in der Form, dass
kurzzeitig das Innere der Membran im Verhältnis zur Außenseite positiv geladen ist. Das
Aktionspotenzial bezeichnet man häufig auch als Spike, Nervenimpuls oder Entladung.
Die Aktionspotenziale, die eine Zelle erzeugt, haben alle dieselbe Größe und Dauer, und
sie nehmen nicht ab, wenn sie am Axon entlang weitergeleitet werden. Entscheidend für
die Codierung von Informationen sind die Frequenz und das Muster von Aktionspotenzia-
len. Sie bilden den Code, den das Nervensystem für die Verarbeitung von Informationen
nutzt. In diesem Kapitel besprechen wir die Mechanismen, die das Aktionspotenzial er-
zeugen und seine Fortleitung am Axon sicherstellen.

Eigenschaften des Aktionspotenzials


Aktionspotenziale besitzen bestimmte allgemeingültige Eigenschaften, Merkmale, die im
Nervensystem jedes Tieres die gleichen sind, vom Tintenfisch bis zum Menschen. Zu Be-
ginn wollen wir uns mit diesen Eigenschaften beschäftigen. Wie sieht das Aktionspotenzial
aus? Wie wird es ausgelöst? Wie schnell kann ein Neuron Aktionspotenziale erzeugen?

Verlauf eines Aktionspotenzials

In Kap. 3 haben wir erfahren, dass das Membranpotenzial Vm durch Einführen einer Mi-
kroelektrode in die Zelle bestimmt werden kann. Mithilfe eines Voltmeters ermittelt man
die Spannung zwischen der Spitze dieser intrazellulären Mikroelektrode und einer anderen
Elektrode außerhalb der Zelle. Wenn die Nervenzellmembran im Ruhezustand ist, zeigt
das Voltmeter eine konstante Potenzialdifferenz von etwa 65 mV an. Während des Ak-
tionspotenzials wird das Membranpotenzial jedoch kurzzeitig positiv. Da dies so schnell
erfolgt – 100-mal schneller als ein Augenzwinkern –, verwendet man eine bestimmte Art
von Spannungsmessgerät, ein sogenanntes Oszilloskop, um Aktionspotenziale zu untersu-
chen (Exkurs 4.1).
In Abb. 4.1 ist ein Aktionspotenzial dargestellt, wie es auf einem Oszilloskop erscheinen
würde. In der Grafik ist das Membranpotenzial gegen die Zeit aufgetragen. Das Mem-
branpotenzial enthält bestimmte charakteristische Abschnitte. Der erste Abschnitt wird
als Aufstrich bezeichnet und ist durch eine schnelle Depolarisation der Membran gekenn-
zeichnet. Diese Veränderung des Membranpotenzials setzt sich fort, bis Vm ein Maximum
von etwa 40 mV erreicht. Den Abschnitt des Aktionspotenzials, bei dem das Innere des
Neurons im Verhältnis zur Außenseite positiv geladen ist, bezeichnet man als Overshoot.
Die fallende Phase des Aktionspotenzials ist eine schnelle Repolarisation, bis die Mem-
bran tatsächlich negativer ist als das Ruhepotenzial. Diesen letzten Abschnitt der fallenden
Phase bezeichnet man als Undershoot oder Nachhyperpolarisation. Schließlich stellt
sich das Ruhepotenzial allmählich wieder ein. Vom Anfang bis zum Ende dauert das Ak-
tionspotenzial etwa zwei Millisekunden (ms).

Die Erzeugung des Aktionspotenzials

In Kap. 3 haben wir festgestellt, dass eine Verletzung der Haut durch eine Reißzwecke
ausreicht, um ein Aktionspotenzial an einer sensorischen Nervenfaser hervorzurufen. Wir
wollen uns nun anhand dieses Beispiels ansehen, wie ein Aktionspotenzial entsteht.
Eigenschaften des Aktionspotenzials 87

Teil I
Exkurs 4.1  Fokus
Methoden für die Messung von Aktionspotenzialen

Methoden für die Untersuchung von Nervenimpulsen las- der Spannung aufzeichnen kann (etwa die eines Aktions-
sen sich grob in zwei Gruppen einteilen: intrazelluläre und potenzials).
extrazelluläre (Abb.). Für eine intrazelluläre Messung ist es
Wie wir in diesem Kapitel erfahren werden, gehört zum Ak-
erforderlich, das Neuron oder Axon mit einer Mikroelektro-
tionspotenzial eine Abfolge von Ionenbewegungen durch die
de anzustechen. Die geringe Größe der meisten Neuronen
Nervenzellmembran. Diese elektrischen Ströme lassen sich
macht diese Methode zu einem schwierigen Unterfangen.
nachweisen, ohne dass man das Neuron anstechen muss, in-
Das erklärt auch, warum viele der frühen Untersuchun-
dem man eine Elektrode in der Nähe der Membran platziert.
gen von Aktionspotenzialen mit Neuronen von Invertebra-
Dies ist die Grundlage der extrazellulären Messung. Wir
ten durchgeführt wurden, die 50-bis 100-mal größer sein
messen wieder die Potenzialdifferenz zwischen der Spitze
können als die Neuronen der Säuger. Durch vor Kurz-
der Messelektrode und der Referenzelektrode. Die Elektrode
em erzielte technische Fortschritte sind jetzt jedoch auch
kann eine feine Glaskapillare sein, die mit einer Salzlösung
die kleinsten Neuronen der Wirbeltiere für intrazelluläre
gefüllt ist, häufig handelt es sich jedoch einfach um einen
Messungen zugänglich, und diese Untersuchungen haben
dünnen isolierten Metalldraht. Normalerweise ist die Po-
bestätigt, dass vieles von dem, was wir bei den Inverte-
tenzialdifferenz zwischen der extrazellulären Messelektrode
braten entdeckt haben, auch direkt auf den Menschen zu-
und der Referenzelektrode beim Fehlen einer neuralen Ak-
trifft.
tivität gleich null. Wenn das Aktionspotenzial jedoch an der
Das Ziel der intrazellulären Messung ist einfach: Es soll Messstelle ankommt, fließen von der Messelektrode positive
die Potenzialdifferenz zwischen der Spitze der intrazellulä- Ladungen in das Neuron ab. Wenn sich dann das Aktions-
ren Elektrode und einer Referenzelektrode in der Lösung, potenzial wieder von der Elektrode entfernt, fließen positive
die das Neuron umgibt, gemessen werden. Die intrazel- Ladungen durch die Membran nach außen zur Elektrode.
luläre Elektrode ist mit einer konzentrierten Salzlösung Das extrazelluläre Aktionspotenzial ist also gekennzeichnet
(häufig KCl) gefüllt, die eine hohe elektrische Leitfä- durch eine kurze Wechselstrompotenzialdifferenz zwischen
higkeit besitzt. Die Elektrode wird mit einem Verstär- Messelektrode und Referenz. (Man beachte die unterschied-
ker verbunden, der die Potenzialdifferenz zwischen dieser lichen Skalierungen in der Darstellung der intrazellulär und
Elektrode und der Referenzelektrode misst. Diese Span- extrazellulär gemessenen Spannungsdifferenzen.) Diese Ver-
nung lässt sich in einem Oszilloskop darstellen. Das Os- änderungen der Spannung lassen sich mit einem Oszilloskop
zilloskop sendet einen Elektronenstrahl von links nach beobachten, aber man kann sie auch mithilfe eines Verstär-
rechts quer über einen Leuchtschirm. Senkrechte Auslen- kers mit Lautsprecher hörbar machen. Jeder Impuls ergibt
kungen dieses Strahls zeigen Veränderungen der Span- dann ein deutliches „Pop“-Geräusch. Tatsächlich klingt die
nung an. Das Oszilloskop ist tatsächlich nur ein raf- Messung eines aktiven sensorischen Neurons wie die Her-
finierterer Spannungsmesser, der schnelle Veränderungen stellung von Popcorn.

Oszilloskopdisplay

40 mV
Verstärker 20 mV
0 mV
–20 mV

Referenz- –40 mV
elektrode –60 mV
intrazelluläre
Elektrode

extrazelluläre
Elektrode
88 4 Das Aktionspotenzial

a b
Teil I

40
overshoot
20
Membranpotenzial (mV)

0 0 mV
Aufstrich
fallende Phase
–20

–40

–60 undershoot

Ruhepotenzial
–80

0 1 2 3
Zeit (ms)

Abb. 4.1 Ein Aktionspotenzial. a Ein Aktionspotenzial wird auf einem Oszilloskop dargestellt. b Die Abschnitte eines Aktionspotenzials

Die Wahrnehmung eines deutlichen Schmerzes, wenn die Reißzwecke in den Fuß ein-
dringt, wird durch die Erzeugung von Aktionspotenzialen in bestimmten Nervenfasern in
der Haut hervorgebracht. (Wir werden in Kap. 12 noch mehr über die Schmerzempfindung
erfahren.) Die Membran dieser Fasern besitzt eine bestimmte Art von Natriumkanälen,
die sich öffnen, wenn das Ende des Nervs gedehnt wird. Die ursprüngliche Ereignisfol-
ge ist also folgende: (1) Die Reißzwecke dringt in die Haut ein, (2) die Membran der
Nervenfaser in der Haut wird gedehnt, (3) NaC -permeable Kanäle öffnen sich. Aufgrund
des starken Konzentrationsgradienten und der negativen Ladung des Cytosols dringen
NaC -Ionen durch diese Kanäle in die Faser ein. Dadurch wird die Membran depolarisiert,
das heißt, die cytoplasmatische (innere) Oberfläche der Membran wird weniger negativ.
Wenn diese Depolarisation, die man als Rezeptorpotenzial bezeichnet, einen kritischen
Wert erreicht, erzeugt die Membran ein Aktionspotenzial. Das kritische Niveau der Depo-
larisation, das überschritten werden muss, um ein Aktionspotenzial auszulösen, bezeichnet
man als Schwellenwert. Aktionspotenziale werden durch eine Depolarisation der Mem-
bran über den Schwellenwert hinaus hervorgerufen.
Die Depolarisation, die ein Aktionspotenzial erzeugt, entsteht in verschiedenen Neuronen
auf unterschiedliche Weise. Im Beispiel oben wird die Depolarisation durch den Einstrom
von NaC über spezialisierte Ionenkanäle verursacht, die für das Dehnen von Membra-
nen empfindlich sind. In Interneuronen wird die Depolarisation normalerweise durch den
Einstrom von NaC -Ionen durch Kanäle erzielt, die auf von anderen Neuronen freigesetz-
te Neurotransmitter reagieren. Neben diesen natürlichen Mechanismen können Neuronen
auch durch elektrischen Strom über eine Mikroelektrode depolarisiert werden, eine Me-
thode, die Neurowissenschaftler anwenden, um in verschiedenen Zellen Aktionspotenziale
untersuchen zu können.
Die Erzeugung eines Aktionspotenzials durch die Depolarisation eines Neurons ist so ähn-
lich wie die Aufnahme einer Fotografie, indem man den Auslöser an der Kamera betätigt.
Ein zunehmender Druck auf den Knopf hat so lange keine Auswirkung, bis ein Schwel-
lenwert überschritten wird, dann öffnet sich die Blende mit einem „Klick“ und ein Bild
des Films wird belichtet. Wenn ein Neuron einer zunehmenden Depolarisation ausgesetzt
ist, gibt es so lange keine Reaktion, bis der Schwellenwert überschritten wird, dann jedoch
Eigenschaften des Aktionspotenzials 89

a b

Teil I
Verstärker
zugeführter
zugeführter Strom
Strom
+
+
+
Referenz- 0
elektrode 40

Membranpotenzial (mV)
Messelektrode
stimulierende 0
Elektrode

–40

–65
–80
Zeit
Axon

Abb. 4.2 Wie sich der Einstrom von positiver Ladung in ein Neuron auswirkt. a Im Bereich des Axonhügels wird die Membran von zwei
Elektroden durchstochen, eine soll das Membranpotenzial im Verhältnis zur Referenz messen, die andere das Neuron mit elektrischem Strom
stimulieren. b Wenn einem Neuron elektrischer Strom zugeführt wird (oben), erfolgt eine ausreichende Depolarisation der Membran, um Akti-
onspotenziale abfeuern zu können (unten)

kommt es ganz plötzlich zu einem Aktionspotenzial. Aktionspotenziale funktionieren also


nach dem „Alles-oder-nichts-Prinzip“.

Die Erzeugung von multiplen Aktionspotenzialen

Im obigen Beispiel haben wir die Erzeugung eines Aktionspotenzials mit dem Drücken
des Auslösers an einer Kamera verglichen. Was geschieht jedoch, wenn es sich bei der
Kamera um ein Modell handelt, das von einem Motor angetrieben wird, wie es Mode-
und Sportfotografen gerne verwenden? In diesem Fall führt ein fortgesetztes Drücken des
Auslösers jenseits des Schwellenwertes dazu, dass die Kamera ein Bild nach dem anderen
aufnimmt. Dasselbe trifft auch auf ein Neuron zu. Wenn wir beispielsweise über eine
Mikroelektrode einem Neuron ständig depolarisierenden Strom zuführen, erzeugen wir
nicht ein Aktionspotenzial, sondern viele Aktionspotenziale in Folge (Abb. 4.2).
Die Häufigkeit, mit der Aktionspotenziale erzeugt werden, hängt von der Stärke des kon-
tinuierlich depolarisierenden Stroms ab. Wenn wir durch die Mikroelektrode genügend
Strom zuführen, der zwar bis zum Erreichen des Schwellenwertes, aber nicht weit darüber
hinaus depolarisiert, könnten wir beispielsweise feststellen, dass die Zelle Aktionspoten-
ziale mit einer Rate erzeugt, die etwa bei einem Impuls pro Sekunde liegt, was 1 Hertz
(Hz) entspricht. Wenn wir die Stromzufuhr ein wenig erhöhen, steigt die Erzeugungs-
rate der Aktionspotenziale an, beispielsweise auf 50 Impulse pro Sekunde (50 Hz). Die
Frequenz der Aktionspotenziale ist ein Maß für die Stärke des depolarisierenden Stroms.
Dies ist ein Mechanismus, durch den die Intensität eines Reizes im Nervensystem codiert
wird (Abb. 4.3).
Die Entladungsrate nimmt zwar mit der Stärke des depolarisierenden Stroms zu, aber die
Frequenz, mit der ein Neuron Aktionspotenziale erzeugen kann, ist begrenzt. Die maxi-
male Entladungsrate liegt bei etwa 1000 Hz. Sobald ein Aktionspotenzial ausgelöst wird,
ist es innerhalb ungefähr der nächsten Millisekunde nicht möglich, ein weiteres auszu-
lösen. Diesen Zeitabschnitt bezeichnet man als absolute Refraktärzeit. Darüber hinaus
90 4 Das Aktionspotenzial

zugeführter
Teil I

Strom
0

–65 mV

Zeit

Wenn der zugeführte Strom Wenn der zugeführte Die Entladungsrate


die Membran nicht bis zum Strom die Membran über der Aktionspoten-
Schwellenwert depolarisiert, den Schwellenwert hinaus ziale nimmt mit dem
wird kein Aktionspotenzial depolarisiert, wird ein depolarisierenden
erzeugt. Aktionspotenzial erzeugt. Strom zu.

Abb. 4.3 Die Abhängigkeit der Entladungsrate von der Stärke der Depolarisation

Exkurs 4.2  Köpfe und Ideen


Die Entdeckung von Channelrhodopsinen

das Gen für Bacteriorhodopsin in Froscheiern (Oocyten) und


maßen seinen lichtaktivierten elektrischen Strom mit Mikro-
elektroden. 1995 demonstrierten wir, dass die Beleuchtung
von Bacteriorhodopsin das Pumpen von Protonen (HC ) über
die Oocytenmembran auslöste. Mit dieser neuen Technik
untersuchten wir 1996 dann zudem die lichtaktivierte Chlo-
ridpumpe Halorhodopsin.
Von Peter Hegemann an der Universität Regensburg erhielten
wir auch DNA von Chlamyopsin-1 und -2, vermutete Photo-
rezeptorproteine der Grünalge Chlamydomonas reinhardtii.
Wie alle anderen Labore, die diese DNA erhielten, konnten
wir jedoch leider keine lichtinduzierten elektrischen Signale
beobachten. Dennoch erklärte ich mich bereit, die Funktion
Von Georg Nagel
eines neuen vermutlichen Rhodopsins von Chlamydomonas
Als ich nach meiner Zeit als Postdoktorand in Yale und an zu testen, als Peter mich anrief und mir mitteilte, sie hät-
der Rockefeller University, New York, 1992 an das Max- ten einen „echten lichtgesteuerten Calciumkanal“ gefunden,
Planck-Institut in Frankfurt zurückkehrte, interessierte ich den er Chlamyrhodopsin-3 nennen wollte. Obgleich dieses
mich vor allem für die Mechanismen, die Ionengradienten neue Protein nicht gereinigt war, wurde „Chlamyopsin-3“
über Zellmembranen aufbauen. Ernst Bamberg, der Direktor in einer Datenbank für DNA-Sequenzen von Chlamydo-
meiner Abteilung, überzeugte mich, bei der Untersuchung monas gefunden; es stammte aus dem Forschungszentrum
mikrobieller Rhodopsine – Proteine, die Ionen durch die in Kazusa, Japan, und zeigte Ähnlichkeiten mit Bacteriorho-
Membran transportieren, wenn sie Lichtenergie absorbie- dopsin. Das machte es zu einem interessanten Kandidaten für
ren – einen neuartigen Ansatz zu wählen. Wir exprimierten das schon lange gesuchte Rhodopsin bei Chlamydomonas.
Eigenschaften des Aktionspotenzials 91

Peter forderte die DNA aus Japan an, und ich exprimier- le für nichtinvasive Manipulationen von Zellen und selbst

Teil I
te sie anschließend in Oocyten. Unsere ersten Experimente lebende Organismen beschrieben. Als Nächstes untersuch-
verliefen jedoch enttäuschend, denn ein Hinzufügen oder te ich das eng verwandte Algenprotein Channelrhodopsin-
Entfernen von Calcium aus der Badelösung der Oocyten 2, und alles wurde so viel einfacher, denn die Photoströ-
machte keinen Unterschied für den lichtaktivierten elektri- me waren nun wirklich groß und leicht zu analysieren.
schen Strom, wie es zu erwarten gewesen wäre, wenn es Channelrhodopsin-2 (Chop2), in seiner nativen Form 737
sich tatsächlich um einen Ca2C -permeablen Kanal handelte. Aminosäuren lang, ließ sich auf 310 Aminosäuren verkürzen
Der Photostrom selbst war sehr schwach und schien von Ver- und an gelb fluoreszierendes Protein (YFP, yellow fluores-
änderungen der Ionenkonzentration in der Badelösung nicht cent protein) anheften, um die Proteinexpression sichtbar zu
beeinflusst zu werden. machen. Nachdem wir 2003 die überlegenen Merkmale von
Da mir die Idee eines direkt lichtgesteuerten Ionenkanals Chop2 publizierten, wurde die DNA zunehmend angefordert,
noch immer gefiel, die von den meisten Forschern auf die- und wir sahen uns nach Neurobiologen um, mit denen wir
sem Gebiet abgelehnt wurde, fuhr ich fort, verschiedene zusammenarbeiten konnten. Eines unserer ersten „Opfer“
Badelösungen zu testen. Eines Abends erhielt ich mit einer war Alexander Gottschalk an der nahe gelegenen Universität
Lösung, die darauf abgestimmt war, Calciumströme zu hem- Frankfurt, der mit einem kleinen, durchsichtigen Faden-
men, einen erstaunlich starken lichtaktivierten Einstrom. Wie wurm, Caenorhabditis elegans (C. elegans), arbeitete. Leider
sich jedoch herausstellte, war die Lösung, die ich gebrauchte, machte ich bei der Präparation der DNA einen Fehler, so-
schlecht gepuffert; tatsächlich war sie sehr sauer und ent- dass der Wurm, obwohl hübsch mit YFP markiert, nicht auf
hielt zu viele HC -Ionen! Doch dies war ein Durchbruch, denn Licht reagierte. Sobald ich meinen Fehler erkannt hatte und
nun besaß ich gute Belege für eine einwärtsgerichtete, licht- es mir gelungen war, Chop2-YFP in die Muskelzellen von
abhängige HC -Leitfähigkeit. Durch Ansäuern der Oocyten C. elegans zu schleusen, waren wir erstaunt, wie leicht wir
(das heißt durch Erhöhen der HC -Konzentration im Inneren diese kleinen Würmer dazu bringen konnten, ihre Muskeln
der Oocyten relativ zur Außenseite) stellte ich anschlie- zu kontrahieren, einfach dadurch, dass wir sie mit blau-
ßend fest, dass ich auch nach außen gerichtete lichtaktivierte em Licht bestrahlten. Etwa um dieselbe Zeit (April 2004)
Ströme zuverlässig erzeugen konnte. Bald wurde deutlich, bat uns Karl Deisseroth an der Stanford University um die
dass wir mit Chlamyrhodopsin-3 über einen lichtgesteuerten DNA und Rat für den Umgang damit, und ich akzeptier-
Protonenkanal verfügen; daher schlug ich meinen Kollegen te diese Zusammenarbeit mit Freuden. Rasch demonstrierte
Peter Hegemann und Ernst Bamberg vor, dieses neue Protein Karl die Möglichkeiten von Channelrhodopsin-2 in Säuger-
Channelrhodopsin-1 zu nennen. Weitere Experimente zeig- neuronen. Seine faszinierenden Arbeiten zusammen mit Ed
ten, dass auch andere einwertige (monovalente) Kationen Boyden und Feng Zhang erweckten große Aufmerksamkeit
Channelrhodopsin-1 passieren können. Die kleinen Photo- und führten zu vermehrter Nachfrage nach der DNA, um
ströme, die wir anfangs beobachteten, werden inzwischen dieses Protein im Gehirn zu exprimieren. Viele Kollegen in
auf die schlechte Expression von Channelrhodopsin-1 in Oo- Europa realisierten erst dann, dass Channelrhodopsine zuerst
cyten zurückgeführt. in Frankfurt charakterisiert worden waren.

Fasziniert von diesem neuen Befund, bereiteten wir einen Ar- Der Erfolg und die bequeme Anwendung von Channelrhodop-
tikel vor (der 2002 veröffentlicht wurde) und beantragten ein sin-2 brachten Karl und Alexander auf die Frage, ob es viel-
Patent, in dem wir die Nutzung lichtgesteuerter Ionenkanä- leicht andere Rhodopsine gab, die man zur lichtinduzierten

blaues Licht gelbes Licht


(460 nm) (680 nm)

Channelrhodopsin-2 Halorhodopsin

Na+ Cl-

Licht an Licht an

Vm Vm

Zeit Zeit

Channelrhodopsin-2 und Halorhodopsin. Oben: Schemazeichnung von Channelrhodopsin-2 und Halorhodopsin in der Plasmamembran.
Unten: Wirkung von blauem und gelbem Licht auf das Membranpotenzial, vermittelt von Channelrhodopsin-2 bzw. Halorhodopsin
92 4 Das Aktionspotenzial

Hemmung der neuronalen Aktivität einsetzen könnte. Wir reits mehrere Jahre früher durchführen können, aber erst die
Teil I

erzählten ihnen von Bacteriorhodopsin und Halorhodopsin, Entdeckung und Verwendung von Channelrhodopsin-2 er-
den lichtaktivierten Protonenexport- bzw. Chloridimport- mutigte Forscher, sie einzusetzen und so ein neues Feld zu
pumpen. Beide Pumpen machen das Zellinnere negativer schaffen, das heute als Optogenetik bezeichnet wird. Viele
(das heißt, sie sind lichtinduzierte Hyperpolarisatoren). Wir Neurobiologen setzen heute diese Werkzeuge ein, und einige
empfahlen Halorhodopsin von dem Mikroorganismus Na- Gruppen, darunter auch wir, arbeiten daran, den bereits vor-
tronomonas pharaonis als lichtaktivierten Hyperpolarisator. handenen optogenetischen Werkzeugkasten zu verbessern
Dabei machten wir uns zunutze, was wir 1996 gelernt hat- und zu erweitern.
ten: Halorhodopsin weist eine hohe Chloridaffinität auf, und
seine Expression war in tierischen Zellen stabil.
Literatur
Wie sich herausstellte, ist die Lichtaktivierung der Chlo-
ridpumpe Halorhodopsin ausreichend, um das Feuern von Nagel G, Szellas T, Huhn W, Kateriya S, Adeish-
Aktionspotenzialen in Säugerneuronen zu hemmen, ebenso vili N, Berthold P, Ollig D, Hegemann P, Bamberg E
Muskelkontraktionen des Nematoden C. elegans. Ironischer- (2003) Channelrhodopsin-2, a directly light-gated cation-
weise hätte man diese neurobiologischen Experimente mit selective membrane channel. Proc Natl Acad Sci USA
Halorhodopsin (und dasselbe gilt für Bacteriorhodopsin) be- 100:13940–13945

kann es sogar für mehrere Millisekunden nach dem Ende der absoluten Refraktärzeit
verhältnismäßig schwierig sein, ein weiteres Aktionspotenzial auszulösen. Während die-
ser relativen Refraktärzeit ist die Stromstärke, die notwendig ist, um das Neuron bis
zum Erreichen der Aktionspotenzialschwelle zu depolarisieren, höher als der normale
Wert.

Optogenetik: neuronale Aktivität mit Licht kontrollieren


Wie wir bereits diskutiert haben, werden Aktionspotenziale durch Depolarisation der
Membran über einen Schwellenwert hinaus ausgelöst, wie es bei Neuronen natürlicher-
weise durch Öffnen von Ionenkanälen geschieht, die NaC durch die Membran passieren
lassen. Um neuronale Entladungen künstlich zu kontrollieren, haben Neurowissenschaft-
ler in der Vergangenheit Mikroelektroden benutzt, um elektrischen Strom zu injizieren.
Dieses klassische Verfahren wird seit Kurzem durch einen revolutionären neuen Ansatz
ersetzt, der als Optogenetik bezeichnet wird. Dabei werden in Neuronen fremde Gene
eingesetzt, die Ionenkanäle in der Membran exprimieren, welche sich in Antwort auf
Licht öffnen.

In Kap. 9 werden wir diskutieren, wie Lichtenergie von Proteinen, sogenannten Photopig-
menten, absorbiert wird, um die neuronalen Reaktionen in unserer Retina zu erzeugen, die
uns letztlich ermöglichen zu sehen. Natürlich ist Lichtempfindlichkeit eine Eigenschaft
vieler Organismen. Bei der Untersuchung von Lichtreaktionen bei einer Grünalge charak-
terisierten Forscher in Frankfurt ein Photopigment, das sie Channelrhodopsin-2 (ChR2,
Kanalrhodopsin-2) nannten. Durch Einschleusen des ChR2-Gens in Säugerzellen konn-
ten sie zeigen, dass es für einen lichtempfindlichen Kationenkanal codiert, der für NaC
und Ca2C permeabel ist (Exkurs 4.2). Der Kanal öffnet sich in Antwort auf blaues Licht
rasch, und bei Neuronen reicht der Einstrom von Kationen aus, um eine überschwelli-
ge Depolarisation zu bewirken und Aktionspotenziale auszulösen. Das enorme Potenzial
der Optogenetik wurde daraufhin von Forschern aus den USA demonstriert, die zeigten,
Abb. 4.4 Optogenetische Kontrolle dass sich das Verhalten von Ratten und Mäusen dramatisch beeinflussen ließ, wenn man
der neuronalen Aktivität im Gehirn Neuronen, in die das ChR2-Gen eingeschleust worden war, mit blauem Licht bestrahlte
einer Maus. Das Gen, das für Channel- (Abb. 4.4). Zu den neueren Ergänzungen des „optogenetischen Werkzeugkastens“, über
rhodopsin-2 codiert, wurde mithilfe eines
Virus in die Neuronen im Gehirn dieser
den Forscher verfügen, gehört Halorhodopsin, ein Protein, das ursprünglich von Bakterien
Maus eingeführt. Das Feuern dieser Neu- stammt und das die Aktivität von Neuronen in Antwort auf gelbes Licht hemmt.
ronen lässt sich jetzt mit blauem Licht
kontrollieren, das durch ein Glasfaser- Zu verstehen, wie Verhalten entsteht, erfordert natürlich zu verstehen, wie Aktionspo-
kabel appliziert wird. (Mit freundlicher tenziale entstehen und im Nervensystem fortgeleitet werden. Wir wollen uns nun damit
Genehmigung von Dr. Ed Boyden, befassen, wie die Bewegung von Ionen durch die Membran über spezialisierte Kanäle zu
Massachusetts Institute of Technology) einem Nervenimpuls mit diesen interessanten Eigenschaften führt.
Das Aktionspotenzial in der Theorie 93

Das Aktionspotenzial in der Theorie

Teil I
Das Aktionspotenzial ist eine erhebliche Umverteilung der elektrischen Ladung durch
die Membran. Die Depolarisation der Zelle während des Aktionspotenzials wird durch
den Einstrom von Natriumionen durch die Membran hervorgerufen, die Repolarisation
entsteht durch den Ausstrom von Kaliumionen. Wir wollen nun einige der in Kap. 3 einge-
führten Begriffe verwenden, um zu verstehen, wie Ionen durch eine Membran getrieben
werden und wie diese Ionenbewegungen das Membranpotenzial beeinflussen.

Ströme und Leitfähigkeiten in der Membran

Betrachten wir das idealisierte Neuron in Abb. 4.5. Die Membran dieser Zelle besitzt
drei Arten von Proteinmolekülen: Natrium-Kalium-Pumpen, Kaliumkanäle und Natrium-
kanäle. Die Pumpen sind ständig aktiv, um einen Konzentrationsgradienten aufzubauen
und aufrechtzuerhalten. Wie bei allen unseren bisherigen Beispielen nehmen wir an, dass
innerhalb der Zelle KC 20-mal höher konzentriert ist als außen und NaC außerhalb 10-
mal höher als innen. Nach der Nernst-Gleichung gilt bei 37 ı C für EK D 80 mV und
ENa D 62 mV. Wir wollen nun anhand dieser Zelle die Faktoren untersuchen, die die
Bewegung der Ionen durch die Membran bestimmen.
Wir beginnen mit der Annahme, dass sowohl die Kaliumkanäle als auch die Natriumkanä-
le geschlossen sind und dass das Membranpotenzial Vm D 0 mV ist (Abb. 4.5a). Jetzt
werden wir nur die Kaliumkanäle öffnen (Abb. 4.5b). Wie wir in Kap. 3 erfahren haben,
fließen dann KC -Ionen – ihrem Konzentrationsgradienten folgend – aus der Zelle heraus,
bis die Innenseite negativ geladen ist und Vm D EK ist (Abb. 4.5c). Wenn wir uns auf
die Bewegung von KC konzentrieren, durch die das Membranpotenzial von 0 auf 80 mV
ansteigt, sind folgende drei Aspekte von Bedeutung:
1. Die Nettobewegung von KC -Ionen durch die Membran ist ein elektrischer Strom. Wir
können diesen Strom durch das Symbol IK ausdrücken.
2. Die Anzahl der offenen Kaliumkanäle ist proportional zur elektrischen Leitfähigkeit.
Wir können diese Leitfähigkeit durch das Symbol gK ausdrücken.
3. Der Kaliumstrom IK fließt nur, solange Vm ¤ EK ist. Die elektrochemische Triebkraft
für KC wird durch die Differenz zwischen dem tatsächlichen Membranpotenzial und
dem Gleichgewichtspotenzial bestimmt, und man kann sie durch Vm  EK ausdrücken.
Es gibt einen einfachen Zusammenhang zwischen der elektrochemischen Triebkraft, der
Ionenleitfähigkeit und der Stärke des elektrischen Stroms, der dann fließt. Für KC lässt
sich das so ausdrücken:
IK D gK .Vm  EK /:
Allgemeiner lautet die Gleichung so:
IIon D gIon .Vm  EIon /:
Wenn uns das bekannt vorkommt, so liegt das daran, dass es sich einfach um eine An-
wendung des Ohm’schen Gesetzes handelt (I D gV), über das wir in Kap. 3 bereits etwas
erfahren haben.
Unter Anwendung dieser Überlegungen können wir unser Beispiel noch einmal auf andere
Weise betrachten. Zu Beginn hatten wir Vm D 0 mV, und die Membran war undurchläs-
sig (Abb. 4.5a). Die elektrochemische Triebkraft für KC -Ionen ist hoch, da Vm ¤ EK ist.
Tatsächlich ist .Vm  EK / D 80 mV. Da die Membran jedoch für KC undurchlässig ist, ist
die Kaliumleitfähigkeit gK D 0. In der Folge gilt dann IK D 0. Ein Kaliumstrom fließt nur
dann, wenn wir davon ausgehen, dass die Membran offene Kaliumkanäle besitzt, und des-
halb gilt dann gK > 0. Nun fließen KC -Ionen aus der Zelle heraus – solange sich das
Membranpotenzial vom Kaliumgleichgewichtspotenzial unterscheidet (Abb. 4.5b). Der
Strom fließt dabei in der Richtung, die Vm in Richtung auf EK verschiebt. Wenn Vm D EK ,
dann sind die Ionen an der Membran im Gleichgewicht und es gibt keinen Nettostrom. In
diesem Zustand besteht trotz der hohen Kaliumleitfähigkeit gK für KC -Ionen keine elek-
trochemische Triebkraft mehr (Abb. 4.5c).
94 4 Das Aktionspotenzial
Teil I

0
Vm
a

außen extrazellulärer
Natriumkanal Kaliumkanal
Raum
innen EK = – 80 mV
ENa = 62 mV
gK = 0

idealisiertes IK = g K (Vm– V K) = 0 intrazellulärer


Neuron Raum

0
Um
b

K+ K+
K+ + + + +
EK = – 80 mV
ENa = 62 mV
gK> 0 – – – –
IK = g K (Vm– EK) > 0

0
Vm
c
– 80
K+ K+
EK = – 80 mV + + + + + + + + + + + + +
ENa = 62 mV
gK> 0 – – – – – – – – – – – – –
IK = g K (Vm– EK) = 0
K+ K+

Abb. 4.5 Ströme und Leitfähigkeiten der Membran. Gezeigt ist ein idealisiertes Neuron mit Kaliumkanälen, Natriumkanälen
und Natrium-Kalium-Pumpen (nicht dargestellt). Die Pumpen bauen Ionenkonzentrationsgradienten auf, sodass KC innerhalb der
Zelle und NaC außerhalb der Zelle höher konzentriert ist. a Zuerst nehmen wir an, dass alle Kanäle geschlossen sind und das
Membranpotenzial gleich 0 mV ist. b Jetzt öffnen sich die Kaliumkanäle, und KC fließt aus der Zelle heraus. Diese Bewegung
von KC ist ein elektrischer Strom IK , der solange fließt, wie die Membranleitfähigkeit für KC -Ionen gK größer als null und
das Membranpotenzial nicht gleich dem Kaliumgleichgewichtspotenzial ist. c Im Gleichgewicht gibt es trotz gK > 0 keinen
Kaliumnettostrom mehr, da das Membranpotenzial dann gleich EK ist. Im Gleichgewicht fließt dieselbe Menge an KC -Ionen
hinein und heraus

Ionenströme beim Aktionspotenzial

Die Membran unseres idealisierten Neurons ist nur für KC durchlässig, und Vm D EK D
80 mV. Was geschieht nun mit den NaC -Ionen, die außerhalb der Zelle eine höhere
Konzentration aufweisen als innerhalb? Da das Membranpotenzial im Verhältnis zum
Natriumgleichgewichtspotenzial stark negativ ist, besteht für NaC eine sehr große elektro-
chemische Triebkraft (Vm  ENa D 80 mV  62 mV D 142 mV). Dennoch kann kein
NaC -Strom auftreten, solange die Membran für NaC impermeabel ist. Wir wollen nun
betrachten, was bei Öffnung der Natriumkanäle mit dem Membranpotenzial geschieht.
Das Aktionspotenzial in der Theorie 95

a
g >> g

Teil I
K Na
extrazellulärer
Raum
K+ Natriumkanal K+ Kaliumkanal

+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + Vm

– – – – – – – – – – – – – – – – – – –
K+ K+
intrazellulärer –80 mV
Raum
b
g >> g
Na K

K+ K+
Vm

– –

Na+ Na+
Natriumeinstrom –80 mV

c
g >> g
K Na
Kaliumausstrom
K+ K+
– – – – – – –
Vm

+ + + + + + +

–80 mV

d
g >> g
K Na

K+ K+
+ + + + + + + + + + + + + + + + + +
Vm

– – – – – – – – – – – – – – – – – –

K+ K+
–80 mV

Zeit

Abb. 4.6 Wechsel des Membranpotenzials durch Veränderung der relativen Ionenpermeabilitäten der Membran. a Die Mem-
bran des idealisierten Neurons, das in Abb. 4.5 dargestellt ist. Zuerst nehmen wir an, dass die Membran nur für KC permeabel ist und
dass Vm D EK . b Nun legen wir fest, dass sich die Natriumkanäle in der Membran öffnen sollen, sodass gNa  gK . Es entsteht eine
starke elektrochemische Triebkraft für NaC -Ionen, die dadurch schnell in die Zelle strömen, sodass sich Vm an ENa annähert. c Jetzt
schließen wir die Natriumkanäle, sodass gK  gNa . Da das Membranpotenzial positiv ist, gibt es eine große elektrochemische Trieb-
kraft für KC -Ionen. Der Ausstrom von KC -Ionen bringt Vm wieder auf den Wert von EK . d Der Ruhezustand ist wiederhergestellt,
wenn Vm D EK
96 4 Das Aktionspotenzial

In dem Augenblick, in dem sich die Ionenpermeabilität der Membran verändert, ist gNa
Teil I

hoch und es gibt entsprechend dem bisher Gesagten eine starke elektrochemische Trieb-
kraft für NaC . Auf diese Weise wird ein starker Natriumstrom INa durch die Membran
erzeugt. NaC -Ionen passieren die Natriumkanäle in der Richtung, die Vm in Richtung auf
ENa verschiebt. In diesem Fall verläuft der Natriumstrom INa durch die Membran nach
innen. Sollte die Durchlässigkeit für Natrium wesentlich größer sein als die für Kali-
um, so depolarisiert dieser Einstrom von NaC das Neuron, bis sich Vm dem Wert von
ENa D 62 mV annähert.
Halten wir fest, dass hier etwas Bemerkenswertes geschehen ist. Einfach durch den Wech-
sel der vorherrschenden Membrandurchlässigkeit von KC zu NaC lässt sich das Membran-
potenzial schnell umkehren. In der Theorie ließe sich der Aufstrich des Aktionspotenzials
erklären, wenn sich Natriumkanäle als Reaktion auf eine Depolarisation der Membran
über den Schwellenwert öffnen. Das würde es ermöglichen, dass NaC in das Neuron
gelangt und eine massive Depolarisation der Membran einsetzt, bis sich das Membran-
potenzial ENa angenähert hat.
Wie lässt sich die fallende Phase des Aktionspotenzials erklären? Angenommen, dass
sich Natriumkanäle schnell schließen und Kaliumkanäle geöffnet bleiben, sodass die vor-
herrschende Membrandurchlässigkeit für Ionen wieder von NaC zu KC wechselt, dann
würde KC aus der Zelle herausströmen, bis das Membranpotenzial wieder gleich EK ist.
Diese Überlegungen sind für ein idealisiertes Neuron in Abb. 4.6 schematisch dargestellt.
Der Aufstrich des Aktionspotenzials lässt sich durch einen Natriumeinstrom erklären, die
fallende Phase durch einen Kaliumausstrom. Das Aktionspotenzial ist also einfach auf die
Bewegung von Ionen durch Kanäle zurückzuführen, die durch Veränderungen des Mem-
branpotenzials gesteuert werden.

Das Aktionspotenzial in der Realität


Wir wollen nun unser Modell des Aktionspotenzials überprüfen und betrachten, wie dieses
an realen Neuronen zustande kommt. Wenn die Membran bis zum Erreichen des Schwel-
lenwertes depolarisiert wird, kommt es zu einer vorübergehenden Zunahme von gNa . Diese
Zunahme ermöglicht das Eindringen von NaC -Ionen, die das Neuron depolarisieren. Die
Zunahme von gNa darf nur kurze Zeit anhalten, um die kurze Dauer des Aktionspotenzi-
als erklären zu können. Die Wiederherstellung des negativen Membranpotenzials würde
darüber hinaus durch eine vorübergehende Zunahme von gK während der fallenden Phase
unterstützt, sodass KC -Ionen das depolarisierte Neuron schneller verlassen können.
Diese Annahmen lassen sich im Prinzip recht einfach experimentell überprüfen. Man
muss nur während des Aktionspotenzials die Leitfähigkeiten für Natrium und Kalium
durch die Membran messen. In der Praxis erweist sich die Messung an wirklichen Neu-
ronen allerdings als ziemlich schwierig. Der entscheidende technische Durchbruch waren
die Einführung der sogenannten Spannungsklemme, die der amerikanische Physiologe
Kenneth C. Cole erfunden hat, und die aufschlussreichen Experimente, die die Physiolo-
gen Alan Hodgkin und Andrew Huxley um 1950 durchführten. Die Spannungsklemme
ermöglichte es Hodgkin und Huxley, das Membranpotenzial eines Axons bei jedem be-
liebigen Wert abgreifen zu können. So konnten sie die Ströme messen, die durch die
Membran flossen, und auf die Veränderungen der Membranleitfähigkeit rückschließen,
die bei verschiedenen Membranpotenzialen auftraten. In einer ausgeklügelten Reihe von
Experimenten konnten Hodgkin und Huxley zeigen, dass der Aufstrich des Aktionspoten-
zials tatsächlich von einem vorübergehenden Anstieg von gNa und einem Einstrom von
NaC -Ionen herrührt und dass die fallende Phase mit einer Zunahme von gK und einem
Ausstrom von KC -Ionen einhergeht. Ihre Ergebnisse wurden 1963 mit dem Nobelpreis
gewürdigt.
Um die vorübergehenden Veränderungen von gNa zu erklären, postulierten Hodgkin und
Huxley das Vorhandensein von „Natriumschleusen“ in der Axonmembran. Sie stellten die
Das Aktionspotenzial in der Realität 97

Hypothese auf, dass diese Schleusen durch eine Depolarisation über einen Schwellenwert

Teil I
„aktiviert“ – geöffnet – und durch Ausbildung eines positiven Membranpotenzials an der
Membran „inaktiviert“ – geschlossen und verriegelt – werden. Diese Schleusen werden
nur dann „reaktiviert“ – entriegelt – und können sich wieder öffnen, wenn das Membran-
potenzial erneut einen negativen Wert erreicht.
Hodgkin und Huxley gebührt die Anerkennung dafür, dass sie ihre Hypothesen über Mem-
branschleusen bereits über 20 Jahre vor dem direkten Nachweis von spannungsabhängigen
Kanalproteinen in der Nervenzellmembran aufgestellt haben. Heute verfügen wir aufgrund
aktueller wissenschaftlicher Entwicklungen über eine genaue Vorstellung von gesteuerten
Membrankanälen. Zum einen sind Neurowissenschaftler durch neue molekularbiologische
Methoden in der Lage, die genaue Struktur dieser Proteine zu bestimmen. Zum anderen
können sie durch neue neurophysiologische Verfahren Ionenströme messen, die einzelne
Kanäle durchqueren. Wir wollen uns nun aus der Perspektive dieser Membranionenkanäle
mit dem Aktionspotenzial beschäftigen.

Der spannungsabhängige Natriumkanal

Die Bezeichnung „spannungsabhängiger Natriumkanal“ ist zutreffend. Das Protein bil-


det in der Membran eine Pore, die für NaC -Ionen hochselektiv ist, und die Pore öffnet und
schließt sich bei Veränderungen des elektrischen Membranpotenzials.

Struktur des Natriumkanals


Der spannungsabhängige Natriumkanal ist aus einem einzigen langen Polypeptid aufge-
baut. Das Molekül besitzt vier getrennte Domänen, die mit I bis IV nummeriert sind.
Jede Domäne enthält sechs Alpha-Helices, die die Membran durchspannen und als S1
bis S6 bezeichnet werden (Abb. 4.7). Die vier Domänen lagern sich wahrscheinlich eng
zusammen und bilden in ihrer Mitte eine Pore. Die Pore schließt sich beim negativen
Ruhemembranpotenzial. Wird die Membran bis zum Erreichen des Schwellenwertes de-
polarisiert, ergibt sich jedoch eine Veränderung der Konfiguration, die den Durchtritt von
NaC durch die Pore ermöglicht (Abb. 4.8).
Wie der Kaliumkanal besitzt auch der Natriumkanal Porenschleifen, die zusammen einen
Selektivitätsfilter bilden. Durch diesen Filter ist der Natriumkanal für NaC 12-mal per-
meabler als für KC . Anscheinend werden von den NaC -Ionen die meisten assoziierten
Wassermoleküle abgestreift (jedoch nicht alle), wenn sie den Kanal passieren. Das ver-
bliebene Wasser dient als eine Art molekularer Reisebegleiter für das Ion und ist für
die Passage des Ions durch den Selektivitätsfilter notwendig. Der Ionen-Wasser-Komplex
kann dazu dienen, NaC zu selektieren und KC auszuschließen (Abb. 4.9).
Der Natriumkanal wird durch die Veränderung der Spannung über der Membran gesteu-
ert. Inzwischen ist bekannt, dass sich der Spannungssensor im Abschnitt S4 des Moleküls
befindet. In diesem Abschnitt liegen positiv geladene Aminosäurereste in regelmäßigen
Abständen auf den Windungen der Helix. Der gesamte Abschnitt kann also durch Ver-
änderungen des Membranpotenzials in Bewegung gesetzt werden. Eine Depolarisation
verdreht S4, und diese Konformationsänderung im Molekül führt dazu, dass sich die
Schleuse öffnet.

Funktionelle Eigenschaften des Natriumkanals


Untersuchungen, die um 1980 im Labor von Erwin Neher und Bert Sakmann am Max-
Planck-Institut in Göttingen durchgeführt wurden, enthüllten die funktionellen Eigen-
schaften des spannungsabhängigen Natriumkanals. Man verwendete eine neue Methode,
indem man mit einer sogenannten Patch Clamp die Ströme untersuchte, die durch einzel-
ne Ionenkanäle flossen (Exkurs 4.3). Bei der Patch-Clamp-Methode wird die Spitze einer
Glaselektrode so auf die Zellmembran aufgesetzt, dass ein sehr kleiner Membranfleck
(Patch) elektrisch vom Außenmedium abgedichtet wird. Dieser Membranfleck kann dann
98 4 Das Aktionspotenzial

a
Teil I

Außenseite I II III IV
der Zelle

+ + + +
+ + + +
+ + + +
+ + + +

Innenseite
der Zelle

S1 S2 S3
S4 S5 S6

+
+
+
+

Poren-
schleife

Selektivitätsfilter
c

+ +
+ +
+ +
+ +

Spannungssensor
Schleuse

Abb. 4.7 Die Struktur des spannungsabhängigen Natriumkanals. a Darstellung der mutmaßli-
chen Anordnung des Natriumkanalpolypeptids in der Membran. Das Molekül besteht aus den vier
Domänen I–IV. Jede Domäne umfasst sechs Alpha-Helices (blaue Zylinder), die die Membran in
beiden Richtungen durchziehen. b Vergrößerte Darstellung einer Domäne mit dem Spannungssensor
der Alpha-Helix S4 und der Porenschleife (rot), die einen Teil des Selektivitätsfilters bildet. c Dar-
stellung des Kanals mit der vermuteten Anordnung der Domänen, durch die die Pore entsteht. (Nach
Armstrong und Hille 1998, Abb. 1)
Das Aktionspotenzial in der Realität 99

geschlossene Pore geöffnete Pore

Teil I
+ +
+ +
+ +
+ + + +
+ +
+ +
+ +

– 65 mV – 40 mV

Abb. 4.8 Ein hypothetisches Modell für die Konfigurationsänderung des Natriumkanals durch
die Depolarisation der Membran

vom Neuron entfernt werden, und es ist möglich, den Ionenstrom durch den Membran-
fleck zu messen, da das Membranpotenzial bei jedem gewünschten Wert konstant gehalten
werden kann. Mit etwas Glück enthält der Membranfleck nur einen einzigen Kanal, des-
H H
sen Verhalten man dann genauer untersuchen kann. Mithilfe der Patch-Clamp-Methode H H
gelang es Neher und seinen Mitarbeitern, die funktionellen Eigenschaften des spannungs- O

0,5 nm
O
abhängigen Natriumkanals zu bestimmen.
K+
Ändert man das Membranpotenzial eines Stückes Axonmembran von 80 auf 65 mV, Na+
so hat das nur geringe Auswirkungen auf die spannungsabhängigen Natriumkanäle. Sie
bleiben geschlossen, da die Depolarisation der Membran nicht den Schwellenwert erreicht. Größe des Größe eines Größe eines
Verändert man jedoch das Membranpotenzial von 65 auf 40 mV, öffnen sich diese Selektivitäts- teilweise teilweise
Kanäle. Wie in Abb. 4.10 dargestellt ist, zeigen spannungsabhängige Natriumkanäle ein filters im hydratisierten hydratisierten
charakteristisches Verhaltensmuster: Natriumkanal Na+-Ions K+-Ions

1. Sie öffnen sich mit einer geringen Verzögerung. Abb. 4.9 Größe des Natriumkanal-
2. Sie bleiben etwa eine Millisekunde offen und schließen sich dann (werden inaktiviert). selektivitätsfilters. Die Ionen werden
3. Sie können sich nicht wieder durch eine Depolarisation öffnen, bevor das Membran- von Wasser begleitet, wenn sie den Ka-
potenzial wieder einen negativen Wert nahe dem Schwellenwert erreicht hat. nal passieren. Hydratisiertes NaC passt
hindurch, hydratisiertes KC nicht. (Nach
Ein hypothetisches Modell dafür, wie beim spannungsabhängigen Natriumkanal Konfor- Hille 2001, 4.5 und 4.6)
mationsänderungen für diese Eigenschaften verantwortlich sein können, ist in Abb. 4.10c
dargestellt.
Ein einzelner Kanal kann kein Aktionspotenzial auslösen. Die Membran eines Axons kann
pro Quadratmikrometer (m2 ) viele Tausend Natriumkanäle enthalten, und die gemein-
same Aktivierung dieser Kanäle ist erforderlich, um ein messbares Aktionspotenzial zu
erzeugen. Dennoch ist es interessant, festzustellen, wie viele der Eigenschaften des Ak-
tionspotenzials durch diejenigen des spannungsabhängigen Natriumkanals erklärbar sind.
So erklärt beispielsweise die Tatsache, dass sich einzelne Kanäle nicht öffnen, bevor ein
kritischer Wert der Membrandepolarisation erreicht ist, den Schwellenwert des Aktions-
potenzials. Das schnelle Öffnen der Kanäle als Reaktion auf die Depolarisation erklärt,
warum der Aufstrich des Aktionspotenzials so schnell einsetzt. Und die nur kurze Zeit,
die die Kanäle geöffnet bleiben, bevor sie inaktiviert werden (etwa eine Millisekunde) er-
klärt, warum das Aktionspotenzial so kurz dauert. Darüber hinaus ist die Inaktivierung der
Kanäle für die absolute Refraktärzeit verantwortlich: Es kann kein weiteres Aktionspoten-
zial ausgelöst werden, bevor die Kanäle deinaktiviert worden sind.
Im menschlichen Genom gibt es mehrere verschiedene Gene für Natriumkanäle. Un-
terschiedliche Expressionsmuster dieser Gene in den verschiedenen Neuronen können
dazu führen, dass die Aktionspotenziale zwar geringe, aber wichtige Unterschiede auf-
weisen. Vor Kurzem wurde nachgewiesen, dass Mutationen einzelner Aminosäuren in den
extrazellulären Bereichen eines Natriumkanals eine verbreitete Erbkrankheit bei Klein-
kindern verursachen, die man als generalisierte Epilepsie mit Fieberkrämpfen bezeichnet.
100 4 Das Aktionspotenzial
Teil I

Exkurs 4.3  Fokus


Die Patch-Clamp -Methode

Die Existenz von spannungsabhängigen Kanälen in der Ner- zeichnung erfolgte aufgrund des hohen elektrischen Wider-
venzellmembran konnte nur vermutet werden, bis Methoden standes von über 109 ) lässt den Ionen in der Elektrode nur
entwickelt wurden, mit denen sich einzelne Kanalprotei- den einen Weg durch die Kanäle im festgehaltenen Membran-
ne untersuchen ließen. Die deutschen Neurowissenschaftler fleck. Wenn man die Elektrode dann von der Zelle zurück-
Bert Sakmann und Erwin Neher entwickelten Mitte der zieht, wird der Membranfleck mit entfernt (Abb. c), und wenn
1970er-Jahre mit der Patch-Clamp-Methode eine revolutio- man anschließend quer zur Membran eine konstante Span-
näre neue Technik. In Anerkennung dieser Leistung erhielten nung anlegt, lassen sich elektrische Ströme messen (Abb. d).
Sakmann und Neher 1991 den Nobelpreis.
Mit ein wenig Glück kann man so die Ströme ermitteln, die
Mithilfe der Patch-Clamp-Methode ist es möglich, Ionenströ- durch einzelne Kanäle fließen. Wenn der Membranfleck bei-
me einzelner Kanäle zu messen (Abb.). Der erste Schritt be- spielsweise einen spannungsabhängigen Natriumkanal ent-
steht darin, die hitzepolierte Spitze einer Glasmesselektrode hält und man das Membranpotenzial von 65 auf 40 mV
mit einem Durchmesser von 1–5 m auf die Membran ei- verringert, öffnet sich der Kanal und ein Strom (I) fließt hin-
nes Neurons zu setzen (Abb. a) und dann in der Elektroden- durch (Abb. e). Die Amplitude des gemessenen Stroms bei
spitze einen Unterdruck zu erzeugen (Abb. b). Die Wände einer konstanten Membranspannung entspricht der Kanal-
der Elektrode und der darunterliegende Membranfleck haf- leitfähigkeit, die Dauer des Stromflusses zeigt die Zeit an,
ten fest aneinander. Diese „Gigaohm“-Versiegelung (die Be- in der der Kanal geöffnet ist.

Pipette
Pipettenspitze Natriumkanal Natriumkanal
(geschlossen) (geöffnet)

Na+

Neuron

„Gigaohm“-
Versiegelung
b c d
e

Vm

–65 mV

Änderung der Spannung quer zur Membran

auswärts
Kanal geöffnet Kanal geschlossen

einwärts
Das Aktionspotenzial in der Realität 101

Patch-Clamp-Messungen zeigen, dass die meisten Kanäle lang sein, aber die Leitfähigkeit des einzelnen Kanals bleibt

Teil I
zwischen zwei Zuständen ihrer Leitfähigkeit wechseln, die gleich und kann deshalb als einheitlich gelten. Ionen kön-
dem geöffneten bzw. geschlossenen Kanal zugeordnet wer- nen mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit durch einzelne
den. Die Zeit, in der sie geöffnet sind, kann unterschiedlich Kanäle fließen, über eine Million Stück pro Sekunde.

a 5 ms

– 40 mV
Vm
– 65 mV

b
Kanal geschlossen

Strom Kanal geöffnet


einwärts

Strom
einwärts

1 3 4
Strom 2
einwärts
c

Natriumkanal
Na+

Membran
1 2 3 4

Abb. 4.10 Das Öffnen und Schließen von Natriumkanälen aufgrund einer Depolarisation der
Membran. a Die Kurve zeigt das elektrische Potenzial quer zu einem Membranfleck. Wenn sich das
Membranpotenzial von 65 auf 40 mV ändert, öffnen sich die Natriumkanäle. b Diese Registrie-
rungen zeigen, wie drei verschiedene Kanäle auf den Spannungsschritt reagieren. Jede Linie ist die
Aufzeichnung des elektrischen Stroms, der durch einen einzigen Kanal fließt. ➀ Bei 65 mV sind
die Kanäle geschlossen, es fließt also kein Strom. ➁ Wenn die Membran auf 40 mV depolarisiert
wird, öffnen sich kurzzeitig die Kanäle und ein Strom fließt nach innen, was sich am Absinken der
Kurve erkennen lässt. Die Kanäle unterscheiden sich zwar in gewisser Weise voneinander, aber al-
le öffnen sich mit einer geringen Verzögerung und bleiben weniger als 1 ms offen. Zu beachten ist
dabei, dass sie sich nach dem Öffnen wieder schließen und dann geschlossen bleiben, solange an
der Membran eine depolarisierte Spannung Vm aufrechterhalten wird. ➂ Das Schließen des Natri-
umkanals durch eine konstante Depolarisation bezeichnet man als Inaktivierung. ➃ Um die Kanäle
zu deinaktivieren, muss das Membranpotenzial wieder 65 mV erreichen. c Ein Modell dafür, wie
Konformationsänderungen des Natriumkanalproteins seine funktionellen Eigenschaften hervorrufen.
➀ Der geschlossene Kanal. ➁ Er öffnet sich aufgrund der Membrandepolarisation. ➂ Es kommt zu
einer Inaktivierung, wenn ein globulärer Teil des Proteins nach oben klappt und die Pore verstopft.
➃ Zur Deinaktivierung kommt es, wenn sich die globuläre Region von der Pore wegbewegt und die
Pore sich durch die Bewegung der Transmembrandomänen schließt
102 4 Das Aktionspotenzial

Epileptische Anfälle entstehen durch explosionsartige, hochgradig synchrone elektrische


Teil I

Aktivitäten im Gehirn. (Epilepsie wird im Einzelnen in Kap. 19 besprochen.) Bei dieser


Erkrankung erfolgen die Anfälle als Reaktion auf Fieber. Sie treten normalerweise nur in
der frühen Kindheit auf, im Alter zwischen drei Monaten und fünf Jahren. Es ist zwar nicht
geklärt, wie genau die Anfälle durch eine erhöhte Temperatur im Gehirn ausgelöst wer-
den, aber neben anderen Auswirkungen verlangsamen die Mutationen die Inaktivierung
des Natriumkanals und verlängern so das Aktionspotenzial. Die generalisierte Epilepsie
mit Fieberkrämpfen ist eine „Ionenkanalerkrankung“, eine genetisch bedingte Krank-
heit des Menschen, die durch Veränderungen der Struktur und Funktion von Ionenkanälen
auftritt.

Die Auswirkungen von Toxinen auf den Natriumkanal


In den 1960er-Jahren entdeckten Forscher an der Duke University, dass ein Toxin, das
aus den Ovarien des Kugelfisches (Abb. 4.11) isoliert werden kann, Natriumkanäle selek-
tiv blockiert. Tetrodotoxin (TTX) verstopft die NaC -durchlässige Pore, indem es fest an
eine spezifische Stelle an der Außenseite des Kanals bindet. TTX blockiert alle natriumab-
hängigen Aktionspotenziale und wirkt daher normalerweise bei Verzehr tödlich. Dennoch
werden Kugelfische in Japan als Delikatesse betrachtet. Sushi-Köche üben jahrelang und
benötigen eine amtliche Lizenz, um Kugelfische so zubereiten zu können, dass sie um den
Mund herum ein Taubheitsgefühl verursachen – das ist wahre Erlebnisgastronomie.
TTX gehört zu einer Reihe von natürlichen Toxinen, die die Funktion des spannungs-
abhängigen Natriumkanals stören. Ein anderes Gift, das Kanäle blockiert, ist Saxitoxin,
das von Dinoflagellaten der Gattung Gonyaulax produziert wird. Saxitoxin reichert sich
in Muscheln und anderen Schalentieren an, die diese Meeresprotozoen fressen. Gele-
gentlich kommt es zu einer übermäßigen Vermehrung der Dinoflagellaten, was zu einer
sogenannten „Roten Tide“ führt. Der Verzehr von Schalentieren kann aufgrund des hohen
Toxingehalts in solchen Zeiten tödlich enden.
Neben den Toxinen, die Natriumkanäle blockieren, stören auch andere Verbindungen die
Funktion des Nervensystems, indem sie dazu führen, dass sich Kanäle zur falschen Zeit

Abb. 4.11 Der Kugelfisch, Quelle von Tetrodotoxin (TTX). (Mit freundlicher Genehmigung von
Dr. Toshio Narahashi, Duke University)
Das Aktionspotenzial in der Realität 103

öffnen. Zu dieser Gruppe gehört Batrachotoxin, das aus der Haut eines kolumbianischen

Teil I
Pfeilgiftfrosches isoliert werden konnte. Batrachotoxin veranlasst die Kanäle, sich bei
negativeren Potenzialen als normalerweise üblich zu öffnen und viel länger geöffnet zu
bleiben, sodass die Information, die in den Aktionspotenzialen codiert ist, verloren geht.
Toxine, die von Lilien (Veratridin) und von Hahnenfuß (Aconitin) produziert werden, zei-
gen ein ähnliches Wirkmuster. Die Inaktivierung von Natriumkanälen wird auch durch
Toxine von Skorpionen und Seeanemonen gestört.
Was können wir von den Toxinen lernen? Erstens stören die verschiedenen Toxine die Ka-
nalfunktion, indem sie an verschiedenen Stellen im Protein binden. Informationen über die
Toxinbindung und deren Auswirkungen haben dazu beigetragen, dass man die dreidimen-
sionale Struktur des Natriumkanals aufklären konnte. Zweitens lassen sich die Toxine als
experimentelle Hilfsmittel einsetzen, um die Auswirkungen zu untersuchen, die durch die
Blockade von Aktionspotenzialen hervorgerufen werden. So werden wir beispielsweise
in den noch folgenden Kapiteln erfahren, dass TTX häufig in Experimenten Verwendung
findet, bei denen Impulse in einem Nerv oder Muskel blockiert werden müssen. Wie lautet
die dritte und wichtigste Lektion aus der Untersuchung von Toxinen? Achten Sie genau
darauf, was Sie in den Mund nehmen.

Spannungsabhängige Kaliumkanäle

Die Experimente von Hodgkin und Huxley zeigten, dass sich die fallende Phase des Ak-
tionspotenzials nur teilweise durch die Inaktivierung von gNa erklären ließ. Sie fanden
heraus, dass es auch eine vorübergehende Zunahme von gK gab, die bewirkte, dass sich
das negative Membranpotenzial nach dem Nervenimpuls schneller wieder aufbaute. Sie
postulierten, dass es in der Membran Kaliumkanäle geben müsse, die sich wie die Natri-
umkanäle als Reaktion auf eine Depolarisation der Membran öffnen. Im Gegensatz zu den
Natriumkanälen öffnen sich jedoch die Kaliumkanäle nicht sofort nach der Depolarisa-
tion, sondern es vergeht etwa eine Millisekunde. Aufgrund dieser Verzögerung und weil
die Kaliumleitfähigkeit das ursprüngliche Membranpotenzial wiederherstellt bzw. „gleich-
richtet“, bezeichnet man diese Leitfähigkeit auch als verzögerten Gleichrichter.
Wir wissen heute, dass es viele verschiedene Arten spannungsabhängiger Kaliumkanä-
le gibt. Die meisten öffnen sich, wenn die Membran depolarisiert wird, und verhindern
dann jegliche weitere Depolarisation, indem KC -Ionen durch die Membran aus der Zel-
le gelangen können. Die bekannten spannungsabhängigen Kaliumkanäle ähneln sich in
ihrer Struktur. Die Kanalproteine bestehen aus vier eigenständigen Polypeptidunterein-
heiten, die sich zusammenlagern und dabei eine Pore bilden. Wie der Natriumkanal rea-
gieren auch diese Proteine empfindlich auf Veränderungen des elektrischen Feldes quer
zur Membran. Wenn die Membran depolarisiert wird, verändern die Untereinheiten ihre
Konformation, sodass es für die KC -Ionen möglich wird, die Pore zu passieren.

Zusammenfassung der Begriffe

Wir können nun das über Ionen und Kanäle Erlernte anwenden, um die entscheidenden
Eigenschaften des Aktionspotenzials zu erklären (Abb. 4.11).
Schwellenwert. Der Schwellenwert ist das Membranpotenzial, bei dem sich genügend
spannungsabhängige Natriumkanäle öffnen, sodass die relative Ionenpermeabilität der
Membran für Natrium- größer als für Kaliumionen ist.
Aufstrich. Wenn die Innenseite der Membran ein negatives elektrisches Potenzial auf-
weist, gibt es eine starke elektrochemische Triebkraft für NaC -Ionen. Deshalb strömen
NaC -Ionen durch die geöffneten Natriumkanäle schnell in die Zelle und verursachen
dort eine rasche Depolarisation.
104 4 Das Aktionspotenzial

a
Teil I

trom
Na +-Eins

K -Au
+ ss
trom
b
Ströme durch
spannungs- Strom
abhängige einwärts
Natrium-
kanäle

c
Summe der
Na+-Ströme
durch alle
Kanäle

d
Ströme durch
spannungs-
Strom
abhängige
auswärts
Kaliumkanäle

e
Summe der
K+-Ströme
durch alle
Kanäle

f K+-Ausstrom
Nettostrom Strom
durch die auswärts
Membran Strom
einwärts
Na+-Einstrom
Fortleitung des Aktionspotenzials 105

Abb. 4.11 Die molekularen Grundlagen des Aktionspotenzials. a Das Membranpotenzial und sei-
ne zeitliche Veränderung während des Aktionspotenzials. Der Aufstrich des Aktionspotenzials wird

Teil I
durch einen Einstrom von NaC -Ionen über Hunderte spannungsabhängige Natriumkanäle ausgelöst.
Die fallende Phase wird durch die Inaktivierung der Natriumkanäle und den Ausstrom von KC -Ionen
durch spannungsabhängige Kaliumkanäle ausgelöst. b Der Einstrom durch drei spannungsabhängige
Natriumkanäle. Jeder Kanal öffnet sich mit einer geringen Verzögerung, wenn die Membran bis zum
Erreichen des Schwellenwertes depolarisiert wird. Die Kanäle bleiben nicht länger als 1 ms geöffnet
und werden dann inaktiviert. c Der gesamte NaC -Strom, der durch alle Natriumkanäle fließt. d Die
nach außen gerichteten Ströme dreier spannungsabhängiger Kaliumkanäle. Spannungsabhängige Ka-
liumkanäle öffnen sich etwa 1 ms nach der Depolarisation der Membran bis zum Schwellenwert und
bleiben solange geöffnet, wie die Membran depolarisiert ist. Die hohe Kaliumpermeabilität führt
dazu, dass die Membran kurzzeitig hyperpolarisiert wird. Wenn sich die spannungsabhängigen Ka-
liumkanäle schließen, geht das Membranpotenzial bis auf den Ruhewert von etwa 65 mV zurück.
e Der gesamte KC -Strom, der durch alle Kaliumkanäle fließt. f Der Nettostrom durch die Membran
während des Aktionspotenzials (die Summe aus c und e) J

Overshoot. Da Natriumionen bei der relativen Permeabilität der Membran stark bevor-
zugt werden, erreicht das Membranpotenzial einen Wert, der sehr nahe bei ENa liegt
und dadurch größer als 0 mV ist.
Fallende Phase. Das Verhalten der beiden Kanalarten wirkt sich auf die fallende Phase
aus. Zum einen werden die spannungsabhängigen Natriumkanäle inaktiviert. Zum
anderen öffnen sich schließlich die spannungsabhängigen Kaliumkanäle (was eine
Millisekunde vorher durch die Depolarisation der Membran ausgelöst wird). Wenn
die Membran stark depolarisiert ist, wirkt eine starke elektrochemische Triebkraft auf
KC -Ionen. Deshalb strömen KC -Ionen durch die geöffneten Kanäle schnell aus der
Zelle, sodass das Membranpotenzial wieder negativ wird.
Undershoot. Die geöffneten spannungsabhängigen Kaliumkanäle erhöhen die Mem-
brandurchlässigkeit des Ruhezustands. Wegen der geringen Natriumpermeabilität nä-
hert sich das Membranpotenzial EK und führt im Verhältnis zum Ruhepotenzial zu einer
Hyperpolarisation, bis sich die spannungsabhängigen Kaliumkanäle wieder schließen.
Absolute Refraktärzeit. Die Natriumkanäle werden inaktiviert, wenn die Membran
stark depolarisiert wird. Sie können nicht wieder aktiviert und ein weiteres Aktions-
potenzial ausgelöst werden, bis das Membranpotenzial negativ genug dafür ist, die
Kanäle zu deinaktivieren.
Relative Refraktärzeit. Das Membranpotenzial bleibt so lange hyperpolarisiert, bis sich
die spannungsabhängigen Kaliumkanäle schließen. In diesem Stadium ist ein stärkerer
depolarisierender Stromfluss erforderlich als gewöhnlich, um das Membranpotenzial
an den Schwellenwert zu bringen.
Wir wissen nun, dass sich die Eigenschaften des Aktionspotenzials aufgrund der Kanäle
und der Bewegung von Ionen durch diese Kanäle erklären lassen. Dabei sollte man jedoch
nicht vergessen, dass auch die Natrium-Kalium-Pumpe still im Hintergrund arbeitet. Das
Eindringen von NaC bei jedem Aktionspotenzial ähnelt einer Welle, die über den Bug
eines Bootes schwappt, wenn sich das Boot durch große Wellen bewegt. Ähnlich der Bil-
gepumpe des Bootes arbeitet auch die Natrium-Kalium-Pumpe kontinuierlich, um NaC
durch die Membran zurückzutransportieren. Die Pumpe erhält die Ionenkonzentrations-
gradienten aufrecht, die für den Fluss von NaC und KC durch die Kanäle während des
Aktionspotenzials erforderlich sind.

Fortleitung des Aktionspotenzials


Um die Informationen von einer Stelle des Nervensystems zu einer anderen zu transpor-
tieren, ist es erforderlich, dass das Aktionspotenzial nach seiner Auslösung das Axon ent-
langgeleitet wird. Dieser Vorgang ist mit dem Abbrennen einer Zündschnur vergleichbar.
106 4 Das Aktionspotenzial

+
Teil I

+ +

Zeitpunkt 0 +

+ +

1 ms später +

+ +

2 ms später +

+ +

3 ms später

Abb. 4.13 Fortleitung des Aktionspotenzials. Das Eindringen der positiven Ladung während des
Aktionspotenzials führt dazu, dass der unmittelbar davor liegende Membranabschnitt bis zum Errei-
chen des Schwellenwertes depolarisiert wird

Stellen Sie sich vor, Sie hielten einen Feuerwerkskörper in der Hand und ein brennendes
Streichholz an die Zündschnur. Die Zündschnur beginnt zu brennen, wenn sie heiß genug
wird (oberhalb des Schwellenwertes). Die Spitze der brennenden Zündschnur erhitzt den
unmittelbar benachbarten Abschnitt, bis dieser sich ebenfalls entzündet. Auf diese Wei-
se arbeitet sich die Flamme kontinuierlich die Zündschnur entlang. Beachten Sie dabei,
dass die Zündschnur, die an einem Ende entzündet wurde, nur in einer Richtung brennt.
Die Flamme kann nicht umkehren, da das brennbare Material direkt dahinter verbraucht
ist.
Die Fortleitung eines Aktionspotenzials entlang des Axons ähnelt dem Fortschreiten der
Flamme entlang der Zündschnur. Wenn das Axon genügend depolarisiert wird, um den
Schwellenwert zu erreichen, öffnen sich spannungsabhängige Natriumkanäle, und das
Aktionspotenzial wird ausgelöst. Der Einstrom von positiver Ladung depolarisiert den Ab-
schnitt der Membran unmittelbar davor, bis auch dieser den Schwellenwert erreicht und
seinerseits das nächste Aktionspotenzial auslöst (Abb. 4.13). Auf diese Weise arbeitet sich
das Aktionspotenzial das Axon entlang, bis es die Axonterminale erreicht und dadurch die
synaptische Übertragung auslöst (das Thema von Kap. 5).
Ein Aktionspotenzial, das an einem Ende eines Axons ausgelöst wird, pflanzt sich nur in
einer Richtung fort. Das liegt daran, dass sich die Membran unmittelbar dahinter in der Re-
fraktärphase befindet, da die Natriumkanäle inaktiviert sind. Normalerweise bewegen sich
Aktionspotenziale nur in einer Richtung; das bezeichnet man als orthodrome Fortleitung.
Aber ähnlich wie bei der Zündschnur kann an jedem der beiden Enden des Axons durch
Depolarisation ein Aktionspotenzial erzeugt werden, und die Fortleitung würde dann in
Richtung des jeweils anderen Endes stattfinden. Die entgegengesetzte Ausbreitung, die
manchmal im Experiment ausgelöst wird, bezeichnet man als antidrome Leitung. Hier ist
noch festzuhalten, dass die Axonmembran über ihre ganze Länge erregbar ist (also Ak-
tionspotenziale erzeugen kann) und sich deshalb der Impuls unvermindert fortsetzt. Die
Zündschnur funktioniert auf dieselbe Weise, da sie über ihre gesamte Länge entzündlich
ist. Im Gegensatz zur Zündschnur kann jedoch das Axon seine „Feuerbereitschaft“ rege-
nerieren.
Fortleitung des Aktionspotenzials 107

Aktionspotenziale werden mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten weitergeleitet, aber

Teil I
10 m=s ist ein typischer Wert. Wie bereits erwähnt, dauert ein Aktionspotenzial von An-
fang bis Ende etwa zwei Millisekunden. Daraus können wir die Länge der Membran
berechnen, über die sich das Aktionspotenzial zu jedem beliebigen Zeitpunkt ausbreitet:
10 m=s  2  103 s D 2  102 m: (4.1)
Räumlich betrachtet erstreckt sich ein Aktionspotenzial, das sich mit 10 m=s bewegt, also
über einen etwa 2 cm langen Abschnitt des Axons.

Faktoren, die die Leitungsgeschwindigkeit beeinflussen

Wie bereits bekannt, depolarisiert der Einstrom von NaC während des Aktionspotenzials
den direkt davor liegenden Membranabschnitt. Wenn dieser den Schwellenwert erreicht,
löst er ein Aktionspotenzial aus, und das Aktionspotenzial „brennt“ sich die Membran ent-
lang. Die Geschwindigkeit, mit der sich das Aktionspotenzial das Axon entlang fortsetzt,
hängt von bestimmten physikalischen Merkmalen des Axons ab.
Stellen Sie sich vor, dass der Einstrom einer positiven Ladung in ein Axon während des
Aktionspotenzials so ähnlich wirkt wie das Aufdrehen des Wassers bei einem löcherigen
Gartenschlauch. Das Wasser kann zwei Wege nehmen: entweder entlang des Schlauchin-
neren oder durch die Löcher quer zur Schlauchrichtung. Wie viel Wasser in jeder Richtung
fließt, hängt von den relativen Widerständen ab. Wenn der Schlauch eng und die Löcher
groß und zahlreich sind, fließt das meiste Wasser durch die Löcher nach draußen. Wenn
der Schlauch hingegen dick ist und es nur wenige, kleine Löcher gibt, fließt das meiste
Wasser im Inneren des Schlauches entlang. Dasselbe Prinzip gilt auch für den positiven
Strom, der sich vor dem Aktionspotenzial das Axon entlang ausbreitet.
Entsprechend kann eine positive Ladung zwei Wege nehmen: entweder entlang der Innen-
seite des Axons oder quer zur Axonmembran. Wenn das Axon dünn ist und viele offene
Membranporen besitzt, fließt der größte Teil des Stroms quer zur Membran nach außen.
Wenn das Axon dick ist und nur wenige offene Membranporen vorhanden sind, fließt
der meiste Strom im Inneren des Axons entlang. Je weiter sich der Strom entlang des
Axons bewegt, desto weiter entfernt vom Aktionspotenzial wird die Membran depolari-
siert und desto schneller setzt sich das Aktionspotenzial fort. Deshalb gilt die Regel, dass
sich die Leitungsgeschwindigkeit von Aktionspotenzialen mit zunehmendem Axondurch-
messer erhöht.
Als Folge dieses Zusammenhangs zwischen dem Axondurchmesser und der Leitungsge-
schwindigkeit haben sich in Nervenbahnen, die für das Überleben von besonderer Bedeu-
tung sind, im Laufe der Evolution ungewöhnlich große Axone entwickelt. Ein Beispiel
dafür ist das Riesenaxon von Tintenfischen. Es gehört zu einer Nervenbahn, die als Reak-
tion auf einen starken sensorischen Reiz den Fluchtreflex vermittelt. Das Riesenaxon der
Tintenfische kann einen Durchmesser von 1 mm aufweisen, sodass man aufgrund dieser
Größe ursprünglich dachte, das Axon gehöre zum Kreislaufsystem der Tiere. Die Neuro-
wissenschaft schuldet dem britischen Zoologen J. Z. Young Anerkennung, der 1939 das
Riesenaxon des Tintenfisches als experimentelles Präparat ins Blickfeld rückte, da es ge-
eignet ist, die Biophysik der Nervenzellmembran zu untersuchen. Hodgkin und Huxley
verwendeten diese Präparate, um die dem Aktionspotenzial zugrunde liegenden Ionen zu
bestimmen. Auch heute nutzt man das Riesenaxon noch für ein breites Spektrum neuro-
biologischer Untersuchungen.
Hier gilt es auch festzuhalten, dass die Anzahl der spannungsabhängigen Kanäle und der
Durchmesser auch die Erregbarkeit des jeweiligen Axons beeinflussen. Dünne Axone
benötigen eine stärkere Depolarisation als dicke, um den Schwellenwert des Aktions-
potenzials zu erreichen, und sie lassen sich durch Lokalanästhetika leichter blockieren
(Exkurs 4.4).
108 4 Das Aktionspotenzial
Teil I

Exkurs 4.4  Perspektive


Örtliche Betäubung

Sie haben zwar versucht, es tapfer auszuhalten, aber es geht Aktionspotenziale weniger Sicherheitsreserven aufweisen.
nicht mehr. Sie geben den Zahnschmerzen nach und gehen Eine relativ große Anzahl der spannungsabhängigen Natri-
zum Zahnarzt. Glücklicherweise ist der schlimmste Teil beim umkanäle muss funktionsfähig sein, damit sich das Aktions-
Füllen eines Lochs der Stich der Injektionsnadel in das Zahn- potenzial nicht bei der Weiterleitung im Axon verliert. Diese
fleisch. Nach dem Stich fühlt sich Ihr Mund taub an und Sie erhöhte Empfindlichkeit von dünnen Axonen gegenüber Lo-
geben sich Tagträumen hin, während der Zahnarzt bohrt und kalanästhetika ist ein glücklicher Umstand für die klinische
den Zahn repariert. Was wurde da injiziert, und wie wirkt es? Praxis. Wie wir in Kap. 12 erfahren werden, übertragen ge-
rade die dünnen Fasern die Informationen über schmerzhafte
Lokalanästhetika sind Medikamente, die Aktionspotenziale Reize – wie beispielsweise Zahnschmerzen.
in den Axonen vorübergehend blockieren. Man bezeichnet
sie als „lokal“, da sie direkt in das Gewebe injiziert wer-
spannungsabhängiger
den, wo die Betäubung – das Fehlen von Wahrnehmung – Natriumkanal
erwünscht ist. Dünne Axone, die zahlreiche Aktionspoten- I II III IV
ziale abfeuern, sind gegenüber einer Leitungsblockade durch
Lokalanästhetika am empfindlichsten.
Das erste Lokalanästhetikum, das in die medizinische Praxis
eingeführt wurde, war Kokain. Die Substanz hatte ursprüng-
lich der deutsche Arzt Albert Niemann 1860 aus den Blättern
der Kokapflanze isoliert. Wie damals bei Pharmakologen üb-
lich, probierte Niemann die neue Substanz und entdeckte,
N
dass seine Zunge dadurch gefühllos wurde. Man entdeck-
te bald, dass Kokain toxische und andere Nebenwirkungen C
hat. (Die bewusstseinsverändernde Wirkung wurde durch
Sigmund Freud, einen anderen bekannten Mediziner der da-
maligen Zeit, untersucht. Kokain verändert die Stimmung
durch einen Mechanismus, der sich von seiner örtlich betäu-
benden Wirkung unterscheidet, wie wir in Kap. 15 feststellen
werden.) S6-Alpha-Helix
Die Suche nach einem geeigneten synthetischen Ersatz für
Kokain führte zur Entwicklung von Lidocain, das heute
das am häufigsten verwendete Lokalanästhetikum ist. Li-
docain kann in einem Gel gelöst auf die Schleimhäute im
Mund (oder an anderen Stellen) aufgetragen werden, um die
Nervenenden zu betäuben (Oberflächenanästhesie). Es kann
direkt in das Gewebe (Infiltrationsanästhesie) oder einen
Nerv (Nervenblockade) injiziert werden, oder es wird in den
Liquorraum am Rückenmark injiziert (Spinalanästhesie), so-
dass große Körperbereiche betäubt werden können. C2H5 C2H5
N

Lidocain und andere Lokalanästhetika verhindern Aktions- CH2


Bindungsstellen
für Lidocain
potenziale, indem sie an spannungsabhängige Natriumkanäle O C
binden. Als Bindungsstelle von Lidocain wurde die S6- NH
Alpha-Helix in der Domäne IV des Proteins identifiziert H3C CH3

(Abb.). Diese Stelle ist für Lidocain von außen nicht zu-
gänglich. Das Anästhetikum muss zuerst die Axonmembran
durchqueren und dann durch die Öffnung des Kanals bis zu Lidocain
seiner Bindungsstelle im Inneren der Pore gelangen. Das
erklärt, warum aktive Nerven schneller blockiert werden
(die Natriumkanäle sind häufiger geöffnet). Das gebundene
Lidocain stört den NaC -Fluss, der normalerweise auf die De-
polarisation des Kanals folgt.
Dünnere Axone werden durch Lokalanästhetika vor den di- Der Mechanismus der Lidocainaktivität. (Nach Hardman et al.
ckeren Axonen blockiert, da sie für die Erzeugung ihrer 2017, Abb. 15-3)
Fortleitung des Aktionspotenzials 109

Teil I
Exkurs 4.5  Perspektive
Multiple Sklerose – eine demyelinisierende Krankheit

Die entscheidende Bedeutung von Myelin für die norma- dazu dient, die Geschwindigkeit der axonalen Erregungslei-
le Informationsübertragung im menschlichen Nervensystem tung zu erhöhen. Ein einfacher Test besteht darin, das Auge
zeigt sich bei der neurologischen Erkrankung, die man als mit einem schwarzweißen Karomuster zu reizen und dann
multiple Sklerose (MS) bezeichnet. An MS Erkrankte klagen die Zeit zu messen, die vergeht, bis an der Kopfhaut über
über Schwächegefühle, Koordinationsstörungen, Einschrän- dem Sehzentrum des Gehirns ein elektrisches Signal auftritt.
kungen des Sehvermögens und der Sprache. Die Krankheit Menschen mit MS zeigen oft eine deutliche Verlangsamung
ist unberechenbar, typischerweise wechseln sich Besserun- der Leitungsgeschwindigkeit ihres Sehnervs.
gen und Rückfälle über einen Zeitraum von vielen Jahren
Eine andere demyelinisierende Erkrankung ist das Guillain-
hinweg ab. Über die genaue Ursache von MS ist noch
Barré-Syndrom. Dabei wird das Myelin der peripheren Ner-
wenig bekannt, aber die Gründe für die sensorischen und
ven angegriffen, die die Muskeln und die Haut innervieren.
motorischen Störungen sind inzwischen weitgehend geklärt.
Diese Erkrankung kann im Anschluss an weniger bedeutsa-
MS greift die Myelinscheiden der Axonbündel im Gehirn,
me Krankheiten und Infektionen auftreten, möglicherweise
Rückenmark und in den Sehnerven an. Der Name leitet sich
als Ergebnis einer abnormen Immunreaktion auf das kör-
aus dem griechischen Wort für „Verhärtung“ ab, was sich auf
pereigene Myelin. Die Symptome entstehen direkt aufgrund
die Läsionen bezieht, die sich an den Axonbündeln entwi-
der Verlangsamung oder der kompletten Störung der Fort-
ckeln. Und die Sklerose wird als „multipel“ bezeichnet, weil
leitung von Aktionspotenzialen. Dieses Defizit bei der Erre-
die Krankheit viele Stellen im Nervensystem gleichzeitig be-
gungsleitung lässt sich klinisch nachweisen, indem man die
fällt.
peripheren Nerven elektrisch durch die Haut stimuliert und
Läsionen im Gehirn lassen sich heute nichtinvasiv sichtbar dann die Zeit bis zu einer Reaktion (beispielsweise einem
machen, indem man neue Methoden wie die Magnetreso- Muskelzucken) misst. Sowohl MS als auch das Guillain-
nanztomografie (MRT) anwendet. Neurologen können je- Barré-Syndrom sind durch eine grundlegende Verlangsa-
doch schon seit Jahren MS diagnostizieren, indem sie sich mung der Reaktionszeit gekennzeichnet, da die saltatorische
die Tatsache zunutze machen, dass Myelin im Nervensystem Erregungsleitung gestört wird.

Myelin und die saltatorische Erregungsleitung

Der Vorteil von dicken Axonen besteht darin, dass sie Aktionspotenziale schneller leiten
als dünne, der Nachteil ist, dass sie sehr viel Raum einnehmen. Wenn alle Axone im Ge-
hirn den Durchmesser des Riesenaxons der Tintenfische hätten, wäre der Kopf zu groß,
um durch ein Scheunentor zu passen. Glücklicherweise haben die Vertebraten eine andere
Lösung entwickelt, um die Leitungsgeschwindigkeit von Aktionspotenzialen zu erhöhen:
Das Axon ist von einer Isolierung umgeben, die man als Myelin bezeichnet (Kap. 2).
Die Myelinscheide besteht aus vielen Membranschichten, die von Gliazellen stammen –
Schwann-Zellen im peripheren Nervensystem (außerhalb von Gehirn und Rückenmark)
sowie Oligodendrogliazellen im Zentralnervensystem. Ähnlich wie das Umwickeln eines
löcherigen Gartenschlauches mit Dichtungsband bewirkt, dass das Wasser im Inneren des
Schlauches fließt, verstärkt das Myelin den längsgerichteten Stromfluss im Inneren des
Axons und erhöht dabei die Geschwindigkeit der Erregungsleitung des Aktionspotenzials
(Exkurs 4.5).
Die Myelinscheide erstreckt sich nicht durchgehend über die gesamte Länge eines Axons.
Die Isolierung weist Lücken auf, an denen Ionen die Membran durchqueren und die Ak-
tionspotenziale auslösen. Wie wir in Kap. 2 erfahren haben, sind die Unterbrechungen
der Myelinscheide die Ranvier-Schnürringe (Abb. 4.14). In der Membran der Schnür-
ringe treten spannungsabhängige Natriumkanäle gehäuft auf. Der Abstand zwischen den
Schnürringen beträgt normalerweise 0,2–2,0 mm, abhängig von der Größe des Axons (di-
ckere Axone weisen größere Abstände zwischen den Schnürringen auf).
Stellen Sie sich das Aktionspotenzial, das sich die Axonmembran entlangbewegt, so ähn-
lich vor wie einen Spaziergänger, der einen Bürgersteig entlanggeht. Die Erregungsleitung
110 4 Das Aktionspotenzial

Axon
Teil I

Ranvier-
Schnürring
Myelinscheide

Abb. 4.14 Die Myelinscheide und ein Ranvier-Schnürring. Die elektrische Isolierung durch das
Myelin trägt dazu bei, die Weiterleitung der Aktionspotenziale von einem Schnürring zum nächsten
zu beschleunigen. Spannungsabhängige Natriumkanäle treten in der Axonmembran an den Ranvier-
Schnürringen gehäuft auf

Ranvier- Axon
Myelinscheide Schnürring

+ +

Zeitpunkt 0

+ +

1 ms später

Abb. 4.15 Saltatorische Erregungsleitung. Das Myelin bewirkt, dass sich der Strom zwischen
zwei Schnürringen über weitere Strecken und schneller ausbreiten kann als ohne, sodass sich die
Weiterleitung von Aktionspotenzialen beschleunigt. Vergleichen Sie diese Abbildung mit Abb. 4.13

der Aktionspotenziale ohne Myelin entspricht der Vorwärtsbewegung im Zehen-Hacken-


Gang, bei der man jeden Zentimeter des Weges mühsam entlangschleicht. Erregungslei-
tung mit Myelin ist im Gegensatz dazu so, als würde man den Bürgersteig entlangspringen.
In myelinisierten Axonen springen die Aktionspotenziale von Schnürring zu Schnürring
(Abb. 4.15). Diese Art der Fortpflanzung eines Aktionspotenzials bezeichnet man daher
als saltatorische Erregungsleitung (abgeleitet aus dem lateinischen Wort für „springen“).

Aktionspotenziale, Axone und Dendriten


Aktionspotenziale der Art, wie sie in diesem Kapitel besprochen wurden, sind vor al-
lem ein Merkmal der Axone. In der Regel erzeugen die Membranen von Dendriten und
Zellkörpern keine natriumabhängigen Aktionspotenziale, da sie nur sehr wenige span-
Aktionspotenziale, Axone und Dendriten 111

Teil I
a

Pyramidenzelle Membran mit spannungs-


abhängigen Natriumkanälen
in hoher Dichte

sensorisches
Neuron
b

Initiationszone:
Axonhügel
Initiationszone:
sensorisches Nervenende

Abb. 4.16 Die Initiationszone für Aktionspotenziale. Membranproteine bestimmen die Funk-
tionen der verschiedenen Abschnitte eines Neurons. Dargestellt sind a eine Pyramidenzelle der
Hirnrinde und b ein primäres sensorisches Neuron. Trotz der Verschiedenheit der Neuronenstruktur
ist die Axonmembran auf molekularer Ebene an der hohen Dichte spannungsabhängiger Natrium-
kanäle zu erkennen. Aufgrund dieser molekularen Besonderheit können Axone Aktionspotenziale
erzeugen und weiterleiten. Die Membranregion, in der Aktionspotenziale normalerweise erzeugt
werden, bezeichnet man als Initiationszone. Die Pfeile geben die normale Richtung an, in der sich
das Aktionspotenzial in diesen beiden Arten von Neuronen fortpflanzt

nungsabhängige Natriumkanäle besitzen. Nur eine Membran, die diese spezialisierten


Proteinmoleküle enthält, kann Aktionspotenziale hervorbringen, und diese Art erregbare
Membran kommt normalerweise nur in Axonen vor. Deshalb bezeichnet man den Be-
reich des Neurons, an dem das Axon aus dem Soma hervorgeht, also den Axonhügel,
häufig auch als Initiationszone. Bei den meisten Neuronen im Gehirn oder Rückenmark
führt die Depolarisation der Dendriten und des Somas, die durch synaptische Signale von
anderen Neuronen verursacht werden, zur Erzeugung von Aktionspotenzialen, wenn die
Membran des Axonhügels über den Schwellenwert hinaus depolarisiert wird (Abb. 4.16a).
Bei den meisten sensorischen Neuronen liegt die Initiationszone jedoch in der Nähe der
sensorischen Nervenenden. Hier bringt die Depolarisation, die durch einen sensorischen
Reiz verursacht wurde, ein Aktionspotenzial hervor, das sich im sensorischen Nerven in
Richtung ZNS fortpflanzt (Abb. 4.16b).
In Kap. 2 haben wir erfahren, dass sich die Morphologie von Axonen und Dendriten
unterscheidet. Wir wissen jetzt, dass auch die Funktionen unterschiedlich sind und dass
dies bereits auf molekularer Ebene durch die Art der Proteine in der Nervenzellmembran
festgelegt ist. Unterschiedliche Arten und die Verteilung von Membrankanälen können
ebenfalls für die spezifischen elektrischen Eigenschaften der verschiedenen Neuronenar-
ten verantwortlich sein (Exkurs 4.6).
112 4 Das Aktionspotenzial
Teil I

Exkurs 4.6  Perspektive


Die elektrische Signatur der Neuronen

Nicht alle Neuronen sind gleich. Sie variieren in Form, Größe warum es so vielfältige Feuermuster gibt. Es sind die kom-
und ihren Verknüpfungen. Auch die elektrischen Eigenschaf- plexen Wechselwirkungen von vielen Ionenkanälen, die die
ten von Neuronen unterscheiden sich. In der Abbildung sind elektrische Signatur einer jeden Neuronenklasse prägen.
einige Beispiele der verschiedenen Verhaltensweisen von
Neuronen dargestellt. a
Die Hirnrinde enthält zwei Haupttypen von Neuronen, die
sich in Bezug auf ihre Morphologie unterscheiden: nicht-
bedornte Sternzellen und bedornte Pyramidenzellen. Eine
Sternzelle reagiert normalerweise auf einen konstanten de-
polarisierenden Strom, der zu ihrem Soma gelangt, indem sie
Aktionspotenziale abfeuert. Das geschieht mit relativ kon-
stanter Frequenz während des gesamten Reizes (Abb. a). Vm
Die meisten Pyramidenzellen können dagegen keine kon-
stante Feuerrate aufrechterhalten. Stattdessen feuern sie zu
Beginn des Reizes schnell und reduzieren die Häufigkeit
zugeführter,
dann, selbst wenn der Reiz stark bleibt (Abb. b). Diese depolarisierender Strom 25 ms
Verlangsamung im Laufe der Zeit bezeichnet man als Ad-
aptation. Diese Eigenschaft tritt bei erregbaren Zellen sehr b
häufig auf. Ein anderes Muster von Aktionspotenzialen ist
der burst, eine schnelle Folge von Aktionspotenzialen, an die
sich eine kurze Pause anschließt. Einige Zellen einschließlich
einer besonderen Untergruppe von großen Pyramidenzellen
in der Hirnrinde können auf einen konstanten Reiz sogar
mit rhythmischen, wiederholten bursts reagieren (Abb. c).
Die Variabilität der Aktionspotenzialmuster ist nicht auf die
Hirnrinde beschränkt. Untersuchungen an vielen Gehirnre-
gionen lassen den Schluss zu, dass Neuronen eine ebenso
große Auswahl an elektrischen Verhaltensweisen aufweisen
50 ms
wie an Morphologien.
Was ist für die verschiedenen Verhaltensweisen der einzel- c
nen Typen von Neuronen verantwortlich? Letztendlich wird
die Physiologie jedes Neurons durch die Eigenschaften und
die Anzahl der Ionenkanäle in seiner Membran bestimmt.
Es gibt viel mehr Arten von Ionenkanälen als die weni-
gen, die in diesem Kapitel beschrieben wurden, und jede hat
spezifische Eigenschaften. So werden beispielsweise einige
Kaliumkanäle nur sehr langsam aktiviert. Ein Neuron mit ei-
ner hohen Dichte solcher Ionenkanäle zeigt eine Adaptation,
da sich während eines lang andauernden Reizes immer mehr
der langsamen Kaliumkanäle öffnen und die nach außen ge-
richteten Ströme, die sie zunehmend hervorbringen, zu einer 50 ms
Hyperpolarisation der Membran führen können. Wenn man
bedenkt, dass ein einzelnes Neuron über ein Dutzend Ar- Unterschiedliche Verhaltensweisen von Neuronen. (Nach Agmon
ten von Ionenkanälen exprimieren kann, ist nachvollziehbar, und Connors 1992)
Wiederholungsfragen 113

Teil I
Abschließende Bemerkungen
Wir wollen uns noch einmal kurz dem in Kap. 3 erwähnten Beispiel zuwenden, bei dem
jemand in eine Reißzwecke tritt. Die Verletzung der Haut durch die Reißzwecke dehnt
die sensorischen Nervenenden im Fuß. Spezielle Ionenkanäle, die für die Dehnung der
Membran empfindlich sind, öffnen sich, und positiv geladene Natriumionen gelangen
in die Axonendigungen der sensiblen Fasern in der Haut. Dieser Einstrom von positi-
ver Ladung depolarisiert die Membran der Initiationszone bis zum Schwellenwert, und
das Aktionspotenzial wird erzeugt. Die positive Ladung, die während der Aufstrichpha-
se des Aktionspotenzials in das Zellinnere gelangt, breitet sich entlang des Axons aus
und depolarisiert die davor liegende Membran bis zum Schwellenwert. Auf diese Weise
wird das Aktionspotenzial ständig regeneriert, während es wie eine Welle das sensorische
Axon entlangwandert. Nachfolgend kann die Information an andere Neuronen im Zen-
tralnervensystem weitergegeben und von diesen dann weiterverarbeitet werden. Diesen
Informationstransfer von einem Neuron auf ein anderes bezeichnet man als synaptische
Übertragung. Sie wird das Thema der nächsten beiden Kapitel sein.
Es sollte nicht verwundern, dass die synaptische Übertragung, ähnlich dem Aktionspoten-
zial, auf spezialisierten Proteinen in der Nervenzellmembran beruht. Letztlich können wir
uns das Gehirn also als ein komplexes Netzwerk interagierender Nervenzellmembranen
vorstellen. Bedenken wir, dass ein normales Neuron mit allen seinen Neuriten eine Mem-
branoberfläche von etwa 250.000 m2 besitzt. Die Oberfläche der 85 Mrd. Neuronen, die
das menschliche Gehirn bilden, würde damit etwa 21.000 m2 betragen – was in etwa der
Fläche von drei Fußballfeldern entspricht. Diese enorme Membranoberfläche mit ihren
unzähligen spezialisierten Proteinmolekülen bildet die materielle Grundlage des mensch-
lichen Geistes.

Wiederholungsfragen
1. Definieren Sie das Membranpotenzial (Vm ) und das Natriumgleichgewichtspotenzial
(ENa ). Welche der beiden Größen (wenn überhaupt eine) verändert sich beim Aktions-
potenzial?
2. Welche Ionen bestimmen den frühen Einstrom und den späten Ausstrom beim Akti-
onspotenzial?
3. Warum bezeichnet man die Funktionsweise von Aktionspotenzialen als „Alles-oder-
nichts-Prinzip“?
4. Einige spannungsabhängige KC -Kanäle bezeichnet man aufgrund des Zeitpunkts, zu
dem sie sich während eines Aktionspotenzials öffnen, als verzögerte Gleichrichter. Was
würde geschehen, wenn diese Kanäle viel länger bräuchten als normalerweise, um sich
zu öffnen?
5. Angenommen, wir hätten Tetrodotoxin (TTX) markiert, sodass es mit einem Mikro-
skop sichtbar wäre. Wenn wir dieses TTX auf ein Neuron auftrügen, welche Teile der
Zelle würden dann markiert? Welche Folgen hätte dies für das Neuron?
6. Wie variiert die Leitungsgeschwindigkeit des Aktionspotenzials in Abhängigkeit vom
Durchmesser der Axone? Warum?
114 4 Das Aktionspotenzial
Teil I

Literatur

Direkt zitierte Literatur

Agmon A, Connors BW (1992) Correlation between intrinsic firing patterns and thalamo-
cortical synaptic responses of neurons in mouse barrel cortex. J Neurosci 12:19–329
Armstrong CM, Hille B (1998) Voltage-gated ion channels and electrical excitability. Neu-
ron 20:371–380
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Die synaptische Übertragung
5

Teil I
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Typen von Synapsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Grundlagen der Signalübertragung an chemischen Synapsen . . . . . . . . . 129
Grundlagen der synaptischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 117
M.F. Bear, B.W. Connors, M.A. Paradiso, Neurowissenschaften,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57263-4_5
118 5 Die synaptische Übertragung

Einführung
Teil I

In den Kap. 3 und 4 wurde besprochen, wie mechanische Energie, etwa das Eindrin-
gen einer Reißzwecke in den Fuß, in ein Nervensignal umgewandelt werden kann. Zu-
erst lassen spezialisierte Ionenkanäle an den Enden der sensorischen Nerven positive La-
dung in das Axon einströmen. Wenn diese Depolarisation den Schwellenwert erreicht,
werden Aktionspotenziale erzeugt. Da die Axonmembran erregbar ist und spannungsab-
hängige Natriumkanäle besitzt, können sich Aktionspotenziale ohne Abschwächung die
langen sensorischen Nerven „aufwärts“ bewegen. Damit diese Informationen vom übri-
gen Nervensystem verarbeitet werden können, müssen die neuronalen Signale auf andere
Neuronen übertragen werden – etwa auf motorische Neuronen, die die Muskelkontrakti-
on kontrollieren, sowie auf Neuronen im Gehirn und Rückenmark, die eine koordinierte
Reflexreaktion auslösen. Am Ende des 19. Jahrhunderts erkannte man, dass diese Infor-
mationsübertragung von einem Neuron auf ein anderes an spezialisierten Kontaktstellen
erfolgt. 1897 entwickelte der englische Physiologe Charles Sherrington dafür die Bezeich-
nung „Synapsen“. Den Vorgang der Informationsübertragung an der Synapse bezeichnet
man als synaptische Übertragung.
Die physikalische Form der synaptischen Übertragung war fast ein Jahrhundert lang um-
stritten. Laut einer beliebten Hypothese, die die Geschwindigkeit der synaptischen Über-
tragung gut erklären konnte, sollte einfach ein elektrischer Strom von einem Neuron zum
nächsten fließen. Die Existenz solcher elektrischen Synapsen konnte schließlich in den
späten 1950er-Jahren von Edwin Furshpan und David Potter bewiesen werden, Physio-
logen an der Harvard University, die das Nervensystem von Flusskrebsen untersuchten,
und von Akira Watanabe, der an der Tokyo Medical and Dental University die Neuronen
von Hummern erforschte. Heute wissen wir, dass elektrische Synapsen im Gehirn von
Wirbellosen und Wirbeltieren, einschließlich Säugern, weitverbreitet sind.
Eine alternative Hypothese über die Art der synaptischen Übertragung, die ebenfalls im
19. Jahrhundert entstand, besagte, dass an der Synapse chemische Neurotransmitter die
Information von einem Neuron zum anderen übertragen. 1921 fand Otto Loewi deutli-
che Hinweise für die Existenz von chemischen Synapsen. Er war damals der Leiter der
pharmakologischen Abteilung an der Universität Graz in Österreich. Loewi zeigte, dass
die elektrische Stimulation von Axonen, die das Herz des Frosches innervieren, die Frei-
setzung eines chemischen Botenstoffs verursacht und dass dieser Botenstoff die Wirkung
elektrischer Nervenstimulation auf den Herzschlag nachbilden kann (Exkurs 5.1). Spä-
ter konnten Bernhard Katz und seine Mitarbeiter am University College London zeigen,
dass die Übertragung an der Synapse zwischen dem Axon eines motorischen Neurons und
dem Skelettmuskel ebenfalls auf chemischem Wege erfolgt. 1951 untersuchte John Eccles
an der Australian National University die Physiologie der synaptischen Übertragung im
Zentralnervensystem (ZNS) der Säuger mithilfe eines neuen Instruments – der Glasmikro-
elektrode. Diese Experimente deuteten darauf hin, dass viele Synapsen im ZNS ebenfalls
einen chemischen Transmitter nutzen. Die meisten Synapsen im Gehirn sind chemische
Synapsen. Während des letzten Jahrzehnts ließ sich mithilfe neuer Untersuchungsmetho-
den für die an der synaptischen Übertragung beteiligten Moleküle zeigen, dass Synapsen
wesentlich komplexer sind als die meisten Neurowissenschaftler angenommen hatten.
Die synaptische Übertragung ist ein umfangreiches und sehr interessantes Gebiet. Die
Wirkung psychoaktiver Drogen, die Ursachen von Geistesstörungen, die nervliche Grund-
lage des Lernens und des Gedächtnisses – tatsächlich alle Aktivitäten des Nervensystems
– lassen sich ohne Kenntnisse der synaptischen Übertragung nicht verstehen. Deshalb
widmen wir diesem Thema mehrere Kapitel, wobei es vor allem um die chemischen Sy-
napsen gehen soll. Dieses Kapitel beginnen wir damit, dass wir uns mit den grundlegenden
Mechanismen der synaptischen Übertragung beschäftigen. Wie sehen verschiedene Ar-
ten von Synapsen aus? Wie werden Neurotransmitter synthetisiert und gespeichert, und
wie werden sie als Reaktion auf ein Aktionspotenzial in der Axonterminale freigesetzt?
Wie wirken Neurotransmitter auf die postsynaptische Membran? Wie integrieren einzelne
Neuronen die ankommenden Informationen, die von Tausenden von Synapsen geliefert
werden und das Neuron beeinflussen?
Typen von Synapsen 119

Teil I
Exkurs 5.1  Perspektive
Otto Loewis Traum

Eine Anekdote aus der Geschichte der Neurowissenschaft Sonntag war der hoffnungsloseste Tag in meinem ganzen Leben
handelt von Otto Loewi, der in den 1920er-Jahren in Ös- als Wissenschaftler. In der nächsten Nacht wachte ich jedoch um
terreich arbeitete und damals zeigen konnte, dass die syn- drei Uhr wieder auf, und ich erinnerte mich, um was es sich han-
delte. Diesmal ging ich kein Risiko ein. Ich stand sofort auf, ging
aptische Übertragung zwischen Nerven und Herz chemisch
ins Labor, führte das oben beschriebene Experiment mit dem
erfolgt. Das Herz wird durch zwei Typen von Fasern inner- Froschherzen durch, und um fünf Uhr war die chemische Über-
viert. Der eine Typ beschleunigt den Herzschlag, der andere tragung des Nervenimpulses endgültig bewiesen. . . Sorgfältige
verlangsamt ihn. Für Letzteres ist der Vagusnerv verant- Überlegungen bei Tageslicht hätten mich unzweifelhaft davon
wortlich. Loewi isolierte das Herz eines Frosches, wobei abgehalten, diese Art von Experiment durchzuführen. Es wäre
die Innervation durch den Vagusnerv erhalten blieb. Er sti- mir nämlich äußerst unwahrscheinlich erschienen, dass, wenn
mulierte den Nerv elektrisch und beobachtete wie erwartet, ein Nervenimpuls einen Übertragungsfaktor freisetzt, dies in aus-
reichender Menge dafür geschehen würde, das Effektororgan zu
dass sich der Herzschlag verlangsamte. Die entscheidende beeinflussen, in diesem Fall das Herz. Tatsächlich aber erfolg-
Entdeckung, dass diese Wirkung auf chemische Weise ver- te die Freisetzung in so einem Übermaß, dass der Faktor in die
mittelt wird, erfolgte jedoch, als er die Lösung, mit der das Flüssigkeit gelangte, mit der das Herz gefüllt war, und so nach-
Herz durchspült worden war, für ein zweites Froschherz ver- gewiesen werden konnte. Das gesamte nächtliche Konzept des
wendete und feststellte, dass sich der Herzschlag auch hier Experiments beruhte auf dieser Möglichkeit, und das Ergebnis
verlangsamte. erwies sich als positiv, ganz im Gegensatz zu meinen Erwartun-
gen (Loewi 1953, S. 33–34).
Die Idee für dieses Experiment war Loewi in einem Traum
gekommen. Hier seine eigenen Notizen: Die aktive Substanz, die Loewi als Vagusstoff bezeichne-
te, stellte sich als Acetylcholin heraus. Wie wir in diesem
In der Nacht von Ostersonntag 1921 wachte ich auf, schaltete das
Licht an und machte einige Notizen auf einem kleinen Stück Pa-
Kapitel noch erfahren werden, ist Acetylcholin auch der
pier. Dann schlief ich wieder ein. Um sechs Uhr morgens hatte Transmitter an der Synapse zwischen Nerv und Skelett-
ich das Gefühl, dass ich in der Nacht etwas sehr Wichtiges auf- muskel. Hier verursacht es, anders als beim Herzen, eine
geschrieben hatte, konnte das Gekrakel aber nicht lesen. Dieser Erregung und Kontraktion des Muskels.

Typen von Synapsen


In Kap. 2 haben wir die Synapse eingeführt. Eine Synapse ist eine spezialisierte Verbin-
dung, in der ein Abschnitt eines Neurons mit einem anderen Neuron oder Zelltyp (etwa
einer Muskel- oder Drüsenzelle) kommuniziert. Die Information fließt nur in einer Rich-
tung, das heißt vom Neuron zu seiner Zielzelle. Das erste Neuron bezeichnet man als
präsynaptisch, die Zielzelle als postsynaptisch. Im Folgenden wollen wir uns mit den ver-
schiedenen Typen von Synapsen beschäftigen.

Elektrische Synapsen

Elektrische Synapsen besitzen eine relativ einfache Struktur und Funktion, und sie ermög-
lichen die direkte Übertragung eines Ionenstroms von einer Zelle zur nächsten. Elektrische
Synapsen kommen an spezialisierten Stellen vor, die man als gap junctions bezeichnet.
Gap junctions kommen zwischen Zellen in fast allen Teilen des Körpers vor und verbinden
viele nichtneuronale Zellen, darunter Epithelzellen, glatte Muskelzellen und Herzmuskel-
zellen, Leberzellen, einige Drüsenzellen und Gliazellen. An einer solchen Kontaktstelle
sind die Membranen von zwei Zellen nur etwa 3 nm voneinander entfernt, und diese
schmale Lücke wird von zusammengelagerten speziellen Proteinen durchspannt, die man
als Connexine bezeichnet. Es gibt rund 20 verschiedene Subtypen von Connexinen, von
denen rund die Hälfte im Gehirn vorkommt. Sechs Connexin-Untereinheiten bilden ge-
meinsam einen Kanal, der als Connexon bezeichnet wird, und zwei Connexone (von jeder
Zelle eines) bilden zusammen einen gap junction-Kanal (Abb. 5.1). Der Kanal lässt Ionen
direkt vom Cytoplasma der einen Zelle in das Cytoplasma der anderen Zelle passieren. Bei
120 5 Die synaptische Übertragung

a
Teil I

Zelle 1
gap junction

Zelle 2

b
Zelle 1 gap junction -Kanäle
Cytoplasma
c

gap
junction
3.5 nm 20 nm
Connexon

Connexin
Zelle 2
Cytoplasma
Ionen und durch Poren in beiden
kleine Moleküle Membranen gebildeter Kanal

Abb. 5.1 Gap junction. a Neuriten von zwei Zellen sind über eine gap junction verbunden. b Die Vergrößerung zeigt gap junction-Kanäle, die die
Cytoplasmen der beiden Zellen miteinander verbinden. Ionen und kleine Moleküle können diese Kanäle in beiden Richtungen passieren. c Sechs
Connexin-Untereinheiten bilden ein Connexon, zwei Connexone bilden einen gap junction-Kanal, und viele gap junction-Kanäle bilden eine gap
junction

den meisten gap junctions ist die Pore relativ groß. Ihr Durchmesser beträgt etwa 1–2 nm,
groß genug für die Passage der wichtigsten zellulären Ionen und vieler kleiner organischer
Moleküle.
Die meisten gap junctions lassen den Ionenstrom gleichmäßig in beiden Richtungen pas-
sieren. Elektrische Synapsen sind also im Gegensatz zur überwiegenden Mehrzahl der
chemischen Synapsen bidirektional. Da der elektrische Strom (in Form von Ionen) diese
Kanäle passieren kann, bezeichnet man Zellen, die über gap junctions verbunden sind,
als elektrisch gekoppelt. Die Übertragung an elektrischen Synapsen erfolgt schnell, und
wenn die Synapse groß ist, auch mit großer Sicherheit ohne Fehler. Ein Aktionspoten-
zial im präsynaptischen Neuron kann also fast unmittelbar im postsynaptischen Neuron
ein Aktionspotenzial auslösen. Bei Invertebraten wie dem Flusskrebs kommen in den
Nervenbahnen manchmal elektrische Synapsen zwischen sensorischen und motorischen
Neuronen vor, die Fluchtreflexe vermitteln. Dieser Mechanismus ermöglicht es einem
Tier, einen schnellen Rückzug anzutreten, wenn es mit einer gefährlichen Situation kon-
frontiert ist.
Elektrische Synapsen kommen auch im Gehirn von Vertebraten vor. Untersuchungen der
letzten Jahre haben gezeigt, dass elektrische Synapsen in jedem Bereich des ZNS der Säu-
ger vorkommen (Abb. 5.2a). Wenn zwei Neuronen miteinander elektrisch gekoppelt sind,
verursacht ein Aktionspotenzial im präsynaptischen Neuron einen geringen Ionenfluss
durch die gap junction-Kanäle in das andere Neuron. Dieser Strom erzeugt im zweiten
Neuron ein postsynaptisches Potenzial (PSP) (Abb. 5.2b). Da die meisten elektrischen
Synapsen bidirektional sind, ist dabei zu beachten, dass, wenn das zweite Neuron ein Ak-
tionspotenzial erzeugt, dieses wiederum im ersten Neuron ein PSP auslösen kann. Das
Typen von Synapsen 121

a b präsynaptisches Element

Teil I
Vm von Zelle 1
Aktionspotenzial
0
Messung Vm
Dendrit von Zelle 1

– 65

Messung Vm 0 1 2 3
von Zelle 2 Zeit (ms)

– 63
gap

Vm von Zelle 2
junction
– 64 elektrisches PSP

Dendrit
– 65

0 1 2 3
Zeit (ms)
postsynaptisches Element

Abb. 5.2 Elektrische Synapsen. a Eine gap junction, die die Dendriten von zwei Neuronen miteinander verbindet, bildet eine elektrische Sy-
napse. (Sloper und Powell 1978) b Ein Aktionspotenzial, das in einem Neuron ausgelöst wird, verursacht einen geringen Ionenstrom durch die
gap junction-Kanäle in ein zweites Neuron und erzeugt dabei ein elektrisches PSP

PSP, das im menschlichen Gehirn von einer einzigen elektrischen Synapse erzeugt wird,
ist normalerweise klein – maximal 1 mV – und selbst nicht groß genug, um in der postsyn-
aptischen Zelle ein Aktionspotenzial auszulösen. Ein Neuron bildet jedoch normalerweise
mit vielen anderen Neuronen elektrische Synapsen, sodass mehrere PSPs, die gleichzeitig
eintreffen, ein Neuron stark erregen können. Dies ist ein Beispiel für synaptische Integra-
tion (siehe unten).
Die genauen Funktionen von elektrischen Synapsen unterscheiden sich in den einzelnen
Gehirnregionen. Sie sind dort weitverbreitet, wo die normale Funktion es erfordert, dass
die Aktivitäten benachbarter Neuronen hochgradig synchronisiert erfolgen. Beispielswei-
se können Neuronen in einem Hirnstammkern, der sogenannten unteren Olive, kleine
Oszillationen der Membranspannung und gelegentlich auch Aktionspotenziale generie-
ren. Diese Zellen senden Axone zum Kleinhirn (Cerebellum) und sind für die motorische
Kontrolle wichtig. Zudem bilden sie untereinander gap junctions aus. Der Strom, der
während der Membranoszillationen durch gap junctions fließt, und die Aktionspotenziale
dienen dazu, die Aktivität der Neuronen der unteren Olive zu koordinieren und zu syn-
chronisieren (Abb. 5.3a), und dies wiederum könnte zur zeitlichen Feinabstimmung der
motorischen Kontrolle beitragen. Michael Long und Barry Connors an der Brown Uni-
versity fanden, dass genetische Deletion eines kritischen gap junction-Proteins namens
Connexin 36 (Cx36) die Fähigkeit der Neuronen zur Erzeugung von Oszillationen und
Aktionspotenzialen nicht veränderte, wegen des Verlusts von funktionellen gap junctions
wohl aber die Synchronizität der Signale zerstörte (Abb. 5.3b).
Gap junctions zwischen Neuronen kommen besonders in den frühen Embryonalstadien
häufig vor. Es gibt Hinweise, dass es gap junctions bei der Entwicklung des Gehirns
benachbarten Zellen ermöglichen, durch die gemeinsamen chemischen und elektrischen
Signale Wachstum und Reife zu koordinieren.

Chemische Synapsen

Die synaptische Übertragung erfolgt im reifen menschlichen Gehirn überwiegend auf


chemische Weise, sodass wir uns im Rest dieses Kapitels und im nächsten Kapitel aus-
schließlich mit chemischen Synapsen beschäftigen wollen. Bevor wir die verschiedenen
122 5 Die synaptische Übertragung

a
mit gap junctions
Teil I

Aktionspotenzial
Vm von Zelle 1

–0 Ableitung Vm
von Zelle 1
Oszillationen

1
– 65 Gap junction
Vm von Zelle 2

–0 2

– 65 Ableitung Vm
von Zelle 2

b
ohne gap junctions
Vm von Zelle 3

Ableitung Vm
–0 von Zelle 3

3
kein gap junction
– 65
Vm von Zelle 4

4
–0

– 65
Ableitung Vm
0 1 2 3 4 5 von Zelle 4
Zeit (s)

Abb. 5.3 Elektrische Synapsen können Neuronen helfen, ihre Aktivität zu synchronisieren. Gewisse Hirnstammneuronen erzeugen kleine,
regelmäßige Oszillationen von Vm und gelegentlich auch Aktionspotenziale. a Wenn zwei Neuronen durch gap junctions verbunden sind (Zelle 1
und 2), sind ihre Oszillationen und Aktionspotenziale gut synchronisiert. b Ähnliche Neuronen ohne gap junctions (Zelle 3 und 4) generieren
Oszillationen und Aktionspotenziale, die völlig unkoordiniert sind. (Verändert nach Long et al. 2002, S. 10.903)

Typen von chemischen Synapsen besprechen, wollen wir einige ihrer generellen Eigen-
schaften kennenlernen (Abb. 5.4).
Die präsynaptischen und postsynaptischen Membranen an chemischen Synapsen sind
durch den synaptischen Spalt voneinander getrennt, der 20–50 nm breit ist, zehnmal
breiter als die Lücke bei gap junctions. Der Spalt ist angefüllt mit einer Matrix aus
faserförmigen extrazellulären Proteinen. Eine Funktion der Matrix besteht darin, prä-
und postsynaptische Membran miteinander zu verbinden. Die präsynaptische Seite der
Synapse, die man auch als präsynaptisches Element bezeichnet, ist normalerweise eine
Axonterminale. Die Terminale enthält im Allgemeinen Dutzende kleiner Bläschen, die
von Membranen umgeben sind und jeweils etwa 50 nm Durchmesser haben, die sogenann-
ten synaptischen Vesikel (Abb. 5.5a). Diese Vesikel speichern einen Neurotransmitter, den
chemischen Stoff, der zur Kommunikation mit dem postsynaptischen Neuron dient. Viele
Axonterminalen enthalten auch größere Vesikel mit jeweils etwa 100 nm Durchmesser;
diese bezeichnet man als sekretorische Vesikel. Sie enthalten lösliche Proteine, die im
Elektronenmikroskop dunkel erscheinen. Deshalb bezeichnet man sie auch als dense
core-Vesikel (Abb. 5.5b).
Dichte Ansammlungen von Proteinen nahe den Membranen und in den Membranen auf
beiden Seiten des synaptischen Spalts bezeichnet man insgesamt als Membrandifferen-
Typen von Synapsen 123

Teil I
Axonterminale
(präsynaptisches
Element)

sekretorische Vesikel
Mitochondrien

synaptischer
aktive Zone
Spalt
Membran-
post-
differenzierungen
synaptische
synaptische
Verdichtung
Vesikel

Rezeptoren
postsynapischer Dendrit

Abb. 5.4 Die Komponenten einer chemischen Synapse

zierungen. Auf der präsynaptischen Seite ragen entlang der intrazellulären Membran-
seite Proteine in das Cytoplasma der Terminale, was manchmal wie ein Feld winziger
Pyramiden aussieht. Diese Pyramiden und die mit ihnen assoziierte Membran sind die
Stellen, an denen die Neurotransmitter freigesetzt werden, und man bezeichnet sie als
aktive Zonen. Im daran angrenzenden Cytoplasma sammeln sich synaptische Vesikel an
(Abb. 5.4).
Die Proteine, die sich in einer dicken Schicht in der postsynaptischen Membran und direkt
darunter ansammeln, bezeichnet man als postsynaptische Verdichtung. Diese Struktur
enthält die Neurotransmitterrezeptoren, die das interzelluläre chemische Signal (also den
Neurotransmitter) in ein intrazelluläres Signal (eine Änderung des Membranpotenzials
oder eine chemische Veränderung) in der postsynaptischen Zelle umwandeln. Wir wer-
den noch feststellen, dass die Art der postsynaptischen Reaktion ziemlich unterschiedlich
sein kann, abhängig von der Art des Rezeptormoleküls, das durch den Neurotransmitter
aktiviert wird.

ZNS-Synapsen
Im ZNS lassen sich verschiedene Typen von Synapsen danach unterscheiden, mit welchem
Teil des postsynaptischen Neurons die Synapse Kontakt aufnimmt. Bei den sehr zahlrei-
chen axodendritischen Synapsen ist die postsynaptische Membran Teil eines Dendriten.
Wenn die Synapse auf dem Zellkörper liegt, nennt man sie axosomatisch. In seltenen
Fällen nimmt ein Axon Kontakt mit einem anderen Axon auf, man spricht dann von axo-
axonischen Synapsen (Abb. 5.6). In bestimmten spezialisierten Neuronen bilden sogar die
Dendriten untereinander Synapsen. Diese bezeichnet man als dendrodendritische Synap-
sen. Die präsynaptischen Elemente befinden sich nicht nur an den Endverzweigungen der
Axone (Terminalen), sondern sie können auch wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht sein;
124 5 Die synaptische Übertragung

a
Teil I

Mitochondrien

präsynaptische
Terminale

postsynaptische
Zelle aktive Zone

synaptische
Vesikel

b
dense core-
Vesikel

Abb. 5.5 Chemische Synapsen, wie sie im Elektronenmikroskop zu sehen sind. a Eine schnelle
exzitatorische Synapse im ZNS. (Nach Heuser und Reese 1977, S. 262.) b Eine Synapse im PNS mit
zahlreichen dense core-Vesikeln. (Nach Heuser und Reese 1977, S. 278)

a b c
Soma

Dendrit

Axon

Abb. 5.6 Synaptische Verschaltungen im ZNS. a Axodendritische Synapse. b Axosomatische Sy-


napse. c Axoaxonische Synapse
Typen von Synapsen 125

Teil I
Axone
a
b
präsynaptische
Terminale

postsynaptische
dendritische
Dornfortsätze

Axon

Axon
postsynaptische
c Elemente d
präsynaptische
Terminale

aktive Zonen Axon

Abb. 5.7 Verschiedene Formen und Größen von ZNS-Synapsen. a Axospine Synapse: Eine klei-
ne präsynaptische Axonterminale bildet einen Kontakt zu einem postsynaptischen dendritischen
Dornfortsatz aus. Man beachte, dass man die präsynaptischen Terminalen an ihren zahlreichen Ve-
sikeln erkennen kann und die postsynaptischen Elemente postsynaptische Verdichtungen aufweisen.
b Ein Axon zweigt sich auf und bildet zwei präsynaptische Terminalen, eine größer als die ande-
re, und beide kontaktieren ein postsynaptisches Soma. c Eine ungewöhnlich große Axonterminale
kontaktiert ein postsynaptisches Soma und umgibt es. d Eine ungewöhnlich große präsynaptische
Axonterminale kontaktiert fünf postsynaptische dendritische Dornfortsätze. Größere Synapsen be-
sitzen mehr aktive Zonen als kleinere

man spricht in diesem Fall von en passant-Synapsen. Die Größen und Formen von ZNS-
Synapsen können sehr unterschiedlich sein (Abb. 5.7a–d). Erregende Synapsen befinden
sich typischerweise auf winzigen pilzförmigen Ausstülpungen der dendritischen Mem-
bran, die man als dendritische Dornfortsätze oder Spines bezeichnet (Exkurs 5.2). Die
feinsten Details der synaptischen Struktur lassen sich jedoch nur unter der starken Vergrö-
ßerung eines Elektronenmikroskops erkennen (Exkurs 5.2).
126 5 Die synaptische Übertragung
Teil I

Exkurs 5.2  Köpfe und Ideen


Aus Liebe zu dendritischen Dornfortsätzen

Als Master-Studentin schaffte ich es, einen Platz bei dem


renommierten Neurobiologie-Sommerkurs an den Marine
Biological Laboratories in Woods Hole, Massachusetts, zu
ergattern. Dort lernte ich zum ersten Mal dreidimensionale
Elektronenmikroskopie (3DEM) von Serienschnitten ken-
nen. Ich war Feuer und Flamme. Mit 3DEM ließen sich
Dendriten, Axone und Gliazellen rekonstruieren und den-
dritische Dornfortsätze nicht nur vermessen und zählen,
sondern auch erkennen, wo sich Synapsen bildeten, was sich
in ihrem Inneren befand und wie sich Gliazellen zu Synap-
sen gesellten (Abb. b). Die 3DEM-Plattform bietet enorme
Entdeckungsmöglichkeiten, und ich widme mich weiterhin
dem Ziel, die Prozesse der Synapsenbildung und -plastizität
zu entschlüsseln, die beim Lernen und Erinnern im Gehirn
Von Kristen M. Harris
ablaufen.
Als ich zum ersten Mal durch ein Mikroskop schaute und
einen dendritischen Dornfortsatz sah, war es Liebe auf den a axonales Köpfchen
ersten Blick, und diese Affäre hat einfach niemals geen- (Bouton)
det. Ich war Master-Studentin im neuen Neurobiologie- und dendritischer
Verhaltensprogramm der University of Illinois, und es war Dornfortsatz
wirklich eine aufregende Zeit in den Neurowissenschaften. Dendriten
Zur Versammlung der Society of Neurosciences kamen 1979
nur rund 5000 Teilnehmer (heute sind es etwa 25.000), und neuronaler
Zellkörper
die Mitgliedsnummer, die ich in meinem ersten Jahr auf der Axone
Graduate School erhielt, war und ist 2500.
Ich hoffte herauszufinden, wie ein Dornfortsatz aussieht, der Dendriten
„etwas gelernt“ hat, indem ich Tiere trainierte und dann die
Golgi-Färbung anwandte, um Veränderungen in Zahl und
Rapid Golgi preparation (Harris, 1980)
Form der Dornfortsätze zu quantifizieren. Eifrig entwickelte
ich ein ehrgeiziges Projekt und präparierte die Gehirne meh-
b adulte Ratte
rerer Ratten gleichzeitig, schnitt ganze Gehirne, prüfte, ob Gliazelle
Vesikel
die Silberfärbung funktioniert hatte, und lagerte die Gewe-
beschnitte dann in Butanol, während ich Bachelor-Studenten PSD
anleitete, sie auf Objektträger aufzuziehen. Zu unserer Be- Dendrit Dornapparat
stürzung mussten wir mehrere Monate später feststellen, dass Axon
Gliazelle
sich das gesamte Silber aus den Zellen gelöst hatte. Es gab
Dornfortsatz
keine Zellen zu sehen, und das Projekt kam zu einem vorzei-
tigen Ende. Mitochondrion
1 µm
Ich hatte jedoch das Glück, auf einer Gordon Research Con-
ference Professor Timothy Teyler zu treffen. Er hatte kurz c 3DEM eines Dendriten mit Synapsen (rot) und Organellen
zuvor die Präparation von Hippocampusschnitten aus Nor-
wegen in die Vereinigten Staaten gebracht und verlegte sein
Labor aus Harvard in eine neue medizinische Fakultät in
Rootstown, Ohio. Ich war völlig fasziniert von den kontrol-
lierten Experimenten, die Hirnschnitte ermöglichen konnten,
und so entwickelte ich eine Golgi-Färbung für die Hirn-
schnitte und ging zu Teyler, um bei ihm meine Doktorarbeit
abzuschließen. Diesmal präparierte ich einen Schnitt nach
dem anderen, und wie in Abb. a zu sehen ist, ließen sich
die Dornfortsätze außerordentlich gut erkennen. Leider lagen
präzise Zählungen und Formvermessungen außerhalb des-
sen, was sich mit einem Lichtmikroskop erreichen ließ.
Typen von Synapsen 127

Zu Beginn meiner Laufbahn, als die Revolution der Mole- noch aufregender macht, da viele der Abbildungs- und Re-

Teil I
kularbiologie das ganze Gebiet in ihren Bann zog, teilten konstruktionsprozesse, die früher per Hand erledigt wer-
nur wenige Studenten oder Wissenschaftskollegen meine den mussten, inzwischen automatisiert wurden. Abb. c
Begeisterung für 3DEM. Das hat sich inzwischen drama- zeigt eine aktuelle 3DEM-Wiedergabe mit einer Farbco-
tisch geändert, denn Neurowissenschaftler haben erkannt, dierung von Organellen und synaptischen Komponenten.
wie wichtig es ist zu verstehen, in welcher Weise Mo- Es ist wirklich aufregend, an dieser Entwicklung teilzuha-
leküle auf kleinstem Raum wie in Dendriten oder Dorn- ben. Neue Befunde hinsichtlich der Plastizität der Synap-
fortsätzen mit intrazellulären Organellen zusammenarbei- senstruktur bei normalen Veränderungen der Hirnfunktion
ten. Zudem müssen alle Karten neuronaler Schaltkreise und bei krankhaften Veränderungen, die tragischerweise den
Synapsen einschließen. Diese Unterfangen haben Wissen- Kern unseres Menschseins berühren, gibt es in Hülle und
schaftler aus zahlreichen Feldern angelockt, was 3DEM Fülle.

ZNS-Synapsen kann man aufgrund der Erscheinungsform ihrer präsynaptischen und a b


postsynaptischen Membrandifferenzierung bei starker Vergrößerung im Elektronenmi-
kroskop noch in zwei weitere allgemeine Gruppen einteilen. Synapsen, bei denen die
Membrandifferenzierung auf der postsynaptischen Seite dicker ist als auf der präsynapti-
schen, bezeichnet man als asymmetrische Synapsen oder Gray-Typ-I-Synapsen. Wenn die
Membrandifferenzierungen dieselbe Dicke aufweisen, spricht man von symmetrischen
oder Gray-Typ-II-Synapsen (Abb. 5.8). Wie wir in diesem Kapitel noch erfahren werden,
deuten diese strukturellen Unterschiede auf unterschiedliche Funktionen hin. Die Gray- asymmetrische symmetrische
Typ-I-Synapsen sind im Allgemeinen exzitatorisch, Gray-Typ-II-Synapsen hingegen in- Membran- Membran-
differenzierungen differenzierungen
hibitorisch.
Abb. 5.8 Zwei Klassen von synapti-
Neuromuskuläre Endplatte schen Membrandifferenzierungen im
ZNS. a Eine Gray-Typ-I-Synapse ist
Außerhalb des ZNS gibt es ebenfalls synaptische Verbindungen. So innervieren beispiels-
asymmetrisch und wirkt im Allgemeinen
weise Axone des vegetativen Nervensystems Drüsen, die glatte Muskulatur und das Herz. exzitatorisch. b Eine Gray-Typ-II-
Chemische Synapsen kommen auch zwischen Axonen von Motoneuronen des Rücken- Synapse ist symmetrisch und wirkt
marks und der Skelettmuskulatur vor. Eine solche Synapse bezeichnet man als neuro- normalerweise inhibitorisch
muskuläre Endplatte. Sie besitzt viele Strukturmerkmale der chemischen Synapsen im
ZNS (Abb. 5.9).
Die Signalübertragung an der neuromuskulären Endplatte ist schnell und zuverlässig.
Ein Aktionspotenzial im motorischen Axon führt immer zu einem Aktionspotenzial in
der Muskelzelle, die das Axon innerviert. Diese Zuverlässigkeit ist zum Teil eine Fol-
ge der strukturellen Spezialisierungen der Endplatte. Die wichtigste ist die Größe – es
handelt sich um eine der größten Synapsen im Körper. Die präsynaptische Terminale ent-
hält zudem eine große Anzahl aktiver Zonen. Darüber hinaus enthält die postsynaptische
Membran eine Reihe von Falten, die man insgesamt als subneuralen Faltenapparat be-
zeichnet. Die präsynaptischen aktiven Zonen sind genau auf diese endplattenspezifischen
Falten ausgerichtet, und die postsynaptische Membran der Falten ist dicht mit Rezeptoren
für Neurotransmitter besetzt. Diese Struktur stellt sicher, dass viele Transmittermoleküle
bei ihrer Freisetzung auf die große Oberfläche einer chemisch empfindlichen Membran
treffen.
Da die neuromuskulären Endplatten für eine Erforschung besser zugänglich sind als die
ZNS-Synapsen, hat man vieles von dem, was wir über die Mechanismen der synapti-
schen Übertragung wissen, hier zuerst untersucht. Neuromuskuläre Endplatten besitzen
auch eine beträchtliche klinische Bedeutung: Krankheiten, Medikamente und Gifte, die
diese chemische Synapse beeinflussen, haben direkte Auswirkungen auf die Lebensfunk-
tionen des Körpers.
128 5 Die synaptische Übertragung
Teil I

Motoneuron

Muskelfasern

Myelin

Axon
neuromuskuläre
Endplatte

synaptische
Vesikel

aktive Zone
synaptischer
Spalt

Rezeptoren
subneuraler
Faltenapparat
postsynaptische
Muskelfaser

präsynaptische Region der motorischen


Terminale Endplatte

Abb. 5.9 Neuromuskuläre Endplatte. Die Kontaktstelle zwischen motorischem Axon und Muskelzelle, die man auch als motorische Endplatte
bezeichnet, enthält auf der postsynaptischen Seite spezifische Faltungen mit zahlreichen Rezeptoren für Neurotransmitter
Grundlagen der Signalübertragung an chemischen Synapsen 129

Grundlagen der Signalübertragung

Teil I
an chemischen Synapsen
Betrachten wir die grundlegenden Anforderungen der Signalübertragung an chemischen
Synapsen. Es muss einen Mechanismus geben, die Neurotransmitter zu synthetisieren und
in synaptische Vesikel zu verpacken, einen Mechanismus, der die Vesikel veranlasst, ihren
Inhalt als Reaktion auf ein präsynaptisches Aktionspotenzial in den synaptischen Spalt
abzugeben, einen Mechanismus für die Erzeugung einer elektrischen oder chemischen
Reaktion auf Neurotransmitter im synaptischen Spalt und einen Mechanismus für das
Entfernen der Neurotransmitter aus dem synaptischen Spalt. Außerdem müssen alle diese
Vorgänge sehr schnell erfolgen, damit sie für die Wahrnehmung und Empfindung von Sin-
nesreizen und die Koordinierung der Bewegung geeignet sind. Es verwundert also nicht,
dass die Physiologen zuerst anzweifelten, dass es im Gehirn überhaupt chemische Synap-
sen geben könnte.
Aufgrund mehrerer Jahrzehnte der Forschung auf diesem Gebiet verstehen wir nun, auf
welche Weise viele dieser Aspekte der synaptischen Übertragung so effizient sind. Wir
wollen hier einen allgemeinen Überblick über die Grundlagen geben. In Kap. 6 werden
wir uns genauer mit einzelnen Neurotransmittern und ihren postsynaptischen Wirkmecha-
nismen beschäftigen.

Neurotransmitter

Seit der Entdeckung der Übertragung an chemischen Synapsen hat man zahlreiche Neu-
rotransmitter im Gehirn identifiziert. Unsere gegenwärtige Vorstellung ist, dass die meis-
ten Neurotransmitter zu einer von drei chemischen Klassen gehören: (1) Aminosäuren,
(2) Amine und (3) Peptide (Tab. 5.1). Einige Beispiele aus diesen Klassen sind in Abb. 5.10
dargestellt. Die Aminosäure- und Aminneurotransmitter sind kleine organische Mole-
küle, die mindestens ein Stickstoffatom enthalten. Sie werden in synaptischen Vesikeln
gespeichert und daraus freigesetzt. Peptidneurotransmitter sind große Moleküle, die in
sekretorischen Vesikeln gespeichert und daraus freigesetzt werden. Wie bereits erwähnt,
kommen sekretorische und synaptische Vesikel häufig in denselben Axonterminalen vor.
Übereinstimmend mit dieser Beobachtung treten Peptide häufig in denselben Axontermi-
nalen auf, die auch Amine und Aminosäuren als Neurotransmitter enthalten. Und wie wir
gleich feststellen werden, werden diese verschiedenen Neurotransmitter unter verschiede-
nen Bedingungen freigesetzt.
Verschiedene Neuronen im Gehirn setzen unterschiedliche Neurotransmitter frei. Die Ge-
schwindigkeit der synaptischen Übertragung variiert stark. Schnelle Formen der synapti-
schen Übertragung dauern etwa 2–100 ms und werden an den meisten Synapsen im ZNS

Tab. 5.1 Die wichtigsten Neurotransmitter


Aminosäuren Amine Peptide
Gamma-Aminobuttersäure (GABA) Acetylcholin (ACh) Cholecystokinin (CCK)
Glutamat (Glu) Dopamin (DA) Dynorphin
Glycin (Gly) Adrenalin Enkephalin (Enk)
Histamin N-Acetylaspartylglutamat (NAAG)
Noradrenalin (NA) Neuropeptid Y
Serotonin (5-HT) Somatostatin
Substanz P
Thyreotropin-freisetzendes Hormon
Vasoaktives intestinales Polypeptid (VIP)
130 5 Die synaptische Übertragung

a COOH COOH
Teil I

CH2 CH2

CH2 CH2

NH2 CH COOH NH2 CH2 NH2 CH2 COOH

Glu GABA Gly

b HO
O CH3 OH
CH3 C O CH2 CH2 N+ CH3 HO CH CH2 NH2
CH3

ACh NA

Kohlenstoff

Sauerstoff

Stickstoff

Wasserstoff

Arg Pro Lys Pro Gln Gln Phe Phe Gly Leu Met Schwefel

Substanz P

Abb. 5.10 Beispiele für Neurotransmitter. a Die Aminosäureneurotransmitter Glutamat, GABA


und Glycin. b Die Aminneurotransmitter Acetylcholin (ACh) und Noradrenalin (NA). c Der Pep-
tidneurotransmitter Substanz P (Abkürzungen und chemische Strukturen der Aminosäuren siehe
Abb. 3.4b)

durch die Aminosäuren Glutamat (Glu), Gamma-Aminobuttersäure (GABA) und Gly-


cin (Gly) vermittelt. Das Amin Acetylcholin (ACh) vermittelt die schnelle synaptische
Übertragung an neuromuskulären Endplatten. Langsamere Formen der synaptischen Über-
tragung können von einigen 100 Millisekunden bis Minuten dauern; sie können im ZNS
und in der Peripherie auftreten und werden durch Transmitter aus allen drei chemischen
Klassen bewerkstelligt.

Synthese und Speicherung von Neurotransmittern

Für die Übertragung an chemischen Synapsen müssen Neurotransmitter synthetisiert und


für die Freisetzung bereitgestellt werden. Die verschiedenen Neurotransmitter werden
auf unterschiedliche Weise synthetisiert. So gehören etwa Glutamat und Glycin zu den
20 Aminosäuren, die Bausteine der Proteine sind (Abb. 3.4b); deshalb kommen sie in al-
len Zellen des Körpers in großer Menge vor, auch in den Neuronen. Im Gegensatz dazu
werden GABA und die Amine nur von den Neuronen produziert, die sie freisetzen. Diese
Neuronen enthalten spezifische Enzyme, die die Neurotransmitter aus metabolischen Vor-
Grundlagen der Signalübertragung an chemischen Synapsen 131

stufen synthetisieren. Diese synthetisierenden Enzyme, die sowohl für die Aminosäure- als

Teil I
auch für die Amintransmitter zuständig sind, werden in die Axonterminale transportiert,
wo sie schnell und lokal begrenzt die Transmittersynthese bewerkstelligen.

Sobald die Aminosäure- und Aminneurotransmitter im Cytosol der Axonterminale syn-


thetisiert worden sind, müssen sie in synaptische Vesikel aufgenommen werden. Trans-
porter, spezielle Proteine, die in die Vesikelmembran integriert sind, erhöhen die Konzen-
tration dieser Neurotransmitter im Inneren der Vesikel.

Für die Synthese und Speicherung der Peptide in den sekretorischen Vesikeln sind ganz
andere Mechanismen verantwortlich. Wie wir in den Kap. 2 und 3 erfahren haben, werden
Peptide gebildet, indem Aminosäuren an den Ribosomen des Zellkörpers miteinander ver-
knüpft werden. Im Fall der Peptidneurotransmitter geschieht das am rauen ER. Generell
wird ein langes Peptid, das am rauen ER synthetisiert wurde, im Golgi-Apparat aufgespal-
ten, und eines der kleineren Peptidfragmente ist der aktive Neurotransmitter. Sekretorische
Vesikel, die Peptidneurotransmitter enthalten, schnüren sich vom Golgi-Apparat ab und
werden durch axoplasmatischen Transport in die Axonterminale gebracht. Abb. 5.11 zeigt

synaptische
Vorläufer-
aktiver Vesikel
peptid
Peptidneurotransmitter

Nucleus 3
4
1 2

sekretorische
Vesikel
Ribosom
Golgi-Apparat
raues ER

b Vorläufer-
molekül
1 synthetisierendes
Enzym
Neurotransmitter-
molekül

2 Transporterprotein

synap-
tisches
Vesikel

Abb. 5.11 Synthese und Speicherung der verschiedenen Arten von Neurotransmittern. a Peptide: ➀ Am rauen ER wird ein Vorläuferpeptid
synthetisiert. ➁ Das Vorläuferpeptid wird im Golgi-Apparat gespalten, sodass der aktive Neurotransmitter freigesetzt wird. ➂ Vom Golgi-Apparat
schnüren sich die sekretorischen Vesikel ab, die das Peptid enthalten. ➃ Die sekretorischen Vesikel werden das Axon entlang bis zur Terminale
transportiert, wo das Peptid gespeichert wird. b Amine und Aminosäureneurotransmitter: ➀ Enzyme wandeln im Cytosol Vorläufermoleküle
in Neurotransmittermoleküle um. ➁ Transporterproteine beladen die synaptischen Vesikel mit den Neurotransmittern in der Terminale, wo die
Vesikel auch gelagert werden
132 5 Die synaptische Übertragung

die Synthese und Speicherung der Amin- und Aminosäureneurotransmitter im Vergleich


Teil I

mit den Peptidneurotransmittern.

Freisetzung von Neurotransmittern

Die Freisetzung von Neurotransmittern wird durch ein in der Axonterminale ankommen-
des Aktionspotenzial ausgelöst. Die Depolarisation der Terminalmembran führt dazu, dass
sich in den aktiven Zonen spannungsabhängige Calciumkanäle öffnen. Diese Membran-
kanäle sind den Natriumkanälen sehr ähnlich, die wir in Kap. 4 besprochen haben, außer
dass sie nicht für NaC -, sondern für Ca2C -Ionen permeabel sind. Es besteht eine starke
elektrochemische Triebkraft für die Ca2C -Ionen. Wie bereits bekannt, ist die Calciumio-
nenkonzentration im Zellinneren ŒCa2C i  im Ruhezustand sehr niedrig (nur 0,0002 mM).
Deshalb fließt Ca2C in das Cytoplasma der Axonterminale, solange die Ca2C -Kanäle ge-
öffnet sind. Die resultierende Zunahme von ŒCa2C i  ist das Signal, das die Freisetzung der
Neurotransmitter aus den synaptischen Vesikeln bewirkt.
Die Vesikel geben ihren Inhalt über einen Vorgang frei, den man als Exocytose bezeich-
net. Die Membran des synaptischen Vesikels fusioniert mit der präsynaptischen Membran
der aktiven Zone, sodass der Inhalt des Vesikels in den synaptischen Spalt ausgeschüttet
wird (Abb. 5.12). Untersuchungen an Riesensynapsen des Nervensystems von Tintenfi-
schen zeigten, dass die Exocytose sehr schnell stattfinden kann – innerhalb von 0,2 ms
des Ca2C -Einstroms in die Terminale. Synapsen von Säugern, die allgemein bei höheren
Temperaturen arbeiten, sind sogar noch schneller. Die Exocytose ist schnell, da Ca2C ge-
nau dort in die aktive Zone gelangt, wo die synaptischen Vesikel bereitgehalten werden,
um ihren Inhalt freizusetzen. In dieser lokalen „Mikrodomäne“ um die aktive Zone kann
Calcium relativ hohe Konzentrationen (über 0,01 mM) erreichen.
Der genaue Mechanismus, durch den ŒCa2C i  die Exocytose stimuliert, ist noch nicht
geklärt, wird aber zurzeit intensiv erforscht. Die Geschwindigkeit, mit der die Neuro-
transmitter freigesetzt werden, deutet darauf hin, dass die beteiligten Vesikel diejenigen
sind, die bereits an den aktiven Zonen „angedockt“ haben. Bei diesem Andocken kommt
es wahrscheinlich zu einer Wechselwirkung zwischen Proteinen der Membran der synap-
tischen Vesikel und der aktiven Zone (Exkurs 5.3). Beim Vorliegen einer hohen ŒCa2C i 

präsynaptisch

synaptisches 4
1 Vesikel

3
aktive
2
Zone

synaptischer
Spalt

spannungsabhängiger Neurotransmittermoleküle
Calciumkanal

postsynaptisch

Abb. 5.12 Freisetzung von Neurotransmitter durch Exocytose. ➀ Ein synaptisches Vesikel, das
mit Neurotransmitter beladen ist, setzt als Reaktion auf ➁ einen Einstrom von Ca2C durch spannungs-
abhängige Calciumkanäle ➂ durch Fusion der Vesikelmembran mit der präsynaptischen Membran
seinen Inhalt in den synaptischen Spalt frei und wird ➃ schließlich durch den Vorgang der Endocy-
tose wieder zurückgewonnen
Grundlagen der Signalübertragung an chemischen Synapsen 133

Teil I
mutmaßliche
Calciumkanäle

exocytotische
Fusionspore

Abb. 5.13 Die Freisetzung von Neurotransmittern aus „Sicht der Rezeptoren“. a Ansicht der ex-
trazellulären Oberfläche der aktiven Zone einer neuromuskulären Endplatte beim Frosch. Die Partikel
sind wahrscheinlich Calciumkanäle. b Bei dieser Ansicht wurde die präsynaptische Terminale stimu-
liert, um Neurotransmitter freizusetzen. Die exocytotischen Fusionsporen liegen dort, wo synaptische
Vesikel mit der präsynaptischen Membran fusioniert sind und ihren Inhalt freigegeben haben. (Heu-
ser und Reese 1973)

verändern diese Proteine ihre Konformation, sodass die Lipiddoppelschichten des Vesi-
kels und der präsynaptischen Membran fusionieren. Dadurch entsteht eine Pore, die die
Freisetzung der Neurotransmitter in den Spalt ermöglicht. Die Öffnung dieser exocytoti-
schen Fusionspore vergrößert sich solange, bis die Membran des Vesikels vollständig in
die präsynaptische Membran aufgenommen worden ist (Abb. 5.13). Die Vesikelmembran
wird später durch den Vorgang der Endocytose zurückgewonnen, und das wiederherge-
stellte Vesikel füllt sich erneut mit Neurotransmitter (Abb. 5.12). Während einer längeren
Stimulation werden Vesikel aus einem „Recycling-Pool“ mobilisiert, der an das Cytoske-
lett der Axonterminale gebunden ist. Die Freisetzung dieser Vesikel vom Cytoskelett und
ihr Andocken an der aktiven Zone werden ebenfalls durch einen Anstieg der ŒCa2C i  aus-
gelöst.
Sekretorische Vesikel setzen die Peptidneurotransmitter ebenfalls durch Exocytose frei.
Das geschieht auch in Abhängigkeit von Calcium, aber normalerweise nicht in den
aktiven Zonen. Da die Exocytose in einer gewissen Entfernung von den Stellen des
Ca2C -Einstroms stattfindet, werden normalerweise nicht auf jedes Aktionspotenzial hin,
das die Terminale erreicht, Peptidneurotransmitter ausgeschüttet. Die Freisetzung von
Peptiden erfordert generell hochfrequente Abfolgen von Aktionspotenzialen, sodass sich
die ŒCa2C i  überall in der Terminale bis zu dem Niveau aufbauen kann, das notwendig ist,
um sie entfernt von den aktiven Zonen auszulösen. Im Gegensatz zur schnellen Ausschüt-
tung von Aminosäure- und Aminneurotransmittern ist die Freisetzung von Peptiden ein
langsamerer Vorgang, der 50 ms oder mehr in Anspruch nimmt.
134 5 Die synaptische Übertragung
Teil I

Exkurs 5.3  Fokus


Auf Vesikelfang

Hefen sind einzellige Organismen, die für ihre Fähigkeit Ca2C -Sensor, der schnell eine Vesikelfusion und damit die
hoch geschätzt werden, Teig zum Gehen zu bringen und Transmitterfreisetzung auslöst. Auf der Seite der präsy-
Traubensaft zu vergären. Bemerkenswerterweise zeigen die naptischen Membran bilden möglicherweise Calciumkanäle
einfachen Hefen einige große Ähnlichkeiten mit den che- einen Teil des Andockkomplexes. Wenn die Calciumkanä-
mischen Synapsen in unserem Gehirn. Neuere Forschungen le sehr nahe an den angedockten Vesikeln liegen, können
haben ergeben, dass sich die Proteine, die bei den Hefezel- einströmende Ca2C -Ionen die Transmitterfreisetzung mit
len und bei den Synapsen die Sekretion kontrollieren, nur
geringfügig voneinander unterscheiden. Anscheinend sind Neurotransmitter Vesikel Synaptotagmin
diese Proteine so nützlich, dass sie über einen Evolutionszeit-
raum von mehr als einer Milliarde Jahren konserviert wurden
und in allen eukaryotischen Zellen vorkommen.
Der „Trick“, um eine schnelle Synapsenfunktion zu erzielen,
besteht darin, die mit Neurotransmittern gefüllten Vesikel Vesikel-
einfach an die richtige Stelle zu bringen – die präsynaptische t-SNARE membran v-SNARE
Membran – und sie dann zur richtigen Zeit zu fusionie-
ren, sobald ein Aktionspotenzial einen Impuls mit hoher
Ca2C -Konzentration im Cytosol hervorruft. Dieser Vorgang
der Exocytose ist ein Spezialfall einer allgemeineren Auf-
gabenstellung für die Zelle, des Membranflusses. Zellen
besitzen viele Arten von Membranen, etwa diejenigen, die
die ganze Zelle, den Zellkern, das endoplasmatische Reti- präsynaptische Calcium-
culum, den Golgi-Apparat und verschiedene Vesikeltypen Terminalenmembran kanal
umschließen. Um in der Zelle ein Chaos zu verhindern, muss
jede Membran an ihre spezifische Position in der Zelle be-
wegt und dort angelagert werden. Anschließend muss häufig
die eine Membranart mit einer anderen fusionieren. Für die
Anlagerung und Fusion all dieser Membranen hat sich im
Laufe der Evolution ein allgemeines molekulares System
entwickelt, und geringe Abwandlungen dieser Moleküle le-
gen fest, wie und wann der Membranfluss erfolgt.
Die spezifische Bindung und Fusion von Membranen basiert
auf der Proteinfamilie SNARE, die ursprünglich in Hefe-
zellen entdeckt wurde. Die Bezeichnung SNARE ist ein
Akronym, dessen vollständige Erläuterung hier zu viel Raum
einnehmen würde, trifft aber genau die Funktion dieser Pro-
teine – SNARE-Proteine ermöglichen es einer Membran,
eine andere „einzufangen“. Jedes SNARE-Peptid besitzt ein
lipophiles Ende, das sich selbst in der Membran verankert,
sowie einen längeren Schwanz, der in das Cytosol ragt.
Vesikel enthalten „v-SNAREs“ und die äußere Membran
„t-SNAREs“ (für target-Membran). Die cytosolischen En-
den dieser komplementären Arten von SNAREs können fest
aneinander binden, sodass ein Vesikel sehr eng an die prä-
synaptische Membran und nirgendwo sonst „andocken“ kann
(Abb.).
Die Hauptverbindung zwischen der Vesikelmembran und der
target-Membran stellen v- und t-SNARE-Komplexe her, an
denen noch zahlreiche weitere Proteine befestigt sind. Die
Funktion der meisten ist noch unbekannt, aber das Vesikel-
protein Synaptotagmin ist wahrscheinlich der entscheidende SNARE-Proteine und die Fusion eines Vesikels
Grundlagen der Signalübertragung an chemischen Synapsen 135

beträchtlicher Geschwindigkeit auslösen – in einer Synapse Es wird noch einige Zeit dauern, bis wir eine Vorstellung von

Teil I
bei Säugern bei Körpertemperatur innerhalb von 60 s. Das allen Molekülen haben, die bei der synaptischen Übertragung
Gehirn verfügt über mehrere Varianten von Synaptotagmi- mitwirken. Bis dahin können wir uns auf die Hefe verlassen,
nen, darunter eine, die auf eine besonders rasche synaptische die uns zum Denken mit Nahrung (und Getränken) fürs Ge-
Übertragung spezialisiert ist. hirn versorgt.

Rezeptoren und Effektoren von Neurotransmittern

Neurotransmitter, die in den synaptischen Spalt freigesetzt werden, beeinflussen das post-
synaptische Neuron, indem sie an spezifische Rezeptorproteine binden, die in der post-
synaptischen Verdichtung eingebettet sind. Die Bindung des Neurotransmitters an den
Rezeptor ist so ähnlich wie das Einführen eines Schlüssels in ein Schloss. Dabei kommt
es zu einer Konformationsänderung und damit zu einer Veränderung der Funktion des Pro-
teins. Es gibt zwar über 100 verschiedene Neurotransmitterrezeptoren, aber man kann sie
zwei Klassen zuordnen: transmitterabhängige Ionenkanäle und G-Protein-gekoppelte Re-
zeptoren. Für diese beiden Klassen sind auch die Bezeichnungen ionotrope Rezeptoren
bzw. metabotrope Rezeptoren gebräuchlich.

Transmitterabhängige Ionenkanäle
Rezeptoren, die man als transmitterabhängige oder ligandengesteuerte Ionenkanäle a
bezeichnet, sind membrandurchspannende Proteine, die aus vier oder fünf Untereinhei-
ten bestehen. Diese bilden gemeinsam in ihrer Mitte eine Pore (Abb. 5.14). Wenn kein
Neurotransmitter vorhanden ist, ist die Pore normalerweise geschlossen. Wenn der Neu-
rotransmitter an bestimmte Stellen der extrazellulären Region des Kanals bindet, kommt
es zu einer Konformationsänderung – nur zu einer leichten Verdrehung der Untereinhei-
ten –, die innerhalb von Mikrosekunden die Pore öffnet. Die funktionellen Folgen dieses
Vorgangs hängen davon ab, welche Ionen die Pore passieren können. Membran

Transmitterabhängige Kanäle zeigen nicht dasselbe Ausmaß an Ionenselektivität wie


spannungsabhängige Kanäle. So sind beispielsweise die ACh-abhängigen Ionenkanäle Cytoplasma
an der neuromuskulären Endplatte sowohl für NaC als auch für KC permeabel. Dennoch
gilt als Regel, dass offene Kanäle, wenn sie für NaC permeabel sind, vom Ruhepotenzial b
ausgehend als Nettoeffekt eine Depolarisation der postsynaptischen Zelle herbeiführen
(Exkurs 5.4). Da dieser Effekt tendenziell das Membranpotenzial bis zum Schwellenwert
für die Erzeugung von Aktionspotenzialen verschiebt, bezeichnet man ihn als exzita-
torisch. Eine vorübergehende Depolarisation der postsynaptischen Membran durch die
präsynaptische Freisetzung von Neurotransmittern bezeichnet man als exzitatorisches
postsynaptisches Potenzial (EPSP) (Abb. 5.15). Die synaptische Aktivierung von ACh-
und glutamatabhängigen Ionenkanälen löst EPSPs aus.
Wenn die transmitterabhängigen Kanäle für Cl permeabel sind, kommt es als Nettoef-
fekt zu einer Hyperpolarisation der postsynaptischen Zelle, ausgehend vom Ruhepotenzial
(da das Gleichgewichtspotenzial für Chlorid negativ ist; Kap. 3). Da sich so das Mem-
branpotenzial vom Schwellenwert tendenziell entfernt, bezeichnet man diese Wirkung als Abb. 5.14 Die Struktur eines trans-
mitterabhängigen Ionenkanals.
inhibitorisch. Eine vorübergehende Hyperpolarisation des postsynaptischen Membranpo-
a Seitenansicht eines ACh-gesteuerten
tenzials durch die präsynaptische Freisetzung von Neurotransmittern bezeichnet man als Ionenkanals, wie man ihn sich zurzeit
inhibitorisches postsynaptisches Potenzial (IPSP) (Abb. 5.16). Die synaptische Aktivie- vorstellt. b Eine Aufsicht auf den Ka-
rung von Glycin- oder GABA-abhängigen Ionenkanälen verursacht ein IPSP. Wir werden nal zeigt die Pore in der Mitte der fünf
uns mit EPSPs und IPSPs genauer beschäftigen, wenn wir die Grundlagen der synapti- Untereinheiten
schen Integration behandeln.

G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
Die schnelle synaptische Übertragung, die durch Aminosäure- und Aminneurotransmitter
vermittelt wird, wirkt auf transmitterabhängige Ionenkanäle. Jedoch können alle drei Ar-
ten von Neurotransmittern, wenn sie auf G-Protein-gekoppelte Rezeptoren einwirken,
auch langsamere, länger andauernde und deutlich vielfältigere postsynaptische Aktivitä-
ten auslösen. Diese Art der Transmitteraktivität umfasst drei Schritte:
136 5 Die synaptische Übertragung
Teil I

Exkurs 5.4  Fokus


Umkehrpotenziale

In Kap. 4 haben wir erfahren, dass NaC in die Zelle ein- Wenn jetzt ein Neurotransmitter Vm zu einem Wert hin
strömt, wenn sich die spannungsabhängigen Natriumkanäle verschiebt, der positiver ist als der Schwellenwert des Akti-
während eines Aktionspotenzials öffnen. Dadurch wird das onspotenzials, weil sich die relative Permeabilität der Mem-
Membranpotenzial bis zum Erreichen des Natriumpotenzials bran für verschiedene Ionen ändert, bezeichnet man die
ENa von etwa 40 mV schnell depolarisiert. Im Gegensatz zu Wirkung des Neurotransmitters als exzitatorisch. Entspre-
den spannungsabhängigen Kanälen sind jedoch viele trans- chend der Regel sind Neurotransmitter, die einen für NaC
mitterabhängige Kanäle nicht nur für eine bestimmte Art von durchlässigen Kanal öffnen, exzitatorisch. Wenn dagegen ein
Ion permeabel. So ist beispielsweise der ACh-abhängige Io- Neurotransmitter Vm zu einem Wert hin verschiebt, der ne-
nenkanal an der neuromuskulären Endplatte sowohl für NaC gativer ist als der Schwellenwert des Aktionspotenzials, dann
als auch für KC durchlässig. Wir wollen nun untersuchen, bezeichnet man die Wirkung dieses Neurotransmitters als in-
welche funktionellen Folgen die Aktivierung dieser Kanäle hibitorisch. Neurotransmitter, die einen für Cl permeablen
hat. Kanal öffnen, sind eher inhibitorisch.
In Kap. 3 haben wir erfahren, dass sich das Membranpo-
tenzial Vm mithilfe der Goldman-Gleichung berechnen lässt, Bei positiven Membran-
bei der die relative Durchlässigkeit von Membranen für ver- potenzialen verursacht
schiedene Ionen berücksichtigt wird (Exkurs 3.3). Wenn die ACh einen Auswärtsstrom.
Membran für NaC und KC gleich permeabel wäre, wie es
etwa bei geöffneten ACh-abhängigen Kanälen der Fall ist,
dann würde Vm einen Wert zwischen ENa und EK anneh- außen
Membran-
men, das heißt etwa 0 mV. Deshalb würden die Ionenströme strom
durch die Kanäle in einer Richtung fließen, die das Mem-
branpotenzial auf 0 mV bringt. Wenn das Membranpotenzial
vor der Einwirkung von ACh niedriger als 0 mV liegt, was Membran-
normalerweise der Fall ist, dann verläuft die Richtung des spannung I gegen V bei
Nettostroms durch ACh-abhängige Ionenkanäle nach innen, Zugabe von ACh
was zu einer Depolarisation führt. Wenn das Membranpo-
tenzial jedoch vor der Einwirkung von ACh höher als 0 mV
liegt, ist der Nettostrom durch ACh-abhängige Ionenkanäle –60 mV 60 mV
nach außen gerichtet, sodass das Membranpotenzial weniger Umkehrpotenzial
positiv wird.
Der Ionenstrom kann für verschiedene Membranspannungen
grafisch dargestellt werden (Abb.). Eine solche Darstellung
bezeichnet man als I-V-Plot (I: Stromstärke, V: Spannung).
Den kritischen Wert des Membranpotenzials, bei dem sich innen
die Richtung des Stromflusses umkehrt, bezeichnet man als
Umkehrpotenzial. In diesem Fall liegt das Umkehrpotenzial
bei 0 mV. Die experimentelle Bestimmung eines Umkehrpo- Bei negativen Membran-
tenzials kann uns daher zeigen, für welche Arten von Ionen potenzialen verursacht
eine Membran permeabel ist. ACh einen Einwärtsstrom.

1. Neurotransmittermoleküle binden an Rezeptorproteine, die in der postsynaptischen


Membran verankert sind.
2. Die Rezeptorproteine aktivieren kleine Proteine, die man als G-Proteine bezeichnet
und die sich entlang der intrazellulären Oberfläche der postsynaptischen Membran frei
bewegen können.
3. Die aktivierten G-Proteine aktivieren ihrerseits „Effektorproteine“.

Effektorproteine können G-Protein-abhängige Ionenkanäle in der Membran sein (Abb.


5.17a), oder es handelt sich um Enzyme, die Moleküle synthetisieren, welche man als
Second Messenger bezeichnet. Diese diffundieren in das Cytosol (Abb. 5.17b). Second
Messenger können im Cytosol weitere Enzyme aktivieren, die Funktion von Ionenkanälen
Grundlagen der Signalübertragung an chemischen Synapsen 137

Impuls
Axon

Teil I
Axonterminale
a

postsynaptischer
Dendrit

Messung von V m
Neurotransmitter-
b moleküle c

synaptischer
Spalt EPSP

Vm

Cytosol
– 65 mV

transmitterabhängige 0 2 4 6 8
Ionenkanäle Zeit nach dem präsynaptischen Aktionspotenzial (ms)

Abb. 5.15 Die Erzeugung eines EPSPs. a Ein Impuls, der in der präsynaptischen Terminale ankommt, führt zur Freisetzung von Neurotrans-
mitter. b Die Moleküle binden an transmitterabhängige Ionenkanäle in der postsynaptischen Membran. Wenn NaC durch offene Kanäle in die
postsynaptische Zelle fließt, wird die Membran depolarisiert. c Die sich so ergebende Veränderung des Membranpotenzials (Vm ), die von der
Mikroelektrode in der Zelle gemessen wird, ist das EPSP

regulieren und den zellulären Metabolismus verändern. Da G-Protein-gekoppelte Rezep-


toren weitreichende metabolische Auswirkungen haben können, bezeichnet man sie häufig
auch als metabotrope Rezeptoren.
Wir besprechen die verschiedenen Neurotransmitter, ihre Rezeptoren und ihre Effektoren
im Einzelnen in Kap. 6. Sie sollten sich jedenfalls darüber im Klaren sein, dass derselbe
Neurotransmitter verschiedene postsynaptische Aktivitäten auslösen kann, abhängig da-
von, an welche Rezeptoren er bindet. Ein Beispiel dafür ist die Wirkung von ACh auf
das Herz und die Skelettmuskulatur. Die rhythmische Kontraktion des Herzens wird durch
ACh verlangsamt. Im Gegensatz dazu induziert ACh im Skelettmuskel eine Kontraktion,
indem es eine schnelle Depolarisation der Muskelfasern hervorruft. Diese unterschied-
lichen Aktivitäten lassen sich aufgrund der unterschiedlichen Rezeptoren erklären. Im
Herzen ist der metabotrope ACh-Rezeptor über ein G-Protein mit einem Kaliumkanal
gekoppelt. Das Öffnen des Kaliumkanals verlangsamt die spontane Depolarisation der
Schrittmacherzellen im Herzmuskelgewebe und reduziert so ihre Feuerrate. Im Skelett-
muskel ist der Rezeptor ein transmitterabhängiger, genauer gesagt ein ACh-abhängiger
Ionenkanal, der für NaC permeabel ist. Das Öffnen dieses Kanals depolarisiert die Mus-
kelfasern und führt zur Kontraktion.

Autorezeptoren
Neurotransmitterrezeptoren sind nicht nur Teil der postsynaptischen Verdichtung, sondern
sie kommen auch häufig an der präsynaptischen Axonterminale vor. Präsynaptische Re-
zeptoren, die für den Neurotransmitter empfindlich sind, den die präsynaptische Terminale
freisetzt, bezeichnet man als Autorezeptoren. Diese sind im Allgemeinen G-Protein-ge-
138 5 Die synaptische Übertragung

Impuls
Teil I

Axon

Axonterminale
a

postsynaptischer
Dendrit

Messung von Vm
Neurotransmitter-
b moleküle c

Cl– Cl– Cl–


synaptischer
Spalt

IPSP
Vm

Cytosol

– 65 mV

transmitterabhängige Ionenkanäle 0 2 4 6 8
Zeit nach dem präsynaptischen Aktionspotenzial (ms)

Abb. 5.16 Die Erzeugung eines IPSPs. a Ein Impuls, der an der präsynaptischen Terminale ankommt, führt zur Freisetzung von Neurotrans-
mitter. b Die Moleküle binden an transmitterabhängige Ionenkanäle in der postsynaptischen Membran. Wenn Cl durch offene Kanäle in die
postsynaptische Zelle strömt, wird die Membran hyperpolarisiert. c Die sich so ergebende Änderung des Membranpotenzials (Vm ), die von der
Mikroelektrode in der Zelle gemessen wird, ist das IPSP

a b

G-Protein-abhängiger
Ionenkanal
Rezeptor Neurotransmitter Rezeptor Neurotransmitter
Enzym

G-Protein G-Protein
Second
Messenger

Abb. 5.17 Transmitteraktivitäten an G-Protein-gekoppelten Rezeptoren. Die Bindung des Neurotransmitters an den Rezeptor führt zur
Aktivierung von G-Proteinen. Aktivierte G-Proteine aktivieren Effektorproteine, die a Ionenkanäle oder b Enzyme sein können, die intrazelluläre
Second Messenger erzeugen
Grundlagen der Signalübertragung an chemischen Synapsen 139

koppelte Rezeptoren, die die Bildung von Second-Messenger-Molekülen stimulieren. Die

Teil I
Auswirkungen der Aktivierung dieser Rezeptoren sind unterschiedlich, aber ein häufiger
Effekt besteht darin, dass die Neurotransmitterfreisetzung und in einigen Fällen auch die
Neurotransmittersynthese gehemmt wird. Das ermöglicht es der präsynaptischen Termina-
le, sich selbst zu regulieren. Autorezeptoren fungieren offenbar als eine Art Schutzmecha-
nismus, der die Ausschüttung verringert, wenn die Konzentration des Neurotransmitters
im synaptischen Spalt zu hoch wird.

Rückgewinnung und Abbau von Neurotransmittern

Sobald der freigesetzte Neurotransmitter postsynaptische Rezeptoren aktiviert hat, muss


er aus dem synaptischen Spalt entfernt werden, damit erneut eine synaptische Übertra-
gung stattfinden kann. Das kann zum einen ganz einfach durch Diffusion der Transmit-
termoleküle aus der Synapse geschehen. Bei den meisten Aminosäure- und Aminneuro-
transmittern wird die Diffusion jedoch durch eine Wiederaufnahme in die präsynaptische
Axonterminale unterstützt. Die Wiederaufnahme erfolgt durch die Aktivität spezifischer
Transportproteine für Neurotransmitter, die in der präsynaptischen Membran lokalisiert
sind. Sobald sich die Transmitter wieder im Cytosol der Terminale befinden, werden sie
entweder erneut in synaptische Vesikel verpackt oder enzymatisch abgebaut und ihre Ab-
bauprodukte recycelt. Transporter für Neurotransmitter kommen auch in den Membranen
der Gliazellen vor, die die Synapsen umgeben und die beim Entfernen der Neurotransmit-
ter aus dem Spalt mitwirken.
Eine andere Art, die Aktivität von Neurotransmittern zu beenden, stellt der enzymatische
Abbau im Spalt selbst dar. Auf diese Weise wird zum Beispiel ACh aus der neuromusku-
lären Endplatte entfernt. Das Enzym Acetylcholinesterase (AChE) ist bei Muskelzellen in
diesem Spalt eingelagert. AChE spaltet das ACh-Molekül, sodass es die ACh-Rezeptoren
nicht mehr aktivieren kann.
Wie wichtig es ist, die Transmitter aus dem Spalt zu entfernen, sollte nicht unterschätzt
werden. So kommt es beispielsweise bei einer ununterbrochenen Einwirkung von hohen
ACh-Konzentrationen nach mehreren Sekunden zu einer sogenannten Desensitisierung.
Dabei schließen sich trotz des fortgesetzten Vorhandenseins von ACh die transmitterab-
hängigen Kanäle. Dieser desensitisierte Zustand kann mehrere Sekunden andauern, selbst
noch, nachdem der Transmitter entfernt wurde. Der schnelle Abbau von ACh durch die
AChE verhindert normalerweise eine Desensitisierung. Wenn jedoch die AChE gehemmt
wird, wie es bei verschiedenen Nervengasen, die als chemische Waffen benutzt werden,
der Fall ist, werden die ACh-Rezeptoren desensitisiert und die neuromuskuläre Signal-
übertragung bricht zusammen.

Neuropharmakologie

Jeder der bisher besprochenen Schritte der synaptischen Übertragung – Synthese der
Transmitter, Beladung der synaptischen Vesikel, Exocytose, Bindung an die Rezeptoren
und deren Aktivierung, Rückgewinnung und Abbau – ist chemischer Natur, kann also
durch spezifische Medikamente und Toxine beeinflusst werden (Exkurs 5.5). Die Unter-
suchung der Wirkung von Drogen und Medikamenten auf das Nervensystem bezeichnet
man als Neuropharmakologie.
Wie bereits erwähnt, können Nervengase die Signalübertragung an der neuromuskulären
Endplatte stören, indem sie das Enzym AChE hemmen. Dies stellt ein Beispiel für einen
bestimmten Wirkmechanismus dar, bei dem die normale Funktion spezifischer Proteine
gehemmt wird, die bei der synaptischen Übertragung eine Rolle spielen. Solche Wirkstof-
fe bezeichnet man als Inhibitoren. Inhibitoren der Rezeptoren von Neurotransmittern,
sogenannte Rezeptorantagonisten, binden an die Rezeptoren und blockieren die norma-
le Aktivität der Transmitter. Ein Beispiel für einen Rezeptorantagonisten ist Curare, ein
140 5 Die synaptische Übertragung
Teil I

Exkurs 5.5  Perspektive


Bakterien, Spinnen, Schlangen und Menschen

Was haben das Bakterium Clostridium botulinum, die jedoch durch einen anderen Mechanismus. Einer der akti-
Schwarze Witwe, Kobras und der Mensch gemeinsam? Sie ven Bestandteile im Gift der Schlange ist ˛-Bungarotoxin.
alle produzieren Toxine, die die Übertragung an chemi- Das Peptidmolekül bindet so fest an die postsynaptischen
schen Synapsen angreifen, speziell an der neuromuskulären nikotinischen ACh-Rezeptoren, dass es Tage dauert, bis es
Endplatte. Botulismus wird durch verschiedene Typen von sich wieder ablöst. Häufig bleibt jedoch keine Zeit dafür, da
Botulinumneurotoxinen verursacht, die beim Wachstum von das Kobratoxin die Aktivierung der nikotinischen Rezepto-
C. botulinum in ungenügend konservierten Lebensmitteln ren durch ACh verhindert, sodass die Atemmuskulatur der
entstehen. (Die Bezeichnung leitet sich aus dem lateinischen Opfer gelähmt wird.
Wort für „Wurst“ ab, da die Krankheit früher vor allem mit
verdorbenem Fleisch in Verbindung gebracht wurde.) Botuli- Wir Menschen haben eine große Anzahl chemischer Ver-
numtoxine sind äußerst wirksame Blocker der neuromusku- bindungen erzeugt, die die Signalübertragung an der neu-
romuskulären Endplatte vergiften. Ursprünglich waren die
lären Übertragung. Nach einer Schätzung genügen nur zehn
Moleküle des Toxins, um eine cholinerge Synapse (Kap. 6) Bemühungen darauf ausgerichtet, Waffen für die chemische
zu blockieren. Botulinumtoxine sind außerordentlich spezi- Kriegsführung zu entwickeln, und es entstand schließlich
eine neue Klasse von Verbindungen, die man als Organo-
fische Enzyme und zerstören bestimmte SNARE-Proteine in
den präsynaptischen Terminalen, die für die Transmitterfrei- phosphate bezeichnete. Dabei handelt es sich um irreversible
setzung von entscheidender Bedeutung sind (Exkurs 5.3). Inhibitoren der AChE. Da der Abbau von ACh verhindert
wird, wird das Opfer möglicherweise getötet, weil es zu ei-
Ironischerweise wurden die Toxine durch ihre spezifische
Wirkung zu wichtigen Hilfsmitteln in der frühen Phase der ner Desensitisierung der ACh-Rezeptoren kommt. Die heute
Erforschung der SNARE-Proteine. verwendeten Organophosphate sind Insektizide, wie bei-
spielsweise Parathion, und für den Menschen nur in hohen
Der Mechanismus ist zwar ein anderer, aber das Spinnen- Dosen gefährlich.
gift der Schwarzen Witwe entfaltet ebenfalls eine tödliche
Wirkung, indem es die Freisetzung von Transmittern beein-
flusst (Abb.). Das Gift erhöht zuerst die ACh-Freisetzung
an der neuromuskulären Endplatte und schaltet sie dann ab.
Die elektronenmikroskopische Untersuchung von Synapsen,
die mit dem Gift der Schwarzen Witwe behandelt wurden,
zeigt, dass die Axonterminalen geschwollen sind und ihre
synaptischen Vesikel fehlen. Bisher ist die Wirkung des Gif-
tes, eines Proteinmoleküls, noch nicht vollständig geklärt.
Das Gift bindet an Proteine an der Außenseite der präsynap-
tischen Membran und bildet vielleicht eine Membranpore,
die die Terminale depolarisiert und den Einstrom von Ca2C
ermöglicht, sodass es zu einer schnellen und vollständigen
Verarmung an Transmittern kommt. In einigen Fällen kann
das Gift die Freisetzung von Transmittern sogar ohne Ca2C
bewirken.

Der Biss der Taiwanesischen Kobra führt beim Opfer eben-


falls zu einer Blockade der neuromuskulären Übertragung, Schwarze Witwen. (Matthews 1995, S. 174)

Pfeilgift, das traditionell von südamerikanischen Indianern verwendet wird, um Jagdbeute


zu lähmen. Curare bindet fest an die ACh-Rezeptoren der Skelettmuskulatur und blockiert
die Aktivität von ACh, sodass die Muskelkontraktion verhindert wird.
Andere Wirkstoffe binden an Rezeptoren, hemmen sie aber nicht, sondern sie bilden die
Aktivität von natürlich vorkommenden Neurotransmittern nach. Diese Wirkstoffe bezeich-
net man als Rezeptoragonisten. Ein Beispiel dafür ist Nikotin, das aus der Tabakpflanze
gewonnen wird. Nikotin bindet an ACh-Rezeptoren der Skelettmuskulatur und aktiviert
sie. Tatsächlich bezeichnet man die ACh-abhängigen Ionenkanäle in den Muskeln auch
als nikotinische ACh-Rezeptoren, um sie von anderen Arten von ACh-Rezeptoren zu
unterscheiden, wie etwa denen im Herzen, die nicht durch Nikotin aktiviert werden. Es
Grundlagen der synaptischen Integration 141

gibt auch nikotinische ACh-Rezeptoren im ZNS, die bei der Sucht erzeugenden Wirkung

Teil I
von Tabakkonsum eine Rolle spielen.
Durch die außerordentliche biochemische Komplexität der synaptischen Übertragung
kommt hier die medizinische Entsprechung von „Murphys Gesetz“ oft ins Spiel, das
besagt, dass „etwas schiefgehen wird, wenn es schiefgehen kann“. Wenn die chemische
Übertragung an Synapsen fehlschlägt, kommt es zu einer Fehlfunktion des Nervensys-
tems. Ein Defekt der neuronalen Signalübertragung ist wahrscheinlich die grundlegende
Ursache von zahlreichen neurologischen und psychischen Störungen. Die gute Nach-
richt ist, dass aufgrund unserer zunehmenden Kenntnisse der Neuropharmakologie der
synaptischen Übertragung in der Klinik neue und immer wirksamere Medikamente zur
Verfügung stehen, um diese Erkrankungen zu behandeln. In Kap. 22 besprechen wir,
inwieweit die synaptischen Funktionen Ursache einiger psychischer Erkrankungen sind
und wie eine neuropharmakologische Behandlung möglich ist.

Grundlagen der synaptischen Integration


Die meisten Neuronen des ZNS empfangen Tausende synaptischer Eingangssigna-
le, die verschiedene Kombinationen von transmitterabhängigen Ionenkanälen und mit
G-Proteinen gekoppelten Rezeptoren aktivieren. Das postsynaptische Neuron integriert
alle diese komplexen ionischen und chemischen Signale und erzeugt eine einfache Form
von Ausgangssignalen: Aktionspotenziale. Die Transformation von vielen synaptischen
Eingangssignalen in ein einziges axonales Ausgangssignal erfordert eine neuronale
Umrechnung. Das Gehirn führt in jeder Sekunde unseres Lebens Milliarden derartiger
Umrechnungen durch. Als ersten Schritt, um zu verstehen, wie die Berechnung in neuro-
nalen Netzwerken funktioniert, wollen wir uns mit einigen Grundlagen der synaptischen
Integration beschäftigen. Dabei handelt es sich um den Prozess, durch den zahlreiche
synaptische Potenziale in einem postsynaptischen Neuron kombiniert werden.

Die Integration von EPSPs

Die einfachste postsynaptische Reaktion ist das Öffnen eines einzigen ligandengesteuerten
Kanals (Abb. 5.18). Der Einstrom durch diese Kanäle depolarisiert die postsynaptische
Membran und löst ein EPSP aus. Die postsynaptische Membran der einen Synapse kann
wenige Dutzend bis mehrere Tausend transmitterabhängige Kanäle aufweisen. Wie viele
von ihnen bei einer synaptischen Übertragung aktiviert werden, hängt vor allem davon ab,
wie viel Neurotransmitter freigesetzt wird.
einwärts gerichteter Strom

Kanäle geschlossen

Kanäle 20 ms
geöffnet

Zugabe von Neurotransmitter zum Membranfleck

Abb. 5.18 Patch-Clamp-Messung eines ligandengesteuerten Ionenkanals. Wenn die Kanäle ge-
öffnet sind, fließen Ionenströme hindurch. In Anwesenheit eines Neurotransmitters wechseln sie
schnell zwischen dem geöffneten und dem geschlossenen Zustand. (Nach Neher und Sakmann 1992)
142 5 Die synaptische Übertragung

Quantelungsanalyse von EPSPs


Teil I

Die kleinste Einheit für die Freisetzung von Neurotransmittern ist der Inhalt eines einzigen
Vesikels. Jedes Vesikel enthält etwa dieselbe Anzahl von Transmittermolekülen (mehrere
Tausend); die Gesamtmenge an ausgeschüttetem Transmitter ist ein ganzzahliges Vielfa-
ches dieser Zahl. Daraus folgt, dass die Amplitude des postsynaptischen EPSPs ebenfalls
ein Vielfaches der Reaktion auf ein einziges Vesikel ist. Anders ausgedrückt: Die postsyn-
aptischen EPSPs sind gequantelt: Sie sind Vielfache einer nicht mehr teilbaren Einheit,
des Quantums, das die Menge an Transmitter in einem einzigen Vesikel und die Anzahl
der postsynaptischen Rezeptoren an der Synapse widerspiegelt.
Bei vielen Synapsen kommt es auch ohne präsynaptisches Aktionspotenzial ab und zu
zur spontanen Exocytose eines Vesikels. Die postsynaptische Reaktion auf diesen spontan
freigesetzten Neurotransmitter lässt sich elektrophysiologisch messen. Diese sehr geringe
Reaktion ist ein postsynaptisches Miniaturpotenzial, das man häufig kurz als „Mini“ be-
zeichnet. Jedes Mini wird durch die Transmittermoleküle ausgelöst, die in einem Vesikel
enthalten sind. Die Amplitude des postsynaptischen EPSPs, das durch ein präsynaptisches
Aktionspotenzial ausgelöst wird, ist einfach ein ganzzahliges Vielfaches der Miniam-
plitude.
Die Quantelungsanalyse ist ein Verfahren, um die Amplituden von Minis und größe-
ren postsynaptischen Potenzialen vergleichen zu können. Die Methode eignet sich dazu,
die Anzahl der Vesikel zu bestimmen, die bei einer normalen synaptischen Übertragung
Neurotransmitter freisetzen. Eine solche Analyse der Signalübertragung an der neuro-
muskulären Endplatte zeigt, dass ein einziges Aktionspotenzial in der präsynaptischen
Terminale die Exocytose von etwa 200 synaptischen Vesikeln auslöst, was zu einem EPSP
von mindestens 40 mV führt. In deutlichem Gegensatz dazu wird bei vielen Synapsen des
ZNS als Reaktion auf ein präsynaptisches Aktionspotenzial der Inhalt eines einzigen Ve-
sikels freigesetzt und verursacht so ein EPSP mit einer Größe von nur wenigen Millivolt.
Tatsächlich kommt es bei ZNS-Synapsen sehr häufig zu einem kompletten Versagen der
Transmitterfreisetzung; man spricht deshalb von stochastischer Signalübertragung.

EPSP-Summation
Der Unterschied zwischen exzitatorischer Transmission an neuromuskulären Endplatten
und den stochastischen Synapsen im ZNS verwundert nicht. Die Endplatte hat sich in
der Evolution so entwickelt, dass sie gegen Störungen abgesichert ist. Sie muss ständig
funktionieren, und die beste Möglichkeit, dies sicherzustellen, besteht darin, ein großes
EPSP zu erzeugen. Wenn dagegen jede Synapse im ZNS von sich aus in der Lage wä-
re, in der jeweiligen postsynaptischen Zelle ein Aktionspotenzial auszulösen (wie es die
neuromuskuläre Endplatte kann), wäre ein Neuron nur wenig mehr als eine Relaisstation.
Stattdessen müssen die meisten Neuronen komplexere Umrechnungen ausführen. Dies
erfordert es, dass viele EPSPs aufsummiert werden, um eine deutliche postsynaptische
Depolarisation hervorzurufen. Das ist mit der Integration von EPSPs gemeint.
Die EPSP-Summation ist die einfachste Form der synaptischen Integration im ZNS. Es
gibt zwei Arten der Summation: die räumliche und die zeitliche. Die räumliche Summa-
tion ist die Addition von EPSPs, die gleichzeitig von vielen verschiedenen Synapsen an
einem Dendriten ausgelöst werden. Die zeitliche Summation ist die Addition von EPSPs,
die von derselben Synapse erzeugt werden, wenn sie in schneller Folge eintreffen, also
nacheinander jeweils innerhalb von 1–15 ms (Abb. 5.19).

Eigenschaften der Dendriten und synaptische Integration

Selbst bei einer Summation von mehreren EPSPs an einem Dendriten reicht unter Um-
ständen die Depolarisation immer noch nicht aus, um das Neuron zu veranlassen, ein
Aktionspotenzial abzufeuern. Der Strom, der an den Stellen des synaptischen Kontakts
in die Zelle hineinfließt, muss sich den Dendriten entlang und durch das Soma fortsetzen
und die Membran am Axonhügel über den Schwellenwert hinaus depolarisieren, bevor ein
Grundlagen der synaptischen Integration 143

räumliche Summation

Teil I
a b c
Aktionspotenzial zeitliche Summation

präsynaptisches Axon

Messung von Vm Messung von Vm Messung von Vm

EPSP

EPSP
Vm Vm Vm

– 65 mV – 65 mV – 65 mV

Zeit Zeit Zeit

Abb. 5.19 Summation von EPSPs. a Ein präsynaptisches Aktionspotenzial löst ein geringes EPSP im postsynaptischen Neuron aus. b Räum-
liche Summation von EPSPs: Wenn zwei oder mehr präsynaptische Eingangssignale gleichzeitig aktiv sind, addieren sich ihre einzelnen EPSPs.
c Zeitliche Summation von EPSPs: Wenn dieselbe präsynaptische Faser in schneller Folge Aktionspotenziale abfeuert, addieren sich die einzelnen
EPSPs

Aktionspotenzial ausgelöst werden kann. Die Wirksamkeit einer exzitatorischen Synapse,


ein Aktionspotenzial auszulösen, hängt deshalb davon ab, wie weit die Synapse von der
Initiationszone für die Aktionspotenziale entfernt ist, sowie von den Eigenschaften der
Dendritenmembran.

Kabeleigenschaften der Dendriten


Um vereinfacht zu betrachten, was die Eigenschaften der Dendriten zur synaptischen In-
tegration beitragen, wollen wir zunächst annehmen, dass sie wie zylinderförmige Kabel
funktionieren, die elektrisch passiv sind, also keine spannungsabhängigen Ionenkanäle ha-
ben. Wenden wir die Analogie an, die in Kap. 4 eingeführt wurde, und stellen uns vor, dass
der Einstrom von positiver Ladung an einer Synapse genauso ist, als ob man das Wasser
aufdreht, das einen löcherigen Gartenschlauch (den Dendriten) entlangfließen soll. Dabei
kann das Wasser zwei Wege nehmen: zum einen innen den Schlauch entlang, zum anderen
durch die Löcher. Auch für den synaptischen Strom sind zwei Wege möglich: zum einen
im Inneren den Dendriten entlang, zum anderen durch die Dendritenmembran. Wenn der
Strom den Dendriten weiter entlangwandert und sich damit weiter von der Synapse ent-
fernt, wird die EPSP-Amplitude kleiner, weil der Ionenstrom durch die Membrankanäle
leckt. In einiger Entfernung von der Stelle des Einstroms könnte die EPSP-Amplitude
dann aufgrund der Stromverluste durch die Membran auf den Wert null absinken.
Die Abnahme der Depolarisation als Funktion der Entfernung entlang eines dendritischen
Kabels ist in Abb. 5.20 dargestellt. Um die Mathematik zu vereinfachen, nehmen wir für
dieses Beispiel an, dass der Dendrit unendlich lang, unverzweigt und im Durchmesser
einheitlich ist. Dabei nimmt die Depolarisation exponentiell mit zunehmender Entfernung
ab. Die Depolarisation der Membran in einem bestimmten Abstand (Vx ) lässt sich durch
die Gleichung Vx D Vo =ex= darstellen. Dabei ist Vo die Depolarisation am Ursprung
(direkt unter der Synapse), e.D 2;718 : : :/ die Basis des natürlichen Logarithmus, x die
Entfernung von der Synapse und  eine Konstante, die von den Eigenschaften des Den-
driten abhängt. Wenn x D , dann gilt Vx D Vo =e. Anders ausgedrückt: V D 0;37 Vo .
Diese Entfernung , an der die Depolarisation 37 % ihres ursprünglichen Wertes beträgt,
144 5 Die synaptische Übertragung

a
Teil I

Vm Vm

Strom-
zufuhr

Messung von Vm Messung von Vm

zum
Soma
dendritisches Kabel

100
Depolarisation in Prozent
Anteil der anfänglichen

37

0
Entfernung entlang
des Dendriten

Abb. 5.20 Abnehmende Depolarisation als Funktion der Entfernung entlang des dendritischen
Kabels. a Strom wird in einen Dendriten injiziert und die Depolarisation gemessen. Während sich
dieser Strom längs des Dendriten ausbreitet, geht viel davon über die Membran verloren. Deshalb
ist die Depolarisation, die in einer bestimmten Entfernung von der Injektionsstelle gemessen wird,
deutlich vermindert. b Grafische Darstellung der Membrandepolarisation als Funktion der Entfer-
nung entlang des Dendriten. In der Entfernung , die der Längskonstante entspricht, beträgt die
Depolarisation (V ) 37 % ihres ursprünglichen Wertes

bezeichnet man als dendritische Längskonstante. (Denken Sie jedoch daran, dass diese
Analyse eine starke Vereinfachung darstellt. Reale Dendriten besitzen eine endliche Län-
ge, verzweigen sich und laufen tendenziell zum Ende hin spitz zu. Dies alles kann die
Ausbreitung des Stroms beeinflussen, und damit auch die Wirksamkeit der synaptischen
Potenziale.)
Die Längskonstante ist ein Maß dafür, wie weit sich die Depolarisation entlang eines Den-
driten oder Axons ausbreiten kann. Je größer die Längskonstante, desto wahrscheinlicher
ist es, dass EPSPs, die an weit entfernten Synapsen erzeugt werden, die Membran am
Axonhügel depolarisieren. Der Wert von  in unserem idealisierten, elektrisch passiven
Dendriten hängt von zwei Faktoren ab: zum einen vom Widerstand gegen den Strom, der
den Dendriten entlangfließt und den man als Längswiderstand (Ri ) bezeichnet, zum an-
deren vom Widerstand gegen den Strom, der durch die Membran fließt und den man als
Membranwiderstand (Rm ) bezeichnet. Der größte Teil des Stroms wird den Weg des
geringsten Widerstands nehmen. Deshalb nimmt der Wert von  zu, wenn der Membran-
widerstand zunimmt, da mehr depolarisierender Strom im Inneren des Dendriten entlang-
fließt. Der Wert von  nimmt ab, wenn der Längswiderstand zunimmt, da dann mehr
Strom durch die Membran fließt. Genauso wie Wasser einen dicken Schlauch mit we-
nigen Löchern länger entlangfließt, so fließt auch der synaptische Strom einen breiteren
Dendriten (mit geringem Ri ) und mit wenigen offenen Membrankanälen (hoher Rm ) länger
entlang.
Grundlagen der synaptischen Integration 145

Der Längswiderstand hängt nur vom Durchmesser des Dendriten und den elektrischen Ei-

Teil I
genschaften des Cytoplasmas ab. Deshalb ist er in einem reifen Neuron relativ konstant.
Der Membranwiderstand hängt im Gegensatz dazu von der Anzahl der geöffneten Ionen-
kanäle ab, die sich jeden Augenblick ändert, je nachdem, welche anderen Synapsen aktiv
sind. Die Längskonstante eines Dendriten ist deshalb stark variabel. Wie wir gleich sehen
werden, sind Veränderungen des Wertes von  ein wichtiger Faktor für die synaptische
Integration.

Erregbare Dendriten
Unsere Analyse der Eigenschaften des dendritischen Kabels enthielt eine weitere wichtige
Annahme: Die Dendritenmembran ist elektrisch passiv; das bedeutet, dass spannungsab-
hängige Kanäle fehlen. Einige Dendriten im Gehirn besitzen tatsächlich annähernd passive
und nicht erregbare Membranen. Sie entsprechen damit den einfachen Kabelgleichungen.
Die Dendriten der Motoneuronen im Rückenmark sind beispielsweise beinahe vollständig
passiv. Viele andere neuronale Dendriten sind jedoch definitiv nicht passiv. Eine Reihe von
Neuronen besitzen Dendriten mit einer relevanten Anzahl spannungsabhängiger Natrium-,
Calcium- und Kaliumkanäle. Dendriten haben selten genügend Ionenkanäle, um Aktions-
potenziale zu erzeugen, die sich wie in Axonen vollständig fortpflanzen. Aber die span-
nungsabhängigen Kanäle in den Dendriten können als wichtige Verstärker von schwachen
postsynaptischen Potenzialen dienen, die in den Außenbereichen der Dendriten erzeugt
werden. EPSPs, die in einem langen passiven Dendriten fast auf null abgeschwächt wür-
den, können so dennoch groß genug sein, um das Öffnen spannungsabhängiger Natrium-
oder Calciumkanäle auszulösen und damit einen Beitrag zur Generierung eines Aktions-
potenzials am Soma zu leisten.
Erstaunlicherweise können dendritische Natriumkanäle auch dazu dienen, elektrische Si-
gnale in die andere Richtung zu transportieren – ausgehend vom Soma die Dendriten
entlang. Dies ist ein Mechanismus, durch den dendritische Synapsen die Information er-
halten, dass im Soma ein Aktionspotenzial ausgelöst wurde, und der auch bei Hypothesen
zum zellulären Mechanismus des Lernens eine Rolle spielt (Kap. 25).

Hemmung

Wir wissen jetzt, dass es von mehreren Faktoren abhängt, ob ein EPSP zur Auslösung
eines Aktionspotenzials beiträgt oder nicht: etwa von der Anzahl der koaktiven exzitatori-
schen Synapsen, dem Abstand der Synapse von der Initiationszone für Aktionspotenziale
und den Eigenschaften der dendritischen Membran. Allerdings sind nicht alle Synapsen
im Gehirn exzitatorisch. Die Funktion einiger Synapsen besteht gerade darin, das Mem-
branpotenzial nicht in die Nähe des Schwellenwertes für ein Aktionspotenzial kommen zu
lassen; man bezeichnet sie als inhibitorische Synapsen. Diese üben eine wirksame Kon-
trolle über die Ausgangssignale eines Neurons aus (Exkurs 5.6).

IPSPs und shunting inhibition


Die postsynaptischen Rezeptoren der meisten inhibitorischen Synapsen sind denjenigen
der exzitatorischen Synapsen sehr ähnlich; es handelt sich in beiden Fällen um transmit-
terabhängige Ionenkanäle. Die einzigen wichtigen Unterschiede bestehen darin, dass sie
andere Neurotransmitter binden (entweder GABA oder Glycin) und dass sie für ande-
re Ionen durchlässig sind. Die transmitterabhängigen Kanäle der meisten inhibitorischen
Synapsen lassen mit Cl nur ein einziges natürliches Ion passieren. Das Öffnen des Chlo-
ridkanals lässt Cl -Ionen die Membran in einer Richtung durchqueren, die das Membran-
potenzial in die Nähe des Gleichgewichtspotenzials für Chlorid (ECl ) verschiebt, das etwa
65 mV beträgt. Wenn das Membranpotenzial weniger negativ ist als 65 mV, wenn der
Transmitter freigesetzt wird, kann die Aktivierung dieser Kanäle ein hyperpolarisierendes
IPSP auslösen.
Wenn jedoch das Ruhepotenzial an der Membran bereits bei 65 mV liegt, wird nach
Aktivierung des Chloridkanals kein sichtbares IPSP ausgelöst, da das Membranpotenzial
146 5 Die synaptische Übertragung
Teil I

Exkurs 5.6  Perspektive


Erschreckende Mutationen und Gifte

Ein Lichtblitz. . . ein Donnerschlag. . . ein Schulterklopfen, dem Neurotransmitter Glycin ausgesetzt ist. Die zweite Form
wenn man denkt, man sei allein! Wenn Sie nicht damit rech- der Schreckkrankheit kommt bei der spastic-Mausmutante
nen, kann Sie jeder dieser Reize zum Aufspringen, Verziehen und bei einer Rinderrasse vor. Bei diesen Tieren werden die
des Gesichts und Hochziehen der Schultern bringen und be- normalen Glycinrezeptoren exprimiert, aber in zu geringer
wirken, dass sich Ihr Atem beschleunigt. Wir alle kennen die Anzahl. Die beiden Formen der Schreckkrankheit führen al-
kurze, aber eindrückliche Schreckreaktion. so auf verschiedenen Wegen zu denselben negativen Folgen:
Der Transmitter Glycin ist bei der Hemmung von Neuronen
Wenn es zum zweiten Mal blitzt oder ein Freund uns noch
im Rückenmark und Stammhirn weniger wirksam.
einmal auf die Schulter klopft, neigen wir glücklicherwei-
se dazu, dann viel weniger zu erschrecken. Wir gewöhnen Die normale Funktion der meisten neuronalen Schaltkrei-
uns schnell daran und entspannen uns. Für eine unglückliche se hängt von einem genau ausbalancierten Gleichgewicht
Minderheit von Mäusen, Kühen, Hunden, Pferden und Men- aus synaptischer Erregung und Hemmung ab. Wenn die Er-
schen ist jedoch das Leben eine Abfolge von übersteigerten regung zunimmt und die Hemmung verringert wird, kann
Schreckreaktionen. Selbst normale, ungefährliche Reize, wie ein Zustand des Aufgewühltseins und der Übererregbar-
etwa Händeklatschen oder eine Berührung der Nase, können keit die Folge sein. Eine Störung der Glycinfunktion ver-
ein unkontrollierbares Zittern des Körpers, einen unwillkür- ursacht übersteigertes Erschrecken; bei einer verringerten
lichen Aufschrei, eine unwillkürliche Beugung der Arme und GABA-Funktion kann es zu epileptischen Anfällen kommen
Beine und einen Sturz zu Boden auslösen. Noch schlimmer (Kap. 14). Wie können diese Krankheiten behandelt werden?
dabei ist, dass diese übertriebenen Reaktionen beibehalten Häufig gilt hier eine klare und einfache Logik: Medikamente,
werden, wenn sich die Reize wiederholen. Die klinische Be- die die Hemmung verstärken, können sehr hilfreich sein.
zeichnung für diese „Schreckkrankheit“ ist Hyperekplexie,
Die genetischen Mutationen des Glycinsystems ähneln in
und die ersten dokumentierten Fälle wurden 1878 unter Mit-
ihrer Wirkung einer Strychninvergiftung. Strychnin ist ein
gliedern einer Gemeinschaft von frankokanadischen Holz-
wirkungsvolles Pflanzengift, das zum ersten Mal im frühen
fällern beobachtet. Hyperekplexie ist eine Erbkrankheit, die
19. Jahrhundert isoliert wurde. Es wurde von den Bauern
weltweit auftritt, und die Betroffenen bekommen in ihrer
traditionell verwendet, um lästige Nagetiere auszurotten, au-
Umgebung meist fantasievolle Namen zugewiesen: „Jum-
ßerdem von Mördern. Strychnin besitzt einen sehr einfachen
ping Frenchmen of Maine“ (Quebec), „myriachit“ (Sibiri-
Wirkmechanismus: Es ist ein Antagonist für Glycin an des-
en), „latah“ (Malaysia) und „Ragin’ Cajuns“ (Lousiana).
sen Rezeptor. Eine leichte Strychninvergiftung steigert das
Heute kennen wir die molekularen Grundlagen der beiden Erschrecken und andere Reflexe und ähnelt so der Hyper-
allgemeinen Formen von Schreckkrankheiten. Bei beiden ekplexie. Hohe Dosen zerstören fast die gesamte glycinver-
handelt es sich um Defekte der inhibitorischen Glycinre- mittelte Hemmung von Schaltkreisen im Rückenmark und
zeptoren. Die erste Form, die man beim Menschen und der im Stammhirn. Das führt zu unkontrollierbaren Krampfan-
spasmodic-Mausmutante entdeckt hat, wird durch die Muta- fällen und unwillkürlichen Muskelkontraktionen, Spasmen
tion eines Gens für den Glycinrezeptor verursacht. Von allen und zur Lähmung der Atemmuskulatur und letztendlich zum
möglichen Veränderungen ist hier die geringste vorhanden Tod durch Ersticken. Es ist ein schmerzhafter, qualvoller
– die veränderten Rezeptoren enthalten nur eine falsch co- Tod, da Glycin kein Transmitter in den höher entwickelten
dierte Aminosäure (von über 400) –, aber das Ergebnis ist Hirnzentren ist und Strychnin selbst keine kognitiven oder
ein Chloridkanal, der sich weniger häufig öffnet, wenn er sensorischen Funktionen beeinträchtigt.

bereits gleich ECl ist (das heißt gleich dem Umkehrpotenzial dieser Synapse, Exkurs 5.4).
Wenn es kein sichtbares IPSP gibt, ist das Neuron dann tatsächlich gehemmt? Die Ant-
wort lautet: ja. Betrachten wir die Situation, die in Abb. 5.21 dargestellt ist. Hier liegt
eine exzitatorische Synapse auf einem distalen Abschnitt des Dendriten und eine inhibi-
torische Synapse auf einem proximalen Abschnitt des Dendriten in der Nähe des Somas.
Eine Aktivierung der exzitatorischen Synapse führt zu einem Einstrom positiver Ladung
in den Dendriten. Dieser Strom depolarisiert die Membran, während er in Richtung So-
ma fließt. An der Stelle der aktiven inhibitorischen Synapse liegt das Membranpotenzial
jedoch annähernd bei ECl D 65 mV. Deshalb fließt an dieser Stelle ein positiver Strom
durch die Membran nach außen, um Vm auf 65 mV zu bringen. Diese Synapse bewirkt
einen elektrischen „Kurzschluss“, sie verhindert, dass der Strom durch das Soma in den
Axonhügel fließt. Diese Art der Hemmung bezeichnet man als shunting inhibition (Kurz-
schlusshemmung). Die eigentliche physikalische Grundlage der shunting inhibition ist die
Grundlagen der synaptischen Integration 147

a exzitatorische Synapse inhibitorische Synapse

Teil I
(aktiv) (inaktiv)

Dendrit
Soma

Axonhügel
Messung von Vm Messung von Vm

EPSP

Vm des Vm des
Dendriten Somas

b exzitatorische Synapse inhibitorische Synapse


(aktiv) (aktiv)

Dendrit
Soma

Axonhügel
Messung von Vm Messung von Vm

EPSP

Vm des Vm des
Dendriten Somas

Abb. 5.21 Shunting inhibition. Das hier gezeigte Neuron besitzt einen exzitatorischen und einen inhibitorischen
Eingang. a Die Stimulation durch das exzitatorische Eingangssignal führt postsynaptisch zu einem einwärtsgerich-
teten Strom, der sich zum Soma hin ausbreitet, wo er als EPSP gemessen werden kann. b Wenn das exzitatorische
und das inhibitorische Signal zusammenwirken, entweicht der depolarisierende Strom, bevor er das Soma erreicht

nach innen gerichtete Bewegung negativ geladener Chloridionen. Dies entspricht formal
einem auswärtsgerichteten positiven Stromfluss. Die shunting inhibition funktioniert ge-
nauso wie ein Loch, das man in einen Gartenschlauch schneidet – das Wasser folgt dem
geringsten Widerstand, fließt also aus dem Schlauch, bevor es am vorderen Ende durch
die Düse gelangt und die Blumen im Garten „aktiviert“.
Die Aktivität der inhibitorischen Synapsen trägt also auch zur synaptischen Integration
bei. Die IPSPs können von den EPSPs abgezogen werden, wodurch die Wahrschein-
lichkeit abnimmt, dass das postsynaptische Neuron Aktionspotenziale abfeuert. Darüber
hinaus wird durch die shunting inhibition Rm und damit  stark verringert, sodass ein po-
sitiver Strom durch die Membran nach außen fließen kann, anstatt sich im Inneren des
Dendriten zum Axonhügel auszubreiten.

Struktur und Position von exzitatorischen und inhibitorischen Synapsen


Inhibitorische Synapsen im Gehirn, die GABA oder Glycin als Neurotransmitter ver-
wenden, besitzen immer eine Morphologie, die für den Gray-Typ-II charakteristisch ist
(Abb. 5.8b). Diese Struktur unterscheidet sich von den exzitatorischen Synapsen, die
148 5 Die synaptische Übertragung

Glutamat verwenden und eine Morphologie vom Gray-Typ-I aufweisen. Diese Korrela-
Teil I

tion zwischen Struktur und Funktion hat sich für die Untersuchung der geometrischen
Zusammenhänge zwischen exzitatorischen und inhibitorischen Synapsen bei einzelnen
Neuronen als hilfreich erwiesen. Inhibitorische Synapsen sind nicht nur über die Dendri-
ten verteilt, sondern kommen bei vielen Neuronen auch gehäuft auf dem Soma und dem
Axonhügel vor. Dort sind sie in einer besonders wirksamen Position, um die Aktivität des
postsynaptischen Neurons zu beeinflussen.

Modulation

Bei den meisten postsynaptischen Mechanismen, die wir bisher besprochen haben, spielen
ionotrope Transmitterrezeptoren (also Ionenkanäle) eine Rolle. Synapsen mit transmitter-
abhängigen Kanälen übertragen mit Sicherheit den größten Teil der spezifischen Informa-
tionen, die im Nervensystem verarbeitet werden. Es gibt jedoch an vielen Synapsen zusätz-
lich Neurotransmitterrezeptoren, die an G-Proteine gekoppelt und nicht direkt mit einem
Ionenkanal assoziiert sind. Die synaptische Aktivierung dieser Rezeptoren führt nicht di-
rekt zur Auslösung von EPSPs und IPSPs, sondern verändert stattdessen die Wirkung
von postsynaptischen Potenzialen. Diese Art der postsynaptischen Übertragung bezeich-
net man als Modulation. Wir wollen hier eine erste Vorstellung davon vermitteln, wie
die Modulation die synaptische Integration beeinflusst, indem wir die Effekte analysieren,
die bei der Aktivierung eines bestimmten Typs von G-Protein-gekoppeltem Rezeptor im
Gehirn auftreten: beim Noradrenalin-ˇ-Rezeptor.
Die Bindung des Aminneurotransmitters Noradrenalin (NA) an den ˇ-adrenergen Re-
zeptor löst in der Zelle eine Kaskade biochemischer Ereignisse aus. In Kurzform: Der
ˇ-Rezeptor aktiviert ein G-Protein und das wiederum ein Effektorprotein, hier das intra-
zelluläre Enzym Adenylatcyclase. Dieses Enzym katalysiert die chemische Reaktion, die
Adenosintriphosphat (ATP), ein Produkt des oxidativen Metabolismus in den Mitochon-
drien, in eine Verbindung umwandelt, die man als zyklisches Adenosinmonophosphat
(cAMP) bezeichnet. Dieses Molekül kann im Cytosol frei diffundieren. So wird also das
erste chemische Signal der synaptischen Übertragung (die Freisetzung von NA in den
synaptischen Spalt) durch den ˇ-Rezeptor in ein zweites Signal (cAMP) umgewandelt;
cAMP ist ein Beispiel für einen Second Messenger.
Die Wirkung von cAMP besteht darin, dass es andere Enzyme stimuliert, die sogenannten
Proteinkinasen. Diese katalysieren eine chemische Reaktion, die man als Phosphorylie-
rung bezeichnet, also die Übertragung von Phosphatgruppen (PO3 ) von ATP auf spezifi-
sche Stellen zellulärer Proteine (Abb. 5.22). Die Bedeutung der Phosphorylierung besteht
darin, dass sie die Konformation des Proteins und dadurch auch seine Aktivität ändern
kann.
In einigen Neuronen ist eines der Proteine, das bei der Zunahme von cAMP phosphoryliert
wird, eine besondere Art von Kaliumkanal in der Dendritenmembran. Die Phosphorylie-
rung führt dazu, dass sich dieser Kanal schließt, wodurch die Membranleitfähigkeit für KC
verringert wird. Das allein hat noch keine besonderen Auswirkungen auf das Neuron.
Man muss jedoch die weiteren Folgen betrachten: Eine Abnahme der K C -Leitfähigkeit
erhöht den Widerstand der Dendritenmembran und dadurch gleichzeitig die Längskon-
stante. Es ist genauso, als ob man einen löchrigen Gartenschlauch mit Dichtungsband
umwickelt, damit mehr Wasser innerhalb des Schlauches fließen kann und weniger an den
Seiten verloren geht. Als Folge der Zunahme von  werden weit entfernte oder schwache
exzitatorische Synapsen effektiver den Axonhügel über den Schwellenwert hinaus depo-
larisieren, das heißt die Zelle wird erregbarer. Die Bindung von NA an den ˇ-Rezeptor
verursacht nur eine geringe Veränderung des Membranpotenzials, aber eine deutliche Ver-
stärkung der Reaktion, die ein anderer Neurotransmitter an einer exzitatorischen Synapse
erzielt. Da diese Wirkung mehrere biochemische Zwischenstufen umfasst, kann sie viel
länger anhalten als der modulatorische Transmitter selbst vorhanden ist.
Wir haben hier einen einzelnen G-Protein-gekoppelten Rezeptor und die Auswirkungen,
die seine Aktivierung auf einen bestimmten Neuronentyp hat, beschrieben. Dabei ist je-
Abschließende Bemerkungen 149

Teil I
Kaliumkanal
NA Adenylat-
cyclase

1
2
5
3
Protein-
G-Protein kinase

Abb. 5.22 Modulation durch den ˇ-adrenergen Rezeptor. ➀ Die Bindung von Noradrenalin (NA)
an den Rezeptor aktiviert ein G-Protein in der Membran. ➁ Das G-Protein aktiviert das Enzym Ade-
nylatcyclase. ➂ Die Adenylatcyclase wandelt ATP in den Second Messenger cAMP um. ➃ cAMP
aktiviert eine Proteinkinase. ➄ Die Proteinkinase bewirkt, dass sich ein Kaliumkanal schließt, indem
sie eine Phosphatgruppe dort anbringt

doch zu beachten, dass andere Typen von Rezeptoren die Bildung anderer Second-Mes-
senger-Moleküle bewirken können. Die Aktivierung jedes einzelnen Rezeptors löst im
postsynaptischen Neuron eine eigene Kaskade biochemischer Reaktionen aus, bei denen
es nicht immer zur Phosphorylierung und Abnahme der Membranleitfähigkeit kommt. Tat-
sächlich erzeugt cAMP in einem anderen Zelltyp mit anderen Enzymen möglicherweise
eine funktionell entgegengesetzte Veränderung der zellulären Erregbarkeit.
In Kap. 6 wollen wir weitere Beispiele für die synaptische Modulation und ihre Mecha-
nismen besprechen. Sie können jedoch bereits jetzt erkennen, dass modulierte Formen der
synaptischen Übertragung eine fast unbegrenzte Anzahl an Möglichkeiten bieten, wie die
Information, die in der präsynaptischen Impulsaktivität codiert ist, vom postsynaptischen
Neuron transformiert und genutzt werden kann.

Abschließende Bemerkungen

In diesem Kapitel haben wir uns mit den Grundlagen der chemischen Übertragung an Sy-
napsen beschäftigt. Das Aktionspotenzial, das in Kap. 3 beim Treten auf die Reißzwecke
im sensorischen Nerv entstanden war und sich in Kap. 4 im Axon nach oben bewegte,
hat nun die Axonterminale im Rückenmark erreicht. Die Depolarisation der Terminale
löste präsynaptisch den Einstrom von Ca2C durch spannungsabhängige Calciumkanäle
aus. Dies stimulierte dann die Exocytose des Inhalts der synaptischen Vesikel. Der frei-
gesetzte Neurotransmitter diffundierte durch den synaptischen Spalt und heftete sich an
spezifische Rezeptoren der postsynaptischen Membran. Durch Einwirkung des Transmit-
ters (wahrscheinlich Glutamat) öffneten sich transmitterabhängige Kanäle, die positive
Ladungen in den postsynaptischen Dendriten einströmen ließen. Da der sensorische Nerv
Aktionspotenziale mit hoher Geschwindigkeit abfeuerte und viele Synapsen gleichzeitig
aktiviert wurden, addierten sich die EPSPs und depolarisierten den Axonhügel über den
Schwellenwert, sodass die Zelle Aktionspotenziale auslöste. Wenn die postsynaptische
Zelle ein Motoneuron ist, führt diese Aktivität zur Freisetzung von ACh an der neuromus-
kulären Endplatte und zu einer Muskelkontraktion. Wenn die postsynaptische Zelle ein
Interneuron ist, die GABA als Neurotransmitter verwendet, führt die Aktivität der Zelle
150 5 Die synaptische Übertragung

zur Hemmung der synaptischen Zielzellen. Und wenn die Zelle einen modulatorischen
Teil I

Transmitter wie NA verwendet, führt die Aktivität zu länger anhaltenden Veränderun-


gen der Erregbarkeit oder des Metabolismus in den synaptischen Zielzellen. Diese große
Vielfalt an chemischen Wechselwirkungen an Synapsen ermöglicht komplexe Reaktionen
(etwa vor Schmerz aufzuschreien und den Fuß schnell hochzuziehen) auf einfache Reize
(wie etwa in eine Reißzwecke zu treten).
In diesem Kapitel haben wir uns einen Überblick über die chemische Übertragung an
Synapsen verschafft, haben uns aber noch nicht mit der Biochemie der synaptischen Über-
tragung im Einzelnen befasst. Das soll nun in Kap. 6 anhand von verschiedenen Neu-
rotransmittersystemen geschehen. Nachdem wir uns in Teil II mit den sensorischen und
motorischen Systemen beschäftigt haben werden, werden wir in Kap. 15 die einzelnen
Beiträge der verschiedenen Neurotransmitter zur Funktion des Nervensystems untersu-
chen. Sie werden erfahren, dass die Biochemie der synaptischen Übertragung volle Auf-
merksamkeit verdient, da eine fehlerhafte neuronale Signalübertragung die Ursache von
zahlreichen neurologischen und psychischen Erkrankungen ist. Und praktisch alle psy-
choaktiven Wirkstoffe, seien es nun Medikamente oder Drogen, entfalten ihre Wirkungen
an chemischen Synapsen.
Kenntnisse über die chemische Übertragung an Synapsen liefern nicht nur Erklärungen
für die verschiedenen Aspekte der neuronalen Informationsverarbeitung und die Wirkung
von Medikamenten oder Drogen, sondern man hat hier auch den Schlüssel dafür, die neu-
ronalen Grundlagen für Lernen und Gedächtnis zu verstehen. Erinnerungen an frühere
Erfahrungen werden dadurch gespeichert, dass sich die Effektivität von chemischen Sy-
napsen im Gehirn ändert. Einige Inhalte dieses Kapitels deuten auf mögliche Orte solcher
Modifikationen hin; das reicht von Veränderungen des präsynaptischen Ca2C -Einstroms
und der Neurotransmitterfreisetzung bis zu Veränderungen der postsynaptischen Rezepto-
ren oder der postsynaptischen Erregbarkeit. Wie wir in Kap. 25 feststellen werden, tragen
alle diese Veränderungen wahrscheinlich zur Speicherung von Informationen im Nerven-
system bei.

Wiederholungsfragen
1. Was ist mit gequantelter Freisetzung von Neurotransmittern gemeint?
2. Sie stimulieren eine Muskelzelle mit ACh und aktivieren ihre nikotinischen Rezep-
toren. In welche Richtung fließt der Strom durch die Rezeptorkanäle, wenn Vm D
60 mV, wenn Vm D 0 mV oder wenn Vm D 60 mV? Warum?
3. In diesem Kapitel haben wir einen GABA-abhängigen Ionenkanal besprochen, der für
Cl permeabel ist. GABA aktiviert auch einen G-Protein-gekoppelten Rezeptor, den
man als GABAB -Rezeptor bezeichnet. Dieser bewirkt, dass sich kaliumselektive Kanä-
le öffnen. Welche Auswirkungen hat die Aktivierung des GABAB -Rezeptors auf das
Membranpotenzial?
4. Sie sind überzeugt, einen neuen Neurotransmitter entdeckt zu haben, und untersuchen
seine Wirkungen an einem Neuron. Das Umkehrpotenzial für die physiologische Re-
aktion, die durch das neue Molekül ausgelöst wird, beträgt 60 mV. Ist dieses Molekül
exzitatorisch oder inhibitorisch? Warum?
5. Der Wirkstoff Strychnin, der aus den Samen eines in Indien natürlich wachsenden
Baumes isoliert wird und häufig als Rattengift dient, blockiert die Wirkung von Glycin.
Ist Strychnin ein Agonist oder Antagonist des Glycinrezeptors?
6. Wie führt Nervengas zu einer Lähmung der Atemmuskulatur?
7. Warum löst eine exzitatorische Synapse auf dem Soma wirksamer im postsynaptischen
Neuron Aktionspotenziale aus als eine exzitatorische Synapse an der Spitze eines Den-
driten?
8. Welche Schritte führen zu einer verstärkten Erregbarkeit in einem Neuron, wenn NA
präsynaptisch freigesetzt wird?
Literatur 151

Teil I
Literatur

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Neurotransmittersysteme
6

Teil I
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
Untersuchung der Neurotransmittersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Die Biochemie der Neurotransmitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Ligandengesteuerte Kanäle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
G-Protein-gekoppelte Rezeptoren und Effektoren . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Divergenz und Konvergenz in Neurotransmittersystemen . . . . . . . . . . . . 186
Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 153
M.F. Bear, B.W. Connors, M.A. Paradiso, Neurowissenschaften,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57263-4_6
154 6 Neurotransmittersysteme

Einführung
Teil I

Das normale Funktionieren des menschlichen Gehirns erfordert eine geordnete Kombina-
tion von biochemischen Reaktionen. Wie wir erfahren haben, hängen einige der wichtigs-
ten Reaktionen im Gehirn mit der synaptischen Übertragung zusammen. In Kap. 5 haben
wir anhand der Beispiele einiger spezifischer Neurotransmitter die allgemeinen Grundla-
gen der Signalübertragung an chemischen Synapsen betrachtet. In diesem Kapitel wollen
wir uns mit der Vielfalt und der Zweckmäßigkeit der wichtigsten Neurotransmittersysteme
genauer beschäftigen.
Am Anfang der Neurotransmittersysteme stehen die Neurotransmitter. In Kap. 5 haben
wir die drei Hauptklassen besprochen: Aminosäuren, Amine und Peptide. Selbst eine nur
auszugsweise Liste der bekannten Transmitter (Tab. 5.1) enthält über 20 verschiedene Mo-
leküle. Jedes dieser Moleküle kann ein eigenes Transmittersystem definieren. Neben dem
eigentlichen Molekül gehört dazu die gesamte molekulare Maschinerie, die notwendig ist,
um den Transmitter zu synthetisieren, in Vesikel zu verpacken, freizusetzen, wieder auf-
zunehmen und abzubauen und die postsynaptische Wirkung des Transmitters zu erzielen
(Abb. 6.1).
Das erste Molekül, das im Jahr 1920 durch Otto Loewi als Neurotransmitter identifi-
ziert wurde, war Acetylcholin (ACh) (Exkurs 5.1). Zur Bezeichnung der Zellen, die ACh
produzieren und freisetzen, prägte der britische Pharmakologe Henry Dale den Begriff
cholinerg. (Dale teilte sich 1936 in Anerkennung seiner neuropharmakologischen Unter-
suchungen der synaptischen Übertragung mit Loewi den Nobelpreis.) Dale bezeichnete
die Neuronen, die den Aminneurotransmitter Noradrenalin (NA) verwenden, als norad-
renerg. Die Vereinbarung, die Nachsilbe -erg zu verwenden, setzte sich fort, als weitere

präsynaptische
Axonterminale

Enzyme für die Synthese


von Neurotransmittern

Transporter der synaptischen Vesikel

Transporter für Wiederaufnahme

abbauende Enzyme

transmitterabhängige Ionenkanäle

mit G-Proteinen gekoppelte Rezeptoren

G-Proteine
postsynaptischer
G-Protein-abhängige Ionenkanäle Dendrit

Second-Messenger-Kaskaden

Abb. 6.1 Bestandteile eines Neurotransmittersystems


Untersuchung der Neurotransmittersysteme 155

Transmitter entdeckt wurden. Deshalb bezeichnen wir heute Synapsen als glutamaterg,

Teil I
wenn sie Glutamat verwenden, als GABAerg, wenn sie GABA verwenden, als peptiderg,
wenn sie Peptide verwenden, und so weiter. Diese Adjektive dienen auch dazu, die Trans-
mittersysteme im Ganzen zu unterscheiden. So bezeichnet man beispielsweise ACh und
die gesamte molekulare Maschinerie, die damit zusammenhängt, als cholinerges System.
Mit dieser Terminologie können wir darangehen, uns mit den Neurotransmittersystemen
zu beschäftigen. Wir beginnen mit der Besprechung der experimentellen Vorgehenswei-
sen, die für die Untersuchung der Transmittersysteme angewandt wurden. Dann wollen
wir uns die Synthese und den Metabolismus spezifischer Neurotransmitter genauer an-
sehen und herausfinden, wie diese Moleküle ihre postsynaptische Wirkung entfalten. In
Kap. 15, nachdem wir bereits mehr über die strukturelle und funktionelle Organisation
des Nervensystems erfahren haben, werden wir bestimmte Neurotransmittersysteme noch
im Zusammenhang ihrer jeweiligen Beiträge zur Regulierung der Gehirnfunktion und des
Verhaltens betrachten.

Untersuchung der Neurotransmittersysteme


Der erste Schritt bei der Untersuchung eines Neurotransmittersystems ist normalerweise
die Identifizierung des Neurotransmitters. Das ist keine einfache Aufgabe, da das Gehirn
unzählige verschiedene chemische Verbindungen enthält. Wie lässt sich entscheiden, wel-
che tatsächlich als Neurotransmitter dienen?
Im Laufe der Jahre haben Neurowissenschaftler bestimmte Kriterien aufgestellt, die ein
Molekül erfüllen muss, um als Neurotransmitter zu gelten:
1. Das Molekül muss im präsynaptischen Neuron synthetisiert und gespeichert werden.
2. Das Molekül muss nach einer Stimulation aus der präsynaptischen Axonterminale frei-
gesetzt werden.
3. Das Molekül muss bei künstlicher Anwendung im Experiment eine Reaktion in der
postsynaptischen Zelle hervorrufen, die der Reaktion entspricht, die bei der natürlichen
Freisetzung des Neurotransmitters durch das präsynaptische Neuron entsteht.
Wir wollen nun einige Vorgehensweisen und Methoden kennenlernen, die angewendet
werden, um diese Voraussetzung zu prüfen.

Lokalisierung von Transmittern und


Transmitter-synthetisierenden Enzymen

Der Wissenschaftler beginnt häufig mit wenig mehr als einer Vermutung, dass ein be-
stimmtes Molekül ein Neurotransmitter sein könnte. Diese Idee mag auf der Beobachtung
beruhen, dass das Molekül in Hirngewebe in höherer Konzentration auftritt oder dass
das Molekül bei Zugabe zu bestimmten Neuronen deren Aktionspotenzialfrequenz ändert.
Dessen ungeachtet besteht der erste Schritt für eine Bestätigung der Vermutung darin zu
zeigen, dass das Molekül tatsächlich in bestimmten Neuronen vorkommt und dort synthe-
tisiert wird. Für die verschiedenen Neurotransmitter wurden viele Methoden entwickelt,
um diese Voraussetzung zu testen. Zwei der wichtigsten Verfahren, die man heute anwen-
det, sind die Immuncytochemie und die In-situ-Hybridisierung.

Immuncytochemie
Die Methode der Immuncytochemie wird angewendet, um bestimmte Moleküle in be-
stimmten Zellen anatomisch zu lokalisieren. Wenn dieselbe Technik auf Gewebedünn-
schnitte, einschließlich Hirnschnitte, angewandt wird, spricht man oft von Immunhisto-
chemie. Der Grundgedanke der Methode ist relativ einfach (Abb. 6.2): Sobald der mut-
maßliche Neurotransmitter chemisch gereinigt werden konnte, wird er in das Blut eines
156 6 Neurotransmittersysteme

a b
Teil I

c Gewebeschnitt
aus dem Gehirn

mutmaßlichen spezifische Antikörper


Neurotransmitter injizieren isolieren markiertes Neuron, unmarkiertes
das mutmaßliche Neuron
Transmitter enthält

optischer
Marker
d

mit optischem Marker chemisch


verknüpfter Antikörper

mutmaßlicher Neurotransmitter

Abb. 6.2 Immuncytochemie. Bei dieser Methode verwendet man markierte Antikörper, um Moleküle innerhalb von Zellen zu lokalisieren.
a Das gesuchte Molekül (ein Kandidatenmolekül für einen Neurotransmitter) wird in ein Tier injiziert und verursacht dort eine Immunantwort
und die Erzeugung von Antikörpern. b Dem Tier wird Blut entnommen, und aus dem Serum werden die Antikörper isoliert. c Die Antikörper
werden mit einem löslichen Marker versehen und zu Hirngewebeschnitten gegeben. Die Antikörper markieren nur diejenigen Zellen, die das
Kandidatenmolekül enthalten. d Eine vergrößerte Darstellung des Komplexes aus dem Kandidatenmolekül, einem Antikörper und dem optischen
Marker

Tieres injiziert, um dort eine Immunantwort auszulösen. Häufig muss man hierfür das
Molekül mit einem größeren verknüpfen, um eine Reaktion hervorzurufen. Ein Teil der
Immunantwort ist die Erzeugung großer Proteine, die man als Antikörper bezeichnet.
Diese können fest an spezifische Stellen eines fremden Moleküls binden – die auch als
Antigen bezeichnet werden –, in diesem Fall an den mutmaßlichen Neurotransmitter. Die
besten Antikörper für die Immuncytochemie binden sehr spezifisch an den untersuchten
Transmitter und kaum oder gar nicht an andere chemische Verbindungen im Gehirn. Diese
spezifischen Antikörpermoleküle kann man aus einer Blutprobe des immunisierten Tieres
gewinnen und mit einem farbigen Marker kennzeichnen, der im Mikroskop sichtbar wird.
Wenn man einen Abschnitt des Gehirns mit diesen markierten Antikörpern versetzt, fär-
ben sie nur diejenigen Zellen an, die den mutmaßlichen Transmitter enthalten (Abb. 6.3a).
Durch die Verwendung mehrerer unterschiedlicher Antikörper, die alle mit einem anders-
farbigen Marker gekennzeichnet sind, lassen sich mehrere Zelltypen in derselben Region
des Gehirns unterscheiden (Abb. 6.3b).

Mithilfe der Immuncytochemie kann man jedes Molekül lokalisieren, für das sich spe-
zifische Antikörper herstellen lassen, einschließlich der Enzyme, die den potenziellen
Transmitter synthetisieren. Wenn sich beweisen lässt, dass der mutmaßliche Neurotrans-
Untersuchung der Neurotransmittersysteme 157

a b

Teil I
Abb. 6.3 Immuncytochemische Lokalisierung von Proteinen in Neuronen. a Ein Neuron im
cerebralen Cortex, markiert mit Antikörpern, die an einen Peptidneurotransmitter binden. (Mit
freundlicher Genehmigung von Dr. Y. Amitai und S. L. Patrick.) b Drei unterschiedliche Neuro-
nentypen im cerebralen Cortex, wobei jeder Typ mit einem anderen Antikörper markiert ist, der
einen jeweils andersfarbigen fluoreszierenden Marker trägt (grün, rot und blau). (Mit freundlicher mRNA-Strang
im Neuron
Genehmigung von S. J. Cruikshank und S. L. Martin.) Die Abbildung in a ist stärker vergrößert als
diejenige in b
radioaktiv markierte
Sonde mit
passender
mitter und das Enzym, das ihn synthetisiert, in demselben Neuron enthalten sind – oder Sequenz der
komplementären
noch besser in derselben Axonterminale –, so ist das Kriterium erfüllt; dies ist ein weiterer
Nucleotide
Hinweis darauf, dass das Molekül in einem bestimmten Neuron vorhanden ist und auch
dort synthetisiert wird. Gewebeschnitt aus
dem Gehirn

In-situ-Hybridisierung
Die Methode, die man als In-situ-Hybridisierung bezeichnet, ist ebenfalls dafür geeig-
net, herauszufinden, ob eine Zelle ein bestimmtes Protein oder Peptid synthetisiert. Wie in
Kap. 2 beschrieben, werden Proteine an den Ribosomen entsprechend den Anweisungen
spezifischer mRNA-Moleküle zusammengebaut. In einem Neuron wird für jedes Polypep-
tid eine spezifische mRNA synthetisiert. Das mRNA-Transkript besteht aus vier verschie-
denen Nucleotiden, die jeweils in einer bestimmten Sequenz zu einem Strang verknüpft Abb. 6.4 In-situ-Hybridisierung.
sind. Jede Nucleinsäure verbindet sich mit einer anderen, komplementären Nucleinsäu- mRNA-Stränge bestehen aus Nucleoti-
re. Wenn also die Nucleotidsequenz in einem mRNA-Strang bekannt ist, kann man im den, die in einer spezifischen Sequenz
Labor einen komplementären Strang herstellen, der sich ähnlich einem Klebestreifen an angeordnet sind. Jedes Nucleotid kann
das mRNA-Molekül heftet. Den komplementären Strang bezeichnet man als Sonde und an ein komplementäres Nucleotid
den Vorgang, bei dem eine Sonde an das mRNA-Molekül bindet, als Hybridisierung binden. Bei der Methode der In-situ-
Hybridisierung wird eine synthetische
(Abb. 6.4). Um festzustellen, ob die mRNA für ein bestimmtes Peptid in einem Neu-
Sonde hergestellt, die eine komplementä-
ron vorhanden ist, markiert man die geeignete Sonde chemisch, sodass sie nachgewiesen re Nucleotidsequenz enthält, sodass die
werden kann, und versetzt einen Schnitt aus Hirngewebe damit. Nach einer gewissen Ein- Sonde an die mRNA binden kann. Wenn
wirkzeit, in der sich die Sonden an die komplementären mRNA-Stränge anlagern, wäscht die Sonde markiert ist, lassen sich die
man die überschüssigen Sonden ab, die nicht gebunden haben, und sucht schließlich nach Zellen sichtbar machen, die die mRNA
Neuronen, die die Markierung enthalten. enthalten
158 6 Neurotransmittersysteme

Um die markierten Zellen nach einer In-situ-Hybridisierung sichtbar zu machen, lassen


Teil I

sich die Sonden auf unterschiedliche Weise chemisch kennzeichnen. Häufig werden die
Sonden radioaktiv markiert. Da Radioaktivität nicht sichtbar ist, werden die hybridisier-
ten Sonden dadurch nachgewiesen, dass man das Hirngewebe auf einen Spezialfilm für
radioaktive Strahlung legt. Nachdem der Film dem Gewebe ausgesetzt war, wird er wie
eine Fotografie entwickelt, und schließlich sind Negativbilder der radioaktiven Zellen als
Ansammlungen kleiner Punkte zu erkennen (Abb. 6.5). Es ist auch möglich, digitale elek-
tronische Bildgebungsverfahren einzusetzen, um die Radioaktivität zu registrieren. Dieses
Verfahren zum Sichtbarmachen der Radioaktivitätsverteilung bezeichnet man als Autora-
diografie. Alternativ kann man die Sonden auch mit farbig fluoreszierenden Molekülen
markieren, die man mit einem geeigneten Mikroskop direkt sehen kann. Fluoreszenz-in-
situ-Hybridisierung ist auch als FISH bekannt.
Zusammengefasst ist die Immuncytochemie eine Methode zur Lokalisierung von spezi-
fischen Molekülen, beispielsweise von Proteinen, in Hirngewebeschnitten. Die In-situ-
Hybridisierung dient der Lokalisierung von spezifischen mRNA-Transkripten für Proteine.
Abb. 6.5 In-situ-Hybridisierung der Bei gemeinsamer Anwendung beider Methoden kann man feststellen, ob ein Neuron ein
mRNA für einen Peptidneurotrans- Transmitterkandidatenmolekül oder mit ihm assoziierte Moleküle enthält und syntheti-
mitter in Neuronen, sichtbar gemacht siert.
durch eine Autoradiografie. Es wer-
den nur Neuronen mit der passenden
mRNA markiert, sie sind hier durch
Ansammlungen weißer Punkte erkennbar Untersuchung der Transmitterfreisetzung

Hat man gezeigt, dass ein potenzieller Transmitter von einem Neuron synthetisiert wird
und in der präsynaptischen Terminale lokalisiert ist, muss nachgewiesen werden, dass das
Molekül auch tatsächlich bei deren Aktivierung freigesetzt wird. In manchen Fällen ist es
möglich, eine bestimmte Gruppe von Zellen oder Axonen zu stimulieren und gleichzeitig
Proben der Extrazellulärflüssigkeit an ihren synaptischen Zielzellen zu entnehmen. Die
biologische Aktivität der Probe kann getestet werden, indem man feststellt, ob sich damit
der Effekt der intakten Synapsen nachahmen lässt. Eine anschließende chemische Analyse
dient dazu, die Struktur des aktiven Moleküls zu bestimmen. Mithilfe dieser allgemeinen
Vorgehensweise war es Loewi und Dale möglich, ACh als Transmitter an vielen peripheren
Synapsen zu identifizieren.
Im Gegensatz zum peripheren Nervensystem (PNS), dem Nervensystem, das Loewi und
Dale untersuchten, enthalten die meisten Regionen des Zentralnervensystems (ZNS) eine
vielfältige Mischung aus verschiedenen Synapsen, die unterschiedliche Neurotransmit-
ter verwenden. Dadurch ist es häufig unmöglich, eine einzelne Population von Synapsen
zu stimulieren, die nur einen einzigen Neurotransmitter enthalten. Die Forscher müssen
sich damit zufriedengeben, in einer Gehirnregion viele Synapsen zu stimulieren und al-
le chemischen Verbindungen zu sammeln und zu messen, die freigesetzt werden. Ein
mögliches Verfahren ist dabei die Verwendung von Gewebeschnitten aus dem Gehirn,
die in vitro funktionsfähig gehalten werden. Die Behandlung mit einer Lösung mit ho-
her KC -Konzentration führt zu einer starken Depolarisation der Membran (Abb. 3.19)
und stimuliert dadurch die Transmitterfreisetzung aus den Axonterminalen ins Gewe-
be. Da die Transmitterfreisetzung einen Ca2C -Einstrom in die Axonterminale erfordert,
muss allerdings auch gezeigt werden, dass die Freisetzung des Kandidatenmoleküls aus
dem Gewebeschnitt nach der Depolarisation nur dann erfolgt, wenn Ca2C -Ionen in der
Umgebungslösung vorhanden sind. Neue Methoden wie die Optogenetik (Exkurs 4.2) er-
möglichen es heute, zu einem bestimmten Zeitpunkt nur einen einzigen Synapsentyp zu
aktivieren. Mithilfe genetischer Methoden kann man eine bestimmte Neuronenpopulation
dazu bringen, lichtempfindliche Proteine zu exprimieren; anschließend lassen sich die-
se Neuronen mit kurzen Lichtblitzen stimulieren, die keine Wirkung auf die umliegenden
Zellen haben. Die freigesetzten Transmitter stammen daher höchstwahrscheinlich von dem
optogenetisch selektierten Synapsentyp.
Selbst wenn sich zeigen lässt, dass ein mutmaßlicher Transmitter aufgrund einer calci-
umabhängigen Depolarisation freigesetzt wird, kann man immer noch nicht sicher sein,
dass die aus den Flüssigkeiten isolierten Moleküle tatsächlich von den Axonterminalen
Untersuchung der Neurotransmittersysteme 159

freigesetzt werden. Sie könnten auch als Sekundäreffekt der synaptischen Aktivierung Mikropipette

Teil I
freigesetzt werden. Diese technischen Schwierigkeiten führen dazu, dass die zweite Vor- mit Wirkstoff
Zugabe des
aussetzung, nach der ein Transmitterkandidatenmolekül von einem präsynaptischen Axon Wirkstoffs
nach einer Stimulierung freigesetzt werden muss, im ZNS am schwierigsten zweifelsfrei durch
nachzuprüfen ist. elektrischen
Stromfluss

Stimulierung
präsynap- des Axons
tische
Untersuchung der synaptischen Effekte Terminale

postsynap-
Selbst der Nachweis, dass ein Molekül in einem Neuron vorkommt, dort synthetisiert und tischer
Messung von Vm
Dendrit
von dort freigesetzt wird, reicht allein noch nicht aus, um das Molekül als Neurotransmit-
ter zu klassifizieren. Auch die dritte Voraussetzung muss erfüllt sein: Das Molekül muss
dieselbe Reaktion hervorrufen, die entsteht, wenn der natürlich vorkommende Neurotrans-
mitter vom präsynaptischen Neuron freigesetzt wird.
Um die postsynaptischen Aktivitäten eines mutmaßlichen Transmitters zu erfassen, findet
häufig eine Methode Anwendung, die man als Mikroiontophorese bezeichnet. Die meis-
ten Transmitterkandidatenmoleküle können in Lösung gebracht werden und nehmen dabei
eine elektrische Nettoladung an. Eine Glaspipette mit einer sehr feinen Spitze von nur we-
nigen Mikrometern Durchmesser wird mit einer ionisierten Lösung gefüllt. Die Spitze der
Pipette wird sorgfältig in der Nähe der postsynaptischen Membran eines Neurons platziert,
und das Kandidatenmolekül wird in sehr geringen Mengen aus der Pipette freigesetzt, in- Abb. 6.6 Mikroiontophorese. Mit-
dem man elektrischen Strom durch die Pipette leitet. Neurotransmitterkandidaten können hilfe dieser Methode ist es möglich,
auch aus feinen Pipetten in Pulsen mit hohem Druck appliziert werden. Mithilfe einer Mi- Wirkstoffe wie etwa Medikamente oder
kroelektrode im postsynaptischen Neuron kann man dann die Wirkungen messen, die der mutmaßliche Neurotransmitter in sehr
mutmaßliche Transmitter auf das Membranpotenzial hat (Abb. 6.6). geringen Mengen auf die Oberfläche von
Neuronen zu bringen. Die Reaktionen,
Wenn die iontophoretische Anwendung des Moleküls elektrophysiologische Veränderun- die der Wirkstoff hervorruft, können mit
gen hervorbringt, die den Wirkungen des Transmitters gleichen, der an der Synapse freige- denen der synaptischen Stimulierung
setzt wird, und wenn die anderen Voraussetzungen in Bezug auf Lokalisierung, Synthese verglichen werden
und Freisetzung erfüllt sind, dann betrachtet man das Molekül als Transmitter.

Untersuchung von Rezeptoren

Jeder Neurotransmitter verursacht durch die Bindung an spezifische Rezeptoren post-


synaptische Effekte. Als Regel gilt, dass es keine zwei Neurotransmitter gibt, die zu
demselben Rezeptor passen, ein Neurotransmitter kann jedoch an viele verschiedene Re-
zeptoren binden. Diese verschiedenen Rezeptorarten, an die ein Neurotransmitter andockt,
bezeichnet man als Rezeptorsubtypen. So haben wir beispielsweise in Kap. 5 erfahren,
dass ACh an zwei verschiedene cholinerge Rezeptorsubtypen bindet. Der eine kommt in
der Skelettmuskulatur vor, der andere im Herzmuskel. Beide Subtypen kommen auch in
vielen anderen Organen und im ZNS vor.
Bisher hat man in der Forschung mit beinahe allen biologischen und chemischen Ana-
lysemethoden versucht, die verschiedenen Rezeptorsubtypen der vielfältigen Neurotrans-
mittersysteme zu untersuchen. Drei Herangehensweisen haben sich als besonders sinnvoll
erwiesen: die neuropharmakologische Analyse der synaptischen Übertragung, Liganden-
bindungsverfahren und – als neuestes Verfahren – die molekulare Analyse der Rezeptor-
proteine.

Neuropharmakologische Analyse
Vieles von dem, was wir heute über die Rezeptorsubtypen wissen, wurde mithilfe neuro-
pharmakologischer Analysen entdeckt. So reagieren beispielsweise die Skelettmuskulatur
und der Herzmuskel unterschiedlich auf verschiedene cholinerge Wirkstoffe. Nikotin, das
aus der Tabakpflanze stammt, ist ein Rezeptoragonist in der Skelettmuskulatur, hat aber
keine Wirkung auf das Herz. Andererseits hat Muscarin, das in einem Giftpilz vorkommt,
160 6 Neurotransmittersysteme

Abb. 6.7 Die Neurophar- Neurotransmitter: ACh


Teil I

makologie der cholinergen


synaptischen Übertragung. Agonisten: Nikotin Muscarin
Bestimmte Stellen auf den
Transmitterrezeptoren kön- + + +
nen entweder den Transmitter Antagonisten: Curare Atropin
selbst binden (ACh), einen –
Agonisten, der die Transmit- +
terwirkung nachahmt, oder –
einen Antagonisten, der die
Wirkung des Transmitters und
seiner Agonisten blockiert
nikotinischer muscarinischer
Rezeptoren:
Rezeptor Rezeptor

geringe Auswirkungen auf die Skelettmuskulatur, wirkt jedoch auf den cholinergen Re-
zeptorsubtyp im Herzen als Agonist. (Zur Erinnerung: ACh verlangsamt die Herzfrequenz;
Muscarin ist giftig, da es eine schnelle Abnahme der Herzfrequenz und des Blutdrucks
hervorruft.) So lassen sich also zwei ACh-Rezeptorsubtypen aufgrund der Effekte ver-
schiedener Wirkstoffe unterscheiden. Tatsächlich bezeichnet man die Rezeptoren nach
ihren Agonisten: nikotinische ACh-Rezeptoren in der Skelettmuskulatur und muscarini-
sche ACh-Rezeptoren im Herz. Diese beiden Rezeptorsubtypen kommen auch im Gehirn
vor, und einige Neuronen weisen beide Rezeptortypen auf.
Eine andere Methode, Rezeptorsubtypen zu unterscheiden, besteht darin, selektive Ant-
agonisten zu verwenden. Das südamerikanische Pfeilgift Curare hemmt die Aktivität von
ACh an nikotinischen Rezeptoren (was zu einer Lähmung führt). Atropin, das aus Toll-
kirschen gewonnen wird, wirkt antagonistisch auf ACh an muscarinischen Rezeptoren
(Abb. 6.7). Die Augentropfen, die ein Augenarzt zur Erweiterung der Pupillen benutzt,
sind mit Atropin chemisch verwandt.
Für die Unterscheidung mehrerer Subtypen der Glutamatrezeptoren, die einen großen
Teil der erregenden synaptischen Übertragung im ZNS vermitteln, hat man ebenfalls
verschiedene Wirkstoffe angewandt. AMPA-Rezeptoren, NMDA-Rezeptoren und Kai-
natrezeptoren sind drei Subtypen, wobei jeder nach einem anderen Agonisten benannt
ist (AMPA steht für ˛-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolpropionat, NMDA für

Neurotransmitter: Glutamat

Agonisten: AMPA NMDA Kainat

AMPA- NMDA- Kainat-


Rezeptoren:
Rezeptor Rezeptor rezeptor

Abb. 6.8 Die Neuropharmakologie der glutamatergen synaptischen Übertragung. Es gibt drei
Subtypen von Glutamatrezeptoren, die alle Glutamat binden, aber jeweils durch einen anderen Ago-
nisten spezifisch aktiviert werden
Untersuchung der Neurotransmittersysteme 161

Tab. 6.1 Neuropharmakologie von einigen Rezeptorsubtypen

Teil I
Neurotransmitter Rezeptorsubtyp Agonist Antagonist
Acetylcholin (ACh) Nikotinischer Rezeptor Nikotin Curare
Muscarinischer Rezeptor Muscarin Atropin
Noradrenalin (NA) ˛-Rezeptor Phenylephrin Phenoxybenzamin
ˇ-Rezeptor Isoproterenol Propranolol
Glutamat (Glu) AMPA AMPA CNQX
NMDA NMDA AP5
GABA GABAA Muscimol Bicucullin
GABAB Baclofen Phaclofen
ATP P2X ATP Suramin
A-Typ Adenosin Koffein

N-Methyl-D-Aspartat). Der Neurotransmitter Glutamat aktiviert alle drei Rezeptorsubty-


pen, aber AMPA wirkt nur auf den AMPA-Rezeptor, NMDA nur auf den NMDA-Rezeptor
und so weiter (Abb. 6.8).
Mithilfe ähnlicher pharmakologischer Analysen ist es gelungen, die NA-Rezeptoren in die
zwei Subtypen ˛ und ˇ und die GABA-Rezeptoren in die Subtypen GABAA und GABAB
einzuteilen. Dasselbe gilt im Prinzip für praktisch alle Neurotransmittersysteme. Selektive
Wirkstoffe haben sich also als außerordentlich hilfreich erwiesen, um Rezeptorsubtypen
zu bestimmen (Tab. 6.1). Darüber hinaus ist die neuropharmakologische Analyse seit jeher
unverzichtbar, um die Beiträge der Neurotransmittersysteme zur Hirnfunktion zu untersu-
chen.

Ligandenbindungsverfahren
Wie bereits festgestellt, ist der erste Schritt bei der Untersuchung eines Neurotransmitter-
systems normalerweise die Identifizierung des Neurotransmitters. Als man jedoch in den
1970er-Jahren entdeckte, dass viele Wirkstoffe selektiv mit Neurotransmitterrezeptoren
interagieren, kamen die Forscher auf den Gedanken, diese Moleküle zu verwenden, um
mit der Analyse der Rezeptoren zu beginnen, noch bevor der eigentliche Neurotransmitter
identifiziert wurde. Die Wegbereiter für dieses Verfahren waren Solomon Snyder und seine
damalige Studentin Candace Pert an der Johns Hopkins University, der Opiate untersuchte
(Exkurs 6.1). Diese Verbindungen bilden eine große Klasse von Wirkstoffen, die sich vom
Schlafmohn ableiten und sowohl in der Medizin von Bedeutung sind als auch häufigem
Missbrauch unterliegen. Opioide bilden eine breitere Klasse von natürlichen wie künstli-
chen opiatähnlichen Substanzen. Sie wirken schmerzstillend, euphorisierend, dämpfen die
Atmung und führen zu Verstopfung.
Snyder und Pert hatten sich ursprünglich der Frage gewidmet, warum Heroin, Morphi-
um und andere Opiate ihre Wirkung auf das Gehirn entfalten. Die Hypothese lautete,
dass Opiate Agonisten an spezifischen Rezeptoren in der Nervenzellmembran sein könn-
ten. Um diese Vermutung zu überprüfen, markierte man Opiatverbindungen radioaktiv
oder nichtradioaktiv und gab sie in geringen Mengen zu Nervenzellmembranen, die aus
verschiedenen Hirnregionen isoliert worden waren. Wenn Rezeptoren in den Membranen
vorhanden waren, sollten die Opiate fest daran binden. Und genau das konnte man beob-
achten. Durch die radioaktiven Wirkstoffe wurden auf den Membranen spezifische Stellen
markiert, was allerdings nur bei einigen, nicht bei allen Neuronen im Gehirn der Fall war
(Abb. 6.9). Nach der Entdeckung der Opiatrezeptoren richtete sich die Suche auf die en-
dogenen Opiate oder Endorphine, die natürlich vorkommenden Neurotransmitter, die auf Abb. 6.9 Bindung von Opiaten an
Rezeptoren in einem Gewebeschnitt
diese Rezeptoren einwirken. Bald konnte man aus dem Gehirn zwei Peptide isolieren, die
aus Rattenhirn. Ein Gehirnabschnitt,
als Enkephaline bezeichnet wurden und sich schließlich als Opiatneurotransmitter heraus- an den radioaktive Liganden von Opiat-
stellten. rezeptoren gebunden waren, auf einem
Jede chemische Verbindung, die auf einem Rezeptor an eine spezifische Stelle bindet, Spezialfilm. Die dunklen Bereiche ent-
bezeichnet man als Liganden dieses Rezeptors (abgeleitet aus dem lateinischen Wort für halten mehr Rezeptoren als die hellen.
(Snyder 1986, S. 44)
„binden“). Die Methode zur Untersuchung von Rezeptoren mithilfe radioaktiv markier-
ter Liganden bezeichnet man als Ligandenbindungsverfahren. Ein Ligand für einen
Rezeptor kann ein Agonist, ein Antagonist oder der chemische Neurotransmitter selbst
162 6 Neurotransmittersysteme
Teil I

Exkurs 6.1  Köpfe und Ideen


Das Auffinden von Opiatrezeptoren

sollte, inkubierte er Lebermembranen mit radioaktivem Insu-


lin und schüttete die Mischung über Vakuumfilter, die die In-
kubationsflüssigkeit rasch absaugten, sodass die Membranen
mit dem angedockten Insulin an den Filtern hängenblieben.
Dann „wusch“ er die Filter mit großen Mengen Salzlösung,
und zwar so rasch, dass das an Rezeptoren gebundene Insulin
an Ort und Stelle blieb, während das unspezifisch gebunde-
ne Insulin ausgewaschen wurde. Trotz der räumlichen Nähe
zu Pedro erkannte ich nicht sofort, dass sich der Insulinerfolg
auf das Opiatrezeptorproblem übertragen ließ. Ich hatte viel-
mehr einen Artikel über den Nervenwachstumsfaktor gelesen,
der zeigte, dass dessen Aminosäuresequenz derjenigen von
Insulin stark ähnelte. Schon bald begannen Pedro und ich eine
Von Solomon H. Snyder erfolgreiche Zusammenarbeit bei der Suche nach dem Rezep-
tor des Nervenwachstumsfaktors. Erst dann fand ich den Mut,
Wie so viele Ereignisse in der Wissenschaft war die Iden- diesen Ansatz von Proteinen wie Insulin und dem Nerven-
tifizierung der Opiatrezeptoren nicht nur eine intellektuelle wachstumsfaktor auf viel kleinere Moleküle wie Opiate aus-
Leistung, ein Schritt auf der ewigen Gralssuche nach Wissen. zudehnen. Candace Pert, eine Doktorandin in meinem Labor,
Vielmehr standen am Anfang Präsident Nixon und sein 1971 wollte gern ein neues Forschungsprojekt übernehmen. Wir be-
auf dem Höhepunkt des in den Medien stark thematisierten sorgten uns radioaktiv markiertes Opiat und registrierten des-
Heroinkonsums vieler Hunderttausend Soldaten in Vietnam sen Bindung an Hirnmembranen, wobei wir Pedros magische
ausgerufener „Krieg gegen Drogen“. Um dagegen zu kämp- Filtermaschine benutzten. Schon das allererste Experiment,
fen, ernannte Nixon den Psychiater Dr. Jerome Jaffe, einen das nicht länger als zwei Stunden dauerte, war erfolgreich!
Pionier der Methadonbehandlung von Heroinsüchtigen, zum
Leiter der Forschung über Drogenmissbrauch. Jaffe sollte die Innerhalb weniger Monate gelang es uns, viele Merkmale
von der Regierung zur Verfügung gestellten mehreren Milli- von Opiatrezeptoren zu charakterisieren. Zu wissen, wo ge-
arden Dollar, die in Behörden vom Verteidigungsministerium nau im Gehirn die Rezeptoren konzentriert waren, erklärte
bis zu den National Institutes of Health flossen, koordinieren. die Hauptwirkungen von Opiaten, wie Euphorie, Schmerzlin-
derung, Atmungsdämpfung und Pupillenverkleinerung. Die
Jerry, ein guter Freund, drängte mich, unsere Forschung in Eigenschaften von Opiatrezeptoren ähnelten stark dem, was
den Dienst der „armen Soldaten“ in Vietnam zu stellen. man für Neurotransmitter erwarten würde. Entsprechend be-
Daher begann ich mich zu fragen, wie Opiate wirken. Die nutzten wir ähnliche Ansätze, um nach Rezeptoren für Neu-
Vorstellung, dass Psychopharmaka an Rezeptoren wirken, rotransmitter im Gehirn zu suchen, und hatten innerhalb we-
speziellen Orten, an denen sie erkannt werden, gab es schon niger Jahre Rezeptoren für die meisten von ihnen identifiziert.
seit der Wende zum 20. Jahrhundert. Im Prinzip ließen sich
solche Rezeptoren einfach identifizieren, indem man die Bin- Diese Ergebnisse warfen eine offensichtliche Frage auf:
dung von radioaktiv markierten Drogen an Membranen maß. Warum gibt es überhaupt Opiatrezeptoren? Menschen wur-
Zahllose Forscher hatten diese Strategie bei Opiaten jedoch den schließlich nicht mit Morphin im Körper geboren.
bisher ohne Erfolg angewandt. Könnte der Opiatrezeptor der Rezeptor für einen neuen
Transmitter sein, der Schmerzwahrnehmung und emotiona-
Etwa um diese Zeit richtete ein neues Mitglied der Johns- le Zustände reguliert? Wir und andere Gruppen versuchten,
Hopkins-Fakultät, Pedro Cuatrecasas, sein Labor neben dem diese hypothetischen, normalerweise vorkommenden mor-
meinen ein, und wir wurden rasch Freunde. Pedro war kurz phinähnlichen Neurotransmitter zu isolieren. John Hughes
zuvor durch seine Entdeckung von Insulinrezeptoren bekannt und Hans Kosterlitz in Aberdeen, Schottland, waren die Ers-
geworden. Sein Erfolg beruhte auf scheinbar simplen, aber ten, die Erfolg hatten. Sie isolierten die ersten „Endorphine“,
wichtigen technischen Fortschritten. Frühere Versuche, Hor- die als Enkephaline bezeichnet werden, und klärten deren
monrezeptoren zu identifizieren, waren fehlgeschlagen, weil chemische Struktur auf. Kurz nach dem publizierten Erfolg
Hormone an viele unspezifische Stellen binden können, dar- der schottischen Gruppe ermittelten Rabi Simantov und ich
unter Proteine, Kohlenhydrate und Lipide. Die Zahl dieser in unserem Labor die Struktur der Enkephaline.
unspezifischen Bindungsstellen übertraf die Zahl der spezifi-
schen Rezeptoren wahrscheinlich um das Millionenfache. Um Von den ersten Experimenten zur Identifizierung der Opiat-
das „Signal“ der Bindung an Insulinrezeptoren aus dem „Rau- rezeptoren bis zur Isolierung der Enkephaline vergingen nur
schen“ der unspezifischen Interaktionen „herauszufischen“, drei Jahre – eine Zeit fieberhafter, faszinierender Arbeit, die
entwickelte Pedro eine simple Filteranlage. Da Insulin fes- grundlegend veränderte, wie wir über Drogen und das Gehirn
ter an seine Rezeptoren als an unspezifische Stellen binden denken.
Die Biochemie der Neurotransmitter 163

sein. Spezifische Liganden sind für die Isolierung von Neurotransmitterrezeptoren und die

Teil I
Bestimmung ihrer chemischen Struktur unverzichtbar. Ligandenbindungsverfahren waren
und sind von außerordentlicher Bedeutung dafür, die anatomische Verteilung verschiede-
ner Neurotransmitterrezeptoren im Gehirn zu kartieren.

Molekulare Analyse
In den letzten 25 Jahren haben sich dank moderner Methoden für die Untersuchung von
Proteinmolekülen die Erkenntnisse über Neurotransmitterrezeptoren explosionsartig ver-
mehrt. Aufgrund der so gewonnenen Informationen war es möglich, die Neurotransmitter-
rezeptorproteine in zwei Gruppen einzuteilen: ligandengesteuerte Ionenkanäle (ionotrope
Rezeptoren) und G-Protein-gekoppelte (metabotrope) Rezeptoren (Kap. 5).
Molekulare Neurobiologen haben die Strukturen der Polypeptide bestimmt, aus denen vie-
le Proteine bestehen, und diese Untersuchungen haben zu einigen überraschenden Schluss-
folgerungen geführt. Aufgrund der Effekte der verschiedenen Wirkstoffe hatte man eine
gewisse Vielfalt an Rezeptorsubtypen erwartet. Das wahre Ausmaß hatte man aber nicht
abschätzen können, bis die Forscher schließlich feststellten, wie viele verschiedene Poly-
peptide als Untereinheiten von funktionellen Rezeptoren fungieren können.
Betrachten wir zum Beispiel den GABAA -Rezeptor, einen ligandengesteuerten Ionen-
kanal. Jeder Kanal besteht aus fünf Untereinheiten, und es gibt fünf Hauptklassen von
Proteinuntereinheiten (ähnlich dem ACh-gesteuerten Ionenkanal, Abb. 5.14), die man mit
˛, ˇ,  , ı und  bezeichnet. Mindestens sechs Polypeptide (˛1–6) können jeweils als
˛-Untereinheit dienen, vier verschiedene Polypeptide (ˇ1–4) als ˇ-Untereinheit und vier
verschiedene Polypeptide ( 1–4) als  -Untereinheit. Das sind zwar noch nicht alle, aber
wir wollen einmal eine interessante Berechnung durchführen: Wenn fünf Untereinheiten
erforderlich sind, um einen GABAA -Rezeptor zu bilden, und insgesamt 15 Untereinhei-
ten zur Verfügung stehen, sind 151.887 verschiedene Kombinationen und Anordnungen
von Untereinheiten möglich. Das heißt, es gibt ebenso viele potenzielle Subtypen der
GABAA -Rezeptoren.
Dabei ist festzuhalten, dass der überwiegende Teil dieser möglichen Kombinationen nie-
mals von den Neuronen produziert wird, und es ergäben sich aus ihnen auch keine funk-
tionsfähigen Kanäle. Es dürfte jedoch zweifelsfrei feststehen, dass systematische Eintei-
lungen von Rezeptoren wie in Tab. 6.1 zwar weiterhin hilfreich sind, aber die Vielfalt der
Rezeptorsubtypen im Gehirn nicht ausreichend wiedergeben.

Die Biochemie der Neurotransmitter


Die Forschung mit den oben geschilderten Methoden führte zu dem Schluss, dass die meis-
ten Neurotransmitter Aminosäuren, Amine und Peptide sind. Die Evolution ist konservativ
und opportunistisch, und häufig werden bereits eingeführte und verbreitete Elemente für
weitere Zwecke genutzt. Das trifft anscheinend auch auf die Evolution der Neurotrans-
mitter zu. Größtenteils sind sie den Grundbausteinen des Lebens ähnlich oder mit ihnen
identisch. Es sind dieselben chemischen Verbindungen, die in allen Zellen und im Metabo-
lismus aller Spezies, von den Bakterien bis zu den Giraffen, genutzt werden. Aminosäuren,
die Bausteine der Proteine, sind für das Leben unverzichtbar. Die meisten bekannten
Neurotransmittermoleküle sind entweder Aminosäuren, Amine, die von Aminosäuren ab-
geleitet sind, oder Peptide, die aus Aminosäuren bestehen. ACh ist eine Ausnahme, leitet
sich aber aus Acetyl-CoA, einem überall vorkommenden Produkt der Zellatmung in den
Mitochondrien, und Cholin ab, das überall im Körper für den Metabolismus von Bedeu-
tung ist.
Aminosäure- und Amintransmitter werden generell von jeweils unterschiedlichen Neuro-
nengruppen gespeichert und freigesetzt. Das von Dale formulierte Prinzip teilt Neuronen
anhand der Neurotransmitter in Gruppen ein, bei denen es keine Überschneidungen gibt
(cholinerg, glutamaterg, GABAerg und so weiter). Die Vorstellung, dass ein Neuron nur
164 6 Neurotransmittersysteme

einen Neurotransmitter besitzen soll, bezeichnet man als das Dale-Prinzip. Viele Neuro-
Teil I

nen, die ein Peptid verwenden, verletzen jedoch dieses Prinzip, da diese Zellen im Allge-
meinen mehr als einen Neurotransmitter freisetzen: eine Aminosäure oder ein Amin und
das Peptid. Wenn eine Nerventerminale zwei oder mehr Transmitter ausschüttet, bezeich-
net man diese als Cotransmitter. In den letzten Jahren hat man zahlreiche Beispiele für
Neuronen entdeckt, die Cotransmitter freisetzen, darunter einige, die zwei kleine Trans-
mitter ausschütten (zum Beispiel GABA und Glycin). Dennoch verwenden die meisten
Neuronen nur eine einzige Aminosäure oder ein einziges Amin als Neurotransmitter. Die-
se lassen sich dann den eindeutig zu unterscheidenden Klassen zuordnen. Wir wollen uns
nun mit den biochemischen Mechanismen beschäftigen, aufgrund derer sich diese Neuro-
nen unterscheiden.

Cholinerge Neuronen

Acetylcholin (ACh) ist der Neurotransmitter an der neuromuskulären Endplatte und wird
deshalb von allen Motoneuronen im Rückenmark und Stammhirn synthetisiert. Andere
cholinerge Zellen tragen zur Funktion von weiteren spezifischen Schaltkreisen im PNS
und ZNS bei (Kap. 15).
Für die ACh-Synthese ist ein spezifisches Enzym erforderlich, die Cholin-Acetyltrans-
ferase (ChAT) (Abb. 6.10). Wie fast alle präsynaptischen Proteine wird auch die ChAT
im Soma produziert und in die Axonterminale transportiert. Nur cholinerge Neuronen
enthalten ChAT, sodass das Enzym ein guter Marker für Zellen ist, die ACh als Neuro-
transmitter verwenden. Die Identifizierung von cholinergen Neuronen ist beispielsweise
durch immuncytochemische Untersuchungen mit ChAT-spezifischen Antikörpern mög-
lich. ChAT synthetisiert ACh im Cytosol der Axonterminale, und der Neurotransmitter
sammelt sich aufgrund der Aktivität eines ACh-Transporters in synaptischen Vesikeln an
(Exkurs 6.2).
ChAT überträgt eine Acetylgruppe von Acetyl-CoA auf Cholin (Abb. 6.11a). Das Cholin
stammt aus der extrazellulären Flüssigkeit, wo es in geringer mikromolarer Konzentration

präsynaptische Zelle

Cholin-
transporter

ACh-
Transporter ChAT Cholin
ACh +
Acetyl-CoA
Ach
ACh
Vesikel

AChE Cholin
ACh +
Essigsäure

ACh-Rezeptoren
postsynaptische Zelle

Abb. 6.10 Der ACh-Zyklus


Die Biochemie der Neurotransmitter 165

Teil I
O
O
CH3C
+ +
CoA HOCH2CH2 N(CH3)3 CH3C OCH2CH2 N(CH3)3 + CoA
Cholin-
Acetyl-CoA + Cholin Acetyltransferase ACh
(ChAT)

O O
+ +
CH3C OCH2CH2 N(CH3)3 CH3C OH HOCH2CH2 N(CH3)3
Acetylcholinesterase
ACh Essigsäure + Cholin

Abb. 6.11 Acetylcholin. a ACh-Synthese. b ACh-Abbau

vorliegt. Es wird über einen spezifischen Transporter von der Terminale eines cholinergen
Axons aufgenommen, wobei der Cotransport von NaC erforderlich ist, um die Bewegung
von Cholin zu ermöglichen. Da die Verfügbarkeit von Cholin bestimmt, wie viel ACh in
der Axonterminale synthetisiert werden kann, bezeichnet man den Transport von Cholin
in das Neuron als geschwindigkeitsbestimmenden Schritt der ACh-Synthese. Bei be-
stimmten Krankheiten, die mit einer zu geringen cholinergen synaptischen Übertragung
einhergehen, wird manchmal Cholin als Nahrungsergänzungsmittel verschrieben, um die
ACh-Konzentration im Gehirn zu erhöhen.
Cholinerge Neuronen produzieren auch das ACh-abbauende Enzym Acetylcholinesterase
(AChE). Die AChE wird in den synaptischen Spalt freigesetzt und ist mit den synapti- a
schen Membranen cholinerger Axone assoziiert. Sie wird jedoch auch von einigen nicht HO
cholinergen Neuronen produziert, sodass dieses Enzym (anders als ChAT) als Marker für
cholinerge Synapsen nicht geeignet ist. HO
AChE baut ACh zu Cholin und Essigsäure ab (Abb. 6.11b). Das geschieht sehr schnell,
da die AChE unter den bekannten Enzymen eine der höchsten Katalysegeschwindigkeiten
besitzt. Ein großer Teil des entstehenden Cholins wird von der Terminale des cholinergen
Axons aufgenommen und wieder für die ACh-Synthese verwendet (Abb. 6.10). In Kap. 5 b
haben wir erwähnt, dass die AChE das Ziel zahlreicher Nervengase und Insektizide ist. Ei- HO
ne Hemmung der AChE verhindert den Abbau von ACh, sodass die Signalübertragung an
cholinergen Synapsen der Skelett- und Herzmuskulatur unterbrochen wird. Zu den akuten HO CH2CH2NH2
Auswirkungen gehört die deutliche Zunahme der Herzfrequenz und des Blutdruckes; eine
irreversible Hemmung der AChE führt jedoch in der Regel aufgrund einer Atemlähmung Dopamin (DA)
zum Tod.
HO

HO CHCH2NH2
Catecholaminerge Neuronen OH
Noradrenalin (NA)
Die Aminosäure Tyrosin ist die Vorstufe von drei verschiedenen Aminneurotransmittern,
HO
die eine chemische Struktur mit der Bezeichnung Catechol enthalten (Abb. 6.12a). Diese
Neurotransmitter bezeichnet man insgesamt als Catecholamine. Die Catecholaminneuro- HO CHCH2NHCH3
transmitter sind Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin (Abb. 6.12b). Catecholaminerge
Neuronen kommen in den Regionen des Nervensystems vor, die bei der Regulierung von OH
Bewegungen, Stimmungen, Aufmerksamkeit und Darmfunktionen eine Rolle spielen (dies Adrenalin
wird in Kap. 15 genauer ausgeführt).
Abb. 6.12 Die Catecholamine.
Alle catecholaminergen Neuronen enthalten das Enzym Tyrosin-Hydroxylase (TH), das a Catecholgruppe. b Catecholamin-
den ersten Schritt der Catecholaminsynthese, die Umwandlung von Tyrosin in ein Molekül neurotransmitter
166 6 Neurotransmittersysteme
Teil I

Exkurs 6.2  Fokus


Pumpen für Ionen und Transmitter

Im Lebenszyklus der Neurotransmitter gehören die einzelnen aufwand geschieht. Wie bereits in Kap. 3 besprochen, nutzen
Schritte, durch die sie aus dem synaptischen Spalt zurück- Ionenpumpen in der Plasmamembran ATP als Energiequelle,
gewonnen und schließlich in Vesikel verpackt werden, zu um NaC , KC und Ca2C gegen ihre Konzentrationsgradienten
denen, die weniger spannend erscheinen. Wenn man sich zu transportieren. Diese Ionengradienten sind von essenzi-
mit Synapsen beschäftigt, erhalten die exotischen Proteine eller Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Ruhemem-
der Exocytose und die unzähligen Transmitterrezeptoren die branpotenzials und die Entstehung der Ionenströme, die den
meiste Aufmerksamkeit. Dennoch sind die Neurotransmit- Aktionspotenzialen und synaptischen Potenzialen zugrunde
tertransporter aus mindestens zwei Gründen von Interesse: liegen. Ebenso verfügen die Membranen der synaptischen
Sie vollbringen erfolgreich eine außerordentlich schwierige Vesikel über Pumpen, die ATP benutzen, um Protonen in
Aufgabe und sind der molekulare Angriffspunkt vieler psy- die Vesikel zu transportieren. Hier sollte man jedoch dar-
choaktiver Wirkstoffe. an denken, dass, wenn einmal Ionengradienten über einer
Die schwere Arbeit der Transporter besteht darin, Transmit- Membran bestehen, diese selbst als Energiequellen genutzt
termoleküle so effektiv durch Membranen zu pumpen, dass werden können. Genauso wie die Energie, die benötigt wird,
sie in kleinen Bereichen hoch konzentriert werden. Es gibt um die Gewichte an einer Kuckucksuhr nach oben zu ziehen,
zwei allgemeine Typen von Neurotransmittertransportern: dazu dienen kann, das Uhrwerk und die Zeiger zu bewegen
Der neuronale Membrantransporter befördert Transmitter (während die Gewichte langsam wieder nach unten fallen),
aus der extrazellulären Flüssigkeit, etwa aus dem synapti- so nutzen Transporter die Transmembrangradienten von NaC
schen Spalt, ins Cytosol der präsynaptischen Terminale und und HC als Energiequelle, um Transmittermoleküle gegen
erhöht ihre Konzentration dort auf das 10.000-fache. Der einen steilen Konzentrationsgradienten aufwärts zu transpor-
Vesikeltransporter schleust die Transmitter anschließend in tieren. Der Transporter lässt einen Transmembrangradienten
die Vesikel, in denen die Konzentration vielleicht noch ein- – den von NaC oder HC – ein wenig abnehmen, um einen
mal 100.000-fach höher ist als im Cytosol. So kann ACh anderen Gradienten aufzubauen – den des Transmitters.
in cholinergen Vesikeln die unglaubliche Konzentration von Die Transporter selbst sind große Proteine, die Membra-
1000 mM (= 1-molar) erreichen, also etwa die doppelte Kon- nen durchspannen. Für einen Transmitter kann es mehrere
zentration des Salzes im Meerwasser. Transporter geben (so sind beispielsweise für GABA vier
Wie können Transporter solche hohen Konzentrationen er- Subtypen bekannt). Die Abb. zeigt ihre Funktionsweise.
zielen? Das Anreichern einer chemischen Verbindung ist Transporter in der Plasmamembran basieren auf einem
genauso, als ob man ein Gewicht bergauf trägt: In beiden Cotransportmechanismus (Symport), bei dem zusammen
Fällen ist es sehr unwahrscheinlich, dass es ohne Energie- mit dem Transmitter zwei NaC -Ionen transportiert werden.

präsynaptisch: präsynaptisch:
GAGAerg GABA- Glutamat- glutamaterg
Transporter transporter
vesikulärer 2 Glu
GABA- vesikulärer
GABA 2 Glutamattransporter
Transporter

GABA Glu

H+ H+

postsynaptische Membran

Neurotransmittertransporter
Die Biochemie der Neurotransmitter 167

Im Gegensatz dazu funktionieren die Transporter in Vesi- von verschiedenen Transmittern beeinflussen, verursachen

Teil I
kelmembranen als Gegentransportmechanismus (Antiport), die Wirkstoffe ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn.
bei dem ein Transmittermolekül aus dem Cytosol gegen ein Das kann grundlegende Auswirkungen auf die Gemütsver-
HC aus dem Inneren des Vesikels ausgetauscht wird. Vesi- fassung und das Verhalten haben. Es ist ebenfalls mög-
kelmembranen enthalten ATP-angetriebene HC -Pumpen, die lich, dass Defekte bei den Transportern zu psychischen
dafür sorgen, dass der Vesikelinhalt sehr sauer ist, also eine oder neurologischen Erkrankungen führen. Zumindest ei-
hohe Protonenkonzentration (HC -Ionen) enthält. nige der Wirkstoffe, die in der Psychiatrie therapeutisch
hilfreich sind, wirken durch eine Blockade der Transpor-
Welche Bedeutung hat das alles für Wirkstoffe und Krank- ter. Die zahlreichen Zusammenhänge zwischen Transmittern,
heiten? Viele psychoaktive Wirkstoffe, wie etwa Amphet- Wirkstoffen, Erkrankungen und deren Behandlung sind sehr
amine und Kokain, blockieren bestimmte Transporter recht interessant, aber komplex und werden in Kap. 15 und 22 aus-
effektiv. Indem sie den normalen Rückgewinnungsprozess führlicher behandelt.

COOH
Tyrosin HO CH2CHNH2

Tyrosin-
Hydroxylase
(TH)

HO COOH
a
L-Dihydroxy-
phenylalanin HO CH2CNH2
(Dopa)

Dopa-
Decarboxylase

HO
b
Dopamin
HO CH2CH2NH2

HO
c
Noradenalin
HO CHCH2NH2

OH
Phentolamin-
N-Methyl-
transferase (PNMT)
HO
d
Adrenalin
HO CHCH2NHCH3

OH

Abb. 6.13 Die Synthese von Catecholaminen aus Tyrosin. Die Catecholaminneurotransmitter sind
fett gedruckt

mit der Bezeichnung Dopa (L-Dihydroxyphenylalanin) katalysiert (Abb. 6.13a). Die Ak-
tivität der TH ist der geschwindigkeitsbestimmende Schritt für die Synthese der Catecho-
lamine. Die Aktivität des Enzyms wird durch verschiedene Signale im Cytosol der Axon-
terminale reguliert. So führt beispielsweise eine verringerte Freisetzung von Catecholami-
168 6 Neurotransmittersysteme

nen durch die Axonterminale dazu, dass ihre Konzentration im Cytosol zunimmt, sodass
Teil I

die TH gehemmt wird. Diese Art der Regulierung bezeichnet man als Endprodukthem-
mung. Wenn andererseits Catecholamine in großer Menge freigesetzt werden, bewirkt die
mit der Ausschüttung von Neurotransmittern einhergehende Erhöhung der ŒCa2C i , dass
die TH-Aktivität zunimmt. Dadurch hält die Transmitterproduktion Schritt mit dem Be-
darf. Darüber hinaus führen längere Stimulierungsperioden tatsächlich zu einer Produktion
von mehr mRNA, die das Enzym codiert.
Das Enzym Dopa-Decarboxylase wandelt Dopa in den Neurotransmitter Dopamin um
(Abb. 6.13b). Die Dopa-Decarboxylase kommt in catecholaminergen Neuronen in großer
Menge vor. Dadurch hängt die Menge des synthetisierten Dopamins primär von der ver-
fügbaren Menge an Dopa ab. Bei einer Bewegungsstörung, die man als Parkinson-Krank-
heit bezeichnet, degenerieren langsam die dopaminergen Neuronen im Gehirn. Eine Be-
handlungsmethode der Parkinson-Krankheit besteht in der Verabreichung von Dopa, was
zu einer Zunahme der Dopaminsynthese in den überlebenden Neuronen führt. Dadurch
nimmt die für eine Freisetzung verfügbare Menge an Dopamin zu. (In Kap. 14 werden wir
noch mehr über Dopamin und Bewegungsvorgänge erfahren.)
Neuronen, die Noradrenalin als Neurotransmitter verwenden, enthalten neben der TH und
der Dopa-Decarboxylase das Enzym Dopamin-ˇ-Hydroxylase (DBH), das Dopamin in
Noradrenalin umwandelt (Abb. 6.13c). Interessant ist dabei, dass die DBH im Cytosol
nicht vorkommt, sondern nur im Inneren der synaptischen Vesikel. In den Terminalen
noradrenerger Axone wird Dopamin aus dem Cytosol in die synaptischen Vesikel trans-
portiert und dort in Noradrenalin umgewandelt.
Das letzte Molekül in der Reihe der Catecholaminneurotransmitter ist Adrenalin. Ad-
renerge Neuronen enthalten das Enzym Phentolamin-N-Methyltransferase (PNMT), das
Noradrenalin in Adrenalin umwandelt (Abb. 6.13d). Erstaunlicherweise kommt PNMT
im Cytosol von adrenergen Axonterminalen vor. Noradrenalin muss also zuerst in den
Vesikeln synthetisiert und in das Cytosol freigesetzt werden, um dort zu Adrenalin umge-
wandelt zu werden, das wiederum für die Freisetzung in die Vesikel zurücktransportiert
wird. Adrenalin dient nicht nur als Neurotransmitter im Gehirn, sondern wird auch von
der Nebenniere in das Blut abgegeben. In Kap. 15 werden wir erfahren, dass das zirkulie-
rende Adrenalin im gesamten Körper auf Rezeptoren einwirkt, um Reaktionen des Darms
zu koordinieren.
In den Catecholaminsystemen gibt es kein Enzym für einen schnellen Abbau, das der
AChE entsprechen würde. Die Wirkung der Catecholamine im synaptischen Spalt wird be-
endet, indem eine selektive Aufnahme des Neurotransmitters über NaC -abhängige Trans-
porter zurück in die Axonterminale erfolgt. Dieser Schritt kann durch eine Reihe von
Wirkstoffen gestört werden. So blockieren beispielsweise Amphetamine oder Kokain die
Aufnahme von Catecholaminen und verlängern dadurch die Wirkung der Transmitter im
Spalt. Sobald sich die Catecholamine wieder in der Axonterminale befinden, werden sie
zur Wiederverwendung in synaptische Vesikel verpackt oder durch die Aktivität der Mo-
noamin-Oxidase (MAO), ein Enzym, das in der äußeren Membran von Mitochondrien
vorkommt, enzymatisch abgebaut.

Serotonerge Neuronen

Der Aminneurotransmitter Serotonin, den man auch mit 5-Hydroxytryptamin (abgekürzt


5-HT) bezeichnet, leitet sich aus der Aminosäure Tryptophan ab. Es gibt nur relativ weni-
ge serotonerge Neuronen, aber sie sind in den Gehirnsystemen, die die Gemütsverfassung,
das emotionale Verhalten und den Schlaf regulieren, von großer Bedeutung.
Die Synthese von Serotonin erfolgt in zwei Schritten (Abb. 6.14), etwa wie die Synthese
von Dopamin. Zuerst wird Tryptophan durch das Enzym Tryptophan-Hydroxylase in eine
Zwischenstufe umgewandelt, die man mit 5-HTP (5-Hydroxytryptophan) bezeichnet. Das
Enzym 5-HTP-Decarboxylase wandelt 5-HTP dann in 5-HT um. Die Verfügbarkeit von
Tryptophan in der extrazellulären Flüssigkeit, die die Neuronen umgibt, ist anscheinend
Die Biochemie der Neurotransmitter 169

COOH

Teil I
Tryptophan CH2CHNH2

N
Tryptophan-
Hydroxylase

COOH
5-Hydroxytryptophan
(5-HTP) HO CH2CHNH2

N
5-HTP-
Decarboxylase

5-Hydroxytryptamin HO CH2CH2NH2
(Serotonin, 5-HT)
N

Abb. 6.14 Die Synthese von Serotonin aus Tryptophan

der limitierende Faktor der Serotoninsynthese. Das Tryptophan im Gehirn stammt aus
dem Blut, und dorthin gelangt es aus der Nahrung (Getreide, Fleisch und Milchprodukte
enthalten besonders viel Tryptophan). Bei ungenügender Tryptophanversorgung durch die
Ernährung kann es zu einer schnellen Abnahme von Serotonin im Gehirn kommen.
Nach der Freisetzung aus der Axonterminale wird 5-HT durch die Aktivität eines spe-
zifischen Transporters aus dem synaptischen Spalt entfernt. Die Wiederaufnahme von
Serotonin ist wie die von Catecholamin für eine Reihe verschiedener Wirkstoffe sensitiv.
So sind beispielsweise mehrere klinisch angewandte Antidepressiva wie etwa Fluoxetin COOH
selektive Inhibitoren der Wiederaufnahme von Serotonin. Sobald sich der Transmitter Glutamat NH3CHCH2CH2COOH
wieder in der Terminale des serotonergen Axons befindet, wird er entweder erneut in syn-
aptische Vesikel verpackt oder durch die MAO abgebaut.
COOH
Glycin NH3CH2

Aminoaciderge Neuronen
NH3CH2CH2CH2COOH
Die Aminosäuren Glutamat (Glu), Glycin (Gly) und Gamma-Aminobuttersäure
(GABA) dienen bei den meisten Synapsen des ZNS als Neurotransmitter (Abb. 6.15). Abb. 6.15 Die Aminosäuretransmitter
Davon kommt jedoch nur GABA ausschließlich in denjenigen Neuronen vor, die das
Molekül als Neurotransmitter verwenden, während die übrigen zu den 20 Aminosäuren
gehören, aus denen die Proteine bestehen.
Glutamat und Glycin werden durch die Aktivität von Enzymen, die in allen Zellen vor- COOH
kommen, aus Glucose und anderen Vorstufen synthetisiert. Neuronen unterscheiden sich Glutamat NH3CHCH2CH2COOH
in Bezug auf die Synthese dieser Aminosäuren daher eher quantitativ als qualitativ. So hat
man beispielsweise die durchschnittliche Glutamatkonzentration im Cytosol von glutama-
tergen Axonterminalen auf etwa 20 mM veranschlagt, also zwei- bis dreimal höher als
bei nicht glutamatergen Zellen. Der wichtigere Unterschied zwischen glutamatergen und Glutamat-
nicht glutamatergen Neuronen ist jedoch der Transporter, der die synaptischen Vesikel be- Decarboxylase
lädt. In Terminalen von glutamatergen Axonen (aber nicht in anderen Zelltypen) erhöht (GAD)
der Glutamattransporter die Konzentration von Glutamat in den synaptischen Vesikeln auf
etwa 50 mM.
+
Da GABA keine der 20 Aminosäuren ist, die für den Aufbau von Proteinen verwendet wer- GABA NH3CHCH2CH2COOH
den, wird dieses Molekül nur von denjenigen Neuronen in großen Mengen synthetisiert,
die es als Neurotransmitter verwenden. Die Vorstufe für GABA ist Glutamat, und das ent- Abb. 6.16 Die Synthese von GABA aus
scheidende Enzym für die Synthese ist die Glutamat-Decarboxylase (GAD) (Abb. 6.16). Glutamat
170 6 Neurotransmittersysteme

Die GAD ist deshalb ein guter Marker für GABAerge Neuronen. Immuncytochemische
Teil I

Untersuchungen haben gezeigt, dass GABAerge Neuronen im Gehirn weitverbreitet sind.


GABAerge Neuronen sind die wichtigste Quelle für die synaptische Hemmung im Ner-
vensystem. Daher wird der wichtigste exzitatorische Neurotransmitter im Gehirn bemer-
kenswerterweise in einer einzigen chemischen Reaktion in den wichtigsten inhibitorischen
Neurotransmitter umgewandelt.
Die synaptische Wirkung von Aminosäureneurotransmittern wird durch die selektive Auf-
nahme in die präsynaptische Terminale und in Gliazellen durch NaC -abhängige Trans-
porter beendet. In der Terminale oder Gliazelle wird GABA durch das Enzym GABA-
Transaminase metabolisiert.

Andere mutmaßliche Neurotransmitter


und interzelluläre Signalmoleküle

Neben den Aminen und Aminosäuren gibt es noch einige weitere kleine Moleküle, die
zwischen den Neuronen als chemische Signalmoleküle fungieren. Eines der häufigs-
ten ist Adenosintriphosphat (ATP), ein zentrales Molekül des zellulären Metabolismus
(Abb. 2.13). ATP ist auch ein Neurotransmitter. ATP wird bei vielen Synapsen im ZNS
und PNS Ca2C -abhängig in Vesikeln angereichert, genauso wie die „klassischen“ Trans-
mitter. Es wird auch häufig zusammen mit anderen klassischen Transmittern verpackt. So
können beispielsweise Vesikel mit Catecholaminen bis zu 100 mM ATP enthalten. Dies ist
eine beträchtliche Menge, zusätzlich zu den 400 mM an Catecholaminen selbst. In einem
solchen Fall sind Catecholamine und ATP Cotransmitter. ATP tritt in spezialisierten Neu-
ronentypen auch als Cotransmitter mit GABA, Glutamat, ACh, DA und Peptidtransmittern
auf.
ATP aktiviert einige Neuronen dadurch, dass es einen Kationenkanal reguliert. In diesem
Sinne entsprechen einige der Neurotransmitterfunktionen von ATP denen von Glutamat
und ACh. ATP bindet an purinerge Rezeptoren, von denen einige ligandengesteuerte Io-
nenkanäle sind. Es gibt auch eine große Gruppe purinerger Rezeptoren, die mit G-Pro-
teinen gekoppelt sind. Nach seiner Freisetzung aus Synapsen wird ATP von extrazellulären
Enzymen abgebaut, wobei Adenosin entsteht. Adenosin selbst erfüllt die Standarddefini-
tion eines Neurotransmitters nicht, weil es nicht in Vesikeln verpackt ist, doch es aktiviert
mehrere adenosinselektive Rezeptoren.
Die interessanteste Entdeckung in Bezug auf Neurotransmitter innerhalb der letzten Jahre
bestand darin, dass postsynaptische Neuronen kleine Lipidmoleküle, die man als Endo-
cannabinoide (endogene Cannabinoide) bezeichnet, freisetzen können und dass diese
Moleküle auf präsynaptische Terminalen einwirken können (Exkurs 6.3). Eine Kommu-
nikation in dieser Richtung, also von „post“ nach „prä“, bezeichnet man als retrograde
Signalübertragung. Demnach sind Endocannabinoide retrograde Botenstoffe. Diese die-
nen als eine Art Rückkopplungssystem, das die sonst üblichen Formen der Signalübertra-
gung regulieren soll, die von „prä“ nach „post“ verlaufen. Die Einzelheiten der Signal-
übertragung werden immer noch erforscht, aber ein grundlegender Mechanismus konnte
inzwischen aufgeklärt werden (Abb. 6.17). Eine starke Aktivierung des postsynaptischen
Neurons führt dazu, dass sich spannungsabhängige Calciumkanäle öffnen, Ca2C -Ionen in
großen Mengen in die Zelle eindringen und die Ca2C -Konzentration in der Zelle zunimmt.
Die erhöhte Ca2C -Konzentration stimuliert dann die Synthese von Endocannabinoidmole-
külen aus Membranlipiden, indem sie auf irgendeine Weise Endocannabinoid-synthetisie-
rende Enzyme aktiviert. Endocannabinoide besitzen einige ungewöhnliche Eigenschaften:
1. Sie werden nicht wie die meisten anderen Neurotransmitter in Vesikel verpackt, son-
dern bei Bedarf schnell produziert.
2. Sie sind klein und können die Membran durchdringen; sie können sofort nach ihrer
Synthese schnell durch die Membran ihrer Ursprungszelle diffundieren und in Wech-
selwirkung mit Nachbarzellen treten.
3. Sie binden selektiv an Cannabinoidrezeptoren vom CB1-Typ; diese kommen vor allem
in bestimmten präsynaptischen Terminalen vor.
Die Biochemie der Neurotransmitter 171

Teil I
Exkurs 6.3  Perspektive
Das Gehirn ist von Endocannabinoiden abhängig

Die meisten Neurotransmitter wurden lange Zeit vor ihren Auffällig ist dabei, dass das Gehirn über mehr CB1-Rezepto-
Rezeptoren entdeckt, aber durch neue Methoden war es mög- ren verfügt als über jeden anderen an G-Protein gekoppelten
lich, diese Tradition umzukehren. Dies ist eine Geschichte Rezeptor. Welche Aufgabe erfüllen sie dort? Man ist sich
von Rezeptoren auf der Suche nach ihren Transmittern. ziemlich sicher, dass sie sich in der Evolution nicht entwi-
Cannabis sativa ist die botanische Bezeichnung für Hanf, ei- ckelt haben, um THC aus Hanf zu binden. Der natürliche
ne Faserpflanze, die durch die Epochen für die Herstellung Ligand für einen Rezeptor ist niemals der synthetische Wirk-
von Seilen und Kleidung genutzt wurde. Heute kennt man stoff, das Pflanzen- oder Schlangengift, das zur ersten Identi-
Hanf eher als Droge denn als Rohstoff für Seile. Die Pflanze fizierung des Rezeptors beigetragen hat. Viel größer ist die
wird häufig und meist illegal als Marihuana oder Haschisch Wahrscheinlichkeit, dass die Cannabinoidrezeptoren dazu
verkauft, obgleich sich ein medizinischer Einsatz von Can- dienen, bestimmte natürliche Signalmoleküle zu binden, die
nabis-verwandten Verbindungen allmählich durchsetzt, und vom Gehirn produziert werden: THC-ähnliche Neurotrans-
der medizinische oder Freizeitgebrauch in manchen ameri- mitter, die man als Endocannabinoide bezeichnet. Durch
kanischen Staaten und in anderen Teilen der Welt inzwischen neuere Forschungen ist es gelungen, mehrere Moleküle zu
legalisiert worden ist. Ursprünglich hatten die Chinesen identifizieren, die Endocannabinoide sein könnten. Zu den
schon vor 4000 Jahren die starke psychoaktive Wirkung von vielversprechendsten gehören Anandamid (von Ananda, dem
Cannabis entdeckt, aber die westliche Gesellschaft lernte Sanskritwort für „inneres Entzücken“) und 2-Arachidonyl-
seine Eigenschaften als Rauschmittel erst im 19. Jahrhun- glycerol (2-AG). Anandamid und 2-AG sind beide kleine
dert kennen, als Napoleons Truppen ägyptisches Haschisch Lipidmoleküle (Abb.), die sich von jedem anderen bekann-
nach Frankreich mitbrachten. Ein Mitglied von Napoleons ten Neurotransmitter deutlich unterscheiden.
Kommission für Wissenschaften und Künste berichtete 1810: Während die Suche nach neuen Transmittern fortgesetzt
„Für die Ägypter ist Hanf eine ganz besondere Pflanze, nicht wird, bemüht man sich auch darum, weitere Subtypen von
auf die Weise, wie sie in Europa und vielen anderen Ländern CB-Rezeptoren und selektive chemische Verbindungen zu
genutzt wird, sondern aufgrund ihrer seltsamen Wirkungen. finden, die an sie binden. Cannabinoide sind potenziell
Der Hanf, der in Ägypten angebaut wird, wirkt in der Tat be- hilfreich bei der Behandlung von Übelkeit, Linderung von
rauschend und betäubend“ (zitiert in Piomelli 2003, S. 873). Schmerzen, zur Muskelentspannung, Behandlung von epi-
Bei geringen Dosen kann Cannabis euphorisierend, beruhi- leptischen Anfällen und zur Verringerung des Augendrucks
gend und entspannend wirken, die Wahrnehmungen verän- bei Glaukompatienten. Seit Kurzem ist ein Antagonist für
dern sich, Schmerzen werden gelindert, Gelächter, Gesprä- Cannabinoidrezeptoren zugelassen, der als Appetitzügler
chigkeit, Hunger und Leichtsinn nehmen zu, die Fähigkeit zur wirken soll. Cannabinoidtherapien lassen sich wahrschein-
Lösung von Problemen, das Kurzzeitgedächtnis und die Psy- lich besser durchführen, wenn man Wirkstoffe entwickeln
chomotorik (also die Fähigkeit zum Autofahren) lassen hinge- kann, die noch ihre therapeutische Wirkung besitzen, aber
gen nach. Hohe Dosen von Cannabis können zu grundlegen- keine psychoaktiven Nebenwirkungen hervorrufen.
den Persönlichkeitsveränderungen und sogar Halluzinationen
führen. In jüngerer Zeit hat man in den USA bestimmte For- Endocannabinoide
men von Cannabis für eine begrenzte Anwendung zu medi- OH
zinischen Zwecken zugelassen, vor allem für die Behandlung
von Übelkeit und Erbrechen bei Krebspatienten während einer
Chemotherapie und zur Appetitanregung bei AIDS-Patienten. O
9-THC
Der aktive Inhaltsstoff von Cannabis ist eine ölige chemische
Verbindung mit der Bezeichnung 9 -Tetrahydrocannabinol
oder THC. Während der späten 1980er-Jahre fand man her- O
aus, dass THC an spezifische „Cannabinoid“-Rezeptoren OH
im Gehirn binden kann, die an G-Proteine gekoppelt sind. NH
Das betrifft vor allem die Bereiche der motorischen Kon-
trolle, die Hirnrinde und die Schmerzleitung. Etwa zur
selben Zeit gelang es einer Gruppe am National Institute Anandamid
of Mental Health, das Gen für einen unbekannten Rezep-
tor zu klonieren, der an G-Proteine gekoppelt ist. Weite-
re Arbeiten zeigten, dass der geheimnisvolle Rezeptor ein O
Cannabinoid(CB)-Rezeptor ist. Es sind zwei Arten von CB- OH
O
Rezeptoren bekannt: CB1-Rezeptoren befinden sich im Ge-
OH
hirn, CB2-Rezeptoren kommen vor allem in Geweben des
Immunsystems im übrigen Körper vor. 2-Arachidonylglycerol (2-AG)
172 6 Neurotransmittersysteme
Teil I

präsynaptische Terminale

CB1-
Rezeptor

Vesikel

Calcium- G-Protein
kanal

Neurotransmitter- Calcium-
rezeptoren kanal

Ca2+ Ca2+
postsynaptisches
Element

Enzym

O
HO
NH

Endocannabinoid

Abb. 6.17 Retrograde Signalübertragung mit Endocannabinoiden

CB1-Rezeptoren sind mit G-Proteinen gekoppelt, und ihre hauptsächliche Wirkung be-
steht häufig darin, das Öffnen der präsynaptischen Calciumkanäle zu vermindern. Wenn
die Calciumkanäle blockiert sind, ist die Freisetzung der Neurotransmitter (normalerwei-
se GABA oder Glutamat) durch die präsynaptische Terminale gestört. Wenn also ein
postsynaptisches Neuron sehr aktiv ist, setzt es Endocannabinoide frei, die entweder den
inhibitorischen oder den exzitatorischen Effekt auf das Neuron unterdrücken – je nach-
dem, um welchen Typ von Synapse es sich handelt. Dieser Endocannabinoidmechanismus
kommt im gesamten ZNS vor und beeinflusst ein breites Spektrum von Funktionen, die
wir gerade erst zu verstehen beginnen.

Eines der ungewöhnlicheren chemischen Signalmoleküle, das mutmaßlich bei der Kom-
munikation zwischen den Zellen eine Rolle spielt, ist zurzeit das gasförmige Molekül
Stickstoffmonoxid (NO). Es ist auch schon vermutet worden, dass die Gase Kohlenmon-
oxid (CO) und Schwefelwasserstoff (H2 S) als Botenstoffe im Gehirn wirken, doch Belege
für „Gasotransmitter“-Funktionen sind bisher spärlich. Es handelt sich um dieselben Ga-
se NO, Kohlenmonoxid und Schwefelwasserstoff, die oft die Hauptluftverschmutzer sind.
NO entsteht in vielen Zellen im Körper aus der Aminosäure Arginin und ist biologisch
stark wirksam, besonders bei der Regulierung der Durchblutung. Im Nervensystem könn-
Ligandengesteuerte Kanäle 173

te NO ein weiteres Beispiel für einen retrograden Botenstoff sein. Da NO klein ist und

Teil I
ähnlich wie die Endocannabinoide die Membran gut durchdringen kann, kann es freier
als die meisten anderen Transmittermoleküle diffundieren und sogar eine Zelle durchdrin-
gen, um eine dahinterliegende zu beeinflussen. Die Wirkung von NO kann sich über einen
kleinen Bereich im lokalen Gewebe ausbreiten und bleibt nicht auf die Zellen beschränkt,
die das Molekül freigesetzt haben. Andererseits ist NO flüchtig und wird sehr schnell ab-
gebaut. Die Funktionen gasförmiger Transmitter werden zurzeit intensiv untersucht und
kontrovers diskutiert.
Bevor wir nun das Thema der Neurotransmitterchemie verlassen, weisen wir noch einmal
darauf hin, dass viele der chemischen Verbindungen, die wir als Neurotransmitter bezeich-
nen, in hohen Konzentrationen auch in Bereichen des Körpers vorkommen können, die
kein Nervengewebe sind. Ein Molekül kann verschiedenen Zwecken dienen, etwa indem
es im Nervensystem bei der Kommunikation beteiligt ist und an anderer Stelle etwas völ-
lig anderes tut. Aminosäuren dienen bekanntermaßen im ganzen Körper dazu, Proteine
aufzubauen, ATP ist die Energiequelle aller Zellen. Stickstoffmonoxid wird von Endo-
thelzellen freigesetzt und führt zur Entspannung der glatten Muskulatur von Blutgefäßen.
(Eine Folge davon ist beispielsweise die Erektion des Penis.) Die Zellen mit den höchsten
Konzentrationen von ACh liegen nicht im Gehirn, sondern in der Hornhaut des Auges, wo
es keine ACh-Rezeptoren gibt. In ähnlicher Weise kommen die höchsten Konzentrationen
von Serotonin nicht in Neuronen vor, sondern in den Blutplättchen. Diese Beobachtungen
unterstreichen nur die Bedeutung genauer Analysen, die erforderlich sind, bevor man ein
Molekül als Neurotransmitter einstuft.
Die Funktionsweise eines Neurotransmittersystems entspricht einem Theaterstück in zwei
Akten. Der erste Akt ist präsynaptisch und erreicht mit der vorübergehenden Erhöhung
der Neurotransmitterkonzentration im synaptischen Spalt seinen Höhepunkt. Wir sind nun
so weit, dass wir uns dem zweiten Akt zuwenden können, der Erzeugung von elektrischen
und biochemischen Signalen im postsynaptischen Neuron. Die wichtigsten Mitspieler sind
ligandengesteuerte Kanäle und G-Protein-gekoppelte Rezeptoren.

Ligandengesteuerte Kanäle
In Kap. 5 haben wir erfahren, dass ACh und die Aminosäureneurotransmitter die schnelle
synaptische Übertragung vermitteln, indem sie auf ligandengesteuerte Ionenkanäle wir-
ken. Diese Kanäle sind erstaunliche winzig kleine Maschinen. Ein einziger Kanal kann als
empfindlicher Detektor für chemische Verbindungen und Spannungen fungieren, er kann
den Fluss erstaunlich starker Ionenströme mit großer Genauigkeit regulieren, er kann zwi-
schen sehr ähnlichen Ionen unterscheiden und sie entsprechend selektieren, und er kann
von anderen Rezeptorsystemen reguliert werden. Außerdem sind alle Kanäle nur etwa
11 nm lang und selbst mit den besten computergestützten elektronenmikroskopischen Ver-
fahren kaum zu erkennen.

Grundstruktur von ligandengesteuerten Kanälen

Der am genauesten untersuchte ligandengesteuerte Ionenkanal ist der nikotinische ACh-


Rezeptor an den motorischen Endplatten der Skelettmuskulatur, ein Komplex aus fünf
Proteinuntereinheiten, die wie Fassdauben angeordnet sind und eine einzige Pore durch
die Membran bilden (Abb. 6.18a). Als Untereinheiten des nikotinischen Rezeptors kom-
men vier verschiedene Arten von Polypeptiden vor; man bezeichnet sie mit ˛, ˇ,  und ı.
Ein vollständiger, funktionsfähiger Kanal besteht aus zwei ˛-Untereinheiten und jeweils
einer ˇ-,  - und ı-Untereinheit (abgekürzt ˛2 ˇ ı). Auf jeder ˛-Untereinheit gibt es eine
ACh-Bindungsstelle. Damit sich der Kanal öffnet, muss an beide ˛-Untereinheiten gleich-
zeitig je ein ACh-Molekül gebunden sein (Abb. 6.18b). Der nikotinische ACh-Rezeptor
von Neuronen ist ebenfalls ein Pentamer, die meisten Rezeptoren dieses Typs bestehen
aber im Gegensatz zum Muskelrezeptor nur aus ˛- und ˇ-Untereinheiten (˛3 ˇ2 ).
174 6 Neurotransmittersysteme

NH2
Teil I

COOH
M4

M1 M3

M2
b
ACh-Bindungsstelle

Abb. 6.18 Anordnung der Untereinheiten des nikotinischen ACh-Rezeptors. a Seitenansicht mit
einer Vergrößerung, in der dargestellt ist, wie die vier Alpha-Helices jeder Untereinheit zusammen-
gepackt sind. b Aufsicht, dargestellt ist die Anordnung der beiden ACh-Bindungsstellen

Jede Art von Rezeptoruntereinheit besitzt eine andere Primärstruktur, aber es gibt Be-
reiche, in denen die verschiedenen Polypeptidketten übereinstimmende Aminosäurese-
quenzen aufweisen. So enthält beispielsweise jede Polypeptiduntereinheit vier getrennte
Abschnitte, die sich zu Alpha-Helices anordnen (Abb. 6.18a). Da die Aminosäurereste
dieser Abschnitte hydrophob sind, nimmt man an, dass sich die vier Alpha-Helices dort
befinden, wo sich das Polypeptid hin und her durch die Membran fädelt, ähnlich wie bei
Kalium- und Natriumkanälen (Kap. 3 und 4).
Die Primärstrukturen der Untereinheiten von anderen ligandengesteuerten Kanälen im
Gehirn sind ebenfalls bekannt, und es gibt einige erkennbare Übereinstimmungen
(Abb. 6.19). Die meisten enthalten vier hydrophobe Abschnitte, die die Membran in
den Untereinheiten des nikotinischen ACh-Rezeptors, des GABAA -Rezeptors und des
Glycinrezeptors durchspannen (Abb. 6.19b). Diese drei Neurotransmitterrezeptoren sind
alle pentamere Komplexe von Untereinheiten. Die glutamatgesteuerten Kanäle sind etwas
anders gebaut. Glutamatrezeptoren sind Tetramere, was bedeutet, dass vier Untereinheiten
einen funktionsfähigen Kanal bilden. Die M2-Region der Glutamatrezeptoruntereinheit
durchspannt die Membran nicht. Stattdessen bildet sie eine Haarnadelschleife, die von
der Zellinnenseite her in die Membran ein- und dort auch wieder aus der Membran
austritt (Abb. 6.19c). Die Struktur des Glutamatrezeptors ähnelt der von Kaliumkanälen
(Abb. 3.17). Das hat zu der überraschenden Hypothese geführt, dass Glutamatrezeptoren
und Kaliumkanäle von einem gemeinsamen Ionenkanalvorläufer abstammen. Die puriner-
gen (ATP-)Rezeptoren besitzen ebenfalls eine ungewöhnliche Struktur. Jede Untereinheit
enthält nur zwei membrandurchspannende Abschnitte, und drei Untereinheiten bilden
einen vollständigen Rezeptor.
Die interessantesten Varianten der Kanalstrukturen sind diejenigen, die für die Unterschie-
de verantwortlich sind. Unterschiedliche Transmitterbindungsstellen bewirken, dass ein
Kanal auf Glutamat und ein anderer auf GABA reagiert. Bei einigen Kanälen lassen be-
stimmte Aminosäurereste um die enge Ionenpore herum nur NaC und KC hindurch, bei
anderen Kanälen nur Ca2C und bei wieder anderen nur Cl .
Ligandengesteuerte Kanäle 175

Teil I
M1 M2 M3 M4 Rezeptor Untereinheit

ACh 

GABAA 1

GABAA 1

GABAA 2

Gly 

Gly 

Kainat GLuK1

Kainat GLuK2

b c

extra-
zelluläre
Seite M1 M2 M3 M4 M1 M3 M4

Membran

intra- M2
zelluläre
Seite

ACh
GABAA
Glycinrezeptoren Glutamatrezeptor

Abb. 6.19 Ähnlichkeiten in der Struktur der Untereinheiten verschiedener ligandengesteuer-


ter Ionenkanäle. a Wenn die Polypeptide für die verschiedenen Kanaluntereinheiten in einer lang
gestreckten Linie dargestellt werden, lassen sie sich vergleichen. Sie besitzen die vier übereinstim-
menden Regionen M1–M4, an denen sich die Polypeptide zu Alpha-Helices formen, welche die
Membran durchziehen. Kainatrezeptoren sind ein Subtyp der Glutamatrezeptoren. b Die Regionen
M1–M4 der ACh-˛-Untereinheit, wie sie sich wahrscheinlich durch die Membran fädeln. c Die Re-
gionen M1–M4 der Glutamatrezeptoruntereinheiten; M1, M3 und M4 durchspannen die ganze Breite
der Membran, während M2 nur ein Stück weit eindringt
176 6 Neurotransmittersysteme

Aminosäureabhängige Kanäle
Teil I

Aminosäureabhängige Kanäle vermitteln im ZNS die meisten der schnellen synaptischen


Signalübertragungen. Wir wollen uns nun genauer mit ihren Funktionen beschäftigen, da
sie bei so verschiedenen Themen wie sensorischen Systemen, Gedächtnis und Krankheiten
eine Rolle spielen. Diese Kanäle unterscheiden sich in mehreren Merkmalen, wodurch
auch ihre Funktion im Gehirn festgelegt wird.

Aufgrund der Pharmakologie ihrer Bindungsstellen lässt sich beschreiben, welche


Transmitter sie beeinflussen und wie Substanzen und Medikamente mit ihnen in Wech-
selwirkung treten.
Die Kinetik der Transmitterbindung und der Kanalsteuerung bestimmen die Dauer ihrer
Wirkung.
Die Selektivität der Ionenkanäle bestimmt, ob sie eine Erregung oder eine Hemmung
auslösen und ob Ca2C in ausreichenden Mengen in die Zelle gelangt.
Die Leitfähigkeit des offenen Kanals bestimmt – als einer von mehreren Faktoren – die
Größe der Effekte in der postsynaptischen Zelle.

Alle diese Eigenschaften sind eine direkte Folge der molekularen Struktur der Kanäle.

Impuls
Axon

Axonterminale
a

postsynaptischer Dendrit

Messung
Glutamatmolekül von Vm
b c

Ca2+ Ca2+
Na+ Na+
Na+ Na+ Na+
EPSP

Vm

– 65 mV
K+ K+ K+ K+ K+

NMDA- AMPA- 0 2 4 6 8
Rezeptor Rezeptor Zeit nach dem präsynaptischen Aktionspotenzial (ms)

Abb. 6.20 Gemeinsames Vorkommen von NMDA- und AMPA-Rezeptoren in der postsynaptischen Membran einer Synapse im ZNS.
a Ein Impuls, der an der präsynaptischen Terminale ankommt, verursacht die Freisetzung von Glutamat. b Glutamat bindet an AMPA-abhängige
und an NMDA-abhängige Kanäle in der postsynaptischen Membran. c Der Einstrom von NaC durch die AMPA-Kanäle und von NaC und Ca2C
durch die NMDA-Kanäle verursacht ein EPSP
Ligandengesteuerte Kanäle 177

Glutamatabhängige Kanäle

Teil I
Wie bereits besprochen, tragen drei Subtypen von glutamatabhängigen Rezeptoren die
Bezeichnungen ihrer selektiven Agonisten: AMPA, NMDA und Kainat. Alle drei sind
glutamatabhängige Ionenkanäle. Die AMPA- und NMDA-abhängigen Kanäle vermitteln
den größten Teil der schnellen exzitatorischen Synapsenübertragungen im Gehirn. Kainat-
rezeptoren kommen überall im Gehirn vor, an der präsynaptischen wie an der postsynap-
tischen Membran, aber ihre Funktion ist noch nicht zweifelsfrei geklärt.
AMPA-abhängige Kanäle sind sowohl für NaC als auch für KC permeabel, die meisten
jedoch nicht für Ca2C . Der Nettoeffekt ihrer Aktivierung bei einem normalen negativen
Membranpotenzial besteht darin, NaC -Ionen in die Zelle strömen zu lassen, sodass es zu
einer schnellen und starken Depolarisation kommt. AMPA-Rezeptoren an Synapsen im
ZNS vermitteln die exzitatorische Signalübertragung auf größtenteils dieselbe Weise, wie
die nikotinischen Rezeptoren die synaptische Erregung an den neuromuskulären Endplat-
ten weiterleiten.
AMPA-Rezeptoren kommen an vielen Synapsen im Gehirn gemeinsam mit NMDA-Re-
zeptoren vor, sodass die meisten durch Glutamat vermittelten EPSPs Anteile enthalten, die
von beiden stammen (Abb. 6.20). NMDA-abhängige Kanäle verursachen ebenfalls die Er-
regung einer Zelle, indem sie NaC hineinströmen lassen, sie unterscheiden sich jedoch von
den AMPA-Rezeptoren durch zwei sehr wichtige Merkmale: NMDA-abhängige Kanäle
sind für Ca2C durchlässig, und ein durch NMDA-abhängige Kanäle einwärtsgerichteter
Ionenstrom ist spannungsabhängig. Wir werden uns noch mit beiden Eigenschaften befas-
sen. a Glutamat b Glutamat und
Depolarisation
Man kann die Bedeutung von intrazellulärem Ca2C für die Zellfunktion kaum überschät-
Vm = – 65 mV Vm = – 30 mV
zen. Wir haben bereits erfahren, dass Ca2C die präsynaptische Freisetzung von Neurotrans-
mittern auslösen kann. Postsynaptisch kann Ca2C viele Enzyme aktivieren, das Öffnen Ca2+
verschiedener Kanäle regulieren und die Genexpression beeinflussen. Im Übermaß kann Glutamat
Ca2C sogar den Tod einer Zelle auslösen (Exkurs 6.4). Die Aktivierung von NMDA-Re- Mg 2+ Na+
zeptoren kann also im Prinzip weitreichende und lange andauernde Veränderungen im
postsynaptischen Neuron hervorrufen. Wie wir in Kap. 25 feststellen werden, bewirkt der
Mg 2+
Einstrom von Ca2C durch NMDA-abhängige Kanäle auch Veränderungen, die das Lang-
zeitgedächtnis ermöglichen.
Wenn sich der NMDA-abhängige Kanal öffnet, strömen Ca2C und NaC in die Zelle hin-
ein (und KC strömt aus der Zelle heraus), aber das Ausmaß des einwärtsgerichteten Io-
nenstroms hängt auf ungewöhnliche Weise und aus einem ungewöhnlichen Grund vom NMDA- K+
postsynaptischen Membranpotenzial ab. Wenn Glutamat an den NMDA-Rezeptor bindet, Rezeptor
öffnet sich die Pore wie üblich. Bei einem normalen negativen Ruhepotenzial an der Mem-
bran wird der Kanal durch Mg2C -Ionen blockiert. Dieser „Magnesiumblock“ verhindert,
Abb. 6.21 Einwärtsgerichteter Ionen-
dass weitere Ionen frei durch den NMDA-Kanal gelangen können. Mg2C verlässt die Pore
strom durch einen NMDA-abhängigen
nur, wenn die Membran depolarisiert wird. Das geschieht normalerweise immer nach der Kanal. a Glutamat allein veranlasst
Aktivierung von AMPA-Kanälen an derselben oder an einer benachbarten Synapse. Ein den Kanal, sich zu öffnen, beim Ruhe-
einwärtsgerichteter Ionenstrom durch den NMDA-Kanal ist also nicht nur transmitterab- potenzial wird jedoch die Pore durch
hängig, sondern auch spannungsabhängig. Glutamat und postsynaptische Depolarisation C
Mg2 -Ionen blockiert. b Die Depolarisa-
müssen zusammentreffen, bevor der Kanal den Strom hindurchlässt (Abb. 6.21). Diese tion der Membran hebt den Mg2C -Block
Eigenschaft hat an vielen Stellen im ZNS bedeutsame Auswirkungen auf die synaptische auf, ermöglicht den Einstrom von NaC
Integration. und Ca2C und verursacht ein EPSP

GABA-abhängige und glycinabhängige Kanäle


GABA vermittelt den größten Anteil der synaptischen Hemmungen im ZNS und Glycin
den größten Teil der übrigen Hemmungen. Sowohl der GABAA - als auch der Glycinrezep-
tor bilden einen Chloridkanal. Erstaunlicherweise besitzen die inhibitorischen GABAA -
und Glycinrezeptoren eine Struktur, die der Struktur der nikotinischen ACh-Rezeptoren
sehr ähnlich ist, und das trotz der Tatsache, dass die ersten beiden für Anionen selektiv
sind und Letzterer für Kationen. Jeder dieser Rezeptoren enthält ˛-Untereinheiten, die
den Transmitter binden, und ˇ-Untereinheiten, die das nicht tun.
Die synaptische Hemmung muss im Gehirn genau reguliert werden. Bei einem Übermaß
kann es zu Bewusstlosigkeit und einem Koma kommen, bei zu geringer Hemmung zu
178 6 Neurotransmittersysteme
Teil I

Exkurs 6.4  Perspektive


Übererregung: Gift für Nervenzellen

Neuronen im Säugergehirn regenerieren sich fast nie, so- NMDA-Subtyp der glutamatabhängigen Kanäle ist bei der
dass jedes abgestorbene Neuron eines weniger bedeutet, das Exzitotoxizität ein entscheidender Faktor, da es sich um den
uns zum Denken zur Verfügung steht. Eine sehr interessan- Hauptweg für den Einstrom von Ca2C handelt. Zur Schädi-
te Ironie der Existenz von Neuronen besteht darin, dass gung oder zum Absterben eines Neurons kommt es, wenn es
Glutamat, der wichtigste Neurotransmitter im Gehirn, auch durch Aufnahme von Wasser anschwillt und die Ca2C -Ionen
einer der wirksamsten Zerstörer von Neuronen ist. Ein großer Enzyme in der Zelle stimulieren, die Proteine, Lipide und
Teil der Synapsen im Gehirn setzen Glutamat frei, das in Nucleinsäuren abbauen. Die Neuronen verdauen sich also
großen Mengen gespeichert wird. Selbst das Cytosol von buchstäblich selbst.
nicht glutamatergen Neuronen enthält Glutamat in einer sehr
Exzitotoxizität wird bei mehreren fortschreitenden neuro-
hohen Konzentration von über 3 mM. Eine merkwürdige Be-
degenerativen Krankheiten des Menschen vermutet. Dazu
obachtung ist nun, dass isolierte Neuronen, die von außen
gehört etwa die amyotrophe Lateralsklerose (ALS), bei der
einer so hohen Glutamatkonzentration ausgesetzt werden,
Motoneuronen des Rückenmarks langsam absterben, außer-
innerhalb von Minuten absterben. Die Schauspielerin Mae
dem die Alzheimer-Krankheit, bei der die Neuronen im
West meinte einst: „Zu viel von einer guten Sache kann wun-
Gehirn langsam absterben. Die Auswirkungen von verschie-
derbar sein“, aber dabei dachte sie offensichtlich nicht an
denen Umweltgiften führen teilweise zu ähnlichen Sym-
Glutamat.
ptomen wie diese Krankheiten. Wenn man große Mengen
Die beträchtliche Stoffwechselrate des Gehirns erfordert ei- einer bestimmten Art von Kichererbsen verzehrt, kann es
ne ständige Versorgung mit Sauerstoff und Glucose. Wenn zu Lathyrismus kommen, einer Erkrankung mit Degene-
die Blutversorgung unterbrochen ist, wie etwa bei einem ration motorischer Neuronen. Die Kichererbse enthält ein
Herzstillstand, stellen die Neuronen innerhalb von Sekunden Exzitotoxin mit der Bezeichnung ˇ-Oxalylaminoalanin, das
ihre Tätigkeit ein, und zu dauerhaften Schäden kommt es in- Glutamatrezeptoren aktiviert. Das Toxin Domoinsäure, das
nerhalb weniger Minuten. Krankheitszustände wie Herzstill- in vergifteten Muscheln vorkommt, ist ebenfalls ein Agonist
stand, Hirnschlag, Gehirntraumata, epileptische Anfälle und für Glutamatrezeptoren. Die Aufnahme einer geringen Men-
Sauerstoffmangel können einen Teufelskreis der übermäßi- ge von Domoinsäure führt bereits zu Krampfanfällen und
gen Glutamatfreisetzung auslösen. Wenn die Neuronen nicht Gehirnschäden. Und das Pflanzengift ˇ-Methylaminoalanin,
genug ATP regenerieren können, um ihre schwer arbeitenden das auf der Insel Guam vorkommt, kann eine katastropha-
Ionenpumpen in Gang zu halten, depolarisieren die Mem- le Erkrankung hervorrufen, die bei den einzelnen Patienten
branen, und Ca2C gelangt in die Zellen. Der Ca2C -Einstrom Symptome von ALS, Alzheimer- und Parkinson-Krankheit
aktiviert die synaptische Freisetzung von Glutamat. Glutamat in sich vereint.
bewirkt eine weitere Depolarisation von Neuronen, was zu
Da die Forschung dabei ist, diese komplexen Zusammenhän-
einer weiteren Zunahme der Ca2C -Konzentration in den Zel-
ge von Exzitotoxinen, Rezeptoren und der Entstehung neu-
len führt, sodass noch mehr Glutamat ausgeschüttet wird.
rologischer Krankheiten zu entschlüsseln, ergeben sich auch
An diesem Punkt kann es sogar zu einer Umkehrung der
neue Behandlungsmethoden. Antagonisten für Glutamatre-
Glutamattransporter kommen, was zusätzlich noch zum Aus-
zeptoren, mit denen sich diese exzitotoxischen Kaskaden
tritt von Glutamat aus den Zellen beiträgt.
und damit der neuronale Selbstmord unterdrücken lassen,
Wenn Glutamat hohe Konzentrationen erreicht, tötet es Neu- zeigen erste vielversprechende Ergebnisse in der klinischen
ronen ab, indem es sie übermäßig erregt. Diesen Vorgang Anwendung. Durch künstliche genetische Veränderungen
bezeichnet man als Exzitotoxizität. Glutamat aktiviert seine wird es vielleicht sogar einmal möglich sein, neurode-
verschiedenen Rezeptortypen, die große Mengen an NaC , generative Krankheiten bei gefährdeten Personen zu ver-
KC und Ca2C durch die Membran strömen lassen. Der hindern.

Krampfanfällen. Aufgrund der Notwendigkeit, die Hemmung zu kontrollieren, lässt sich


vielleicht erklären, warum der GABAA -Rezeptor neben einer GABA-Bindungsstelle auch
mehrere andere Stellen besitzt, an die Moleküle binden und dadurch seine Funktion er-
heblich beeinflussen können. So binden beispielsweise zwei Klassen von Wirkstoffen –
die Benzodiazepine (etwa das Beruhigungsmittel Diazepam oder Valium) und die Barbi-
turate (etwa Phenobarbital und andere Sedativa und krampflösende Mittel) – jeweils an
ihre eigene spezifische Stelle an der äußeren Oberfläche des GABAA -Kanals (Abb. 6.22).
Für sich allein haben diese Wirkstoffe nur eine sehr geringe Wirkung auf den Kanal, aber
in Gegenwart von GABA erhöhen die Benzodiazepine die Frequenz, mit der sich der Ka-
G-Protein-gekoppelte Rezeptoren und Effektoren 179

nal öffnet, während die Barbiturate die Zeit verlängern, in der der Kanal geöffnet ist. Das
GABA
führt in beiden Fällen zu einem vermehrten inhibitorischen Cl -Strom, stärkeren IPSPs

Teil I
Benzodiazepin
und zu den entsprechenden Verhaltensweisen bei verstärkter Hemmung. Benzodiazepine Barbiturat
und Barbiturate wirken selektiv auf den GABAA -Rezeptor und zeigen keine Effekte auf
die Funktion von Glycinrezeptoren. Diese Selektivität lässt sich vielleicht auf molekularer
Ethanol
Ebene nachvollziehen: Nur Rezeptoren, die den  -Typ der GABAA -Untereinheiten sowie Neurosteroide
die ˛- und ˇ-Untereinheiten enthalten, reagieren auf Benzodiazepine.
Ein anderer beliebter Wirkstoff, der die Funktion des GABAA -Rezeptors deutlich ver-
stärkt, ist Ethanol, die Form von Alkohol, die in Form bestimmter Getränke aufgenommen
wird. Ethanol zeigt komplexe Wirkungen, etwa auf NMDA-, Glycin-, nikotinische ACh-
und Serotoninrezeptoren. Der Effekt auf die GABAA -Kanäle hängt von deren spezifischer
Struktur ab. Es gibt Hinweise darauf, dass die ˛-, ˇ- und  -Untereinheiten für die Bildung GABA-abhängiger Cl– -Kanal
eines ethanolempfindlichen GABAA -Rezeptors erforderlich sind, analog zur Zusammen- (GABAA -Rezeptor)

setzung der Rezeptoren, die für Benzodiazepine sensitiv sind. Damit lässt sich erklären,
warum Ethanol in bestimmten Hirnregionen die Hemmung verstärkt, in anderen jedoch Abb. 6.22 Die Bindung von Substan-
nicht. Wenn wir diese molekulare und anatomische Spezifität verstanden haben, können zen an den GABAA -Rezeptor. Die
wir allmählich abschätzen, warum Wirkstoffe wie Ethanol solche einschneidenden und Wirkstoffe selbst öffnen den Kanal nicht,
auch suchterzeugenden Effekte auf das Verhalten haben. aber sie verändern die Wirkung von
GABA, wenn der betreffende Wirkstoff
Diese unterschiedlichen Wirkungen von Substanzen und Medikamenten führen zu einem gleichzeitig mit dem Transmitter an den
interessanten Paradoxon. Der GABAA -Rezeptor hat in der Evolution seine modularen Bin- Kanal bindet
dungsstellen zweifellos nicht entwickelt, um auf unsere modernen Wirkstoffe ansprechen
zu können. Dies hat in der Forschung dazu geführt, dass man nach körpereigenen Liganden
sucht, also nach chemischen Verbindungen, die an die Benzodiazepin- und Barbiturat-
stellen binden können und als Regulatoren der Hemmung fungieren. Es gibt deutliche
Hinweise darauf, dass natürliche Liganden vorkommen, die den Benzodiazepinen ähnlich
sind. Dabei erweist es sich jedoch als schwierig, ihre tatsächliche Existenz zu belegen und
Einblicke in ihre Funktionsweise zu gewinnen. Andere gute Kandidatenmoleküle, die als
natürliche Modulatoren von GABAA -Rezeptoren infrage kommen, sind die Neurosteroi-
de. Dabei handelt es sich um natürliche Metaboliten von Steroidhormonen, die vor allem
in den Gonaden und der Nebenniere, aber auch in den Gliazellen des Gehirns aus Cho-
lesterin synthetisiert werden. Einige Neurosteroide verstärken die inhibitorische Funktion,
während andere diese Funktion unterdrücken, und anscheinend geschieht das, indem sie
auf dem GABAA -Rezeptor an einer eigenen Stelle binden (Abb. 6.22), die sich von denen
der bereits erwähnten Wirkstoffe unterscheidet. Die Funktionen der natürlichen Neuroste-
roide sind noch unklar, aber es könnte sein, dass physiologische Prozesse in Gehirn und
Körper hier mithilfe der gleichen Moleküle in analoger Weise reguliert werden können.

G-Protein-gekoppelte Rezeptoren und Effektoren


In jedem bekannten Neurotransmittersystem gibt es mehrere Subtypen von G-Protein-ge-
koppelten Rezeptoren. In Kap. 5 haben wir erfahren, dass die Signalübertragung an diesen
Rezeptoren in drei Schritten erfolgt: Bindung des Neurotransmitters an das Rezeptorprote-
in, Aktivierung der G-Proteine und Aktivierung des Effektorsystems. Wir wollen uns nun
mit jedem dieser Schritte im Einzelnen beschäftigen.

Struktur von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren

Die meisten mit G-Proteinen gekoppelten Rezeptoren sind Varianten eines gemeinsa-
men Bauprinzips. Sie bestehen aus einem einzigen Polypeptid, das sieben die Membran
durchspannende Alpha-Helices enthält (Abb. 6.23). Zwei der extrazellulären Schleifen des
Polypeptids bilden die Transmitterbindungsstellen. Strukturelle Varianten dieser Region
legen fest, welche Neurotransmitter, Agonisten und Antagonisten an den Rezeptor binden.
180 6 Neurotransmittersysteme

Neurotransmitter Bindungsstelle für Neurotransmitter


Teil I

G-Protein-gekoppelter
membrandurch-
Rezeptor
spannende Alpha-
Helix extrazelluläre
Seite

intrazelluläre
Seite

G-Protein

Abb. 6.23 Die Grundstruktur eines G-Protein-gekoppelten Rezeptors. Die meisten metabotro-
pen Rezeptoren besitzen sieben die Membran durchspannende Alpha-Helices, eine Bindungsstelle
für den Transmitter an der extrazellulären Seite und eine Bindungsstelle für ein G-Protein an der
intrazellulären Seite

Zwei der intrazellulären Schleifen können G-Proteine binden und aktivieren. Strukturelle
Varianten in dieser Region bestimmen, welche G-Proteine und demzufolge welche Effek-
torsysteme als Reaktion auf die Bindung eines Transmitters aktiviert werden.
In Tab. 6.2 sind einige G-Protein-gekoppelte Rezeptoren aufgeführt. Das menschliche
Genom enthält Gene, die für rund 800 verschiedene G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
codieren, welche in fünf Hauptfamilien mit ähnlicher Struktur eingeordnet werden. Die
meisten dieser Rezeptoren waren unbekannt, bevor die effizienten Methoden der Mole-
kularbiologie ihre Entdeckung ermöglichten. Man sollte sich zudem daran erinnern, dass
G-Protein-gekoppelte Rezeptoren für alle Zelltypen im Körper eine wichtige Rolle spie-
len, nicht nur für Nervenzellen.

Weite Verbreitung der G-Proteine

G-Proteine sind das gemeinsame Element der meisten Signalwege, die mit einem Rezeptor
beginnen und mit Effektorproteinen enden. G-Protein ist die Abkürzung für Guanosintri-
phosphat(GTP)-bindendes Protein. Dabei handelt es sich tatsächlich um eine vielgestaltige
Proteinfamilie mit etwa 20 Typen. Es gibt viel mehr Rezeptoren als G-Proteine, sodass ei-
nige G-Proteine von vielen Rezeptoren aktiviert werden können.

Tab. 6.2 Einige G-Protein-gekoppelte Neurotransmitterrezeptoren


Neurotransmitter Rezeptor(en)
Acetylcholin (ACh) Muscarinische Rezeptoren (M1 , M2 , M3 , M4 , M5 )
Glutamat (Glu) Metabotrope Glutamatrezeptoren (mGluR1–8)
GABA GABAB1 , GABAB2
Serotonin (5-HT) 5-HT1A , 5-HT1B , 5-HT1D , 5-HT1E , 5-HT2A , 5-HT2B , 5-HT4 , 5-HT5A
Dopamin (DA) D1, D2, D3, D4, D5
Noradrenalin (NA) ˛1 , ˛2 , ˇ1 , ˇ2 , ˇ3
Opioide , ı,
Cannabinoide CB1, CB2
ATP P2Y2 , P2Y11 , P2T, P2U
Adenosin A1 , A2A , A2B , A3
G-Protein-gekoppelte Rezeptoren und Effektoren 181

G-Proteine zeigen alle denselben Funktionsmechanismus (Abb. 6.24):

Teil I
1. Jedes G-Protein besteht aus drei Untereinheiten, die man mit ˛, ˇ und  bezeichnet.
Im Ruhezustand ist an die G˛ -Untereinheit ein Molekül Guanosindiphosphat (GDP)
gebunden, und der gesamte Komplex bewegt sich entlang der inneren Oberfläche der
Membran.

a
Effektor- G-Protein-gekoppelter
protein 2 Rezeptor

Membran

Effektor-
G-Protein protein 1

b
Transmitter
Effektor-
protein 2

+ PO4

Abb. 6.24 Der grundlegende Funktionsmechanismus von G-Proteinen. a Im inaktiven Zustand


hat die ˛-Untereinheit GDP gebunden. b Bei der Aktivierung durch einen G-Protein-gekoppelten
Rezeptor wird GDP durch GTP ersetzt. c Das aktivierte G-Protein teilt sich auf, und sowohl die
G˛ (GTP)-Untereinheit als auch die Gˇ -Untereinheit können nun Effektorproteine aktivieren. d Die
G˛ -Untereinheit entfernt die Phosphatgruppe (PO4 ) langsam vom GTP und wandelt so GTP in GDP
um, wodurch sie ihre eigene Aktivität abschaltet
182 6 Neurotransmittersysteme

2. Wenn dieses G-Protein mit daran gebundenem GDP auf einen zugehörigen Rezeptor
Teil I

stößt und dieser Rezeptor gerade ein Transmittermolekül gebunden hat, dann setzt das
G-Protein GDP frei und tauscht es gegen ein GTP aus dem Cytosol aus.
3. Das aktivierte G-Protein mit daran gebundenem GTP teilt sich in zwei Fragmente: die
G˛ -Untereinheit mit GTP und den Gˇ -Komplex. Beide können sich nun weiterbewe-
gen und verschiedene Effektorproteine beeinflussen.
4. Die G˛ -Untereinheit ist selbst ein Enzym, das letztendlich GTP zu GDP abbaut. G˛
schaltet also seine eigene Aktivität ab, indem es das gebundene GTP in GDP umwan-
delt.
5. Die Untereinheiten G˛ und Gˇ vereinigen sich wieder, sodass der Zyklus neu begin-
nen kann.
Die ersten G-Proteine, die entdeckt wurden, besitzen die Wirkung, dass sie Effektorpro-
teine aktivieren. Später fand man heraus, dass andere G-Proteine dieselben Effektoren
hemmen können. Das einfachste Prinzip für die Einteilung der G-Proteine besteht darin,
dass man stimulierende G-Proteine mit Gs und inhibitorische G-Proteine mit Gi bezeich-
net.

G-Protein-gekoppelte Effektorsysteme

In Kap. 5 haben wir erfahren, dass aktivierte G-Proteine ihre Wirkung dadurch entfal-
ten, dass sie an ein Effektorprotein binden, das zu einem von zwei Typen gehören kann:
G-Protein-abhängige Ionenkanäle oder von G-Proteinen aktivierte Enzyme. Da bei den Ef-
fekten keine weiteren chemischen Zwischenstufen vorkommen, bezeichnet man den ersten
Reaktionsweg auch als „verkürzten Signalweg“.

Der verkürzte Signalweg


Eine Reihe verschiedener Neurotransmitter nutzt den verkürzten Signalweg vom Rezep-
tor über das G-Protein zum Ionenkanal. Ein Beispiel sind die muscarinischen Rezepto-
ren im Herzen. Diese ACh-Rezeptoren sind über G-Proteine an Kaliumkanäle gekoppelt.
Damit lässt sich auch erklären, warum ACh die Herzfrequenz verringert (Abb. 6.25).
In diesem Fall wandern die ˇ -Untereinheiten die Membran seitwärts entlang, bis sie
an den zugehörigen Kaliumkanaltyp binden. Ein anderes Beispiel sind die neuronalen
GABAB -Rezeptoren, die auch über einen verkürzten Signalweg an Kaliumkanäle gekop-
pelt sind.
Verkürzte Signalwege sind die schnellsten im System der G-Protein-gekoppelten Effekto-
ren. Die Reaktionszeiten reichen von 30 bis 100 ms nach der Bindung des Neurotransmit-
ters. Das ist zwar nicht ganz so schnell wie bei ligandengesteuerten Kanälen, bei denen
es zwischen Rezeptor und Kanal keine weitere Stufe gibt, aber schneller als die Second-
Messenger-Kaskaden, mit denen wir uns als Nächstes beschäftigen wollen. Der verkürzte
Signalweg wirkt sich im Gegensatz zu anderen Effektorsystemen räumlich nur stark be-
grenzt aus. Da das G-Protein innerhalb der Membran diffundiert, kann es sich offenbar
nicht sehr weit bewegen, sodass also nur in der Nähe liegende Kanäle beeinflusst werden
können. Da sich das ganze Geschehen des verkürzten Signalweges innerhalb der Membran
abspielt, spricht man manchmal von einem membranständigen Signalweg.

Second-Messenger-Kaskaden
G-Proteine können ihre Wirkungen auch dadurch entfalten, dass sie bestimmte Enzyme di-
rekt aktivieren. Die Aktivierung dieser Enzyme kann eine komplexe Reihe biochemischer
Reaktionen auslösen, eine Kaskade, die häufig zur Aktivierung weiterer nachgeschalteter
Enzyme führt, die die Neuronenfunktion verändern. Zwischen dem ersten und dem letzten
Enzym liegen mehrere Second Messenger. Den ganzen Vorgang, der den Neurotransmit-
ter über mehrere Schritte mit der Aktivierung eines nachgeschalteten Enzyms verknüpft,
bezeichnet man als Second-Messenger-Kaskade (Abb. 6.26).
G-Protein-gekoppelte Rezeptoren und Effektoren 183

Teil I
muscarinischer
Kaliumkanal
Rezeptor ACh
(geschlossen)

G-Protein

b
Kaliumkanal
(geöffnet) ACh

Abb. 6.25 Der verkürzte Signalweg. a Im Herzmuskel werden durch Bindung von ACh an mus-
carinische Rezeptoren G-Proteine aktiviert. b Die aktivierte Gˇ -Untereinheit induziert direkt die
Öffnung eines Kaliumkanals

In Kap. 5 haben wir die Second-Messenger-Kaskade von cAMP eingeführt, die durch
die Aktivierung des NA-ˇ-Rezeptors ausgelöst wird (Abb. 6.27a). Diese beginnt mit dem
ˇ-Rezeptor, der das stimulatorische G-Protein, Gs , aktiviert, das nun das membrangebun-
dene Enzym Adenylatcyclase stimuliert. Dieses Enzym wandelt ATP in cAMP um. Die
anschließende Zunahme von cAMP im Cytosol aktiviert ein spezifisches nachgeschaltetes
Enzym, die sogenannte Proteinkinase A (PKA).
Viele biochemische Prozesse werden nach einem push-pull-Prinzip reguliert, wobei sie
von einem Effekt stimuliert und vom anderen gehemmt werden, und die Erzeugung von

Rezeptor Neurotransmitter membrangebundenes


Enzym

G-Protein

chemische
Zwischen-
reaktionen

Aktivierung des nachgeschalteten


Enzyms

Abb. 6.26 Die Bestandteile einer Second-Messenger-Kaskade


184 6 Neurotransmittersysteme

a NA b NA
Teil I

Adenylat-
cyclase

+ –

stimulatorisches inhibitorisches
G-Protein (Gs) + G-Protein (Gi)

Protein-
kinase A

Abb. 6.27 Stimulierung und Hemmung der Adenylatcyclase durch verschiedene G-Proteine. a Bindung von Noradrenalin (NA) an den
ˇ-Rezeptor aktiviert ein Gs , das wiederum die Adenylatcyclase aktiviert. Diese erzeugt cAMP, welches die Proteinkinase A aktiviert. b Bindung
von NA an den ˛2 -Rezeptor aktiviert ein Gi , das die Adenylatcyclase hemmt

Neurotransmitter G-Protein-gekoppelter
Neuronen-
Rezeptor
membran

2 PKC
1 PIP2 DAG
PLC IP3
4
Ca2+

aktiviertes
G-Protein

glattes ER Ca2+

Abb. 6.28 Second Messenger, die durch Abbau des Membranphospholipids PIP2 erzeugt werden. ➀ Aktivierte G-Proteine stimulieren das
Enzym Phospholipase C (PLC). ➁ Die PLC spaltet PIP2 in DAG und IP3 . ➂ DAG stimuliert die nachgeschaltete Proteinkinase C (PKC). ➃ IP3
stimuliert die Freisetzung von Ca2C aus Speichern in der Zelle. Die Ca2C -Ionen können nun verschiedene Enzyme aktivieren

cAMP bildet hier keine Ausnahme. Die Aktivierung eines zweiten NA-Rezeptortyps, den
man mit ˛2 bezeichnet, führt zur Aktivierung von Gi (dem inhibitorischen G-Protein).
Gi unterdrückt die Aktivität der Adenylatcyclase, und dieser Effekt kann gegenüber dem
stimulatorischen G-Protein überwiegen (Abb. 6.27b).

Einige Messenger-Kaskaden können sich verzweigen. In Abb. 6.28 ist dargestellt, wie die
Aktivierung von verschiedenen G-Proteinen die Phospholipase C (PLC) stimuliert. Die-
ses Enzym bewegt sich wie die Adenylatcyclase frei in der Membran. Die PLC wirkt auf
das Membranphospholipid PIP2 (oder Phosphatidylinositol-4,5-bisphosphat) und spaltet
es in zwei Moleküle, die als Second Messenger fungieren: Diacylglycerin (DAG) und
Inositol-1,4,5-trisphosphat (IP3 ). DAG, das fettlöslich ist, bleibt in der Membranebene,
wo es die nachgeschaltete Proteinkinase C (PKC) aktiviert. Gleichzeitig diffundiert das
wasserlösliche IP3 in das Cytosol und bindet an spezifische Rezeptoren auf dem glatten
ER und anderen Organellen in der Zelle, die von einer Membran umgeben sind. Diese
Rezeptoren sind IP3 -abhängige Calciumkanäle, sodass IP3 dazu führt, dass die Organellen
G-Protein-gekoppelte Rezeptoren und Effektoren 185

ihre Ca2C -Speicher entleeren. Wie wir bereits festgestellt haben, kann eine Erhöhung der

Teil I
Ca2C -Konzentration im Cytosol zu breit gestreuten langfristigen Effekten führen. Eine
dieser Wirkungen ist die Aktivierung des Enzyms Calcium-Calmodulin-abhängige Pro-
teinkinase (CaMK). Die CaMK ist ein Enzym, das unter anderem an den molekularen
Mechanismen des Gedächtnisses beteiligt ist (Kap. 25).

Phosphorylierung und Dephosphorylierung


Die vorherigen Beispiele zeigen, dass bei vielen Second-Messenger-Kaskaden die akti-
vierten Enzyme Proteinkinasen (PKA, PKC, CaMK) sind. Wie bereits in Kap. 5 erwähnt,
übertragen Proteinkinasen Phosphatgruppen von dem im Cytosol frei beweglichen ATP
auf Proteine, und man bezeichnet diese Reaktion als Phosphorylierung. Das Anhängen
von Phosphatgruppen an ein Protein verändert dessen Konformation und damit seine bio-
logische Aktivität. Die Phosphorylierung von Ionenkanälen kann die Wahrscheinlichkeit
stark verändern, dass sie sich öffnen oder schließen.
Betrachten wir die Auswirkungen, wenn die NA-Rezeptoren vom ˇ-Typ an Herzmuskel-
zellen aktiviert werden. Die anschließende Erhöhung der cAMP-Konzentration aktiviert
die PKA, die die spannungsabhängigen Calciumkanäle der Zelle phosphoryliert und da-
durch deren Aktivität erhöht. Es fließt mehr Ca2C , und der Herzschlag verstärkt sich.
Im Gegensatz dazu hat die Stimulierung der ˇ-adrenergen Rezeptoren bei vielen Neuro-
nen anscheinend keine Auswirkungen auf die Calciumkanäle, sondern hemmt stattdessen
bestimmte Kaliumkanäle. Eine verringerte KC -Leitfähigkeit verursacht eine leichte De-
polarisation, erhöht die Längskonstante und führt dazu, dass das Neuron leichter erregbar
wird (Kap. 5).
Wenn durch Transmitter stimulierte Kinasen ihre Phosphorylierungen durchführen wür- Protein-
den, ohne dass es einen Mechanismus zur Umkehrung der Reaktion gibt, wären alle kinase
Proteine schnell mit Phosphaten gesättigt und eine weitere Regulierung unmöglich. En- Protein Protein — PO4
Protein-
zyme, die man als Proteinphosphatasen bezeichnet, schaffen hier Abhilfe, da sie in der phosphatase
Lage sind, Phosphatgruppen schnell zu entfernen. Das Ausmaß der Phosphorylierung der
Kanäle zu einem beliebigen Zeitpunkt hängt daher immer von dem dynamischen Gleich- Abb. 6.29 Proteinphosphorylierung
gewicht zwischen der Phosphorylierung durch Kinasen und der Dephosphorylierung durch und -dephosphorylierung
Phosphatasen ab (Abb. 6.29).

Die Funktion der Signalkaskaden


Die synaptische Signalübertragung mithilfe ligandengesteuerter Kanäle geht einfach und
schnell. Die Signalübertragung durch Rezeptoren, die an G-Proteine gekoppelt sind, er-
folgt komplex und langsam. Welche Vorteile bringen solche langen Befehlsketten mit
sich? Ein wichtiger Vorteil ist die Signalverstärkung. Die Aktivierung eines G-Protein-
gekoppelten Rezeptors kann zur Aktivierung nicht nur eines, sondern vieler Ionenkanäle
führen (Abb. 6.30).
Eine Signalverstärkung kann auf mehreren Stufen der Kaskade stattfinden. Ein einzi-
ges Neurotransmittermolekül, das an einen Rezeptor gebunden ist, kann potenziell 10–
20 G-Proteine aktivieren. Jedes G-Protein kann eine Adenylatcyclase aktivieren, die wie-
derum zahlreiche cAMP-Moleküle erzeugt; diese können sich ausbreiten und ihrerseits
viele Kinasen aktivieren. Jede Kinase kann dann viele Kanäle phosphorylieren. Wenn
alle Bestandteile einer Kaskade in einem einzigen Komplex vereint wären, würde die Si-
gnalübertragung erheblich behindert. Die Verwendung kleiner Messenger-Moleküle, die
schnell diffundieren können (etwa wie cAMP), ermöglichen eine Signalweitergabe über
einen weiten Membranbereich. Signalkaskaden bieten auch viele Möglichkeiten für eine
weitere Regulierung, genauso können Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Kas-
kaden stattfinden. Schließlich sind Signalkaskaden imstande, sehr langfristige chemische
Veränderungen von Zellen herbeizuführen, was wahrscheinlich mit zur Speicherung unse-
rer Erinnerungen beiträgt.
186 6 Neurotransmittersysteme
Teil I

Transmitter

Transmitter
aktiviert
Rezeptor

Rezeptor aktiviert
G-Protein

Adenylat- Adenylat- Adenylat-


G-Protein stimuliert cyclase cyclase cyclase
Adenylatcyclase zur
Umwandlung von ATP
in cAMP

cAMP aktiviert PKA PKA PKA


Proteinkinase A

Proteinkinase A
phosphoryliert
Kaliumkanäle

Abb. 6.30 Signalverstärkung durch G-Protein-gekoppelte Second-Messenger-Kaskaden. Wenn


ein Transmitter einen Rezeptor aktiviert, der an G-Proteine gekoppelt ist, kann es über mehrere Stufen
der Kaskade zu einer Verstärkung der Messenger-Wirkung kommen, sodass schließlich viele Kanäle
beeinflusst werden

Divergenz und Konvergenz in


Neurotransmittersystemen
Glutamat ist der häufigste exzitatorische Neurotransmitter im Gehirn, während GABA der
vorherrschende inhibitorische Neurotransmitter ist. Das ist jedoch nur ein Teil des Gesamt-
bildes, da jeder einzelne Neurotransmitter viele verschiedene Wirkungen haben kann. Ein
Glutamatmolekül kann an jeden der verschiedenen Typen von Glutamatrezeptoren binden,
und jeder von diesen kann einen anderen Effekt vermitteln. Die Fähigkeit der Neurotrans-
mitter, mehr als einen Subtyp von Rezeptoren zu aktivieren und mehr als eine synaptische
Reaktion auszulösen, bezeichnet man als Divergenz.
Divergenz ist unter Neurotransmittersystemen die Regel. Jeder bekannte Neurotransmitter
kann mehrere Rezeptorsubtypen aktivieren (Tab. 6.2), und es gibt Hinweise darauf, dass
die Anzahl der bekannten Rezeptoren weiterhin zunehmen wird, da die leistungsfähigen
Methoden der molekularen Neurobiologie für jedes System angewendet werden. Auf-
Abschließende Bemerkungen 187

a Rezeptorsubtyp 1 Effektorsystem X

Teil I
Transmitter Rezeptorsubtyp 2 Effektorsystem Y

Effektorsystem Z
Rezeptorsubtyp 3

b
Transmitter A A Rezeptor

Transmitter B B Rezeptor Effektorsystem

Transmitter C C Rezeptor

c
Transmitter A A1 Rezeptor Effektor 1

Effektor 2

A2 Rezeptor Effektor 3
Effektor 4

Transmitter B B Rezeptor Effektor 5

Abb. 6.31 Divergenz und Konvergenz in Signalübertragungssystemen von Neurotransmittern.


a Divergenz. b Konvergenz. c Integration von Divergenz und Konvergenz

grund der vielen Rezeptorsubtypen kann ein Transmitter auf verschiedene Neuronen (oder
sogar auf Teile desselben Neurons) in sehr verschiedener Weise wirken. Auch jenseits der
Ebene der Rezeptoren kann Divergenz auftreten, abhängig davon, welche G-Proteine und
welche Effektorsysteme aktiviert werden. Divergenz kann auf jeder Stufe der Kaskade der
Transmittereffekte auftreten (Abb. 6.31a).
Neurotransmitter können auch eine Konvergenz von Wirkungen zeigen. Mehrere verschie-
dene Transmitter, die jeweils ihren eigenen Rezeptortyp aktivieren, können zusammentref-
fen und gemeinsam auf dasselbe Effektorsystem einwirken (Abb. 6.31b). Eine solche Kon-
vergenz kann auf der Ebene der G-Proteine, der Second-Messenger-Kaskaden oder beim
Typ des modulierten Ionenkanals auftreten. Neuronen können divergente und konvergente
Signalsysteme integrieren, sodass man eine komplexe Karte chemischer Wirkungen er-
hält (Abb. 6.31c). Es ist ein Wunder, dass all dies überhaupt funktioniert, und es ist eine
Herausforderung, die Mechanismen aufzuklären.

Abschließende Bemerkungen
Neurotransmitter sind für die Interaktion zwischen den Neuronen sowie zwischen Neu-
ronen und Effektoren wie etwa Muskeln und Drüsen unverzichtbar. Man sollte sie als
Glieder in einer Kette von Ereignissen auffassen, die schnelle und langsame, divergen-
te und konvergente chemische Veränderungen herbeiführen können. Man kann die vielen
Signalübertragungswege, die in einem einzelnen Neuron ablaufen oder auf ein Neuron
einwirken, als eine Art Informationsnetzwerk verstehen. Dieses Netzwerk befindet sich in
einem fein austarierten Gleichgewicht, das sich dynamisch an die Anforderungen anpasst,
die an das jeweilige Neuron im Kontext des Verhaltens eines Lebewesens gestellt werden.
Das Signalübertragungsnetzwerk innerhalb eines einzelnen Neurons ähnelt in mancher
Hinsicht den Netzen, die im Gehirn aus vielen Neuronen gebildet werden. Es empfängt ei-
188 6 Neurotransmittersysteme

ne Reihe ankommender Informationen in Form von Transmittern, die es zu unterschiedli-


Teil I

chen Zeiten und an verschiedenen Stellen „bombardieren“. Diese Informationen führen zu


einer verstärkten Nutzung einiger Signalwege und zu einer verringerten Nutzung anderer.
Die Informationen werden neu kombiniert, um bestimmte Ausgangssignale zu erzeugen,
die mehr sind als nur die einfache Summe der ankommenden Reize. Signale regulieren
Signale, chemische Veränderungen können lang anhaltende Spuren ihrer Geschichte hin-
terlassen, Wirkstoffe und Medikamente können das Gleichgewicht der Signalübertragung
verschieben – und das Gehirn und seine biochemischen Bestandteile gehören buchstäblich
untrennbar zusammen.

Wiederholungsfragen
1. Nennen Sie die Voraussetzungen, anhand derer man feststellt, ob eine chemische Sub-
stanz als Neurotransmitter dient. Mit welchen verschiedenen experimentellen Herange-
hensweisen lässt sich zeigen, ob ACh die Voraussetzungen für einen Neurotransmitter
an der neuromuskulären Endplatte erfüllt?
2. Welche drei Methoden gibt es, mit deren Hilfe man zeigen kann, dass der Rezeptor
eines Neurotransmitters in einem bestimmten Neuron synthetisiert wird oder lokalisiert
ist?
3. Vergleichen Sie die Eigenschaften von (a) AMPA und NMDA-Rezeptoren, (b) GABAA -
und GABAB -Rezeptoren.
4. Die synaptische Hemmung ist ein wichtiges Merkmal für die Verschaltungen in der
Hirnrinde. Wie können Sie feststellen, ob GABA oder Glycin oder beide oder keines
von beiden als inhibitorischer Neurotransmitter in der Hirnrinde fungiert?
5. Glutamat aktiviert eine Reihe verschiedener metabotroper Rezeptoren. Wenn einer der
Subtypen aktiviert wird, kommt es zu einer Hemmung der cAMP-Synthese. Die Akti-
vierung eines zweiten Subtyps führt zur Aktivierung der Proteinkinase C. Formulieren
Sie die Mechanismen für diese beiden unterschiedlichen Auswirkungen.
6. Kommen Konvergenz und Divergenz der Wirkungen von Neurotransmittern in einzel-
nen Neuronen vor?
7. Ca2C -Ionen betrachtet man als Second Messenger. Warum?

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