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TITELTHEMA

SENSORIK Der Hirnforscher David Eagleman


untersucht, wie Lernprozesse das Gehirn verändern. Er
will Menschen mit neuen Sinnen ausstatten.

»Neurone bilden
ständig
neue Allianzen«
W
ie wäre es wohl, wenn Sie Mag- im Kopf ihre Schaltkreise in jeder Sekunde neu konfigu-
netfelder spüren könnten? Oder rieren. Die Verknüpfungen zwischen den Zellen ändern
Infrarotlicht sehen? Oder wür- laufend ihre Stärke, sie werden an manchen Stellen ge-
de es Ihnen eher gefallen, wenn kappt und an anderen neu geschaffen.
Ihr Gehirn Börsendaten in
Echtzeit empfinge? Laut David Geht es primär um Veränderungen der Synapsen?
Eagleman ist manches davon gar nicht so abwegig. Der Plastizitätsforscher haben sich bislang auf die Synapsen
Hirnforscher und sein Team haben erste technische An- konzentriert. Das erinnert mich jedoch ein bisschen an
wendungen entwickelt, die das übliche Sinnesrepertoire einen Betrunkenen, der unter der Straßenlaterne nach
erweitern – etwa ein Armband, das Töne in Vibrationen dem verlorenen Schlüssel sucht, nur weil es dort eben
umwandelt. Diese Schwingungen auf der Haut ermögli- hell ist. Die Übertragungsstärke der Synapsen ist rela­-
chen es tauben Menschen, gewissermaßen zu hören. tiv leicht zu messen, im Gehirn tut sich allerdings noch
Inspiriert wird Eaglemans Forschung durch das er- viel mehr. Ein Neuron gleicht einer Stadt voller ver-
staunliche Ausmaß der Neuroplastizität, also der Fähig- schlungener Wege, und diese Infrastruktur modifiziert
keit des Gehirns, sich auf der Grundlage von Erfahrun- sich ständig. Etwa durch epigenetische Änderungen der
gen umzustrukturieren. Zu den spannendsten Fragen DNA im Zellkern, so dass einige Gene vermehrt abgele-
zählt dabei, wie unsere grauen Zellen solche Verände- sen und andere unterdrückt werden.
rungen steuern und ob wir sie nutzen können, um voll-
kommen neue Fertigkeiten zu erwerben. Wozu sind so viele Mechanismen der Plastizität
nötig?
Herr Eagleman, Sie untersuchen, wie sich das Weil es auf unterschiedlich schnelle Veränderungen an-
Gehirn durch Erfahrungen verändert. Was fasziniert kommt. In einer Stadt ändert sich manches auch sehr
Sie daran so besonders? zügig, etwa die Kleidermode. Anderes geschieht langsa-
Sobald Sie auch nur hörten, wie ich heiße, veränderte mer, beispielsweise Neubauten oder die Geschäftsstruk-
sich Ihre Hirnstruktur. Nur deshalb können Sie sich da- tur. Manche Veränderungen wiederum sind besonders
ran erinnern. Neurowissenschaftler reden zwar viel da- träge, zum Beispiel in der Verwaltung oder, was Geset-
von, unser Gehirn sei »plastisch« – es sei also formbar ze angeht. Ähnlich verhält es sich mit dem Gehirn:
ähnlich wie Kunststoff. Aber ich finde, dieser Begriff be- Wenn wir etwas Neues lernen, passen sich einige Regio-
schreibt viel zu schlecht, was das eigentlich bedeutet. nen sofort an. Doch nur, wenn das Gelernte auf Dauer
Sie müssen sich vorstellen, dass die Milliarden Neurone relevant bleibt, greift der Umbau weiter um sich.

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JOE BARABAN; MIT FRDL. GEN. VON DAVID EAGLEMAN

D AV I D M . E A G L E M A N
zen nicht durcheinander. Fügt man dagegen neue Kno-
geboren 1971 in Albuquerque, New Mexico, ist Neuro- ten in ein künstliches neuronales Netz ein, verschlechtert
wissenschaftler an der Stanford University in Kali­ sich dessen Leistung zunächst. Wir haben bislang keine
fornien und hat sich auf die menschliche Sinnesverar- tauglichen Modelle, die erklären, was genau im Gehirn
beitung spezialisiert. 2015 gründete er die Firma
vor sich geht.
»Neosensory«. Eagleman ist zudem Autor mehrerer
Sachbücher, zuletzt »Livewired – The inside story of
the ever-changing brain« (2020). Dennoch sehen wir die Folgen der Neuroplastizität
tagtäglich.
Ja, zum Beispiel, wenn jemand auf ein Fahrrad oder ein
Skateboard steigt. Das ist, als ob derjenige mit Rädern
Wie gut verstehen wir solche Prozesse heute? zur Welt gekommen wäre – das Gehirn hat sie sich re-
Es dauerte lange, bis Forscher überhaupt geeignete Me- gelrecht angeeignet, es steuert das Fahrrad oder Board
thoden hatten, um einigermaßen nachzuvollziehen, wie einen Teil des eigenen Körpers. Wenn wir etwas ler-
was im Gehirn passiert. Uns fehlen allein schon die nen, verdanken wir das den plastischen Veränderungen
sprachlichen Mittel, um zu beschreiben, was die Mil­ im Gehirn. Ob wir ein Musikinstrument spielen oder
liarden Neurone dieses hochkomplexen Systems tun. jonglieren, wir modulieren dabei unsere physische
Fest steht nur: Es ist ein äußerst flexibles Gewebe, in Hardware. Das lässt sich inzwischen mit bildgebenden
dem sich andauernd wechselnde Allianzen bilden und Verfahren nachweisen: Ein Geiger etwa benutzt eine
wieder lösen. Hand äußerst fingerfertig und hochpräzise und führt
mit der anderen Hand nur den Bogen. Folglich wächst
Auch Erwachsenen bilden neue Gehirnzellen. nur eine Seite seines motorischen Kortex – diejenige,
Welche Rolle spielt dieser Jungbrunnen bei den die die stärker geforderte Körperseite steuert. Und zwar
Umbauarbeiten im Kopf? genau da, wo die Finger im motorischen Kortex reprä-
Es ist umstritten, ob Neurogenese beim erwachsenen sentiert sind. Bei Pianisten hingegen werden rechts wie
Menschen in einem nennenswerten Umfang auftritt. links bestimmte Areale größer.
Womöglich handelt es sich nur um eine kleine Facette
der Plastizität. Was wir bis heute noch nicht gut verste- Bringt Neuroplastizität auch Nachteile mit sich?
hen, ist Folgendes: Kommen Zellen in einem natür­ Die Natur treibt mit dem Menschen eine Art Glücks-
lichen Hirnnetzwerk dazu, gerät die Funktion des Gan- spiel, indem sie sein Gehirn unreif in die Welt setzt und

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TITELTHEMA / SENSORIK

es durch Erfahrung formt. Das Gehirn von Neugebore-


nen ist viel weniger entwickelt als das der meisten jun-
gen Tiere. Alles in allem war diese Strategie erfolgreich:
Wir haben jeden Kontinent der Erde besiedelt, das In-
ternet erfunden und sind zum Mond geflogen. Doch

NEOSENSORY; MIT FRDL. GEN. VON DAVID EAGLEMAN


wir zahlen dafür auch einen Preis. Kinder brauchen
enorm viel Input, sprachliche und körperliche Zuwen-
dung, Aufmerksamkeit und Liebe. Sonst entwickelt sich
ihr Gehirn nicht ausreichend.

Könnten wir etwas tun, um die Plastizität besser zu


nutzen?
Vor etwa zehn Jahren begann ich mich zu fragen, ob wir
neue Sinne erschaffen können, die über unsere üblichen
fünf Kanäle hinausgehen. Manche Tiere können Mag-
netfelder, Elektrizität oder ultraviolettes Licht wahrneh-
men. Das hängt davon ab, mit welchen biologischen GADGET ODER SINNSTIFTER? | Mit solchen
Sensoren die Spezies ausgestattet ist. Ich begann, unsere Armbändern wollen Eagleman und sein Team
Sinnesorgane als »Plug-and-Play-Detektoren« zu ver- taktile Empfindungen am Handgelenk hörbar
stehen. Man muss das Gehirn nicht jedes Mal neu erfin- machen. Die Neuroplastizität macht’s möglich.
den, um einen zusätzlichen Sinn zu entwickeln. Man
braucht nur eine neue Art von Sensor zu entwickeln,
den man einfach einstöpseln kann. Kann man mit so einem Gerät wirklich »hören«?
Beim ersten Mal fühlt man einfach eine Vibration am
Welche Art von Sensoren meinen Sie? Handgelenk. Wenn man zugleich sieht, wie sich das
Mein Labor hat zuerst eine Weste entwickelt, die mit Maul des Hundes bewegt, wird plötzlich klar: »Der
winzigen Motoren ausgestattet ist. Damit konnten wir Hund bellt.« Im Lauf einiger Monate wird daraus im-
Daten in Vibrationsmuster auf der Haut verwandeln. mer mehr ein Hören. Wir fragten Teilnehmer: »Spüren
Kürzlich haben wir es zu einem Armband verkleinert. Sie ein Brummen und denken dann: Oh, ein Hund
Wir können darin zum Beispiel infrarotes oder ultra­ bellt!?« Doch sie antworteten meist: »Nein, ich höre den
violettes Licht einspeisen, das von einem Roboter oder Hund.« Genau so funktioniert auch unser Gehör: Als
einer Drohne aufgezeichnet wird. Wir können Informa- Säuglinge lernten wir, die Signale des Innenohrs zu ver-
tionen über den Zustand des Körpers erfassen, wie Blut- stehen; unser Gehirn kann das nicht von Beginn an.
druck und Herzfrequenz. Das Armband namens »Buzz« Wenn ich spreche, haben Sie nicht das Gefühl: »Da sind
nimmt Geräusche auf und wandelt sie in Vibrations- hochfrequente Töne, niedrige und mittlere, er hat wohl
muster um. Solche Informationen lassen sich auf die was gesagt.« Stattdessen machen Sie die Erfahrung des
Haut übertragen, und das Gehirn lernt relativ problem- Hörens. Das passiert mit der Zeit auch bei Buzz.
los, diese zu unterscheiden. Gehörlose bemerken mit
Hilfe von Buzz etwa, ob der Wasserhahn läuft oder ein Wohin kann dieser Ansatz noch führen?
Hund bellt. Ich lebe im Silicon Valley, da dreht sich alles um Hard-
und Software. Viele Entwickler versuchen, die Funk­
Können Menschen mit dieser technischen Unterstüt- tionsweise des Gehirns in technische Anwendungen zu
zung auch Sprache verstehen? übertragen – ich nenne das »Liveware«: Systeme also,
Der Bereich der Haut, auf dem das Armband vibriert, ist die sich auf Grundlage von Erfahrungen physisch neu
ziemlich klein. Dennoch kann es Millionen von unter- konfigurieren. Im Moment haben wir zwar keine Ah-
scheidbaren Mustern generieren. Wenn ich das Band nung, wie wir sie bauen können. Aber auf dem Gebiet
trage und »eins, zwei, drei, vier« sage, kann ich den Un- wird in den nächsten Jahren noch viel passieren. H
terschied zwischen diesen Wörtern spüren. Es hat also
tatsächlich eine hohe Auflösung. Außerdem werden die Die Fragen stellte Clare Wilson, Redakteurin beim briti-
Nutzer mit der Zeit immer besser darin, die Signale zu schen Wissenschaftsmagazin »NewScientist«. 
interpretieren, wir kennen die Grenze noch nicht. Bis © 2021 New Scientist Ltd.
jetzt hat niemand das Gerät ein Jahr lang am Stück ge- Syndiziert durch Tribune Content Agency
tragen. Ich würde gern Leute testen, die das Armband
ein paar Jahre lang angehabt haben. Vermutlich kann Mehr zu »Buzz« und Neosensory unter: https://neosensory.com
das Gehirn auf Grund seiner Plastizität fortlaufend mehr Dieses Interview im Internet:
mit den gelieferten Informationen anfangen. www.spektrum.de/artikel/1935985

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