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Draußen vor der Tür (Wolfgang Borchert) mittelschulvorbereitung.

ch/deutsch T82b

Das Stück spielt in der Nachkriegszeit in Hamburg. Beckmann kommt humpelnd und
frierend aus der Kriegsgefangenschaft aus Sibirien nach Hause zurück und trifft alles
anders an, als er es verlassen hat. Er ist einer „von denen, die nach Hause kommen
und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist.
Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür.“

In dieser Szene besucht Beckmann seinen ehemaligen Vorgesetzten, um ihm „die


Verantwortung zurückzugeben.“

OBERST (interessiert): Aber der Traum, des Xylophons, wo die ganz hohen Töne
der veranlasst Sie zu diesem Schrei, ja? liegen, da sind Fingerknöchel, Zehen,
BECKMANN: Denken Sie mal an, ja. Er Zähne. Ja, als letztes kommen die Zähne.
veranlasst mich. Der Traum ist nämlich Das ist das Xylophon, auf dem der fette
ganz seltsam, müssen Sie wissen. Ich will Mann mit den Generalsstreifen spielt. Ist
ihn mal erzählen. Sie hören doch, Herr das nicht ein komischer Musiker, dieser
Oberst, ja? Da steht ein Mann und spielt General?
Xylophon. Er spielt einen rasenden
Rhythmus. Und dabei schwitzt er, der
Mann, denn er ist außergewöhnlich fett.
Und er spielt auf einem Riesenxylophon.
Und weil es so groß ist, muss er bei jedem
Schlag vor dem Xylophon hin und her
sausen. Und dabei schwitzt er, denn er ist
tatsächlich sehr fett. Aber er schwitzt gar
keinen Schweiß, das ist das Sonderbare.
Er schwitzt Blut, dampfendes, dunkles
Blut. Und das Blut läuft in zwei breiten
roten Streifen an seiner Hose runter, dass
er von weitem aussieht wie ein General. OBERST (unsicher): Ja, sehr komisch.
Wie ein General! Ein fetter, blutiger Sehr, sehr komisch!
General. Es muss ein alter BECKMANN: Ja, und nun geht es erst los.
schlachtenerprobter General sein, denn er Nun fängt der Traum erst an. Also, der
hat beide Arme verloren. Ja, er spielt mit General steht vor dem Riesenxylophon
langen dünnen Prothesen, die wie aus Menschenknochen und trommelt mit
Handgranatenstiele aussehen, hölzern und seinen Prothesen einen Marsch. Preußens
mit einem Metallring. Es muss ein ganz Gloria oder den Badenweiler. Aber
fremdartiger Musiker sein, der General, meistens spielt er den Einzug der
denn die Hölzer seines riesigen Xylophons Gladiatoren und die Alten Kameraden.
sind gar nicht aus Holz. Nein, glauben Sie Meistens spielt er die. Die kennen Sie
mir, Herr Oberst, glauben Sie mir, sie sind doch, Herr Oberst, die Alten Kameraden?
aus Knochen. Glauben Sie mir das, Herr (summt)
Oberst, aus Knochen! OBERST: Ja, ja. Natürlich. (summt
OBERST (leise): Ja, ich glaube. Aus ebenfalls)
Knochen. BECKMANN: Und dann kommen sie.
BECKMANN (immer noch tranceähnlich, Dann ziehen sie ein, die Gladiatoren, die
spukhaft): Ja, nicht aus Holz, aus alten Kameraden. Dann stehen sie auf aus
Knochen. Wunderbare weiße Knochen. den Massengräbern, und ihr blutiges
Schädeldecken hat er da, Schulterblätter, Gestöhn stinkt bis an den weißen Mond.
Beckenknochen. Und für die höheren Töne Und davon sind die Nächte so. So bitter
Armknochen und Beinknochen. Dann wie Katzengescheiß. So rot, so rot wie
kommen die Rippen - viele tausend Himbeerlimonade auf einem weißen
Rippen. Und zum Schluss, ganz am Ende Hemd. Dann sind die Nächte so, dass wir
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nicht atmen können. Dass wir ersticken, zählen nicht! Ist das nicht Meuterei, Herr
wenn wir keinen Mund zum Küssen und Oberst? Offene Meuterei?
keinen Schnaps zu trinken haben. Bis an OBERST (flüstert): Ja, offene Meuterei!
den Mond, den weißen Mond, stinkt dann BECKMANN: Sie zählen auf
das blutige Gestöhn, Herr Oberst, wenn Deubelkommraus nicht. Aber sie rotten
die Toten kommen, die limonadefleckigen sich zusammen, die Verrotteten, und
Toten. bilden Sprechchöre. Donnernde,
TOCHTER: Hört ihr, dass er verrückt ist? drohende, dumpfe Sprechchöre. Und
Der Mond soll weiß sein, sagt er! Weiß! wissen Sie, was sie brüllen, Herr Oberst?
Der Mond! OBERST (flüstert): Nein.
OBERST (nüchtern): Unsinn! Der Mond ist BECKMANN: Beckmann, brüllen sie.
selbstverständlich gelb wie immer. Wie'n Unteroffizier Beckmann. Immer
Honigbrot! Wie'n Eierkuchen. War immer Unteroffizier Beckmann. Und das Brüllen
gelb, der Mond. wächst. Und das Brüllen rollt heran,
BECKMANN: O nein, Herr Oberst, o nein! tierisch wie ein Gott schreit, fremd, kalt,
In diesen Nächten, wo die Toten kommen,
da ist er weiß und krank. Da ist er wie der Wolfgang Borchert (1921 - 47) ist einer der
bekanntesten Autoren der Trümmerliteratur,
Bauch eines schwangeren Mädchens, das jener kurzen Literaturepoche nach dem Zweiten
sich im Bach ertränkte. So weiß, so krank, Weltkrieg, die vom Zusammenbruch der Städte,
so rund. Nein, Herr Oberst, der Mond ist von zerstörten Familienstrukturen und den
weiß in diesen Nächten, wo die Toten Schrecknissen des Krieges geprägt war.
kommen, und ihr blutiges Gestöhn stinkt
scharf wie Katzendreck bis in den weißen Borchert schrieb „Draußen vor der Tür“ im
kranken runden Mond. Blut. Blut. Dann Januar 1947 in wenigen Tagen. Es wurde im
stehen sie auf aus den Massengräbern mit Februar 1947 als Hörspiel im Radio gebracht
und im November, einen Tag nach Borcherts
verrotteten Verbänden und blutigen Tod, als Bühnenstück uraufgeführt.
Uniformen. Dann tauchen sie auf aus den
Ozeanen, aus den Steppen und Strassen, riesig. Und das Brüllen wächst und rollt
aus den Wäldern kommen sie, aus Ruinen und wächst und rollt! Und das Brüllen wird
und Mooren, schwarz gefroren, grün, dann so groß, so erwürgend groß, dass ich
verwest. Aus der Steppe stehen sie auf, keine Luft mehr kriege. Und dann schreie
einäugig, zahnlos, einarmig, beinlos, mit ich, dann schreie ich los in der Nacht.
zerfetzten Gedärmen, ohne Dann muss ich schreien, so furchtbar,
Schädeldecken, ohne Hände, furchtbar schreien. Und davon werde ich
durchlöchert, stinkend, blind. Eine dann immer wach. Jede Nacht. Jede
furchtbare Flut kommen sie Nacht das Konzert auf dem
angeschwemmt, unübersehbar an Zahl, Knochenxylophon, und jede Nacht die
unübersehbar an Qual! Das furchtbare Sprechchöre, und jede Nacht der
unübersehbare Meer der Toten tritt über furchtbare Schrei. Und dann kann ich nicht
die Ufer seiner Gräber und wälzt sich breit, wieder einschlafen, weil ich doch die
breiig, bresthaft und blutig über die Welt. Verantwortung hatte. Ich hatte doch die
Und dann sagt der General mit den Verantwortung. Ja, ich hatte die
Blutstreifen zu mir: Unteroffizier Verantwortung. Und deswegen komme ich
Beckmann, Sie übernehmen die nun zu Ihnen, Herr Oberst, denn ich will
Verantwortung. Lassen Sie abzählen. Und endlich mal wieder schlafen. Ich will einmal
dann stehe ich da, vor den Millionen wieder schlafen. Deswegen komme ich zu
hohlgrinsender Skelette, vor den Ihnen, weil ich schlafen will, endlich mal
Fragmenten, den Knochentrümmern, mit wieder schlafen.
meiner Verantwortung, und lasse OBERST: Was wollen Sie denn von mir?
abzählen. Aber die Brüder zählen nicht. BECKMANN: Ich bringe sie Ihnen zurück.
Sie schlenkern furchtbar mit den Kiefern, OBERST: Wen?
aber sie zählen nicht. Der General befiehlt BECKMANN (beinah naiv): Die
fünfzig Kniebeugen. Die mürben Knochen Verantwortung.
knistern, die Lungen piepen, aber sie

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