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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97210-9
Juni 2015
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2009
Coverkonzeption: Büro Hamburg
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Kettenbrücke über die Donau mit Blick auf das Parlament (Hahn/Laif)
Karte: cartomedia, Karlsruhe
Litho: Lorenz & Zeller, Inning a. A.
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder
Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Verdreht und vertrackt.
Annäherung an ein eigensinniges Land

Erinnern Sie sich noch an Rubiks Würfel, das nervenaufreibende Geduldsspiel


aus den Achtzigerjahren? Man dreht und dreht und doch gelingt es nur selten,
die 26 Bausteine so anzuordnen, dass jede Seite eine einheitliche Farbe
bekommt. Wer Ungarn kennt, wundert sich nicht, dass ein Magyar, ein Ungar,
dieses tückische Objekt erfand, nämlich Erno Rubik, ein Ingenieur aus Budapest.
Wie der vertrackte Würfel ist nämlich auch das Land, aus dem sein Erfinder
stammt: facettenreich, beweglich und kaum je in eine beständige Ordnung zu
bringen.
Ungarn, darauf legt hier jeder Wert, befindet sich in der Mitte Europas. Der
Kulturhistoriker Claudio Magris spricht von »einem Land, über das
Invasionswellen verschiedenster Völker und Stämme hinweggegangen sind, die
sich dort gemischt und abgelagert haben, Hunnen und Awaren, Slawen und
Magyaren, Tataren und Kumanen, Jazygen und Petschenegen, Türken und
Deutsche«. Werfen Sie nur mal einen Blick auf die Klingelschilder in Budapests
Innenstadt. Im V. Bezirk beispielsweise, wo zweisprachige Inschriften auf den
Jugendstilfassaden an die Zeit des Habsburger Vielvölkerstaates erinnern, heißen
die Leute Török (Türke), Orosz (Russe), Németh (Deutscher), Tóth (Slowake),
Horváth (Kroate) oder Lengyel (Pole). Und natürlich auch Magyar. Bedenkt man
nun noch den Umstand, dass jeder dritte Ungar im Ausland lebt, kann einen die
Vielgestaltigkeit dieses Volkes nicht mehr verblüffen. »Da gibt es den
schwäbischen Urgroßvater, die rumänische Mutter, den serbischen Onkel, die
slowakischen Großeltern, die armenischen oder italienischen Vorfahren, die
Verwandten in Wien …«, wie ein deutscher Kollege, der nach Ungarn geheiratet
hat, einmal bemerkte.
In seiner mehr als tausendjährigen Geschichte hat das ungarische Volk
beständig um seine Identität gerungen. Verstärkt durch die im europäischen
Vergleich spät erfolgte Nationenbildung, bangte dieser im ›eigenen‹ Land bis
weit ins 19. Jahrhundert hinein minoritäre Stamm bei jedem neuen
Einwanderungsschub, bei jeder neuen Besatzung um seine Existenz. Abhängig
von den Kräftespielen größerer Mächte, sei es das Osmanische oder das
Habsburger Reich, Sowjetrussland oder Nazideutschland, wundert es nicht, dass
Schriftsteller die freiheitsliebenden Ungarn als das »einsamste« (Arthur
Koestler), das »verlassenste« (Sándor Petőfi) oder das »unglücklichste«
(Voltaire) Volk Europas bezeichneten.
Isoliert sind die Magyaren ohnehin durch ihre Sprache, die in Mitteleuropa
eine Sonderstellung einnimmt. Das Ungarische grenzt geografisch an
germanische, romanische und slawische Sprachen, ist jedoch mit keiner einzigen
davon verwandt. Und selbst die Finnen, die derselben Sprachfamilie angehören
wie die Ungarn, verstehen im Karpatenbecken kaum ein Wort. Keine
15 Millionen Sprecher beherrschen die magyar nyelv, das sind weniger
Menschen, als das Bundesland Nordrhein-Westfalen Einwohner hat. Wer nicht
gerade verliebt ist oder ein Dichter auf der Suche nach der Ursprache, wird wohl
auch davor zurückscheuen, Wörter wie das zugegebenermaßen selten
vorkommende legeslegmegvesztegethetetlenebbeknek, auf Deutsch: den
Allerunbestechlichsten, zu erlernen …
Niemand hat diese eigensinnige Nation besser charakterisiert als Friedrich
Naumann in seinem 1915 erschienenen Buch »Mitteleuropa«. Bis heute
zutreffend ist seine Bemerkung, Ungarn sei »auf altem Völkerwanderungsgrund
ein merkwürdig modernes Volk, anspruchsvoll, leistungsfähig, stolz, herrisch
und politisch, vor allem zäh in seinen nationalen Trieben«. Es ist genau diese
Mischung aus kulturgeschichtlichen Spuren, nationaler Entschlossenheit und
vibrierender Modernität, die Ungarn zu einem so außerordentlich spannenden
Land macht. Da gibt es Thermalbäder, Kaffee und Paprika, allesamt
Überbleibsel der türkischen Belagerung, neben Bauhaus-Künstlern,
Weltklassefotografen und modernen Literaten, die dem assimilierten, urbanen
Judentum entstammen. Wundern Sie sich nicht über junge Leute, die ihr
Zungenpiercing unbekümmert mit einer Kokarde in den Nationalfarben
Zungenpiercing unbekümmert mit einer Kokarde in den Nationalfarben
kombinieren. Ungarn ist ein widersprüchliches Land. Budapest, die Hauptstadt,
drückt das schon in ihrem Namen aus, denn die Zweimillionenmetropole besteht
aus ganz unterschiedlichen Hälften: dem hügeligen stillen Buda und dem flachen
quirligen Pest. Die beschauliche und die hektische Seite der Stadt werden
ausgerechnet durch etwas so Unsolides wie das Wasser zusammengehalten,
schlängelt sich doch die Donau mitten durch Budapest.
Ungarn ist kein Land der geraden Linien. Eine einfache Übung, an der ich seit
Jahren scheitere, wird auch Ihnen binnen weniger Minuten eine Ahnung von der
Mentalität der Magyaren vermitteln. Versuchen Sie einmal, so wie Sie es
vermutlich gewohnt sind, auf geradem Weg einen einigermaßen belebten Platz
zu überqueren. Klappt nicht! Plötzlich bleibt jemand vor Ihnen stehen, ein
anderer schert überraschend aus, Sie finden gerade noch Tritt, da müssen Sie
schon einem Blumenbukett ausweichen, das Ihnen zur Unzeit angeboten wird.
Näheempfinden und Rhythmus weichen hier auf unerfindliche Weise vom
eigenen ab. Fürs zielstrebige Voranschreiten ist Ungarn jedenfalls nicht
gemacht. Dafür sind die Frauen hier einfach zu schön, die Männer zu
erfinderisch, die Sommer zu heiß, die Winter zu grimmig, die Völker zu
durchmischt und die Ansichten zu extrem. Überhaupt ist es mit den Richtungen
in diesem Land, das den Linksverkehr erst 1938 abschaffte, so eine Sache. Nicht
nur, dass die Rechtspopulisten in Ungarn nach Verstaatlichung rufen, während
die Ex-Kommunisten durch Liberalismus auffallen. Bereits geografisch kann
man sich hier schnell vertun. In Budapest, beispielsweise, heißt der Bahnhof, der
im Nordosten der Stadt liegt und dessen Züge nach Norden und Osten fahren,
der Westbahnhof. Und wie heißt derjenige, dessen Züge nach Westen fahren?
Genau, der heißt Ostbahnhof. Dafür liegt der Südbahnhof dann auch im Westen.
Was jeder planerisch veranlagte Mensch in Ungarn rasch lernt, ist Flexibilität
und die Fähigkeit, unter den unmöglichsten Umständen eine Lösung zu finden.
Kiskapu, kleines Tor, heißt ein geläufiger Ausdruck für diese Gabe der
Geschmeidigkeit, das Talent, selbst in den verwickeltsten Situationen einen
Ausweg zu erkennen. Kann es ein Zufall sein, dass der legendäre
Entfesselungskünstler Harry Houdini, mit bürgerlichem Namen Erik Weisz, aus
Ungarn stammte? Auf jeden Fall ist etwas dran an dem hier nicht immer gerne
gehörten Diktum, ein Ungar komme, wenn er nach einem eine Drehtür betrete,
als Erster wieder heraus.
Gleichwohl ist es mit der Findigkeit der Magyaren ein zweischneidiges Ding.
Gleichwohl ist es mit der Findigkeit der Magyaren ein zweischneidiges Ding.
Wie menschenfreundlich und verblüffend funktionsfähig spontane Lösungen
sein können, habe ich beim Erstellen so manches Semesterplanes in Ungarn
erfahren. Wie unverbesserlich deutsch ich andererseits bin, zeigte sich mir
immer dann, wenn das ungarische Improvisationstalent in Wurstigkeit, Pfusch
und ergebnisloses Durcheinanderreden umschlug.
Unvergessen ist mir der Tag, an dem sich Hausmeister und Handwerker
überzeugt davon zeigten, dass die Decke meines Arbeitszimmers dicht sei,
obwohl vor ihnen jede Menge durchnässter Bücher auf einem von aufgelöstem
Tapetenkleister verklebten Schreibtisch lagen. Ratlos verließ ich die Wohnung –
und war froh, auf den glitschigen und vollkommen uneben verlegten Fliesen vor
der Eingangstür ausnahmsweise einmal Halt gefunden zu haben. Aber dies war
dennoch nicht mein Tag: Wie so oft in den letzten Jahren stand ich – in der
Bibliothek angekommen – während regulärer Öffnungszeiten vor verschlossenen
Türen, eine Situation, die ich schon von Museen und Textilreinigungen kannte.
Dieses Mal nannte man mir in ein und derselben Einrichtung nicht weniger als
vier verschiedene Öffnungszeiten. Zutreffend war dann eine fünfte …
Wenn Ihnen jetzt das sprichwörtliche Komme-gleich-zurück-Schild der
Italiener in den Sinn kommt, ist das vielleicht gar nicht so abwegig. Liegt etwa
ein tieferer Sinn darin, dass beider Länder Nationalfarben Rot, Weiß und Grün
sind, nur im einen Fall eben waagerecht und im anderen senkrecht sowie in
umgekehrter Reihenfolge angeordnet? Jedenfalls hatte auch Ungarn einmal
Zugang zum Mittelmeer, doch darauf komme ich später zu sprechen.

»Auf altem Völkerwanderungsgrund ein merkwürdig modernes Volk«. Das von


Friedrich Naumann herausgestellte Wechselspiel von Volkstradition und
Moderne kennzeichnet beispielsweise einen Bereich, in dem Ungarn es zur
Weltklasse gebracht hat: die Musik. Es waren der Komponist Béla Bartók und
der Musikpädagoge Zoltán Kodály, die seit 1906 ländliche Gegenden in
Mitteleuropa bereisten und dort alte Volkslieder sammelten. Bartók entriss
dieses Kulturgut dem Vergessen, unterschied es von bloß sentimentalen
Kunstliedern und hob den komplexen, multi-ethnischen Charakter der kaum auf
eine nationale Linie zu bringenden Musik hervor. Stimmen und Instrumente,
Rhythmen und Melodien fanden Eingang in sein eigenes modernes Schaffen.
Bartók verband zeitgemäße Kompositionstechniken mit versunkenem Liedgut,
Bartók verband zeitgemäße Kompositionstechniken mit versunkenem Liedgut,
archaische Substanz mit neuer Formsprache. Derselbe Mann, der den paganen
Traditionen seinen Respekt erwies, verabscheute den ungarischen Faschismus
und verließ 1940 sein Land. Er starb fünf Jahre später in New York.
Die Volksmusik erlebt seit den Siebzigerjahren durch die sogenannte táncház
(Tanzhaus)-Bewegung neuen Auftrieb. So erlangte die Gruppe »Muzsikás« mit
ihrer Sängerin Márta Sebestyén weltweite Bekanntheit. Diese Gruppe nahm
übrigens auch ein Bartók-Album auf.
Auf einer – wenn nicht musikalisch, so doch gedanklich – vergleichbaren
Linie liegen zeitgenössische Bands mit so phantastischen Namen wie »Korai
öröm«, »Amorf ördögök« und »Anima Sound System«, in deren Mixes neben
Volksliedern auch alte Schellackplatten aus der Habsburger Zeit, Populäres aus
den Sixties sowie elektronische Klänge Eingang finden. Bisweilen mischen sich
Balkan-Töne mit magyarischen Melodien, Asian Underground Beats mit
weltmusikalischen Momenten.
Während die sogenannten Zigeunerkapellen in den Touristenlokalen lediglich
zum Klischee geronnene Konfektion darbieten, pflegen einige hochkarätige
Roma-Musiker ihre ebenso vitale wie melancholische Musik auf beachtlichem
Niveau. Spannend wird es, wenn Elektroniker wie Yonderboi (bürgerlich László
Fogarasi) diese Lieder remixen oder eine Gruppe wie »Romano Drom«
zusammen mit den Spaßrockern von »Kistehén tánczenekar« einen Song
einspielt.
Fließend sind die Übergänge zum Jazz, wie das Album »Gypsy Colours« der
Lakatos-Familie mit Titeln wie »Bebop Csárdás« überzeugend belegt. Aus
Ungarn stammen vorzügliche Jazzmusiker, gerade auch der jüngsten Generation,
etwa der Session-Drummer Gergo Borlai, Jahrgang 1978, oder der kaum
zwanzigjährige, ganz erstaunliche Saxophonist Gábor Bolla.
Vielleicht ist das Niveau der Jazzmusiker hier auch deshalb so hoch, weil
viele von ihnen eine klassische Ausbildung, etwa am Bartók-Konservatorium
absolvierten. Denn bis heute stammen Weltklassemusiker aus Ungarn. Wer an
einem Sommertag vor der nach Franz Liszt benannten Musikakademie in
Budapest steht, die übrigens über einen wunderbaren Konzertsaal verfügt, kann
durch die geöffneten Fenster jungen Talenten beim Üben zuhören.

»Auf altem Völkerwanderungsgrund ein merkwürdig modernes Volk …«


Naumanns Diagnose endet mit der Bemerkung, der Stamm der Magyaren sei
»zäh in seinen nationalen Trieben«. Und tatsächlich: Nichts kennzeichnet dieses
Volk so sehr wie eine allen Niederlagen trotzende Unverwüstlichkeit, ein
beständiges Streben nach staatlicher und kultureller Eigenständigkeit. Die
Geschichte Ungarns ist eine Geschichte von Überleben und Selbstbehauptung –
so jedenfalls wird sie hier tradiert, prägt das Selbstbild der Magyaren und ihr für
Außenstehende bisweilen befremdlich intensives Nationalgefühl. Ein Blick auf
die Geschichte der Ungarn hilft, deren Empfindungen und die
Auseinandersetzungen der Gegenwart besser zu verstehen.
Verzichten wir darauf, die Vorgeschichte Ungarns als römische Provinz
Pannonien und die Raub- und Beutezüge der Magyaren, die bis ins Jahr 955
reichen, eingehender zu betrachten. Denn gerade im Karpatenraum, betonen
seriöse Historiker immer wieder, lässt sich bis ins zweite Jahrtausend hinein
»eine Grenze zwischen Geschichtsschreibung, historischen Stereotypen und
nationalen Mythen« (Paul Lendvai) kaum verbindlich ziehen. Merken wir uns
aber ein Schlüsseldatum: 896 erfolgte unter der Führung von Fürst Árpád die
sogenannte Landnahme (honfoglalás) der Magyaren. Dies ist zumindest das
Datum, auf das man sich 1000 Jahre später einigte, weil sich die Vorbereitungen
der für 1895 vorgesehenen Tausendjahrfeiern verzögerten und das »Millennium«
um ein Jahr nach hinten verlegt werden musste …
Um das Jahr 1000 herum gründeten die landnehmenden Reiternomaden ein
christliches Königreich. An seiner Spitze stand István (Stephan) I., der über
vierzig Jahre lang herrschte, die bayerische Fürstin Gisela heiratete und 1083
vom Papst heiliggesprochen wurde. Wie wichtig den christianisierten Ungarn
ihre Stammestradition gleichwohl blieb, zeigte sich im Jahr 1302, als die Bürger
von Buda in einem wohl einmaligen kirchengeschichtlichen Vorgang einen
Papst aus der römisch-katholischen Kirche exkommunizierten. Sie störten sich
daran, dass Bonifaz VIII. einen ihrer Ansicht nach falschen Thronfolger der
Árpáden-Dynastie unterstützte. Wie gesagt, Ungarn ist ein widersprüchliches
Land, und so trägt es, längst zur Republik geworden, bis heute König Stephans
Krone in seinem Wappen. Bei jenem Exemplar, das Sie im Parlament in
Budapest bestaunen dürfen, handelt es sich allerdings nicht um die
Originalkrone, die der historische Stephan getragen hat. Aber wer wollte hier
kleinlich sein, verstand sich das christliche Ungarn doch jahrhundertelang als
eine Art Bollwerk gegen die muslimische Welt. Der von Rom als Vormauer und
Schild der Christenheit bezeichneten Nation gelang unter János Hunyadi im Jahr
1456 ein legendärer Sieg über das Osmanische Reich. Papst Calixtus III.
verordnete zur Erinnerung daran die sogenannte »Türkenglocke«, ein
Mittagsläuten, das noch heute in den katholischen Landstrichen Mitteleuropas zu
hören ist.
Unter Hunyadis Sohn, König Mátyás I., genannt Corvinus (nach dem Raben
in seinem Wappen), und seiner italienischen Frau Beatrix entfaltete sich die
Renaissance auch in Ungarn. Umso krasser war der Schock, als die dilettantisch
geführte ungarische Armee am 26. August 1526 bei Mohács, einer kleinen Stadt
in der Nähe der Donau, von den Truppen Sultan Suleimans binnen anderthalb
Stunden vernichtend geschlagen wurde. Verwüstungen, Plünderungen,
Gefangennahmen und Belagerungen waren die Folge; die Ereignisse mündeten –
nach dem vorübergehenden Abzug der türkischen Truppen und darauf folgender
bürgerkriegsartiger Zerrüttung – 1541 in die Zeit der türkischen Besatzung, die
beinahe anderthalb Jahrhunderte andauerte und erst 1686 durch die
Vorherrschaft der Habsburger abgelöst wurde.
Zeugnisse der Türkenzeit lassen sich noch heute in Ungarn finden, etwa in
Eger (Erlau), wo man eines der am weitesten nördlich gelegenen Minarette
Europas bewundern kann. Besonders eindrücklich sind die Spuren der türkischen
Herrschaft in Pécs (Fünfkirchen): Bei der Belvárosi Templom, der
Innerstädtischen Pfarrkirche am Széchenyi tér, handelt es sich um ein
Gotteshaus, das ursprünglich eine gotische Kirche war, dann von den Türken in
eine Moschee umgebaut wurde und schließlich, nach deren Abzug, von den
Jesuiten erneut in eine katholische Kirche umgewandelt worden ist. Arabische
Inschriften finden sich in diesem Gebäude bis heute.
Der Wechsel von der osmanischen zur Habsburger Herrschaft bedeutete für
die Ungarn vor allem eins: weiterhin fremdbestimmt zu werden. Zuerst 1703 bis
1711 unter der Führung von Ferenc Rákóczi, dann 1848/49, angeführt von Lajos
Kossuth, führten die Ungarn Unabhängigkeitskriege. Beide Versuche, ihre
Souveränität wiederzuerlangen, waren erfolglos. Lange blieb das Land vom
Haus Habsburg und seinen Verbündeten, darunter Russland, bestimmt. Doch
schließlich, als die Habsburger bei Königgrätz gegen Bismarck verloren und sich
zwischen den Großmächten Deutschland und Russland neu positionieren
mussten, nutzten die klugen Politiker Ferenc Deák und Gyula Andrássy die
Gunst der Stunde und fädelten einen historischen Kompromiss zwischen Ungarn
und Österreich, den sogenannten »Ausgleich«, ein. Nicht zuletzt dank der Hilfe
der ungarnfreundlichen Kaiserin Elisabeth, genannt Sisi, kam es 1867 zur
kaiserlich und königlichen (k. u. k.) Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Fortan
teilte sich das Habsburgerreich in den kaiserlichen Teil Cisleithanien (diesseits
der Leitha), also Österreich, und den königlichen Teil Transleithanien (jenseits
der Leitha), also Ungarn. Während Kossuth, der Unabhängigkeitskämpfer, aus
dem Pariser Exil vom »Tod der Nation« sprach, nahm man den Ausgleich in
Österreich und im Ausland als Sieg der Ungarn wahr. Umstritten doch griffig ist
die Formel des französischen Historikers Louis Eisenmann, der Ausgleich
bedeute »Parität der Rechte, zwei Drittel der Kosten für Österreich, drei Viertel
des Einflusses für Ungarn«. Tatsächlich betrug der Anteil der Magyaren an der
Gesamtbevölkerung Transleithaniens zunächst weniger als die Hälfte; die
forcierte Assimilation anderer Nationalitäten auf dem Staatsgebiet war die
Kehrseite des ungarischen Sieges. Andererseits muss betont werden, dass das
1868 verabschiedete Nationalitätengesetz den Juden die vollen
staatsbürgerlichen Rechte gab und ethnischen Minderheiten Schutz und
kulturelle Freiheit zusicherte. Vor allem die durchaus beispiellose Toleranz
gegenüber den assimilationsbereiten Juden führte zu einer Symbiose, von der
Wilhelm Droste zu Recht schrieb, sie sei »eine der produktivsten und
glücklichsten in der Geschichte des über die ganze Welt zerstreuten Volkes der
Juden überhaupt. Als hätten sich zwei immer wieder als Fremdlinge geltende
Völker glücklich gefunden.« Doch dieser Eindruck trog, und den Juden wurde
ihre Magyarisierungs-Bereitschaft am Ende nicht gedankt. Bevor ich aber auf
diesen so fatalen Rückschlag näher eingehe, wollen wir innehalten und eine
Zeitspanne würdigen, die als das »Goldene Zeitalter« in die Geschichte Ungarns
einging: Die Periode zwischen dem Ausgleich und dem Ersten Weltkrieg.
Während sich der träge und verschwenderisch lebende ungarische (Land-
)Adel zu fein war, kaufmännische und intellektuelle Berufe zu ergreifen, nutzten
viele Juden, deren Assimilation übrigens schon vor dem Ausgleich begonnen
hatte, ihre Chance und trugen zu einem längst überfälligen
Modernisierungsschub maßgeblich bei. Eine Fülle infrastruktureller und
kultureller Fortschritte brachte das Land mit erstaunlicher Geschwindigkeit
voran. Was das zumal für die Hauptstadt bedeutete, werde ich im Laufe dieses
Buches immer wieder ausführen. An dieser Stelle mögen ein paar Hinweise
genügen: Budapest war damals nach Chicago die am zweitschnellsten
wachsende Stadt der Welt, hatte um die Jahrhundertwende die größte Börse
Europas sowie die erste Untergrundbahn auf dem Kontinent und profitierte von
einer Vielzahl stadtplanerischer Meisterleistungen. Hinzu kam die von John
Lukacs so genannte »Generation von 1900«, eine Gruppe urbaner und
kosmopolitischer Intellektueller, die scharf und schnell dachte, pointiert
formulierte und die sage und schreibe 600 Kaffeehäuser der Stadt bevölkerte.
Ein erstklassiges Bildungssystem traf auf eine liberale, inspirierende
Atmosphäre und brachte eine Fülle von Talenten in allen nur erdenklichen
Bereichen hervor. Besonders bemerkenswert erscheint im Rückblick, dass dieser
Abschnitt der ungarischen Geschichte – bei aller notwendigen Nuancierung –
von Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft geprägt war und der so typische
Pessimismus der Magyaren hinter einem starken Appetit aufs Leben zurücktrat.
Aber es ist nicht nur in Ungarn schwer, das richtige Maß zu finden, vor allem
jedoch: es zu halten, und so zerfiel im Gefolge des verlorenen Ersten
Weltkrieges »Kakanien«, die Doppelmonarchie. So großartig die Leistungen
dieses Gebildes waren, die »doppelte Existenzangst vor Wien und vor den
zahlenmäßig so starken Nationalitäten« war »die Kehrseite einer von der
nationalen Romantik genährten Machtpsychose«, wie Paul Lendvai rückblickend
urteilt. Im Jahr 1918 erfolgte die Ausrufung der Republik Ungarn, einer
Republik, die instabilen Zeiten entgegensah.
Zu verworren waren die Ereignisse jener Jahre, als dass sie hier
zusammengefasst werden könnten. An dieser Stelle möge der Hinweis darauf
genügen, dass eine »durch nationale Erniedrigung, soziale Verelendung und
grenzenlose Demagogie aufgepeitschte Stimmung« (Lendvai) 1919 zunächst
zum »roten Terror« der nur 133 Tage währenden Räterepublik unter Béla Kun,
1920 zum »weißen Terror« der darauf folgenden rechten Herrschaft führte. Das
Ende der Räterepublik brachte übrigens die Emigration einer ganzen Generation
von Künstlern und Intellektuellen mit sich und sorgte unter anderem dafür, dass
in den Zwanzigerjahren – anders als im Rest der Welt – in Ungarn so gut wie
keine nennenswerte Filmproduktion stattfand.
Das entscheidende und Ungarn bis heute bestimmende Ereignis jener Jahre
war jedoch ein außenpolitisches: Durch den Friedensvertrag von Trianon, der
war jedoch ein außenpolitisches: Durch den Friedensvertrag von Trianon, der
seinen Namen nach jenem Lustschloss von Versailles trägt, in dem er 1920
unterzeichnet wurde, verlor Ungarn zwei Drittel seines Territoriums, die Hälfte
seiner Bevölkerung und alle wichtigen Städte außer Budapest. Hinzu kam der
Verlust des Zugangs zum Mittelmeer, über den das Land mit der Stadt Fiume,
heute Rijeka in Kroatien, verfügte. Weitere demütigende Auflagen
vervollständigten dieses wohl größte nationale Trauma in der Geschichte des
modernen Ungarn.
Das historische Königreich umfasste 360 000 Quadratkilometer; seit Trianon
ist das Land mit 93 000 Quadratkilometern nicht viel größer als Bayern.
Außenpolitisch ein klares Unrecht, erwies sich Trianon innenpolitisch als
erhebliches Demokratisierungshindernis und Nährboden autoritärer Kräfte.
Admiral Miklós Horthy, seit 1920 Reichsverweser, führte einen zwischen altem
Konservatismus und neuem Radikalismus schwankenden Kurs.
Bis heute sorgt das Problem der ungarischen Minderheiten in den
angrenzenden Nationen für Unruhe, greifen doch schützende EU-Richtlinien
etwa in Rumänien noch lange nicht so, wie es geboten wäre. Zu den wenigen
positiven Folgen dieser Ereignisse gehörte die Gründung der ungarischen
Kulturinstitute im Ausland, beispielsweise des bis heute regen Collegium
Hungaricum in Berlin.
Es war der kluge konservative Erziehungsminister Kúnó Klebelsberg, der den
Gedanken, verlorene geopolitische Größe durch kulturelle Präsenz zu
kompensieren, in die Tat umsetzte, übrigens auch durch Auslandsstipendien für
ungarische Künstler. Überhaupt überrascht es, dass in der Horthy-Zeit das
weiterhin zu einem erheblichen Teil von der jüdischen Bevölkerung getragene
geistige und kulturelle Leben wieder zu blühen begann. Historiker sprechen von
einem »Silbernen Zeitalter«, in dem zum Beispiel viele moderne, vom Bauhaus
geprägte Gebäude in Ungarn entstanden. Doch »je mehr sich die Juden
magyarisierten und zugleich verwestlichten, desto mehr Neid, Abneigung und
letztlich Hass schlug ihnen entgegen«, wie Lendvai resümiert. Liberale und
Linke jüdischer Herkunft sollten als Sündenböcke für die nationale Krise
herhalten und Platz für ethnische Ungarn aus den abgetretenen Gebieten
machen. Die Fixierung der Politik auf die Wiederherstellung der alten Grenzen
führte zu einer schrittweisen Annäherung Ungarns an Hitler-Deutschland, was
dem Land zwar vorübergehend Territorialgewinne einbrachte, seine
Abhängigkeit vom Dritten Reich jedoch immer mehr vergrößerte und schließlich
Abhängigkeit vom Dritten Reich jedoch immer mehr vergrößerte und schließlich
darin mündete, dass Ungarn auf deutscher Seite in den Zweiten Weltkrieg
eintrat. Als Horthy zu taktieren begann und mit den Westalliierten Kontakt
aufnahm, besetzte Deutschland im März 1944 das Land. Fortan herrschten in
Ungarn Faschisten. »Nirgends in Mittel- und Osteuropa«, schreibt Lendvai,
konnten die Juden »so lange in relativer Sicherheit leben wie in Ungarn.
Nirgends in Mittel- und Osteuropa wurden die Juden aber so schnell und so
brutal in den Tod geführt wie in Ungarn.«
Bereits 1920 erschwerte das sogenannte Numerus-clausus-Gesetz ungarischen
Juden den Zugang zu den Hochschulen. Zunächst jedoch war dieses Gesetz,
wiewohl eines der ersten antisemitischen im Europa des 20. Jahrhunderts, nur
die eine Seite einer durchaus ambivalenten Politik. Denn Juden nahmen
weiterhin am öffentlichen Leben Ungarns teil. Um ein Beispiel zu nennen: Von
den sechzehn Medaillen, die Ungarn bei den Olympischen Spielen in Berlin
1936 gewann, erkämpften jüdische Sportler sechs. Hitler musste mit ansehen,
wie der jüdisch-ungarische Ringer Károly Kárpáti seinen deutschen
Konkurrenten im Finale besiegte. Doch schon zwei Jahre später galten in Ungarn
– von den christlichen Kirchen begrüßt – diskriminierende Gesetze nach
Nürnberger Vorbild, die bis 1942 immer wieder verschärft wurden. Zuerst ihrer
Rechte, dann ihres Besitzes, schließlich ihrer Freiheit beraubt, gehörte eine
entwürdigende Behandlung mehr und mehr zum Alltag der ungarischen Juden,
denen das Land doch seinen beispiellosen Aufstieg um die Jahrhundertwende zu
einem erheblichen Anteil verdankte.
Aber erst seit dem 19. März 1944, dem Tag des deutschen Einmarsches,
musste die Mehrheit der ungarischen Juden um ihr Leben bangen. Die Shoah
kam spät nach Ungarn, wurde aber nirgends so schnell durchgezogen wie hier –
und zwar im Gegensatz zu Polen und Tschechien unter tatkräftiger Mitwirkung
des ungarischen Staates. Zwischen dem 15. Mai und dem 9. Juli 1944 wurden
437 000 Juden aus den ländlichen Gebieten Ungarns deportiert – ein selbst
innerhalb des Holocausts beispielloser Vorgang. Insgesamt etwa 600 000
Menschen, also jedes zehnte Opfer der nationalsozialistischen Judenvernichtung,
ist ungarischer Herkunft. Dabei war wohl in keinem Land Europas die
Anwendung rassistischer Reinheitskriterien absurder als im ethnisch so
vermischten, »auf altem Völkerwanderungsgrund« gelegenen Ungarn. Selbst
Ferenc Szálasi, der »Führer« der im Herbst 1944 von den deutschen Besatzern
an die Macht gebrachten »Pfeilkreuzler«, einer faschistischen Gruppierung, hatte
armenische, slowakische und deutsche Vorfahren.
Ambivalent blieb bis zuletzt die Rolle des Reichsverwesers Horthy: Einerseits
ist seinem Einschreiten das Überleben vieler Budapester Juden zu verdanken;
andererseits übergab die Horthy-Regierung bereits vor der deutschen Besatzung,
im Sommer 1941, der SS zwischen sechzehn- und achtzehntausend Budapester
Juden, die keinen ungarischen Pass vorweisen konnten. Sie wurden alle
erschossen. An der Donau in Budapest erinnern heute aus Metall gegossene
Schuhe daran, dass die Pfeilkreuzler jüdische Bürger zur Donau trieben, sie dort
erschossen und in den Fluss warfen. In der Páva utca befindet sich eine
architektonisch wie auch museumspädagogisch (weitgehend) überzeugende
Gedenkstätte, zu der eine atemberaubend schöne, sorgfältig sanierte Synagoge
gehört, die dort 1923 nach Plänen von Lipót Baumhorn gebaut worden war. Der
in Weiß, Hellblau und Blattgold gehaltene Raum besticht durch perfekte
Proportionen und dezente Verzierungen. Baumhorn war übrigens ein
einzigartiger Synagogenbaumeister, dessen Werk eine Reise in viele ungarische
Städte lohnt. In Szeged etwa befindet sich sein 1904 errichtetes Hauptwerk,
dessen eigenwillige Pflanzenornamentik zusammen mit dem herrlich wild
wuchernden Park, der sie umgibt, die Friedlichkeit eines wunderbaren Gartens
ausstrahlt. Mehr aber als alle Restaurierungen sagt eine kleine Begegnung etwas
darüber aus, dass Juden im heutigen Ungarn, trotz wiedererwachtem
Antisemitismus, ein annehmbares Zuhause gefunden haben: In seiner
Pförtnerloge neben der Sicherheitskontrolle der Budapester Gedenkstätte sitzt
ein freundlicher Herr, der sich, während er auf die Besucher wartet, die Zeit mit
Gitarrespielen vertreibt und seinem Instrument so schmerzliche wie tröstende
Töne entlockt. Ein paar Takte spielt er noch, dann kommt er raus, lächelt und
winkt den Gast durch die Kontrolle …
Die Deutschen hinterließen eine zerstörte Hauptstadt, die Rote Armee
marschierte ein. Wieder war Ungarn von einer fremden Macht besetzt. Und
wieder erwies sich dieses Volk als freiheitsliebend und »zäh in seinen nationalen
Trieben«. Nach bleiernen Jahren stalinistischer Unterdrückung begann am
23. Oktober 1956 mit einer Studentendemonstration, was sich innerhalb weniger
Tage zu einem landesweiten Aufstand gegen das von Moskau gestützte Regime
entwickeln sollte. Ministerpräsident Imre Nagy leitete Reformen ein und bildete
eine Mehrparteienregierung. Zunächst schienen sich die sowjetischen Truppen
zurückzuziehen und das kleine Land gewähren zu lassen. Doch als Ungarn aus
dem Warschauer Pakt austrat und nach österreichischem Vorbild seine
Neutralität erklärte, walzten die übermächtigen sowjetischen Panzer alle Träume
nieder. An einem nasskalten Sonntag im November erfolgte der Generalangriff
der gegnerischen Truppen und beendete, nach heftigen Straßenkämpfen, »diesen
plötzlichen Aufstand eines ganzen Volkes für die Freiheit und nichts sonst«
(Hannah Arendt).
Ötvenhat, 56, das waren dreizehn überschwängliche, bange Tage, in denen
Ungarn die Sympathie und Bewunderung der Welt erwarb, aber auf militärische
Unterstützung des Westens, aller Hoffnung nährenden Rhetorik zum Trotz,
vergebens wartete. Erneut fühlten sich die Magyaren im Stich gelassen. Wer
wissen will, was damals mitten in Europa geschah, betrachte die
Dokumentaraufnahmen des Magnum-Fotografen Erich Lessing oder lese Imre
Kertész’ Erzählung »Die Englische Flagge« (Az angol lobogó). Eindringlicher
als jedes Geschichtsbuch vergegenwärtigen sie eine Zeit, in der »ein jeder
jederzeit in einem schwarzen Auto weggebracht werden konnte« (Kertész), aber
für die Dauer eines historischen Atemzugs die Dinge eine andere Wendung zu
nehmen schienen. 180 000 Ungarn emigrierten nach Österreich; andere flohen
nach Übersee. Doch derselbe János Kádár, der Imre Nagy als Ministerpräsident
folgte und für die Repressionen nach dem Aufstand verantwortlich war, begann
Anfang der Sechzigerjahre – Ungarn ist ein widersprüchliches Land – den
strikten Kurs der Partei mehr als in allen anderen Ländern des Ostblocks zu
lockern. Der »Gulaschkommunismus«, eine Politik »der behutsamen Reformen
im Rahmen des Machtmonopols« (Lendvai), wurde erfunden und brachte den
Magyaren moderaten Wohlstand und scheibchenweise Freiheit. Ungarn
wandelte sich zur »fröhlichsten Baracke im östlichen Lager« und zu einem
beliebten Treffpunkt von Ost und West hinter dem Eisernen Vorhang.
Aus jener Zeit stammt ein Visum in meinem alten grünen Reisepass,
ausgestellt von der Volksrepublik Ungarn. Heute wird – Schengen sei Dank –
nach der Landung aus Berlin nicht einmal mehr der Ausweis kontrolliert. Doch
bevor es so weit kam, eroberten die Ungarn durch ihr couragiertes,
freiheitsliebendes Verhalten erneut die Herzen der Welt. Am 2. Mai 1989 begann
das Land nämlich mit dem Abbau der Grenzüberwachungsanlagen nach Westen;
wenige Wochen später durchtrennte Außenminister Gyula Horn zusammen mit
seinem österreichischen Kollegen Alois Mock symbolisch den Stacheldraht. Und
am 19. August 1989 fand an der ungarisch-österreichischen Grenze nahe Sopron
das sogenannte »Paneuropäische Picknick« unter der Schirmherrschaft Otto von
Habsburgs (des ›letzten Habsburgers‹, der einmal auf die Frage, ob er sich das
Fußballspiel Österreich-Ungarn anschauen werde, geantwortet haben soll: »Und
gegen wen spielen wir?«) und des ungarischen Ministers Imre Pozsgay statt, bei
dem das Grenztor kurzfristig geöffnet wurde und 661 DDR-Bürger in den
Westen flohen. Die endgültige Öffnung der ungarischen Westgrenze erfolgte
wenig später. Der Rest ist Geschichte.
In der Auseinandersetzung mit gegnerischen Stämmen und fremden Nationen,
während der anderthalb Jahrhunderte andauernden Türkenbesatzung, durch die
verlorenen Unabhängigkeitskriege gegen die Habsburger, mit der Zerstörung des
historischen Ungarn durch das Diktat von Trianon, während der
kommunistischen Herrschaft, bei der Niederschlagung des Aufstandes 1956:
Stets schärfte das ungarische Volk seine Identität in der Negation. Erst seit der
unblutig und vergleichsweise unspektakulär vollzogenen Wende, erst seit das
Land Teil der westlichen Staatengemeinschaft, Mitglied der NATO und seit Mai
2004 auch Vollmitglied der EU ist, kurzum: Erst heute scheint sich eine Art von
politischer Normalität einstellen zu können. Doch trotz völkerrechtlicher
Einbindung und rechtsstaatlicher Verfassung ist Ungarn nicht mehr das gut
gelaunte, verschmitzte Musterland, das Sie vermutlich erwarten. Wer nicht will,
wird davon zwar als Reisender kaum etwas bemerken, doch diesem Land kommt
der Konsens leider mehr und mehr abhanden. Kaum schweißt die Magyaren kein
gemeinsamer Gegner mehr zusammen, verschleißen sie ihre Energien in
gesellschaftlichen Grabenkämpfen. Ungarn ist heute ein tief zerstrittenes Land.
Während ich diese Zeilen schreibe, reden Regierung und Opposition schon lange
kein Wort mehr miteinander, schon gar nicht im Parlament. Nichts ist hier
undenkbarer als eine Große Koalition; zugleich kommen vermittelnde Kräfte
kaum auf nennenswerte Wahlergebnisse. Nationale Feiertage werden getrennt
begangen. Im Alltag meidet man das politische Gespräch, um Gereiztheiten aus
dem Weg zu gehen. Vertrauen, Verantwortungsbereitschaft und zivile Kultur
schwinden.
»Wir begreifen nicht recht«, bemerkt der Schriftsteller Péter Esterházy, »dass
»Wir begreifen nicht recht«, bemerkt der Schriftsteller Péter Esterházy, »dass
wir frei sind, dass es niemanden gibt, dem man etwas in die Schuhe schieben
kann.« Der schwierige Umgang mit ihrer so lange erkämpften und nun endlich
errungenen Freiheit dürfte die Ungarn noch lange beschäftigen. Vermutlich
bedarf es dazu einer weitreichenden Umstellung ihres bisherigen
Selbstverständnisses: »Wenn sie einen Gegner haben«, bemerkt Wilhelm Droste,
»dann sind die Ungarn großartig, aber wenn es um einen Integrationsprozess in
die Selbstverständlichkeit der Modernisierung geht, der eigentlich mit dem
Datum 2004 offiziell besiegelt ist, wenn sie sich dann ganz langweilig der Welt
anpassen müssen, dann sind die Ungarn meines Erachtens keine großen Meister
der Identität«.
Zur Einübung in die Freiheit gehört auch eine unbefangene
Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Leser aus Deutschland und
Österreich wissen, wie viele Jahrzehnte vergehen können, bis dies auch nur
einigermaßen gelingt. Einer gebeutelten Nation wie der ungarischen freilich fällt
es besonders schwer, anzuerkennen, dass die eigene Geschichte nicht immer
Anlass zum Stolz bietet und dass Selbstkritik Ausdruck eines wohlverstandenen
Patriotismus und wahrer Souveränität sein kann. Einstweilen dominieren rechte
Opferposen und linkes Vergessen. So sieht sich der angesehene Historiker
Krisztián Ungváry immer wieder mit durchaus erfolgreichen
Verleumdungsklagen konfrontiert, weil er Spitzel und Mitarbeiter des Kádár-
Regimes beim Namen nennt. Unter den Klägern fand sich beispielsweise ein
Richter, der seine Klage tatsächlich damit begründete, Ungváry habe durch die
Veröffentlichung seiner Vergangenheit seine mögliche Karriere als
Verfassungsrichter verhindert.
Als Budapest-Besucher werden Sie auch mit einer anderen Art der
Vergangenheitsbewältigung konfrontiert, nämlich dem »Haus des Terrors« in
der Andrássy út. Von vielen Reiseführern empfohlen, ist dieses Museum ein
echter Publikumsmagnet – bedauerlicherweise, wie ich meine. Das Gebäude
diente sowohl den Pfeilkreuzler-Faschisten als auch der stalinistischen
Staatspolizei als Folterkeller, doch die Ausstellung akzentuiert einseitig
Letzteres. An die Stelle seriöser Museumsarbeit treten multimediale
Suggestionen, deren Überwältigungsästhetik der abgelehnten Propaganda nicht
unähnlich ist. Ein Terror-Disney, das Gefühle und Deutungen vorgibt, anstatt zu
eigenem Empfinden und differenziertem Urteilen einzuladen. So wurde eine
Chance zur Nachdenklichkeit und zu stillem Gedenken vertan, leider.
Chance zur Nachdenklichkeit und zu stillem Gedenken vertan, leider.
Ich möchte Sie nicht übermäßig mit Unerfreulichem belästigen, doch eines
muss diesem Abschnitt noch hinzugefügt werden, denn es wird Ihnen mit hoher
Wahrscheinlichkeit im Laufe Ihrer Reise begegnen. Ich spreche von nationalen
Symbolen und meine damit keineswegs die ganz gewöhnliche ungarische
Flagge, die hier noch am baufälligsten Gebäude hängt. Ich spreche vielmehr
davon, dass Ihnen in diesem Land selbst in Kurorten T-Shirts mit
revisionistischen Großungarnkarten aufgedrängt werden, die für einen
erwachsenen Europäer kaum als Souvenir taugen. Vor allem aber spreche ich
davon, dass – vor einigen Jahren noch tabu – auf den Straßen Ungarns immer
häufiger die Flagge der »Pfeilkreuzler«, die rot-weiße Árpád-Fahne, geschwenkt
wird, also das Symbol derjenigen, die den Völkermord der Nazis in Ungarn
vorantrieben.
Rechtsextreme Gruppen wie die »Magyar Gárda«, die das Gewaltmonopol des
Staates missachtet und Minderheiten einschüchtert, oder die antisemitische
Partei »Jobbik«, mit der die größte Volkspartei »Fidesz« vielerorts kooperiert,
gehören zu den hässlichen und beunruhigenderweise immer gleichgültiger
hingenommenen Ausprägungen des bis heute nicht ausgeglichenen Verhältnisses
der Ungarn zu ihrer nationalen Identität.
Péter Esterházy, der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels,
empfiehlt Einsicht: »Wir sind nicht groß. Wir sind klein. Das ist keine
Selbstverachtung, nicht einmal eine Selbstkritik, nein, es ist einfach so. Wir sind
ein kleines, phantastisches und bedeutungsloses Land.« Aber von Esterházys
Unaufgeregtheit ist Ungarn weiter denn je entfernt. Hausgemachte Komplexe,
postsozialistische Belastungsstörungen und der raue Wind einer ungeschützt
eingebrochenen Globalisierung – all das verhindert größere Gelassenheit. Land
und Leute sind überschuldet, zugleich anspruchsvoll und reformmüde. Es geht
um gekränkten Stolz, um Staatsgläubigkeit bei gleichzeitigem Misstrauen
gegenüber Institutionen, um fehlende Maßstäbe und antiquierte Frontverläufe. In
seiner Überspanntheit hat sich der politische Streit, dessen kulturkämpferische
Reintönigkeit das Land immer tiefer zerreißt, längst verselbstständigt.
Wie kann diese Spirale durchbrochen werden? Nach immerhin acht
politischen Systemwechseln allein im 20. Jahrhundert fehlt es den Ungarn
schlicht und einfach an Vertrauen, selbst in ein im Grunde genommen
zustimmenswertes Gemeinwesen. Steuerunehrlichkeit ist gängige Praxis,
Geschäftsleute reden offen über Korruption und beispielsweise im
Gesundheitswesen gehört es zu den Üblichkeiten, mit Ärzten am Kassensystem
vorbei ein sogenanntes »Dankesgeld« (hálapénz) auszuhandeln. Allgemein
anerkannte, integre Vorbildfiguren wie der erste Nachwendepräsident Árpád
Göncz fehlen heute oder werden von Lagerstandpunkten aus beurteilt; sogar der
Anteil der »nach den Maßstäben der europäischen Staatengemeinschaft
respektablen Kräfte in der ungarischen Politik« schrumpft, wie die »Frankfurter
Allgemeine Zeitung«, um Ungarns Ansehen in der Welt besorgt, kürzlich
schrieb. Überraschend bot sich im Mai 2006 die Chance zu einem Neuanfang.
Bei einer Klausurtagung vor Abgeordneten seiner Partei hielt der gerade
wiedergewählte Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány eine Rede, die ihm ohne
Frage einen Platz in der Geschichte der politischen Rhetorik sichert. 25 frei
gesprochene Minuten lang gestand er ein, die Wähler über die wahre
Haushaltslage getäuscht, ja, es in der vorherigen Legislaturperiode »morgens,
abends und nachts verschissen« zu haben. Mit einer für das Ungarische nicht
untypischen derben Wortwahl sprach der Ministerpräsident – Sie können sich
vorstellen, wie nationalistische Gemüter darauf reagierten – von seinem Land als
kurva ország, Hurenland. Der als »Lügenrede« bekannt gewordene, nicht nur in
Ungarn politikuntypische Ehrlichkeitsausbruch geriet dank einer Tonaufnahme
an die Öffentlichkeit, und Gyurcsánys grobe Worte gaben zu feinen Exegesen
ebenso Anlass wie zu wochenlangen Großdemonstrationen und nächtlichen
Krawallen. Wer weiß, hätte der Ministerpräsident seine Rede nicht erst nach der
Wahl und von vornherein öffentlich gehalten, vielleicht hätte sie einen Neustart
ermöglicht. So jedoch verschärfte sie die innenpolitische Polarisierung, bei der
sich die Parteien einmal mehr wechselseitig Anlass zur Verdammung gaben, und
durch die Weltpresse gingen Bilder von einem gestürmten Fernsehsender und
brennenden Autos.
Viele, vermutlich die meisten Ungarn sind mittlerweile angeödet vom ewigen
Gezänk. Und wissen, dass sich Ungarn nicht in politischen Reibereien erschöpft.
Das Leben bahnt sich auch losgelöst davon seine Wege, zumal in der Wirtschaft.
Gewiss, man könnte auch hier klagen: über das Stadt-Land-Gefälle, soziale
Ungleichheit, Altersarmut und das immer wieder nach hinten verschobene
Einführungsdatum des Euro. Weiterhin wird in Forint gezahlt, einer Währung,
die allein in den vergangenen Jahren so sehr an Wert verloren hat, dass die Ein-
die allein in den vergangenen Jahren so sehr an Wert verloren hat, dass die Ein-
und Zwei-Forint-Münzen aus dem Verkehr gezogen wurden, da ihr
Herstellungspreis den Nominalwert überstieg.
Ausländische Investoren wie »Audi Hungaria« erwirtschaften in Ungarn die
Hälfte des Bruttoinlandsproduktes. Dass diese Firmen gut ausgebildete,
vernünftige Facharbeiter nationalistischen Parolen vorziehen, kann man sich
denken. Auf der anderen Seite sollte nicht übersehen werden, dass – nicht zuletzt
durch die ausländischen Arbeitgeber – eine ungarische Mittelschicht im Werden
ist, die durchaus konsolidierend auf das Land wirkt. Die Zeit des wildesten
Nachwendekapitalismus ist jedenfalls vorbei, erzählt mir ein Geschäftsmann, der
sich noch daran erinnert, wie sich in Budapest Mitte der Neunzigerjahre
rivalisierende Mafiagruppen auf offener Straße Schießereien lieferten.
Unterdessen seien die größten Kuchenstücke verteilt, und die Arbeit am guten
Ruf und guten Geschmack habe begonnen.
Dies ist die Stunde der Dienstleister: Weinhändler versuchen Trockenes,
Gastronomen Internationales und Galeristen Geschmackvolles unter die Leute zu
bringen. Wer hingegen die letzte sichtbare Bastion des wilden Kapitalismus
erleben will, steige in Budapest in die Tram 28 und fahre bis zur Kobányai út.
Dort befindet sich auf einem alten Rangierbahnhof, begrenzt durch eine endlose
Containerwand, errichtet aus Blech und Wellplastik, der Józsefvárosi kínai piac,
der Chinesenmarkt. Glaubt man der »Financial Times«, handelt es sich bei
diesem überraschend ungeschäftig wirkenden, der Größe von 30 Fußballfeldern
entsprechenden Markt um den größten Umschlagplatz für Markenplagiate in
Europa. Überzeugen Sie sich selbst: Von Zeit zu Zeit fahren teure Autos mit
dunkel getönten Scheiben vor, und hier und da schreitet die Zollfahndung ein,
während die umliegenden Händler ihre Ware eilig in schwarzen Plastiksäcken
verschwinden lassen …
Ungarn ist ein widersprüchliches Land. Mitten in Europa gelegen, sucht es
seine Mitte. Dieses Zehnmillionenvolk neigt dazu, ständig über sich selbst
nachzugrübeln, wie der Schriftsteller László Márton einmal bemerkte. Dabei
schlägt das Pendel zwischen Selbstüberschätzung, Selbstmitleid und
Minderwertigkeitskomplexen heftig hin und her. Während manche jeden
westlichen Tand blindlings begehren, pflegen andere eine bald possenhafte, bald
ungemütliche Provinzialität. Aber genauso finden sich noch immer so
sympathische Eigenschaften wie eine hinreißend umständliche Höflichkeit,
alteuropäische Melancholie und verschmitzter Humor. Wie unausgewogen doch
alteuropäische Melancholie und verschmitzter Humor. Wie unausgewogen doch
die Mischung derzeit ist: Heruntergeschluckte Empfindlichkeit paart sich mit
einer beinahe kindlichen Freude, wenn Außenstehende ehrliches Interesse
zeigen. So dankbar, wenn jemand Offensichtliches lobt, so pessimistisch, wenn
einer Chancen anspricht, vergleichen sich die Ungarn andauernd mit dem
(vermeintlich) Besseren, finden immer ein Aber, jammern, machen weiter,
vertun ihre Chancen im entscheidenden Augenblick und sind nicht selten auf das
Falsche stolz. Ich gebe es zu: Dieses Buch ist auch aus dem Impuls heraus
entstanden, meinen ewig klagenden Gastgebern zu beweisen, wie viel ihr Land
zu bieten hat. Wie sehr wünscht man den Ungarn bessere Laune, Zutrauen und
vor allem: Abstand zu sich selbst.
Der geradezu sprichwörtliche Pessimismus der Magyaren, dem der
Sozialpsychologe György Csepeli ein ganzes Forscherleben widmet, scheint
immerhin ein wenig auf dem Rückzug zu sein, schenkt man kleinen Indizien
Glauben. So wurde bis vor Kurzem in der Budapester U-Bahn nicht etwa
angezeigt, wie lange es noch bis zum Eintreffen des nächsten Zuges dauert,
sondern es wurden die Minuten gezählt, die seit dem Abfahren des letzten Zuges
verflossen waren. Auf diese Weise konnte man dem Vergangenen nachjammern
anstatt – wie neuerdings – nach vorne zu blicken.
Auch Selbstmordweltmeister sind die Ungarn nicht mehr, und wenigstens
diesen Verlust wird hier wohl niemand betrauern. Im Kaffeehaus hört man
gleichwohl gelegentlich ein Lied, das Rezso Seress, ein auf zwei Fingern
spielender Kaschemmenpianist, im Jahr 1932, angeblich im Kispipa oder im
Kulacs, zwei gleichermaßen vernachlässigenswerten Pester Lokalen,
geschrieben hat. »Szomorú vasárnap« (Trauriger Sonntag) hatte der Legende
nach dieselbe Wirkung wie anderthalb Jahrhunderte zuvor Goethes »Werther«:
reihenweise Selbsttötungen. Interpretationen der eingängigen Melodie reichen
von Billie Holiday über das Kronos Quartett bis zur isländischen Sängerin Björk.
Der deutsche Film »Gloomy Sunday. Ein Lied von Liebe und Tod« (2001), in
dem der beneidenswerte Joachim Król mit der attraktiven ungarischen
Schauspielerin Erika Marozsán in eine Badewanne steigen darf, greift den Stoff
auf. Machen Sie sich also darauf gefasst, dass in Ungarn gerne gejammert wird,
aber auch darauf, dass hier am Ende bemerkenswert viel geht. Denn die
Kehrseite der magyarischen Melancholie ist bis heute ein immer neues Sich-
selbst-Erfinden und eine unverwüstliche Energie.
selbst-Erfinden und eine unverwüstliche Energie.
Mancher vermutet, dass dies mit den hier stark voneinander abweichenden
Jahreszeiten zu tun hat. Tatsächlich kenne ich wenige Orte, in denen das
Frühjahr oder auch nur eine vorfrühlingshafte Ahnung mit solch geradezu
hormoneller Macht einzieht wie hier. Wer über den Winter vergessen haben
sollte, wie kurz Röcke und wie lang Blicke sein können, spaziere an einem
beliebigen Märztag durch Ungarn. Sie werden sofort verstehen, warum diese
Nation niemals aussterben wird, sinkenden Geburtenraten zum Trotz. Ungarn
kann, besonders im südlich gelegenen Pécs mit seinen Feigenbäumen und
Weinbergen, aber auch in Budapest, ein geradezu mediterranes Flair ausstrahlen.
Und in dieser Atmosphäre entsteht immer wieder Neues, entziehen sich
aufgeweckte junge Leute den festgefahrenen Rastern. Sie lassen DJs in
türkischen Bädern auflegen, bauen Weinsorten an, von denen keiner mehr etwas
ahnte, entwerfen Mode, die auch in Hollywood getragen wird, schreiben
Gedichte in fremden Sprachen, setzen sich für Minderheiten ein … John Lukacs,
der ungarischstämmige amerikanische Historiker schrieb einmal, der typisch
ungarische Pendelschlag zwischen Verzweiflung und Vorwärtsdrängen sei
letztlich Ausdruck jeder höheren Kultur und der allgemeinen menschlichen
Verfassung, nur seien sich die Ungarn dieser Dialektik eben ein wenig bewusster
als andere Völker. Da ist etwas dran, denn dieses kleine Land hat einen
erstaunlich hohen Anteil an der Weltkultur. Sie werden, davon bin ich überzeugt,
beim Lesen der nächsten Kapitel staunen, was alles aus Ungarn kommt. Dieses
Land hat der Welt so viel gegeben, dass es getrost auf jede Form von
Nationalismus verzichten kann. Es empfiehlt sich einfach von selbst. Gehen Sie
auf Spurensuche! Ungarn ist schon allein deshalb ein so attraktives Reiseziel,
weil es nie ganz fremd und doch hinreichend anders ist, um für lange Zeit
interessant zu bleiben. Und seien Sie gewarnt: Ungarn entfaltet einen
eigentümlichen Sog; wer sich einmal darauf einlässt, kann rasch süchtig werden.
Zwischen West und Ost, in den Augen mancher bereits balkannah, bilden
Ungarn und seine Hauptstadt »ein seltsames Amalgam, in dem orientalische
Lässigkeit mit westlicher Unruhe verschmilzt« (Tibor Déry). Was immer Sie
hier hinzieht: das Studium der Medizin oder die günstigen Zahnärzte, ein Leisten
beim Maßschuhmacher oder das Rennen um den Großen Preis von Ungarn, ob
Filmproduktion oder Verwandtschaft, Business oder Balaton – denken Sie daran,
dass man ohne einen Sinn fürs Verdrehte und Vertrackte in diesem Land nicht
weit kommt. Hier gehen die gegensätzlichsten Regungen eine einzigartige,
bisweilen fatale, dann wieder wunderbar produktive Verbindung ein. Diesseits
von nationaler Neurose, Piroschka-Plattitüden und Operettenklischees gleicht
Ungarn weit eher dem magischen Würfel, der hier erfunden wurde. Sie können
jedes Kapitel dieses Buches als ein Element des Rubik-Würfels auffassen. In
welcher Reihenfolge Sie ihn drehen, ist ganz Ihnen überlassen: Wer zuerst etwas
über die ungarische Sprache wissen möchte, beginne am Ende. Wer sich vom
Budapest-Kapitel angeregt in die Architektur vertiefen will, überspringe Wein
und Essen. Am ehesten fügen sich die Bausteine zu einem Ganzen, wenn man
sie nach und nach liest. Zumindest so lange, bis Ihre eigenen Eindrücke alles
wieder durcheinanderbringen …
Stadt voller Spuren.
Ein Spaziergang durch die Mitte Europas

»Man muss Budapest von oben und zur Nacht gesehen haben.« Klaus Mann

Jedes Porträt der ungarischen Hauptstadt muss mit diesem Bild beginnen:
glitzernd im Spätnachmittagslicht, grau schimmernd an einem tristen Wintertag,
nachtblau: Die Donau durchfließt Budapest, hat ihr Bett mit naturgeschichtlicher
Geduld ausgehöhlt, Gelegenheit zum Siedeln geboten, sich nie versteckt, alles
gesehen. Denn anders als in Wien gehört der behäbige Strom in Budapest zum
Stadtbild; das Panorama dieser Hauptstadt ist undenkbar ohne Wasser, Ufer,
Inseln und Brücken. Zwischen Schwarzwald und Schwarzem Meer erstreckt sich
der 2888 Kilometer lange Fluss, der wie kein zweiter in Europa Sprachen, Sitten
und Sonderfälle verbindet. Aber nirgends entfaltet sich sein Glanz strahlender
als hier: »Budapest ist die schönste Stadt an der Donau«, befindet Claudio
Magris umstandslos. Er muss es wissen, hat der Triester Autor in seiner
›Biografie‹ dieses Flusses doch den kompletten Strom kulturgeografisch
vermessen. Schön blau, wie im Walzer, ist die Donau übrigens nicht, aber dank
EU-Millionen in dreistelliger Höhe bald wieder besser geklärt. Das ist nicht nur
für die Fische gut, denn ohne diese fluide Mitte existierte die ungarische
Hauptstadt gar nicht: »Die Donau trennt und hält doch zusammen; in ihr
gespiegelt vereint sich das unvereinbar Scheinende, erst in ihr werden Buda und
Pest zu Budapest«, brachte Franz Fühmann die Lage dialektisch auf den Punkt.
Die große Zeit der Donau fällt in die Dreißigerjahre. Am Dunakorzó, dem
Abschnitt des Pester Ufers zwischen Ketten- und Elisabethbrücke, bildete eine
neoklassizistische Hotelzeile aus Bristol, Carlton, Hungária und Ritz die
elegante Kulisse eines mondänen Treibens. Von diesem Schauplatz ist nur das
sogenannte Thonet-Haus geblieben, das die bekannten Wiener Möbelfabrikanten
erbauen ließen. Aber schauen Sie sich einmal alte Schwarz-Weiß-Postkarten an:
acht, ja zehn Stuhlreihen standen dicht an dicht, Kaffeetrinker nahmen in
Korbsesseln Platz, Bürger spazierten grüßend an ihnen vorbei. Da gab es das
Hangli, einen Kiosk, den Márk Hangl betrieb, der Kammerdiener von Ferenc
Deák, und wo jeder Stammgast seine eigene Tasse zugeordnet bekam. Das
Hungária, ein Hotel mit eigenem Telegrafenbüro, gab seine Hauszeitung in drei
Sprachen heraus. Der Korso war nicht nur eine Uferpromenade, er war eine
Umgangsform. »Was ist dieser Donaukorso eigentlich?«, fragte Sándor Márai
1937. »Vorläufig ein Dutzend Kaffeehäuser, mit Musik, schönen Frauen,
städtischer Gesellschaft, Terrassen, und dem dazugehörenden herrlichen
Panorama, der Burg, dem Gellértberg und den Brücken. Und darüber hinaus ein
gewisses Etwas, das dieses Assortiment einzigartig auf der Welt erscheinen lässt.
Dies ist das Pester Schaufenster, das funkelt und schwebt – als schwinge die
Donau! – und ist gleichzeitig Weltstadt und Strand, gleichzeitig Salon und
Hafen …« Wer eine farbige Vorstellung vom Leben auf dem Korso bekommen
möchte, betrachte die heiteren, fast japanisch hingetuschten Momentaufnahmen,
die der Maler János Vaszary (1867 – 1939) auf dem Höhepunkt seines Schaffens
von der Pester Promenade machte: Die Menschen tragen Hüte und Mäntel in
leuchtenden Farben, bewegen sich beschwingt vor dem ultramarinblauen
Burgberg. Zu den delikaten Pointen des Korsos gehört es, dass die Umsätze mit
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zunahmen. Halb Europa vergnügte sich hier,
jetzt erst recht, wenn auch nicht mehr mit der alten Unbeschwertheit. Die
Kaffeehäuser wandelten sich von Klatschbörsen zu Nachrich-
tenzentralen; eine Luftschutzsirene wurde aufgestellt. Schließlich holte der
Krieg auch den Korso ein, gefolgt vom Stalinismus in den Fünfzigern, dem
Autoverkehr in den Sechzigern, Betonburgen in den Siebzigern, Verfall in den
Achtzigern und Kapitalismus der billigen Art in den Neunzigern. Zum Spazieren
an der Donau gibt es heute schönere Abschnitte. Dennoch empfehle ich Ihnen,
sich hier auf eine Bank oder einen Buchwaldstuhl zu setzen, mit einem Bildband
vom alten Budapest auf dem Schoß. Ungarngefühle der verwickelten Art werden
sich einstellen: Zwischen Lust und Verlust vermittelt dann nur die Donau, die
unverändert ruhig vor Ihrem Auge dahinfließt.
unverändert ruhig vor Ihrem Auge dahinfließt.
Zum Stadtbild von Budapest gehören die acht Brücken, allen voran die
Lánchíd, die Kettenbrücke, zwischen 1842 und 1849 auf Initiative von Graf
István Széchenyi erbaut. Sie verbindet den nach Széchényi benannten Platz auf
der Pester Seite und den Clark Ádám tér auf der Budaseite, der nach dem
schottischen Erbauer der Brücke benannt ist. Die Kettenbrücke war die erste
ständige und wetterfeste Verbindung zwischen den beiden Stadthälften und ist
ein Symbol der Reformen Széchenyis. Denn der rückständige Adel, bislang von
der Steuerpflicht befreit, musste zur Überquerung dieselbe Gebühr von zwei
Groschen entrichten wie alle anderen Bürger auch.
Meine beiden Favoriten sind allerdings die Szabadság híd (Freiheitsbrücke)
und die Erzsébet híd (Elisabethbrücke). Wo die Donau am schmalsten ist, am
Fuß des Gellértberges, liegt der Budaer Kopf der Freiheitsbrücke, deren elegante
Eisengitterkonstruktion Franz Fühmann einen waagerechten Eiffelturm nannte,
obwohl gerade diese Brücke ausschließlich von ungarischen Ingenieuren
entwickelt worden ist. Wenig sieht so sehr nach Budapest aus wie jener Anblick,
wenn die typischen, gelb-orangenen Straßenbahnwagen die grün gestrichene
Brücke überqueren.
Wie alle anderen Brücken wurden Freiheits- und Elisabethbrücke im Januar
1945, vier Monate vor Kriegsende, von Soldaten der deutschen Wehrmacht
gesprengt. Ganz ohne Marshallplan haben die Ungarn sie wieder errichtet. Im
Fall der Elisabethbrücke entschied man sich 1964 für ein modernes Echo der
alten. Leuchtend weiß und filigran konstruiert, ist die heutige Erzsébet híd ein
Beweis dafür, dass Modernität nicht unwirtlich und unbeliebt sein muss.
Zur Donau gehört schließlich die Margareteninsel, ungarisch: Margitsziget.
96 Hektar groß, bis zu 500 Meter breit und zweieinhalb Kilometer lang, ist sie
gewissermaßen der Central Park von Budapest, zumal das Stadtwäldchen
(városliget) eher am Rand des urbanen Geschehens liegt. Erst seit 1900 ist die
Insel über eine Brücke zugänglich, für die bis 1945 Eintritt gezahlt werden
musste. Heute ist der Besuch kostenlos, und zahlreiche Budapester nutzen die
dicht bewaldete Insel zum Joggen, Schwimmen und Händchenhalten. Den
mondänen Charakter vergangener Epochen hat die Margitsziget allerdings
verloren: Clubhäuser aus den Dreißigerjahren verfielen oder wurden
zweckentfremdet; von der Kuranlage, die Miklós Ybl 1869 nach Erschließung
der Thermalquellen fertigstellte, überlebte lediglich ein Casino, das unter dem
Namen Holdudvar wieder Gäste anzieht. Bis heute sehenswert ist das 1930 von
Olympiagewinner Alfréd Hajós entworfene Sportschwimmbad sowie die gleich
danebenliegende Mineralwasserabfüllanlage, 1936 nach Plänen von Emil Vidor
erbaut und über 70 Jahre in Betrieb – bis Eigentümer »Pepsi« für das Legendäre
»Kristályvíz« eine andere Quelle vorzog.
Der Fluss, schrieb Fühmann, verbindet die zwei unvereinbar scheinenden
Stadthälften Buda und Pest. Buda: rechts der Donau, bergig und ruhig; Pest:
links der Donau, flach und nervös. Ich war, wie so viele Bürger dieser Stadt,
Bewohner von Buda, aber im Herzen Pester. Es wundert mich nicht, dass die
Ungarn Budapest schlicht als Pest bezeichnen, obwohl diese Stadt 1873 aus drei
Teilen entstand: Buda, Pest und Óbuda, auf Deutsch: Altofen.
Zwei Viertel verbinden die meisten Reisenden mit Buda: den Burgberg und
den Rosenhügel. Ersterer, »dieses ineinander verschachtelte und sich
auftürmende Konglomerat« (Karl Schlögel), gehört wegen seiner musealen
Atmosphäre nicht gerade zu meinen Favoriten in dieser Stadt, obwohl ich
durchaus die eine oder andere Attraktion hier oben empfehlen werde.
Einstweilen lege ich Ihnen den Aufstieg aus einem etwas maliziösen Grund
nahe: Der Blick auf Pest, auf das nächtliche zumal, ist von der Burg aus
unschlagbar … Rózsadomb, der Rosenhügel, bildet ein gutes Antidot, wenn Sie
das Stressige und Schrabbelige von Pest einmal satthaben sollten. Hier existiert
ein vollkommen anderes, durchaus dekadentes Budapest. Verfallene Villen
finden sich neben geschmacklich zweifelhaften gated communities, wo am
früheren Nachmittag plötzlich leicht verlebte Damen in dunkelblauen
Samtmorgenmänteln auf die Balkone treten, beobachtet nur vom Gärtner, von
den Überwachungskameras und – von Ihnen …
Im Schatten des Burgberges liegt Krisztinaváros, die Kristinenstadt. Ich
mache Ihnen einen Vorschlag: Vergessen Sie die Burg und durchstreifen Sie an
einem verregneten Frühlingstag diesen liebenswerten, unterschätzten Stadtteil.
Sie werden mehr Buda-Atmosphäre aufnehmen, als Ihnen die überlaufenen
Attraktionen auf dem Berg jemals bieten können. Was wie eine in die Jahre
gekommene, beinahe kleinstädtische Wohngegend anmutet, zeigt auf den
zweiten Blick einen ganz eigenen Charme. Da sind die stolzen Kastanienbäume
rund um die Kristinenkirche, die Melodien, die aus einer Musikschule dringen,
und die zahlreichen kleinen Einblicke: ein Lebensmittelhändler bietet ungarische
Erdbeeren und Mangalica-Kolbász, eine typisch ungarische Paprikawurst, an,
sozialistische Friseursalons liefern Dauerwellen unter alten Trockenhauben,
Buchhändler trotzen der Zeit, und aus grauen Büros starren müde Männer mit
viel zu breiten Krawatten durch verstaubte Fensterscheiben.
In diesem Bezirk habe ich noch im Mai 2005 einen Espresso für sage und
schreibe 40 Cent (100 Forint) serviert bekommen, und der war nicht einmal
schlecht. Das dunkle Lokal, in dem dieses kleine Wunder geschah, hieß
Burgtunnel Buffet (Alagút büfé) und hat natürlich längst das Zeitliche gesegnet,
genauso wie das bis vor Kurzem existente Geschäft von Uhrmacher Imre Rill,
das vier Generationen zuvor, 1870, hier gegründet worden war.
Aber vieles lebt und überlebt in diesem Bezirk, Spuren und Stimmungen eines
Ungarn abseits globalisierender Einebnung, wie das hundert Jahre alte Tabán-
Kino, an der Grenze zwischen Krisztinaváros und Tabán-Viertel. Schauen Sie
sich am Ende dieses Abstechers einen alten ungarischen Schwarz-Weiß-Film an,
und wenn es Sie danach doch wieder nach Pest zieht, gehen Sie einfach ins
Déryné, dem vielversprechend wiedererstandenen alten presszó, einem Lokal, in
dem es zugehen kann wie in einem Pester Jazzclub, nur ohne die Hochnäsigkeit
der anderen Donauseite …
Doch diese Hochnäsigkeit, nun, die werden Sie rasch ignorieren oder,
wahrscheinlicher noch, selber teilen. Denn Pest ist derjenige Teil Budapests, der
diese Stadt erst zur Stadt macht. Und Stadt heißt hier nicht Altstadt, wie in Prag,
Stadt, das bedeutet Großzügigkeit, Nervosität, Tempo. Unaufhörlich heulen hier
Sirenen: Wer die Augen schließt, meint sich in Manhattan zu befinden. Pest ist
voller Energie, unverwüstlich, urban durch und durch.
Begonnen hatte der Aufstieg der Kapitale zur modernen Großstadt im Jahr
1867, mit dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn. Seinen Höhepunkt
fand er 1896, bei den Millenniumsfeiern zum tausendjährigen Bestehen der
ungarischen Nation. In der Zwischenzeit war Budapest die am schnellsten
wachsende Stadt Europas und – nach Chicago – der Welt. Damals verdreifachte
sich die Bevölkerungszahl; die Anzahl der Gebäude verdoppelte sich. Spät, aber
umso rasanter entwickelte sich eine moderne Infrastruktur. Budapest wurde zur
zehntgrößten Stadt Europas.
Von seiner Grundanmutung her wirkt Pest bis heute wie eine
Jahrhundertwendestadt, obwohl die Entwicklung – durch den Ersten Weltkrieg
und den Vertrag von Trianon unterbrochen – zumindest stilistisch eine andere
und den Vertrag von Trianon unterbrochen – zumindest stilistisch eine andere
Richtung nahm. Im sogenannten »Silbernen Zeitalter«, der Zwischenkriegszeit,
entfalteten sich in der ungarischen Hauptstadt moderne Architektur und
mondänes Leben. Erneut blühten, in zeitgemäßer Form, Kaffeehäuser und
Presse, Fotografie und Lichtspieltheater, Cabarets und Nachtleben. Auf den
elektrifizierten Boulevards leuchteten nun die Neonreklamen; Plakate im
Bauhausstil warben für moderne Produkte.
Doch die wichtigsten städtebaulichen Weichenstellungen waren bereits im
19. Jahrhundert erfolgt: die Fertigstellung des Großen Rings im Millenniumsjahr
und der Bau der Radialstraße, heute Andrássy út, zwischen 1872 und 1885. Zur
Entlastung der engen, quirligen Király utca und als elegante Verbindung zum
Stadtwäldchen gedacht, handelte es sich um einen städtebaulichen Geniestreich.
Denn die Planer waren weise genug, den neuen Boulevard so anzulegen, »dass
die Bebauung stufenweise lockerer wurde und die Gärten vor und zwischen den
Häusern mit mehr und mehr Bäumen sozusagen eine Überführung zur
Grünfläche des Stadtwäldchens darstellten«, wie die Historikerin Eszter Gábor
bemerkt. Darüber hinaus beschränkte sich die Gebietsplanung nicht auf die
Wegstrecke selbst, sondern bezog dahinterliegende Abschnitte mit ein. »Das
Ziel war nämlich nicht die Einrichtung einer kulissenartigen Gebäudereihe,
sondern es sollte durch den Bau auf das gesamte Stadtviertel ein günstiger
Einfluss ausgeübt werden«, erläutert Gábor. Wer die heute gern von
diplomatischen Vertretungen genutzten, attraktiven Nebenstraßen der Andrássy
út, etwa die Benczúr utca oder die Városligeti fasor, entlanggeht, spürt sofort,
dass diese Planung komplett aufging. »Von der großen Modernisierung jener
Jahre hat die Stadt ein ganzes Jahrhundert zehren können«, behauptet der
Stadthistoriker Karl Schlögel zu Recht. Tatsächlich »lebt die nachbürgerliche
Stadt von der Substanz der bürgerlichen«, weil deren Leistungen sich bis heute
»sehen lassen können und ihre Dienste tun«. Kommen Sie also mit auf einen
kleinen Spaziergang und schauen Sie sich eine Straße an, die viele Gesichter hat.
Ich rate Ihnen, durch jede gerade zufällig offen stehende Hoftür zu gehen und
einen Blick auf die fast immer unerhört schönen Umlaufbalkone zu werfen, auf
imposante Treppenhäuser mit abgegriffenen Geländern und schmiedeeiserne
Fahrstuhlgitter.
Wie Wohlhabende während der Gründerzeit in den Palastmietshäusern
wohnten, kann man am besten bei einem Besuch des Postmuseums in der Nr. 3
erahnen, das den Zutritt zu diesem 1886 für einen Mineralwasserfabrikanten
erbauten Haus ermöglicht. Bleiglasfenster, Fresken, Stuck – alles erhalten! Sogar
die Tapeten, Holzverkleidungen und Kronleuchter der Salons können noch
bewundert werden. Und selbst die alte Zentralheizung ist weiterhin in Betrieb.
Spektakulär wiederauferstanden ist das genau 1900 eröffnete Pariser Kaufhaus
in der Nummer 39, auf dessen Dach sich im Winter eine Eislaufbahn befand und
dessen Károly-Lotz-Saal heute ein imposantes Kaffeehaus beherbergt. Dessen
Pracht mag hinwegtrösten über den Verlust der Terrasse des Kaffeehauses
Drechsler gegenüber der Oper. Das Opernhaus selbst, 1884 von Miklós Ybl
erbaut, sah übrigens so illustre Direktoren wie Gustav Mahler und Otto
Klemperer. Von grotesker Unterfinanzierung und kulturpolitischen Streitigkeiten
geschwächt, hat sich die Aufmerksamkeit der Musikwelt an das Donauufer
verlagert, wo der von Russell Johnson eingerichtete neue Konzertsaal keinen
internationalen Vergleich zu scheuen braucht.
Die Andrássy út freilich ist ein Boulevard geblieben, auf dem man gerne
spaziert, übrigens besonders bei Regen. Ihren wechselnden Charakter hat
niemand so treffend beschrieben wie Ernst Theodor Voss: »Sie beginnt wie ein
Pariser Boulevard, wird hinter dem Oktogon zur Münchener Ludwigstraße, nach
dem Körönd zum Berliner Tiergarten und endet auf dem Heldenplatz in Wien.«
Während die Andrássy út weiterhin den Glanz der Gründerzeit ausstrahlt, hat
die zweite städtebauliche Achse jener Jahre arg gelitten. Dem Nagykörút, dem
Großen Ring, den man mit den Trambahnen 4 und 6 bequem entlangfahren
kann, geht es wie der damals ebenfalls vorzeigbaren Rákóczi út: Sie sind nicht
nur in die Jahre gekommen, sondern richtiggehend verfallen und verdreckt.
Auch das ist Pest, dieses unruhige, sich immer wieder neu erfindende, urbane
Gebilde. Gewiss, auf dem Ring versuchen sanierte Luxushotels wie das im
Millenniumsjahr eröffnete Royal und das New York, beide mit spektakulären
Atrien, an die Vorkriegseleganz anzuschließen. Aber diese geradezu
exterritorialen Schonräume haben mit ihrer zumeist heruntergekommenen
Umgebung wenig zu tun. Der entziehen nämlich die zahlreichen Shopping-
Center in den Außenbezirken die Grundlage, dabei waren es besonders die
kleinen Geschäfte, die früher zur Lebendigkeit des Rings beitrugen. Hier und da
sieht man noch alte Firmenschilder, deren Antiqua-Buchstaben von hinten auf
dicke schwarze Glastafeln geschliffen und vergoldet wurden. Oder
Leuchtreklamen aus der Zwischenkriegszeit, mit flackernden, teils
durchgebrannten Buchstaben wie am Teréz körút 4 – 6, wo sich noch heute das
Kaufhaus für Wohntextilien, »Erma«, befindet – seit 1935.

Budapest ist eine Stadt der Spuren und Nischen. Gehen Sie zu Fuß! Schauen Sie
durch das Schäbige hindurch! Entdecken Sie die Geschichten, die diese
mitteleuropäische Metropole erzählt! Der Zeitpunkt ist günstig: Reste des rasch
Vergehenden finden sich dicht an dicht mit glanzvoll Renoviertem und
gelungenem Neuen. Kaum eine Straße hat ein einheitliches Gesicht.
Einschusslöcher, Neonröhren, Jugendstilornamente – alles nebeneinander.
Budapest ist schöner, als es auf den ersten Blick erscheint, lädt dazu ein, Schicht
um Schicht freizulegen: Eine Stadt wie ein Palimpsest, eine Stadt zum Gehen,
klein genug, um bewältigt werden zu können, groß genug, um sich nie ganz zu
erschöpfen. Wo sonst finden sich römische Ausgrabungen, Spuren türkischer
Belagerung, Habsburger Vielsprachigkeit, Jahrhundertwendeformen, scharfe
Modernität und globale Gegenwart an ein und demselben Ort? Wie viele
Stunden und Tage bin ich durch diese Stadt gelaufen, habe den Blütenduft im
Frühling eingeatmet und den Gestank aus den Gullydeckeln, habe mich geärgert
und wollte nie wieder weg.
Eines Nachmittags, zum Beispiel, fand ich mich in einem Brillenladen aus der
Zeit der Jahrhundertwende wieder. »1te ung. Werkstätte für optische
Instrumente« stand, unten in deutscher, oben in ungarischer Sprache, auf einem
Holzschild, das mit zwei Schnüren an einem Nagel befestigt war. Kurioserweise,
trug die alte Verkäuferin, die unaufhörlich neue Gestelle aus Kartonschachteln
hervorkramte, ein Glasauge. »Das ist kein Museum hier, junger Mann«, mahnte
sie mich in tadellosem Deutsch, als ich aus dem Staunen nicht mehr herauskam.
An einem anderen Tag ging ich durch die Népszinház utca, wo in einem
winzigen Geigenladen Romamusiker aufspielten, deren Ausgelassenheit mit dem
Elend um sie herum so gar nichts zu tun zu haben schien. Kontraste allenortens:
In der Passage am József körút 19 befindet sich ein altungarisches Kürschner-
Geschäft direkt gegenüber einer Boutique für Punk- und Goth-Klamotten.
Ausgerechnet Ungarns Rechte nutzte kürzlich die stromlinienförmigen Vitrinen
eines 1937 von progressiven Architekten im modernen Stil eingerichteten,
ehemaligen Schuhgeschäftes in der Kossuth Lajos utca als Parteibüro. Ästhetisch
lohnt sich der Blick durch die alte Geschäftsfassade trotzdem. Versäumen Sie
auch nicht, dem Handelsmuseum einen Besuch abzustatten, das allein deshalb zu
meinen Lieblingsmuseen in Budapest gehört, weil es von Béla Lajta, dem wohl
ungewöhnlichsten ungarischen Architekten des 20. Jahrhunderts, erbaut wurde.
Vieles in dieser Stadt wartet nur darauf, wieder seinen alten Glanz entfalten zu
können: die Arkaden in der József Attila utca mit ihren Art-déco-Lampen
beispielsweise, oder die Párizsi udvar aus dem Jahr 1913, eine dunkel
dahindämmernde Passage voller Potenzial. Auch die Bahnhöfe gehören in diese
Reihe: Der Westbahnhof (Nyugati pályaudvar), 1874 – 1877 vom Büro Eiffel aus
Paris errichtet, verbirgt hinter Eisen und Glas immerhin das wohl schönste
McDonald’s Restaurant der Welt. Aber sollte nicht auch der private Wartesaal
der Habsburger renoviert werden? Oder der Ostbahnhof (Keleti pályaudvar),
einst Haltestelle des Orientexpress’, heute reichlich heruntergekommen und
nicht eben ein ansprechender Empfang, wenn man von einer Tagesreise aus
Wien zurückkehrt.
Einer der Gründe, warum Budapest und seine Bahnhöfe schäbiger ausschauen
als nötig, ist die Omnipräsenz der Tauben. Sie machen sogleich wieder
unbenutzbar, was die Stadtsanierung eben erst aufgewertet hat, verdrecken Parks
und Plätze und ruinieren in gezielten Attacken Wintermäntel. Unterdessen
schlugen Schriftsteller Alarm: Lajos Parti Nagys satirischer Roman »Meines
Helden Platz« (Hősöm tere) und Sándor Tars düstere Vision »Die graue Taube«
(Szürke galamb) müssen keinen Vergleich mit Alfred Hitchcocks Filmklassiker
»Die Vögel« scheuen. Die Budapester füttern derweil ungerührt ihre grauen
Lieblinge …
Wenig aber beschleunigt Verfall und Unwirtlichkeit in dieser Stadt so sehr
wie der Autoverkehr. Vergleichen Sie nur einmal alte Ansichten, zum Beispiel
vom Ferenciek tere, wo in den Dreißigerjahren lediglich Straßenbahnen und
einige wenige noble Automobile fuhren, mit dem Anblick von heute. Ich weiß,
dieses Schicksal teilt Budapest mit vielen anderen Orten. Aber es gibt wohl nur
wenige Städte in Europa, in denen das Auto – auch in den Köpfen der Bewohner
– eine so ungebrochene Priorität hat wie hier. Ampelschaltungen machen selbst
flinken jungen Leuten (von den Älteren ganz zu schweigen) das Überqueren
einer Kreuzung bei Grün buchstäblich unmöglich, Bürgersteige werden
rücksichtslos zugeparkt, das Gros der Autofahrer käme nicht im Traum darauf,
vor einem Zebrastreifen anzuhalten.
vor einem Zebrastreifen anzuhalten.
Jahrzehnte nach den Entbehrungen des Sozialismus ist das eigene Auto, trotz
niedriger Einkommen, häufiger Diebstähle und unzähliger Schlaglöcher selbst
auf Hauptverkehrsstraßen, Prestigeobjekt Nummer 1. Bislang jedenfalls.
Allmählich scheint sich etwas zu regen. Beispielsweise gelang es kürzlich
einer Bürgerinitiative, den baumbestandenen Jókai tér vor der Umwandlung in
einen Parkplatz zu bewahren. Jahr für Jahr steigt die Zahl der Teilnehmer an den
»critical mass«-Demonstrationen, bei denen Fahrradfahrer ein paar glückliche
Stunden lang die Innenstadt für sich beanspruchen. Als ich an einem solchen
Tag einmal die sonst unüberquerbare Kossuth Lajos utca entlangging,
überwältigte mich ein bislang ungekanntes Pest-Gefühl. Mein Gott, schoss es
mir durch den Kopf, wie spürbar stiege doch die Lebensqualität in dieser Stadt,
wenn auch nur an ein paar Schlüsselstellen andere Prioritäten gesetzt würden.
Dann wäre es zum Beispiel möglich, von der Elisabethbrücke entspannt zum
Puskin-Kino zu schlendern und im Café an der Semmelweis utca zu sitzen, ohne
dass die weit über den Richtwerten liegenden Feinstaubkonzentrationen die
Atemwege angriffen.
Einstweilen aber trauen sich Fußgänger und Radfahrer hier kaum auf die
Straße. Die Anzahl der Fahrradwege in Budapest triebe jedem Amsterdamer die
Schamesröte ins Gesicht. Besonders bitter aber ist die Pointe, dass die Vélips,
jene Leihfahrräder, die das Mobilitätsgefühl der Pariser mit einem Schlag
ökologisiert haben, in Ungarn hergestellt werden. Sie auch dort, wo sich die
Produktion befindet, den Bürgern anzubieten, kostete die Stadt aufgrund des
innovativen Geschäftsmodells dieser Initiative nicht einen einzigen Forint. Man
fragt sich, warum der ehemalige, fünffach wiedergewählte Bürgermeister Gábor
Demszky hier eine so dürftige Bilanz aufzuweisen hat.
Der Fairness halber will ich aber erwähnen, dass das Netz des öffentlichen
Nahverkehrs in Budapest bemerkenswert gut ausgebaut ist und eine komfortable
Taktung aufweist.
1896 nahm unter der Andrássy út die erste U-Bahn auf dem europäischen
Kontinent ihren Betrieb auf; nur Londons Tube entstand noch früher. Die
Waggons der Linie 1 hatten eine so gute Qualität, dass sie erst 1973 ausgetauscht
werden mussten. Zwei weitere Linien kamen hinzu, die mit ihren runden
Deckenlampen ein wenig an das Russland der Dreißigerjahre erinnern. Während
ich diese Zeilen schreibe, werfen die Budapester staunende Blicke auf
gigantische Tiefbaustellen, wo dank üppiger EU-Mittel eine vierte Linie
entsteht. Alle drei derzeit betriebenen U-Bahnen kreuzen sich am Deák Ferenc
tér, wo man auch die für Budapest so typische Erfahrung machen kann, auf sehr
langen, sehr steilen und nicht gerade langsamen Rolltreppen in die Tiefe
geschleust zu werden oder aus dem Untergrund wieder ans Tageslicht
emporzuschnellen. Der Wind des Belüftungssystems zerzaust die Frisuren,
während Abwärtsfahrende Aufwärtsfahrende und Aufwärtsfahrende
Abwärtsfahrende beobachten. Achtung, jetzt kommt der Übergangsschritt: Nicht
stolpern, bitte!
Rechnen Sie damit, dass Tickets in Budapest häufig kontrolliert werden, aber
erwarten Sie keine mehrsprachigen oder auch nur freundlichen Kontrolleure,
erwarten Sie nicht einmal, dass die Kontrolleure die Tarife kennen. Nur so
können Sie, statt ständig enttäuscht, gelegentlich positiv überrascht werden. Wer
älter als 65 und EU-Bürger ist, fährt in der Hauptstadt übrigens gratis – falls er
sich ausweisen kann …
Zu den Gründen, warum viele Budapester das Auto den teilweise brandneuen
Volvo-Bussen und Siemens-Straßenbahnen vorziehen, gehören leider einige,
nun ja, Auffälligkeiten, über die ich, trügen sie nicht so offenkundig zum
Missvergnügen der Mehrheit bei, politisch korrekt hinwegginge. Wie wenig die
Behörden anscheinend für die erschreckend vielen Obdachlosen in der Stadt tun,
bekommt man leider bei etwa jeder zweiten Busfahrt buchstäblich unter die
Nase gerieben.
Aber nicht nur aus der Bahn Geratene können einem die Fahrt verleiden.
Adrett aufgeputzte alte Damen legen in den Bussen mit großer Regelmäßigkeit
ein nicht mehr resolut, sondern nur noch ruppig zu nennendes Verhalten an den
Tag, das gerade der jungen Generation reichlich peinlich ist. Etwa zwei
Haltestellen vor Erreichen ihres Fahrtzieles erheben sich diese zumeist an ihren
Pelzkappen zu erkennenden Herrschaften wortlos von ihren Plätzen und
drängen, selbst in komplett überfüllten Bussen, unbeirrbar zur am weitesten
entfernten Tür. Wer sich jetzt über körperliche Nähe mokiert oder es gar als
unangenehm empfindet, auf die Füße getreten zu werden, gibt in den Augen
dieser Damen nur ein weiteres Beispiel für die Unhöflichkeit der Jugend ab.
Stehen die alten Herrschaften jedoch im Gedrängel der Türen, ohne selbst
aussteigen zu wollen, bleiben sie wie angewurzelt stehen und werfen den
Aussteigenden vorwurfsvolle Blicke zu. Endlich, scheinen sie nach vierzig
Aussteigenden vorwurfsvolle Blicke zu. Endlich, scheinen sie nach vierzig
Jahren Kommunismus und patriarchalischen Ehemännern zu triumphieren,
endlich bin ich einmal dran. Unterdessen bangen die anderen Fahrgäste um
Ungarns Ruf als kultiviertes europäisches Land.
Der öffentliche Verkehr in Budapest erzählt seine eigenen Geschichten. Die
Trolleybusse beispielsweise wurden zum siebzigsten Geburtstag von Josef Stalin
im Jahr 1949 eingeführt. Deshalb trägt die erste Linie auch die Nummer 70. Zu
seinem Einundsiebzigsten spendierte der Diktator eine zweite Linie: die
Nummer 71. Und so ging es ein paar Jahre lang weiter, bis die Ungarn damit
begannen, die Stalinstatuen zu zerlegen. Des Kaukasiers späte Rache mag darin
bestehen, dass die Trolleybusse noch immer durch die ungarische Hauptstadt
ruckeln. Sie funktionieren ähnlich schlecht wie der Stalinismus, sind aber weit
weniger gefährlich.
Mein liebstes Transportmittel in Budapest ist die Straßenbahn. Jeden Tag sah
ich die mit einem ins Orange spielenden Gelb angestrichenen Wagen von
meinem Schreibtisch aus auf und ab fahren. Ich empfehle Ihnen die Line 2, die
auf der Pester Seite am Donauufer entlangfährt, und die Linie 19, ihr Pendant in
Buda. Kaum etwas löst den Budapest-Blues zuverlässiger aus als der
unverwechselbare Anblick dieser Bahnen. Setzen Sie sich mal in die 49, bitte
unbedingt in den mittleren Waggon, denn dort gibt es noch Holzsitze, und fahren
Sie bis zur Endstation. Wer die Ohren spitzt kann jetzt hören, wie die
Ansagestimme sich voller Wehmut von den Fahrgästen verabschiedet: a
viszontlátásra!
Pest kann anstrengend sein. Sollten Sie deshalb Kopfschmerzen bekommen,
hat das aber durchaus auch einen Vorteil: Sie haben dann einen guten Grund,
eine der wunderschönen alten Apotheken dieser Stadt zu betreten, etwa diejenige
am Egyetem tér. Wem das Wort gyógyszertár zu kompliziert ist, der merke sich
einfach patika – beides bedeutet Apotheke. Aber es muss nicht so weit kommen,
wenn Sie zwischendurch die erholsamen Plätze, Parks und Friedhöfe Pests
aufsuchen. Groß und sehr beliebt sind natürlich Margareteninsel und
Stadtwäldchen, doch gibt es eine ganze Reihe charmanter und weniger bekannter
Alternativen. Etwa den »Hortus Botanicus Universitatis«, also den botanischen
Garten der Eötvös Loránd Universität an der Illés utca, mit einem reizvoll
verfallenen und üppig verwachsenen Palmenhaus. Meine drei Favoriten in der
Innenstadt sind: der Károly kert, ein bezaubernder kleiner Park, in dem man sich
jeden Augenblick wie in Paris fühlt; der entspannte Szent István park an der
Donau, an den eine Reihe von Gebäuden der Bauhaus-Moderne grenzt;
schließlich der Szabadság tér, der Freiheitsplatz, mitten im Bankenviertel
gelegen, umgeben von Meisterwerken des ungarischen Art Nouveau.
Zu den schönsten Ecken Pests gehört meiner Meinung nach das Quartier
hinter dem Nationalmuseum. Dort ließ sich Ungarns Adel im 19. Jahrhundert
herrliche Stadtpalais’ errichten. Glanzvoll saniert ist der Palais Festetics, 1862
von Miklós Ybl gebaut, in dem sich heute die deutschsprachige Andrássy
Universität befindet. Um die Ecke sitzen die reizvolle Zentrale der
hauptstädtischen Szabó-Ervin-Bibliothek sowie das Nationale Radio, beim
Aufstand 1956 blutig umkämpft. Wiederum nur ein paar Straßen weiter liegt das
Gebäude, in dem Ende der Achtzigerjahre der (damalige) Untergrundsender
Tilos-Radio seine Anfänge nahm. Mein Lieblingsort in diesem in den
Sommermonaten geradezu jazzig beschwingten Viertel, wo hübsche
Kunststudentinnen neben Herren in verrutschten Anzügen umherlaufen, ist aber
das Gebäude des ungarischen Architektenverbandes in der Ötpacsirta utca 2, das
einen der schönsten Innenhöfe der Stadt hat.
Gehören Friedhöfe für Sie auch zu jedem Stadtbesuch? Dann sind Sie in
Budapest genau richtig. Ich empfehle Ihnen den weitläufigen Kerepesi temető an
der Fiumei út, letzte Ruhestätte vieler Schriftsteller; den Farkasréti temető, auf
dem zum Beispiel der Komponist Béla Bartók, der Architekt Farkas Molnár und
der Künstler Lajos Kassák begraben liegen, Letzterer unter einer selbst
geschaffenen Steinplastik. Und den herrlich verwachsenen, wunderschönen
Jüdischen Friedhof an der Kozma utca. Architekten der Moderne haben hier
gewirkt und liegen hier auch begraben: Alfréd Hajós etwa, der das Denkmal für
die Ermordeten schuf, auf dem unzählige Namen handschriftlich ergänzt
wurden. Oder – in einem von Lajos Kozma entworfenen Grabmal – der bereits
erwähnte Béla Lajta, von dem auf diesem Friedhof zahlreiche Mausoleen
stammen, darunter die Schmidl-Gruft, deren wunderbare Keramikmosaiken
allein schon den Besuch rechtfertigen. Achten Sie auch auf die traditionellen
Rabbinergräber aus Steinhaufen, die mit Zetteln voller Wünsche und Gebete
versehen sind. Wie wunderschön doch die alten jüdischen Namen waren …
Einer der Verstorbenen hieß: Aufrichtig.
Über die tiefe Ambivalenz des ungarisch-jüdischen Verhältnisses, von dem
Paul Lendvai sagte, es könne in seiner Emotionalität nur mit dem deutsch-
jüdischen verglichen werden, wissen Sie aus dem vorangegangenen Kapitel
bereits einiges. Wie dort beschrieben, ermöglichten die rechtliche Gleichstellung
und gesellschaftliche Toleranz es den assimilationsbereiten Juden nach dem
Ausgleich, aufzusteigen und Ungarn aus seiner feudalistischen Rückständigkeit
herauszuholen. Das galt ganz besonders in der Hauptstadt, wo ein Viertel der
Bevölkerung aus dem Judentum stammte. Ohne die wirtschaftlichen und
kulturellen Leistungen dieser Menschen hätte Budapest kein so rasches, so
vielfältiges und so einzigartiges Aufblühen erlebt. Bis heute gehören jene
Viertel, die maßgeblich von Juden geprägt wurden, zu den attraktivsten der
Hauptstadt: Lipótváros (Leopoldstadt), Újlipótváros (Neuleopoldstadt) und
Erzsébetváros (Elisabethstadt), der siebte und kleinste der 23 Budapester
Bezirke. Während die ersten beiden Stadtteile im Architekturkapitel genauere
Beachtung finden, soll auf den jüdischen Teil der Elisabethstadt, zwischen
Andrássy und Rákóczi út, Kleinem und Großem Ring gelegen, an dieser Stelle
näher eingegangen werden.
Irrtümlicherweise wird das ganze Viertel bisweilen als das (ehemalige) Ghetto
bezeichnet, tatsächlich umfasste das erste und einzige Ghetto in der Geschichte
Ungarns aber nur einen Teil davon. Im Juni 1944 errichtet, überlebte etwa die
Hälfte der 70 000 darin eingesperrten Juden die Unmenschlichkeit, unter
anderem, weil mutige Diplomaten wie der Schwede Raoul Wallenberg und der
Schweizer Carl Lutz Zehntausenden das Leben retteten.
Betritt man das jüdische Viertel vom Károly körút aus, steht man vor der mit
3100 Sitz- und fast 1000 Stehplätzen zweitgrößten Synagoge der Welt. Der
sogenannte Tabaktempel wurde 1854 – 1859 von Ludwig Förster erbaut, der
übrigens weder Jude noch Ungar war. In unmittelbarer Nähe dieses Gotteshauses
wurde im Jahr 1860 Theodor (Tivadar) Herzl, der Begründer des Zionismus,
geboren. Dank einer großzügigen Spende des Hollywoodstars Tony Curtis,
dessen Eltern aus Budapest stammen, konnte die Synagoge komplett renoviert
werden. Sie ist beeindruckend schön, ähnelt mit ihrem Grundriss, ihrer Orgel
und den Kanzeln gleichwohl stark einer christlichen Kirche, worin man durchaus
ein Indiz für die Anpassungsbereitschaft des nicht orthodoxen Teils der
damaligen jüdischen Gemeinde sehen kann.
Mindestens so interessant wie ein Besuch dieser Synagoge ist es, die kleinen,
in den Hinterhöfen versteckten Gebetsstätten aufzustöbern, beispielsweise die
gut versteckte Synagoge der strengen Lubowitzer Hasidischen Gemeinde in der
Vásvári Pál utca 5, oder die leer stehende, lediglich teilrenovierte Synagoge, die
der Wiener Architekt Otto Wagner 1872 in der Rumbach Sebestyén utca 11 – 13
erbauen ließ. Der oktogonale Bau mit seinen reichhaltigen Verzierungen
verkörpert für mich am besten den Geist dieses Viertels: voller Spuren einer
erinnernswerten Vergangenheit, doch in seiner Unfertigkeit auch Verheißung
einer möglichen Zukunft.
Heute leben achtzig- bis hunderttausend Juden in Ungarn, davon die meisten
in Budapest. Hier befindet sich die viertgrößte jüdische Gemeinde in Europa und
die größte in Mitteleuropa. Budapest ist nicht Antwerpen, aber auch in der
ungarischen Hauptstadt sieht man Orthodoxe mit schwarzen Schläfenlocken auf
dem Weg zum Gebet, koschere Geschäfte und ein junges Gemeindeleben. Da
gibt es die anspruchsvolle jüdische Wochenzeitung »Szombat«
(Samstag/Sabbat), eine sympathische internationale Buchhandlung, Konzerte
von Klezmerbands … Das Gesicht des Viertels, das einst von Handwerkern und
kleinen Läden geprägt war, wandelt sich rasch. Scheinbar unaufhaltsam schreitet
die »Gentryfizierung« voran: Das untere Ende der Király utca und die Gozsdu
udvar, eine 1902 entstandene Folge von Höfen zwischen Király und Dob utca,
sind bereits luxussaniert. Nicht selten ersetzen unsensible, jämmerlich
einfallslose und zu allem Überfluss auch noch leer stehende Neubauten die
eigentlich denkmalgeschützten Häuser, die rücksichtslos entmietet und
abgerissen wurden. Da scheint nachgeholt zu werden, was die einst glücklich
gestoppte, brachiale Madách-Radialstraße von 1936, deren Anfänge noch heute
in düsterer Monumentalität mahnen, nicht hat plattmachen können. Zum Glück
regt sich Widerstand: Der Verein »ÓVÁS!« (Einspruch!) scheut auch die
Konfrontation mit paradoxerweise israelischen Investoren nicht und hat bis
Drucklegung bereits acht Gebäude vor dem Abriss bewahrt.
Dieser Initiative ist es auch zu verdanken, dass das jüdische Viertel seine
Vielfalt bis heute bewahren konnte. Noch gibt es beispielsweise den winzigen
Bürstenhandel in der Dob utca, wo man vom Pinsel bis zum Besen alle nur
erdenklichen Borstenobjekte kaufen kann. Und gleich nebenan steht ein
riegelartiges, verklinkertes Transformatorenhaus aus den Sechzigern, das vom
Design-Magazin »Wallpaper« zu Recht gepriesen wurde. Achten Sie in den
Straßen des jüdischen Viertels auf Details wie die gut versteckte Mesusa, eine
Straßen des jüdischen Viertels auf Details wie die gut versteckte Mesusa, eine
Kapsel mit Passagen aus der Thora, an der Eingangstür des Szóda-Clubs. Oder
das Programm der Kulturkneipe Sirály (Möwe), das sich ausdrücklich auch an
nicht jüdische Interessierte richtet.
Eine junge, selbstbewusste Generation ungarischer Juden wächst heran. Denn
während der Antisemitismus in diesem Land bis weit auf die Meinungsseiten der
den Namen bürgerlich zu Unrecht beanspruchenden Presse reicht, dekonstruiert
zur selben Zeit die freche und frische Blogseite judapest.org beinahe
unbekümmert ein altes antisemitisches Diktum und dessen zeitgenössische
Varianten.

1178 Lampen leuchten, wenn die Kettenbrücke nachts illuminiert wird. Klaus
Mann hatte recht: Jetzt ist Budapest am schönsten. Wer diese Stadt nachts nicht
liebt, dem wird sie nie gefallen. Ich wünsche Ihnen die stimulierend blütensatte
Luft einer Budaer Mainacht so sehr wie das Pester Neonlicht, gespiegelt auf
verregnetem Asphalt. Denn Budapest ist eine Nachtstadt. Immerhin wurde hier
um 1900 die berühmte »Katersuppe« erfunden – die Wirte der Jahrhundertwende
hatten begriffen, dass die eigentliche Nacht erst beginnt, wenn der Morgen
dämmert. Ich wüsste nicht, wo man heute noch eine solche Suppe serviert
bekommt, aber es existieren Reste und Reminiszenzen jener Zeit, in der diese
Stadt sich selbst näher war, als sie es heute ist. Vor allem jedoch hat sich das
Nachtleben neu erfunden und hört nicht auf, es Nacht für Nacht wieder zu tun …
Haben Sie Lust auf einen Theaterbesuch? Mangelnde Sprachkenntnisse
sollten Sie davon nicht abhalten, denn eine Reihe innovativer Gruppen bringt
visuell kraftvolle Inszenierungen auf die Bühnen. Allen voran »Krétakör«
(Kreidekreis), die international erfolgreiche Gruppe um den Regisseur Arpád
Schilling. Oder die Béla Pintér Company. In einem Literaturland wie Ungarn
mangelt es natürlich nicht an Gegenwartsdramatikern, wie beispielsweise dem
erstklassigen György Spiró. Das »Krétakör«-Ensemble verfügt über kein festes
Haus, tritt aber gerne im Trafó auf, einem 1909 gebauten ehemaligen
Transformatorenwerk, das vor allem durch sein hochkarätiges Tanzprogramm
bekannt ist, aber in der Trafó-Bár Tangó auch Raum für andere Gigs bietet.
Die Budapester lieben ungewöhnliche Veranstaltungsorte: alte Fabriken,
Thermalbäder, in denen DJs auflegen, oder jene Donauinsel, auf der jeden
August das »Sziget« stattfindet, Europas größtes Open-air-Festival. Hinzu
kommen Klassiker wie das Fészek (Nest), ein etwas in die Jahre gekommener
Künstlerclub, gegründet 1901, oder der 1968 in der Ukraine gebaute
Steinfrachter A 38, der heute internationale Bands anzieht und am Budaer Kopf
der Petőfi-Brücke ankert.
Wie in Berlin kommen und gehen auch in der ungarischen Hauptstadt die
Clubs in rascher Folge: Was gestern noch hip war, etwa das ChaChaCha in der
U-Bahn-Station Kálvin tér oder ein Ort mit dem vielsagenden Namen West
Balkán, kann morgen schon einem Bauvorhaben zum Opfer fallen und an die
nächste Adresse weiterziehen. Verlässlich informiert das donnerstags
erscheinende, überall gratis ausliegende Programmheft »Pesti Est« (Pester
Abend) über den Stand der Dinge. Besonders dynamisch ist die Entwicklung
übrigens bei den sogenannten romkocsma, den Ruinenkneipen, die seit knapp
einem Jahrzehnt von Mai bis September an wechselnden Orten auftauchen und
selten lange bleiben. Anfangs gerne in Hinterhöfen angesiedelt, sind momentan
die Dächer alter Kaufhäuser, etwa das Corvintető, also das Dach des Corvin-
Kaufhauses am Blaha Lujza tér, beliebte Orte für romkocsma. In Anspielung auf
das Tabán, jenes verschwundene Heurigenviertel am Nordhang des
Gellértberges, wo bis in die Dreißigerjahre hinein Intellektuelle aus Pest in
einfachen Budaer Kneipen saßen, könnte man diesem Trend beinahe den Titel
»Tabán reloaded« geben, geht es doch erneut um einfache, lange geöffnete
Lokale, wo es sich endlos diskutieren lässt. Vielleicht hinkt dieser Vergleich
aber auch, und die Zeiten haben sich einfach grundlegend geändert.
Zum Pester Nachtleben gehören viele studentisch anmutende Kneipen wie
Kuplung, Szimpla und Dupla, von denen manche jungen ungarischen Alternativ-
Rockgruppen Auftrittsmöglichkeiten bieten. Eine Band wie »Paranova« zeigt die
nachwachsende Generation als energiegeladen, zornig, lässig und ziemlich sexy.
Wer Jazz liebt und gut gemixte Drinks einer stundenlang festgeklammerten
Bierflasche vorzieht, hat es in Budapest leider nicht ganz leicht. American Bars,
die etwas taugen, also spät schließen und vor allem professionell gemachte
Cocktails anbieten, existieren so gut wie gar nicht. Zu schwankend ist das
Niveau selbst der Bars in den Fünfsternehotels, als dass ich hier welche
empfehlen möchte, von der tadellosen Bar des Gresham Palace einmal
abgesehen. Leider kann selbst das Heranwinken eines Taxis der Nacht noch
einen unangenehmen Nachgeschmack verleihen, denn Jahrzehnte nach der
Privatisierung kann man zumindest als Ausländer noch immer nicht
Privatisierung kann man zumindest als Ausländer noch immer nicht
ausschließen, übers Ohr gehauen zu werden.
Bleiben Sie also lieber gleich wach. Auf der Nagymező utca, dem
sogenannten Pester Broadway mit seinen Theatern und Varietés, gibt es einen
Ort, der sehr lange geöffnet hat und schon manchen hartgesottenen
Nachtmenschen verblüffte. Wer einmal ins Piaf reingelassen wurde, darf einer
stimmgewaltigen Chansonnière vor rotem Plüschdekor lauschen, während junge
Leute zu alten ungarischen Schlagern das Tanzbein schwingen. Keine Sorge,
dies ist kein Orpheum mit leichten Mädchen, aber doch eine explosive Mischung
aus café chantant und Nachtclub, die an die Jahrhundertwende erinnert.

»Finden Sie, Budapest ist eine Weltstadt?«, fragten mich meine Studenten
gelegentlich. Schwer zu sagen. Die Stadt, in der fast ein Viertel der ungarischen
Bevölkerung lebt, ist groß, nervös, von unerschöpflicher Energie. Irgendwo ist
immer noch jemand unterwegs, egal wie spät es ist. Und die Stadt ist
international. Zum Beispiel gibt es hier so viele Chinesen, dass bei der letzten
Volkszählung Formulare in Mandarin ausgeteilt wurden. Budapest ist für mittel-
und osteuropäische Verhältnisse bemerkenswert liberal, aber keineswegs so
tolerant wie westeuropäische Städte. Schwule und Lesben überlegen es sich hier
zweimal, bevor sie auf offener Straße Händchenhalten. So gesehen fehlt es
letztlich doch an einigen weltstädtischen Selbstverständlichkeiten.
Man mag es so ausdrücken: Es mangelt Budapest eher an Verlässlichkeit denn
an immer neuen Versuchen. Darin liegt freilich auch ein Trost: Diese Stadt gibt
niemals auf. Man kann hier hängen bleiben, weil sie immer wieder neue
Entdeckungen bereithält, allen Zumutungen und Widrigkeiten im nächsten
Augenblick bereits trotzt. Spröde ist sie, dann wieder verführerisch schön. Lockt,
und will im nächsten Moment, dass man sich Mühe gibt. Budapest ist nichts für
bequeme Leute, weiß aber wohl zu belohnen.
Was für eine Stadt!
Versinken in warmen Wassern.
Über Thermalbäder

Haben Sie schon mal im Wasser Schach gespielt? Umgeben von schönen,
nahezu unbekleideten Mädchen? Und das mitten in einem Schneegestöber?
Wenn nicht, dann waren Sie wohl noch nie im Széchenyi-Bad in Budapest. Denn
ein winterlicher Besuch dieses Bades gehört zu den exquisitesten Freuden, die
Ungarn bereithält. Während es draußen friert und die Schneeflocken auf der
Nase schmelzen, steigt aus den heißen Außenbecken Wasserdampf empor.
Wohlige Wärme umgibt die Badenden, und einige von ihnen haben sich um ein
marmornes Schachbrett gruppiert, das Spiel aufmerksam verfolgend.
Thermalbäder sind auch im heutigen Ungarn tatsächlich Orte der Geselligkeit,
und vielleicht hat sich von der alten Konversationskultur hier mehr erhalten als
in den Kaffeehäusern.
Es stimmt: Budapest ist »Spa Capital of Europe«, gleichsam die Hauptstadt
der Wellness, und dies nicht erst, seit das modische Wort dafür Verbreitung
fand. Vorbei zwar die Zeiten, als es noch Strandbäder an der Donau gab, wie in
den Dreißigerjahren. Doch die rund 120 heißen Quellen – mehr als in jeder
anderen Stadt der Welt – sprudeln wie eh und je. Bäder errichteten hier bereits
die Römer, lange vor der Landnahme der Ungarn. In Óbuda, im Norden der
Hauptstadt, können Sie Ausgrabungen der römischen Siedlung Aquincum sehen,
darunter Becken aus dem zweiten Jahrhundert. Diejenige Badetradition, die bis
in die Gegenwart reicht, geht jedoch auf die Zeit der türkischen Besatzung
(1541 – 1686) zurück und erfuhr mit dem Bau von Jugendstilbädern um die
Jahrhundertwende einen weiteren Schub.
Wer nicht im Thermalbad war, der war nicht in Ungarn. Ganz gleich, ob Sie
sich nur erfrischen und entspannen möchten, oder aber Heilung in den heißen
Wassern suchen, wenigstens ein gyógyfürdő (Thermalbad, im Gegensatz zum
Schwimmbad: uszoda) sollten Sie während Ihres Aufenthaltes besuchen. Es ist
ein Erlebnis: durch das oftmals kuppelartige Dach fallen Lichtstrahlen in ein
dunkles Gewölbe, dessen Zentrum zumeist ein oktogonales Becken bildet.
Feuchtheiße Luft verlangsamt Ihre Bewegungen, während Sie von einem der
sternförmig angeordneten Kleinbecken ins nächste wechseln. Fangen Sie mit
dem kühlsten an und steigern Sie die Temperatur behutsam. Das Wasser, das aus
Löwenmäulern in Ihren Nacken strömt, kann über 40 Grad heiß sein. In den
heißesten Becken warnen Steintafeln vor allzu langer Verweildauer. Aber
vielleicht liegen Sie längst auf einer Steinbank, ruhen sich aus und vergessen,
dass es außerhalb dieser dampfenden Dunkelzone eine Welt voller Widersprüche
gibt … und dass es keineswegs immer so gleichberechtigt zuging. Es glich einer
Revolution, als nach der Renovierung des Rudas im Jahr 2006 zum ersten Mal
seit fast sechzig Jahren wieder Frauen das Bad benutzen durften. Wie stellt doch
Franz Fühmann in seinem Reisetagebuch fest: Der »Frauenkult« in Ungarn
(»man schenkt Blumen, man schmeichelt, man macht Komplimente und küsst
die Hände«) verweise letztlich »auf eine robuste Männerherrschaft«. Baden denn
Frauen anders? Diese trickreiche Frage veranlasste die polnische Künstlerin
Katarzyna Kozyra (*1963) dazu, Ende der Neunzigerjahre im Budapester
Gellért-Bad, wo Männern und Frauen getrennte Bereiche zugeordnet sind,
Kameras zu verstecken und aus den Filmen zwei Videoinstallationen zu machen.
»Badehaus« (1997) und »Männerbad« (1999) gerieten zu faszinierenden Studien
über Narzissmus, Voyeurismus und das Altern der Körper – samt
unterschwelliger Referenzen an Rubens. Und die Erotik? Im schwül-
verschwitzten Horthy-Ungarn der Zwischenkriegszeit, jenem Vulkan, auf dem
der Schriftsteller Klaus Mann tanzte, »tat sich was in den türkisch dekorierten
Bädern, deren Dämmerung – geil gesättigt vom Dampf der heilsam-heißen
Quellen – zur schamlos kollektiven Orgie lud«. Der Sohn des Nobelpreisträgers,
auf Einladung von Baron Lajos Hatvany 1937 zu einer Entziehungskur in
Budapest, ließ sich »im parfümierten Sumpf eines stark osteuropäisch oder
schon außereuropäisch gefärbten Lustbetriebs« zu bemerkenswerten
Betrachtungen über den Zusammenhang von Lust und Gewalt anregen: »Die
Massenorgie«, meditierte er, »enthält in sich den Keim zum Massenmord; jeder
Rausch ist potenzieller Blutrausch«. Das liegt, glücklicherweise, beinahe ein
Menschenleben zurück. Die Zeiten sind maßvoller, aber auch biederer
geworden. Heute gehören sogar die alten Lendenschurze, die der Bademeister
am Eingang reicht, mehr und mehr der Vergangenheit an. Im Király-Bad
beispielsweise, das besonders gerne von Schwulen frequentiert wird, hat die
Verwaltung Badehosenpflicht angeordnet.
Mein Lieblingsbad ist das Rudas. Sensibel saniert, kombiniert es zeitgemäße
Hygienestandards mit authentischem türkischen Thermalerleben. Der heutige
Zustand kommt dem über 450 Jahre alten Original sehr nahe. Funde aus der
Türkenzeit wurden ansprechend in den modernen Ruhebereich integriert.
Wunderbar ist die Lichtregie: farbige Glasbausteine in der Kuppel, übrigens der
größten ihrer Art in Europa, sorgen für eine geradezu zauberhafte Atmosphäre.
Besonders attraktiv sind die Öffnungszeiten des Rudas: An Wochenenden kann
man bis vier Uhr morgens dort baden, ganz gleich ob Mann oder Frau …
Wie das Rudas hat auch das Király ein pickliges Dach, das von Außen so
hässlich anmutet wie es von Innen schön ist. Was aus der Ferne wie eine Warze
aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Glasbaustein, dessen
Lichtkegel im achteckigen, domartigen Mittelbecken einfällt. Mit dem Bau des
Király wurde 1565 begonnen, womit es älter ist als jedes andere Budapester Bad.
Klein, intim und erfrischend unverkünstelt, verzichtet dieses Bad auf jeden
neumodischen Wellness-Gag. Das Király ist alte Schule und – trotz
regelmäßiger Frauenbadetage – a man’s world.
Wer jedoch auf die spaßigen Facetten des Wasseraufenthalts nicht verzichten
möchte, dem rate ich zu einem Besuch des Lukács-Bades. Hier bekommen Sie
beides: ein schwungvolles Außenbad mit Massagedüsen und Mitreißkorridor
einerseits, dunkle, höhlenartige Thermalbecken und eine zauberberghafte
Sanatoriumsatmosphäre anderseits. Vielleicht war das Lukács wegen Letzterer
lange Zeit der Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen. Es lohnt sich, in der
Trinkhalle am Eingang zu verweilen und auf dem Innenhof unter den herrlichen
uralten Platanen zu rasten. Achten Sie auf die Marmortafeln, mit denen sich
Patienten aus aller Welt für ihre Heilung bedanken, darunter einige in arabischer
und kyrillischer Schrift.
Die zweite Generation der Thermalbäder entstand im ersten Jahrzehnt des
20. Jahrhunderts. Am berühmtesten ist das Gellért, am Fuße des gleichnamigen
Berges, Teil des legendären Hotels. 1918 gebaut, verkörpert es mit viel Marmor,
Stuck und hohen Säulen eine prunkvolle, fast protzige alte Bäderherrlichkeit.
Imposant sind die Jugendstilmosaike aus türkisfarbenen Kacheln im Kassensaal.
Versäumen Sie nicht, auf dem Weg in den Thermalbereich das Schwimmbecken
mit Glasdach und Umlaufgalerie zu bewundern – oder zu benutzen!
Das zweite, ebenfalls besuchenswerte Jugendstilbad kennen Sie bereits – es ist
das Széchenyi, mit dem dieses Kapitel begann. 1913 eröffnet, war es das erste
öffentliche Bad auf der Pester Seite der Hauptstadt. Bis heute beherbergt das
malerisch im Stadtwald gelegene, gelb gestrichene Gebäude einen der größten
Bäderkomplexe Europas. Wie auch das Gellért- und das Lukács- kombiniert das
Széchenyi-Bad Thermal- und Schwimmbecken auf einem einzigen Gelände.
Ungewöhnlich aber ist, dass der Thermalbereich sich zum Teil unter freiem
Himmel befindet. Deshalb ist das Széchenyi ein Bad für den Winter und ein Bad
für die Dunkelheit. Dann weicht der fröhliche Freibadcharakter einer ruhigen,
fast meditativen Stimmung. In dieser ganz eigenen Kulisse aus Becken, Brunnen
und Badenden steigt Dampf empor, während auf dem Schachbrettmuster der
Kacheln Schneeflocken schmelzen. Nackt bei Niedrigtemperaturen, werden Sie
keineswegs zittern, sondern gleiten in warmen Wassern durch eine
Traumlandschaft – bis Sie das Becken verlassen und eine Gänsehaut Sie in die
Realität zurückholt.
Thermalquellen sprudeln nicht nur in Budapest. Das prominenteste Heilbad
außerhalb der Hauptstadt befindet sich am Balaton. Hévíz, Heißwasser, heißt der
mit 4,4 Hektar größte badetaugliche Thermalsee der Welt. Zugleich handelt es
sich um das älteste Heilbad Ungarns. Das Wasser dieses Sees erneuert sich alle
48 Stunden, und die Temperatur sinkt nie unter 23 Grad, erreicht im Sommer
aber gut und gerne auch zehn Grad mehr. Falls Sie keine Angst haben, Kalium,
Magnesium, Eisen, Mangan, Nickel, Kupfer, Chlorid, Bromid, Fluorid und
Sulfat an ihren Körper heranzulassen, sind Sie hier richtig. Anders als in der
Hauptstadt ist das Thermalerlebnis hier zugleich eine Naturerfahrung: Während
der radioaktive Heilschlamm, der den Seegrund überzieht, sich zwischen Ihren
Zehen festsetzt, wendet sich der Blick zu den Seerosen am Rande des
Gewässers …
Und da ich den Balaton gerade erwähnte: Sehen Sie es mir nach, wenn ich
dieses reizvolle Reiseziel, vor dem Mauerfall legendärer Treffpunkt von
Bundesdeutschen und DDR-Bürgern, mit drei Stichworten charakterisiere:
herrliche Landschaft; gut, wenn man ein privates Häuschen mit Seezugang hat;
die Hölle, wenn nicht. Plattensee heute, das heißt: verbaut, überteuert, proll.
Auch am Nordufer, das angeblich anders ist. Auch in Balatonfüred, das mit
eleganter Fin-de-siècle-Atmosphäre lockt, an dessen Promenade aber stattdessen
Großungarn-T-Shirts verteilt werden und zugedröhnte Jungurlauber einem den
letzten Schlaf rauben. Wer alte Bildbände aufschlägt, mit eleganten Bauhaus-
Strandhäusern aus der Zwischenkriegszeit, wird mehr als wehmütig. So viel
Feinsinn scheint nicht mehr erwünscht zu sein. Dabei kann es am Balaton
wirklich wunderschön sein: Auf den blühenden Lavendelfeldern der Halbinsel
Tihany, beispielsweise, oder wenn man bei einem Filet vom Fogas, dem
›Balaton-Zander‹, den Blick über den weitgestreckten, flachen See schweifen
lässt …
Pardon, aber mich zieht es zurück in die Budapester Thermalbäder. Ich
vergaß, auf ein eigentümliches Ritual hinzuweisen. Während Bäder wie das Rác,
das Rudas, das Gellért und das Széchenyi teilweise grundlegende Renovierungen
hinter sich haben, blieb vielerorts das Verstauritual der Wertsachen unverändert.
Ein Bademeister wird Ihren Spind verschließen, den Schlüssel jedoch bei sich
behalten. Sie bekommen stattdessen eine Metallmarke, auf der eine Nummer
eingestanzt ist, die der Bademeister mit Kreide in den Spind schreibt. Beim
Öffnen wird dann verglichen. Warum man Ihnen nicht gleich den Schlüssel
aushändigt? Vielleicht, damit der Bademeister ein kleines Trinkgeld
bekommt …
Thermalbäder sind eine uralte Einrichtung. Gleichwohl gelingt es den Ungarn,
sie auf die Höhe unserer Zeit zu bringen. Nicht nur durch Modernisierungen,
Wellness, Gemischtbadetage und großzügige Öffnungszeiten. Etwas
Einzigartiges, mit dem ich dieses Kapitel schließen möchte, spielt sich seit 1998
im Rudas-Bad ab: eine »Sparty« genannte Party, bei der sich das Türkenbad für
die Dauer einer langen Nacht in ein Tanz- und Chillout-Paradies verwandelt.
»Cinetrip«, so der Titel dieser sehr professionell organisierten Veranstaltung,
bringt DJs wie Palotai, Ungarns Gottvater der Turntables, zum Auflegen an den
Beckenrand, während Lichteffekte und Stummfilmprojektionen die akustischen
Impressionen unterstreichen. In den warmen Wassern werden Cocktails
getrunken, Blicke gewechselt und die Gegenwart gefeiert … Was immer der
Sultan dazu gesagt hätte, während einer solchen Nacht möchte man nirgends
sonst leben als in Ungarn.
Kaffeehäuser, dritte Generation.
Wohin, um einen fekete zu trinken?

»Die Uhren von Pest schlugen Mitternacht, als ein eleganter Herr das
Kaffeehaus betrat. Er kam mit Mantel und Hut, ganz in Schwarz gekleidet, und
näherte sich abgeklärt dem Marmortisch, der ihm im Kaffeehaus vorbehalten
war.« So beginnt Gyula Krúdys kleines Feuilleton über den Kritiker Zoltán
Ambrus. Die unscheinbare Szene, vor hundert Jahren ein Normalfall urbanen
Lebens, verrät vieles über die Kultur des Habsburger Kaffeehauses, auf deren
schwach gewordenen Spuren ich Sie auf den nächsten Seiten mitnehmen
möchte. Ambrus betritt das kávéház gegen Mitternacht. Tatsächlich hielten
zahlreiche Kaffeehausbetreiber ihr Lokal rund um die Uhr geöffnet. Der
Marmortisch, dem sich der späte Gast nähert, ruht selbstverständlich auf einem
Eisenfuß und gehört ebenso zum Kaffeehausmobiliar wie Thonetstühle und
lederbespannte Wandbänke. Als Habitué verfügt Ambrus über einen
Stammplatz, den die Kellner für ihn verlässlich freihalten. Wir wissen nicht, wo
er gerade herkommt, doch seine elegante Kleidung lässt die Vermutung zu, er sei
aus dem Theater oder einem Konzertsaal ins Kaffeehaus geeilt, um seine
frischen Eindrücke in eine vom Koffein belebte Kritik zu verwandeln. Denn ein
kávéház dient keineswegs nur als Ort der Erfrischung; es fungiert vielmehr als
Arbeitsplatz, zumal für Angehörige textproduzierender Berufe.
Um 1900 existierten rund 600 Kaffeehäuser in Budapest. Journalisten, die für
die 21 Tageszeitungen der Hauptstadt schrieben, waren dort ebenso anzutreffen
wie Schriftsteller, Künstler, Architekten, Anwälte und Kaufleute. Für einen
Pester Bürger war das Kaffeehaus der selbstverständlichste Aufenthalt, ein
zweites großzügiges Zuhause, »zugleich Telefonnummer, Familienkreis und
Geschäftsraum«, wie Sándor Márai es formulierte. Das kávéház: ein Ort der
Konzentration, der Konversation und der Kontroverse, an dem man sich
verabreden oder zufällig jemanden treffen kann, angeregt wird, zu sich selbst
kommt, wieder in die Welt findet und – wie das berühmte Bonmot sagt – in
Gesellschaft allein sein kann.
Im heutigen Budapest nennt sich fast jedes Lokal mit Schanklizenz kávéház,
so weit entfernt es von einem historischen Kaffeehaus auch sein mag. Bevor wir
jedoch einen genaueren Blick auf die strengen Kriterien werfen, denen ein echtes
Kaffeehaus zu genügen hat(te), muss eine wichtige Unterscheidung eingeführt
werden: ein kávéház ist keine cukrászda. Zwischen einem kávéház und einer
cukrászda kann aber durchaus Verwechslungsgefahr bestehen. Bei einer
cukrászda handelt es sich um einen Zuckerbäcker, eine Konditorei, bisweilen im
Grand-Café-Stil eingerichtet oder jedenfalls mit einem angehängten
Bewirtungsbetrieb, den man im Deutschen uncharmant als ›Oma-Café‹
bezeichnen könnte. Die cukrászda-Infrastruktur Ungarns ist deutlich besser
erhalten als die der Kaffeehäuser. Heutige ungarische Konditoreikunst reicht
kaum je an das Niveau französischer Patisserien heran, aber sie ist ordentlich.
Ein wenig antiquiert und unbeweglich kommt das Angebot meistens daher: Von
den Verfeinerungen unbeeindruckt, die weniger Zucker, besserer Kakao oder
leichtere Texturen andernorts bewirken, besticht das üppige Sortiment an
Cremetorten durchaus mit einem gewissen Retro-Charme.
Die älteste cukrászda Budapests stammt aus dem Jahr 1827 und befindet sich
auf dem Burgberg. Ruszwurm präsentiert sich noch immer im originalen
Biedermeierinterieur, mit Tresen aus Kirschholz und Mahagoniintarsien. In der
Szépvölgyi út in Óbuda, von den Knotenpunkten Pests und Budas weit
abgeschlagen, liegt die Konditorei Daubner. Machen Sie sich auf lange
Schlangen vor diesem schmucklosen Betrieb gefasst, denn Daubner gilt nicht
ohne Grund als einer der besten Bäcker Budapests. Sowohl links wie rechts der
Donau versorgt seit 1870 die Auguszt Cukrászda ihre Kunden mit
mehrstöckigen Torten. Die Filiale auf der Pester Seite liegt zentral, aber nicht
gerade gemütlich an der Kossuth Lajos utca. Die einzige koschere Konditorei
Mitteleuropas ist die Fröhlich Cukrászda in der Dob utca, bekannt für ihre
Flódni, ein Gebäck aus Äpfeln, Mohn und Nüssen. Eine echte Empfehlung!
Am ehesten wie Kaffeehäuser muten drei imposante Traditionskonditoreien
an, die leider ihre besten Tage bereits hinter sich haben. Das Gerbeaud, 1858 von
einem Schweizer Zuckerbäcker gegründet und seit 1870 am heutigen Standort,
erstrahlt unter deutscher Leitung wieder in altem Glanz: der Stuck, die
Kronleuchter, Edelhölzer und Brokattapeten beeindrucken leider mehr als die
Qualität der Backwaren, darunter die hauseigene Gerbeaud-Schnitte (Zserbó-
szelet), ein mit Schokolade überzogenes Teilchen, bei dem sich dünne
Teigschichten mit Walnusscreme und Aprikosenmarmelade abwechseln.
Vergangen ist das Kis Gerbeaud, das kleine Gerbeaud um die Ecke, an welches
sich András Török in seinem Budapest-Buch mit Wehmut erinnert, erlebte er
doch dort in seiner Jugend alte Damen mit schweren Parfüms, die über
mächtigen Tortenstücken mit ihren Freundinnen aus Übersee schlechte
Nachrichten austauschten und dabei eine wunderbare Zeit hatten …
Ganz anders die Geschichte der Konditorei Lukács in der Andrássy út. In den
Fünfzigerjahren diente sie der stalinistischen Geheimpolizei »AVO« als
Stammcafé. Heute ist das Lukács zur Hälfte Teil einer Bankfiliale und
hoffnungslos überteuert. Dennoch lohnt sich nach wie vor ein Blick ins
ansprechende Interieur mit Holzparkett, Kristallleuchtern und goldenem Stuck.
Ebenfalls in der Andrássy út liegt das Muvész (Künstler). Lange Zeit waren die
Möbel dort durchgesessen, der Kuchen miserabel und der Kaffee flau. Kürzlich
jedoch wurde das herrliche denkmalgeschützte Interieur moderat modernisiert:
Die Polster sind nun aus straff gespanntem Leder, auch Angebot und
Öffnungszeiten können sich sehen lassen. Atmosphärisch von ungebrochenem
Reiz, eignet sich das Café Künstler wieder als Treffpunkt.
Um zu den klassischen Kaffeehäusern zurückzukehren, erwähne ich die kleine
Múzeum Cukrászda am gleichnamigen Ring, neben der Universität. Sie ist
meines Erachtens gar keine richtige Konditorei, sondern eine Art Tankstelle für
schwarzen Kaffee und trockene Pogatschen. Ein Ort, der – wie ein richtiges
Kaffeehaus – niemals schließt und den nichts beeindrucken kann. Sehr urban!
Ein kávéház ist aber auch das Múzeum nicht, im Gegensatz zum Múzeum
nebenan, das immerhin mal eines war. Denn beim Restaurant Múzeum, das
früher Schodl oder Sódli hieß, handelte es sich ursprünglich um ein echtes
Kaffeehaus. Bis heute haben sich Maße und Einrichtung dieses 1885
gegründeten Etablissements erhalten: die Holzverkleidungen, Zsolnay-Kacheln
und Fresken stammen aus dem 19. Jahrhundert. Am Múzeum kann man
studieren, was das Handelsgesetz von 1872 und seine späteren Ergänzungen
verlangten, wollte jemand ein kávéház eröffnen: mindestens 150 Quadratmeter
Fläche, vier Meter hohe Wände sowie – und da muss das Múzeum heute passen
– mindestens zwei Billardtische! Denn zu einem Kaffeehaus gehörten nicht nur
koffeinhaltige Getränke, lebhafte Unterhaltungen und großzügige
Öffnungszeiten, sondern auch das Billardspiel. Die Firma »Antal Singer und
Sohn«, gegründet 1890 in Szeged, lebte vom großen Bedarf an Spieltischen und
verkaufte ihre hochwertigen Produkte auch ins Ausland.
Béla Bevilaqua Borsody unterschied in den Dreißigerjahren drei Arten von
Kaffeehäusern: türkische, in denen die »schwarze Suppe«, wie man den Kaffee
in Ungarn ursprünglich nannte, und der Konsum von Tabak im Vordergrund
standen; italienische mit ihren Glücksspielen und deutsche, wo man Zeitung las
und debattierte. Ungarn, so Borsodys Pointe, lag am Schnittpunkt aller drei
Kulturen und kombinierte die unterschiedlichen Elemente auf ingeniöse Weise.
Wilhelm Droste, selbst Kaffeehausbetreiber, spitzt diesen Gedanken in seinem
maßgebenden Essay über die Kaffeehauskultur wie folgt zu: »Mit der Erfindung
des Kaffeehauses in seiner klassischen Form gelang der Donaumonarchie, was
ihr politisch nicht mehr geglückt ist: die lebensfähige Integration des
Widersprüchlichsten.« Zwischen Westen und Balkan: das kávéház war ein Ort,
in dem der Umgang mit anderen Kulturen, Meinungen und Menschen
stellvertretend gelang. Gute Kaffeehäuser beweisen ihre Internationalität nicht
zuletzt durch eine große Auswahl abonnierter Presse (Ende des 18. Jahrhunderts
lag in jedem Budapester Café die Zeitung »Moniteur« aus, das offizielle Organ
der Französischen Revolution). Hier wird gelesen, geschrieben, Korrespondenz
empfangen und debattiert. Damit die Kehlen nie austrocknen, füllen Kellner das
zum Kaffee gereichte Wasserglas immer wieder unaufgefordert nach. Ein
kávéház hat hohe Fenster und vorzugsweise eine Ecklage: »Der
Kaffeehausgast«, bemerkt Droste, »verkriecht sich nicht vor der Welt, er ist
vielmehr an gesicherter Stelle mitten in ihr.« Ein ambitioniertes Kaffeehaus
importiert seine eigenen besonderen Bohnen und röstet vor Ort, damit sich der
köstliche Duft in der Nachbarschaft ausbreitet und die Passanten auf der Straße
anlockt. Gute Kellner wissen, was der Gast will, wann und wie er es will –
schließlich ist Kaffee nicht gleich Kaffee, Rührei nicht gleich Rührei und Zigarre
nicht gleich Zigarre.
Im kávéház muss im Übrigen keine Musik gespielt werden, denn – so Droste –
»das aneinanderschlagende Porzellan, der entweichende Dampfdruck der
Kaffeemaschine, das Murmeln der Gäste und das Aufschlagen der Schuhe einer
schönen Frau, die den großen Saal durchquert« bildet eine ganz eigene,
unwiderstehliche Musik …
Schwärmerisch wie dieser letzte Absatz, voller hochgespannter Erwartungen,
begab ich mich vor einigen Jahren, gleich nach meiner Ankunft in Ungarn, auf
die Suche nach den legendären Kaffeehäusern. Mit alten Büchern unterm Arm
zog ich von Adresse zu Adresse und fand – fast nichts! Am Oktogon etwa, in
dessen Umgebung sich einst die Kaffeehäuser ballten, folgte eine Enttäuschung
der nächsten: das Abbázia – eine Bank, das Savoy – ein Burger King, das
Drechsler – eine ungenutzte Immobilie, das Japán – immerhin eine schöne
Buchhandlung. Und so ging es weiter. Am Standort des Pilvax in der Pester
Innenstadt, wo der Unabhängigkeitskampf von 1848 seinen Ausgang genommen
hatte, befand sich nach Umbauten ein trostloses Hotel. Nicht besser die
Nachrichten, die mich später aus der Provinz erreichten: Im April 2007 schloss
in Szeged das Bécsi Kávéház, also das Wiener Kaffeehaus. Es war das Letzte.
Nein, in Ungarn ist es nicht mehr wie früher und in jedem Fall schlechter als
im trägeren Wien, wo sich ungleich mehr von der Habsburger
Kaffeehaustradition erhalten hat. Der eine oder andere historische Ort überlebte
gleichwohl auch in der ungarischen Hauptstadt. Beginnen wir mit dem New
York am Erzsébet körút. Seit seiner Eröffnung 1894 das pompöseste aller
Kaffeehäuser, war es – wie das Gresham an der Kettenbrücke und das Anker-
Haus am Deák tér – zunächst Sitz einer Versicherungsgesellschaft. Mit seinen
Marmorverkleidungen, dem Stuck, den Spiegeln und imposanten
Kristallleuchtern mutet das New York barock an. Unweit vieler Verlage,
Redaktionen und Theater gelegen, entwickelte es sich während der ersten drei
Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zum Treffpunkt von Journalisten und Literaten.
Die Redaktion der legendären Zeitschrift »Nyugat« (Der Westen) traf sich im
diesem Kaffeehaus. Das New York überzeugte die Autoren nicht nur mit seiner
Lage und einer großen Auswahl internationaler Zeitungen. Hinzu kamen
handfeste Vorteile wie die irótál (Schriftstellerplatte), eine ebenso preiswerte
wie sättigende Zusammenstellung kalter Speisen, die nur Schreibenden serviert
wurde, Papier und Tinte auf Kosten des Hauses, eine funktionierende Heizung
im Winter und vor allem: Kredit für Stammgäste. Unzählige Anekdoten zeugen
von der Lebendigkeit dieses Hauses: Nach einem seiner Selbstmordversuche soll
Ferenc Molnár mit einer Kugel im Bein an den Tisch des Schriftstellers Sándor
Bródy gehumpelt sein. Bródy empfahl Molnár, künftig besser zu zielen. Einen
solchen Rat, erwiderte der durch den Duft des Koffeins wieder zu Kräften
Gekommene, lasse er sich nur von jemandem geben, der zuvor mit gutem
Beispiel vorangegangen sei …
Am New York kann man lernen, dass es zwei Arten des Niedergangs gibt:
einen durch Verfall und einen durch Wiederaufbau. Den ersten erlebte dieses
kávéház im Kommunismus, den zweiten im Kapitalismus. Imre Kertész, der
Nobelpreisträger, hat die erste Variante mit unübertroffener Eindringlichkeit
geschildert. In den Fünfzigerjahren, als das 1947 geschlossene Kaffeehaus unter
dem Namen Hungária wiedereröffnet worden war, saß dort der jüdische
Schriftsteller Ernő Szép, ein Überlebender des Holocaust. Kertész beschreibt ihn
als einen Mann mit einem »winzigen Vogelkopf, den der Wind der Katastrophe
von Kaffeehaus zu Kaffeehaus trieb« und der sich mit der legendären Formel
»Ich war Ernő Szép« vorstellte, weil »alle Möglichkeiten, die es Ernő Szép einst
erlaubt hatten, Ernő Szép zu sein, beseitigt, liquidiert und verstaatlicht waren«.
Die Vorstellungsformel »Ich war Ernő Szép« könnte der letzte literarische Satz
gewesen sein, der je in den Wänden des New York kávéház erklungen ist. Was
sich heute dort befindet, nach Verfall und jahrelanger Schließung, hat mit dem
ursprünglichen Geist dieses Hauses nicht mehr das Geringste zu tun, bei aller
Ähnlichkeit an der Oberfläche. Die Besucher bekommen als Erstes einen
vulgären Handtaschenladen zu Gesicht, der Kaffee wird auf geschmacklosen
Plastiktischplatten serviert, Flachbildschirme berieseln die Gäste mit Werbespots
für die Investoren, die sich mit der – im Detail übrigens nachlässigen –
Restaurierung des New York brüsten. Im sogenannten »Tiefwasser«, einst
Billardzimmer und heute Restaurant, gesteht der Kellner hinter vorgehaltener
Hand, das Management halte das Personal an, italienischen statt ungarischen
Wein zu empfehlen. Die Bar, in der Gäste ignoriert werden, die nicht das
unangenehme Auftreten flegelhafter Neureicher haben, ist übrigens taghell
ausgeleuchtet …
Keine Karikatur, aber auch kein klassisches Kaffeehaus, ist das Gresham
Kávéház. Immerhin handelt es sich um ein tadelloses Café der obersten
Kávéház. Immerhin handelt es sich um ein tadelloses Café der obersten
Preisklasse, untergebracht in Budapests schönstem Jugendstilgebäude. Dieses
Lokal und seine Geschichte behandele ich ausführlich im Architekturkapitel.
Nach so viel Enttäuschungen nun die gute Nachricht. In Budapest existiert ein
empfehlenswertes Kaffeehaus alten Stils: das Centrál Kávéház in der Károlyi
Mihály utca. Weder museal noch falsch modernisiert, handelt es sich um die
gelungene Wiederauferstehung eines 1887 nach Plänen von Zsigmond Quittner
errichteten und seit 1949 in wechselnden Nutzungen verfallenen
Traditionshauses. Von Einheimischen wie Ausländern gleichermaßen besucht,
ist das Centrál tatsächlich ein Treffpunkt, an dem es guten Kaffee, ordentliches
Backwerk und eine reelle, selten überkandidelte Küche gibt. Das Centrál
offeriert übrigens auch gute Hauslimonade und – sensationell – druckvolle
Sodasiphons, eingeschlagen in eine Stoffserviette.
Bei Hauslimonade (házi limonádé) handelt es sich um eine ungarische
Spezialität, die Sie selbst dann bestellen sollten, wenn ein Lokal sie nicht auf der
Karte führt. Ursprünglich nur ein Sommergetränk, ist dieses Gemisch aus
zerdrückten Zitrusfrüchten und Sodawasser auch im Winter beliebt. Im Centrál
kommt die Limonade mit frischer Minze, serviert von gut ausgebildeten
mehrsprachigen Kellnern, die Stammgästen bisweilen unaufgefordert die
Zeitung bringen und noch dem dösigsten Touristen gegenüber eine
bewundernswerte Geduld an den Tag legen. Keine Selbstverständlichkeit in
Budapest! Zugegeben, die Presseauswahl im Centrál könnte umfangreicher sein,
und von Zeit zu Zeit verfällt das Management der Schnapsidee, aus einem
Kaffeehaus ein Restaurant machen zu wollen. Doch bislang hat das tapfere
Stammpublikum diesen Unfug nicht hingenommen. Das Centrál fährt, wie man
hört, seit seiner Eröffnung im Jahr 2000 Verluste ein, aber der Eigentümer, ein
ungarischer Millionär, der sich sein Kaffeehaus gönnt wie andere ihre
Kunstsammlung, zeigt sich einstweilen geduldig. Dafür an dieser Stelle ein
»nagyon szépen köszönöm«!
Im Centrál Kávéház habe ich viele Seiten dieses Buches geschrieben. Bevor
dort eingedeckt wurde, befand sich mein Stammplatz im Flügel »Hét« (benannt
nach der Zeitschrift »A Hét«, Die Woche, die hier redigiert wurde), wo das
Centrál seine Ecklage gewissermaßen voll ausspielt. So klischeehaft es klingen
mag: an einem verregneten Nachmittag dort zu sitzen, während der
Füllfederhalter auf der Marmortischplatte liegt, Notizen zu machen, zu lesen und
die Leute zu beobachten – das ist ein ganz unwiderstehliches Ungarnerlebnis.
die Leute zu beobachten – das ist ein ganz unwiderstehliches Ungarnerlebnis.
Unweit vom Centrál, im Klothildenpalast am Fuß der Elisabethbrücke,
befindet sich das ehemalige Belvárosi Kávéház von 1901. Hier hat Gyula Krúdy
geschrieben, zum Beispiel über das Leben in den Kaffeehäusern. Am 18. Januar
1945 öffnete das Belvárosi als erstes kávéház nach der deutschen Besatzung
wieder seine Türen und servierte Kaffee-Ersatz. Als ich in Budapest ankam, war
das Haus eine Ruine, aber durch die verstaubten, fast blind gewordenen
Fensterscheiben hindurch konnte man den alten Glanz erahnen. Dann auf einmal
große Spannung, denn plötzlich begannen Sanierungsarbeiten. Als die Gerüste
fielen, kam ein Spielcasino zum Vorschein, mit einem Auto als Hauptpreis im
Eingang, stiernackigen Türstehern und leicht bekleideter Bedienung. Allerdings:
Die Sanierung war vergleichsweise sensibel vonstatten gegangen, teils unter
Verwendung alter Materialien und in Anlehnung ans Original.
Der Spielbetrieb beschränkt sich aufs Erdgeschoss. Auf der Galerie befindet
sich wieder ein Lokal mit annehmbarer Gastronomie. Kaffeehausmöbel gibt es
zwar keine, doch eine gewisse Grandezza durch die schwungvolle
Galerienarchitektur und den einzigartigen Blick durch die Bleiglasscheiben auf
den Ferenciek tere. Es hätte also schlimmer kommen können. Gehen Sie einmal
rüber, die paar Schritte vom Centrál, und erspüren Sie, wie es gewesen sein
muss, als Kaffeehausgäste in dieser Stadt zwischen unzähligen hochwertigen
Alternativen wählen konnten …
Unser kleiner Parcours durch die Welt der Budapester Kaffeehäuser wäre
nicht komplett ohne einen Hinweis auf das Eckermann Kávéház. Wer längere
Zeit nicht in Budapest war, vermutet es vielleicht noch in der Andrássy út. Doch
nach dem Umzug des benachbarten Goethe-Instituts in die Ráday utca, dem es
schließlich folgte, hielt das Eckermann ein paar heroische Monate lang unter
dem Namen Három Holló (Drei Raben) die Stellung, befand sich doch hundert
Jahre zuvor am selben Standort die Stammkneipe des Dichters Endre Ady, deren
Namen das ehemalige Eckermann nun annahm. Seine endgültige Schließung im
Jahr 2006 markierte das Ende der alten Andrássy út, deren einstige Vielfalt
seither unter dem Druck ständig steigender Mietpreise fast völlig verschwunden
ist.
Wer zu den Gästen des Három Holló zählte, erinnert sich an einen
einzigartigen Ort: Da saßen Damen, die ihre Hüte niemals abnahmen, neben
Nachwuchsexistenzialisten, die ihr Studium wohl bis heute nicht abgeschlossen
haben. Durchreisende aller Art trudelten ein, es mischten sich die Sprachen;
Kultur entstand aus angeregten Gesprächen und zurückgezogenem Grübeln. Die
Luft war stickig, aber die Stimmung ließ jeden aufatmen. Gescheites Essen gab
es nicht, wichtiger war der gute Kaffee zu zivilen Preisen. Das Három Holló
hatte großzügige Öffnungszeiten, lohnte den Besuch einer sonntäglichen
Matinee so sehr wie unter der Woche, spätabends. Ein kurzer Rausch
exemplarischen Gelingens, ungedeckt von der Gegenwart, der rare Versuch,
ohne üppiges Finanzpolster die alte Kaffeehauskultur in neuem Gewand
wiederaufleben zu lassen. Zur Erleichterung vieler Stammgäste servierte man im
neuen Eckermann in der Ráday utca den Kaffee bald wieder so, wie Kenner ihn
schätzen: auf einem Alpaccatablett, mit kleinem Wasserglas und dem darauf
seitenverkehrt liegenden Kaffeelöffel. Nicht zuletzt dank eines gut gemachten
Angebots an kleinen Speisen, literarischer Lesungen und guter Stimmung,
schien ein Stück Kaffeehauskultur gerettet. Als jedoch Investoren dem Betreiber
reinredeten, ging es auch im Eckermann nicht mehr wie früher zu. Immerhin, an
guten Tagen setzte sich schon mal jemand spontan ans Blüthner Klavier und gab
ein paar Jazzimprovisationen zum Besten. Doch alles Daumendrücken nützte
nichts, der Betreiber musste schließlich aufgeben …
Wer den Niedergang der Kaffeehauskultur bedauert, sollte bei seiner
berechtigten Klage gleichwohl bedenken, dass das Verschwinden der
Kaffeehäuser bereits vor gut siebzig Jahren begann. Denn seit dem Ende der
Dreißigerjahre setzte sich in Budapest eine neue Art des Kaffeetrinkens durch,
nämlich die der Espressobars, auf Ungarisch eszpresszó oder kurz presszó
genannt. Die bürgerliche Kultur des Kaffeehauses kam einer sich
beschleunigenden Moderne mehr und mehr antiquiert vor. Jetzt ging es um die
schnelle Tasse, nicht um das stundenlange Verweilen. Natürlich existierten
weiterhin Kaffeehäuser, die sich teilweise auch architektonisch der neuen Zeit
anpassten. Das Vígszínház zum Beispiel wurde von Lajos Kozma, einem der
wichtigsten modernen Architekten Ungarns, 1934 umgebaut. Béla Hofstätter und
Ferenc Domány entwarfen 1936 das spektakuläre Dunapark, auf das ich im
Architekturkapitel näher eingehe. Und schon 1932 schockierte das Bucsinszky
am Teréz körút mit buntem Linoleumboden und hellrot gestrichenen
reflektierenden Wänden. Es waren aber nicht primär architektonische
Unterschiede, die das klassische kávéház vom modernen presszó trennten. Es
ging um die neue Gemütslage, die diesen Interieurs zugrunde lag. Sándor Márai
definierte das presszó im Jahr 1940 als »eine Räumlichkeit für kurze
Aufenthalte, von Italienern erfunden, für ihre nervösen Zick-Zack-Seelen«.
Anders als das großzügige Kaffeehaus sei die neue Espressobar »ein wenig
dunkel, grundsätzlich eng, überfüllt, eine weltmännische Plauderecke mit
Dämmerlicht für die eilige Jugend«. Das erste presszó eröffnete 1937 in der
Vigadó utca und hieß – nomen est omen – Quick.
Eine Innovation, die mit dem Aufkommen der presszó-Bars einherging,
übernahmen jedoch auch die alten Kaffeehäuser, nämlich die Zubereitung des
heißen Getränks mit einer Dampfdruckmaschine. Bislang wurde auf türkische
Art zubereitet, mit Kaffeesatz auf dem Boden einer jeden Tasse. Jetzt importierte
man italienische Maschinen. Das Spolarich auf dem József körút machte bereits
1925 mit einer »Pavoni« den Anfang.
Die presszó-Kultur kam dem Kommunismus entgegen. Weniger wegen ihrer
Hektik als wegen der antibürgerlichen Pointe dieser modernen Bars. Und wohl
auch deshalb, weil sich Gespräche auf kleinem Raum besser bespitzeln ließen.
So gerieten die presszós im Sozialismus zu einem kunstledernen Ersatz der als
bourgeois angesehenen Kaffeehauskultur.
Heute teilen die meisten Espressobars das Schicksal der Kaffeehäuser: Sie
sind beinahe ausgestorben. Am ehesten finden sich in ansonsten reizlosen
Außenbezirken Budapests Reste dieser Kultur, wo alte Männer nach Feierabend
hinter vergilbten Vorhängen sitzen und billiges Bier trinken. Die Stimmung
gleicht eher einer Dorfkneipe als einer urbanen Kaffeebar.
In der Pester Innenstadt hat das Terv überlebt. Mitten im Bankenviertel
erinnert sein Name, der »Plan« bedeutet, an eine verblichene
Wirtschaftsordnung. Das Terv ist durchaus echt, aber kein Lokal entspricht so
sehr dem Urbild eines presszó wie das Bambi, 1962 am Bem tér in einem
ausgesucht scheußlichen Plattenbau eröffnet. Das Bambi ist ein Juwel, ein
wahres Kleinod. Weiße Spitzendecken liegen auf Resopaltischplatten, zwischen
bunten, mosaikbesetzten Säulen streiten sich alte Männer beim Brettspiel,
während verlebte Damen, die nachlässig mit der Glut ihrer langen, dünnen
Zigaretten umgehen, immer wieder Löcher ins rote Polster brennen. Ein
unvorstellbar unprätentiöser Ort und gerade deshalb so gut. Hier kann man für
zwei Euro fünfzig frühstücken und den Espresso ausschließlich als dupla
bestellen, also als doppelten (im Gegensatz zum einfachen, der szimpla heißt).
Der Name Bambi ist übrigens kein Zufall: Das beliebte Reh wurde nämlich nicht
von Walt Disney erfunden, sondern von Felix Salten, einem gebürtigen
Budapester.
Ebenfalls eine alte eszpresszó-Institution: das Déryné am Krisztina tér. Ein
wenig uninspiriert lebte »Frau Déry« vor sich hin, bis zur Überraschung
kritischer Kaffeetrinker ihre vielversprechende Wiedergeburt stattfand. Der
verjüngten Dame scheint das Kunststück einer Rundumgastronomie zu gelingen,
die den richtigen Ton trifft. Ein in elegantem Schachbrettmuster gehaltener
Marmorfußboden verbindet formellere Speisebereiche mit Lounge und
Lederfauteuils, die zur Lektüre internationaler Presse einladen.
Zusammengehalten wird das Lokal durch eine oval geformte Bar in der Mitte
des Raumes. Wichtiger als die geschickt gestaltete Einrichtung ist jedoch die
Tatsache, dass hier, zumindest bis zum Zeitpunkt der Drucklegung, alte Damen
aus der Nachbarschaft genauso sitzen wie Wunderwerke kosmetischer Chirurgie,
die ihre bulligen Sponsoren zu dubiosen Geschäftsessen begleiten. Wenn das
mal gut geht …
Kennzeichnet das kávéház die erste und das presszó die zweite Generation
ungarischer Kaffeekultur, so ist die heutige Lage ein wenig unübersichtlicher.
Nach Krieg und Kommunismus hat sich die gesellschaftliche Situation erneut
gewandelt. Die Geschäftigkeit des postsozialistischen Wettbewerbs, niedrige
Renten und die schlechte Bezahlung vieler akademischer Berufe drängt
ausgerechnet eine für Kaffeehäuser besonders prädestinierte Klientel aus der
Geselligkeit hinaus und in aufreibende Zweit- und Drittjobs hinein.
Und doch denke ich, dass der Geist altungarischer Kaffeehauskultur in kleinen
Nischen und verwandelter Gestalt weiterhin existiert. Stets ist die Melancholie in
Magyarország nur die Kehrseite eines nervösen Nachvornedrängens. Treten
vielleicht die aus dem Boden schießenden, ein wenig esoterisch
daherkommenden Teehäuser einen Teil des Kaffeehauserbes an? Sogar
Schokoladebars haben in Budapest schon eröffnet. Die eigentliche dritte
Kaffeehausgeneration bildet meines Erachtens jedoch die Vielzahl durchaus
sympathischer Internetcafés. Jetzt bitte keinen Kulturpessimismus! Márai
vermisste vor einem Menschenleben die »epische Welt der Kaffeehäuser« und
bedauerte, dass im eszpresszó nicht mehr geschrieben, sondern nur noch geredet
werde. Heute lautet die Klage, es werde nicht einmal mehr geredet, sondern nur
noch gechattet. Aber das ist Unsinn, wie jeder, der zum Beispiel das Farger am
Szabadság tér kennt, bestätigen wird. Dieses Café, das nicht mit dem Pavillon in
der Mitte des Platzes verwechselt werden sollte, teilt mit den traditionellen
Vorbildern eine ganze Reihe von Eigenschaften: die Ecklage, die entspannte
Atmosphäre, das Angebot internationaler Zeitschriften, erschwingliche Snacks,
erstklassigen Kaffee. Von einem jungen Paar und nicht etwa einer
internationalen Kette geführt, zieht das Farger ein gemischtes Publikum an, das
ebenso drahtlos wie auf konventionellen Wegen kommuniziert.
Eine weitere interessante Facette der gegenwärtigen ungarischen Kaffeekultur
besteht in einer Fülle empfehlenswerter Orte, die auf die eine oder andere Art
etwas mit Kunst zu tun haben. Da ist das Mai Manó Kávézó, ein winziges,
immer volles Café im Erdgeschoss des Budapester Fotomuseums. Oder das
cool-modernistische Merlin im gleichnamigen Theater; das elegante Uránia, das
zu einem alten Kino in der Rákóczi út gehört. Apropos Kino: Besonders
sympathisch ist mir das Simplon in der Bartók Béla út auf der Buda-Seite der
Stadt, denn dieses liebevoll gestaltete Lokal erinnert mit seinem Dekor an das
Simplon-Kino, das 1934 an dieser Stelle als erstes ungarisches Lichtspieltheater
im Bauhausstil eröffnete. Nicht weit davon, am Dezső Kosztolányi tér, kann man
im Tranzit, einem umgestalteten Bus-Terminal aus dem Jahr 1965, einen fekete,
also einen Kleinen Schwarzen bestellen. Ebenfalls in Buda befindet sich auch
das Café Alkoholos Filc, das zur Várfok-Galéria am Fuß des Burgbergs gehört
und auch als Ausstellungsraum dient.
Die Liste ließe sich mühelos verlängern, um das gemütliche Alibi am
Egyetem tér zum Beispiel, um die Sir-Morik-Kette mit ihrem starken Espresso,
aber auch um das Coffein Café am Széchenyi tér in Pécs, Ungarns
zweitattraktivster Stadt, oder die Basic Bar im Grand Hotel Aranybika in
Debrecen. Kaffeehäuser kommen wieder, in alter Form und in neuer Gestalt. Es
scheint, als ob die Talsohle mittlerweile durchschritten ist und Ungarn mit der
Wiederaneignung einer seiner besten Traditionen beginnt.
Egészségedre!
Wein diesseits von Stierblut und Restzucker

Vor den Toren Londons befindet sich das Restaurant The Fat Duck, dessen
Dreisternekoch Heston Blumenthal zur Weltspitze gehört. Einem großzügigen
Freund verdanke ich einen unvergesslichen Abend in diesem Lokal. Während
der Aperitif im Glas moussierte, stimmten uns raffinierte Grüße aus der Küche
auf das Menü ein. Ich warf einen neugierigen Blick in die umfangreiche
Weinkarte: Pétrus, Latour, Mouton Rothschild … bekannte Namen – und
vorhersehbare. Doch dann die Überraschung: Ein paar Seiten weiter entdeckte
ich ungarische Weine. Zu Preisen, die mein Erstaunen hervorriefen: 198 Pfund
für die günstigere Flasche, 810 Pfund für die etwas kostspieligere. Historische
Raritäten? Keineswegs, die Weine stammten aus dem Jahr 1999. Ein Irrtum?
Sicher nicht, denn wer hier sitzt, weiß, wofür er sein Geld ausgibt. Zum Beispiel
für Weine aus Ungarn, Weine aus Tokaj, Weine von Winzer István Szepsy.
Zeit also, ein paar Vorurteile zu korrigieren. Wenn Sie bei ungarischem Wein
zuerst an das klebrige, unsäglich süße Zeug denken müssen, das Ihnen Tante
Edith immer aus dem Osten mitbrachte – dann haben Sie jetzt Gelegenheit,
etwas Neues zu probieren. Ungarischer Wein hat auch nichts mehr mit jenem
Erlauer Stierblut zu tun, dem Sie beim Badeurlaub am Balaton damals diesen
höllischen Kater verdankten. Gewiss, noch immer bestellen Abenteurer in
dunklen Weinlokalen, sogenannten borozó, eine »vbk«, das ist eine vörös boros
kóla, also eine warme Coke mit kaltem Rotwein. Meiden sollten Sie auch jene
Kellerläden, die den Rebensaft aus Tankwagen in ihre Fässer geliefert
bekommen. In meiner Nachbarschaft gibt es einen, und ich bin jedes Mal ein
wenig benommen, wenn ich ihn passiert habe. Wer sich hingegen in einen gut
sortierten Fachhandel oder ein Lokal mit anspruchsvoller Weinkarte begibt, kann
ein ganz eigenes Terroir erschmecken, regionale Rebsorten kennenlernen und
ein Weinland würdigen, das es geschafft hat, an eine weit zurückreichende,
höchst beachtenswerte Tradition anzuknüpfen.
Kein Geringerer als der britische Weinpapst Hugh Johnson schrieb, »dass
Ungarn mit Ausnahme von Frankreich und Deutschland als einziges Land auf
der Welt auf eine uralte, eigenständige und wahrhaft klassische
Weinbautradition zurückblicken kann«. In Tokaj, jener Region, der auch die
Preziosen im Londoner Luxuslokal entstammten, reicht diese Tradition über
400 Jahre zurück. Seit 1772 – früher als irgendwo sonst auf der Welt – werden
Weine dort nach Lagen qualifiziert. Aus Ungarn stammen aber nicht nur
edelsüße Tropfen; das ganze Spektrum ist vertreten: rot, weiß und auch rosé, mit
dem sogenannten »Siller« sogar eine etwas marmeladige Variante des Primeur.
Beliebt ist ferner fröccs, also das, was man in Deutschland Schorle und in
Österreich Gespritzten nennt: Weißwein mit Sodawasser. Einzig die ungarischen
Schaumweine müssen den internationalen Vergleich scheuen. Dafür kann
Ungarn aber mit etwas aufwarten, das weder das Land des Descartes’ noch das
Land Hegels je hervorgebracht hat: einen Weinphilosophen. Es war der
eigensinnige Denker Béla Hamvas (1897 – 1968), der der Welt eine Wein-
Metaphysik bescherte. Europa lag in Trümmern, als sich Hamvas 1945 an den
Balaton, eine klassische Weißweingegend, zurückzog, um im Wein die Wahrheit
und im Rausch »die höhere Nüchternheit« zu finden. Wer sich von den
religionsphilosophischen Betrachtungen der ersten Seiten nicht abschrecken
lässt, wird beim Lesen der »Philosophie des Weins« mit einer sehr sinnlichen
Charakteristik ungarischer Weine und ihres Genusses belohnt. Man darf dem
Snobismus nicht allzu ungewogen sein, um dieses Buch goutieren zu können,
und erwarte kein modernes Frauenbild … doch dann: auf jeder Seite originelle
Einsichten, poetische Formulierungen und praktische Ratschläge. »In jedem
Wein wohnt ein kleiner Engel, der, wenn man den Wein trinkt, von den bereits
Anwesenden mit Gesang und einem Blumenregen empfangen« wird, schreibt
Hamvas beispielsweise. Er verrät, dass der Villányer Wein »gerade nur so viel
Erregung« schenke »wie Tanzende sie zum Plaudern benötigen«, dass
Hegyaljaer hingegen »prachtvoll in Konzertpausen« passe und man Révfülöper
»hauptsächlich im September am späten Nachmittag« trinken solle, und zwar
zum Briefeschreiben. Georg Lukács, der einflussreiche marxistische
Großphilosoph, reagierte auf die unorthodoxen Genuss-Gedanken seines
Kollegen bierernst, missbilligte sie – und erwirkte ein Publikations- und
Berufsverbot. Ungebrochen lebensbejahend, musste sich Béla Hamvas die
letzten zwanzig Jahre seines Lebens von Hilfstätigkeiten ernähren. Das
Schicksal des Weinbaus im Kommunismus ist ebenfalls mit wenigen Worten
umrissen: Man setzte auf Ertragssteigerung und Qualitätsminderung; Dirigismus
machte eigensinnigen Winzern das Leben schwer. Als der Eiserne Vorhang
schließlich fiel – ein Vorgang, den die Ungarn maßgeblich beschleunigten –,
ergriffen internationale Investoren, darunter Erfolgsgüter aus Frankreich,
Spanien und Italien, sogleich die Initiative und erwarben Weinberge, statteten
Keller mit modernster Technik aus und eröffneten talentierten Winzern die
notwendigen Spielräume, um an Vorkriegserfolge anzuschließen. Nicht selten
kehrten reich gewordene Ungarn aus der Emigration zurück und begannen eine
zweite Karriere als Weinbauer, wie beispielsweise Huba Szeremley, der als
Unternehmer im Nahen Osten und in Nigeria vermögend geworden war und
heute in Badacsony alte Rebsorten züchtet.
Endlich ging es los: Szepsys Weine, das wissen Sie schon, schafften es an die
exklusivsten Orte. Tibor Gál, ein viel zu früh verstorbener Winzer aus Eger, war
mit seinem Rat sogar in Südafrika gefragt. Und von Attila Geres Spitzen-Merlot
»Solus« erzählt man, er sei bei einer Blindprobe mit einem Château Pétrus
verwechselt worden … Kein Wunder also, dass das Magazin »Der
Feinschmecker« kürzlich klagte, Ungarns Topweine würden »den Winzern aus
den Händen gerissen, bevor sie in den Export gelangen«. Tatsächlich kommen
sie, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, bisweilen nicht einmal im Land selbst
in die Regale. Ich erinnere mich an manch hektisches Telefonat, um mir
begehrte Bouteillen zu sichern. Zum Glück gibt es Gábor, meinen Weinhändler,
dessen Rat mittlerweile auch im ungarischen Fernsehen gefragt ist. Ihm
verdanke ich die Verkostung zahlreicher ungarischer Weine. Und so manches
Loch im Portemonnaie … Denn längst sind ungarische Weine kein Schnäppchen
mehr. Bei den Preisen im Fat Duck handelt es sich freilich um Ausreißer nach
oben. Sie können in Pécs oder Debrecen auch für fünf Euro eine ordentliche
Flasche ungarischen Weißwein bekommen (von Jásdi, Konyári oder Lisicza,
beispielsweise). Doch selbst gehobene Alltagsweine lassen immer öfter die
beispielsweise). Doch selbst gehobene Alltagsweine lassen immer öfter die
Frage nach einem vernünftigen Preis-Leistungs-Verhältnis offen. Ein »nationales
Premium« nennt Akos Forczek diesen Preisaufschlag, den die Ungarn, stolz auf
ihren Wein, anscheinend gerne bezahlen. Akos, ein Ungar, der fünf Sprachen
fließend spricht, sitzt mit seiner Importfirma »Top Selection« in Londons
noblem Stadtteil Mayfair. Er handelt mit Wein und exklusiven Spirituosen und
ist István Szepsys Generalimporteur. Sein internationaler Horizont rückt meinen
Enthusiasmus ein wenig zurecht. In Ungarn, sagt er, sei der Weinmarkt
weitgehend auf die nationalen Produkte beschränkt, es fehle der Wettbewerb mit
Winzern aus anderen Ländern, der auch die Preise nach unten regulieren könne.
Zudem hätte man bislang wenig Erfahrung mit der Lagerfähigkeit der
ungarischen Rotweine machen können. Üppige Jahrgänge wie 2003 und 2005
beeindruckten trotz ihrer hohen Alkoholgehalte schnell. Doch wie werden die
Winzer mit weniger sonnigen Jahren umgehen? Derzeit, lautet sein Resümee,
könne nur Tokaj im weltweiten Wettbewerb mithalten, und aus Tokaj letztlich
nur István Szepsy. Vielleicht. Zwei Aspekte, die Akos selber einräumt, stimmen
mich jedoch optimistischer. Da ist zum einen die Tatsache, dass guter
ungarischer Wein dank des speziellen Klimas, der Böden sowie einer Fülle
weiterer Faktoren ein unverwechselbares Gepräge, ein einzigartiges Terroir
besitzt. Und zum anderen sind da die sogenannten autochthonen Rebsorten,
ungarische Ureinwohner sozusagen, jene Weintrauben, die nur in Ungarn
angebaut werden.
Ganz Ungarn könnte ein einziger Weinberg sein, zumindest, was die
klimatischen Voraussetzungen anbelangt. Nicht weniger als zwanzig nach
Mikroklima und Boden unterschiedene Weinbauregionen gibt es in diesem
kleinen Land. Zu viele, um sie hier alle vorzustellen, doch möchte ich einige,
nach meiner Ansicht besonders bemerkenswerte auswählen. Ich kann Ihnen nur
empfehlen, sich selbst ein Bild zu machen und Ungarns Weinlandschaften zu
bereisen. Es lohnt sich. Unvergessliche Eindrücke bieten sich dar, wenn Sie etwa
im Schloss des Grafen Degenfeld aufwachen, während zwischen den anmutigen
Hügeln Tokajs der Morgennebel aufsteigt. Ganz anders, aber nicht weniger
reizvoll sind die Winzerpensionen in Villány, wo man beispielsweise bei Bock
oder Gere zu reeller Kost robuste Rotweine trinken kann. Aber auch Szekszárd
und Sopron sind einen Abstecher wert.
Die bekannteste, bereits mehrfach erwähnte Weinregion Ungarns ist Tokaj.
Sie liegt im Nordosten des Landes. Das Wort Tokaj bezeichnet neben der
Sie liegt im Nordosten des Landes. Das Wort Tokaj bezeichnet neben der
Region auch einen adretten kleinen Ort mit vielen Storchennestern und einem
lauschigen Marktplatz.
Der Ausdruck Tokajer ist ferner zu einem etwas unscharfen Sammelbegriff
für die zumeist süßen Weine aus dieser Gegend geworden. Hier, in Tokaj, wurde
edelsüßer Wein gewissermaßen erfunden, lange vor französischen
Dessertweinen und deutschen Trockenbeerenauslesen. Die Bedingungen sind
ideal: heiße Sommer und ein langer Herbst mit dichtem Nebel über den
Weinbergen begünstigen die sogenannte Edelfäule. Ein Schimmelpilz, der den
lateinischen Namen Botrytis cinerea trägt, befällt die vier Weißweinsorten, die
in Tokaj angebaut werden: Furmint, Hárslevelu, Gelber Muskateller und
Oremus. Der Pilz beschädigt die Traubenhaut, woraufhin die Sonne die Beeren
austrocknet. Das Besondere: Der Geschmack geht dabei nicht verloren, sondern
es sammelt sich ein Nektar im Innern der Beeren. Die rosinenartigen Trauben
werden dann mühsam von Hand gelesen (einer der Gründe, warum dieser Wein
so teuer ist), mit Basiswein verschnitten und erneut fermentiert. Erst jetzt erfolgt
die langsame Reife in Eichenfässern. Man unterscheidet drei Arten von süßem
Tokaj: den Szamorodni, bei dem auch unbefallene Trauben zum Most gehören,
den Aszú und die Eszencia. Aszú (»gedorrt«) kann verschiedene
Konzentrationsstufen haben. Je größer der Anteil edelfauler Trauben, desto
hochwertiger ist letztlich der Wein. Die Konzentration wird nach den
ursprünglichen Tragegefäßen der Trauben in puttony (Butten oder Körbe)
gemessen, auf einer Skala von drei bis sechs. Wo sieben oder mehr Butten zum
Einsatz kommen, spricht man von Eszencia. Solcher Wein ist hoch konzentriert,
von sirupartiger Konsistenz und kann bis zu hundert Jahre lagern.
Meine erste Begegnung mit Süßweinen aus Tokaj hatte ich in der ungarischen
Akademie der Wissenschaften. Welche Institution wäre im Land der
Weinphilosophie geeigneter gewesen, eine Jubiläumsverkostung der
Winzerorganisation »Tokaj Renaissance« zu beherbergen? Mit einigem
Geschick war es mir gelungen, mich unter die glückliche Gästeschar zu mischen.
Mildes Abendlicht fiel auf den knarrenden Parkettboden, und durch hohe Fenster
konnte man auf die träge dahinfließende Donau blicken. An diesem Abend
stellten die besten Tokaj-Winzer ihre Erzeugnisse vor: Gläser voller goldgelber
öliger Nektare leuchteten auf den Stehtischen, denen der Duft von weißen
Blüten, frischen Marillen, Dörrfrüchten und Akazienhonig entströmte. Schluck
Blüten, frischen Marillen, Dörrfrüchten und Akazienhonig entströmte. Schluck
für Schluck erweiterte sich das Geschmacksspektrum: bald rustikal und
dunkelwürzig, dann frisch, nach Weinbergpfirsich, Holunder und Heu
schmeckend.
Unter den werbenden Winzern befanden sich etwa das Gut Oremus, das
harmonische, gut trinkbare Tokaj für faires Geld anbietet oder das Gut Hétszőlő,
das mit Varianten der Rebsorte Hárslevelu überzeugt, deren Süße selbst bei
höchsten Konzentrationen angenehm zurückhaltend ausfällt. Ein Winzer jedoch
erregte meine besondere Aufmerksamkeit. Denn im Gegensatz zu allen anderen
Anbietern offerierte István Szepsy aus dem winzigen Ort Mád nur einen
einzigen Wein, und der trug weder ein Etikett noch war er bereits im Handel zu
haben. Gleich nach dem ersten Schluck wusste ich, warum dieser Mann sich
solches Understatement leisten kann. Szepsys Cuvée 2003 (um den handelte es
sich) unterschied sich von den bis ins sherryhaft-harzige reichenden, oxidativen
Süßweinen anderer Erzeuger durch ihre feine, fast schwebende Grasigkeit, war
bei aller Komplexität wunderbar klar, ja geradezu durchsichtig. Wäre der
Bauhaus-Künstler László Moholy-Nagy Winzer gewesen, so ungefähr dürfte
sein Wein geschmeckt haben.
Familie Szepsy, erfuhr ich bald, stellt seit dem 17. Jahrhundert Süßweine her.
Das Gut bebaut erstklassige Südhanglagen aus Vulkangestein und verwendet
ausschließlich Fässer aus ungarischer Eiche. István Szepsy, der zeitweilig auch
unter den Namen »Királyudvar« und »Zemplén Hegyhát« erschwinglichere
Varianten produzierte, ist für Ungarn, was Alois Kracher für Österreich und
Château d’Yquem für Sauternes sind: die Referenz. Der britische Weinkritiker
Stuart Pigott bescheinigte ihm einmal »aromatischen Wahnsinn und
geschmackliche Brillanz«. Das ist sicher zutreffend, doch vor allem fällt die
unvergleichliche Feinheit auf, die allen Szepsy-Weinen, süßen wie trockenen,
edlen wie einfacheren, eigen ist. Wenigstens einmal im Leben sollten Sie ein
Glas davon trinken.

Stierblut. Falls Sie bei ungarischem Wein nicht zuerst an Süß-, sondern an
Rotwein denken, wird Ihnen diese Bezeichnung vermutlich bekannt vorkommen.
1552, so die Legende, sollen sich ungarische Soldaten beim Kampf gegen die
türkischen Eroberer mit Rotwein gestärkt haben. Als sich die Rüstungen und
Bärte der Krieger daraufhin rot färbten, habe der Gegner angenommen, die
Soldaten hätten Stierblut getrunken. Rasch ergriffen die Türken die Flucht.
Seither schätzt der stolze Magyar den Egri Bikavér, auf Deutsch: das Erlauer
Stierblut. In Wahrheit jedoch stammt dieser Verschnitt aus Kadarka,
Kékfrankos, Kékoporto und Cabernet gar nicht aus Erlau, sondern aus
Szekszárd, einer Weingegend im Südwesten Ungarns. Und Szekszárdi Bikavér
schmeckt meines Erachtens auch fast immer besser als Egri Bikavér. Aus
Szekszárd kommen nicht umsonst einige der besten ungarischen Rotweinwinzer,
namentlich Ferenc Takler, der Erzeuger des vorzüglichen »Primarius« oder
Csaba Sebestyén, dessen »Gradus«-Cuvée ich Ihnen empfehle. Mir persönlich
gefällt sogar nicht nur der Bikavér aus Szekszárd besser als der aus Eger; meiner
in aller Bescheidenheit vorgebrachten Meinung nach sollten Reisende auch das
gepflegte Städtchen Szekszárd der sogenannten Barockperle Eger vorziehen …
Aber bleiben wir sachlich, mit anderen Worten: beim Wein. Da hat Eger, im
Nordosten des Landes gelegen, mit Erzeugern wie Gróf Buttler und seinen
fülligen Roten oder György Lőrincz vom Gut St. Andrea durchaus etwas zu
bieten. Wichtiger noch: Eger ist die Heimat des großen Tibor Gál. Dieser Mann
war neben István Szepsy der international wichtigste ungarische Winzer der
Nachwendezeit, bis er vor einigen Jahren bei einem Flugzeugunglück in
Südafrika verstarb. Gál schuf für das renommierte italienische Weingut Antinori
den »Ornellaia«, und sein »Capaia« wurde zum besten Rotwein Südafrikas
gekürt. Unvergessen ist mir der letzte Wein, den Gál in Südafrika hergestellt hat:
der »Blue Grove Hill« aus dem Jahr 2004, eine meisterhafte Cuvée aus Cabernet
Sauvignon und Merlot. Aber auch die letzten Jahrgänge seiner in Ungarn
angebauten Weine bleiben noch lange in Erinnerung, darunter ein sehr feiner,
sortentypischer Pinot Noir und ein mutig-kantiger Cabernet Franc.
Tibor Gál war ein weltweit aktiver Weinmacher mit ungarischem Pass.
Andere verstehen sich zuerst einmal als Europäer. Das gilt ganz besonders für
diejenigen Winzer, die in den Grenzgebieten zu Ungarns Nachbarländern ihren
Wein anbauen, allen voran für den Österreicher Franz Weninger. Als Ungarn im
Mai 2004 Vollmitglied der Europäischen Union wurde, feierte Weninger, der
lange schon diesseits und jenseits der Grenze arbeitete, das Ereignis auf seine
Art. Er schuf die Cuvée »Terra Nemo«, die je zur Hälfte aus österreichischem
und ungarischem Wein bestand. Weninger bewies auf wohlschmeckende Weise,
was die europäischen Staaten so lange missachtet hatten: dass sie keine
natürlichen Gebilde darstellen, sondern dass ihre Grenzen einer künstlichen
natürlichen Gebilde darstellen, sondern dass ihre Grenzen einer künstlichen
Linienführung folgen. Jetzt wuchs staatsrechtlich zusammen, was weinbaulich
schon lange zusammengehörte: die Gegend um Sopron im Nordwesten Ungarns
und das Mittelburgenland in Österreich. Franz Weninger stammt aus Horitschon,
wo auch sein Vater als Winzer tätig ist, baut aber in Balf nahe Sopron seinen
Wein an. Aus dieser Region kommen dichte, sonnensatte Rotweine wie die der
Erzeuger Luka oder Ráspi.
Franz Weningers Weingut ist jedoch keineswegs nur wegen seines
grenzübergreifenden Geistes interessant. Denn Weningers eigentliche Mission
besteht in der Widerlegung eines Vorurteils, das sich selbst unter renommierten
Weinexperten hartnäckig hält. Es lautet: Kékfrankos (Blaufränkisch oder
Lemberger) kann niemals einen großen Wein geben. Falsch! Weningers Weine,
zumal die der Lage Spern Steiner, belegen das Gegenteil. Von tiefdunkler Farbe,
stets tadellos vinifiziert, mit samtig eingebundenem Tannin, feiner Kirschfrucht
und würzigen Noten, arbeiten diese herrlichen Tropfen die Schieferböden ihrer
Lagen sensibel heraus. In besonders geglückten Jahrgängen gelang selbst sein
preiswerter Standardkékfrankos so gut, dass man sich noch bei den
unterschiedlichsten Gastgebern darauf verlassen konnte, ihn angeboten zu
bekommen.
Franz Weninger nahm vieles vorweg, was in Ungarns Weinbau mehr und
mehr im Kommen ist: grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die
Wertschätzung regionaler Rebsorten, aber auch eine moderne grafische
Gestaltung der Etiketten, eine engagierte Kellereiarchitektur und schließlich: die
Umstellung auf biologisch-dynamische Bewirtschaftung.
Zu den ersten Aktivitäten Weningers in Ungarn gehörte eine noch immer
andauernde Kooperation mit Attila Gere in Villány. Der Autor Michael Allmaier
leitete eine Reportage über diese Region im Südwesten Ungarns mit einem
beneidenswert schönen Satz ein: »Wenn Villány ein Wein wäre, dann müsste
man sagen: Er ist noch verschlossen.« Unterdessen darf jedoch behauptet
werden, dass sich dieser Wein ein wenig öffnet. Denn in Villány bewegt sich
was. Überall wird gebaut: umgebaut, angebaut und ausgebaut. Neue Keller
entstehen, Pensionen und Lokale. Villány, die führende Rotweingegend
Ungarns, nimmt auch beim Weintourismus eine Vorreiterrolle ein. Zu
denjenigen, die Weinbau, Pensionsbetrieb und Gastronomie erfolgreich
verbinden, gehört beispielsweise die Familie Bock. Mit den Weinen dieses
stämmigen Winzers sind Sie stets auf der sicheren, wenn auch nicht gerade auf
stämmigen Winzers sind Sie stets auf der sicheren, wenn auch nicht gerade auf
der preiswertesten oder aufregendsten Seite. Bocks rustikales Hoflokal in
Villány ist aber in jedem Fall einen Besuch wert, weit mehr übrigens als sein
Bistro in Budapest.
Es ist herrlich, durch die Weinberge von Villány zu wandern. Auf Ihren
Wegen können Sie auch den Kopár erblicken, einen Hügel, der als die wärmste
Weinlage Ungarns gilt. Hier baut Attila Gere seine Spitzenweine an. Spannend
ist es, Geres finessenreichen Kopár mit dem weit konservativeren seines
Kollegen Mayer zu vergleichen. Die Rebstöcke liegen zwar dicht beieinander,
die Resultate sind jedoch vollkommen unterschiedlich. Bedarf es eines weiteren
Beweises dafür, wie entscheidend beim Weinbau die Winzerpersönlichkeit ist?
Deshalb sollten Sie Attila Gere auch nicht mit Tamás Gere verwechseln, dessen
Weine weit weniger bemerkenswert ausfallen. Gere Attila, wie er auf dem
Weinetikett in ungarischer Reihenfolge heißt, vertritt übrigens die umstrittene
These, die Rebsorte Cabernet Franc stamme ursprünglich aus Villány. Viele
Franzosen werden ihm dabei wohl nicht folgen, doch teilt der britische
Weinexperte Michael Broadbent Geres Überzeugung. In jedem Fall produziert
Gere vorzügliche, dunkelbeerige Cabernets, besonders in der Barrique-Variante.
Ich habe sie vor Ort verkosten dürfen, und bei dieser Gelegenheit auch den
allerersten Wein von Attila Gere junior probiert. Seine sogenannte »Athus«
Cuvée 2004 besteht zur Hälfte aus Kékfrankos und zu je einem Viertel aus
Blauem Portugieser und Cabernet Sauvignon. Das feine Bukett, die zartrote
Farbe und die frische Frucht dieses Gesellenstücks lassen hoffen, dass Familie
Gere unter Weinfreunden noch lange ein Begriff bleiben wird.
Bevor wir uns dem Weißwein zuwenden, ein letztes Wort über Villány.
Vielleicht interessiert es Sie, dass fast alle Winzer hier deutsche Vorfahren
haben. Denn Villány war einmal ein deutschsprachiges Städtchen namens
Wieland. Gere beispielsweise hieß früher Gerbel. Und Winzerkönig Ede Tiffán,
die graue Eminenz unter Ungarns Rotweinerzeugern, sieht sich noch heute als
Deutschen. »Deutsch sein, das steht hier für Fleiß, Unternehmergeist und
Antikommunismus«, resümiert Michael Allmaier. Ob es dieses
Selbstverständnis ist, das Deutsche wie den Berliner Rechtsanwalt Horst
Hummel dazu bringt, in Villány eine zweite Existenz als Weinbauer zu
beginnen?
Doch nun zum Weißwein aus Ungarn. Während Ungarns Rotweinwinzer
Doch nun zum Weißwein aus Ungarn. Während Ungarns Rotweinwinzer
mehr und mehr auf weltweit angebaute Trauben und klassische Cabernet-
Merlot-Cuvée setzen, lassen sich beim Weißwein eine ganze Reihe regionaler
Rebsorten entdecken. Gewiss, auch beim Roten gibt es Spezialitäten, etwa den
Kadarka, der jedoch meistens einen eher harten, klobigen Wein ergibt. Richtig
lohnend sind hingegen die autochthonen Weißweinsorten, beispielsweise vom
Balaton. Am Plattensee, wo die Wasseroberfläche die Luft feucht hält und
extreme Temperaturschwankungen verhindert, gibt es vier Weinbaugegenden,
darunter Badacsony. Huba Szeremley gebührt das Verdienst, hier eine sehr
empfindliche Sorte am Leben zu halten, die aus dem Badacsonygebiet stammt:
den Kéknyelu, auf Deutsch: Blaustängler. Dabei handelt es sich um eine sehr
alte Rebsorte mit lebhafter Säure. Mich erinnert ein Glas Kéknyelu immer an
einen Spaziergang in einem lichten Laubwald. Dieser Wein hat etwas
Ahornartiges an sich, gespickt mit saftigem Birnenaroma. Er gehört, trotz seiner
moderaten Flaschenpreise, zu den wirklichen Raritäten der Weinwelt.
Trotz des Kéknyelu schätze ich Weißweine aus Somló im Nordwesten
Ungarns beinahe noch mehr. Somló ist der kleinste und einer der feinsten
Weindistrikte des Landes. Béla Hamvas bekannte, für ihn sei unter »allen
unseren Weinen der Schomlauer das Höchste«. Auf Vulkanböden wachsen dort
Weine mit kräftiger Säure, wie geschaffen, der ungarischen Küche
standzuhalten. Versuchen Sie es mal mit einem Hárslevelu, zum Beispiel von
Györgykovács. Diese Traube, die Lindenblättrige, kennen wir auch aus Tokaj.
Sie ist eleganter und komplexer als der zumeist kräftige Furmint. Ein
wunderbarer ungarischer Weißwein! Eine weitere regionale Rebe heißt Juhfark,
auf Deutsch: Lämmerschwanz, und ist ebenfalls fast nur hier zu haben …
Manchem mögen diese Weine zu trocken, zu säurebetont, zu mineralisch sein.
Dann empfehle ich Királyleányka, die Königsmädchentraube. Sie trägt ihren
Namen zu Recht, denn dieser frühlingshafte Wein mit fruchtigem Bouquet hat
etwas Tänzelndes und Leichtes, das auch bei zarten Damen und Federboaträgern
Gefallen finden wird. Eine weitere, eher ins Blumige spielende Weißweintraube
trägt den kniffligen Namen Cserszegi Fuszeres. Dabei handelt es sich um eine
recht junge Kreuzung aus Gewürztraminer und einer anderen autochthonen
Rebsorte, der Irsai Olivér.
Wählen Sie für einen Királyleányka beispielsweise das Weingut Etyeki Kúria
aus Etyek, einer Region unweit von Budapest. Hier werden glasklare, sozusagen
stadtnahe Weine hergestellt, die das Blumige der Trauben gekonnt mit der
stadtnahe Weine hergestellt, die das Blumige der Trauben gekonnt mit der
nötigen Säure ausbalancieren. Überhaupt kommen aus Etyek urbane Weiße, wie
der blitzblanke Sauvignon Blanc, den das Gut Nyakas im Stahltank ausbaut. Das
Spektrum der ungarischen Weißweine ist breit: Am anderen Ende steht jemand
wie der Balaton-Winzer Ottó Légli, bei dessen beliebtem »Landord« es sich um
einen cremigen, im Holzfass gereiften Chardonnay handelt. László Bussay aus
Zala setzt sogar auf Spontanvergärung und verzichtet auf jeden
beschleunigenden Eingriff im Keller.
Was immer Sie vorziehen: In Ungarn werden Sie es bekommen. Teilweise
sogar im Supermarkt, am besten jedoch beim Fachhändler. Verdientermaßen
führend ist die Handelskette »Bortársaság«, von der Sie in jeder größeren Stadt
mindestens eine Filiale finden. Ihr Programm wird auch in den meisten der
besseren Lokale des Landes ausgeschenkt. Während Sie in Österreich eine reelle
Chance haben, gute ungarische Weine im Einzelhandel zu bekommen, müssen
Sie in Deutschland nach wie vor auf spezialisierte Versandhäuser zurückgreifen.
Damit nichts schiefgeht, hier noch die wichtigsten Weinvokabeln: bor = Wein,
vörös = rot, fehér = weiß, száraz = trocken, félédes = halbtrocken (wörtlich:
halbsüß), édes = süß. Ganz einfach, nicht wahr? Aber versuchen Sie mal, das
Wort egészségedre, ungarisch für »Prost!«, oder gar den Zungenbrecher
minőségi száraz vörösbor, auf Deutsch: trockener Qualitätsrotwein, in
nüchternem Zustand auszusprechen …
Ganz gleich, wie gut Ihnen das bereits gelingt, ich hoffe, Sie auf ungarische
Weine neugierig gemacht zu haben. Denn die Winzer sind gewissermaßen meine
Wunschungarn: Sie besinnen sich auf Natur und Tradition und bewegen sich
zugleich auf der Höhe der Zeit. Und sie setzen auf Qualität. Bleibt zu hoffen,
dass die Weinbauern weiterhin und verstärkt die ungarneigenen, regionalen
Rebsorten kultivieren und ihren Weinen ein unverwechselbares Profil geben,
anstatt sich internationaler Stilistik anzupassen. Autochthone Rebsorten, Terroir
und eigensinnige Winzerpersönlichkeiten – auf dieser Grundlage könnte ein
beispielloser Erfolg einsetzen. Nein, nein, liebe Leser, ich bin keineswegs
betrunken, wenn ich so überschwänglich schreibe. Aber jetzt, nachdem ich
dieses Kapitel fertiggestellt habe, belohne ich mich und ziehe einen Korken aus
der Flasche. Stoßen Sie mit mir an? Ich sage schon mal: Egészségedre!
Zwischen Puszta und Páva.
Ungarns Küche auf dem Weg ins
21. Jahrhundert

Die Zukunft der Nation müsste mal wieder zum Friseur. So kraus und lockig wie
es ausschaut, kann das Mangalica-Schwein keinen Schönheitspreis gewinnen.
Doch die Ungarn sind ganz vernarrt in das dicht behaarte Borstenvieh, auf
Deutsch auch Wollschwein genannt. Jedes Lokal, das etwas auf sich hält, bietet
dieses 1833 in Ungarn gezüchtete Nutztier auf der Spezialitätenkarte an, als ob
die rare Rasse einer antiquiert gewordenen ungarischen Küche den Weg ins
ökologisch sensible und gesundheitsbewusste 21. Jahrhundert bahnen könnte.
Denn das Mangalica eignet sich nicht zur Massentierhaltung. Es wächst
langsamer als seine Verwandten, sein Fleisch ist cholesterinärmer und –
angeblich – viel schmackhafter als das eines Allerweltsschweins.
Beinahe ausgestorben, hat es das putzige Pusztatier zum Symbol des
ungarischen Bio-Booms gebracht. Und der erreicht hier höchste Kreise. Ganz im
Gegensatz zu seinem tschechischen Kollegen Václav Klaus, der den
Klimaschutz bekanntlich für Unsinn hält, engagierte sich Ungarns ehemaliger
Staatspräsident László Sólyom schon seit den Achtzigerjahren in der
landesweiten Umweltbewegung. Dabei handelt es sich politisch zwar eher um
einen Ausnahmefall, doch für viele Verbraucher ist nachhaltiges Wirtschaften
mehr und mehr ein Kaufkriterium. Ich war immer wieder überrascht, wie viele
Bioläden sich in Budapest befinden. Eier, Milch und andere
Grundnahrungsmittel bekommen Sie längst aus lokaler, von »Biokontroll
Hungária« zertifizierter Qualität. Auf die köstliche, zugleich korrekte
Kirschmarmelade von »Öko Flóra« und den biologischen Brombeerjoghurt von
»Zöldfarm« möchte ich schon aus Geschmacksgründen nicht mehr verzichten.
Sogar Pálinka, der ungarische Nationalschnaps, wird unterdessen nach EU-Bio-
Verordnung gebrannt.
Aller Öko-Optimismus darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass
Bioprodukte in Ungarn auf einem winzigen Nischenmarkt gehandelt werden.
Mehr als zwei Drittel aller Erzeugnisse gehen in den Export, während umgekehrt
hochwertige Waren aus Deutschland und Österreich eingeführt werden müssen.
Bio-Frischfleisch ist Mangelware, Backwaren sind so unvorstellbar trocken und
zäh, dass nur Naturkost-Nostalgiker daran Gefallen finden können. Überhaupt
erinnert ein Besuch in einem Budapester Bioladen an das alternative
Westdeutschland der späten Achtzigerjahre, nur dass sich zum Öko-
Schnarchnasentum hier noch ein Schuss spezifisch ungarischer Umständlichkeit
gesellt. Absolut erlebenswert! Unterdessen hat in der Hauptstadt zwar Ungarns
erster Biosupermarkt eröffnet, 600 Quadratmeter groß, komplett mit
Kinderspielecke und gut sortierter Obst- und Gemüseabteilung. Aber leider
wendet sich diese moderne Variante an eine neureiche Kundschaft und verlangt
für eine Mangalica-Salami gut und gerne den zehnfachen Preis des
vergleichbaren Standardproduktes. Einmal mehr präsentiert sich Ungarn als ein
Land, das seine Mitte erst noch finden muss …
Trotzdem, die Richtung stimmt. In der Puszta, wo auch das Mangalica weidet,
passiert etwas Bewundernswertes: die Umstellung einer zum Touristenklischee
geronnenen Agrartradition auf die Erfordernisse des nachhaltigen Wirtschaftens.
Das Alföld, die ungarische Tiefebene mit dem trockenen, rissigen Boden, diese
von Ziehbrunnen durchsetzte Landschaft, ist moderner als der erste Blick ahnen
lässt. Um mehr zu erfahren, sollten Sie den Hortobágy-Nationalpark aufsuchen.
1973 entstanden, handelte es sich seinerzeit um den ersten unter Naturschutz
stehenden Landesteil Ungarns. 1999 erklärte die UNESCO diese größte
Grassteppe Europas zum Weltkulturerbe. Allein 340 Vogelarten kommen hier
vor. Und dann sind da die Nutztiere: auf gut 80 000 Hektar halten rund
200 Hirten beinahe 9000 Rinder, 50 000 Schafe und 350 Pferde. Was nun
bemerkenswert ist: 17 000 Hektar davon wurden bereits auf Bio-Bewirtschaftung
umgestellt, mit über 3000 Tieren. Hier, zwischen Disteln und harten
Grasbüscheln, lebt nicht nur das Mangalica-Schwein, sondern auch eine Vielzahl
anderer, zum Teil sehr seltener Nutztiersorten: das Graurind beispielsweise, oder
das Zackelschaf. Die Hortobágy Csárda, ein Wirtshaus unweit der berühmten
neunbögigen Steinbrücke, darf mit seinem Graurindgulasch und Spezialitäten
aus zertifiziertem Zackelschaf deshalb geradezu als Avantgarde gelten –
300 Jahre nach ihrer Gründung …
Vergessen Sie es, wenn man Ihnen einredet, ein Ungar mit Geschmack wähle
zwischen Salami der Marken »Pick« und »Herz«. Passable Industrieware, mehr
nicht. Für den geschulten Gaumen interessant wird es in kleinen Läden, zum
Beispiel dem Szalámibolt am Kamermayer tér in Budapest. Achten Sie auf die
eigens in Pécs angefertigten Zsolnay-Kacheln, die den Laden zieren, und die
wunderschöne, dunkelrot lackierte Schneidemaschine … Wenn Sie Glück haben,
steht ein Mann hinter der Theke, der auf der Feinschmeckeretage des Berliner
»KaDeWe« gearbeitet hat und fließend Deutsch spricht. Von ihm habe ich viel
über Salami gelernt. Kolbász, also Paprikawurst, kann ganz unterschiedliche
Grundlagen haben: neben dem bereits genannten Graurind (szürkemarha)
beispielsweise auch Hirsch (szarvas) oder Büffel (bivaly). Schmeckt, wenn Sie
mich fragen, ziemlich eigen, ist jedoch in jedem Fall eine Entdeckung für den
westlichen Gaumen. Wer seine Salami weniger streng und leichter gewürzt
schätzt, der kann sich mit einem Trick behelfen, den mir mein Händler verriet.
Die italienische Firma »Negroni« verarbeitet nämlich ungarisches Mangalica-
Fleisch, jedoch ohne im Übermaß Paprika hinzuzufügen. Übrigens wird auch
spanischer Serranoschinken aus ungarischem Mangalica hergestellt. Guten,
leicht geräucherten und luftgetrockneten Schinken können Sie aber auch aus
Ungarn bekommen – und in Ungarn.
Die Küche der Magyaren, das verrieten bereits die ersten Seiten dieses
Kapitels, ist ländlich und fleischlastig. Mögen auch Salami-Taktik und Gulasch-
Kommunismus städtische Erfindungen gewesen sein, die Speisen, auf die sich
diese Ausdrücke beziehen, sind es sicher nicht. Bei keiner zweiten Gelegenheit
ist mir der bäuerliche Ursprung der ungarischen Kochkunst sinnfälliger klar
geworden als an jenem kalten, ungemütlichen Wintertag, an dem ich der
Einladung zu einem Schlachtfest folgte … Im grauen Schneematsch war noch
das Blut der abgestochenen Tiere zu sehen, als uniformierte Männer brave,
trachtentragende Mädchen auf einer improvisierten Tanzfläche hin und her
warfen. Ich weiß nicht mehr, was mehr Unwohlsein in mir auslöste: das
Aufstampfen der schwarzen glatten Stiefel der Kerle oder der Fleischgeruch in
der stickigen Luft. Das fettige Essen, mit hochprozentigen Getränken aus kleinen
Plastikbechern heruntergespült, war beinahe Nebensache bei diesem Ritual des
disznóvágás, auf Deutsch: des Schweineschlachtens. Befremdlich nur, dass
dieses Spektakel auf dem Gelände von Ungarns größter Universität stattfand,
von Studenten aufgeführt, zu einem Zeitpunkt, als das Land längst Vollmitglied
der Europäischen Union war.
Was immer Sie von diesem archaischen Erlebnis halten, eines verdeutlicht die
Anekdote bestimmt: Ungarn ist kein Vegetarierparadies. Man kocht schwer. Mit
Schweineschmalz, Mehl und saurer Sahne. Oft auf Grundlage angebratener
Zwiebeln, die am besten aus Makó stammen. So entsteht beispielsweise ein
pörkölt, also dasjenige Schmorgericht, das man in Deutschland Gulasch nennt
und das durch wiederholtes Aufwärmen immer besser wird. Gulyás hingegen
bezeichnet eine Suppe. Ein mit saurer Sahne und Paprika zubereitetes pörkölt,
zum Beispiel vom Hähnchen (csirke), heißt paprikás, gerne mit galuska
(Nockerln) als Beilage. Die Gulaschkanone genannte mobile Feldküche ist
allerdings keine ungarische, sondern eine deutsche Erfindung.
Zum Repertoire der Magyarenküche gehört auch die Gänsestopfleber
(libamáj). Selbst in vornehmeren Lokalen gehört es sich, sie in riesigen Fladen
zu servieren, ein Portionierverhalten, das an Zeiten erinnert, als man üppige
Quantität für die beste Qualität hielt. Ungarn ist nach Frankreich übrigens der
größte Gänsestopfleberproduzent der Welt und exportiert reichlich an die
Grande Nation. Weshalb vermeintlich französische Foie Gras nicht selten
ungarischer Herkunft ist.
Gibt es denn nur Fleisch auf ungarischen Tischen? Keineswegs.
Süßwasserfische wie fogas (Zander) aus dem Balaton oder die scharfe
Fischsuppe aus Szeged (halászlé) gelten ebenso als Klassiker wie pörkölt und
libamáj. Gemüse freilich werden oft nur in eingelegter Form gereicht, oder
geschmort als lecsó, einer Art Ratatouille. Frische Salate finden sich nach wie
vor eher selten. Bleibt noch Ungarns Nationalgemüse, die Paprika. Sie ist
allgegenwärtig, jedoch selten in ihrer scharfen Form. Im Gegenteil: edelsüße
Varianten werden bevorzugt. Ausnahme: Die kleinen grünen Schnitze, die –
meist in winzigem Glasschälchen – etwa zu einer Suppe gereicht werden. Was
soll ich sagen: Ich habe Sie gewarnt! Nebenbei bemerkt, empfehle ich Ihnen
beim Souvenirkauf das Paprikapulver von »Kotányi«. Die Früchte werden noch
immer von Hand geerntet und in einem alten Szegediner Betrieb in der
Steinmühle gemahlen. Peinlich für die Ungarn ist es, dass ausgerechnet ein
Österreicher, nämlich Erich Stekovics, als Bewahrer Hunderter von
Paprikasorten von sich Reden macht. Das hätte eigentlich einem Magyar gut
angestanden. Oder denke ich gerade in überholten Nationalbegriffen?
Eines meiner Lieblingsgerichte aus der ungarischen Küche heißt hortobágyi
palacsinta. Das Rezept stammt, natürlich, aus Hortobágy in der Puszta. Es
handelt sich um einen mit papriziertem Schweineragout gefüllten Pfannkuchen,
serviert mit saurer Sahne (tejföl). Eigentlich eine Vorspeise, doch man kann von
größeren Portionen richtig satt werden. Gerne esse ich auch lángos, Ungarns
ureigenen Beitrag zum fast food. Ein Hefeteigfladen wird in heißem Fett frittiert,
mit saurer Sahne bestrichen und – wenn gewünscht – auch noch mit Käseflocken
bestreut. Lángos isst man im Stehen, meistens in einer Markthalle. Ebenfalls
schnell, billig und beliebt ist főzelék, mit Mehlschwitze verdicktes, gekochtes
Gemüse. Beispielsweise aus Kürbis entsteht ein breiiger Eintopf (tökfőzelék),
den man mittags in speziellen Bars verzehrt. Wem das zu deftig ist, der wird an
einem anderen ungarischen Tellergericht mehr Freude finden: kalter
Fruchtsuppe, die – neben klarer Hühnerbrühe – das Maximum an Gesundheit auf
ungarischen Tischen darstellt.
Auf zwei naheliegende Fragen bin ich Ihnen die Antworten noch schuldig:
Wo kauft man am besten ein? Und: Wo geht man essen?
Jeder Pauschalreisebus wird vor Budapests großer Markthalle halten, deren
Gusseisenkonstruktion von 1896 zweifelsohne sehenswert ist. Beim Einkaufen
habe ich jedoch bessere Erfahrungen mit den kleinen Markthallen gemacht,
beispielsweise derjenigen in der Hold utca. Es lohnt sich auch, die Märkte unter
freiem Himmel, zum Beispiel am Hunyadi tér oder am Klauzál tér aufzusuchen.
Achten Sie darauf, dass die gängige Maßeinheit das deka ist, also zehn Gramm
eine Einheit bilden.
In Budapest nimmt die Verfügbarkeit feiner und internationaler Lebensmittel
mit verblüffender Geschwindigkeit zu. Verspürten die Kunden noch vor wenigen
Jahren gegenüber westlichen Ketten eine gewisse Dankbarkeit für deren
effiziente Logistik, so sprießen heute beispielsweise italienische
Delikatessgeschäfte geradezu aus dem Boden und bedienen neue, rasch
gewachsene Ansprüche. Gewiss, das Personal muss oft noch lernen, was
gewachsene Ansprüche. Gewiss, das Personal muss oft noch lernen, was
Rohmilchkäse ist und wie man Schinken hauchdünn schneidet, doch die Zeiten,
wo es nur im Erdgeschoss einer recht schrabbeligen Shoppingmall namens
»Perle von Buda« (Budagyöngye) Delikatessen zu kaufen gab, gehören
glücklicherweise der Vergangenheit an.
An dieser Stelle möchte ich Ihnen drei kulinarische Pioniere vorstellen, denn
deren Taten geben eine Vorstellung davon, welche Mängel auch im Land des
Gulasch-Kommunismus zu überwinden waren und wie dynamisch sich Ungarn
seit der Wende entwickelt.
Jeder Deutsche, der in Ungarn lebt und sich nach dem guten Brot seiner
Heimat sehnt, wird früher oder später auf die Bäckerei »Ludwig & Mentesi«
stoßen. Dieses deutschungarische Unternehmen backt seit 1995 erstklassiges
Brot, variantenreiche Brötchen und leckere Teilchen. Anfangs mit dem Slogan
»Deutsche Qualität in Ungarn« – tatsächlich in deutscher Sprache auf dem
ungarischen Etikett – vermarktet, hat man sich nun assimiliert und nennt die
Firma schlicht »Jókenyér«, gutes Brot. Natürlich eignet sich das landesweit
vertriebene Backwerk auch für eine beliebte ungarische Vorspeise namens
zsíroskenyér, also für Brotscheiben, die mit Schmalz aus kleinen Tontöpfchen
bestrichen werden.
Ein englischsprachiger Gastronomieautor hat die kulinarische Szene Ungarns
einmal in zwei Zeitabschnitte eingeteilt: B. C. und A. C., Before Culinaris und
After Culinaris. Viel Ehre für zwei Einzelhändler, deren Geschäft tatsächlich
Maßstäbe in Budapest gesetzt hat. Zoltán Bogáthy und Botond Boldizsár Bíró,
die zupackenden, unermüdlichen Herren hinter dem Feinkosthandel »Culinaris«,
begannen mit einem winzigen Pester Geschäft, stellten schöne Kräutertöpfe
davor und reisen seither von einer Slow-Food-Messe zur nächsten. Unterdessen
bieten sie in mehreren Filialen ein erweitertes Angebot, das auch verwöhnte
Epikureer zu überraschen vermag. Hut ab!
Die dritte Gestalt, die zur Modernisierung und vor allem Internationalisierung
der ungarischen Gegenwartsgastronomie maßgeblich beigetragen hat, ist Tamás
T. Nagy. Dieser Mann wird nicht ruhen, bis er den Pester Kamermayer tér in ein
Paris en minature verwandelt hat. Drei Läden: einer für Käse (sajtüzlete), einer
für Wurst (szalamibolt) und einer für Küchengeräte, ein Wochenmarkt, ein
Bistrolokal und schließlich ein Boutiquehotel – alles geht auf Herrn Nagy
zurück, dem man freilich manchmal wünscht, er würde seine unbändige Energie
ein wenig mehr auf die Qualitätssicherung konzentrieren … In jedem Fall
kommt Budapest an kaum einer anderen Stelle so sehr seinem Ruf als Paris des
Ostens nahe. Steven Spielberg, der Regisseur, hat dies mit sicherem Blick
erkannt und vor Nagys Bistro Gerlóczy eine Szene gedreht, die in dem Film
»München« tatsächlich so aussieht, als spiele sie in der französischen und nicht
in der ungarischen Hauptstadt. Atmosphärisch also ist das Gerlóczy wirklich
unschlagbar, doch Essen und Service kommen seit Jahren nicht übers Mittelmaß
hinaus. Und ob der stadtbekannte Harfenist, der in diesem Lokal allabendlich
spielt, der Kategorie Kult oder der Kategorie Nervensäge zuzuordnen ist,
darüber mögen meine Leserinnen und Leser selbst entscheiden.
Nun befinden wir uns bereits mitten im letzten Teil dieses Kapitels und damit
vor der Beantwortung der schwierigsten aller Fragen: Wohin soll man gehen, um
ungarisch zu essen? Ich habe sie vielen Ungarn gestellt. Sehr vielen. Und immer
dieselbe Antwort erhalten: Ungarisch esse ich zu Hause. Tja, jetzt sind sie
genauso enttäuscht wie ich es war, denn wer wird schon, wenn er nicht gerade
jahrelang in einem Land lebt, zu privaten Abendessen eingeladen? Doch es
kommt noch schlimmer: Um herauszufinden, welche Lokale etwas taugen,
müssen Sie es schlicht und einfach auf einen Versuch ankommen lassen, denn
zumindest in deutscher Sprache existiert in Ungarn keine ernst zu nehmende
Restaurantkritik. Man merkt den wöchentlichen Besprechungen von
»Budapester Zeitung« und »Pester Lloyd« an, dass es sich bei deren Autoren um
dankbare Spesenesser handelt, denen es entweder an Erfahrung mit
maßstabsetzender Gastronomie oder an Mut zum kritischen Urteil fehlt. Wer
Englisch lesen kann, hat es mit Carolyn Bánfalvis Blog besser, und vor allem die
Website »www.chew.hu« hält recht verlässlich auf dem Laufenden. Freilich sind
die Restaurants auf deren Hitliste der 33 angeblich besten Budapester Lokale so
unterschiedlich, dass man auch dort nicht mehr als einen Anhaltspunkt
bekommt. Vollkommen unbrauchbar ist übrigens das allgegenwärtige »Best-of-
Budapest«-Siegel, das sogar McDonald’s-Filialen verliehen bekommen.
Doch ist das nicht nebensächlich, schließlich handelt es sich bei Ungarn um
ein kulinarisches Paradies, in dem man nicht viel falsch machen kann? Nun ja, in
den zwei Jahrzehnten vor und den zwei Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg
stimmte das vielleicht. Sie waren die große Zeit der ungarischen Küche. Die
Gegenwart ist es nicht. Nicht mehr. Noch nicht wieder. Ungarns Gastronomie
kann sich nicht mit dem kulinarischen Niveau Frankreichs oder Italiens messen.
kann sich nicht mit dem kulinarischen Niveau Frankreichs oder Italiens messen.
Anders als beim Wein, wo, wie bereits ausgeführt, schon wieder viel Boden
gewonnen wurde. Zwanzig Jahre nach der Wende hatte kein einziges Lokal in
diesem Land einen Michelinstern. Das sollte man gewiss nicht zu wichtig
nehmen, kann es doch auch auf mangelnde Aufmerksamkeit seitens der
französischen Testesser hindeuten. Und mittlerweile bekamen zwei Budapester
Lokale (das Costes und das Onyx) je einen der begehrten Sterne. Die »Bib
Gourmand«-Anerkennung stagniert jedoch seit Jahren bei gerade mal vier
Lokalen – in der Tschechischen Republik sind es immerhin sechs. Sie halten
diesen Blickwinkel für hochnäsig? Für den eines verwöhnten Expat? Dann
möchte ich Sie darauf hinweisen, dass im Sommer 2007 gut hundert Vertreter
der kulinarischen Elite Ungarns, unter ihnen viele Spitzenwinzer, aber auch
jemand wie der lukullisch versierte Literat Péter Esterházy, sich in einem
offenen Brief über den Zustand der nationalen Gastronomie beklagt haben, die
nach ihrer Ansicht mit der wiedererlangten Weltgeltung des ungarischen
Weinbaus nicht Schritt halte. Und was war neulich in Ungarns größter
Tageszeitung, der »Népszabadság«, aus der Feder von Tibor Kovács zu lesen:
»Warum gibt es kein gutes Restaurant mit ungarischer Küche? Warum versucht
man nicht, die ungarische Küche zu erneuern? Wenn es an der Kreativität
mangelt, könnte man wenigstens die vollkommene Zubereitung traditioneller
Gerichte aus vollkommenen Zutaten anstreben.« Leider wahr, wenngleich es
Ausnahmen gibt und die hauptstädtische Restaurantszene durchaus sehr
aufgeschlossen ist für international inspirierte Erneuerung.
Die Budapester Gastronomie zeigt eine große Dynamik, die hoffen lässt, aber
auch Ratschläge erschwert, kann doch morgen schon überholt sein, was heute
noch gilt. In jedem Fall darf der Autor dieser Zeilen von sich behaupten, viele,
viele Male in Ungarn Essen gegangen zu sein und beinahe alles, vom
einfachsten Kellerlokal bis zum teuersten Gourmettempel getestet zu haben. Auf
den folgenden Seiten teile ich mein bisweilen bitter erworbenes Wissen mit. Ich
hoffe, Ihr Geschmack weicht nicht zu sehr von meinem ab, und Sie können
zumindest meine Kriterien ein wenig nachvollziehen.
Bevor ich konkreter werde, beschreibe ich ein paar Eigenheiten der
ungarischen Gegenwartsgastronomie, deren Kenntnis für Sie vielleicht nützlich
ist. Und ich gebe Ihnen eine Handvoll Tipps, die jeden Restaurantbesuch in
Ungarn angenehmer machen. Wie gesagt, Budapests Gastronomie zeigt sich
internationalen Impulsen gegenüber sehr aufgeschlossen. Entsprechend will man
internationalen Impulsen gegenüber sehr aufgeschlossen. Entsprechend will man
auch bei weltweit verbreiteten Unsitten nicht nachstehen. Der Gast hat kaum
Platz genommen, geschweige denn einen Blick auf die Speisekarte geworfen, da
erkundigt sich der Kellner auch schon nach dem Weinwunsch. Die Gespräche
bei Tisch, denkt sich derweil der aufmerksame Restaurantmanager, werden
bestimmt lebhafter, wenn ich die Musik möglichst laut aufdrehe. Und während
Ihr Partner noch speist, Sie aber bereits am letzten Bissen kauen, wird Ihnen
auch schon der Teller unter der Nase weggezogen. Denn schneller Service, denkt
der amerikanisierte Ungar, ist guter Service. Keine Chance, die Sauce mit Brot
vom Teller zu wischen. Es stand ohnehin keins auf dem Tisch. Letzteres gehört
bereits zu jenen nationalen Besonderheiten, die sich die Ungarn haben einfallen
lassen, um der Globalisierung zu trotzen. Besonders in neureichen
Designerlokalen zelebriert man das Brotreichen, als handele es sich um eine
Hostie.
Einen speziellen Nachgeschmack hinterlässt selbst in den besseren Häusern
der Quasi-Zwang, ein auf der Rechnung ausgedrucktes Trinkgeld zu zahlen,
ganz gleich, wie zufrieden Sie waren. Geben Sie dann tatsächlich den
ausgewiesenen Betrag, anstatt blauäugig zu verdoppeln, trifft Sie ein indignierter
Blick des Kellners – oder dessen plötzliche Gleichgültigkeit. So mancher Mantel
musste anschließend schon persönlich aus der Garderobe geholt werden. Doch
trösten Sie sich, lang werden die Abende ohnehin nicht, denn spätestens um
23 Uhr hat man fast alle ungarischen Lokale zu verlassen. Und an den
Sonntagabenden bleiben die meisten Restaurants gleich ganz geschlossen.
So weit die Schwierigkeiten. Muss ich erwähnen, dass alles auch ganz anders
kommen kann? Mit vollendetem, vielsprachigen Service, den richtigen
Abständen zwischen ausgezeichneten Gängen und heiterer Atmosphäre? Auch
solche Erfahrungen lassen sich in Ungarn selbstverständlich machen. Man kann
übrigens selbst zur Zufriedenheit beitragen, etwa, indem folgende Ratschläge
Beachtung finden:
– Probieren Sie Lokale, die Sie abends besuchen möchten, zuvor mittags aus.
Fast jedes Budapester Restaurant offeriert ein unschlagbar günstiges
Mittagsangebot.
– Ziehen Sie ungarische Klassiker vielversprechend klingenden internationalen
Gerichten vor. Die meisten Köche hier verstehen sich auf die heimische Küche,
scheitern aber an ambitionierten, doch unverstandenen Experimenten. Mit Ente
(kacsa) zum Beispiel liegen Sie fast immer richtig, kurioserweise.
– Gleichen Sie die ungewohnte Schwere des ungarischen Essens möglichst
geschickt aus, wenn Sie nicht schon nach der Vorspeise von Völlegefühl
überwältigt werden möchten. Mein Tipp: Gurkensalat (uborka saláta) als
Beilage – angenehm frisch, säurehaltig, typisch ungarisch.
– Meiden Sie Lokale mit sogenannten Zigeunerkapellen.
– Zu guter Letzt, auch wenn es altklug klingen mag: Trinken Sie ungarisches
Mineralwasser. Halb so teuer wie französische Prestigewasser, aber mindestens
genauso gut. »Szentkirály« beispielsweise gewann nicht umsonst in Paris den
»Eauscar«, den Oscar der Mineralwasserbranche.
Und jetzt wollen Sie Namen hören, stimmt’s? Am besten, ich versuche ein
wenig Ordnung in die unübersichtliche Lage zu bringen. Von vornherein
ignorieren werde ich allgemein als Touristenfallen anerkannte Institutionen
sowie ihr Gegenstück, die Systemgastronomie. Jedwede Art von Kneipenküche,
so sympathisch sie sein kann, spare ich ebenfalls aus. Mit dem Kőleves oder
dem Eklektika, beide in Pest, liegen Sie hier richtig. Schließlich verzichte ich auf
die Erwähnung anderer Nationalküchen, denn Sie fahren vermutlich nicht nach
Ungarn, um belgisch oder japanisch zu essen. Genannt werden muss an dieser
Stelle gleichwohl die chinesische Küche, denn Budapest hat, fast wie San
Francisco, einen erstaunlich großen Anteil an chinesischer Bevölkerung. Hier
gilt, mehr noch als anderswo: Essen Sie, wo die Chinesen selber essen. Nämlich
an einem unscheinbaren und unschlagbar authentischen Nudelstand auf dem
Chinesenmarkt, dem Józsefvárosi kínai piac in Kőbánya. Besser zu erreichen
und ebenfalls empfehlenswert ist das schlichte Momotaro Ramen nahe dem
Freiheitsplatz.
Doch nun zur ungarischen Küche. Erste Kategorie: echt, einfach und
anständig. Wer das sucht, ist in einer Garküche, ungarisch: kifőzde, richtig.
Leider gibt es nur noch wenige dieser einzigartigen, meistens mittags geöffneten
Orte. Die beste ihrer Art ist die Kádár Étkezde am Klauzál tér in Budapest. Ein
wunderbares Lokal mit einzigartigem Dekor und familiärer Atmosphäre. Gut,
um ein főzelék oder ein sólet, das jüdische Bohnengericht, zu essen. Merken Sie
sich, wie viele Brotscheiben Sie verzehrt und wie viele Gläser Sodawasser Sie
getrunken haben – an der Kasse am Ausgang wird man danach fragen. Eine
Alternative zur Kádár Étkezde ist das Frici Papa in der Király utca. In diesem
mehrstöckigen, von großen Ventilatoren notdürftig durchlüfteten Etablissement
bekommt man sogar – selten genug in Ungarn – ungefragt eine Karaffe Wasser
auf den Tisch gestellt. Leider handelt es sich um das stark gechlorte Budapester
Leitungswasser. Schließlich möchte ich Ihnen ein erfrischend unprätentiöses
Lokal empfehlen, das eine Spur anspruchsvoller ist als die erstgenannten,
gleichwohl noch nicht zur Kategorie »gutbürgerlich« gehört: das Alföldi
vendéglő. Vendéglő bedeutet Gasthaus, im Gegensatz zu étterem, Restaurant.
Und unter dem Alföld, Sie erinnern sich, versteht man die ungarische Tiefebene.
Auf den ersten Blick – dank seiner vielsprachigen Speisekarte, großzügigen
Öffnungszeiten und der zentralen Lage – kann das Alföldi mit einer
Touristenfalle verwechselt werden, doch in Wahrheit sitzen hier auch viele
Einheimische, die vom Kellner nicht weniger launig behandelt werden als die
ausländischen Gäste. Das Alföldi punktet mit den besten Pogatschen, die ich in
Ungarn gegessen habe. Ungewöhnlich weich und leicht papriziert, lohnt allein
diese Variante des ubiquitären ungarischen Salzgebäcks den Besuch. Ansonsten
will das Alföldi nicht mehr sein als es ist: ein Ort, an dem man auf ehrliche
Weise für kleines Geld gut satt wird.
Wenn nun aber die Schwiegereltern im Sonntagsstaat vor der Tür stehen,
sollten Sie ein repräsentativeres Restaurant wählen. Klassiker dieser Kategorie
sind das Múzeum (1885) und das Astoria (1914) auf der Pester Seite der
Hauptstadt oder das Kisbuda Gyöngye und das Vadrózsa auf der Buda-Seite.
Kulinarisch auf dem Niveau gutbürgerlicher Küche, besteht der eigentliche Reiz
dieser Lokale in ihrer gediegenen, bisweilen auch imposanten Einrichtung. Im
Astoria huschen livrierte Kellner zwischen Marmorsäulen hin und her, während
im Múzeum aus Kristallleuchtern ein Jahrhundertwendelicht auf die Zsolnay-
Kacheln an den Wänden fällt. Kein ungarisches Lokal versteht sich so gut auf
diese Art der Inszenierung wie das Gundel am Stadtwald, das freilich entgegen
seiner Eigenwerbung schon lange nicht mehr als das beste Restaurant
Mitteleuropas gelten kann. Károly Gundels Restaurantlegende ist jedoch nach
wie vor große Oper, mit elegantem Gastraum, von den Kellnern auf ein Nicken
hin hochgezogenen Coupoles, Jackettzwang und stolzen Preisen. Das kulinarisch
interessanteste und insgesamt überzeugendste Restaurant der bürgerlichen Art ist
hingegen das Náncsi néni. Es liegt recht versteckt in den Budaer Bergen, erfreut
sich aber gerade im Sommer, wenn man im Garten unter uralten Bäumen sitzt,
sich aber gerade im Sommer, wenn man im Garten unter uralten Bäumen sitzt,
berechtigter Beliebtheit. Hier gelingt, beispielsweise in der Kombination von
Wild mit raffinierten Fruchtsaucen, eine behutsame Modernisierung der
klassischen Küche, die bereits zur nächsten Kategorie überleitet. Denn nichts
scheint so schwierig zu sein wie eine zeitgemäße Anverwandlung traditioneller
Gerichte. Oder gibt es dafür keine Nachfrage? Jeder Beobachter der Budapester
Szene nimmt ein Übermaß an globaler Lifestylegastronomie wahr. Der Wunsch
nachzuholen, was im Sozialismus zwangsversäumt worden war, und das
Bedürfnis einer neureichen Klasse nach Distinktion, dürften die wichtigsten
Gründe für diese Entwicklung sein.
Alles begann mit dem Tom George, das als Mutter aller Trendlokale gilt. Chic
und cool, kapriziös und prätentiös, ist das »TG«, wie Stammgäste es abkürzen,
am Ende des Tages durchaus besser als sein Ruf. Die »tomgeorgification« aber,
jene endlose Vervielfältigung einer gastronomischen DNA aus ambitioniertem
Interieur, Fusionküche, »Londoner Preisen und Bukarester Service«, wie ein
böser Blogger es einmal ausdrückte, überzog fortan die halbe Hauptstadt: vom
Szent István tér, wo sich das »TG« befindet, über den Liszt Ferenc tér mit dem
notorisch umstrittenen Menza bis hinauf in die Budaer Berge breitete sich das
vermeintliche Erfolgsrezept aus, streifte Ráday und Hajós utca mit moderateren
Konzeptionen, um schließlich auf Budapests Prachtstraße, der Andrássy út, zu
sich selbst zu finden. Nehmen wir nur das Callas Opera: eine der besten Lagen
Mitteleuropas, ein Interieur so schön und einladend, dass es zu Recht in
ausländischen Architekturzeitschriften gerühmt wurde, und dann nicht der
Hauch einer kulinarischen Idee, von allem etwas und nichts richtig, um vom
überforderten Service ganz zu schweigen. Viele der Neureichenlokale, und
damit sei dann auch das letzte Wort zu diesem Thema geschrieben, verlangen
selbst im internationalen Vergleich absurde Preise und unterbieten gleichzeitig
Standards, die seit Hunderten von Jahren in den einfachsten Gasthäusern üblich
sind. Deprimierend!
Ein Blick nach Wien könnte den Weg weisen. Erwin Seitz, der
Gastronomiekritiker, wird nicht müde, das »Zusammenspiel von Purismus,
Tradition und Ehrlichkeit« zu preisen, das die sogenannten Edel-Beisln der
österreichischen Hauptstadt auszeichnet. Aus guten Zutaten verlässlich auf
hohem Niveau zubereitete Klassiker, intelligent verfeinert, dazu ein entspanntes
Ambiente und verbindlicher Service. Was will man mehr? Eine unaufgeregt gute
Gastronomie eben, präzise, aus einem Guss, anstelle hilfloser Nachahmung oder
Gastronomie eben, präzise, aus einem Guss, anstelle hilfloser Nachahmung oder
sturem Festhalten am Althergebrachten.
Aber vielleicht ist es dafür in Ungarn noch zu früh, setzt doch eine solche
Küche ein entspanntes Verhältnis zur nationalen Tradition voraus, bei
gleichzeitiger Erfahrung im Umgang mit Fremdem. Vor hundert Jahren hat es
eine solche Einstellung schon einmal gegeben, als Károly Gundel die ungarische
Küche erneuerte, indem er auf die französische Hochküche zurückgriff. Heute
könnte die Erneuerung beim Aufwerten pflanzlicher Ausgangsprodukte
beginnen und von der Niedrigtemperaturgarung bis zur Molekularküche
Anregungen erfahren. Dass es dafür in Budapest längst ein Publikum gibt, zeigt
ein zweiter Blick auf die hauptstädtische Restaurantszene. Wie sonst ließe sich
erklären, dass das Klassz in der Andrássy út vom Tag seiner Eröffnung an
überfüllt war? Kometenhaft zum Liebling von Budapests Besseressern
aufgestiegen, überzeugt es durch legere Atmosphäre, erstaunlich leichte
Varianten ungarischer Klassiker und ausgezeichnete offene Weine – zu
moderaten Preisen. Einziges Manko: die Weigerung, Reservierungen
vorzunehmen, außer für Gäste, die ein wenig gleicher sind als andere … Steifer,
wenngleich unter kulinarischen Gesichtspunkten mit Aufmerksamkeit zu
beobachten, ist das Dió, versucht man sich doch auch hier vergleichsweise
gekonnt an der Modernisierung des Urungarischen. Zu Recht zur Institution
geworden ist das Café Kör, ein entspanntes Bistro, das viele Nachahmer
gefunden hat, beispielsweise das Café Bouchon, das Kheiron oder das XO
Bistro.
Bleibt die Spitzengastronomie. Sie verändert sich mit rasanter
Geschwindigkeit. Manches Restaurant, das noch vor wenigen Jahren zu den
Höhepunkten der ungarischen Gastronomie zählte, ist heute verschwunden. So
hat sich beispielsweise das erstklassige Páva im Gresham Palace, den Sie im
Kaffeehauskapitel bereits kennengelernt haben, nicht halten können und wich
einer kleineren Variante: dem Gresham Restaurant.
Während Ungarns erster Michelinstern im Costes von einem Argentinier
erkocht und von einem Portugiesen gehalten wird, gelang es einem der besten
ungarischen Köche, Viktor Segal, leider nicht, sein nach ihm benanntes Lokal
profitabel zu machen. Und das, obwohl der Sohn einer Budapester
Anwaltsfamilie unter anderem in Israel und Frankreich gearbeitet hat und
vielleicht deshalb so gut beherrscht, was so viele andere – nicht nur in Ungarn –
vielleicht deshalb so gut beherrscht, was so viele andere – nicht nur in Ungarn –
bloß behaupten: Fusion. Immerhin, Tausendsassa Segal taucht ständig an
unvermuteter Stelle wieder auf: als Caterer, Bistro-Berater und Autor.
Balázs Pethö hingegen, der als Chefkoch der verblichenen Lokal-Legende
Lou Lou seinen Ruhm und Budapests Nachwende-Spitzenküche begründete,
schaffte mit dem Csalogány 26 den Sprung in die Selbstständigkeit. Im
Gegensatz etwa zu Ungarns zweitem michelinbesternten Restaurant, dem Onyx,
ist Pethös etwas abseitig in Buda gelegenes Lokal betont unscheinbar
eingerichtet und insofern weniger ambitioniert. Der Küche jedoch gelingt nun
schon seit bemerkenswert vielen Jahren eine überzeugende Modernisierung
klassischer ungarischer Gerichte. Hier zählt nicht der neureiche, vermeintlich
internationale Effekt, sondern – in den Worten des Gault Millau –
»handwerkliches Können der Meisterklasse«.
Welchen Weg wird die ungarische Küche einschlagen? Sich als sättigendes
Kulturrelikt in einfache Gast- und traditionsbewusste Privathäuser
zurückziehen? Oder sich klug erneuern und wie der Wein zu einem echten
Attraktionsfaktor werden? Eines steht fest: Ungarns Gastronomieszene ist schon
jetzt ungleich vielseitiger als noch vor zehn oder gar zwanzig Jahren. Und es
lohnt sich, sie weiter im Auge zu behalten.
Über Ziegel.
Architektur in Ungarn

Ungarn ist eine verspätete Nation. Spät erfolgte die Sesshaftwerdung der
Magyaren. Spät erlangte Ungarn seine staatliche Unabhängigkeit. Und spät erst
erreichte die Infrastruktur Budapests das Niveau westeuropäischer Hauptstädte.
Lange Zeit wurden mit dem Eifer des Nachzüglers architektonische Stile kopiert:
Neo-Klassizismus, Neo-Gotik, Neo-Barock … Das ganze Spektrum des
Historismus und Eklektizismus prägt Budapests Stadtbild und das anderer Orte
in Ungarn. Ohne Frage finden sich immer wieder gelungene Gebäude: Der
Sándor Palota (Palast) auf dem Budaer Burgberg beispielsweise, heute Sitz des
Präsidenten, zählt zu den bemerkenswertesten Manifestationen des ungarischen
Klassizismus. Sehenswert ist die Akademie der Wissenschaften auf der Pester
Seite der Hauptstadt, gebaut von dem preußischen Architekten Friedrich August
Stüler. Oder die Oper, nach Plänen von Miklós Ybl errichtet. Wie sehr das Land
sich bemühte, nachzuholen und zu überbieten, was andernorts bereits erreicht
war, veranschaulicht kein Gebäude so sehr wie das monumentale Parlament, das
offensichtlich Anleihen am Palast von Westminster in London nimmt. Von 1887
bis 1904 dauerte die Bauphase, zur Fertigstellung benötigte man nicht weniger
als vierzig Millionen Ziegel- und eine halbe Million Fassadenkalksteine.
Bildhauer statteten das vom gegenüberliegenden Donauufer imposant
anzusehende Gebäude mit 252 Skulpturen aus. Wäre das Zutrauen in die Politik
in Ungarn so groß wie das Parlamentsgebäude, das Land hätte ein Problem
weniger …
Allerdings erschöpfte sich die Bautätigkeit im Ungarn der Jahrhundertwende
nicht auf die Imitation großer Vorbilder. Denn um 1900 entstand eine spezifisch
nicht auf die Imitation großer Vorbilder. Denn um 1900 entstand eine spezifisch
ungarische Variante des Jugendstils, die sich durch das Aufgreifen
landestypischer Volkskunstmotive insbesondere von der Wiener
Sezessionsarchitektur abhob. Was Béla Bartók und Zoltán Kodály für die Musik
leisteten, schafften Architekten wie Ödön Lechner und Zsigmond Quittner für
das, was manchmal als »gefrorene Musik« bezeichnet wird: die Architektur.
Folkloristische Symbolik verschmolz mit einer modernen Formensprache und
gerann somit zu Ungarns erstem architektonischen Nationalstil. Hinzu kam ein
originär ungarisches Baumaterial: die Zsolnay-Kachel. Der 1854 in Pécs
gegründete Familienbetrieb für Kunstkeramik und Glasuren entwickelte mit
seiner Pyrogranit-Technik ein Emailleverfahren, das Baukeramik von hoher
Beständigkeit und einzigartiger Farbkraft hervorbrachte. Tatsächlich war der
Architekt Ödön Lechner in der Fabrik persönlich an der Entwicklung spezieller
Glasuren beteiligt. Seit etwa 1890 setzten die wichtigsten Baukünstler Ungarns
Ziegel und Kacheln aus Pécs in ihren Bauten ein, natürlich auch in Pécs selbst,
wo beispielsweise der Postpalast von 1905 beeindruckt. Schauen Sie sich diese
kräftigen, leuchtenden Farben an: oft Gelb und Grün, wie beim Budapester
Kunstgewerbemuseum und beim Cifra Palota in Kecskemét (1903), aber auch in
einem satten Dunkelrot wie beim Pécser Rathaus (1897).
Wer durch Ungarn reist, kann den Jugendstil nicht übersehen, nicht nur in
seiner etwas plumperen Fassadengestaltung wie beim Budapester Gellért-Hotel.
Bemerkenswert filigran ist zum Beispiel der frisch sanierte Reök Palota in
Szeged aus dem Jahr 1907. Dieses leuchtend weiße Haus berückt mit seinen
grün gestrichenen Geländern aus Gusseisen und feinen floralen Reliefs. In der
Hauptstadt finden sich viele Jugendstil-Höhepunkte im Stadtteil Lipótváros, auf
Deutsch: Leopoldstadt. Dieses Viertel, wegen Börse und Banken die »City« im
Londoner Sinne des Wortes, beherbergt nicht nur eine ganze Reihe
sehenswerter, sondern vor allem auch sanierter Jugendstilbauten. Denn damals
wie heute brachten Banken und Versicherungen das Geld für diese aufwendig
gestalteten Gebäude auf. Schauen Sie sich zum Beispiel die traumhafte
Kassenhalle der OTP-Bank in der Nádor utca 16 (1912) an, auf deren Fassade
noch heute die deutschsprachige Inschrift »Landessparkasse und
Kommerzialbank« steht. Oder die Schalterhalle der K&H-Bank in der October 6
utca 7 mit ihrem grünpflanzenumranktem dunklen Holz, Frischluftzufuhr durchs
Dach und wartesaalartigen Sitzpolstern in der Mitte. Leider lädt dieses wie ein
Gewächshaus anmutende Interieur nicht zum Verweilen ein, werden doch die
Sicherheitsleute schnell ungeduldig, wenn Besucher allzu aufmerksam Details
begutachten …
Nicht weit von diesen Geldpalästen entfernt sind Gäste hingegen willkommen,
denn das Bedő-Haus von Emil Vidor (1903) in der Honvéd utca 3 wurde auf
Initiative eines Bauunternehmers renoviert und zu einem kleinen Museum
umgestaltet. Ebenfalls auf Initiative von Privatleuten – wenn auch nur notdürftig
– vor dem schlimmsten Verfall gerettet wurde vor einigen Jahren das Gutenberg-
Haus (1907) mit seinem herrlichen Terrazzoboden im Entree, auf dem ein
»Salve« aus Mosaiksteinen die Eintretenden begrüßt.
Der wohl wichtigste Architekt des ungarischen Jugendstils war Ödön Lechner
(1845 – 1914). Was Antonio Gaudí für Barcelona, ist Lechner für Budapest. Drei
Gebäude von ihm sollten Sie sich anschauen. Erstens das bereits erwähnte
Kunstgewerbemuseum in der Üllői út. 1896 errichtet, war es Lechners erstes
großes Gebäude im neuen Stil. Wer vom Flughafen in die Stadt fährt, dem bietet
sich das farbkräftige Dach dieses Museums als erste Attraktion dar. Den Weg in
die Stefánia út lohnt das Geologische Institut von 1899, denn es ist außen wie
innen besonders gut erhalten und hat seine Funktion in mehr als hundert Jahren
nie geändert. Achten Sie bei diesem himmelblauen Gebäude auf den Globus auf
der Dachspitze. Im Treppenhaus griff Lechner die Anmutung einer
Tropfsteinhöhle auf und versah die Decken mit Verzierungen, die für die
Bestimmung der Erdalter wichtige Einzeller darstellen. Der Höhepunkt von
Lechners Schaffen ist die heute zur Nationalbank gehörende Postsparkasse aus
dem Jahr 1901. In der schmalen Hold utca gelegen, entzieht sich die eigentliche
Sensation, das Dach mit seinen gelben, grünen, blauen und braunen Ziegeln,
dem Auge der menschlichen Betrachter. Für wen er denn dann den Aufwand
betreibe, wurde der Baumeister gefragt. »Für die Vögel«, lautete Lechners
Antwort.
Wenn es ein Ziel gibt, das allein die Reise nach Budapest lohnt, dann ist es
nach meinem Dafürhalten der Gresham Palace am Fuß der Kettenbrücke. Ich
gestehe, nach Jahren der Jugendstilabneigung von diesem Bau überwältigt
worden zu sein. Die selten jubilatorische »Frankfurter Allgemeine Zeitung«
nannte ihn »unbestreitbar das Kronjuwel der Sezessionsarchitektur« und
beurteilte das darin befindliche Hotel als das möglicherweise Beste in ganz
Europa. Ursprünglich beherbergte das 1906 von Zsigmond Quittner geschaffene
Gebäude eine englische Versicherungsgesellschaft. Sir Thomas Gresham,
Gründer der Londoner Börse und Eigentümer der Gresham Insurance Company,
ließ es unter anderem deshalb bauen, weil Versicherungen damals nicht
spekulativ investieren durften und ihr Geld in solide Werte, also beispielsweise
Immobilien anlegten. Das Kaffeehaus New York heißt übrigens so, weil das
Gebäude am Großen Ring von der »New York Life Insurance Company« erbaut
worden war. Im Gegensatz zum New York ist die Renovierung des Gresham ein
Muster an Sorgfalt. Allein das mit unendlicher Geduld verlegte Fußbodenmosaik
im Eingangsbereich zeugt davon, aber auch die drei berühmten
handgeschmiedeten Pfauentore, die imposanten Treppenhäuser, die
geschmackvoll dunkelgrün und pflaumenfarben gepolsterten Möbel, die
Bleiverglasung … Vier Jahre und 100 Millionen Dollar investierte »Four
Seasons«, der heutige Besitzer, bis das Haus nach Jahrzehnten des Verfalls im
Mai 2004, pünktlich zum EU-Beitritt Ungarns, wieder eröffnet werden konnte.
Da in Pécs niemand mehr die alten Glasurformeln kannte, mussten neue
entwickelt werden. Im italienischen Murano holte man die noch vorhandenen
Originalpläne der Glasteilchen aus den Archiven. Ja, die Zimmer (die übrigens
weit unspektakulärer sind als die glasüberdachte Lobby) und die Gastronomie in
diesem Haus sind teuer. Aber das Gresham gehört zu den wenigen
Ungarnerfahrungen, die wirklich aus einem Guss sind und keinen Vergleich
scheuen müssen. In den Zwanzigerjahren wurde hier übrigens Kunstgeschichte
geschrieben, denn das Gresham Kávéház diente einer losen Künstlergruppe, dem
»Gresham Kreis«, als Treffpunkt. Mitglied dieser Vereinigung war
beispielsweise der bemerkenswerte Maler und Grafiker Róbert Berény
(1887 – 1953), der seinen rhythmischen Realismus in Berlin entwickelt hatte und
nun – zurück in Budapest – mit seiner »Frau am Cello« (1928) ein leuchtendes,
spannungsreiches Meisterwerk schuf.
Wie lebendig die Kaffeehauskultur seinerzeit war, zeigt die Anekdote, dass
sich Anfang des 20. Jahrhunderts im Gresham Kunstsammler, Kriminalreporter
und Akademiemitglieder die Tische teilten, während sich an einer anderen Ecke
des Kaffeehauses ein Holzmarkt befand. Als die deutschen Besatzer bei ihrem
Rückzug im Januar 1945 die Kettenbrücke sprengten, riss die Druckwelle die
Pfauentore aus den Angeln, und die kostbaren Zsolnay-Kacheln prasselten auf
die Straße. Angeblich dienen sie bis heute in vielen Pester Haushalten als
Untersetzer.
Unter den ungarischen Jugendstilarchitekten nimmt Béla Lajta (1873 – 1920),
ein Schüler Lechners, eine Sonderrolle ein. Denn Lajta griff nicht nur
Volkskunstmotive auf, sondern er kombinierte sie mit schlanker Modernität und
Art-déco-Elementen. Ein bis heute unterschätzter Meister, überführte er doch
den verspielten Nationalstil in die europäische Moderne der Zwischenkriegszeit.
Lajta war ein Mann des Übergangs, der Brücken schlug zwischen expressiven
und funktionalen Richtungen, zwischen 19. und 20. Jahrhundert. An der Fassade
des Rózsavölgyi-Hauses am Szervita tér 5 in Budapest beispielsweise besticht
»das Gleichgewicht schmuckfreier Flächen und betont dichtdekorierter
Elemente« (János Gerle), das Lajtas Zwischenstellung besonders deutlich
erkennen lässt. Leicht übersieht man dieses 1912 entstandene Gebäude, das
Interessierte sogar betreten können. Es beherbergt eine schöne Apotheke und
eine Musikalienhandlung, deren ursprünglich von Lajos Kozma entworfenes
Interieur allerdings zerstört worden ist. Im selben Jahr entwarf Lajta die
Handelsschule in der Vas utca 9 – 11, deren ganz ähnliche Fassadengestaltung
Symbole des Handels sowie die für Lajta typische Tiersymbolik aufweist. Tiere,
nämlich etwas stutzig dreinblickende Affen, zieren auch das Új Színház, das
Neue Theater in der Paulay Ede utca 35, Lajtas 1909 entstandenes Meisterwerk.
Ursprünglich der »Parisiana«-Nachtclub, handelt es sich um das am besten
erhaltene Werk des Architekten in der Hauptstadt.
Andere Gebäude sind in einem beklagenswerten Zustand, gleichwohl lohnt
sich der Blick auf Details: die kupfernen Brailleschrift-Tafeln mit Zitaten aus der
ungarischen Literatur an der Blindenschule in der Mexikói út 60 (1908), die
roten Bleiglasfenster im Eingangsbereich des Eckhauses Népszinház utca 19
(1912) und eine ganze Reihe imposanter Grabmäler auf den jüdischen
Friedhöfen Budapests.
Lajta, dessen Werk umfassende Sanierung und eine große Retrospektive
verdiente, stand in Kontakt mit dem modernen Wiener Architekten Adolf Loos
und arbeitete, wie erwähnt, mit Lajos Kozma zusammen, der sich zu Ungarns
großem Modernisten entwickeln sollte.
Und damit sind wir bereits bei einem weiteren Kapitel der ungarischen
Architekturgeschichte angelangt, das nach meiner Ansicht zu den stärksten
Momenten der ungarischen Kultur gehört. Denn nirgendwo in Europa kann man
Momenten der ungarischen Kultur gehört. Denn nirgendwo in Europa kann man
außerhalb Deutschlands so viele Bauten der Bauhaus-Moderne bestaunen wie in
Ungarn.
Wie in der Kunst und der Fotografie hatten die Ungarn auch im Bereich der
Architektur einen entscheidenden Anteil an der Herausbildung der europäischen
Moderne. Doch im Gegensatz zu den anderen beiden Feldern wirkten – von
nicht unbedeutenden Ausnahmen wie Marcel Breuer abgesehen – zahlreiche
Vertreter der modernen Architektur vor allem in ihrem Heimatland. Wer etwa
die von Zoltán Seidner gemachten Fotos aus der legendären Zeitschrift »Tér és
Forma« (Raum und Form) betrachtet, reibt sich die Augen: Da ist eine makellose
Moderne zu sehen, mit elegant geschwungenen Formen, großzügigen Terrassen
und Fensterfronten, die spektakuläre Aussichten auf die Budaer Berge und die
Pester Altstadt freigeben. Bisweilen erinnern diese Villen geradezu an Richard
Neutra und den »Martini-Modernismus«, nur dass in diesem Fall nicht die
Kulisse des nächtlichen Los Angeles im Hintergrund flimmert, sondern die Stadt
an der Donau. Eine kurze, zumindest architektonisch glückliche Zeit lang schien
beides zusammenzupassen: moderne Einstellung und magyarische Landschaft.
Doch beginnen wir in Deutschland, am Bauhaus. Es wäre, wie auch die
Kapitel über Kunst und Fotografie zeigen werden, ohne Ungarn nicht das, was
bis heute nachwirkt. In der Architektur ist zuallererst Marcel (Lajos) Breuer zu
nennen, der 1902 in Pécs auf die Welt kam, wie übrigens sehr viele
ungarischstämmige Bauhäusler. Seit 1920 studiert Breuer am Bauhaus. Als er im
Sommer 1921 mit Zeichnungen aus dem Vorkurs von Itten nach Pécs reist,
erstaunt er seine Freunde wie den späteren Bauhäusler Andor Weininger: »Es
waren alles abstrakte Arbeiten, und wir saßen da in Pécs und zeichneten immer
noch nach dem Modell. Das Ganze war für uns ein Rätsel …« Dem
Berufsanfänger wird die Aufnahme in die ungarische Architektenkammer
verweigert (vermutlich wegen der antisemitischen Numerus-clausus-Gesetze),
weshalb Breuer sich gezwungen sieht, im Ausland zu arbeiten. Übrigens blieben
auch Anstrengungen in den Siebzigerjahren erfolglos, ihm zu einem Auftrag in
seinem Heimatland zu verhelfen.
Von 1925 bis 1928 leitet Breuer die Tischlerwerkstatt des Dessauer
Bauhauses, wo er das Meisterhaus von László Moholy-Nagy mit Möbeln
ausstattet. Berühmt sind seine Stahlrohrstühle: der B32, ein Freischwinger ohne
Lehne, und der B64, ein schwarz lackierter Stahlrohrstuhl mit Holzlehne und
Bespannung aus Korbgeflecht. Trotz seiner Standardisierung für die industrielle
Serienfertigung strahlt dieses Edelstahlmöbel eine handwerkliche Wärme aus,
die es die gerade entstehende kühle Modernität bereits wieder überwinden lässt.
Interessant ist ein Blick auf die – auch grafisch meisterlichen – alten
Werbeprospekte für die Breuer-Stühle: Das vermeintlich weiße Bauhaus
erscheint hier in vielen Farben, von kräftigem Blau bis zu sattem Rot. In jedem
Fall ist Breuer, nicht Mies van der Rohe, der Vater des Stahlrohrstuhls. Er
entwickelte ihn – inspiriert von einem Fahrradlenker – 1925 als Erster. Die
Firma Lengyel & Co. in Berlin, die den Vertrieb übernahm, gehörte übrigens
ebenfalls einem gebürtigen Ungarn.
Geleitet von den Grundgedanken der Material- und Platzersparnis, der
Leichtigkeit und Serienproduktion, war das Bauhaus-Möbel ursprünglich gerade
nicht als elitäres Designobjekt gedacht. Ästhetische Perfektion dominierte erst
Mies’ Entwürfe. Breuer verließ Europa ins US-amerikanische Exil, wo er,
zunächst Professor in Harvard und Partner in Walter Gropius’ Büro, 1946 seine
eigene Architekturfirma eröffnet. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen das
Whitney Museum of American Art in New York (1966) und das UNESCO-
Hauptquartier (1958) in Paris, dessen Bau einer der größten
Architekturfotografen aller Zeiten, der 1910 als László Elkán in
Hódmezővásárhely geborene Lucien Hervé, dokumentierte. Seit 1929 in
Frankreich, kann dieser gebürtige Ungar als Hausfotograf des internationalen
Stils bezeichnet werden. Besonders das Werk Le Corbusiers hielt er in
spannungsreichen Licht-Schatten-Kontrasten fest, die seinen Fotos eine
beispiellose Plastizität verleihen und die moderne Architektur in einem harten,
eigentümlich verführerischen Licht zeigen.
Zwei weitere Bauhäusler müssen Erwähnung finden, zumal ihre Häuser zum
Teil noch heute in Ungarn zu sehen sind: Farkas Molnár (1898 – 1944) und Fréd
Forbát (1897 – 1972), beide ebenfalls aus Pécs. Molnár studiert 1921 am
Bauhaus in Weimar und wird später Mitarbeiter von Gropius, der ihn auch in
Ungarn besucht. 1925 beschreibt er in einem Artikel das Leben am Bauhaus:
»Das Nachtleben ist hier gleichrangig mit dem Leben tagsüber. Man muss
tanzen können. Wer die Bauhausfeste nicht kennt, dem ist auch das
Bauhausschaffen fremd.« Nicht nur architektonisch begabt, gestaltet er neben
Bühnenbildern auch den Umschlag des Bauhausbuches »Internationale
Architektur« von 1925 sowie – in Ungarn – die Umschläge der ersten zwei
Jahrgänge des bereits erwähnten Magazins »Tér és Forma«. Zu seinen
berühmtesten architektonischen Arbeiten gehört der »Rote Würfel« für die
Dessauer Siedlung »Am Horn« (1923).
In Budapest öffnete der gut beschäftigte Architekt sein eigenes Wohnhaus
jeden Sonntag für Neugierige. Sie sahen vom Hausherrn entworfene Möbel, ein
Schlafzimmer in Rot, Blau und Gelb sowie ein ausgesucht schönes Bild von
Sándor Bortnyik an der Wand.
Viele Molnár-Villen sind heute zerstört oder in einem sehr schlechten
Zustand. Das 1932 preisgekrönte Wohnhaus in der Lejtő út 2/A, versteckt in
Buda und am besten mit der Tram 59 bis Apor Vilmos tér zu erreichen, lohnt
jedoch noch heute einen Abstecher. Farkas Molnár stirbt 1944 bei der
Bombardierung seines Budapester Hauses.
Fréd Forbát studiert Architektur in Budapest, bevor er von 1920 bis 1922
Mitarbeiter im Atelier Gropius in Weimar wird. Erfolglos bleibt seine
Bewerbung um eine Professur in Dessau, 1929, doch im Nachkriegsberlin
arbeitet er maßgeblich an der Siedlungsplanung der Viertel Siemensstadt und
Haselhorst mit. 1933 vorübergehend nach Pécs zurückgekehrt, erbaut er eine
Reihe bemerkenswerter Wohnhäuser in Ungarn, zum Beispiel das Zehmeister-
Haus (1936) in seiner Heimatstadt. 1971 stirbt Fréd Forbát in Schweden.
Viele in Ungarn geborene Modernisten machten im Ausland Karriere: László
Hudec, der über fünfzig Gebäude in Shanghai baute, oder Pierre Vágó, der das
Berliner Hansaviertel mitgestaltete, schließlich Ernő Goldfinger, der in
Großbritannien tätig war und dessen Name Ian Fleming zu James Bonds
berühmtem Gegenspieler anregte. Doch gab es auch den gegenteiligen Fall des
im Geburtsland ausgebildeten und dort erfolgreichen modernen Architekten.
In den vergangenen Jahren ging ich daher einem ungewöhnlichen Hobby
nach. Ausgestattet mit alten Fotos, einem überdimensionalen Stadtplan und einer
langen Liste voller Adressen, durchstreifte ich Buda und Pest, verrenkte mir den
Hals, blickte durch verwilderte Gärten, lugte über Zäune und Mauern und
versuchte, alter Häuser ansichtig zu werden, die einmal das Allerneuste waren.
Wenn Sie gut zu Fuß sind und Freude an Detektivarbeit haben, empfehle ich
Ihnen, es mir gleichzutun. Denn diese Art der Exkursion gehört meines
Erachtens zum Spannendsten, was Budapest bereithält. Hier oben, hügelan, aber
auch unten in der Stadt, wird der Suchende belohnt mit eleganten
auch unten in der Stadt, wird der Suchende belohnt mit eleganten
Kombinationen eckiger und gebogener Formen, schwungvollen Geländern,
spektakulären Treppenhäusern, innovativen Deckenleuchten und Türgriffen.
Sicher, das meiste hat gelitten, bedürfte dringend der Rekonstruktion und
Renovierung. Witterung und verdreckte Luft hinterließen ihre Spuren, Bewohner
veränderten es gemäß ihren Bedürfnissen: mit rustikalen Türen, bedenklichen
Vorhängen, Blumenkübeln und allerlei Krempel. »Menschen, die in kleinen
Kisten leben, machen einander Komplimente über ihre Vorgärten im Frühling,
ganz wie normale Leute«, schrieb Antal Szerb, selbst Bewohner eines Bauhaus-
Hauses, vorausschauend in den Dreißigerjahren. Dennoch: Für mich ist die
Suche nach den Schätzen der magyarischen Moderne zu einer kleinen Obsession
geworden. Dann und wann hatte ich sogar das Glück, von Anwohnern ins Haus
gebeten zu werden. Aber natürlich kann ich verstehen, wenn Sie lieber gleich die
Höhepunkte aufsuchen möchten. Weil darüber selbst Spezialreiseführer so gut
wie keine brauchbare Auskunft geben, verrate ich Ihnen auf den nächsten Seiten
meine Favoriten.
Besonders bemerkenswert aus der Reihe der in Ungarn tätigen Baumeister ist
Lajos Kozma (1884 – 1948). Mit seinem streng gescheitelten Haar und dem
dichten, dunklen Schnurrbart war er ganz Magyar und doch, nach einer
Anlaufzeit, auch ganz Modernist. Kozma begann seine Karriere im Büro von
Béla Lajta. Vielleicht nahm er von dort die Lektion mit, dass auch die moderne
Architektur nicht über die Wünsche der Klienten hinweggehen darf. Denn
während er ein hohes Qualitätsniveau von seinen Handwerkern verlangte und
mit seinen modernen Bauideen, etwa flexiblen Wänden, »einen europäischen
Horizont eröffnete, blieben Kozmas Umgebungen zugleich beruhigend
ungarisch«, wie der Architekturhistoriker András Ferkai urteilt.
Kozma war der Architekt einer aufgeklärten Mittelschicht, die ihre Wohn-
und Repräsentationsbedürfnisse gleichwohl nicht völlig einem internationalen
Stilschema unterordnen wollte. Überall kann man in Budapest Bauten von ihm
sehen und geht doch oft achtlos daran vorbei, aus Unwissenheit oder weil der
schäbige Zustand der Fassaden den Blick gar nicht erst in die überraschend
eleganten Entrees und Treppenhäuser lenkt.
Sehen Sie sich nur einmal das Schachbrettmuster auf dem Fußboden des
Innenstadt-Wohnhauses in der Régi Posta utca 7 – 9 an. Oder das recht gut
erhaltene, zweistöckige Haus aus dem Jahr 1936 in der Berkenye utca 19, das
allerdings nicht so leicht zu finden ist. Nehmen Sie den Bus 91 bis Vérhalom tér
und steigen die kleine Treppe hinunter, dann erkennen Sie bereits die elegant
geschwungene, halbzylindrische Seitenfront und das verklinkerte Erdgeschoss.
Kozma, der während der Horthy-Diktatur – seiner jüdischen Herkunft wegen
– aus der Architektenkammer ausgeschlossen war, veröffentlichte 1941 in
Zürich ein deutschsprachiges Buch, »Das neue Haus«, dessen ungarische
Fassung erst 1978 auf den Markt kam. Bemerkenswert sind auch bei Kozma die
Möbel und Farben. Für die Wiener Firma Thonet entwarf er einen Schreibtisch,
und seine glänzend schwarz lackierten Stühle mit roten Lederpolstern irritierten
das zeitgenössische Publikum nicht weniger als der Fußboden einer Villa in
blauem Linoleum. Viele Kunden überzeugte Kozma mit seinen bestechend
klaren, ansprechend kolorierten Entwurfszeichnungen.
Was sollten Sie sich noch anschauen? Zum Beispiel den Flughafen von
Budaörs, der, 1937 als erster der Hauptstadt fertiggestellt, heute nur noch als
Sportflughafen dient. Seine Form erinnert an die eines rundlichen Flugzeuges
und ist so schwungvoll geraten, dass man meinen könnte, das Gebilde hebe
gleich ab. Das Hauptgebäude ist, obwohl es unter Denkmalschutz steht,
zugewachsen und baufällig. Die Fahrt mit dem Bus 87 bis zur Haltestelle
»Budaörs Repülőtér« lohnt sich dennoch, denn der einstige Wartesaal ist
überraschend gut erhalten. Das Oberlichtband, die Säulen, der Terrazzoboden,
die zur Galerie führenden Treppen und die in die Zwischendecke eingelassenen
runden Lampen – alles ist noch da. Wer von der Terrasse aus aufs Rollfeld
blickt, den erfasst ein geradezu ursprüngliches Luftfahrtgefühl.
Eine kleine, leider nicht öffentlich zugängliche Sensation, die Sie wenigstens
auf Fotos betrachten sollten, ist der ovale Kontrollraum des Kraftwerks
Kelenföld (1933). Mit seinem spektakulär schönen Glasdach verbindet er auf
ingeniöse Weise Art-déco-Elemente mit funktional reduzierter Modernität. Eine
einzigartig schöne Industriearchitektur, die für Augenblicke jede Skepsis an
Technik und Fortschritt beiseitewischt.
Am unkompliziertesten erschließt sich einem die ungarische Baumoderne
durch einen Spaziergang in Újlipótváros, auf Deutsch: Neuleopoldstadt. Am
Pester Fuß der Margaretenbrücke gelegen, entstand dieses Viertel, weil in den
Dreißigerjahren eine Generation junger, progressiv eingestellter Juden das Leben
ihrer wohlhabenden Eltern in der Leopoldstadt (Lipótváros) als zu bourgeois
empfand. Liberale Schriftsteller wie Antal Szerb und Ernő Szép fühlten sich hier
empfand. Liberale Schriftsteller wie Antal Szerb und Ernő Szép fühlten sich hier
wohl, und noch heute soll die Witwe des von den Faschisten ermordeten
Dichters Miklós Radnóti in Neuleopoldstadt leben. Diese Wohnlage, eine der
entspanntesten in Pest, erzielt heute Immobilienpreise wie die teuersten
Villengegenden Budas. Kernstück des Viertels sind die Pozsonyi út und der
Szent-István-Park.
Gehen Sie die Straße hinunter, vorbei an einem empfehlenswerten, einfachen
ungarischen Lokal, dem Kiskakukk (Kleiner Kuckuck), und werfen Sie einen
Blick in das Haus Pozsonyi út 53 – 55, das István Hámor 1942 erbaute. Mit
seinen elegant geschwungenen Eckbalkonen, dem sehr gut erhaltenen
Treppenhaus und einem atemberaubend schönen Eingangsbereich gehört es zu
den eindrucksvollsten im Quartier. Am Szent-István-Park besteht die
Möglichkeit, ein ebenfalls besonders gelungenes Gebäude zu betreten: das
Dunapark. Dieses Café-Lokal entstand 1937 nach Plänen von Béla Hofstätter
und Ferenc Domány, den neben Kozma erfolgreichsten, nur in Ungarn tätigen,
modernen Architekten. In Auftrag gegeben hatte es Baron Lajos Hatvany, der
wichtigste literarische Mäzen der Zwischenkriegszeit. Nach dem Krieg zunächst
ein Möbelgeschäft, führte das Dunapark bis vor einiger Zeit eine verschlafene
Existenz als sozialistisch anmutendes Café. Im Jahr 2006 wurde es, komplett
renoviert, wieder eröffnet. Puristen kritisierten sogleich den mangelnden Mut
zum Original, und tatsächlich hätten sich die neuen Betreiber nichts vergeben,
wenn sie selbstbewusster der ungarischen Moderne vertraut hätten, anstatt
neureichen Designerchichi hinzuzufügen. Dann hätte das Dunapark zu einem
modernen Pendant dessen werden können, was das Centrál Kávéház für die
klassische Kaffeehauskultur repräsentiert.
Dennoch empfehle ich Ihnen einen Besuch dieses Lokals. Denn im Gegensatz
zum Biarritz, einem am Kossuth tér liegenden, aus der gleichen Zeit
stammenden Restaurant, gelingt es dem Dunapark durchaus, das liberale
Lebensgefühl, das dieses Viertel zur Entstehungszeit prägte, ein wenig zu
revitalisieren. Während an sonnigen, warmen Tagen die hohen Fensterfronten
zum nahe liegenden Szent-István-Park hin geöffnet werden, kann man bei Regen
und Kälte von der elegant geschwungenen Galerie aus einen herrlichen Blick auf
Margareteninsel und Donau werfen. Speisen und Getränke sind nicht billig, aber
gut; der Service ist verbindlich.
Überquert man die Margaretenbrücke und geht den Margit körút bis zu den
Nummern 15 – 17 hinunter, steht man plötzlich vor einem erstaunlichen
Gebäude, das ebenfalls von Hofstätter und Domány gebaut wurde: ein
zweiflügliges, wellenförmiges Wohnhaus. Auftraggeber dieses recht gut
erhaltenen Gebäudes war der Fabrikant Manfréd Weiss. Ich hatte das große
Glück, von einem Anwohner durch das Haus geführt zu werden, denn im
spektakulären Treppenhaus funktionieren bis heute zwei zylindrische Fahrstühle,
mit denen man in einer Glasröhre auf- und abgleitet. Wie schön können doch
noch die alltäglichsten Dinge sein!
An vielen Orten in Buda sind Bauhaus-Perlen verteilt, etwa in der Agancs út
30, wo ein ehemaliges Televisionsgebäude mit gut erhaltenem Foyer aus dem
Jahr 1942 heute als Wohnhaus fungiert. Für Enthusiasten lohnt sich auch dieser
Weg mit der Zahnradbahn bis zur Station »Széchenyihegy«. Nirgends aber
finden sich so viele moderne Häuser wie im Budaer Stadtteil Pasarét. Zugleich
freilich belegen nirgends sonst An- und Umbauten, Verfall und unsensible
Benutzung so sehr, dass das Neue Bauen den Alten Adam nicht abzuschaffen
vermochte. Wer Enttäuschungen vermeiden will, halte sich an die folgenden
Ziele: das Haus in der Orsó utca 43, gebaut von Lajos Kozma, in dem Imre Nagy
wohnte, sowie die beiden Häuser an der Ecke Pasaréti út/Trombitás utca, eines
von Kozma und eines von Farkas Molnár, die interessanterweise durch ein
ebenfalls von Molnár gebautes Verbindungsglied miteinander verknüpft sind.
Wer sich nur für ein Ziel Zeit nehmen möchte, fahre jedoch gleich mit der
Buslinie 5 bis zur Endstation Pasaréti tér und gehe weiter in die Napraforgó út.
Hier entstand 1931, nach dem Vorbild der 1927 in Stuttgart errichteten
Weißenhofsiedlung, eine Mustersiedlung mit 22 modernen Wohnhäusern, jedes
mit Terrasse und Garten. Auch Lajos Kozma (Nr. 5 & 6 – 8) und Farkas Molnár
(Nr. 15) wirkten mit. Die zum Teil kubischen, zum Teil zylindrischen
Flachdachhäuser zeigen eine bemerkenswert vielfältige Formenpalette und sind
in gutem Zustand. Ein sehr lohnenswertes, ungewöhnliches Ziel! Wer will, kann
übrigens schon in der Pasaréti út 97 aus dem Bus steigen und eine
außergewöhnlich große, elegante Villa aus dem Jahr 1934 anschauen. Wie in
Újlipótváros mit dem Dunapark wird neuerdings auch in Pasarét der Versuch
unternommen, die Stimmung der Moderne wiederzubeleben. Denn der
Busbahnhof der Endhaltestelle, von Gyula Rimanóczy 1937 erbaut, ist komplett
saniert worden und enthält gleich zwei Lokale: das unkomplizierte Café Picard
und das gehobene Matteo Bauhaus Étterem, ein nicht billiges, aber sehr
empfehlenswertes Restaurant mit moderner ungarischer Küche.
Ein Letztes zur magyarischen Moderne: Die Republik Ungarn zeigte ein gutes
Gespür für die gemeinsame Bauhaus-Geschichte beider Länder, als sie für das
neue »Collegium Hungaricum«, das ungarische Kulturzentrum in Berlin, eine
Architektur wählte, die sich klar auf die Formensprache der deutsch-ungarischen
Moderne bezieht. So wird wieder an ein Kapitel Kulturgeschichte angeknüpft,
das wohl nur wenige im Land von Puszta und Paprika vermuten.

Während Maler und Fotografen, Schriftsteller und Regisseure den


internationalen Vergleich auch heute nicht zu scheuen brauchen, hat Ungarns
Architektur das alte Niveau nicht wieder erreicht. In der Architektur – vielleicht,
weil sie mehr als alle anderen Künste von Geld und Gesellschaft abhängt – zeigt
sich das Land selten auf der Höhe der Gegenwart. Ein eigener, sehr erfolgreicher
Stil, der wie die ungarische Variante des Jugendstils nationale Besonderheit
beansprucht, existiert allerdings durchaus. Gemeint ist die sogenannte
organische Architektur von Imre Makovecz (*1935 – 2011), György Csete
(*1937) und der »Pécser Gruppe« mit ihren bizarren, expressiven Formen. Wenn
Sie über Land fahren, begegnen Ihnen auf Schritt und Tritt Kirchen,
Kulturzentren und Schulen dieser Richtung. Ungarn ist geradezu übersät mit
diesen skurrilen, in ihrer verqueren Entschlossenheit stets auch beklemmend
wirkenden Formen. Ihren Ausgang nimmt diese Architektur bei Károly Kós
(1883 – 1977). Nach dem Vertrag von Trianon absichtlich im zuvor ungarischen
Teil Rumäniens geblieben, inspirierte Kós’ trotziger Spitzdachnationalismus den
jungen Imre Makovecz, der sich im Kommunismus in die Forstwirtschaft
verbannt sah. Zum Ausgangsgedanken beider Baumeister wurde das Hochhalten
mythisch-nationaler und folkloristischer Symbolik in einer abweisenden
Umgebung, ausgedrückt durch symbolische Überladung der Gebäude und eine
extravagante Formgebung. Beispielsweise zitiert Makovecz gerne die
sogenannten Jurt-Hütten, in denen die sieben alten magyarischen Stämme im
Karpatenbecken hausten. Eines seiner Häuser erinnert in seiner Form an den
mythischen Turulvogel, der der Sage nach die Urmutter der landnehmenden
Árpádendynastie geschwängert hat. Die Bretter der Fassade muten wie die
Schwingen des Vogels an. Nach der Wende wechselte für Makovecz der
Gegner: statt des Kommunismus war es nun die Globalisierung, und das
aufkommende ökologische Bewusstsein kam dem zivilisationsskeptischen
Gehalt seiner Gebäude entgegen. In Deutschland ließen sich Naturkostmarken
wie »Naturata« und »Demeter« von Makovecz Holzhäuser bauen. Überhaupt
erzielte der Architekt internationale Anerkennung und bediente sich, seiner
ideologischen Eindeutigkeit zum Trotz, in postmoderner Manier bei Anregern
von Rudolf Steiner bis Frank Lloyd Wright. Im Kern jedoch hat Makovecz’
Bauen, wie etwa der zuletzt vorgestellte Entwurf eines nationalen Pantheons auf
dem Gellértberg belegt, seine hungarozentrische Stoßrichtung nie abgelegt. Von
der ruhigen, souveränen Bauweise etwa des ebenfalls naturnah und
einsiedlerisch arbeitenden Schweizer Architekten Peter Zumthor war Makovecz
allein schon wegen der plakativen Expressivität seiner Arbeiten denkbar weit
entfernt. Aber es geht gar nicht um Geschmacksfragen, sondern um das
gedankliche Selbstverständnis einer in Ungarn sehr populären Architektur, deren
abkapselndes Moment schnell in Ausgrenzung umschlagen kann. Denn das
»Gemisch von Jurtenromantik und konservativem Christentum, von nationalem
Selbstmitleid und kompensatorischem Größenwahn«, wie der Kulturkritiker
Robert Schediwy es formulierte, äußert sich spätestens bei Makovecz’ Kollegen
György Csete, dem zweiten großen Mann der organischen Nationalarchitektur,
in offenem Antisemitismus. Der Erbauer des nationalen Gedenkparks in
Ópusztaszer, wo die Landnahme erfolgte, zitierte einmal in einer Rede Heinrich
Himmler und sah in angeblich das Magyarentum vernichtenden
jüdischstämmigen Politikern dessen Nachfolger. Willkommen in Ungarn!
In Budapest freilich finden sich kaum Manifestationen dieser Bauweise. Hier
dominiert, meistens, eine schnell hochgezogene Investorenarchitektur und eine
um Jahrzehnte verspätete Postmoderne, der man immerhin zugutehalten kann,
dass sie den Eklektizismus des Stadtbildes programmatisch aufgreift. In einem
kleinen, nicht gerade reichen Land freilich wiegen misslungene Gebäude und
vertane Chancen doppelt.
Der seit Jahrzehnten wohl kommerziell erfolgreichste Budapester Architekt ist
József Finta. Gewissermaßen der Philip Johnson Ungarns, hat er jeden Trend
und jedes Regime mitgemacht und stets Großaufträge abgegriffen. Sein Werk
reicht vom brachialen Beton-Marriott am Donauufer (im Sozialismus
entstanden) bis zum verspielten Marmor-Kempinski am Erzsébet tér (im
Kapitalismus entstanden).
Kapitalismus entstanden).
Wer sich für Architekturskandale interessiert, werfe einen Blick auf das
Nationaltheater an der Donau. Vom ungarisch-kanadischen Baulöwen Sándor
Demján und seiner TriGránit-Gruppe forciert, entschied sich die damalige
konservative Regierung nicht für den Wettbewerbsgewinner, sondern für die
unerfahrene Architektin Mária Siklós, die daraufhin aus der Architektenkammer
ausgeschlossen wurde. Sie ließ sich, dankbar für den Auftrag, von
Ministerpräsident Orbán persönlich ins Design reinreden. Kopfschüttelnd steht
man vor dem Resultat, einer nationalistisch aufgeplusterten Postmoderne,
irgendwo zwischen Disneyland und grellen Teppichen angesiedelt. Eine
außergewöhnlich lächerliche, blamable Kulissenarchitektur, weit teurer als
erwartet, dafür aber mit miserabler Akustik. Am Erzsébet tér in der Innenstadt,
wo die Vorgängerregierung bereits mit dem Bau eines Nationaltheaters
begonnen hatte, klaffte unterdessen eine tiefe Baugrube … Freilich, gerade diese
Baulücke ist ein Symbol dafür, dass in Ungarn aus dem Unmöglichsten auch
wieder etwas Gutes entstehen kann. Denn die Neugestaltung dieses Platzes
durch das »Firka Építész Stúdió«, dessen Mitglieder, als sie den Wettbewerb
gewannen, alle unter dreißig waren, gelang rundum. Skater, turtelnde Verliebte
und verschnaufende Flaneure verweilen gerne dort, und der Gödör (Gruben)
Klub in der ehemaligen Baulücke erfreute sich großer Beliebtheit.
Vergessen wir nicht: Vor allem die Hauptstadt ist noch immer von den
Zerstörungen der deutschen und sowjetischen Belagerung sowie vom
kádáristischen Verfall gezeichnet. Wäre all das, was in dieser Stadt sehenswert
ist, vernünftig saniert und erschlossen, würde Budapest Architekturliebhaber aus
aller Welt begeistern. Aber wer weiß, ob nicht das Patchwork, das man
stattdessen vorfindet, lebendiger und ehrlicher ist? Geist und Geld für
anspruchsvolle Neubauten finden sich mehr und mehr, verstreut noch, kaum je
im großen Maßstab, aber gemessen an den Verheerungen der zurückliegenden
Jahrzehnte in durchaus beachtlicher Zahl. Hier und da entstehen moderne
Geschäfts- und Bürogebäude, Designhotels und interessante Privathäuser. Es
gibt ganz unaufgeregte, schlicht und einfach gut arbeitende Architekten wie
Mihály Balázs, der mit einer an Mario Botta erinnernden Bauweise
hervorgetreten ist. Außerhalb der Hauptstadt überzeugt der von György Skardelli
und Ferenc Lázár entworfene Anbau des Pannonhalma Klosters, ein
vorzügliches Beispiel moderner Sakralarchitektur. Nach und nach kommen
junge Büros wie »minusplus« oder »Zsuffa és Kalmár« zum Zuge.
junge Büros wie »minusplus« oder »Zsuffa és Kalmár« zum Zuge.
Schade nur, dass Emigrierte nicht nach der Wende zum symbolischen
Neuaufbau herbeigerufen wurden. In Paris, zwischen Hunderten von Modellen,
sitzt der 1923 in Ungarn geborene Yona Friedman in seiner Wohnung am
Boulevard Garibaldi und entwirft noch im Alter von 85 Jahren Gebäude. Der
Gestapo entkommen, wanderte Friedman nach Israel aus und beteiligte sich am
Aufbau des neuen Staates, dessen Idee ja ebenfalls von einem Ungarn, nämlich
von Theodor Herzl, stammte. Friedman ging nach Paris und veröffentlichte 1958
das Manifest »L’Architecture Mobile«, das futuristische mit frühökologischen
Ideen verband und auf das sich Weltklassearchitekten wie Rem Koolhaas
berufen. Bis heute spricht Friedman mit ungarischem Akzent. In seiner Heimat
hat er nie gebaut.
Moderne Magyaren.
Von Bauhäuslern, Land-Art-Künstlern und
Video-Virtuosen

In der Ungarischen Nationalgalerie auf dem Budapester Burgberg, einem der


120 Museen der Hauptstadt, kann man ein interessantes Experiment
unternehmen. Ganz gleich, ob Sie einen grauen Regen- oder einen strahlenden
Sonnentag dafür wählen, das Abschreiten der düsteren Säle, in denen die
Gemälde von Mihály Munkácsy hängen, löst wohl bei jedem modernen
Menschen unmittelbar Atemnot und Fluchtgedanken aus.
Selten kann man so eindrücklich nachvollziehen, wie überfällig am Ende des
19. Jahrhunderts jene Durchlüftung war, die wir die Moderne nennen.
Munkácsys wuchtig-akademische Genrebilder, darunter »Landnahme der
Ungarn« (1893), das Fürst Árpád auf einem Schimmel triumphierend zeigt und
im Empfangssalon des Parlaments hängt, machten ihn zum erfolgreichsten
ungarischen Künstler seiner Epoche. Als der Maler im Jahr 1900 starb, löste sein
Tod nationale Trauer aus, und die Beerdigungsfeier fand auf dem Budapester
Heldenplatz statt.
Und doch war die Zeit schon über Munkácsy hinweggegangen. Sein Schüler
József Rippl-Rónai, der mit dem Meister das Atelier teilte, hatte bereits 1892 mit
dem Bild »Kalitkás nő« (Frau mit Vogelkäfig) eine Kunst des freieren
Pinselstrichs eingeleitet. Vier Jahre später verließ eine Gruppe um den Maler
Károly Ferenczy die muffig gewordenen Ateliers und wandte sich in der
Künstlerkolonie Nagybánya der Pleinair-Malerei zu. Bis ungarische
Konstruktivisten europäische Kunstgeschichte maßgeblich mitschrieben,
vergingen noch ein paar Jahre. Aber es gärte bereits. Eine faszinierende
Übergangsgestalt und in meinen Augen einer der bemerkenswertesten
ungarischen Maler Anfang des 20. Jahrhunderts war der taubstumme Künstler
Lajos Tihanyi. Tihanyi gehörte zur Künstlergruppe der Acht (Nyolcak), Ungarns
erster Avantgardebewegung.
Innovativ, umstritten und international, hob diese Gruppe die ungarische
Malerei auf das durch Cézanne, den Expressionismus und den Kubismus
andernorts bereits erreichte Niveau. Wie eine Vielzahl großer ungarischer
Künstler des 20. Jahrhunderts lebte Tihanyi in Wien, Berlin und später in Paris.
Seine Porträts und Selbstbildnisse sind ebenso prägnant wie überspitzt, sie
zeigen Menschen außerhalb der Durchschnittlichkeit, Personen mit gesteigerter
Präsenz, Kantige, Verzeichnete, die ihre Umgebung ebenso prägen, wie sie von
ihr bestimmt werden. Auf ingeniöse Weise verbinden diese Bilder die
perspektivischen Verschiebungen des Kubismus mit der psychologischen Kraft
des Expressionismus. Bis ans Grotesk-Karikaturistische heranreichend, lassen
sie den Dargestellten gleichwohl ihre menschliche Integrität. »Es ist
erstaunlich«, rühmte der Kunstkritiker Ernő (Ernst) Kállai 1925, »mit welch
zähem, grüblerischen Forschungseifer der Maler sich in die Züge seiner Modelle
oder seines Selbstporträts vergräbt, um den jeder repräsentativen
Fassadenaufmachung entblößten Charakter erfassen und gestalten zu können.«
Am Ende seines Lebens malte Tihanyi abstrakt und war damit Teil jener
konstruktivistischen Wende, die Ungarns Avantgardisten Weltgeltung
verschaffte.
Bevor ich jedoch ein kleines Panorama der beispiellosen Talentdichte gebe,
die die ungarische Avantgarde in den ersten beiden Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts kennzeichnet, muss ein Bekenntnis zur Einseitigkeit
vorausgeschickt werden. Ich weiß, dass man die neuere Kunstgeschichte
Ungarns auch mit ganz anderen Akzenten erzählen kann. Der aus Pécs
stammende Erfinder der Op-Art, Victor (Győző) Vasarely (Vásárhelyi), könnte
beispielsweise gewürdigt werden, oder Tivadar Csontváry Kosztka, dessen
dämonische Obsessionen außerhalb Ungarns – sehr zum Bedauern seiner
Landsleute – kaum jemand kennt. Und selbst innerhalb meiner Konzeption fehlt
das genauere Eingehen auf Namen, die der Textökonomie zum Opfer fallen
mussten: Róbert Berény, Béla Kondor, István Farkas … allesamt großartige
Künstler, auf die Sie in den Museen achten sollten.
Auf den folgenden Seiten präsentiere ich ungarische oder jedenfalls
ungarischstämmige Künstler, deren Werk im Gefüge der magyarischen
Mentalität durch ihren Zukunftsglauben spannungsreich heraussticht und deren
Produktivität sich nur im europäischen Kontext entfalten konnte. Das liberale
Budapest, das Exil in Wien, das Großstadtleben in Berlin brachten künstlerische
Meisterwerke von Weltrang hervor. Es gehört zum Schicksal der ungarischen
Kunst, dass ihre größten Manifestationen nicht selten außerhalb des Landes
entstanden. Davon profitierte man andernorts: Das Bauhaus in Weimar und
Dessau beispielsweise wäre ohne den Beitrag unzähliger Ungarn nicht das, was
wir heute bewundern.
»So viele Talente wie damals in Budapest sind nie wieder in Ungarn zugleich
aufgetreten«, resümiert die Avantgardeexpertin Krisztina Passuth im Hinblick
auf die ersten zwanzig Jahre des 20. Jahrhunderts in Mittelosteuropa. Gerade die
existenzielle Unsicherheit und Unruhe jener Zeit gebar neue künstlerische
Ausdrucksweisen, internationale Kontaktsuche und gesellschaftliche Utopien.
Neugier auf die Nachbarn, leidenschaftlicher Streit, Debatten, Treffen,
Ausstellungen: alles verdichtete sich plötzlich, kombiniert mit einer Art
Naherwartung revolutionärer Umstürze. Es lag etwas in der Luft. Man musste es
nur ausdrücken. Und derjenige, der sich darauf am besten verstand, war ein
hitzköpfiger junger Mann aus einfachsten Verhältnissen: Lajos Kassák, geboren
1887 im damals ungarischen Érsekújvár. Mit zwanzig ging er zu Fuß von
Budapest nach Paris. 1916, zurück in Ungarn, gründet er die »MA« (»Heute«),
Budapests wichtigste Avantgardegruppe, und die gleichnamige Zeitschrift. Ein
europäisches Projekt, denn im »MA«-Büro in der Visegrádi utca bestand
beispielsweise Gelegenheit, Herwarth Waldens Berliner Zeitschrift »Der Sturm«
zu lesen, die im Austausch nach Ungarn geschickt wurde. Das Ende der
Räterepublik 1919 zwingt Kassák zur Emigration nach Wien, wo bereits ein Jahr
später die Wiedergründung der Zeitschrift erfolgt. Kassák, bislang Lyriker,
beginnt in der österreichischen Hauptstadt seine Tätigkeit als Bildkünstler.
Zwischenzeitlich in Berlin, kehrt er 1926 nach Budapest zurück, wo er bis zu
seinem Tod 1967 lebt.
Lajos Kassák war ein Charismatiker, ein Entdecker, ein unermüdlicher
Organisator. Was er machte, machte er mit der größten Leidenschaft.
Bezeichnend ist die Anekdote, dass es bei einer Begegnung mit dem
Bezeichnend ist die Anekdote, dass es bei einer Begegnung mit dem
italienischen Futuristen Marinetti in Wien 1925 beinahe zu einem Handgemenge
kam. Ein Kaffeehauskellner versuchte, die zankenden Weltverbesserer zu
beruhigen – mit mäßigem Erfolg. Wichtige Veröffentlichungen publizierte
Kassák (auch) auf Deutsch, so das »Buch Neuer Künstler«, das er 1921
zusammen mit László Moholy-Nagy herausgab, und sein Manifest
»Bildarchitektur« (1922). Die Bildarchitektur »mit ihren aufeinandergelegten
Farben und Formen« wirke, so Kassák, »nicht in die Fläche hinein, sondern aus
der Fläche heraus« – »in den realen Raum«. Wie ist das zu verstehen? Zum
einen beziehen sich Kassáks programmatische Sätze auf jene dynamischen
Gleichgewichte zwischen Kreisen, Feldern, Dreiecken und Diagonalen, die die
konstruktivistische Kunst Anfang der Zwanzigerjahre kennzeichnen. Zum
andern verweisen sie auf das wirklichkeitsformende Potenzial der Kunst, das
Kassák auch in der Abstraktion gegeben sah. Jedoch: So beeindruckend explosiv
dieses Talent gerade in seiner Unerlöstheit war, so bewundernswert scheint mir
der Weg seines Mitstreiters und späteren Rivalen Sándor Bortnyik, dessen
Richtung letztlich zukunftsweisender war und der in jedem Fall außerhalb
Ungarns bis heute unterschätzt wird.
Bortnyik, geboren 1893 in Marosvásárhely und gestorben 1976 in Budapest,
war Meisterschüler von József Rippl-Rónai und János Vaszary. Anfangs
führender Mitarbeiter der »MA« und Anreger von Kassáks Terminus
»Bildarchitektur«, setzt er 1922 mit dem Gemälde »Der Prophet« der
Freundschaft zu Kassák ein symbolisches Ende. Von 1922 bis 1924 arbeitet
Bortnyik im Umfeld des Weimarer Bauhauses. Dort verfasst er 1924 zusammen
mit anderen ungarischen Bauhäuslern ein Manifest, das in der Zeitschrift
»Magyar Írás« abgedruckt wird und den Übergang von der künstlerisch-
handwerklichen in die funktional-industrielle Phase des Bauhauses vorbereitet.
Genau darin liegt der Unterschied zum jungen Kassák: Sándor Bortnyik steht
für den Schritt vieler vom konstruktivistischen Maler zum Typografen und
Werbegestalter. Abstrakte Welterlösung weicht besser gestalteter Realität;
Bortnyik legt, wie der Kritiker Géza Perneczky es ausdrückte, »die Lösung nicht
in die Zukunft, sondern die Zukunft in die Lösung«. Auf diesem Weg hat er es
sich nicht leicht gemacht. Der Kunsthistoriker László Glózer spricht von einem
»spätdadaistischen Witz«, mit dem Bortnyik seine reiferen Arbeiten breche. In
Bortnyiks stärksten Werken gelingen Gleichgewichte zwischen Maschine und
Mensch, Konstruktion und Kindlichkeit, die bis heute anrühren. Hinreißend ist
Mensch, Konstruktion und Kindlichkeit, die bis heute anrühren. Hinreißend ist
die Reklamegrafik, für die dieser Gestalter berühmt ist, besonders das
»Modiano«-Plakat aus dem Jahr 1926. »Modiano«, ein italienischer
Zigarettenpapierhersteller, schrieb in den Zwanzigerjahren einen Wettbewerb
aus, an dem sich alle namhaften ungarischen Werbekünstler beteiligten.
Bortnyiks Entwurf: Auf den Spitzen eines lang gestreckten »M« sitzen zwei
kreisförmige orangefarbene Köpfe, in den Mündern Zigaretten, die in der Mitte
zusammentreffen und aus denen eine gemeinsame Rauchlinie emporsteigt.
Typisch sind die an Oskar Schlemmer erinnernden, mannequinartigen Figurinen
in strengen flächenhaften Raumkompositionen, die den rationalen
Konstruktionen etwas Rundes, Lebendiges und Menschliches entgegensetzen.
Wenn Sie Bortnyiks liebenswerte Kunst kennenlernen möchten, empfehle ich
Ihnen das als Nachdruck wieder zugängliche Kinderbuch »Die Wunderfahrt«,
das zuerst 1929 in Leipzig erschien. Dieser Avantgardist wollte sich nicht mit
Manifesten und abstrakten Kompositionen begnügen. Zwei Jahre nach seiner
Rückkehr nach Budapest gründet er 1928 die Werbegrafikschule »Muhely«
(Werkstatt), das sogenannte »Budapester Bauhaus«. In den zehn Jahren seines
Bestehens schreiben sich dort etwa 120 Schüler ein, darunter Victor Vasarely
und ein Trio von Künstlern, das den bis heute ruhmreichen ungarischen
Animationsfilm auf den Weg brachte: János Halász, Félix Kassowitz und Gyula
Macskássy. Bortnyiks kleines Bauhaus war, wie auch die Gründung der
Zeitschrift »Plakát« im Jahr 1933, der durchaus erfolgreiche Versuch, unter
schwierigen zeitgeschichtlichen Umständen nach Ungarn hinein zu wirken
anstatt ins Exil zu gehen.
Zahlreiche ungarische Avantgardisten kehrten ihrem Land nämlich den
Rücken zu: István Beöthy, der sich in Paris niederließ und seinen Vornamen in
Étienne änderte; Vilmos Huszár, der in den Niederlanden zu einem Gründer der
De-Stijl-Gruppe wurde; László Péri, der bis in seine späten englischen Jahre
hinein neue Experimente unternahm, zum Beispiel mit Polyester; Béla Uitz,
Kassáks kommunistischer Schwager in Moskau … Sie alle lasse ich hier
unbesprochen.
Ausführlicher möchte ich aber auf einige ungarische Bauhäusler eingehen,
denn es ist ganz und gar erstaunlich, wie überproportional groß der Anteil der
Ungarn an dieser so stilprägenden Gestalterschule war. Aus dem
Architekturkapitel kennen Sie bereits Marcel Breuer, Farkas Molnár und Fréd
Architekturkapitel kennen Sie bereits Marcel Breuer, Farkas Molnár und Fréd
Forbát; im Fotografiekapitel wird László Moholy-Nagy näher vorgestellt. Doch
damit ist die Liste nicht annähernd komplett.
An erster Stelle muss Andor Weininger genannt werden. 1899 in Karancs
geboren, ging er nach dem Studium in Pécs und Budapest ans Bauhaus.
Zusammen mit Farkas Molnár gehörte er 1922 zu jenen, die unter dem Einfluss
Theo van Doesburgs die Gruppe »KURI« (Konstruktiv-Utilitar-Rationell-
International) gründeten und dem Bauhaus eine neue, pragmatischere Richtung
gaben. Bei den legendären Bauhausfesten sorgte Weininger mit seiner
Jazzkapelle für Stimmung. 1925 zurück in Ungarn, wurde sein guter Geist so
sehr vermisst, dass Walter Gropius, der kühle Baumeister, ihn in überraschend
herzlichen Briefen zur Rückkehr aufforderte: »kommen sie«, schrieb der
Bauhausdirektor, »und spielen sie auf ihrer geige, dann kann uns nichts
passieren«. Weininger kam, arbeitete an seiner Mechanischen Revue und an
einem Kugeltheater und griff wieder mit der Bauhausband in die Tasten. Es war
also ein Ungar, der den Bauhäuslern das Feiern beibrachte.
Um wie viel lebendiger, humorvoller und menschlicher es in Dessau zuging,
als es das Vorurteil vom verspannten Rationalismus nahelegt, zeigen zahlreiche
Fotos dieses außergewöhnlichen Mannes. Man sieht ihn scherzend, Grimassen
schneidend und mit seinem ansteckenden Lachen, beispielsweise auf einem Bild
von 1927, wo der notorisch klamme Künstler den Dessauer Geldboten mit
theatralischer Inständigkeit um mehr Moneten bittet.
Weininger war der Spaßvogel des Bauhauses, und seine gewinnende Art trug
die Ideen der Dessauer Zeit bis ins amerikanische Exil. In New York, wo er
1986 starb, beeinflusste er die Multimediakünstlerin Laurie Anderson. Ihr kamen
Weiningers Stücke noch 1984 wie frisch choreografiert vor. »Wenn Weininger
vom Bauhaus erzählte«, erinnert sie sich, »kam es einem vor, als sei es letzte
Woche gewesen.«
Weitere Bauhauskünstler ungarischer Abstammung kann ich an dieser Stelle
nur kurz erwähnen: Gyula Pap etwa, geboren 1899 in Orosháza, der nach seinem
Studium am Bauhaus an der Schule von Johannes Itten in Berlin lehrte.
Gleichermaßen Grafiker und Produktdesigner, gehört beispielsweise eine
klassisch-moderne Stehlampe aus dem Jahr 1923 zu seinen Werken. Während
Pap sein Leben im Alter von 84 in Ungarn beendete, erlitten andere ungarische
Bauhäusler die typischen Schicksale des 20. Jahrhunderts: Hendrik Neugeboren
aus Brassó kehrte nicht in seine Heimat zurück, sondern lebte als Henri Nouveau
in Frankreich. Otti Berger, 1898 in Vörösmart geboren und für kurze Zeit
Leiterin der Abteilung Weberei, wurde in Auschwitz ermordet. Und Stefan
(István) Sebök (1904 – 1936), ein enger Mitarbeiter von Gropius und Moholy-
Nagy, ist in der UdSSR verschollen.
Für viele Künstler, aber auch für Fotografen, Schriftsteller und Journalisten
war Berlin in den Zwanzigerjahren mindestens so anziehend wie Budapest. Der
Ungar Stefan (István) Lorant zum Beispiel reüssierte dort als Verleger. Seit 1920
lebte auch Ernst (Ernő) Kállai, der wohl wichtigste Kunstkritiker und
Ausstellungsorganisator Ungarns, in Deutschland. Er wurde 1928 vom Gropius-
Nachfolger Hannes Meyer zum Leitenden Redakteur der Bauhaus-Zeitschrift
ernannt. Kállai gehört zu jenen, die die Zwanzigerjahre zu dem machten, was
wir heute bewundern. Er war, neben Moholy-Nagy, der wichtigste Ungar im
geistigen Berlin der damaligen Zeit. 1890 in Szalkaháza geboren, schrieb Kállai
auf Deutsch so mühelos wie auf Ungarisch. Seine leidenschaftliche rhythmische
Prosa ist meisterlich. Kállais scharfe Beobachtungsgabe, seine sichere
Urteilskraft und seine Fähigkeit, Kunst in größere, zumal internationale
Zusammenhänge zu stellen, brachten Texte hervor, die bis heute nicht
ausgeschöpft sind. Seit ein paar Jahren sind Kállais deutschsprachige Schriften
komplett zugänglich: in einer schönen Werkausgabe, ediert und verlegt in
Budapest.
Kállai gehörte zu den wenigen, die – statt nach Übersee zu fliehen – aus
Nazideutschland in ihre Heimat zurückkehrten: Er lebte von 1935 bis zu seinem
Tode 1954 in Budapest. Gleich nach Kriegsende war es Kállai, der abstrakt
arbeitenden, progressiven Künstlern unabhängige Ausstellungsmöglichkeiten
verschaffte. In seinen letzten Lebensjahren, die in den finstersten Stalinismus
fielen, traf ihn jedoch ein Lehr- und Publikationsverbot.
Kállais Schicksal zeigt, wie schwer es die Kunst im Ungarn der
Fünfzigerjahre hatte. Im Rückblick scheint es, als ob damals gerade die kleinen
Formen einen Überlebensort darstellten: versteckte, skizzenhafte, winzige
Werke hielten eine Sensibilität wach, die im Reich der politisierten Großkunst
mit ihren Stalinstatuen und Arbeiterbildnissen keinen Ort fand.
Eine kleine Entdeckung ist zum Beispiel Zsuzsa Szenes’ Büchlein
»Házasságunk a Mikivel« (Unsere Heirat mit Miki), mit dem die Autorin ihr
Leben an der Seite des Künstler Miklós Erdély begleitet. Weit davon entfernt,
Leben an der Seite des Künstler Miklós Erdély begleitet. Weit davon entfernt,
kunstgeschichtlich repräsentativ zu sein, rührt die Zärtlichkeit dieser
Zeichnungen bis heute an.
Zum Überhang, der aus der Blütezeit der Zwanziger- und Dreißigerjahre in
den Sozialismus hineinreichte, gehörte auch die Gebrauchskunst. Der Grafik
gegenüber zeigten sich die Zensoren bisweilen toleranter. Und so konnte das
maßgeblich von Ungarn wie Moholy-Nagy, Kassák, Bortnyik und Berény
mitentwickelte System der modernen Typografie, Umschlag- und
Plakatgestaltung fortleben. Die wiederkehrenden geometrischen Symbole,
Pfeile, vertikal gestellten Zeilen und hervorgehobenen Buchstaben, oft in den
Farben Schwarz, Rot und Weiß, finden sich auch in der Nachkriegsreklame.
Seltsam genug: Es wurde auch in der Planwirtschaft geworben, weshalb im
»Gulaschkommunismus« sogar witzige Werbefotos wie die von József Füles
Tóth entstehen konnten.
In den späten Sechzigerjahren öffnete sich Ungarn allmählich für
internationale Strömungen der Kunst, und eine Reihe von Malern griff den
konstruktivistischen Faden der Vorkriegszeit wieder auf. Einen möchte ich
herausgreifen, weil sein Werk auf eine subtile Weise von der Freiheit erzählt:
István Nádler, geboren 1938. Er malt abstrakte Bilder, an denen der Blick
hängen bleibt, wegen derer man, abgelenkt durch ein Museum laufend, auf
halbem Wege umkehrt, um sie genauer zu betrachten. Nicht so scharfkantig wie
der Minimalismus von Imre Bak und nicht so ausgefranst wie die Formen eines
Ákos Birkás, um zwei weitere wichtige Künstler dieser Generation zu nennen,
gewinnen Nádlers luminose Farbflächen und seine gestische Pinselführung
gerade im Spätwerk mehr und mehr an Unwiderstehlichkeit.
Typisch für Nádler sind seine mit breitem Strich aufgetragenen vertikalen
Streifen, mit denen er kompakte Farbfelder übermalt. Zwischen den sorgfältig
komponierten Flächen und dem dynamischen Strich, der die Borsten des Pinsels
deutlich hervortreten lässt, entsteht eine eigentümliche Spannung. Geometrie
und Geste treten in seinen besten Bildern in ein vibrierendes Gleichgewicht, das
von großer Souveränität zeugt.
Nádlers Kunst ist die Kunst eines freien Menschen. Seine Bilder zeigen
bewegliche Balancen, wie sie außerhalb des Ästhetischen so selten gelingen,
zumal in Ungarn. Die Vereinten Nationen waren deshalb gut beraten, als sie
1998 einen Entwurf von István Nádler als Emblem einer Flagge auswählten, die
die Menschenrechte symbolisiert.
die Menschenrechte symbolisiert.
Nádler ist übrigens, bei aller Ungegenständlichkeit seiner Formen, auch
deshalb so interessant, weil in seinem Werk viele Fäden zusammenlaufen, vor
allem aus der zeitgenössischen ungarischen Literatur (zum Beispiel im Dialog
mit dem Schriftsteller Dezső Tandori) und Musik. Seine malerische Resonanz
auf György Ligetis Partituren gehört meines Erachtens zum Staunenswertesten,
was in der ungarischen Kunst der vergangenen Jahrzehnte entstanden ist. Es sind
Blätter von atemberaubender Rhythmik, deren Widerspiel zwischen Komplexität
und Klarheit mit einer solchen Delikatesse austariert ist, dass sie jeden
Betrachter, ganz gleich wie viel er von moderner Musik oder Malerei versteht,
unwillkürlich in ihren Bann ziehen. Bei Nádler ist die Abstraktion so sehr zu
sich selbst gekommen, dass sie einen unmittelbaren sinnlichen Sog entfaltet.
Einmal mehr traf Péter Esterházy, nachdem István Nádler ihn porträtiert hatte,
den Punkt: »Ich bin gemalt worden, deshalb bin ich, denke ich.«
Wer figurative Ungarnbezüge in der Malerei sucht, dem sei das Werk László
Fehérs, geboren 1953 in Székesfehérvár, nahegelegt. Viele seiner Bilder nehmen
ihren Ausgang in der konkreten Realität, um ihre Motive dann mittels einer
eigenartigen Verstärkung zu entrücken. »Unterführung I & II« (1975 & 1978)
oder »Untergrundbahn« (1976) beispielsweise: zugleich Budapest und Ausdruck
grauer Geschäftigkeit in irgendeiner beliebigen Großstadt. Andere Titel sind
eindeutiger, etwa »Földalatti« (1978), wo das Gelb der hauptstädtischen
Untergrundbahn wirklicher erscheint als auf den echten Waggons, oder eine
Folge von Obdachlosenporträts (»Gesichter vom Móricz Zsigmond Körtér«,
2004), die ebenfalls einen klaren Budapest-Bezug aufweist (nämlich zu den
Menschen an einem Verkehrsknotenpunkt im 11. Bezirk). Viele Motive kehren
wieder: Treppenstufen, jüdische Lebenswelten, Freunde und Familie. Auch der
Maler selbst, dessen humaner Blick bisweilen zum Gegenstand seiner Gemälde
wird: lachend von der Seite (»Selbstporträt mit Fünfzig«, 2003) oder in einem
Augenblick entspannter Ruhe (»Selbstporträt auf dem Wasser liegend«, 2005).
Fotonaturalist, Hyperrealist – die Begriffe der Kunstkritiker wirken hilflos
gegenüber Fehérs Malerei, deren trügerische Überschaubarkeit den Betrachter
sofort packt, verunsichert und nach Halt suchen lässt. Fehérs Werk, das ein
wenig an den Belgier Luc Tuymans erinnert, jedoch humorvoller und weniger
beklemmend ist, verstört nicht zuletzt deshalb, weil es seine existenzielle Unruhe
aus handwerklich perfekter, ja strahlend schöner Ausführung entstehen lässt.
aus handwerklich perfekter, ja strahlend schöner Ausführung entstehen lässt.
Fehérs Figuren, häufig weiß konturierte Existenzen vor schwarz-gelben
Hintergründen, wirken ausgeliefert und zerbrechlich, noch in der banalsten
Alltäglichkeit. Beim Betrachten der Werke István Fehérs wird man von
Einsamkeit und Endlichkeit, von Verlorenheit und Tod auf dem Fuße erwischt,
kann aber – ganz selten – auch an einem kurzen Moment des Glücks teilhaben.
In den Siebzigerjahren ereigneten sich in Ungarn Dinge, die zur Revision
kunsthistorischer Monografien führen müssten. Bekannt ist, dass ungarische
Künstler wie Tibor Hajas mit ihren extremen Körper-Performances Anschluss an
den Aktionismus des Westens fanden. Aber wer weiß schon, dass es nicht nur im
angelsächsischen Raum, sondern auch im Land der Puszta eine Earth-Works-
Bewegung gab? Diese Kunstrichtung, die Ende der Sechzigerjahre die Natur als
Ort und Partner ihrer Arbeiten entdeckte, stammt ursprünglich aus den USA, wo
beispielsweise Robert Smithson mit seiner Schotter-Spirale in einem Salzsee in
Utah die weiträumige Landschaft der Staaten für sein Werk nutzte. In der
weniger weitläufigen Natur Ungarns arbeiteten seit 1970 die sogenannten »Pécsi
Muhely«, fünf Künstler aus Pécs, darunter Károly Kismányoki und Kálmán
Szijártó. Ein Jahrzehnt lang, von den Autoritäten erstaunlicherweise geduldet
und sogar in einfachen Katalogen (1972 & 1974) dokumentiert, unternahmen sie
ihre Interventionen in der ungarischen Landschaft.
Auf »YouTube« kann man wacklige Schwarz-Weiß-Filme anschauen, die die
Pécsi Muhely beim Abwickeln langer Papierrollen in einer windigen
Hügelgegend zeigen. Bemerkenswert ist daran nicht zuletzt, wie diese
humorvollen Aktionen die Puszta-Romantik der Magyaren ironisch aufgreifen.
Immer wieder heben sich ungarische Künstler von folkloristischen Idyllen ab:
Imre Bukta etwa, dessen Improvisationen dem Landleben absurde Aspekte
abgewinnen. Oder Tibor Gyenis, ebenfalls aus Pécs, als 1970 Geborener jedoch
einer ganz anderen Generation angehörend. Sein Werk könnte als Land Art 2.0
bezeichnet werden, treten bei ihm doch inerte, künstliche Stoffe, beispielsweise
Plastikabfälle, in einen irritierenden Dialog mit der Natur.
Eine Eigenschaft, die die Land Art auszeichnet, gilt auch für eine Reihe von
künstlerischen Installationen, die in den späten Achtziger- und frühen
Neunzigerjahren in Budapest entstanden: ihre Untrennbarkeit von den Orten, an
denen sie ausgeführt wurden. Das Besondere jener Orte lag darin, dass sie ihre
ursprüngliche Funktion verloren hatten und nun ungenutzt da lagen. Alte
Fabrikgebäude, die Ruinen des Hungária-Bades in der Dohány utca oder das
Fabrikgebäude, die Ruinen des Hungária-Bades in der Dohány utca oder das
ehemalige Újlak-Kino gehörten dazu. Nach Letzterem nannte sich eine Gruppe
von Künstlern: »az Újlak csoport«. Weder im erstarrten staatlichen
Museumsbetrieb noch auf dem kapitalistischen Kunstmarkt glücklich, hauchten
sie dem innerstädtischen Brachland für die Dauer langer Nächte das Leben ihrer
Performances, Konzerte und Ausstellungen ein. Improvisiert, den Prozess über
das dauernde Werk stellend, das soziale Ereignis über den Einzelkämpfer,
versinnbildlichen die Aktivitäten um Zoltán Ádám die Wiedereroberung des
urbanen Raums nach dem Sozialismus und die Vitalität dieser einzigartigen
Übergangszeit.
Und heute? Vorbei die Zeit, in der das Wort »Westkunst«, 1981 anlässlich
einer Kölner Ausstellung von László Glózer geprägt, Orientierung bieten konnte.
Vorbei auch die Zeit, in der Westentwicklungen in Ungarn einfach nur
nachgeholt und mit den jeweiligen staatlichen Spielräumen abgeglichen werden
mussten, um Aufmerksamkeit zu erregen. In der Diktatur entstanden Werke, die
Bestand haben werden. Aber kommen aus dem heutigen Ungarn nennenswerte
Beiträge zur globalisierten Gegenwartskunst? Oder gibt es Künstler, die sich in
besonderer Weise mit dem ungarischen Hier und Jetzt beschäftigen? Es lohnt
sich, durch die Galerien und Sammlungen zu streifen und Entdeckungen zu
machen.
So schuf etwa Csaba Nemes, geboren 1966, mit »Remake I-X« (2007) eine
Folge von Videoanimationen, die sich auf die Budapester Krawalle im Herbst
2006 beziehen. Seine suggestiven Clips nehmen ihren Ausgang von
dokumentarischem Material und verfremden es dann so, dass eingefahrene
Polarisierungen ins Wanken geraten. Titel wie »Túrórudi« oder »Combino
Song« markieren klare Realitätsbezüge. Bei Ersterem handelt es sich um einen
populären Quarkriegel, den einige Randalierer beim Besetzen des
Staatsfernsehens aus einem ramponierten Automaten stahlen. Der vermeintlich
politische Protest wird angesichts dieses Details kenntlich als hedonistische
Aggression. »Combino Song« bezieht sich auf die neuen, noch unpopulären
Straßenbahnwagen in Budapest, greift die vertraute Ansagestimme der Bahn auf
und integriert ihre routinierten Sätze in einen unter die Haut gehenden,
rebellischen Song.
Wer Nemes’ Clips betrachtet, bemerkt die überzeugende Verbindung einer
avancierten internationalen Bildsprache mit brisanten lokalen Themen. Seine
Arbeiten erzielten ein großes Echo, wurden als ungarischer Beitrag zur Biennale
Arbeiten erzielten ein großes Echo, wurden als ungarischer Beitrag zur Biennale
von Venedig nominiert, aber in letzter Minute – angeblich aus formalen Gründen
– zurückgezogen.
Gegenwartskunst mit regionalen Sujets mag gerade aus der Sicht derer
spannend sein, die sich an global gleichförmig gewordener Kunst sattgesehen
haben. Gleichwohl gibt es keinen Grund, mittelosteuropäische Künstler auf ihr
Herkunftsumfeld festzulegen. Jemand, der von vornherein internationale
Medienwelten zum Ausgangspunkt seiner Arbeiten nimmt und gewissermaßen
nur zufällig aus Ungarn kommt, ist Dezső Szabó, Jahrgang 1967. Seine
Fotoarbeiten sehen aus wie Katastrophenbilder: Terroranschläge und Tornados,
Flugzeugabstürze und Autounfälle. Diese Tatorte wirken irritierend vertraut,
›echt‹, und erweisen sich doch bei genauerer Betrachtung als inszeniert. Szabó
fingiert die Schauplätze mit Attrappen in seinem Studio. Es ist alles gemacht,
aber so geschickt auf der Kippe zwischen Realitätseindruck und fake gehalten,
dass jede neue Arbeit zum genaueren Hinsehen und Reflektieren zwingt.
Csaba Nemes und Dezső Szabó mögen hier als Beispiele dafür genügen, dass
sich der Gang durch die Galerien in Ungarn lohnt. Hier ein paar Empfehlungen:
Zu den beachtenswertesten Budapester Privatgalerien gehören – neben der im
Fotokapitel vorgestellten Vintage Galéria – die Várfok Galéria, die unter
anderem István Nádler vertritt, oder der kleine, innovative Raum der Liget
Galéria am Stadtwald, der schon seit 1983 unabhängig von staatlichen Vorgaben
Kunst präsentiert. Zu den größeren Spielern zählen Tamás Kieselbach, der mit
enzyklopädischem Anspruch ungarische Malerei aufspürt, während Galeristen
wie die Budapesterin Erika Deák oder der Wiener Hans Knoll ein internationales
Portfolio zeigen, das ungarische Positionen ebenso einschließt wie die Kunst in
Ungarn lebender Expats oder österreichischer Künstler wie Clemens Kraus. Seit
2007 hat sich die Budapester Kunstmesse – früher eher ein Antiquitätenmarkt –
neu aufgestellt und deutlich an Attraktivität gewonnen.
Interessant sind eine Reihe von non-profit-Orten, darunter die 2B Galéria und
der Videospace, beide in Budapests Ráday utca. Die Stúdió Galéria, die
Künstlern unter 35 Jahren Ateliers und Aufmerksamkeit zu verschaffen versucht,
präsentiert seit 1998 die sogenannte »1 x 1tábla«, eine großformatige
Reklametafel, auf der zeitgenössische Künstler Plakate gestalten. Quartal für
Quartal gibt es neue Interventionen im Budapester Stadtraum, die die
Erwartungen der Passanten brechen, weil sie von der gängigen Werbeästhetik
abweichen.
Informationen über aktuelle Ausstellungen finden sich verlässlich auf
www.exindex.hu und im monatlich erscheinenden »Index«-Flyer. Übrigens
erscheinen in Budapest auch zwei interessante mehrsprachige Zeitschriften zur
Gegenwartskultur: »Praesens«, ein Journal für Kunst aus Mitteleuropa, und »The
Room«, ein aufwendig gestaltetes Designmagazin.
In Ungarn hat die Kunstszene mittlerweile ein Stadium erreicht, in dem
Privatsammler ihre Depots öffnen und sogar mit eigenen Ausstellungsräumen
hervortreten. Dazu gehören das KogArt des Sammlers Gábor Kovács in
Budapests Andrássy út und die Sammlung Vass in Veszprém, eine Kollektion
abstrakt-geometrischer Kunst seit 1945. Spezieller, doch kunstgeschichtlich
besonders spannend, sind die Irokéz Galéria in Szombathely, eine Sammlung
von Untergrundkunst aus den Achtzigerjahren, sowie Artpool in Budapest, das
weltweit größte private Mail-Art-Archiv.
Natürlich lohnen sich auch Besuche der öffentlichen Sammlungen. In der
Hauptstadt zeigen beispielsweise das Ludwig Museum und die Kunsthalle
(Mucsarnok) bemerkenswerte Gegenwartsarbeiten. Gleichwohl ist gerade die
Kunst ein guter Grund, in die Provinz aufzubrechen. Pécs verfügt über eine
Vielzahl sehenswerter Sammlungen, Kecskeméts Cifrapalota beherbergt eine
ansprechende Gemäldegalerie, und in Debrecen eröffnete kürzlich das
MODEM, ein überraschend großzügiges Haus für zeitgenössische Kunst.
Unentwegten Modernisten empfehle ich schließlich eine Reise nach
Dunaujváros (Donauneustadt), eine in den Fünfzigerjahren vom Bauhäusler
Tibor Weiner entworfenen Stadt, die – wie Eisenhüttenstadt in Deutschland –
ursprünglich Stalinstadt (Sztálinváros) hieß. Wenngleich Weiner zugunsten
sozialistischer Ornamentik Abstriche von seinen puristischen Plänen machen
musste, ist Dunaujváros in jedem Fall einen Aufenthalt wert.
In der Vasmü út befindet sich seit 1997 das Institut für Gegenwartskunst – mit
Wechselausstellungen und einem Art Cafe, das sehr, sehr starken Kaffee
serviert. Wer dort sitzt, umgeben von zackigen Formen, und auf die grau
gewordenen Fassaden blickt, weiß nach diesem Kapitel, welchen Anteil das
kleine Ungarn an den großen Träumen des 20. Jahrhunderts hatte.
Vintage.
Weltfotografie aus Pest

Waren Sie schon mal in Szigetbecse? Dort steht ein Schreibtisch aus Manhattan,
und der allein lohnt die Reise. Auf den ersten Blick ist Szigetbecse ein gepflegter
kleiner Ort südlich von Budapest. Mülltonnen säumen akkurat die Landstraße,
und im Zentrum befindet sich eine schmucke Kirche. All das wird Sie natürlich
nicht nach Szigetbecse treiben, sowenig wie die Tatsache, dass die
Hinweisschilder hier zweisprachig sind, wohnen doch viele Ungarndeutsche in
diesem Ort, der auf Deutsch Wetsch heißt.
Der wirkliche Grund, nach Szigetbecse zu fahren, hängt damit zusammen,
dass hier im Jahr 1899 ein fünfjähriger Junge bei seinem Onkel ein paar
Illustrierte durchblätterte und sich daraufhin entschloss zu fotografieren. André
Kertész, einer der größten Fotografen aller Zeiten, verbrachte Kindheit und
Jugend in diesem Ort, machte hier seine ersten Aufnahmen und fühlte sich
Szigetbecse so sehr verbunden, dass er am Ende seines gut neunzigjährigen
Lebens zurückkehrte und eine Reihe von Exponaten für das André Kertész
Emlékmúzeum stiftete, darunter Möbel aus seiner New Yorker Wohnung.
»Alles«, sagte Kertész im Rückblick auf seine Karriere, »führt zurück nach
Szigetbecse.«
Ich empfehle Ihnen also den Besuch dieses Museums, um die Ursprünge des
Werkes von Andor (André) Kertész (1894 – 1985) kennenzulernen. Überrannt ist
es nicht gerade, weshalb Besucher sich zunächst beim Bürgermeisteramt melden
müssen um hineinzukommen. Kaum betritt man das bescheidene
Rathausgebäude, springen alle Mitarbeiter auf, der »polgármester« persönlich
kommt hinter seinen Akten hervor, und eine freundliche Dame wird damit
beauftragt, den Weg in die Makádi út zu weisen. Sie schließt auf, öffnet die
Fensterläden, und zum Vorschein kommen etwa 120 frühe Fotografien aus den
ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, ein Walnussschrank aus New
York und eine Reihe rätselhafter Glasobjekte. Was es mit Letzteren auf sich hat,
verrate ich Ihnen erst am Ende dieses Kapitels. Betrachten wir zunächst die
Bilder … Das älteste erhaltene stammt aus dem Jahr 1912 und zeigt einen
jungen Mann, der, abgestützt auf den rechten Arm, mit offenem Mund an einem
Tisch eingenickt ist. Wer will, wird auf diesem Foto bereits Kertész’
kompositorisches Können entdecken. In jedem Fall jedoch können seine frühen
Arbeiten als eigenständiger Werkabschnitt bestehen. Abony, Dunaharaszti und
Tiszaszalka heißen – neben Szigetbecse natürlich – die Ortschaften, in denen der
junge Kertész seine ländlichen Motive findet. Ein Selbstbildnis zeigt ihn vor
einem typischen Puszta-Ziehbrunnen, er fotografiert die Hände seiner Mutter
oder lässt seinen Bruder Jenő vor der Kamera posieren, springen und
schwimmen. In Esztergom entsteht die berühmte Aufnahme eines
Unterwasserschwimmers. Andere Bilder zeigen das alte Budapest: den Kálvin
tér vor seiner Zerstörung oder das Tabán-Viertel, Budas ›Grinzing‹. Wer die
Bildbände »Hungarian Memories« und »The Early Years« durchblättert,
bemerkt eine überraschende Zeitzeugenschaft: 1918 dokumentiert Kertész eine
der ersten kommunistischen Demonstrationen in Budapest, andere Aufnahmen
halten den Marsch der Truppen in den Ersten Weltkrieg fest.
Wiewohl Kertész seinem Land weit mehr verbunden war als beispielsweise
Brassa, geht auch er 1925 nach Paris. Im Café du Dôme auf dem Montparnasse
hält er sich in den Kreisen der ungarischen Boheme auf. Mit der Kamera verfolgt
Kertész die Wege Endre Adys; berühmt wird das Foto eines Bistrotisches, auf
dem handschriftlich notierte Verse des Dichters liegen. Seinen Stillleben, zum
Beispiel Mondrians Brille oder einer Gabel, die auf einem Tellerrand aufliegt,
den Straßenszenen und Künstlerporträts verleiht er poetische Züge, ohne dabei
ins Piktorialistische abzudriften. Seine Bekanntschaft mit den Surrealisten Man
Ray und André Breton inspiriert den Fotografen zu verzerrten Aktaufnahmen,
den berühmten »Distorsionen«. 1934 resümiert er in seinem Buch »Paris vu par
André Kertész« die Zeit in Frankreich und zieht zwei Jahre später nach New
York, wo er jedoch erst spät an die kreative, kommerzielle und persönliche
Zufriedenheit der französischen Jahre anzuknüpfen vermag. Kertész wird nie
Zufriedenheit der französischen Jahre anzuknüpfen vermag. Kertész wird nie
richtig Englisch lernen; zeitlebens spricht er ein Kauderwelsch aus Ungarisch,
Deutsch, Französisch und amerikanischem Englisch. »Die Fotografie«, äußerte
er 1963, »ist meine einzige Sprache.«
Spannungsreich blieb zeitlebens sein Verhältnis zu Brassa, dem anderen
großen Ungarn im fotografischen Paris, der seinen Kollegen gleichwohl mit den
Worten würdigte: »André Kertész besitzt zwei wesentliche Eigenschaften, die
den großen Fotografen ausmachen: eine unersättliche Neugier gegenüber der
Welt, dem Leben, den Menschen und einen ausgeprägten Formsinn. Er vermag
den flüchtigsten, aus dem Leben gegriffenen Bildern die formale Strenge und
Tonigkeit zu verleihen, die für gewöhnlich das Privileg der mit Vorbedacht
gemachten Aufnahmen sind. Wenn ich ein Wort suche, um Kertész’ Werk zu
charakterisieren, finde ich kein besseres als menschlich.« Tatsächlich frappieren
Kertész’ beste Bilder durch eine sich wie beiläufig einstellende Ordnung. Ihr
Arrangement wirkt, als sei es nicht vom Fotografen in die Motive hineingelegt
worden, sondern aus der Welt herausgetreten und dem fotografischen Auge von
selbst entgegengekommen. Berühmt ist beispielsweise das Bild einer Prozession
schwarzer Regenschirme in Tokio, an deren Spitze sich wie zufällig ein weißer,
auf den Asphalt gemalter Richtungspfeil befindet. Der für Kertész’ Generation
so typische Blick von schräg oben legt hier eine Korrespondenz zwischen
wahllos sich einfindenden Menschen und ihrer Umgebung frei, die gestellt sein
könnte, tatsächlich aber günstige Gelegenheiten nutzt, um eine zumindest
vorübergehende Ordnung der Dinge freizulegen und festzuhalten. Kertész
fotografierte oft bei Regen, im Spätnachmittagslicht oder frühmorgens nach dem
Schneefall und verstärkte damit die Wirkung solcher Situationen. Das Foto aus
dem verregneten Tokio kommentierte er mit den Worten: »Ich sah diese Leute
aus meinem Hotelfenster die Straße überqueren – eine perfekte Komposition.
Man muss sich nichts ausdenken; die Wirklichkeit gibt alles, was man braucht.«
»Was wäre die ganze moderne Fotokunst ohne den großen Kertész, der immer
wieder Maßstäbe setzte?«, fragt der Kritiker Wilfried Wiegand. Und er fügt
hinzu: »Was wäre das Bauhaus ohne Moholy, die Kriegsreportage ohne Robert
Capa, die Modefotografie ohne Martin Munkácsi und Paris ohne Brassa?« Sie
alle stammen aus Ungarn. Die großen Fünf. Mag auch Berlin die Drehscheibe
progressiver Presse, Paris die Hauptstadt des künstlerischen Lichtbildes und
New York der ultimative Hafen gewesen sein, an dem am Ende alle ankamen –
ohne den Zustrom von Begabungen aus Budapest wären diese kulturellen
ohne den Zustrom von Begabungen aus Budapest wären diese kulturellen
Zentren im vergangenen Jahrhundert weitaus ärmer gewesen. Die ungarische
Fotografie hat die gegensätzlichsten Richtungen hervorgebracht: die ins
Immaterielle gesteigerten Lichtbilder eines Moholy-Nagy genauso wie das
Aufsaugen des Alltagslebens bei Brassa. Ihre immense Fülle ist mit den großen
Fünf lediglich in der Spitze erfasst. Kaum jemand kennt diejenigen, die ihr Land
nie verlassen haben.
Auf den folgenden Seiten möchte ich den Beitrag Ungarns zur Weltfotografie
in verknappten Lebensläufen herausstellen, stets mit besonderem Blick auf die
Rolle des Geburtslandes. Zudem will ich versuchen, drei Fragen zu beantworten:
Warum stammen gerade aus diesem Land so viele Fotografen von Rang?
Weshalb ist nur ein Bruchteil davon heute bekannt, sogar in Ungarn, erst recht
aber im Ausland? Und was tut sich in der gegenwärtigen ungarischen
Fotografie?
Brassa, der Mann, der die Nacht von Paris im Bild erfasste, wählte seinen
Künstlernamen nach dem Ort seiner Geburt: Gyula Halász kam 1899 in Brassó
(Kronstadt) zur Welt, das damals zu Ungarn und heute zu Rumänien gehört.
»Einige Kilometer weiter beginnt der Osten, das Gebiet des einstigen
Byzantinischen Reiches«, schrieb ›der aus Brassó‹ in seinen
Kindheitserinnerungen. Brassa, dessen Vater Professor für französische Literatur
war und der den Sohn schon im Alter von fünf Jahren zu einem Parisaufenthalt
mitnahm, studierte zunächst Malerei an der Kunstakademie in Budapest. Wie so
viele seiner künstlerisch ambitionierten Generationsgenossen geht er zunächst
nach Berlin, 1924 schließlich nach Paris. Beim Blättern in Brassas Tagebüchern
aus den Dreißigerjahren tauchen alle paar Seiten Ungarn auf, die zu seinem
Pariser Umfeld gehörten, darunter André Kertész, der Maler Lajos Tihanyi, der
Presseverleger Stefan Lorant (István Lóránt) und Brassas Agent Charles Rado.
Und doch hat sich kaum ein ungarischstämmiger Künstler so entschieden von
seiner Heimat losgesagt: »Das wahre Geburtsdatum des schöpferischen
Menschen ist dann, wenn er seinen Weg und seine Stimme gefunden hat. Das
einzige Geburtsdatum, das für mich zählt, ist nicht Brassó 1899, sondern Paris
1933«, äußerte er einmal, und tatsächlich ist der Mann aus Brassó nie wieder
nach Ungarn zurückgekehrt.
Stattdessen: Paris. Brassa durchwandert die Stadt der Passagen und
Markthallen, der Laternen und Lokale. »Man konnte ihm in den unvermutesten
Markthallen, der Laternen und Lokale. »Man konnte ihm in den unvermutesten
Stadtvierteln begegnen. Immer war er auf der Lauer, nahm die Witterung,
schnüffelte in den Winkeln«, schrieb sein Schriftstellerfreund Henry Miller über
ihn. Die Niederungen und Lichter der nächtlichen Großstadt werden Brassas
Thema. Er besaß, wie die Kunsthistorikerin Annick Lionel-Marie treffend
feststellt, »einen ausnehmend scharfen Sinn für die in der Stadt versprengte
Poesie, eine Vorliebe für das Abseitige und schätzte den einzigartigen Rausch
der Pariser Nacht«. Ins kollektive Bildgedächtnis haben Fotos von Paaren
Eingang gefunden, deren Gesten und Blicke sich in einer Caféecke spiegeln.
Oder das verschneite Tor des Jardin du Luxembourg bei Nacht. Oder die Lichter
der Stadt, betrachtet durch eine verregnete Autofensterscheibe.
Im Jahr 1932 erscheint ein Meilenstein in der Geschichte des fotografischen
Buches: »Paris de Nuit«. Es enthält »62 Nachtaufnahmen, die wie von innen
durchleuchtet wirken« (Lionel-Marie). Wie Simenon in der Literatur durchdringt
auch Brassa seine Umgebung mit allen Sinnen, saugt die Stadt förmlich in sich
auf und gibt die gewonnenen Eindrücke als Bilder wieder ab. »Um die Schönheit
der Straßen, der Gärten, des Regens und des Nebels zu erfassen, um die Nacht
von Paris zu erfassen, bin ich Fotograf geworden«, sagte er 1977. Sein Talent
erstreckt sich auch auf Künstlerporträts, etwa das von Pablo Picasso aus dem
Jahr 1939, auf dem der Maler neben einem großen, seltsam geformten Ofen sitzt.
Künstler haben Brassa auch in seinen Prosabüchern beschäftigt, namentlich in
»Gespräche mit Picasso«, »Henry Miller in Paris« und »Proust und die Liebe zur
Fotografie«, an die sich heranzutrauen ihn besondere Kraft gekostet hat. Denn
der gebürtige Ungar empfand den Verlust seiner Muttersprache, »die ich frei und
gänzlich ungezwungen sprach und schrieb« als schmerzlich, war sie ihm doch
»als einzige wirklich hochentwickelt, nuancenreich und unersetzlich«. Freilich,
Brassas Bücher, Briefe und Aufzeichnungen zu lesen, bereitet ein dem
Betrachten seiner Bilder beinahe ebenbürtiges Vergnügen. 1956, während in
Ungarn der Aufstand niedergeschlagen wird, zeigt das Museum of Modern Art
in New York Brassas Bilder von Graffiti an Pariser Hausmauern, zu denen
Picasso ihn inspirierte und die eine Affinität zu den Gemälden des Abstrakten
Expressionismus aufweisen. Gerade diese Fotos enthüllen Brassas ästhetisches
Ethos, »sich zu verlieren, um sich näher an die Wirklichkeit zu heften und
Ähnlichkeit in einer Art von Absolutheit zu erreichen«, wie er 1950 schrieb. Im
Gegensatz zu den Surrealisten, denen er persönlich nahestand, suchte Brassa
»die Surrealität in der Realität selbst«, wie er beim Tode Man Rays schrieb.
Seine Skulpturen – um ein weiteres Beispiel von Brassas breitem Schaffen
anzubringen – entstanden aus Kieseln, die er am Meeresstrand auflas. Brassa
nahm diese vom Hin und Her der Wellen geformten Steine als Ausgangspunkt
und versuchte herauszufinden, welche Form ihnen innewohnte, welche Gestalt
sie preisgaben. »Nie hat man das Gefühl«, schrieb er, »zu erfinden oder zu
erschaffen, vielmehr, etwas freizulegen …« Und: »Die Gegenstände haben mich
nach und nach zu sich hinaufgehoben.« So war es auch bei seinen Fotos: Kein
narzisstisches Künstler-Ich stellt sich zwischen Sujet und Betrachter. Lediglich
»durch einen bestimmten Ton, ein Licht« ist der Fotograf präsent. Hinter die
Dinge zurückzutreten und nichts dahinter zu vermuten, darauf zielte Brassas
Arbeit ab.
So sehr er mit Brassa das Interesse an der modernen Stadt und deren
fotografischer Fixierung teilt, so sehr setzt das Werk von László Moholy-Nagy
geradezu gegenläufige Akzente. Während es Brassa um das Wahrgenommene
geht, die Motive im Vordergrund stehen, interessiert Moholy die Wahrnehmung
selbst und deren Erweiterung durch das fotografische Auge. Beiden Künstlern
stand ein breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung, doch
Moholys universale Begabung darf als einzigartig gelten. Es ist nicht
übertrieben, László Moholy-Nagy den größten ungarischen Künstler des
20. Jahrhunderts zu nennen. Geboren 1895 in Bácsborsód, war dieser
Kosmopolit nicht nur Fotograf, sondern ebenso Filmemacher, Maler, Bildhauer,
Typograf, Werbegestalter, Bühnenbildner, Kunstpädagoge und
Ausstellungsdesigner. Nach Studien in Szeged und Budapest sowie Kontakten
zu Kassáks Künstlergruppe »MA« geht Moholy 1920 nach Berlin, wo er binnen
kurzer Zeit einen zentralen Platz innerhalb der Avantgarden einnimmt. Er greift
auf, was in der dynamischen Metropole zirkuliert: den Dadaismus, den
russischen Konstruktivismus, vor allem aber die neuen Medien Fotografie und
Film. Ausgestattet mit einem Optimismus, der vom Klageton so vieler seiner
Landsleute weit entfernt war, ist Moholy die moderne Großstadt Lebenselixier
und Muse.
Trotz seines erstaunlich melancholiefreien Temperaments, bleibt er vielen
Ungarn verbunden, beispielsweise indem er einem Kollegen wie György Kepes
Arbeit als Assistent verschafft. Im Frühjahr 1923 beruft Walter Gropius ihn als
jüngsten Professor ans Staatliche Bauhaus zu Weimar. Nach dem Umzug des
jüngsten Professor ans Staatliche Bauhaus zu Weimar. Nach dem Umzug des
Bauhauses nach Dessau, teilt sich Moholy zusammen mit seiner Frau Lucia
(deren Porträtfoto von Walter Gropius aus dem Jahr 1927 berühmt ist) ein
Meisterhaus mit Lyonel Feininger. Während sich Gropius über Feiningers roten
und kobaltblauen Anstrich mokierte, stimmte Moholys nüchternes Interieur am
ehesten mit Gropius’ Ideen überein.
In dem 1930 erschienenen Buch »Bauhausbauten Dessau« stammen daher fast
ausnahmslos alle Bilder aus Moholys Doppelhaushälfte, wobei Gropius selbst
dort noch das eine oder andere Detail, das ihm nicht passte, wegretuschieren
ließ. Moholy bestimmte damals zusammen mit Gropius so sehr die Richtung des
Bauhauses, dass ihn Oskar Schlemmer spöttisch Gropius’ »Ministerpräsidenten«
nannte. Es war dieser agile Ungar, der in der Nachfolge Johannes Ittens ein
halbes Jahrzehnt lang den Vorkurs leitete, ferner die Metallwerkstatt. Für den
Kreis der Freunde des Bauhauses entwarf Moholy die Typografie ihres
Briefpapiers, für die Bühne ein sogenanntes »Lichtrequisit«, den »Licht-Raum-
Modulator«. Das Licht war es auch, das ihn an der Fotografie interessierte.
»Dieses Jahrhundert gehört dem Licht. Die Fotografie ist die erste Form der
Lichtgestaltung«, schrieb er 1927 und erhoffte sich von dem neuen Medium
»stärkste optische Erlebnisse, die dem Menschen zuteil werden können.«
Bis heute ziehen seine klar komponierten und zugleich rätselhaften
Fotogramme den Betrachter in ihren Bann. Diese Fotogramme, also »abstrakte
Hell-Dunkel-Kompositionen«, die er »ohne Kamera durch raffinierte
Direktbelichtung fotografischer Papiere erzeugte« (Andreas Haus), sind nur ein
Beispiel für eine Vielzahl fotografischer Techniken, durch die Moholy die Dinge
in reine Lichterscheinungen verwandelt. Negativabzüge, Röntgenbilder,
Luftaufnahmen und die optische Verzerrung von Gegenständen auf gekrümmten
Spiegelflächen gehören ebenfalls zum Spektrum seiner
Wahrnehmungsexperimente.
Seit 1934 macht Moholy, bis heute kaum bekannt, auch Farbfotos. Stets geht
es ihm um die maximale Ausnutzung der Ausdrucksmöglichkeiten, die das neue
Medium der Fotografie bietet. Das Licht, seine unendlichen Graustufen,
Nuancen und Intensitäten fasziniert ihn, die Lichtkunst der Fotografie eröffnet
seiner Ansicht nach neue Arten des Sehens und erweitert die menschliche
Wahrnehmung. Moholys 1925 zum ersten Mal erschienenes Bauhausbuch
»Malerei Fotografie Film« gilt Fotohistorikern als eine der Grundschriften der
modernen Fotografie. Hier formuliert er sein Programm: »Der fotografische
modernen Fotografie. Hier formuliert er sein Programm: »Der fotografische
Apparat kann unser optisches Instrument, das Auge, vervollkommnen bzw.
ergänzen.« Den technischen Bildmedien ihr kreatives Potenzial zu entlocken,
darin sah Moholy seine Aufgabe und zugleich ein sozialreformerisches
Potenzial. Wahrnehmungsübungen sollen dem Menschen in der industriell-
technischen Zivilisation helfen, sich den neuen großstädtischen
Lebensumständen mit ihrer Reizexplosion anzupassen. Bilder, die ihre Motive
erst einem zweiten, bewussteren Blick preisgeben, schulen ihre Betrachter in der
Auseinandersetzung mit der modernen Welt. Diesen Ideen, im Berlin der
Zwanzigerjahre zuerst entwickelt, bleibt Ungarns großer Moderner auch im
amerikanischen Exil treu, wo er das New Bauhaus und die School of Design
gründet. Im Jahr 1946 stirbt László Moholy-Nagy in Chicago.
Die Vereinigten Staaten nahmen nicht nur Moholy-Nagy, sondern auch
Martin (Márton) Munkácsi auf, den vierten der fünf großen ungarischen
Fotografen. Wenngleich auch Munkácsi seine Karriere in Budapest und Berlin
beginnt, ist er – anders als Kertész, Brassa und letztlich auch Moholy – ein Mann
der Neuen Welt. 1896 im heute rumänischen Kolozsvár (Klausenburg) geboren,
wuchs Munkácsi in Dicsőszentmárton auf, zog jedoch bereits im Alter von
sechzehn Jahren von zu Hause aus und ging nach Budapest, wo er sich bald als
Sportreporter für Blätter wie »Az Est« (Der Abend) einen Namen macht.
Autorennen werden seine Leidenschaft. 1923 fotografiert er aus der Straßenbahn
unbeabsichtigt einen Totschlag. Das Bild wird bei Gericht als Beweismaterial
anerkannt und Munkácsi über Nacht ein berühmter Mann. Als Michelangelo
Antonioni 1966 seinem berühmten Film »Blow-Up« einen ähnlichen Fall
zugrunde legt, beschimpft ihn Munkácsis Exfrau als Plagiator.
1927 verlässt der junge Star nach Auseinandersetzungen mit seinem Verleger
Budapest in Richtung Berlin. Er fotografiert für Ullsteins »Berliner Illustrirte
Zeitung«, für »Die Dame« und »Uhu«. Das Bild eines Mannes, der mit der
Kaffeetasse in der Hand eine Wand hochgeht, während neben ihm eine Frau im
Negligé auf dem Boden sitzt, fängt Lebensfreude und Lässigkeit der
ausgehenden Weimarer Republik beispielhaft ein. Im Rückblick erscheint dieses
Foto aus dem Jahr 1933 wie ein letzter Augenblick der Unbeschwertheit, bevor
alles zerstört wurde.
Ein Jahr später verlässt Munkácsi Europa und geht nach New York. 33 Jahre
alt, beginnt er eine beispiellose Karriere als Modefotograf. Niemand vor ihm
fotografierte Modelle, die sich auf natürliche Weise vor der Kamera bewegen.
Munkácsi nimmt den Mannequins das Steife und wird einer der erfolgreichsten
Fotografen seiner Zeit. Sein Haus auf Long Island dient F. Scott Fitzgerald als
Inspiration für seinen legendären Roman »Der Große Gatsby«. Unerhört
mondän, dynamisch und anekdotisch verläuft Munkácsis Leben. Auf seinen
Bildern sieht man die Dietrich zwischen ihren zahllosen Überseekoffern, die
Garbo, mit Ausnahme ihrer endlosen Beine hinter einem riesigen Sonnenschirm
verborgen, Fred Astaire beim Tanzen und – Erinnerung an ein untergegangenes
Deutschland – den Fotografen selbst hinter Fritz Langs privater Kupferbar,
Berlin Hohenzollerndamm 52, 1932.
Munkácsi reist um die halbe Welt, liebt den Motorsport und die Frauen.
Dreimal verheiratet und dreimal geschieden, stirbt der bestbezahlte Bildreporter
seiner Zeit ohne einen Cent in der Tasche nach wiederholten Herzinfarkten.
Berühmt wurde sein Manifest »Think While You Shoot«, erschienen 1935 in
»Harper’s Bazaar«, in dem der Fotograf ungewöhnliche Perspektiven, darunter
die Rückenlage, empfiehlt (»aber niemals ohne Grund«). »Mein Trick besteht
darin, keinen zu haben«, lautete Munkácsis Maxime. 1964 druckt »Harper’s«
einen Nachruf auf diesen Mann, der Ungarn 1927 und Europa 1934 verließ, um
den American Way of Life in Bilder zu fassen: »Munkácsis Kunst lag darin, wie
er das Leben wollte, und er wollte es glanzvoll.«
Der Unterschied zwischen dem Werk Munkácsis und den Fotos von Robert
Capa, als Endre Ernő Friedmann 1913 in Budapest geboren, könnte kaum größer
sein. Der Letzte unter den großen Fünf folgte einer ganz anderen Maxime:
»Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran.«
Interessierte Munkácsi die unbeschwerte Seite des Lebens, beschäftigte Capa die
gewaltsame. Liebte Munkácsi die Frauen, schlug Capa Ingrid Bergmanns
Hochzeitsbegehren aus. Wohnte Munkácsi luxuriös auf Long Island, besaß
Capa, wie sein Bruder Cornell (der ebenfalls Fotograf war) berichtet, kein
einziges Möbelstück und verbrachte sein Leben in Hotels.
Nach einer Verhaftung durch das rechte Horthy-Regime verlässt Capa Ungarn
im Jahr 1931 und kehrt erst 1948 für ein paar Tage zurück. Er fotografiert die
Ruinen des Bristol am Donaukorso, improvisierten Kaffeeausschank zwischen
den Kriegstrümmern, die Ankündigung eines Chaplin-Films in der Váci út,
Stehgeiger und stalinistische Aufmärsche. Capas Weg ist der ›klassische‹, den
Stehgeiger und stalinistische Aufmärsche. Capas Weg ist der ›klassische‹, den
wir aus den Viten der anderen Fotografen bereits kennen: von Budapest über
Berlin nach Paris und dann in die Vereinigten Staaten. Aber wo immer er sich
auch aufhält, Capa hat nur ein Thema: den Krieg, die Gewalt. Gewiss, er
porträtiert auch Künstler wie Picasso, Ernest Hemingway und John Steinbeck,
doch seine Stärke liegt woanders. Capas Bildsprache ist eindeutig: Bei ihm
sehen selbst ein Kirmeskarussell oder ein harmloses Feuerwerk wie
Kriegsdokumente aus. Ins Bildgedächtnis der Menschheit haben sich seine Fotos
von der Invasion der Amerikaner in der Normandie eingebrannt, vor allem aber
das Bild des fallenden Soldaten im Spanischen Bürgerkrieg (1936), das unsere
Vorstellung dieses Krieges nicht weniger prägt als Picassos »Guernica«. Capa ist
immer an vorderster Front dabei: Er dokumentiert die Befreiung von Paris und
landet wenige Wochen vor Kriegsende mit dem Fallschirm in Deutschland. 1947
gründet er gemeinsam mit Henri Cartier-Bresson »Magnum«, die wohl
berühmteste Bildagentur aller Zeiten. Robert Capa wird 1954 bei einer
Reportage für die Zeitschrift »Life« im Indochinakrieg von einer Landmine
getötet.
Warum nur brachte Ungarn so viele Fotografen von Weltrang hervor, die dann
rund um den Globus aktiv waren? Und ich habe noch nicht den Bildreporter
Lucien (László) Aigner erwähnt, 1901 in Érsekujvár geboren, der für die »New
York Times« arbeitete. Oder Paul (Pál) Almasy, dem die UNESCO in den
Fünfzigerjahren eine Art Weltvisum ausstellte, das es ihm ermöglichte, vierzig
Jahre lang unbehelligt den Erdball zu bereisen. »Sauf la Mongolie«, bis auf die
Mongolei, hieß Almasys große Pariser Retrospektive, gehörte doch die
Mongolei nicht zu jenen 108 Ländern, in denen dieser 1906 in Budapest
geborene Wahlfranzose seine 1500 Reportagen anfertigte. Seiner Herkunft blieb
der Mann mit dem schmalen Oberlippenbart, der schon 1965 im
Süßwassermangel eines der größten Zukunftsprobleme erkannte, nicht zuletzt als
Chronist des emigrierten k. u. k. Thronfolgers Otto von Habsburg und seiner
Mutter Zita verbunden.
Kurzum, die Liste ausgewanderter ungarischer Weltklassefotografen ist
immens lang. Warum also hat Ungarn in diesem Bereich so viel zu bieten? Die
naheliegendste Antwort lautet: Weil Bilder – im Gegensatz zur schwierigen,
außerhalb des Landes kaum beherrschten ungarischen Sprache – keiner
Übersetzung bedürfen. Klingt charmant, doch Experten winken ab. Einer, der
diese Überlegung bezweifelt, ist Attila Pőcze. Der ruhige, mit unbeirrbarem
Qualitätsanspruch arbeitende Mann, leistete Pionierarbeit, als er 1996 die
Galerie Vintage (benannt nach jenen begehrten Abzügen, die in den ersten fünf
Jahren nach der Aufnahme vom Künstler selbst angefertigt wurden) in der
Budapester Magyar utca eröffnete. Seine Ausstellungen und Kataloge
verschafften Attila rasch einen erstklassigen Ruf, weshalb von Berlin über Paris
bis in die Vereinigten Staaten die renommiertesten Partner mit ihm
zusammenarbeiten. Viele Stunden durfte ich ihn ausfragen, seine Bibliothek
benutzen und manchmal sogar staunende Blicke auf rare Portfolios werfen.
Attila teilt, wie gesagt, die These von der verstärkten Visualität der Magyaren
nicht. Die Gebildeten hätten um die Jahrhundertwende ohnehin Fremdsprachen
gesprochen, vor allem Deutsch. Während ich auf dem knarrenden Parkett seiner
Einraumgalerie auf und ab gehe, schlägt er verblüffend handfeste
Alternativargumente vor: Fotoapparate gehörten um die Jahrhundertwende zu
den beliebtesten Geschenken, die aufstrebende Bürger ihren Söhnen machten.
Und da es damals nicht weniger als 21 Tageszeitungen sowie unzählige Wochen-
und Monatsschriften in Pest gab, waren schlicht und einfach genügend
Abnehmer vorhanden, die jungen Talenten schnelle Karrieren ermöglichten. Vor
allem aber müsse man wissen, dass die überwältigende Mehrheit der großen
ungarischen Fotografen dem assimilierten Judentum entstammt, das mit der
neuen Ausdrucksform ein offenes Feld vorfand, auf dem es seine Begabung
ungehindert zeigen konnte, während in anderen gesellschaftlichen Bereichen und
seit 1920 auch an der Universität Diskriminierung und Antisemitismus den
Aufstieg erschwerten oder verhinderten.
Ich blicke durch die hohen Glasfenster der Galerie auf den Károly kert,
Budapests bezauberndsten Park, der gleich gegenüber der Vintage Galéria liegt,
und erinnere mich an eine Kertész-Vernissage, die hier vor einiger Zeit stattfand.
Es war bereits dunkel, im Park sangen die Amseln, und auf dem regennassen
Kopfsteinpflaster vor der Galerie spiegelte sich das warme Licht des
Ausstellungsraumes. In diesem Augenblick fällt mir noch eine weitere
Hypothese ein, die ich Attila sogleich vorstelle. Er hört aufmerksam zu, nicht
ohne Wohlwollen, doch ob ich ihn überzeugt habe, ist schwer auszumachen.
Vielleicht, spekuliere ich, ist die Fotografie das ungarischste aller Medien, weil
sie das melancholischste aller Medien ist. Im Sommer 1937 arbeitete kein
geringerer als der französische Semiologe Roland Barthes als Lektor im
geringerer als der französische Semiologe Roland Barthes als Lektor im
ungarischen Debrecen. Gut vierzig Jahre später, beim Verfassen seines Buches
»Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie«, erinnert sich Barthes an
die kleinen Ortschaften, die er damals durchreist hat. Keinen Fotografen erwähnt
er in seinem berühmten Buch so oft wie André Kertész. Die Fotografie,
behauptet Barthes, besitze »eine bestätigende Kraft«, weil das fotografische Bild
beglaubige, »dass das, was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist«, seien doch von
»einem realen Objekt, das einmal da war, Strahlen ausgegangen, die mich
erreichen«. Barthes, dem diese unorthodoxen Gedanken kamen, als er nach dem
Tod seiner Mutter alte Fotos sortierte, spricht sogar von einer »Wiederkehr der
Toten« im Bild.
Sollte den Ungarn die Fotografie deshalb so naheliegen, weil sie sich
besonders gut auf Verluste verstehen? Erwächst aus dem geschärften Sinn der
Ungarn für die Vergänglichkeit ein Drang, die Dinge fotografisch festzuhalten?
Verlorene Landschaften, versprengte Existenzen – wenigstens das Bild stellt
eine Kontinuität zu ihnen her. Es ist möglich, schreibt Barthes beim Betrachten
eines Fotos, »dass Ernest, der kleine Schüler, den Kertész 1931 photographiert
hat, heute noch lebt (doch wo? wie? welch ein Roman!)«.
An einem Frühlingstag zeigt mir Attila eine 1921 in Berlin erschienene
Mappe mit Aktfotos von József Pécsi. József Pécsi? Dieser Mann gehört zu
jenen ungarischen Fotografen der Zwischenkriegszeit, die den größten Teil ihres
Lebens in Ungarn verbrachten. Für alle, die sich an den Klassikern sattgesehen
haben sollten, präsentiere ich auf den folgenden Seiten – knapper zwar, als bei
den großen Fünf, doch nicht weniger begeistert – jene Fotografen, von denen der
Kunsthistoriker László Beke einmal behauptete, sie wären heute genauso
weltberühmt wie Kertész & Co, wenn sie ihr Land in Richtung Westen verlassen
hätten.
József Pécsi (1889 – 1956) war ein Studiofotograf, kein Avantgardist, aber ein
so außergewöhnlicher, dass sein Atelier zu einem kulturellen Zentrum
heranwuchs. Wie lebendig es in dem von Lajos Kozma eingerichteten und im
Zweiten Weltkrieg mitsamt Archiv verbrannten Atelier in Budapests Dorottya
utca zugegangen sein muss, wird durch den Umstand deutlich, dass Lajos
Kassák für Pécsis junge, moderne Frau ein Halstuch und eine Tasche mit
konstruktivistischen Motiven gestaltete, die man auf vielen von Pécsis Porträts
aus den Zwanzigerjahren bestaunen kann. Pécsi, der seine Fotografenlehre 1908
bis 1910 in München absolviert hatte, gründete 1913 den Ausbildungszweig
»Fotografie« an der Hochschule für Angewandte Künste in Budapest, musste
jedoch wegen seiner progressiven politischen Ansichten 1920 die Lehrtätigkeit
aufgeben. Bekannt für seine Toleranz, organisierte er 1917 eine Ausstellung mit
Fotos seiner Schülerinnen, darunter Éva Besnyő, deren sozialdokumentarische
Reportageserien bis heute beeindrucken. Pécsi selbst konzentrierte sich auf Akte,
Stillleben und Porträts, beispielsweise von Béla Bartók und Dezső Kosztolányi.
In den Fünfzigerjahren entstand auch ein Bild von Graham Greene sowie –
erzwungenermaßen – das offizielle Foto zum 60. Geburtstag des stalinistischen
Diktators Mátyás Rákosi.
Pécsis Stil kann als weich bezeichnet werden, als ›malerisch‹, oft mit einem
Stich ins Bromig-Brauntönige. Berühmt wurde dieser vielseitige Mann auch
durch zwei Bücher: »Kunst des Fotografen« von 1916 und »Foto und Publizität«
von 1930. Letzteres ist das weltweit erste Buch, das sich grundlegend mit der
Werbefotografie auseinandersetzt. Hier kombiniert Pécsi, progressiver als in
seinem sonst so klassischen Werk, seine Fotos mit dem von Bortnyik geprägten,
in Rot und Weiß gehaltenen, geometrischen Grafikstil. Motive wie der Schatten
eines Sodasiphons, der auf ein Exemplar der Zeitung »Az Est« fällt, Tungsram-
Glühbirnen, Meinl-Kaffee und Modiano-Zigaretten, aber auch Guerlains
Parfumklassiker »Mitsouko«, strahlen eine solche Modernität aus, dass man jede
Fortschrittsskepsis und jede spätmoderne Ernüchterung sofort vergessen möchte.
Eines seiner zahlreichen, oft humorvollen Selbstporträts zeigt Pécsi als
grüblerisch-verträumten Schachspieler. Seine ungewöhnliche Physis mit der
wulstigen Unterlippe, dem merkwürdig mittelalterlichen Haarschnitt und seinen
warmen, weichen Augen, hat viele Künstler zu Bildnissen dieses
außergewöhnlichen Fotografen inspiriert.
Ein Fotoreporter, dessen Werk neben den großen Namen mühelos bestehen
kann, ist Károly Escher (1890 – 1966). Seine Bilder, vor allem im Auftrag der
illustrierten Sonntagsbeilage des »Pesti Napló« (Budapester Tagebuch)
entstanden, ergeben tatsächlich eine Art Diarium der Stadt Budapest: bei Regen,
bei Schnee, nachts und in hartem Licht. Immer wieder fotografiert er den
Donaukorso aus gekippter Perspektive, die zahlreichen Stuhlreihen und
Spaziergänger mit ihren glänzenden Schuhen, Hüten und eleganten Pelzkragen.
Was gäbe man darum, wenn Budapest auch nur für ein paar Stunden noch
einmal so schön wäre! Berühmt wurde auch Eschers Foto jenes
literaturgeschichtlichen Augenblicks, in dem Thomas Mann vom unglücklichen
Attila József ein Gedicht überreicht bekommt.
Von ähnlicher Güte wie das Werk Eschers ist das von Imre Kinszki, der 1945
im KZ Sachsenhausen umkam und einen ausgeprägten Blick für die Textur von
Gegenständen und das Lebensgefühl seiner Zeit hatte. Auch die meisterlichen
Porträtfotos von Dénes Rónai (1875 – 1964) warten auf ihre Wiederentdeckung.
In Ungarn bekannter sind Rudolf Balogh (1879 – 1944) und Ernő Vadas
(1899 – 1962), die den sogenannten »ungarischen Stil« entwickelten. Diesem
Volkstum und Dorfleben verkultenden ›Puszta-Piktorialismus‹ stehen
progressive Fotografinnen wie Kata Kálmán (1909 – 1978), Kata Sugár
(1910 – 1943) und Klára Langer (1912 – 1972) gegenüber, die sich sozialen
Themen zuwandten und an einer kritischen Bildsprache arbeiteten. Überhaupt
ließe sich die Liste weiblicher Fotografinnen mühelos erweitern, beispielsweise
um Dóra Maurer, deren vielseitiges, konzeptkünstlerisches Werk nicht auf eine
Kunstgattung festgelegt werden kann, um Lenke Szilágyi, deren Schwarz-Weiß-
Postkarten aus den Achtzigerjahren genauso wie ihre Farbdokumentation der
Partynächte in den Budapester Thermalbädern von unverwüstlicher Lebenslust
zeugen, oder um Gabriella Csoszó, eine bemerkenswerte Fotografin der jüngeren
Generation. Vieles muss hier zu kurz kommen, besonders die Konzept-
Fotografie, obwohl in diesem Bereich seit den Siebzigerjahren erstaunliche
Arbeiten entstanden: György Lörinczys an Oberflächenstrukturen interessierte
Stillleben beispielsweise, oder János Vetős Experimentalfotos, Zeugnisse einer
intensiven Künstlerexistenz hinter dem Eisernen Vorhang und bis heute
herausfordernd lebendig.
Warum kennt kaum jemand diese Namen? Die Antwort liegt zu einem
erheblichen Teil in der Art und Weise, wie Ungarn mit seinem fotografischen
Erbe umgeht. Gewiss, es gibt private Initiativen wie die Vintage Galéria, es gibt
das kleine Museum in Szigetbecse und das Mai Manó Ház in Budapest. Bei
Letzterem handelt es sich um einen Ausstellungsort mit Bibliothek in der
Nagymező utca, dessen charmantes Gebäude 1894 von dem Fotografen Mai
Manó in Auftrag gegeben worden war. Im Mai-Manó-Haus sitzt auch der
ungarische Fotografenverband, dort werden Preise und Stipendien an junge
Fotografen vergeben. Das Problem aber ist das Mutterhaus und eigentliche
Zentrum der fotografischen Traditionspflege in Ungarn. Denn das Magyar
Zentrum der fotografischen Traditionspflege in Ungarn. Denn das Magyar
Fotográfiai Múzeum in Kecskemét gehört zum Traurigsten, was ich in diesem
Land erlebt habe.
Ich möchte Ihnen Ungarn ans Herz legen, aber gerade deshalb muss ich Sie an
dieser Stelle vor einer großen Enttäuschung warnen. Ob eine Fotonation, der nur
wenige Länder das Wasser reichen können, ihr nationales fotografisches Archiv
und Ausstellungshaus außerhalb der Hauptstadt einrichten sollte, sei
dahingestellt. Offen mag an dieser Stelle auch die Frage bleiben, ob eine
ehemalige orthodoxe Synagoge der richtige Ort ist, um ein Museum darin
unterzubringen. Der Ausstellungssaal dieses Hauses wird deshalb jedenfalls von
einer Empore umrahmt, von der unablässig Radiogeplärre aus den dort
untergebrachten Büros in den Saal dringt. Hinter den Stellwänden der
Wechselausstellungen und im Eingangsbereich befinden sich Vitrinen, die mit
alten Fotoapparaten und diversem Nippes vollgestopft sind. Das Archiv geht
übergangslos in die Besuchertoilette über, wo man zwischen Gerümpel,
Blitzpulver und Bromkali seine Notdurft verrichten darf. So weit der äußere
Eindruck. Blättert man in den – selten mehrsprachigen – Katalogen des Hauses,
fällt rasch der, vorsichtig ausgedrückt, skurrile Stil des langjährigen Direktors
auf. Ich habe eine ganze Reihe renommierter Fotohistoriker und Museumsleute
über diesen Texten die Köpfe schütteln sehen. Dort finden sich statt plausibler
Überlegungen reihenweise Bildlegenden wie etwa diese: »Ein Teller, eine Gabel
und ein brillanter Fotograf, das ist nicht wenig.« Anlässlich eines Photogramms
von Moholy meint der Verfasser mitteilen zu müssen, dass er zu Lebzeiten des
Künstlers noch nicht geboren war, ihn aber »unter Tausenden« auf der Straße
wiedererkennen würde. Wer, fragt man sich, will das wissen? Man mag solche
Sätze als Skurrilitäten eines Sonderlings abtun, doch leider handelt es sich dabei
um den Stil, mit dem in Ungarn anderthalb Jahrzehnte lang ein Erbe von
weltweiter Bedeutung gepflegt wurde. Allen Ernstes stellte das ungarische
Fotomuseum noch im Jahr 2004 in Aussicht, eine »nationale Hierarchie« zur
Bewertung des vorhandenen Bildmaterials entwickeln zu wollen, anstatt sich den
weltweiten Gepflogenheiten kunsthistorisch fundierter Museumsarbeit
anzuschließen. Was die vertriebenen jüdischen Fotografen von dieser Art der
Renationalisierung gehalten hätten, sei dahingestellt. In jedem Fall könnte der
Kontrast zwischen der Weltgeltung der 1,3 Millionen Fotos umfassenden
Sammlung (darunter 900 000 Vintageprints) und der Jämmerlichkeit ihrer
Präsentation kaum größer sein. Niemand hat etwas gegen ein bescheidenes, gut
geführtes Museum einzuwenden. Aber hier wurde einer der größten Schätze
dieses Landes weit unter Wert behandelt. Die Wahrheit ist, dass Ungarns
fotografisches Erbe im Ausland erheblich besser gepflegt wurde als im Land
selbst. Während die National Gallery of Art in Washington und das Centre
Pompidou in Paris in den vergangenen Jahren ein vorbildliches Niveau in der
Erschließung ungarischer Fotografie erreichten, während der Martin-Gropius-
Bau in Berlin beinahe jedes Jahr mit großen, gut besuchten Retrospektiven an
Ungarns Meister erinnert, musste man im Land selbst geradezu von einer
zweiten Exilierung sprechen, zumal die großen – paradoxerweise sogar von
ungarischen Partnern unterstützten – ausländischen Ausstellungen selten in
Ungarn Station machten.
Einstweilen müssen sich Besucher in den Nischen umschauen und auf einen
Generationswechsel hoffen, wie er in anderen Bereichen des Kunstbetriebs
bereits stattgefunden hat. Was schon jetzt lohnt, ist ein Blick auf die
zeitgenössische fotografische Produktion. Gerade im Bereich der
Reportagefotografie gibt es in Ungarn einiges zu entdecken. Beispielsweise Imre
Benkő, Jahrgang 1943. Der Pulitzer-Preisträger fertigt seine Dokumentarserien
über viele Jahre hinweg an und hielt unter anderem den Niedergang der
Stahlproduktion in Ózd oder die Anfänge des Sziget-Festivals in Budapest im
Bild fest. Viele Pressefotografen wandten sich in jüngerer Zeit der Budapester
Josefstadt und dem Elend der dort lebenden Roma-Bevölkerung zu. Damit
knüpfen nach dem Krieg geborene Reporter wie György Stalter, Zoltán Molnár
und Tamás Dezső an den legendären Bildjournalisten Paul Almasy an, der mit
seiner 1949 erschienenen Reportage »Zigeuner darf kein Schimpfwort sein«
seiner Zeit weit voraus war. Unter den Jüngeren muss besonders der
exzeptionelle, bereits vielfach ausgezeichnete Tamás Dezső, Jahrgang 1978,
hervorgehoben werden, meiner Meinung nach der beste junge Bildreporter
Ungarns. Sein auf einer hervorragenden Website (www.tamas-dezso.com)
zugängliches Portfolio umfasst bedrückende Fotos eines wirtschaftlich
abgehängten Dorfes sowie – im Kontrast dazu – eine beklemmende
Dokumentation der Gruppenmoral neureicher Geschäftsleute. Wenig, was sich
über das heutige Ungarn recherchieren lässt, ist so unheimlich wie diese Bilder.
Gábor Arion Kudász, der demselben Jahrgang wie Dezső angehört, fertigt
kalte und unwirklich anmutende Farbaufnahmen von Un-Orten bei Nacht an:
kalte und unwirklich anmutende Farbaufnahmen von Un-Orten bei Nacht an:
Kraftwerke, Autostraßen und Shoppingmalls, hart und hell beleuchtete
Unterführungen, Baustellen in schlammigem Scheinwerferlicht. Sorgsam
komponiert und ausgeleuchtet, legen diese sämtlich in Ungarn angefertigten
Bilder das Globale im Lokalen frei und lassen den Betrachter beim Lesen der
Bildunterschrift mit Erschrecken erkennen, wie sehr die eigene Nachbarschaft
mittlerweile einem weltweiten Allerlei ähnelt. Ist das, was ich auf diesem Foto
sehe, tatsächlich die Unterführung am Móricz Zsigmond körtér, durch die ich
jeden Morgen zur Bushaltestelle gehe?

»Alles führt zurück nach Szigetbecse.« In einer Zeit globalisierter Motive und
digital bearbeiteter Bilder erscheint dieses Bekenntnis von Altmeister André
Kertész wie aus einer unendlich entfernten Zeit. Doch Kertész blieb bis ins hohe
Alter neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen. Sein Spätwerk besteht
aus »Polaroid«-Sofortbildern. Im Jahr 1977 starb Kertész’ Frau Erzsébet
Salamon, die er seit 1919 kannte und mit der er vierzig Jahre lang verheiratet
war. Vereinsamt im zwölften Stock seines Apartments in der Fifth Avenue in
Manhattan, blickt der über achtzigjährige Fotograf auf den Washington Square
und entdeckt die gerade auf den Markt kommenden Polaroids als
Ausdrucksmittel. Er arrangiert Glasobjekte vor seiner Fensterscheibe, vereint sie
zärtlich im Licht der Spätnachmittage. Motive seines fotografischen Schaffens
werden in eigentümlich poetischer Farbgebung variiert: die Stadt von oben,
verzerrte Spiegelungen. Bald witzig (eine Eiffelturmminiatur wird zum
Anfangsbuchstaben seines Vornamens), bald ans Surrealistische grenzend, findet
der alte Mann zu seinem Spätstil. 1981 erscheint das Buch »From my Window«.
1984 reist Kertész ein letztes Mal nach Ungarn. Besonders geliebte Möbel und
Objekte, die er in seinem New Yorker Apartment arrangierte und fotografierte,
stehen heute in Szigetbecse, in ein und demselben Raum mit den frühen
ungarischen Fotos. Es lohnt sich, beim Bürgermeisteramt um den Schlüssel zu
dieser hellen Kammer zu bitten.
Alte Kinos, neue Welt.
Wie ein paar Ungarn Hollywood erfanden

Wer je in diese Augen sah, wird sie nicht vergessen. Reptilienhaft huschen sie
hin und her, quellen auf, sind von Lust und Erlösung überwältigt, angstgeweitet
und flehend im nächsten Moment. Die Verteidigungsrede des Kindsmörders in
Fritz Langs erstem Tonfilm »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« aus dem Jahr
1931 gehört zu den großen Szenen des Kinos. »Kann ich denn anders? Hab ich
denn nicht dieses Verfluchte in mir? Das Feuer? Die Stimme? Die Qual …?«
Ton, Gestik, Mimik – alles fesselt bei dieser Meisterleistung des
ungarischstämmigen Schauspielers László Löwenstein, der Welt besser bekannt
als Peter Lorre. Geboren 1904 in Rózsahegy, erlebte Lorre seine ersten Erfolge
auf Theaterbühnen, unter anderem als Brecht-Schauspieler in Berlin. Mit den
bitteren Worten »Für zwei Mörder wie Hitler und mich ist in Deutschland kein
Platz«, ging er 1933 ins Exil, wo Hollywood ihn zumeist im Film Noir einsetzte.
Zu Lorres Rollen zählte aber auch die des Ugarte, dessen Transitvisa Ilsa und
Victor László in »Casablanca« (1942) die Flucht ermöglichen. Der ungarische
Name Victor László, eigenartigerweise einem Tschechen zugeschrieben, ist
neben Lorres Auftritt das zweite Indiz dafür, dass dieser Hollywoodklassiker ein
Werk mitteleuropäischer Emigranten war. Und wer führte Regie? Natürlich ein
Ungar, nämlich Michael Curtiz, 1888 als Mihály Kertész in Budapest geboren.
Am Set von »Casablanca«, heißt es, wurde Gulasch gegessen, zubereitet von der
Frau eines ungarischen Schauspielers. Mihály Kertész’ Karriere begann bereits
1912, als Regisseur von »Ma és holnap« (Heute und morgen), des ersten
ungarischen Spielfilms aller Zeiten. Und auch bei einem der ersten Agitprop-
Filme der Welt, nämlich bei »Jön az öcsém« (Mein Bruder kommt) aus dem Jahr
1919, führte Kertész Regie. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen
Räterepublik verließ er Ungarn und wanderte schließlich im Jahr 1926 in die
Staaten aus. Legendär wurden seine »Curtizisms«, geflügelte Worte, die dem
lausigen Englisch des Regisseurs geschuldet waren. Der bekannteste: Als
unberittene Pferde aufs Set gebracht werden sollten, rief Curtiz mit der ihm
eigenen Durchsetzungskraft: »Bring on the empty horses!«
Zu denen, die nach dem Ende der Räterepublik emigrierten, gehörte auch
Sándor Kellner, geboren 1893 in Pusztatúrpásztó. Als Sir Alexander Korda
produzierte er später Filme wie »Das Dschungelbuch« und »Der Dritte Mann«.
Korda, Kertész, Löwenstein – sie alle hatten im Kaffeehaus New York ihr
zweites Zuhause, wie auch Arisztid Olt, der sich nach seiner Geburtsstadt Lugos
nannte und als Béla Lugosi zu einem der größten Stars in der Geschichte des
Horrorfilms wurde. Seit seiner legendären Titelrolle in Tod Brownings
»Dracula« von 1931, besetzte man diesen Unglücklichen mit den ewiggleichen
Gruselrollen, bis er vor lauter Verzweiflung mit Ed Wood zusammenarbeitete,
der als schlechtester Regisseur aller Zeiten in die Filmgeschichte eingegangen
ist.
Am Tor des Paramount Filmstudios soll ein Schild mit der Aufschrift
gehangen haben: »Es reicht nicht, Ungar zu sein, Du musst auch Talent haben.«
Gegründet wurde die Paramount zweifellos von jemandem mit Talent – und ein
Ungar war er auch: Adolph Zukor, geboren 1873 in Ricse, 104 Jahre später in
Hollywood gestorben. Die Fox Film Corporation, Vorläufer der 20th Century
Fox, verdankt das Kino übrigens ebenfalls einem Ungarn: William Fox kam
1879 als Vilmos Fried in Tolcsva auf die Welt.
Wie schon bei Fotografie, moderner Kunst und Architektur, ist die Liste
unvermuteter Ungarn auch im Bereich des Films unendlich lang. Sie beginnt bei
den Genannten, geht über zu jemandem wie Gyula Trebitsch, dem Gründer des
legendären »Studio Hamburg«, der 1914 in Budapest geboren wurde und dort
den Beruf des »Königlich-Ungarischen-Filmvorführers« erlernt hat, und endet
bei Aktricen wie Zsa Zsa und Eva Gábor, die ebenfalls aus Budapest stammen.
Die Gábor-Schwestern gingen freilich weniger wegen ihrer filmkünstlerischen
Leistungen als wegen ihres skandalösen Lebens an der Seite reicher Männer in
die Geschichte ein: »Ich möchte einen lieben und verständnisvollen Mann. Ist
das zu viel verlangt von einem Millionär?«, soll Zsa Zsa gefragt haben, während
das zu viel verlangt von einem Millionär?«, soll Zsa Zsa gefragt haben, während
Eva unter ungarischen Ausgewanderten Sympathien gewann, weil sie sich in
einer zweitklassigen amerikanischen Fernsehkomödie mit ihrem
Lieblingshausschwein auf Ungarisch unterhielt.
Seit 1896 (dem Millenniums-Jahr!) werden in Budapest Filme vorgeführt.
Wie in Paris die Brüder Lumière und in Berlin die Brüder Skladanowsky, war es
auch in Budapest ein Bruderpaar, das an den Anfängen des Kinos stand. Arnold
und Zsigmond Sziklay kauften den Lumière-Brüdern einen Cinematografen ab
und nutzten die Eröffnung der großen Millenniumsausstellung, um Kaiser Franz
Josef bei einem Spaziergang im Stadtwäldchen abzufilmen. Ihr improvisierter
Kinosaal, der sogenannte Ikonográf in der damaligen Sugár und heutigen
Andrássy út 41, schloss jedoch kurz nach seiner Eröffnung am 22. Juni 1896
wieder. Der peinliche Grund: Den Sziklay-Brüdern war es nicht gelungen, den
Monarchen im richtigen Ausschnitt zu zeigen, und die Bilder des kopflosen
Kaisers empörten Kleinbürger und Adel.
Trotzdem war der Siegeszug des neuen Mediums auch in Ungarn nicht mehr
aufzuhalten. Kinos schossen in rascher Folge aus dem Boden: im luxuriösen
Royal-Hotel, in den Hinterzimmern der Kaffeehäuser, auf Jahrmärkten und in
Zelten wurden Filme vorgeführt. Im Jahr 1913 hatte Budapest bereits 114
feststehende Kinos, mehr als die meisten anderen europäischen Großstädte. Vor
allem lag die ungarische Kapitale mit einem Kino-pro-Kopf-Verhältnis von 7982
weit vor anderen europäischen Hauptstädten wie Berlin und London. Auch
kleine Orte in der Provinz verfügten über mindestens ein Lichtspieltheater.
Ungarns erstes ausschließlich Filmvorführzwecken dienendes Lokal befand
sich am Erzsébet körút 27 in Budapest: der Projektograph, 1906 von Mór
Ungerleider und József Neumann eröffnet. Diese beiden Kino-Pioniere wagten
es noch im selben Jahr, nicht weit vom hauptstädtischen Volkstheater ein
konkurrierendes »Lichtspieltheater« zu errichten, das Apolló.
Von Anfang an befand sich eine Vielzahl der wichtigsten Kinos auf der
großen Ringstraße. Kommen Sie mit auf einen Spaziergang? Schauen wir mal
nach, was davon überlebt hat … Ein guter Begleiter auf dieser Strecke wäre der
Schriftsteller Iván Mándy (1918 – 1995) gewesen. Er schrieb leidenschaftlich
über die alten Lichtspielhäuser, wie Franz Fühmann in seinem Ungarn-Tagebuch
bezeugt: »Gábor stellt mich Iván Mándy vor und sagt zu Mándy: ›Du, der
schreibt auch über alte Kinos‹, und Mándys große blaue Augen werden noch
größer und blauer, und Mándy sagt: ›Natürlich, worüber sollte man sonst denn
schreiben.‹« Für unseren imaginären Spaziergang holen wir den alten Herrn an
seinem Stammplatz im Café Muvész ab, gehen in Richtung Oktogon und fahren
erst einmal ein Stück mit der Straßenbahn, um am József körút beginnen zu
können. Dort befindet sich nämlich das leuchtend gelbe Corvin aus dem Jahr
1922. Heute ein gutes Multiplex, beherbergte das Corvin zu Stummfilmzeiten
ein Orchester mit nicht weniger als 32 Mitgliedern. Gedenktafeln erinnern daran,
dass sich 1956 bewaffnete Widerstandskämpfer – durch den Kinovorplatz
geschützt – im Corvin verschanzt und die sowjetischen Panzer auf der
Ringstraße angegriffen hatten.
Wir passieren das Örökmozgó Filmmúzeum am Erzsébet körút 39, eines der
wenigen verbliebenen kommunalen Kinos der Stadt Budapest. Am Teréz körút
30 befindet sich ein Meilenstein der Kinogeschichte Ungarns: das Muvész,
welches ursprünglich Mozgókép Otthon oder – nach dem Namen seiner Besitzer
– Décsi hieß. Gegründet 1910, war es Budapests erstes Premierenkino. Beim
Betreiberehepaar Décsi handelte es sich um leidenschaftliche Cineasten. Sie
führten nicht nur die Nachtvorstellung in Budapest ein, sondern auch ein System
nummerierter Sitzplätze: Stammgästen reservierten die Eheleute Décsi ihre
Lieblingsplätze. Heute ist das Muvész nicht nur Kino, sondern ein bunter
Treffpunkt mit Café, Buch-, CD- und DVD-Handel. Vorbei am sympathischen
KINO (Szent István körút 16), erreichen wir beinahe schon die
Margaretenbrücke. Bevor es jedoch auf die andere Seite geht, lohnen sich zwei
Abstecher nach Neuleopoldstadt: zum einen ins Odeon-Lloyd in der Hollán Ernő
utca, einem Programmkino mit exzellentem Filmverleih, das 1937 vom
Architektenduo Béla Hofstätter und Ferenc Domány als Teil eines modernen
Wohnblocks entworfen wurde, zum anderen ins Circó-gejzír, das erst 1994
entstand und mit Geschenken einer Reihe von Künstlern eingerichtet worden ist,
darunter Miklós Erdélys Klavier, auf dem Stummfilme begleitet werden.
Odeon-Lloyd und Circó-gejzír beweisen, dass sich auch außerhalb des Rings
schöne Kinos befinden. Zu nennen sind vor allem das Puskin in der Kossuth
Lajos utca, in dem 1929 Budapests erster Tonfilm auf die Leinwand kam, und
die ursprünglich der Volksbildung dienende Uránia in der Rákóczi út mit ihrer
ganz eigenen, ›maurischen‹ Architektur.
Zurück zum Ring. Auf der Buda-Seite begegnet uns gleich am Anfang des
Margit körút das Bem Kino, doch Herr Mándy schützt Müdigkeit vor und will
nicht mehr weitergehen. Was hat er denn? Während wir ihn zu seiner Wohnung
in der Aulich utca begleiten, erzählt der alte Mann nicht ohne Melancholie von
den vielen verschwundenen Filmtheatern, die den Weg in die Gegenwart nicht
gefunden haben. Allein auf dem Erzsébet körút fehlen drei: in der Nr. 8 das
Bástya von 1921, in der Nr. 13 das Horizont von 1938, ursprünglich ein
Nachrichtenkino, und in der Nummer 45 das Apolló, welches 1915 aus dem
Ballsaal des Millenniumhotels Royal entstanden war und – von 1949 bis 1989
unter dem Namen Vörös Csillag (Roter Stern) verstaatlicht – im Jahr 1997 für
immer schloss. Auf dem Teréz körút vermisst Mándy das UFA, Jahrgang 1926,
bei dessen Gebäude in der Nr. 62 sich erstmals eine Emanzipation der Kino- von
der Theaterarchitektur abzeichnete. Im Gegensatz zum Odeon-Lloyd haben auch
die meisten im modernen Stil gebauten Kinos nicht überlebt: das Broadway am
Károly körút beispielsweise, ebenfalls von Béla Hofstätter und Ferenc Domány
eingerichtet, als Kellerkino nach Wiener Art. Der eigentlich Grund aber, warum
Herr Mándy auf dem Margit körút nicht weitergehen mochte, war das Atrium in
der Nummer 55. Zu sehr hätte ihn der Anblick dieses heruntergekommenen
Meisterwerkes gequält. Jedem Cineasten muss der heutige Zustand des 1936 von
Lajos Kozma erbauten Gebäudes die Tränen in die Augen treiben. Man steht vor
zerborstenen Schaukästen, die einst die Programme in liebevoll gestalteten, an
Filmstreifen erinnernden Haltern ankündigten. Wer durch die verstaubten
Glastüren ins Foyer blickt, kann den für Kozma so typischen
Schachbrettmusterboden erkennen. Doch die Leinwand bleibt schon seit Jahren
leer. Welch ein Jammer, was für eine verpasste Chance!
Wiewohl ebenfalls geschlossen, hatte das Simplon in Budas Bartók Béla út
etwas mehr Glück. Teil eines Apartmentgebäudes aus dem Jahr 1934 und
Budapests erstes Kino im Bauhausstil, bleibt das Simplon durch ein von
Cineasten liebevoll eingerichtetes Café in Erinnerung, das sich am Standort des
ehemaligen Kinos befindet. Tatsächlich bestand in Ungarn von Anfang an eine
enge Verbindung zwischen Kaffeehaus- und Kinokultur. Nicht nur, weil Filme
zunächst in den Hinterzimmern vieler Lokale vorgeführt wurden, sondern vor
allem, weil die Debattenkultur der Kaffeehäuser das neue Medium sofort in sich
aufnahm. Bemerkenswert früh würdigten die Ungarn den Film als eigenständige
Kunstform und diskutierten über die spezifischen Möglichkeiten bewegter
Bilder. Es war der junge Alexander Korda, der noch als Teenager die wohl
weltweit erste regelmäßige Filmbesprechungskolumne in einer Tageszeitung
etablierte. Er gründete auch das Filmmagazin »Pesti Mozi« (Budapester Kino),
zu dem berühmte Schriftsteller wie Zsigmond Móricz und Frigyes Karinthy
beitrugen – nur eine unter vielen frühen Filmzeitschriften. Renommierte
literarische Journale wie »Nyugat« (Der Westen) berichteten über das Kino und
bekräftigten damit die Akzeptanz des neuen Mediums in den meinungsbildenden
Kreisen der Kaffeehausintellektuellen. Übrigens war es ein Schriftsteller,
nämlich Jenő Heltai, der 1908 das ungarische Wort für Kino, mozi, prägte.
Bereits 1913 erschienen in der »Frankfurter Zeitung« Georg Lukács’ berühmte
»Gedanken zu einer Ästhetik des Kino«, doch es war Lukács’ einstiger
Weggefährte Béla Balázs, der Ungarns wichtigsten Beitrag zur Filmtheorie und
zugleich eines der ersten großen filmtheoretischen Werke der Welt schreiben
würde. Balázs, geboren 1884 in Szeged, war Verfasser von Märchen und
Agitationsstücken, Librettist für Béla Bartók, Übersetzer, Drehbuchautor,
Regisseur, Filmkritiker und Theoretiker. 1919 nach Österreich emigriert und
1926 nach Berlin übergesiedelt, hatte Balázs bereits vor dem Ersten Weltkrieg
beim Kultursoziologen Georg Simmel im Privatseminar gesessen und wurde in
den späten Zwanzigerjahren Redakteur der »Weltbühne«. Von 1932 bis 1946
lebte er als Professor in Moskau; seine letzten drei Lebensjahre verbrachte
Balázs wieder in Ungarn. Die frühen Hauptwerke »Der sichtbare Mensch oder
die Kultur des Films« (1924) und »Der Geist des Films« (1930) entwickeln den
Gedanken, im Film den Ausdruck einer visuellen Kultur zu sehen. Die neuen
Möglichkeiten der Kamera zögen den Zuschauer durch Großaufnahmen und
Detailbilder, wechselnde Einstellungen und Abstände, auf eine nie gekannte Art
ins dargestellte Geschehen. Noch dem bisweilen qualvoll zu lesenden
marxistischen Spätwerk, das übrigens Alexander von Sacher-Masoch ins
Deutsche übertrug, merkt man den Zeitzeugen des frühen Films an, der das
Genre mit frischem Blick und ungebrochener Zuneigung untersucht. Berühmt
wurde Balázs’ Kontroverse mit Sergej M. Eisenstein, in der der russische
Regisseur seinem ungarischen Kollegen vorwarf, Schnitt und Montage zu
vernachlässigen: »Béla vergisst die Schere«, lautete Eisensteins legendäre Kritik
aus dem Jahr 1926. In der Gegenwart ist es vor allem die Theoretikerin Yvette
Bíró, die auch als Herausgeberin der Zeitschrift »Filmkultúra« den Faden der
frühen Debatten wieder aufgreift.
Und die Filme, sofern sie nicht in Hollywood entstanden? Was war auf den
Leinwänden der Ringkinos zu sehen? Das kinematografische Gedächtnis der
Ungarn kennt viele unvergessliche Bilder, beispielsweise die berühmte
Kettenkarussell-Szene aus Zoltán Fábris Film »Körhinta« (1956), gedreht mit
Handkamera und ein Meisterwerk des Filmschnitts. Sie symbolisiert die kurze
Freiheit nach Stalins Tod, wurde gepriesen von Truffaut, Bazin und vielen
anderen, fand Nachahmer bis in die Gegenwart. Oder, ein Jahrzehnt später, die
weiten, in hartes Licht getauchten Landschaften in Miklós Jancsós Film
»Szegénylegények« (Die Verhaftung). Winzig, verloren und vereinsamt wirken
die Menschen in diesen Umgebungen und lassen ein Lebensgefühl aufkommen,
das an die Nouvelle Vague in Frankreich erinnert. Jedes Jahrzehnt kennt seine
prägenden Bilder. Haben Sie sich zum Beispiel schon einmal darüber gewundert,
warum ein populäres ungarisches Wochenmagazin »Magyar Narancs«,
ungarische Orange, heißt? Die Antwort gibt Péter Bacsós köstliche Satire »A
tanú« (Der Zeuge), die 1979, zehn Jahre nach ihrer Entstehung, in die
Ringstraßen-Kinos kam. Der Film macht sich über die Versuche der
Kommunisten lustig, in Ungarn Orangen anzubauen. Als ein Vorzeigearbeiter
dem zuständigen Parteifunktionär statt der gewünschten Frucht feierlich eine
Zitrone überreicht, fragt der Funktionär mit säuerlicher Mine, worum es sich
denn dabei handele. Die Antwort des Arbeiters: »Die neue ungarische Orange.
Etwas gelb, etwas bitter, aber unsere.«
Als sollte die Nähe von literarischer und filmischer Kultur immer wieder
bewiesen werden, handelt es sich bei vielen Klassikern des ungarischen Kinos
um Verfilmungen, etwa bei Zoltán Fábris »A Pál utcai fiúk« (Die Jungs aus der
Paulstraße, 1968), nach einem populären Kinderbuch von Ferenc Molnár, bei
Zoltán Huszáriks durch Gyula Krúdy inspiriertem Film »Szindbád« (Sindbad,
1971) oder bei Károly Makks »Szerelem« (Liebe, 1971) nach Erzählungen von
Tibor Déry.
Der gegenwärtig international bekannteste Regisseur aus Ungarn ist natürlich
István Szabó, geboren 1938. Sein großes Thema, die politische Verstrickung von
Künstlern in totalitären Systemen, erzählt er am Beispiel ambivalenter Karrieren
wie derjenigen des Schauspielers Gustav Gründgens (»Mephisto«, 1981, mit
Klaus Maria Brandauer, für den Szabó einen »Oscar« gewann) oder des
Dirigenten Wilhelm Furtwängler (»Taking Sides«, 2002). Szabó, der seine
Dirigenten Wilhelm Furtwängler (»Taking Sides«, 2002). Szabó, der seine
Karriere im Aufstandsjahr 1956 begann, wurde vor einigen Jahren von seinem
Thema persönlich eingeholt, als ans Licht kam, dass der junge Regisseur an der
Budapester Filmakademie Kommilitonen und Lehrende bespitzelt hatte.
Niemand sei zu Schaden gekommen, hieß es in den Diskussion unisono, und
sogar Szabós einstige Opfer solidarisierten sich mit dem erfolgreichen
Filmschaffenden. Vergangenheitsbewältigung auf ungarische Art!
Was István Szabó für das Erzählkino, war Gábor Bódy (1946 – 1985) für den
Experimentalfilm: eine Leitfigur. Bódy führte in Ungarn die Videokunst ein und
gründete das internationale Videomagazin »Infermental«. In einer ersten
Annäherung ist sein umfangreiches, kaum erschlossenes Werk mit dem Wort
»abgefahren« durchaus zutreffend charakterisiert. Wie sonst soll ein Opus wie
»Narziss & Psyche« mit Udo Kier (1980) beschrieben werden, dessen Handlung
120 Jahre umfasst und von dem drei monumentale Fassungen bestehen?
Zugänglicher, doch nicht minder irritierend ist Bódys wortleere Konversation
mit Marcel Odenbach in Köln 1978, die den ›Dialog‹ zwischen Ost und West ad
absurdum führte.
Szabó und Bódy begannen ihre Laufbahn im Béla-Balázs-Studio, dem
einzigen weitgehend unabhängigen Filmstudio hinter dem Eisernen Vorhang.
Ursprünglich eine informelle Gruppe von Studenten, war diese ungewöhnlich
freie Produktionsstätte seit 1961 mit einem eigenen Budget und vielen
Spielräumen ausgestattet.
Noch heute werden die kontroversen Filme aus dem »BBS« im Toldi, einem
Programmkino in Budapest gezeigt und diskutiert. Zu den Filmkünstlern, die aus
dem »BBS« hervorgingen und eine ganz eigene Bildsprache fanden, gehören
auch Ildikó Enyedi und Béla Tarr, beide Jahrgang 1955. Enyedi erhielt 1989 für
ihren Schwarz-Weiß-Film »Az én XX. századom« (Mein zwanzigstes
Jahrhundert) die Goldene Palme in Cannes. Geprägt von Grautönen und in
ruhigem Rhythmus erzählt, berührt Enyedis Kino durch eine Poesie, die kein
Mainstream jemals ersetzen kann. Abseits konventioneller Seherwartungen
bewegt sich auch das Kino von Béla Tarr. Ununterbrochen regnet es in seinen
düsteren Streifen, deren Drehbücher zumeist der Schriftsteller László
Krasznahorkai verfasst. Die endlos langen, mit fotografischer Sorgfalt
komponierten Einstellungen, muten wie Bilder aus einer anderen Zeit an. Doch
so ungeduldig man in diesen Überlängestreifen (»Sátántangó« beispielsweise
dauert sieben Stunden) auch auf dem Kinositz hin- und herrutschen mag, ihre
visuelle Kraft entfaltet eine überraschende Spät- und Langzeitwirkung.
Seit den Sechzigerjahren entstehen in Ungarn internationale Koproduktionen,
übrigens schon lange vor der Wende in Kooperation mit dem »Klassenfeind«
USA. Gleichwohl brachte der Eintritt in den globalen Wettbewerb erhebliche
Veränderungen mit sich. Hollywood, einst das Werk ungarischer Emigranten,
kehrt als Blockbuster und Multiplex zurück. Der Druck auf den Produktionsort
Ungarn ist gewachsen, doch die heimische Filmindustrie schlägt sich – nach
meinem Dafürhalten – bemerkenswert gut. Dafür sorgt unter anderem ein kluges
Filmförderungsgesetz, das ausländischen Produktionen Steuervorteile gewährt,
wenn einheimische Partner in die Projekte einbezogen werden. Fachpersonal vor
Ort, das teilweise für weniger Geld arbeitet als im Westen, und eine
wandlungsfähige Location tragen ebenfalls zum Erfolg der ungarischen
Filmindustrie bei. Riesige Studios, darunter das Stern in Pomáz und das Korda in
Etyek, eröffneten Anfang des 21. Jahrhunderts. Zu den internationalen
Produktionen, die fast vollständig in Budapest gedreht wurden, gehört zum
Beispiel Steven Spielbergs »München«. Als ich den Film in einem Budapester
Kino sah, ging von Zeit zu Zeit ein Raunen durch die Sitzreihen, denn das
Publikum identifizierte Orte in Paris und Amsterdam als Margaretenbrücke,
Kamermayer tér und Andrássy út.
Welche Filme entstehen heute in Ungarn, wenn es nicht gerade internationale
Großproduktionen oder Pornostreifen sind, bei denen das Land angeblich eine
marktführende Stellung hat? Was den Deutschen ihr »Goodbye, Lenin«, sind
den Ungarn die nostalgischen Komödien von Róbert Koltai, die die ›goldenen‹
Zeiten des Gulaschkommunismus liebevoll verklären. Humorloser und deshalb
weniger harmlos geraten nationale Heldenepen wie Gábor Koltays
»Honfoglalás« (Landnahme, 1996) und »Hídember« (Brückenbauer, 2001). In
diese Kategorie gehört auch Krisztina Godas 56er-Schmachtfetzen »Szabadság,
Szerelem« (Freiheit, Liebe), dem die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« das
filmische Niveau kommunistischer Propaganda bescheinigte – nur eben mit
umgekehrten politischen Vorzeichen. Wie tief muss eine nationale Kränkung
sitzen, um fünfzig Jahre später solche Filme hervorzubringen? Aber vielleicht
geht es ja auch nur noch ums Geschäft.
Wiewohl … eine neue Generation künstlerischer Filmemacher wächst in
Ungarn heran, deren Werke Sehgewohnheiten herausfordern und die auf einem
europäischen, ja internationalen Niveau arbeiten. Regisseure wie Nimród Antal,
Benedek Fliegauf und György Pálfi schlagen aus ihrer Herkunft kreative
Funken, ohne dabei ins Provinzielle abzugleiten. Pálfi, Jahrgang 1974, gelang
mit seinem Debüt »Hukkle« (2002) das Kunststück, 78 spannende Filmminuten
ohne jeden Dialog auszufüllen. Nur ein Schluckauf leitet durch die dörflichen
Bilder. Antal wiederum fängt in seinem Film »Kontroll« (2003) die Budapester
Untergrundbahn so kraftvoll ein wie Carol Reed die Wiener Kanalisation in
»Der Dritte Mann«. Wen überrascht es angesichts solcher Talente, dass der 1970
in Veszprém geborene Animationsfilmer Géza M. Tóth im Jahr 2007 für den
»Oscar« nominiert wurde?
Ungarn ist überall.
Von vertriebenen Talenten und verrückten
Lebensläufen

Wo immer Sie sich gerade aufhalten, Ungarn ist schon da. In Ihrem Computer,
in der Sesamstraße und im italienischen Parlament. Ob englischer Patient oder
französischer Präsident – immer steckt ein Ungar dahinter. Das britische Pfund
fällt: Ungarn. Der Pulitzerpreis wird vergeben: Ungarn. Kein Volk der Welt
dürfte so viel Talent pro Kopf hervorgebracht und wieder verloren haben wie die
Magyaren. Zwölf Nobelpreisträger stammen – nach Zählung der Akademie der
Wissenschaften – aus Ungarn. Aber nur zwei davon verrichteten ihre
preisgekrönte Arbeit im Herkunftsland: Albert Szent-Györgyi, der 1937 das
Vitamin C isolierte (natürlich aus einer Paprika), und Imre Kertész,
Nobelpreisträger für Literatur im Jahr 2002.
Die Liste berühmter Ungarn ist unüberschaubar lang. Man könnte, scherzt
Paul Lendvai, beinahe das Telefonbuch einer Kleinstadt damit füllen. Aus den
vorherigen Kapiteln kennen Sie schon eine ganze Reihe dieser Berühmtheiten:
Béla Bartók, nur einer unter unzähligen Musikern; Marcel Breuer, dem wir den
Stahlrohrstuhl verdanken; die Fotografen László Moholy-Nagy, André Kertész
und Brassa; »Casablanca«-Regisseur Michael Curtiz … Wer einmal ein Gehör
für ungarische Namen entwickelt hat, wird immer neue Größen als Ungarn
identifizieren. Nehmen Sie nur die Welt der Musik mit Komponisten wie
György Ligeti, György Kurtág und Péter Eötvös oder Dirigenten wie Ernst
(Ernő) von Dohnányi und Sir Georg Solti, ungarisch György Stern. Zu den
berühmten Ungarn zählen aber auch Sportler wie die Fußballlegende Ferenc
Puskás und Physiker wie Ede Teller und John (János) von Neumann, Vater der
Puskás und Physiker wie Ede Teller und John (János) von Neumann, Vater der
Wasserstoffbombe der eine, Wegbereiter des Computers der andere. Oder die
Psy-
chologen Michael (Mihály) Bálint, der Entdecker des paradoxen Gefühls der
»Angstlust«, und Mihály Csíkszentmihályi, dessen Nachname abgeht, was er
entdeckte: den »Flow«, jenes Glücksgefühl ungehinderten Gelingens, nach dem
sich Marathonläufer so sehr sehnen wie Schriftsteller. Aus der Soziologie ist
Karl Mannheim zu nennen, der Pionier der Generationenforschung, aus der
Kunstgeschichte Arnold Hauser, dessen sozialhistorischer Ansatz großen
Einfluss erlangte.
Doch ich möchte Sie nicht mit endlosen Listen langweilen, die Anspielungen
in den ersten Sätzen dieses Kapitels aber gleichwohl auflösen. »Hungary
Inside«, könnte auf Ihrem Computer stehen, denn die Firma »Intel« wäre kaum
Weltmarktführer für Mikrochips geworden, hätte nicht András Gróf Ungarn als
Zwanzigjähriger in Richtung Amerika verlassen, um als Andy Grove zu einer
Managementlegende zu werden. Von Rechenoperationen verstand auch der
Mathematiker Paul (Pál) Erdős etwas, dessen Genie mit so sonderlichem
Gebaren einherging, dass er das Vorbild für Graf Zahl (Count Count) aus der
Sesamstraße abgab. Ganz andere Eigenschaften hat der Herrgott Ilona Staller
mitgegeben, die unter dem Namen »La Cicciolina« zunächst eine Karriere als
Porno-Sternchen machte, um dann ins italienische Parlament einzuziehen.
Erfolglos blieb ihr unkonventioneller Einsatz für den Frieden: Um den Golfkrieg
zu verhindern, bot sie Saddam Hussein Sex an. Auch Osama bin Laden hat ihren
Avancen bislang nicht nachgegeben.
Mindenki magyar, jeder ist Ungar, heißt es hier gerne. Für fiktive Gestalten
wie den »englischen Patienten« aus Michael Ondaatjes Buch und Anthony
Minghellas Film mag das noch angehen (der Patient war natürlich Ungar: László
Ede Almásy, Adeliger, Doppelagent und Wüstenforscher, gab das Vorbild für
diese Figur ab). Aber gilt das Bonmot auch für reale Personen?
Selbstverständlich. Dass der erste grüne Außenminister der Bundesrepublik
Deutschland, Joschka Fischer, Kind ungarndeutscher Einwanderer ist, wissen
Sie vielleicht. Aber ist Ihnen auch bekannt, dass in der Geburtsurkunde von
Frankreichs ehemaligem Staatsoberhaupt der Name »Nicolas Paul Stéphane
Sárközy de Nagy-Bocsa« steht? Klingt ungarisch, ist ungarisch. Sarkozy, der
rastlose Politiker, hat Verwandtschaft in Alattyán, einem Dorf achtzig Kilometer
östlich von Budapest. Vielleicht durfte Yasmina Reza ihn deshalb beim
Präsidentschaftswahlkampf begleiten. Die erfolgreichste Dramatikerin der
Gegenwart ist nämlich die Tochter einer ungarischen Geigerin. Und so geht es
weiter: mit Joseph (József) Pulitzer, dem Stifter des wichtigsten
Journalistenpreises – gebürtiger Ungar. Und Börsenlegenden wie André
Kostolany (»Wer viel Geld hat, kann spekulieren; wer wenig Geld hat, darf nicht
spekulieren; wer kein Geld hat, muss spekulieren.«) oder George (György)
Soros. Soros wurde bekannt als der Mann, der die Bank von England knackte,
weil eine seiner Finanzspekulationen das Britische Pfund in arge Bedrängnis
brachte und er dabei über Nacht knapp eine Milliarde Dollar verdiente. 1947
nach England und 1956 in die Vereinigten Staaten ausgewandert, gründete der
Schüler des Philosophen Karl Popper 1984 in Budapest die »Open Society
Foundation«, um den Demokratisierungsprozess in Mittel- und Osteuropa
voranzubringen. Sein Engagement umfasste – ähnlich dem Rockefellers in
Chicago – die Gründung einer ganzen Universität, nämlich der Central European
University (CEU), aber auch die Finanzierung der Medienkunstplattform c3 und
ein Oxford-Stipendium für den rechtspopulistischen Politiker Viktor Orbán, das
seine liberalisierende Wirkung leider verfehlte.
Mindenki magyar, man weiß es nur nicht, wenngleich die Ungarn gerne jeden,
der einmal einem Landsmann von Ferne zugewunken hat, zu einem der ihren
erklären. Albrecht Dürer zum Beispiel, den Nürnberger Kupferstecher. Dürers
Vater stammte aus einem ungarischen Dorf. Um zu klären, was an der
Vereinnahmung des jüngeren Dürer durch die Ungarn dran ist, reiste Egon
Erwin Kisch, der rasende Reporter, einmal ins Komitat Gyula. Denn dort lag der
Ort, aus dem Dürers Vater stammte: Ajtós, und »ajtó« bedeutet »Tür«, ergibt
Thürer, wie man damals schrieb, oder eben: Dürer.
Warum stammen so viele Berühmtheiten aus Ungarn? Und warum verlassen
sie so oft ihre Heimat? Auf die erste Frage lässt sich natürlich pragmatisch
antworten: Das Land war vor 1920 viel größer und hatte doppelt so viele
Einwohner. Doch diese Antwort ist unbefriedigend, weil eine Fülle von Talenten
erst später hervortrat. Überzeugender ist der Hinweis auf die erstklassigen
Schulen und das stimulierende kulturelle Klima seit dem späten 19. Jahrhundert.
Hinzu kommen die Spielräume, die die Emanzipation der Juden schuf,
wenngleich nicht alle ungarischen Geistesgrößen jüdischer Abstammung waren:
Bartók und Kodály in der Musik, Ady, József und Krúdy in der Literatur
beispielsweise nicht. Ein anderer Grund für die Blüte gerade von Kunst und
Literatur besteht in den Reibungen, Konflikten und Herausforderungen, denen
die Ungarn im Laufe ihrer Geschichte so oft ausgesetzt waren: Aus
Leidensdruck entstand immer wieder das Herausragende. Aber den tiefsten
Grund für die unvergleichliche Talentdichte dieses Landes erkannte Arthur
Koestler, ebenfalls Ungar, im Jahr 1937. Er vermutete, dass sich »die seltsame
Intensität« dieses Landes »und die Häufigkeit, mit der es wilde Genies
hervorbringt« aus der Einsamkeit Ungarns in Europa erkläre: »Die
hoffnungslose Einsamkeit dieser Nation züchtet ihre Begabung, ihren
Geltungsdrang und ihre Hysterie; Ungar zu sein ist eine Kollektivneurose.«
Unter den Auslandsungarn, fügte Ede Teller hinzu, habe stets eine besondere
Verpflichtung bestanden, besser zu sein als die anderen.
Wenn das Land so viel Produktivität hervortreibt, warum verlassen die Besten
dann auffällig oft ihre Heimat? Ganz einfach deswegen, weil es Ungarn seinen
Helden, zumal zu Lebzeiten, selten leicht gemacht hat. Der »größte aller
Ungarn«, wie ihn sein Erzgegner Lajos Kossuth nannte, nämlich der Reformer
Graf István Széchenyi, ist dafür ein trauriges Beispiel. Denn dieser Mann, der
neben vielem anderen den Bau der Budapester Kettenbrücke veranlasste und die
Gründung der Akademie der Wissenschaften aus eigener Tasche finanzierte,
erlitt im September 1848 einen Nervenzusammenbruch und verbrachte seine
letzten Jahre in einer Irrenanstalt in Döbling, bis er sich im Wahn das Leben
nahm. Attila József, einer von Ungarns bedeutendsten Dichtern, legte sich im
Alter von 33 Jahren »unter 47 Grad nördlicher Breite und 18 Grad östlicher
Länge«, wie Koestler auf die Mittelposition des Landes zwischen Westen und
Balkan anspielend bemerkte, vor einen Zug. »Der Dorftrottel von
Balatonszabadi, der Zeuge des Vorgangs war, hat als Erster die Nachricht in
freudiger Exaltation der Familie überbracht.« Andere pflegten ihren Witz im
Exil, beispielsweise der in Budapest geborene Satiriker Ephraim Kishon oder
Franz (Ferenc) Molnár, dessen Stücke, darunter »Liliom« (1909), in 28 Sprachen
aufgeführt wurden. Er lebte von 1940 bis zu seinem Tod 1952 vereinsamt in
Zimmer 835 des Plaza in Manhattan. Warum in Zimmer 835? Weil Molnár
zeitlebens dem Motto folgte: »Immer das billigste Zimmer im besten Hotel
nehmen!«
Jeder dritte Ungarnstämmige lebt heute im Ausland. Fünf große
Emigrationswellen hat das Land im 20. Jahrhundert erlitten: 1919, 1938 – 41,
1944 – 45, 1946 – 49, 1956. In hohem Maße sind es Auslandsungarn, die Paul
Lendvais berühmte These stützen, Ungarn sei gekennzeichnet durch den
»Widerspruch zwischen genialen individuellen Leistungen und dem
wiederholten kollektiven Scheitern der Nation«. Es zählt zu den großen
Paradoxien dieses Landes, dass eigensinnige Individuen – oft sogar nicht-
magyarischer, nämlich jüdischer, deutscher oder slawischer Herkunft – ganz
besonders zum Stolz der Nation beitragen. Erst vertrieben, dann gefeiert. Und
manchmal nicht einmal das: zahlreiche weltberühmte Persönlichkeiten werden
innerhalb ihres Landes kaum als Größen gewürdigt, außerhalb hingegen sind sie
selten als Ungarn bekannt.
Kaum überraschend, bringt diese verquere Lage die unglaublichsten
Lebensläufe hervor. Wenn Ihnen Ihr Leben manchmal banal und austauschbar
vorkommen sollte, Ungarn hält eine Fülle anregender Vorbilder bereit … Zum
Beispiel György Faludy, einen Dichter, der zuerst durch die Pfeilkreuzler-
Faschisten und ein zweites Mal durch die Stalinisten aus dem Land seiner
Muttersprache vertrieben wurde. Er sagte von sich: »In Paris war ich insgesamt
drei Jahre, in Marokko zwei Jahre, in Rom, Florenz und Wien drei Jahre, in
Berlin ein Jahr, in New York fünf Jahre, in San Francisco etwa ein halbes Jahr,
in Toronto zwanzig.« Dieser exaltierte Schriftsteller heiratete nach
homoerotischen Leidenschaften eine sechzig Jahre jüngere Frau und ließ noch
im Alter von über neunzig Jahren Aktfotos von sich und seiner Gattin
veröffentlichen. Vor einigen Jahren kehrte er nach Budapest zurück. Hier liegt er
begraben.
Oder Péter Halász. Gleich zwei Avantgardetheater verdanken sich seiner
Initiative: das 1969 in Budapest gegründete »Kassák Ház Studio« und das
»Squat Theatre« in New York, eine Truppe ungarischer Emigranten der
Siebzigerjahre. Für Halász, der viele Vorstellungen in Privatwohnungen gab,
waren Leben und Theater so wenig getrennt wie – Tod und Theater. An einem
kalten Wintertag im Februar 2006 gab der kahlköpfige, krebskranke
Schauspieler vor Freunden und Familie sein letztes Stück: Er stieg in einen
schweren schwarzen Holzsarg und inszenierte seinen bevorstehenden Tod.
Halász, der aus Tagesnachrichten ein ganzes Abendprogramm extemporieren
konnte, verkörperte eine Eigenwilligkeit, die noch im Gedenken die Frage
konnte, verkörperte eine Eigenwilligkeit, die noch im Gedenken die Frage
aufwirft, was wir aus unserem einzigen Leben eigentlich machen (möchten).
Ein vorletztes Beispiel: Baronesse Pannonica de Koeningswater, geboren
1913 in London, gestorben 1988 in New York. Die Mutter dieser unglaublichen
Person hieß Rozsika von Wertheimstein und war eine Ungarin. Sie bereiste mit
ihrem Mann, dem britischen Bankier und Entomologen Charles Rothschild, ihr
Heimatland. Rothschild entdeckte in Pannonien eine neue Schmetterlingsart und
nannte diese, genauso wie seine Tochter, »Pannonica«. In den Fünfzigerjahren
ließ sich Pannonica – nach einem aufregenden Leben an der Seite eines
französischen Diplomaten – in New York nieder. Dort bewahrte sie zahllose der
damals rassisch diskriminierten Jazzmusiker vor dem seelischen und finanziellen
Ruin. In ihrem Bentley-Cabrio, die Zigarettenspitze stets im Mund, fuhr sie von
Club zu Club. Ihre Suite beherbergte 220 Katzen und war der Sterbeort von
Charlie Parker; für Thelonius Monk kaufte sie einen »Steinway«-Flügel. Er
dankte es ihr mit dem Stück »Pannonica« – eine von knapp zwanzig
Kompositionen, die Jazzmusiker wie Horace Silver und Sonny Clark ihrer
»Nica« gewidmet haben. Als diese Stücke in den Sechzigern vom »Astoria Jazz
Quartet« in downtown Budapest gespielt wurden, konnte man sich angesichts
dieser musikalischen Rückkehr beinahe in der besten aller möglichen dzsessz-
Welten glauben.
Schließen möchte ich meine kleine Galerie ungarischer Ausgewanderter mit
George (György) Tabori. Der Theatermann, geboren am 24. Mai 1914 in
Budapest, volontierte in Berlin im Hotel Adlon, arbeitete als Übersetzer in
London, als Journalist in Sofia und Istanbul sowie als Nachrichtenoffizier in
Jerusalem und Kairo. Als er all dies hinter sich hatte, war er noch keine dreißig
Jahre alt. Das Leben, dessentwegen wir uns an Tabori erinnern, wird erst noch
beginnen. In den Kreisen europäischer Emigranten in Hollywood lernte er
Brecht kennen und verliebte sich ins Theater, doch schrieb der Ungar Tabori
auch das Drehbuch zu Alfred Hitchcocks »I Confess«. Seit 1950 in New York,
kehrte er 1968 nach Deutschland zurück und wühlte mit seinem Stück »Die
Kannibalen« das Publikum auf. Es ist seinem Vater gewidmet, der in Auschwitz
umkam, thematisiert Kannibalismus unter Lagerhäftlingen und mutet den
Zuschauern die Paradoxien von Taboris sehr jüdischem und sehr ungarischen
Witz zu. Fortan revolutionierte Tabori die Theaterarbeit: In den Siebzigerjahren
mit seinem »Theaterlabor« in Bremen, dann an den Münchner Kammerspielen,
am Wiener Burgtheater, am Berliner Ensemble. György Tabori lebte in siebzehn
Ländern. 1979 veröffentlichte er das Stück »Mutters Courage«, in dem seine
Mutter, Elsa Tabori, aus dem Zug nach Auschwitz gerettet, direkt zu einer
Budapester Bridgepartie fährt. Bei Tabori ist das ungarische Schicksal ein
jüdisches, das jüdische ein europäisches und das europäische ein
menschheitliches. »Wundersame Gratwanderungen zwischen Schmerz und
Scherz«, nannte die »Süddeutsche Zeitung« seine Arbeiten einmal.
Der Wahnsinn eines Jahrhunderts aus beispielloser Blüte und unfassbarer
Zerstörung bündelt sich in jener berühmten Szene, in der der Protagonist des
Stücks »Kannibalen« beim Eintritt in die Gaskammer »mit der Höflichkeit des
Herzens« sagt: »Bitte nach Ihnen, Herr Mandelbaum!«
Einzigartig.
Magyarország zum Mitnehmen

Der letzte Vormittag, kurz vor der Rückreise, schnell ein paar Souvenirs gekauft.
Da Ungarn, wie Sie aus dem vorigen Kapitel wissen, überall ist, waren Ihre
Taschen natürlich schon vor der Einreise voller ungarischer Erfindungen. Oder
haben Sie etwa keinen Kugelschreiber dabei? Den erfand nämlich ein Herr
namens László Biró, weshalb das Schreibgerät im Englischen auch »biro« heißt
und der bekannte Markenname BIC das Kürzel für »Biró Crayon« ist. Falls Sie
bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen Kosmetik von »Estée Lauder« aus
dem Handgepäck nehmen mussten, war Ungarn auch schon anwesend. Denn
Frau Lauder kam auf die lukrative Idee, Cremes zusammenzuspachteln, weil ihr
Onkel, ein Budapester Apotheker, sie dazu inspiriert hatte.
Doch wollte ich Ihnen ja eigentlich beim Souvenirkauf helfen. Wer kein
Risiko eingehen will, kauft Klassiker: Paprikapulver, Salami, Gänsestopfleber,
Tokajer. Sie wissen ja aus den vorangegangenen Kapiteln, wo die kleinen, aber
feinen Unterschiede liegen. Von konservierter Stopfleber ist übrigens abzuraten;
sie verliert gegenüber dem frischen Produkt zu viel Aroma. Als Reiseproviant
eignen sich die Kekse der Traditionsfirma Ziegler, deren schmackhafte Waffeln
in Ungarn so populär sind wie die »Manner«-Schnitten in Österreich. Falls es
Ihnen schwerfällt, sich von der ungarischen Tischkultur zu trennen, empfiehlt
sich der Erwerb von Porzellan, sei es »Zsolnay« oder »Herend«.
Unkonventioneller und weniger kostspielig ist hingegen der Kauf eines alten
Sodasiphons, dessen Coolness nur durch ein original Vorkriegsplakat oder gar
eine Vintage-Fotografie überboten werden kann.
Wenn Sie nun aber bereits hinter dem Abfertigungsschalter stehen und
überhaupt eher an etwas Kleines gedacht hatten, dann kann ich Ihnen ein
Produkt ans Herz legen, das – nach meinem Dafürhalten – über jeden Zweifel
erhaben ist: Unicum. »Aber Herr Doktor, das ist ja ein Unicum«, soll Kaiser
Joseph II. ausgerufen haben, als er den von seinem Leibarzt, Dr. Zwack,
kreierten Magenbitter zum ersten Mal zu sich nahm. 1790 entwickelt und nach
der Rückkehr der Familie Zwack aus dem Exil 1990 wieder in Budapest
produziert, enthält er über vierzig Kräuter und keine Zusätze, die ein
Wellnesstrinker aus dem 21. Jahrhundert ablehnen müsste. Niemand hat dieses
Gebräu so treffend charakterisiert wie ein britischer Kollege: Die dunkelgrüne
Flasche ähnele einer Anarchistenbombe und das Bouquet schwanke zwischen
»Kräutergarten und nuklearem Endlager«. Kult sind die von Sándor Bortnyik
gestalteten Werbeplakate, die heute wieder nachgedruckt werden. Bittersüß,
kräutrig-minzig und verlässlich wirksam, ist dieses Getränk konkurrenzlos in
seiner Kategorie. Wem es nicht schmeckt, was eigentlich unvorstellbar ist, kann
mit »Unicum next« zu einer leichteren, zitronigen Variante greifen.
Und pálinka, der ungarische Obstbrand? Ich weiß, es klingt nach Klischee,
aber der mit Abstand beste ist nach meiner Erfahrung der privat gebrannte. Trotz
der strengen Herstellungsvorschriften, trotz der vielen Auszeichnungen, die die
besseren Brände (wie etwa »Agárdi«) Jahr um Jahr erhalten, hat mich unter den
kommerziellen Schnäpsen keiner so überzeugen können wie – beispielsweise –
die Konkurrenz aus der Wachau. Wer trotzdem kosten möchte, greife zu
barackpálinka (Aprikosen- oder Marillenbrand; vorzugsweise aus Kecskemét)
oder szilvapálinka (Pflaumenbrand; am besten aus Szatmár). Der Glaube, die
koschere Variante sei der unkoscheren geschmacklich vorzuziehen, gehört
meines Erachtens ins Reich der Markenmythologie.
Früher fuhren Herren, die Wert auf erstklassiges Schuhwerk legten, eigens
nach Ungarn, um sich in die Hände meisterlicher Maßschuhmacher zu begeben.
Der »Budapester« genannte Schuh, ein Full-Brogue Derby mit hoher
Vorderkappe, ist zum Sinnbild ungarischer Handwerkskunst geworden. Heute
gibt es nur noch einen alteingesessenen Vertreter dieser Tradition, nämlich
László Vass, geboren 1946. Seine Schuhe kann man in einem kleinen,
schmucklosen Laden am Haris köz in Budapest, aber auch in Berlin, Japan und
den USA kaufen. Vass’ Modelle wirken im Vergleich zu denen der Manufaktur
Ludwig Reiter in Wien oder zu Berluti in Paris reichlich konservativ, um nicht
zu sagen: altbacken. Weitaus moderner, wenngleich kein Handwerks-, sondern
ein Industrieprodukt, sind die Sportschuhe von »Tisza«. Vielleicht ist folgender
Vergleich zulässig: Vass verhält sich zu Tisza wie Kaffeehaus zu presszó – alte
Welt das eine, neue Zeit das andere. Denn bei »Tisza cipő« handelt es sich um
eine wiederbelebte Marke aus den Zeiten des real existierenden Sozialismus.
Junge Designer erkannten den Retro-Charme der Siebzigerjahre-Modelle, die
nun Kultstatus unter Ungarns urbaner Jugend genießen. In jeder größeren Stadt
befindet sich ein márkabolt, der auch Taschen und Sportkleidung verkauft.
Während Budapester Schuhe in aller Welt ein Begriff sind, wissen nur
wenige, dass im südungarischen Pécs eine bis heute intakte Tradition
hochwertiger Handschuhmacherei besteht. Wer die Augen offen hält, findet in
Budapest klassische Herrenhandschuhe von Herstellern wie »Gant« oder
»Hunor«, gegründet 1861. Das deutsche Unternehmen »Kessler« siedelte 1992
in Südungarn die weltweit größte Produktionsstätte für tafelgeschnittene, d. h.
aufwendig handgefertigte Handschuhe an. Mittlerweise bringen die ungarischen
Meister den Arbeitern in der chinesischen Filiale des Unternehmens den
preiswerteren Blockschnitt bei. Besonders hochwertige und ungewöhnliche
Handschuhe werden aber weiterhin in Pécs gefertigt. Im Wirtschaftsmagazin
»brand eins« war von Werkstätten zu lesen, die immer noch aussähen »wie vor
ein paar hundert Jahren und dessen alte Meister Leder in 20 unterschiedlichen
rosafarbenen Tönen vorhalten, je nachdem, was bei Hermès gerade gefragt ist«.
Kein Wunder also, dass ich in Paris in einer »Agnès B.«-Boutique hochfeine
Kalbslederhandschuhe fand, auf deren Etikett nicht »Produit en France«,
sondern »Made in Hungary« stand.
Von Hand gefertigte, ausgefallene und gleichwohl erschwingliche
Lederaccessoires stellt auch der Familienbetrieb »Havalda« von Viktor Hámori
in Budapests Hajós utca her – seit 1938. Die beiden Ölgemälde an der Wand
zeigen das Gründerehepaar, die Großeltern der heutigen Inhaber. Während ich
einen Blick in Herrn Hámoris kleine Werkstatt werfe, erläutert mir seine Frau
die Betriebsgeschichte: »Erst waren es Keilriemen für Maschinen, dann
Hundehalsbänder, danach Gürtel, und heute sind es modische Armbänder. Wir
gehen mit der Zeit.«
Mein persönlicher Favorit in Ungarns Lederszene: Luu Anh Tuan, ein
Vietnamese, der seit knapp zwei Jahrzehnten in Budapest lebt und sich an der
Moholy-Nagy-Design-Hochschule auf Leder spezialisiert hat. Er entwirft
atemberaubende Handschuhe und Taschen. Seine Flecht- und
Patchworktechniken, häufig mit Kontrast- und Konstruktionsnähten versehen,
muten wie eine rauere Variante der exklusiven italienischen Firma »Bottega
Veneta« an. Ein Asiate in Ungarn modernisiert alte magyarische
Handwerkskunst. Wenn das nicht zukunftsweisend ist …
Die Stücke von Luu Anh Tuan kann man bei »Retrock Deluxe« kaufen, einem
kleinen Budapester Laden in der Henszlmann Imre utca, der ausgewählte
ungarische Designer präsentiert. Hier gibt es auch die Mode eines anderen
Talentes, auf das ich Sie hinweisen möchte: Nanushka, die mit bürgerlichem
Namen Szandra Sándor heißt. Denn während in den globalisierten
Fußgängerzonen wie der Váci utca (wo nur noch der Jugendstil-Blumenladen in
der Nr. 9 sehenswert ist), der sogenannten »Fashion Street« am Deák tér oder der
Andrassy út internationale Marken dominieren, hat sich in der Hauptstadt ein
Unterstrom individueller Kreativer gebildet, der alle Beachtung verdient. Es
wurde auch Zeit, schließlich haben Vorkriegsateliers wie die
Maßhemdschneiderei »Fleischer« ihren Zenit lange überschritten.
»Ich wusste, was ich tat«, erzählt mir Nanushka in ihrem Budaer Atelier,
umgeben von ihren sechs Mitarbeiterinnen. Die selbstbewusste junge Frau,
geboren 1982 in Budapest, hat das Modehandwerk am London College of
Fashion erlernt und gründete gleich nach der Rückkehr in ihr Heimatland im
Jahr 2004 die eigene Marke. Ihre Stoffe kommen aus Europa, gefertigt wird in
Ungarn. Im Unterschied zu jenen Neureichenausstattern, die die nationale Szene
mit ihrem lauten und grellen Stil dominieren, setzt Nanushka auf raffinierte
Details und handwerkliche Verarbeitung. Ihre Mode ist schlicht, edel und hat
jenes gewisse Etwas, das den Unterschied macht. Zu achtzig Prozent, erzählt mir
die Designerin, werden ihre Stücke im Ausland verkauft: in London, in Tokio …
Sie hat, meine ich, die Begabung und den Biss, um es zu schaffen. Unterdessen
sah man Hollywoodgrößen wie Charlize Theron in den Kleidern von Nanushka.
Nicht schlecht für eine junge Ungarin, die von einem kleinen Atelier unterhalb
des Burgberges aus die Welt zu erobern versucht …
Ungarn ist also, aller geschichtlichen Melancholie und aller gesellschaftlichen
Zerrissenheit zum Trotz, unverwüstlich in Bewegung. Es gibt junge Leute, die
etwas machen: Mode entwerfen, innovatives Theater spielen, eine Rockband
etwas machen: Mode entwerfen, innovatives Theater spielen, eine Rockband
gründen. Vielleicht nehmen Sie auch ein paar Platten als Souvenir mit, Platten
die es anderswo nicht gibt und die zu hören es sich lohnt. In Budapest empfehle
ich den Laden »Wave« in der Révay utca und das »Fonó Buda Zeneház« in der
Sztregova utca. Dort gibt es zum Beispiel rare ungarische Jazzalben,
beispielsweise von Zsolt Kaltenecker, einem unerhört flinken Pianisten.
Fällt es mir schwer, zum Ende zu kommen? Das wäre etwas sehr Ungarisches.
Hören Sie mal genau hin, wenn Ungarn sich am Telefon verabschieden. Gruß-
und Dankesformeln werden verdoppelt und vervielfacht: köszi köszi, szia szia,
kezét csókolom – als hätten sie Angst, schon wieder etwas Schönes an die
Vergangenheit abgeben zu müssen …
Nicht vor dem Kind.
Ungarisch sprechen, Ungarn lesen

Im 18. Jahrhundert sprach die Mehrheit der Menschen in Buda und Pest Deutsch.
Bis 1844 war Deutsch Amtssprache in Ungarn und lange darüber hinaus die
Sprache der Gebildeten. Selbst István Széchenyi, der den Weg zur Durchsetzung
des Ungarischen als offizieller Sprache freimachte, sprach besser Deutsch als
Ungarisch. In der Unabhängigkeitsarmee von 1848/49 war Deutsch
Befehlssprache, weil wichtige Offiziere das Ungarische nicht beherrschten. Um
die Jahrhundertwende jedoch änderte sich die Situation allmählich. Kinder aus
der Mittelschicht lernten seltener Deutsch. Aus dieser Zeit stammt eine
Wendung, die es bis heute im Ungarischen gibt: »Nicht vor dem Kind«. Wollten
Eltern vor ihren Sprösslingen etwas Delikates bereden, leiteten sie das Gespräch
mit dieser Formel ein. Wiewohl im 20. Jahrhundert die Zahl derer abnahm, die
das Deutsche als Fremdsprache lernten, war Ungarn noch 2006 das einzige EU-
Land, in dem mehr Menschen Deutsch als Englisch als Zweitsprache
beherrschten. Ein Viertel aller Ungarn spricht einer offiziellen Erhebung zufolge
Deutsch. Daran hat natürlich die ungarndeutsche Minderheit ihren Anteil, die
übrigens nach manchem Schicksalsschlag von einem vorbildlichen
Minderheitenschutz profitiert. Viele ungarische Gymnasien führen zweisprachig
zum Abitur. Man kann in Budapest auf Deutsch studieren, nicht nur Medizin an
der berühmten Semmelweis-Universität, sondern auch eine ganze Reihe anderer
Disziplinen, beispielsweise Politikwissenschaft an der deutschsprachigen
Andrássy-Gyula-Universität. In Ungarn existiert eine deutschsprachige Bühne,
eine deutschsprachige Wochenzeitung sowie eine Anzahl Internetpublikationen.
Und trotzdem muss ich Sie warnen: Im heutigen Ungarn wird Ungarisch
gesprochen, geschrieben und verstanden, eine Sprache, deren Aussterben Johann
Gottfried Herder zu Unrecht prophezeit hat. Das eine oder andere Wort
deutschen Ursprungs kann man aus dem Ungarischen durchaus heraushören:
Beispielsweise heißt der Handelsvertreter vigéc, weil er früher an die Tür klopfte
und fragte: »Wie geht’s?« Umgekehrt übernahm die deutsche Sprache das Wort
kocsi, Kutsche, ein Gefährt, dessen Umriss übrigens bis heute ungarische
Verkehrsschilder ziert. Solche Bezüge zu erkennen, wird freilich durch
eigenwillige Schreibweisen und fremdartige Ausspracheregeln erschwert. Oder
erkennen Sie auf Anhieb Wörter wie reneszánsz, dzsessz, szoftver und szex? In
Wahrheit hat das Ungarische keine Verwandtschaft mit den germanischen,
romanischen oder slawischen Sprachen. Dieses in Mitteleuropa vollkommen
isolierte Gebilde ging aus der finno-ugrischen Sprachfamilie hervor, was wie
bereits ausgeführt noch lange nicht bedeutet, dass Finnen Ungarisch verstehen
können oder Ungarn Finnisch. Für einen Ausländer ist es unmöglich, die
ungarische Sprache ratend zu verstehen und selbst nach einigem Üben fast
ausgeschlossen, sie korrekt auszusprechen. Leider kann schon ein einfacher
Akzent eine Bedeutungsveränderung bewirken.
Franz Fühmann erzählt die unvermeidliche Anekdote, er habe einmal eine
Gemüse(wörtlich im Ungarischen: Grünzeug)verkäuferin gefragt, »ob sie einen
schönen grünen Arsch habe, und das nur, weil bei sonst gleichem Klang ›Arsch‹
kurz und ›Zeug‹ lang ausgesprochen wird«. Fühmann, der Lyrikübersetzer,
macht sich Gedanken über die Fremdartigkeit der ungarischen Sprache und führt
unter anderem »die synkopenartig klingende Diskrepanz zwischen Betonung und
Länge zweier Silben, wie etwa in ›Úngaarland‹, und die wuchtige
Anfangsbetonung, die den ganzen Tonfall daktylisiert« an. Alles klar? Das
Ungarische kennt keinen vorgeschriebenen Satzbau. Die Sprache ist
agglutinierend, das heißt, man klebt die Silben aneinander, was eine für uns oft
irritierende Länge der Ausdrücke zur Folge hat, aber eben auch
außergewöhnliche – man könnte sagen: poetische – Kombinationen zulässt.
In seinen »Fragmenten einer Sprache der Liebe« äußert Roland Barthes sein
Unbehagen darüber, wie unangemessen im Französischen oder im Deutschen
eine Liebeserklärung ausgedrückt werde, nämlich so, als gäbe es »einerseits ein
›ich‹, andererseits ein ›du‹ und dazwischen ein vernünftiges (weil lexi-
kalisches)« Bindeglied. Auf diese Weise entstelle die Grammatik, »was doch
in einer einzigen Regung hervorgestoßen« werde. Umso hingerissener ist der
Semiotiker von der ungarischen Sprache, bei der das Liebesgeständnis genau
jene Verschmelzung vornimmt, von der es spricht: »ich-liebe-dich muss nach
Art des Ungarischen aufgefasst und gelesen werden, das, mit einem einzigen
Wort, szeretlek sagt«. Aber lieben die Ungarn inniger, weil sie Liebenden und
Geliebte in ein und demselben Wort verschmelzen? Attila Kovács, ein nach
Köln emigrierter Künstler, behauptet sogar, in der ungarischen Sprache sei »ein
Urwissen bewahrt worden«, da die Ur-Silben des Ungarischen keine
willkürlichen, sondern bildliche Bedeutungsträger seien: »Man kann deswegen
mit Recht behaupten, dass ein ungarischer Ausdruck, den man nicht malen kann,
nicht in Ordnung ist.« Andere heben die Musikalität des Ungarischen hervor, die
sich der sogenannten Vokalharmonie verdankt: helle Vokale werden hellen,
dunkle dunklen zugeordnet. Tatsächlich bekommt am ehesten eine Vorstellung
von der Schönheit der ungarischen Sprache, wer Männern mit sonoren Stimmen
zuhört, zum Beispiel dem Schriftsteller Lajos Parti Nagy beim Lesen seiner
Werke oder dem Kommissar in Béla Tarrs Film »Der Mann aus London«. Der
weit über achtzigjährige Schauspieler István Lénárt spricht darin so langsam, so
unendlich melodisch und mit Betonungen dermaßen tief, dass man auch ohne
Untertitel zu ahnen glaubt, worum es gerade geht.
Viele Ungarischlerner haben ihrem Leid Luft gemacht. Der österreichische
Tenor Leo Slezak beispielsweise erzählte einmal, wie sein mühsamer Versuch,
ein schwermütiges ungarisches Volkslied in der Originalsprache zu Gehör zu
bringen, beim Budapester Publikum schallendes Gelächter auslöste. Dabei sollte
man meinen, wenigstens Musikern fiele der Zugang zu dieser nach
Vokalharmonie strebenden Sprache leichter. Weit gefehlt! Wahlungar Franz
Liszt (Liszt Ferenc im Ungarischen, wo der Familienname zuerst genannt wird)
soll auf weitere Lektionen verzichtet haben, nachdem ihm das Wort
tántorithatatlanság (Unerschütterlichkeit) begegnete. Jüngst veröffentlichte der
brasilianische Sänger Chico Buarque den Roman »Budapest«, der von nichts
anderem handelt als von dem vergeblichen Versuch eines Südamerikaners, die
Sprache seiner Geliebten zu beherrschen: »Ich wiederholte: középiskola, so heißt
die Sekundarstufe. Pisti: Ich habe nicht verstanden. Und ich: középiskola. Er:
Noch einmal. Ich: középiskola, heißt es nicht so? Nein, du Idiot, es heißt
középiskola, und das Schlimmste war, dass ich keinen Unterschied merkte.« So
satirisch diese Stelle klingen mag, sie ist reinster Realismus. Erleichtert atmete
ich auf, als ein renommierter Übersetzer, dem ich einmal meine beschämend
mäßigen Ungarischkenntnisse gestand, Verständnis zeigte: Das Ungarische sei
schließlich eine Sprache, die der Teufel im Vollrausch erfunden habe.
Zwei gute Ratschläge gebe ich Ihnen mit auf den Weg: Im Alltag kommen Sie
in erstaunlich vielen Situationen besser zurecht, wenn Sie Ihr Anliegen auf
einem Zettel notieren, anstatt sich radebrechend in die Bredouille zu bringen.
Gleichwohl sollten Sie sich ein paar Brocken Ungarisch aneignen, um damit die
Herzen zu öffnen. Gerade in einem so identitätsunsicheren Land wie Ungarn
wirkt diese Geste Wunder. Wer gar, wie Kaiserin Sisi, ernsthaft die
Landessprache lernt, darf auf innigste Zuneigung hoffen …

In Ungarn, soll Ferenc (Franz) Molnár einmal gesagt haben, können mehr Leute
schreiben als lesen. Tatsächlich nimmt die Literatur im öffentlichen Bewusstsein
und auch im Alltag der Menschen einen beachtlichen Stellenwert ein, nicht
zuletzt deshalb, weil die magyarische Identität letztlich an die ungarische
Sprache geknüpft ist und Poeten immer wieder die Rolle des Vorkämpfers für
die nationale Sache zukam. Sándor Petőfi, der Nationaldichter, spielte im
Unabhängigkeitskampf von 1848 eine zumindest symbolische Schlüsselrolle, als
er – so will es die Legende – auf den Stufen des Nationalmuseums seine
patriotischen Verse deklamierte. Es ist kein Zufall, dass jener Diskussionszirkel,
der 1956 zum Wegbereiter des Aufstandes gegen Diktatur und Besatzung wurde,
Petőfi-Kreis hieß. Dieser Gruppe von Schriftstellern und Intellektuellen gehörte
auch ein Mann an, der eine ganz eigene Rolle in der Literatur- und
Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts spielte: Georg (György) Lukács
(1885 – 1971). Der Sohn eines Pester Bankdirektors beeindruckte nicht nur mit
seinem bis heute lesenswerten Frühwerk »Theorie des Romans« (1914/15), das
er übrigens in Heidelberg verfasste, sondern diente überdies Thomas Mann als
Vorbild für die Gestalt des Leo Naphta in dessen Roman »Der Zauberberg«.
Vom Großbürgertum seiner wohlhabenden Familie abgestoßen, wandte sich
Lukács dem Marxismus zu. Der Philosoph, der als Politkommissar der
Räterepublik 1919 nie bereute Todesurteile aussprach, sich ungerührt in einem
Sonderzug von der Weltkriegsfront nach Budapest fahren ließ und 1969
resümierte, selbst der schlechteste Sozialismus sei immer noch besser als der
beste Kapitalismus, dieser Mann war derselbe, der mit seiner Gedankenkraft eine
feine Schülerschar um sich sammelte und dessen Denken bis weit in den Westen
ausstrahlte. Schon in jungen Jahren verstand es Lukács, im sogenannten
»Sonntagskreis« Köpfe wie Béla Balázs, Arnold Hauser und Karl (Károly)
Mannheim zu faszinieren; später zählten die nach New York emigrierte
Sozialphilosophin Ágnes Heller und der scharfsinnige Schriftsteller István Eörsi
zu seinen Schülern. Seinem nicht selten weitschweifigen Dogmatismus zum
Trotz galt die Wohnung dieses Denkers am Belgrad Rakpart in Budapest als
»Adresse von europäischem Rang« (Karl Schlögel). Ich erinnere mich an
Tübinger Universitätslehrer, für die das Ringen mit den dialektischen Positionen
von Georg Lukács noch in den Neunzigerjahren eine existenzielle Bedeutung
hatte. Wer diese heute so unendlich entfernt wirkende geistige Welt ein letztes
Mal nachvollziehen möchte, lese István Eörsis ergreifenden Aufsatz »Abschied
von einem naiven Menschen« in dessen Essayband »Der rätselhafte Charme der
Freiheit«. Danach werden Sie verstehen, warum man auch einer Zeit, die
niemand zurückwünschen wird, nachzuhängen vermag.
Aus Lukács’ langem Schatten können nun endlich jene ungarischen Denker
hervortreten, die bislang übersehen wurden. Zu entdecken wären, zumal im
Ausland: István Bibó in der politischen Philosophie, Béla Hamvas in der
Metaphysik und Ernő Kállai in der Ästhetik. Bibó (1911 – 1979), ein
couragierter Sozialwissenschaftler, der Maßgebliches über das ungarische
Judentum schrieb, wurde von den Dissidenten der Siebziger- und Achtzigerjahre
viel gelesen. Seine Wiederentdeckung hat gerade begonnen. Für Liberale könnte
er werden, was Lukács für die Sozialisten war: ein Vordenker. Béla Hamvas
(1897 – 1968), den Sie aus dem Weinkapitel bereits kennen, verdankte Georg
Lukács sein Publikations- und Berufsverbot. Heute kann beispielsweise die
Philosophie der menschlichen Sinne an Hamvas’ Überlegungen anknüpfen.
Manches, was Claude Lévi-Strauss später über »das Rohe und das Gekochte«
herausfand, nahm dieser unorthodoxe Ungar vorweg. Auf anschauliche Weise
dachte er beispielsweise über die Phänomenologie des Mundes nach: »Das Wort
ist nach außen gerichtet, die Nahrung ist nach innen gerichtet, der Kuss ist nach
außen und nach innen gerichtet, also ein Kreis.« Schließlich sei – wie schon im
Kunstkapitel – Ernst Kállai (1890 – 1954) erwähnt. Seine kritischen Schriften
stellen eine Fundgrube von Kategorien für jeden bereit, der Kunstwerke
einordnen will, ohne dabei über deren Feinheiten hinwegzugehen. Trotz seines
auch auf Deutsch verfassten Werkes, ist er hierzulande beinahe unbekannt.
Dabei schrieb der Bauhäusler Fritz Kuhr bereits in den Dreißigerjahren an
Kállai: »Meiner Meinung nach gehören Sie zu uns hier in Berlin.«
Trotz dieser bemerkenswerten Denker ist Ungarn weniger ein Land der
Philosophen als der Schriftsteller. Die ungarische Literatur ist so selbsterklärend
gut und so unerhört reich, dass sich ein Kapitel darüber beinahe erübrigt. Paul
Lendvai geht so weit zu sagen, »dass es pro Kopf der Bevölkerung
wahrscheinlich nirgends so viele und so gute Dichter gibt wie in Ungarn.«
Vielleicht sind die Wohnzimmer in diesem Land deshalb so vollgestopft mit
Lektüre. Vergessen Sie einmal Ihr gutes Benehmen und werfen Sie einen Blick
in nächtlich erleuchtete Wohnungen: Bücher Bücher Bücher. Die gute
Nachricht: Die größten und oft auch die entlegensten Texte liegen in aller Regel
in vorzüglichen Übersetzungen vor. Eine Vielzahl erstklassiger Übersetzer
arbeitet unermüdlich daran, sie ins Deutsche zu übertragen. Während etwa
kunsthistorische Forschungen und selbst Internetauftritte von Museen einer
ausländischen Öffentlichkeit häufig entgehen, funktioniert die ungarisch-
deutsche Literaturvermittlung geradezu vorbildlich. Seit Ungarn
Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse 1999 war, gibt es kaum noch ein
Halten. Wer einem deutschsprachigen Publikum einen Klassiker wie Sándor
Márai empfiehlt, läuft offene Türen ein. Autoren der mittleren Generation, etwa
György Dalos und György Konrád, sind den Berlinern und Wienern als rege
Teilnehmer am kulturellen Leben bekannt. Aber auch jüngere Autorinnen,
beispielsweise die erstaunliche Terézia Mora, finden längst ihre Leser. Trotz
dieser starken Vorvertrautheit will ich auf den folgenden Seiten ein paar
Empfehlungen geben, und sei es nur, um alte Bekannte in Erinnerung zu
bringen.
Das deutschsprachige Publikum hat »den großen Eleganten Ungarns«, wie
Péter Esterházy sie nennt, in den vergangenen Jahren verdienten Nachruhm
beschert. Gemeint sind Sándor Márai, Antal Szerb und Dezső Kosztolányi. Man
kann geradezu von einer Márai-Mania sprechen, bedenkt man, dass Werke wie
»Die Glut« (A gyertyák csonkig égnek, 1942) oder »Bekenntnisse eines
Bürgers« (Egy polgár vallomásai, 1934) im deutschsprachigen Raum eine
Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren erreicht haben. Diese
Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren erreicht haben. Diese
Bücher führen ihre Leser in ein versunkenes Europa, wo sich, so Esterházy, »die
Männer von Zeit zu Zeit einen neuen Hut kaufen«.
Allmählich findet der gleichaltrige Antal Szerb ebenfalls eine breite
Leserschaft. Szerb, der 1945 im Konzentrationslager Balf in Westungarn
umkam, besaß eine enorme Begabung. Literaturprofessor in Szeged, Verfasser
einer bis heute empfehlenswerten Geschichte der ungarischen Literatur (1934)
und einer dreibändigen Geschichte der Weltliteratur (1941), Übersetzer aus vier
Sprachen, Romancier und glänzender Feuilletonist, schrieb er auch einen
»Führer durch Budapest für Marsmenschen« (Kalauz marslakók számára). Es
lohnt sich, dieses 1935 verfasste Kleinod vor einem Besuch der ungarischen
Hauptstadt aufzutreiben. Szerbs Romane sind seit einiger Zeit in neuen
Übersetzungen wieder zugänglich, darunter »Reise im Mondlicht« (Utas és
holdvilág) von 1937. Als ›Italienische Reise‹ kommt dieses Buch zwar klassisch
daher, doch handelt es sich um einen ungewöhnlichen Bildungsroman, in dem
das Erwachsenwerden nur auf der Ebene der Handlung siegt, Weltsehnsucht und
Unruhe aber die letzten Empfindungen bleiben.
Mehr Aufmerksamkeit verdiente schließlich jener Autor, den Esterházy den
Elegantesten unter den drei Eleganten nennt: Dezső Kosztolányi (1885 – 1936).
Schauen Sie ihn sich an, zum Beispiel auf Fotos von Dénes Rónai: mit seinem
lässigen Scheitel, der Fliege, dem wachen, ironischen Blick. Nicht wahr, liebe
Leserinnen, Sie gäben viel darum, mit diesem smarten Herrn zu Abend zu essen
… Hans Magnus Enzensberger hat Kosztolányis Roman »Anna Édes« in seiner
»Anderen Bibliothek« zur Neuentdeckung freigegeben, und nun sind auch die
mit Einfällen nur so vollgesogenen Geschichten von Kosztolányis Alter Ego
Kornél Esti, erschienen 1933, in neuen Übersetzungen zugänglich. Sie zeigen
ihren Autor, mit dem in der ungarischen Prosa die literarische Moderne begann,
als glänzenden Stilisten. »Mein Gott, ein leicht zu lesender Klassiker!«, rief
Esterházy, der sich für Esti mächtig ins Zeug legt, ganz zu Recht aus. Die Welt
des Abendlichen (Esti, der Abendliche) ist eine Welt aus Küssen und
Kaffeehäusern, es ist die Welt des mondänen Budapest, welches, glaubt man
seinem Alter Ego Esterházy, »bei Kosztolányi mindestens so geheimnisvoll,
zauberhaft, anziehend und aufregend ist wie Italien bei Antal Szerb.«
Allein in dieser Generation gibt es eine Fülle von Autoren, die die
deutschsprachigen Leser noch kennenlernen sollten: Géza Csáth (1887 – 1919)
zum Beispiel, einen Verwandten Kosztolányis. Opiumessender Neurologe,
abgründiger Liebhaber und Musikkritiker des »Budapesti Napló«, spielte Csáth
auch Violine und Klavier, malte gelegentlich, verfasste brillante Prosa und starb
– wie es sich für einen ungarischen Schriftsteller gehört – von eigener Hand im
Alter von 33 Jahren. Oder Margit Kaffka (1880 – 1918), Mitarbeiterin der
Zeitschrift »Nyugat« (Der Westen), eine progressive Autorin, deren Beitrag zum
weiblichen Schreiben in Europa bislang weitgehend ungewürdigt blieb.
Der größte Unterschätzte unter den Jahrhundertwendeautoren ist jedoch Gyula
Krúdy (1878 – 1933). Ein Mann der Kneipen und Kaffeehäuser, bestand seine
Hinterlassenschaft aus einem Haufen Schulden, einem unvollständigen Set
Spielkarten, Hunderten von Sindbad-Erzählungen und einigen Dutzend
Romanen. Krúdys Werk umfasst nicht weniger als hundert Bände. Von Sándor
Márai verehrt, ist dieser uferlose, attributreiche Erzähler vor allem als
Beobachter einer verschwundenen Welt der Galanterie und Eleganz zu
entdecken. Seine Helden sind, wie John Cunningham bemerkte,
»Baudelaire’scher Flaneur, Don Juan und Gargantua in einer Person«, wobei
seine eigentlichen Helden nicht Menschen, sondern Situationen und
Stimmungen sind. Krúdy, der auch die von Alfred Polgar so genannte ›Kleine
Form‹ meisterlich beherrschte, entfaltet seine Stärke nicht in spannenden
Erzählverläufen, sondern im Heraufbeschwören vergangener Welten. Was
Proust für Paris, ist Krúdy für Budapest. Seine sinnliche Beschreibungskunst
gehört einer literarischen Richtung an, die die Forschung als »Präsenzliteratur«,
als eine Literatur der Vergegenwärtigung bezeichnet. Farben, Gerüche,
Geräusche und Geschmäcke werden so eindringlich und exakt bezeichnet, dass
die Leserin sie zu spüren, der Leser sie intensiv zu empfinden vermeint. »Dazu
schöpft er die Möglichkeiten der ungarischen Sprache, die mit ihrem
Suffixsystem, mit Partizipialkonstruktionen, mit dem Fehlen des unbetonten
Pronomens und der beliebigen Verschiebbarkeit des Verbs der Synchronie
Vorschub leistet, sehr weitgehend aus«, bemerkt die Übersetzerin von
»Boldugult úrfikoromban« (Meinerzeit, 1927), Christina Viragh. Plötzlich
scheint der alte Sodasiphon, den Krúdy eben beschrieb, auf dem Tisch vor einem
zu stehen. Wir greifen zu, doch – ach! – er ist verschwunden, wie die Welt des
alten Budapest … Bei ungarischen Lesern berührt Krúdy Tiefenschichten wie
kaum ein anderer Autor. Von manchen für unübersetzbar gehalten, gehört er in
jedem Fall zu den Großen der europäischen Literatur. Wie Robert Walser mit
seinen Bleistiftmikrogrammen, schrieb Krúdy ganz aus dem Körper heraus: ein
Dutzend Seiten jeden Morgen, mit einem alten Stahlfüller, in violetter Tinte.
Einmal Geschriebenes korrigierte er nicht mehr. Er las es nie wieder.
Zu den Klassikern der ungarischen Literatur des 20. Jahrhunderts gehört auch
István Örkény (1912 – 1979), von dessen wunderbaren »Minutennovellen« seit
der präzisen Neuübersetzung von Terézia Mora wieder eine gute Auswahl auf
Deutsch zugänglich ist. Diese bizarren Miniaturen, voll jüdischen Witzes,
verraten viel über die ungarische Mentalität. Ungarische Geschichte verdichtet
sich auch in den Texten von Tibor Déry (1894 – 1977), dessen reiches Werk zu
Unrecht in Vergessenheit zu geraten droht. Kaum jemand kennt heute noch
Arthur Koestler, schon gar nicht als Ungarn, obwohl dieser faszinierende Autor
1905 in Budapest geboren wurde. Koestler, der Renegat, dessen Roman
»Sonnenfinsternis« (1940) eine bis heute unübertroffene Analyse der
stalinistischen Schauprozesse darstellt und dessen Lektüre einem alle
kommunistischen Flausen für immer austreibt, wurde wegen seiner
schonungslosen Einsichten nicht nur im Ostblock gehasst: Frankreichs
Kommunisten ließen die Erstauflage aufkaufen und vernichten, was etwa Sartre,
Simone de Beauvoir und Maurice Merleau-Ponty nicht ungelegen kam.
Gegenwart. Eine Fülle ungarischer Schriftsteller wurde in den vergangenen
Jahren im Ausland mit Stipendien und Preisen geehrt. Beispielsweise Péter
Nádas, dessen epische Erinnerungen die Vergangenheit nicht vergehen lassen;
György Konrád, der auch Präsident des PEN und der Akademie der Künste
Berlin-Brandenburg war; György Dalos, der das ungarische Kulturinstitut in
Berlin leitete und den Buchmesse-Schwerpunkt 1999 kuratierte. Gerade die
Letzteren wirken nicht nur durch ihr erzählerisches Werk, sondern ebenso durch
ihre maßgeblich zum Verständnis Ungarns beitragenden publizistischen
Arbeiten.
Im Jahr 2004 erhielt Péter Esterházy den Friedenspreis des deutschen
Buchhandels. Gerne schriebe ich auch über ihn einige Zeilen, doch wer könnte
diesem barock gelockten Phänomen Herr werden? Jeden Satz eines
Empfehlungsschreibens würde er so lange kneten und umdrehen, bis dieser vor
lauter Haltlosigkeit umwegig bestätigt wäre. Kurzum, lesen Sie lieber gleich
Esterházy, oder noch besser, hören Sie ihn. Denn dieser Kerl aus altem
Aristokratengeschlecht ist das, was man auf dem Theater eine Rampensau nennt.
Aristokratengeschlecht ist das, was man auf dem Theater eine Rampensau nennt.
Er schmeißt den Laden: mühelos, witzig, geistreich, und wenn nötig auch ernst.
Ein freier Mann und ein Schriftsteller, bei dem subtile Sprachlichkeit und ein
erfrischend robuster Realismus auf bewundernswerte Weise zusammentreten,
wie der Kritiker Zoltán András Bán in einem brillanten, in Ungarn
preisgekrönten Aufsatz gezeigt hat.
Bleibt der Nobelpreisträger. Imre Kertész, geboren am 9. November 1929 in
Budapest, als Vierzehnjähriger nach Auschwitz deportiert, bekam im Jahr 2002
für sein bereits 1975 erschienenes Buch »Sorstalanság« (Roman eines
Schicksalslosen) die höchste Auszeichnung, die ein Literat erhalten kann. Einer
ganzen Reihe jüdischer Schriftsteller ungarischer Herkunft, darunter Elie Wiesel
und George (György) Tabori, verdanken wir erschütternde
Auseinandersetzungen mit dem Holocaust. Kertész’ Bücher lassen bisweilen
schon durch ihre Titel den Atem stocken: »Eine Gedankenlänge Stille, während
das Erschießungskommando neu lädt«, heißt beispielsweise eine Sammlung aus
dem Jahr 1998. Der Sog, dem man sich beim Lesen von Kertész’ Texten
aussetzt, kalibriert die eigene Wahrnehmung schon nach wenigen Seiten neu.
Wer meinte, längst über Antisemitismus Bescheid zu wissen; wem der Kádár-
Kommunismus ganz passabel vorkam, den wird die Lektüre von Imre Kertész
unwillkürlich zurechtrücken. Lesen Sie nur mal »Protokoll« (Jegyzőkönyv), die
Schilderung einer Reise von Budapest nach Wien im Jahr 1988, und Sie werden
den Grenzbahnhof Hegyeshalom künftig ein wenig unruhiger passieren, selbst in
den Zeiten des Schengen-Abkommens zum ungehinderten innereuropäischen
Reiseverkehr.
Ungarns literarisches Leben kennt keine Nachwuchsprobleme. Eine junge
Generation hat sich herausgebildet, pragmatisch und professionell, »aus an
Universitäten ausgebildeten, an Übersetzungen und dem Schreiben von Kritiken
geschliffenen« Autorinnen und Autoren, wie Anna T. Szabó es ausdrückt.
Versierte Erzählerinnen wie Terézia Mora und Zsuzsa Bánk, Gesamtkünstler wie
Péter Zilahy und so vielversprechende Schreibbegabungen wie Krisztián Grecsó
stehen für eine bewegliche, oft von Berlin aus agierende Generation von
Textarbeitern. »Die Dichter«, resümiert Szabó, »schreiben für Zeitungen, lehren,
übersetzen, redigieren Zeitschriften, sind als Rechtsanwälte tätig,
programmieren, arbeiten als Filmregisseure, beschäftigen sich mit Glasdesign,
schreiben Fernsehserien, Drehbücher, Textbücher und Tingel-Literatur – nur von
einer einzigen Sache lassen sie nicht ab: von der Qualität ihrer Schriften.«
Ich zögere, dem mit Prosa gut versorgten deutschsprachigen Publikum auch
die ungarische Lyrik, etwa von Endre Ady (1877 – 1919) oder Attila József
(1905 – 1937) anzuempfehlen. Ihre Schwingungen, beispielsweise die
sprachformende Kraft von Adys 1906 erschienenen »Új versek« (Neue
Gedichte), übertragen sich selbst in guten Übersetzungen nur schwer. Wie soll
man einen József-Vers wie »Ülni, állni, ölni, halni« ins Deutsche übersetzen?
Jedoch, gerade dieses Gedicht übt in der Übertragung von Wilhelm Droste einen
unwiderstehlichen Reiz aus. Hier die ersten Zeilen:

»Meinen Stuhl zur Seite rücken,


sich vor einen Schnellzug bücken,
vorsichtig den Berg besteigen,
Taschen leeren, alles zeigen …«

Vielleicht sollte, wer kein Ungarisch kann, mit Dezső Tandori, Jahrgang 1938,
beginnen. Er ist mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet und – wiewohl auch
Mützenträger, Vogelschützer und Verfasser von Detektivromanen – vor allem
ein Sprachmensch. Er übersetzte Bücher, die andere nicht einmal zu lesen
schaffen, darunter die vielen, vielen Seiten von Robert Musils »Mann ohne
Eigenschaften«. Tandoris Sudelbuch »Ördöglakat« (2007) besteht aus
faksimilierten Zeichnungen und Notizen und ist eher in einer Joyce’schen
Weltsprache denn in reinem Ungarisch verfasst. Man kann es deshalb auch
»lesen«, wenn man eigentlich kaum Ungarisch versteht.
Unter den deutschen Schriftstellern hat keiner so gut über Ungarn geschrieben
wie Franz Fühmann. Sein 1973 erschienenes tagebuchartiges Werk
»Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens« ist nicht nur das Protokoll
der schonungslosen Selbstfindung dieses zu Unrecht vernachlässigten, 1984
gestorbenen DDR-Autors, sondern ein bis heute unübertroffen einfühlsames und
genaues Ungarnporträt. Es verdient trotz aller zeitgeschichtlichen Überholtheiten
auch heute die Lektüre.
Zum Abschluss ein paar Sachbücher. Das Standardwerk zur ungarischen
Geschichte stammt von Paul Lendvai: »Die Ungarn. Eine tausendjährige
Geschichte«. Gut geschrieben, ausgewogen im Urteil und in Kenntnis sowohl
der ungarischen wie der internationalen Forschung abgefasst, kann es
der ungarischen wie der internationalen Forschung abgefasst, kann es
vorbehaltlos empfohlen werden. István Barts »Konversationslexikon der
ungarischen Alltagskultur« mit dem Titel »Ungarn. Land und Leute«, 1999 im
Budapester Corvina Verlag erschienen, empfehle ich allen, die sich auf
humorvolle Weise in die Tiefen und Untiefen der ungarischen Mentalität
begeben möchten. John Lukacs’ stadt- und kulturgeschichtliches Meisterwerk
»Budapest 1900« ist nicht umsonst mit Hemingways Paris-Vignetten verglichen
worden. Zugleich äußerst anschaulich und höchst differenziert, zudem in einem
geschmeidigen Stil geschrieben, ist das Werk dieses emigrierten Budapesters ein
wahrer Klassiker.
Unter den vielen Budapest-Reiseführern ragt András Töröks »Budapest. Ein
kritischer Reiseführer« heraus, dessen jüngste Ausgabe im Jahr 2006 bei Park
Kiadó in Budapest erschienen ist. Wer dieses Buch vor seiner Ankunft liest,
fährt mit dem Gefühl nach Budapest, dort bereits einen guten Freund zu haben.
Genaue Kenner der Materie werden gleichwohl bemerken, dass die Zeit
allmählich ein wenig über Töröks Generation hinweggeht, weshalb man neueren
Auflagen anmerkt, dass sie bei aller Wachheit der Komplexität und raschen
Entwicklung der Stadt kaum noch folgen können. Dennoch: eine Empfehlung!
Am besten kaufen Sie dieses im Ausland schwer zu bekommene Buch vor
Ort, vorzugsweise im Írók Boltja (Autorenbuchladen) am Liszt Ferenc tér. Diese
Bastion gegen die Buchhandelsketten befindet sich am Standort des legendären
Literatenkaffeehauses Japán, wo einst Jenő Rejtő seine an die sechzig Romane
schrieb. Wer tiefer in Einzelbereiche eindringen möchte, findet im selben Regal
die vom Bürgermeisteramt geförderte Reihe »Unser Budapest«, die, bei allen
Unterschieden in der Qualität einzelner Ausgaben, ein vorzügliches
stadthistorisches Mosaik bildet.
Lediglich auf Englisch erhältlich sind die stets empfehlenswerten Bücher des
britischen Expat-Autors Bob Dent. Ebenfalls Englischkenntnisse erfordert die
Lektüre der vorzüglichen Kulturzeitschrift »The Hungarian Quarterly«, die 1936
zuerst erschien und nichts von ihrer Frische und ihrem hohen Niveau verloren
hat. Eine Fundgrube!
Ans Herz legen möchte ich Ihnen schließlich die deutschsprachige
Literaturzeitschrift »Drei Raben« (Három Holló), die seit Dezember 2000 in
unregelmäßigen Abständen erscheint. Ihren eigenwilligen Namen verdankt sie
einem Gasthaus, das der Dichter Endre Ady zu seinem bevorzugten
Aufenthaltsort gemacht hatte. Jedes Heft widmet sich einem anderen Thema,
Aufenthaltsort gemacht hatte. Jedes Heft widmet sich einem anderen Thema,
beispielsweise dem ungarischen Berlin oder dem ungarischen Wien, aber auch
junger ungarischer Literatur oder der Erinnerung von Frauen. Diese erstklassige
Zeitschrift ist das Werk von Enthusiasten, jedes einzelne Heft lohnt die Lektüre.
Wer die Literatur liebt, wird auch die Raben mögen.
Aktuelle Informationen liefern zwar nicht mehr fünf deutschsprachige
Tageszeitungen, wie noch vor hundert Jahren, aber immerhin eine
deutschsprachige Wochenzeitung. Die »Budapester Zeitung« informiert
verlässlich und facettenreich über Politik, Wirtschaft, Kultur und Alltagsleben.
Der verdiente »Pester Lloyd«, in dem einst Thomas Mann, Joseph Roth und
Alfred Polgar schrieben, wird seit einigen Jahren nur noch im Internet
fortgesetzt.
Dort lohnt der Blick auf den hochwertigen Mitteleuropa-, Ungarn- und
Budapest-Blog www.kakanien.ac.at. Hier ist der Ton so scharf, wie er nur aus
der Tastatur gebürtiger Ungarn sein darf. Sie erfahren dort manches über dieses
Land, was ich aus Höflichkeit gegenüber meinen Gastgebern nur angedeutet
habe … Weitere Empfehlungen: das englischsprachige Expat-Portal
www.pestiside.hu, das kunsthistorische Lexikon www.hung-art.hu und die
mehrsprachige Literatur-Website www.hunlit.hu.
Freilich, kein Netz, kein Buch und keine Zeitung vermag ein Land je ganz zu
erfassen. Vielgestaltig, unaufhörlich in Bewegung, mit jedem neuen Blick neu
wahrgenommen, gleicht Ungarn – Sie erinnern sich – dem magischen Würfel,
dessen bunte Bausteine nur mit Mühe in eine Ordnung gebracht werden können.
In meiner Erinnerung bleiben feuchtheiße Thermalbäder, raffinierte
Jugendstilmosaike, der Geruch einer blütensatten Pester Mainacht und der
Ahorngeschmack eines kühlen Kéknyelu. Was Sie aus Ungarn mitnehmen
werden, weiß ich natürlich nicht. Aber ich bin sicher, dass dieses Land Sie
beeindrucken wird.
Nagyon szépen köszönöm.
Danke schön

Vom ersten Tag an fühlte ich mich in Ungarn willkommen und freundlich
aufgenommen. Mein Vorhaben, dieses Buch zu schreiben, erfuhr durch spontane
Einladungen und großzügig gewährte Gespräche, durch Hinweise am Rande und
ausführliche Auskünfte, durch die Bereitstellung anderweitig unauffindbarer
Materialien sowie freundliche Übersetzungshilfen jede nur erdenkliche
Unterstützung. Ich danke allen, die mit ihren Anregungen, Kontakten und ihrer
professionellen Arbeit zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben.
Namentlich möchte ich an dieser Stelle diejenigen erwähnen, die das Manuskript
in frühen Fassungen lasen und mit mir besprachen: Nina Gülicher, Wilhelm
Droste, Kai Menzel, Henning Rockmann und Antal Szabó. Allen ein großes
Dankeschön, oder auf Ungarisch: nagyon szépen köszönöm!

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