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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Teilhabe 3/2021, Jg.

60

Katrin Reich Markus Schäfers

Lebensqualität und Lebensperspektiven


von Familien mit behinderten
Angehörigen im Erwachsenenalter
WISSENSCHAFT Ergebnisse des Projekts „Familien.Stärken“
100
UND FORSCHUNG
| Teilhabe 3/2021, Jg. 60, S. 100 – 106

| KURZFASSUNG Auch im Erwachsenenalter lebt über die Hälfte der Menschen mit Be-
hinderungen noch in ihren Herkunftsfamilien. Die Lebenslagen dieser Familien zu
erforschen und sie als Ressource in den Blick zu nehmen, war Ziel des Projekts „Familien.
Stärken“. Die im Rahmen einer Befragung gesammelten Ergebnisse zu den Stärken, aber
auch den besonderen Belastungen dieser Familien werden in diesem Artikel dargestellt
und münden in der Forderung, Familie in die Sozialplanung und Sozialraumentwicklung
zukünftig stärker in den Blick zu nehmen.

| ABSTRACT Quality of Life and Live Perspectives of Families with Disabled


Relatives in Adulthood – Results of the Project "Familien.Stärken" ("Family.
Strengths"). Even in adulthood, more than half of the people with disabilities still live
in their families of origin. Exploring the living conditions of these families and looking at
them as a resource was the aim of the project "Familien.Stärken". The results of a survey
on the strengths, but also the particular burdens of these families, are presented in this
article and lead to the demand to focus more on family in social planning and social area
development in the future.

Stand der Forschung Meinung, dass professionelle Hilfen


nur im Notfall beansprucht werden
Viele Menschen mit Behinderungen, die sollten. Knapp die Hälfte der Befragten
ins Erwachsenenalter kommen, bleiben fühlt sich über Unterstützungsangebote
in ihren Herkunftsfamilien wohnen. nicht ausreichend informiert. Der An-
Insgesamt ist über die Lebenssituatio- teil derer, die sich unzureichend infor-
nen dieser Personen und ihrer Familien miert fühlen, ist bei den Familien, die
wenig bekannt (vgl. BMAS 2016, 88). keine Unterstützung in Anspruch neh-
Regionale Erhebungen (vgl. STAMM men, besonders hoch (70 %). Etwa 40 %
2008; BURTSCHER, HEYBERGER & der Befragten äußerten, dass sie auf-
SCHMIDT 2015) zeigen, dass etwa die grund der Kosten keine professionelle
Hälfte der Menschen mit (vor allem Hilfe in Anspruch nehmen würden. Ein
geistiger) Behinderung, die eine Werk- Viertel der Befragten wünscht sich auf
statt für behinderte Menschen (WfbM) den individuellen Bedarf zugeschnit-
besuchen, auch noch im fortgeschrittenen tene Hilfen, mehr als die Hälfte mehr
Alter im Familienverbund leben, in der Unterstützung innerhalb der Familie.
Regel bei den Eltern. Die Hauptbetreuung Die Frage, wie das Familienmitglied mit
in den Familien wird hauptsächlich von Behinderung in Zukunft wohnen soll,
den Müttern übernommen (vgl. STAMM wurde uneinheitlich beantwortet. Ein
2008, 9 f.; BURTSCHER, HEYBER- Drittel der Befragten wünscht sich ein
GER & SCHMIDT 2015, 28). In der Arrangement außerhalb der Familie mit
Studie von STAMM (vgl. 2009, 258) professioneller Betreuung, ein weiteres
aus dem Kreis Minden-Lübecke gaben Drittel ein Arrangement innerhalb der
40 % der Hauptbetreuungspersonen an, Familie. Gruppenangebote wurden der
ambulante Unterstützung in Anspruch eigenen Wohnung vorgezogen. Es konnte
zu nehmen; dennoch überwiegt die festgestellt werden, dass die Familien,
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Lebensqualität und Lebensperspektiven von Familien mit behinderten Angehörigen im Erwachsenenalter

die zum Befragungszeitpunkt bereits Rollenerwartungen und -ausgestaltun- möglich bestehen bleibt, und der Ein-
Hilfen in Anspruch nahmen, sich eher gen für alle im Alter immer schwieriger sicht, dass diese Lebensform aufgrund
für ein Wohnangebot außerhalb der Fa- wird. Es kann durch Krankheit oder des eigenen Alters begrenzt sein wird
milie aussprachen (vgl. ebd., 259). Tod zu einem plötzlichen Wohnort- (vgl. FAßBENDER, ISKENIUS-EMM-
wechsel kommen, der zwangsläufig mit LER 2012, 347).
Die Berliner Studie, die im Rahmen
des Projekts Älter werdende Eltern
und erwachsene Familienmitglieder
mit Behinderung zu Hause (ElFamBe) Familien, in denen erwachsene Kinder mit Behinderung
durchgeführt wurde, zeigt, dass Unter-
stützungsleistungen hauptsächlich im leben, erleben einen Ambivalenzkonflikt.
engeren Familienkreis in Anspruch ge-
nommen werden (vgl. BURTSCHER,
HEYBERGER & SCHMIDT 2015).
48 % der befragten Eltern gaben an, nicht einem krisenhaften Einschnitt verbun- Bestehenden Unterstützungsangeboten
ausreichend Unterstützung zu erhalten, den ist. Wohnheime und ambulante fehlt es bisher an Transparenz. Es gibt
und bemängelten die fehlende Unter- Dienste der Behindertenhilfe berichten Zugangsschwierigkeiten, die aufgrund
stützung hauptsächlich im Bereich der in informellen Gesprächen immer wie- von räumlichen Entfernungen (vgl. ebd.,
Freizeitgestaltung, der Beratung sowie der der von Fällen, bei denen von einem 347) oder aufgrund bürokratischer Hin-
Pflege und Betreuung (ebd., 35). Bezüg- Tag auf den anderen eine Versorgung dernisse (BURTSCHER, HEYBERGER
lich der Zukunft äußerten 67 % der Be- für Menschen mit Behinderungen im & SCHMIDT 2015, 119) entstehen kön- 101
fragten, dass ein Auszug des Kindes mit höheren Lebensalter organisiert werden nen. Weitere Schwierigkeiten stellen be-
Behinderung in den nächsten fünf Jahren muss, weil deren Eltern sich nicht mehr schränkte Leistungsumfänge und un-
nicht vorgesehen sei (vgl. ebd., 32). um sie kümmern können – sei es wegen gesicherte Finanzierungsleistungen dar
eigener Krankheit, Pflegebedürftigkeit, (vgl. CLAS 2014, 72). Die in der Studie
Eigene Forschungsarbeiten zu diesem Unfällen wie Stürzen, anderen Krisen von STAMM (vgl. 2009, 259) befragten
Thema (vgl. SCHÄFERS, WANSING oder weil ein Elternteil verstirbt. Das Familien äußerten die Angst vor ent-
2009; SCHÄFERS 2018) verdeutlichen stellt diese Anbieter vor große Probleme: stehenden Kosten bei der Inanspruch-
die Belastungen, die mit der Betreuung einerseits, weil kurzfristig, ohne großen nahme von Unterstützungsleistungen.
und Pflege des behinderten Familien- Vorlauf, Betreuungskapazität geschaffen Da Familien mit erwachsenen Angehö-
mitglieds einhergehen können: psychi- werden muss, andererseits, weil der rigen mit Behinderung in ihrem Alltag
sche, gesundheitliche und soziale Be- Wechsel der Wohnform für die betrof- zum Teil hoch belastet sind, lassen sich
lastungen sowie Einschränkungen der fenen Menschen mit Behinderungen in die Komplexität und die Vielfalt unter-
Lebensplanung und -führung. Sie steigen einer Krisensituation als traumatisch er- schiedlicher bestehender Angebote oft
z. B. mit der Pflegebedürftigkeit und lebt werden kann – insbesondere bei ei- nicht mit dem Familienalltag überein
dem zeitlichen Unterstützungsumfang nem Personenkreis, der jahrzehntelang bringen (vgl. CLAS 2014, 70).
deutlich an (vgl. SCHÄFERS, WANSING keine Erfahrungen mit professionellen
2009, 126). Hilfen gesammelt hat. Anpassungspro- Dass das gemeinschaftliche Zusam-
bleme und ein hoher Unterstützungs- menleben als Lebensform gewählt wurde,
Gleichzeitig deutet die Forschung dar- bedarf bei solchen ungeordneten Über- hat jedoch nicht allein mit fehlenden
auf hin, dass gerade die hochbelasteten gängen vom Elternhaus in betreute Wohn- Ablöseprozessen zu tun, sondern auch
Familien dazu neigen, alles eigenständig formen sind eher die Regel als die Aus- mit ungünstigen Rahmenbedingungen
machen zu wollen und keine außer- nahme. Deshalb kommt Angeboten, die innerhalb der Gesellschaft (vgl. THEU-
familiäre Unterstützung in Anspruch zu Familien in ihrem Alltag unterstützen, und NISSEN 2001, 182). Die Übernahme der
nehmen (vgl. ebd.; DRILLER et al. 2008). auch jenen, die alternative Lebensformen Pflege und Betreuung durch die Familie
Diese Familien zeigen auch die Tendenz, vorbereiten, ein erhöhtes Interesse zu. führt zu Kostenersparnissen bei den Leis-
sich kaum mit der Frage auseinander- tungsträgern. Es ist anzunehmen, dass
zusetzen, wie die Betreuung des behin- Die qualitative Befragung von FAß- Angebote zum Übergang vielleicht auch
derten Familienangehörigen zukünftig BENDER und ISKENIUS-EMMLER deshalb mancherorts noch unzureichend
sichergestellt werden kann – obwohl (2012) von Eltern mit erwachsenen Kin- ausgebaut sind. MÜLLER-FEHLING
dies, objektiv betrachtet, gerade bei die- dern mit Behinderung im Raum Köln- (2010, 127) konstatiert, dass es in den
sen Familien dringend erforderlich er- Aachen ergab, dass in etwa ein Drittel Regelungen der Sozialgesetzbücher zu
scheint (vgl. SCHÄFERS 2018). der Eltern einem Wechsel der Wohn- Zuordnungs- und Abgrenzungsprob-
situation eher skeptisch entgegensteht. lematiken gerade in Übergangssitua-
Familien mit erwachsenen Kindern Als Grund hierfür wurden noch fehlende tionen kommt: So stehen die Angebote
mit Behinderung unterlagen lange Zeit notwendige Entwicklungsvorausset- für Menschen mit Behinderung sozial-
dem Vorurteil, die Ablösung verpasst zungen beim Kind genannt sowie die rechtlich isoliert. Komplexleistungen
zu haben, wenn ein Auszug aus dem Angst nach unzureichender Versorgung und Mischfinanzierung wären notwen-
Elternhaus nicht erfolgte. Erst in den außerhalb der Familie. Diese Befürch- dig, sind aber oftmals nicht vorhanden
letzten Jahren wird der Familienver- tung nimmt mit dem Grad der kommu- (ebd.). Bezog sich MÜLLER-FEHLING
bund in der Fachliteratur als Ressource nikativen Beeinträchtigung des Kindes in seinen Forderungen hauptsächlich
erkannt und rückt damit in den Fokus zu (vgl. ebd., 347). Die Angst wird ver- auf die Übergangsprobleme zwischen
(vgl. FAßBENDER, ISKENIUS-EMM- stärkt, wenn belastende Vorerfahrungen Jugend- und Behindertenhilfe, folgern
LER 2012, 345). Bezüglich des richtigen z. B. mit Pflegeeinrichtungen bestehen HELLMANN et al. (2007) auf Grund-
Zeitpunkts des Auszugs herrscht bei den (vgl. FISCHER 2008, 181). Familien, lage der Ergebnisse ihrer Befragung dies
Eltern oft Unsicherheit vor (vgl. SCHULTZ in denen erwachsene Kinder mit Behin- auch für die Schnittstelle der Alten- mit
2009, 69). Die Gefahr bei diesem Lebens- derung leben, erleben einen Ambiva- der Behindertenhilfe. Sie schlagen die
modell ist jedoch, dass der Ablöseprozess lenzkonflikt zwischen dem Wunsch, Erprobung von gemeinsamen Betreu-
bzw. die Neudefinition wechselseitiger dass ihre Lebenssituation so lange wie ungs- und Unterstützungsangeboten für
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Eltern und ihre erwachsenen schwerbe- Forschungsdesign und Methodik größten Anteil, rund 41 %, nimmt die
hinderten Kinder vor, was eine sozial- Altersgruppe zwischen 50 und 59 Jahren
rechtliche Schnittstellenlösung jedoch Die Lebenslagen der Familien mit ei- ein. Nur 12 % der Hauptbetreuungs-
unabdingbar machen würde (ebd., 18). nem behinderten Angehörigen im Er- personen ist unter 50 Jahre alt, fast die
wachsenenalter wurden mittels einer Hälfte der Personen über 60. Nimmt man
Bislang fehlt es an tragfähigen Kon- schriftlichen standardisierten Befragung als Renteneintrittsalter 65 Jahre an, so
zepten, die Lösungen für derartige Pro- der Hauptbetreuungspersonen in der ergibt sich, dass knapp ein Drittel der
bleme an der Schnittstelle Familie und Familie erhoben. Der Zugang zu den Hauptbetreuungspersonen das Renten-
professionelles Hilfesystem bereitstellen. Familien erfolgte über sechs Werkstätten eintrittsalter bereits erreicht haben.
Das liegt zum einen daran, dass wenig für behinderte Menschen (WfbM) in
systematisches Wissen darüber vorliegt, Mittel- und Nordhessen. Als Koopera- Mehr als die Hälfte der Hauptbetreu-
wann, in welchen Fällen und warum tionspartner konnten der Lebenshilfe ungspersonen (58 %) ist nicht oder nicht
Familien mit behinderten Angehörigen Landesverband Hessen e. V. und die mehr erwerbstätig. Von den nicht erwerbs-
Hilfen von außen in Anspruch nehmen – Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. tätigen Personen gaben rund 60 % an,
und vor allem: nicht in Anspruch neh- gewonnen werden. Die Datenerhebung Rentner*in zu sein; 27 % sind Hausfrau
men. Dieses Wissen ist aber dringend fand im Zeitraum zwischen November bzw. -mann. 18 % der Befragten gaben
notwendig, um Konzepte der Lebens- 2019 und Ende Februar 2020 statt. Ins- an, teilzeiterwerbstätig sein; vollzeiter-
planung, -begleitung und Übergangs- gesamt wurden von den beteiligten werbstätig sind 14%. Über die Hälfte
gestaltung für diese Familien zu ent- WfbM rund 1.300 in Familien wohnende der Hauptbetreuungspersonen berich-
wickeln, die mit und nicht gegen die Werkstattbeschäftigte identifiziert, 1.226 tete, wegen der Betreuung ihres Fami-
102 Wünsche und Vorstellungen der Fami- Fragebögen wurden verteilt. Der Rück- lienmitglieds mit Behinderung ihre Er-
lien arbeiten. lauf betrug 20,5 %. Insgesamt erwiesen werbstätigkeit aufgegeben (23 %) oder
sich 245 Fragebögen als verwertbar. eingeschränkt (33 %) zu haben.
Zum anderen spielen Familien mit
behinderten Angehörigen in den re- Die Einkommenssituation wird von
Ergebnisse der Befragungsstudie
gionalen Sozialplanungen keine große über einem Viertel (28 %) als nicht aus-
Rolle. Welch besondere Bedeutung und Im Folgenden werden die Ergebnisse reichend bewertet; ein Drittel der Fami-
Funktion die Familie als Sozialsystem der Befragungsstudie dargestellt. lien bewertet ihr Familieneinkommen
im Leben von Menschen mit (geistiger) als genauso viel wie nötig. Diese sub-
Behinderung hat und dass diese Fa- jektive Bewertung spiegelt sich auch im
Hauptbetreuungspersonen
milien zu stärken, zu entlasten und zu Haushaltseinkommen wider (Abb. 1).
begleiten sind, ist allenfalls ein sozial- Der Fragebogen der Studie „Familien. Fast zwei Drittel der Familien (64 %)
politisches Randthema. Viel Aufmerk- Stärken“ richtete sich an die Haupt- verfügen lediglich über ein monatliches
samkeit wird im Moment im Kontext der betreuungspersonen des Familienmit- äquivalenzgewichtetes Nettoeinkommen
Reform des Teilhaberechts (Bundesteil- glieds mit Behinderung. Wie auch schon von 1.500 Euro oder weniger. Darunter
habegesetz) eher darauf gelegt, wie pro- in anderen Studien (vgl. SCHÄFERS, versteht man das Pro-Kopf-Einkommen
fessionelle ambulante und stationäre WANSING 2009, 58; STAMM 2009, 259) eines Familienmitglieds, das durch das
Angebote der Behindertenhilfe entwi- sind die Hauptbetreuungspersonen in Teilen des gesamten Familieneinkommens
ckelt werden können (vgl. SCHÄFERS den Familien die Mütter. In der vorliegen- durch die Anzahl der Familienmitglieder
2017). den Studie verantworten sie die Haupt- nach einer Gewichtungsskala entsteht.
betreuung mit rund 70 % gefolgt von Hintergrund ist die Überlegung, dass ein
Vor diesem Hintergrund wurde das den Vätern (15 %) und Geschwistern Mehrpersonenhaushalt anders wirtschaf-
Forschungsprojekt „Familien.Stärken“ (7 %). 8 % der Hauptbetreuungspersonen ten kann als ein Einpersonenhaushalt.
dazu konzipiert, die Familie als Lebens- sind andere Personen. Dazu zählen ge-
ort und Ressource wieder in das Blick- setzliche Betreuer*innen, Schwager bzw. Von relativer Armut sind 30,9 % der
feld der Sozialplanung zu rücken und Schwägerin, Stiefvater bzw. -mutter und Familien betroffen, d. h. deren bedarfsge-
(sozialräumliche) Konzepte der Lebens- Großeltern. Den größten Anteil der an- wichtetes Nettoäquivalenzeinkommen
planung und -begleitung zu entwi- deren Personen stellen Pflegemütter dar. liegt unter der Armutsrisikoschwelle.
ckeln. Die Familie bildet einen wesent- Die subjektive Bewertung des Haus-
lichen Faktor der Lebensqualität für Das Durchschnittsalter der Hauptbe- haltseinkommens korreliert stark posi-
Menschen, die aufgrund einer Behin- treuungspersonen liegt bei 61 Jahren. tiv mit dem äquivalenzgewichteten Net-
derung auf Unterstützung angewiesen Die jüngste Hauptbetreuungsperson ist toeinkommen (r = 0,58, p < 0,001). Die
sind. 24 Jahre, die älteste 84 Jahre alt. Den Armutsrisikoquote der Familien, in denen
ein Familienmitglied mit Behinderung
lebt, ist mit 30,9 % fast doppelt so hoch
Abb. 1: Äqivalenzgewichtetes Nettoeinkommen in Euro (N = 194) wie in der Allgemeinbevölkerung mit
einer Armutsrisikoquote von 15,9 %
(vgl. Statistisches Bundesamt 2020).

2500 Euro und mehr 3% Familienmitglieder mit Behinderung


2000 bis unter 2500 Euro 9% Von den Familienmitgliedern mit Behin-
1500 bis unter 2000 Euro 25% derung sind 59 % männlich und 41 %
1000 bis unter 1500 Euro 34% weiblich. Das durchschnittliche Alter
der Familienmitglieder mit Behinderung
500 bis unter 1000 Euro 25%
liegt bei 35 Jahren. Das jüngste Familien-
bis 500 Euro 5%
mitglied mit Behinderung ist 18 Jahre,
das älteste 64 Jahre. Die Altersspanne
ergibt sich aus dem Zugang zur Befra-
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gungsgruppe über die WfbM. Etwas mehr die das Familienmitglied mit Behinderung Integration des Familienmitglieds mit
als ein Drittel (36 %) der Familienmit- unterstützen. In das Unterstützungs- Behinderung, da regelmäßige Kontakte
glieder mit Behinderung ist zwischen arrangement eingebunden sind neben außerhalb der Familie wahrgenommen
20 und 29 Jahre alt. Zwei Drittel der der Mutter (84 %) in über der Hälfte werden können, sowie in der eigenen
Familienmitglieder mit Behinderung der Fälle der Vater. Jeweils in etwa ei- Entlastung. Die Nutzung der Angebote
(67 %) sind unter 40 Jahre alt. Auffäl- nem Viertel der Fälle unterstützt die schafft Zeit für die Hauptbetreuungs-
lig ist, dass im Vergleich zu früheren Schwester oder eine sonstige verwandte person selbst und für andere Aufgaben.
Untersuchungen (vgl. SCHÄFERS, WAN- Person. Der Bruder wurde von 17 %
SING 2009, 67) der Anteil der Familien- der befragten Familien benannt. Bei Doch auch hier zeigt sich, dass ein
mitglieder mit Behinderung, die über 50 den sonstigen Verwandten wurden am Viertel der Familien keine Angebote
Jahre alt sind, in dieser Untersuchung häufigsten die Großeltern des Familien- wahrnimmt. Die Gründe hierfür werden
dreimal so hoch ist und bei 17 % liegt. mitglieds mit Behinderung genannt, vor von den Familien sehr unterschiedlich
Tante bzw. Onkel und Cousinen. Wäh- benannt. Am häufigsten wird die Nicht-
Die befragten Hauptbetreuungsper- rend die Unterstützung im familiären Um- nutzung damit begründet, dass alle not-
sonen gaben als häufigste vorrangige feld meist gegeben ist, wird Unterstüt- wendigen Hilfen innerhalb der Familie
Behinderungsart ihres Familienmit- zung im sozialen Umfeld nur von 17 % erbracht werden.
glieds mit Behinderung eine geistige der Familien wahrgenommen.
Behinderung (57 %) an, gefolgt von einer
Belastungen der familiären
körperlichen Behinderung (13 %), Lern- Auch wenn viele Familien Unterstüt-
Betreuungspersonen
behinderung (6 %), seelischen Behinde- zung im familiären Umfeld erhalten, so
rung (5 %), Sinnesbehinderung (2 %) ist es besonders hervorzuheben, dass Ein Augenmerk im Rahmen der Befra- 103
bzw. sonstigen Behinderung (7 %). Un- ein Viertel der Hauptbetreuungspersonen gung des Projekts „Familien.Stärken“
ter den sonstigen Behinderungen wur- angibt, allein innerhalb der Familie für wurde auf die Belastungen der Familien
den Epilepsie und Autismus am häu- die Betreuung des Familienmitglieds mit gelegt. Das Interesse lag dabei auf dem
figsten genannt. Behinderung zuständig zu sein. Das ist Ausmaß an psychischen Belastungen,
insbesondere der Fall, wenn die Mutter sozialen Belastungen sowie Einschrän-
Rund 85 % der Befragten gaben an, die Hauptbetreuungsperson ist. Von kungen der Lebensführung. Die Belas-
dass für den Angehörigen mit Behinde- diesen 23 % nimmt nur etwa die Hälfte tungen, die mit der Unterstützung von
rung ein Pflegegrad nach der Pflegever- eine regelmäßige Begleitung, Assistenz Familienmitgliedern mit Behinderung
sicherung festgestellt wurde. Am häu- oder Pflege in Anspruch. Die andere einhergehen können, wurden mithilfe
figsten wurde der Pflegegrad 4 (26 %) Hälfte ist ohne Unterstützung. von zehn Items erhoben und zu einem
angegeben, gefolgt von Pflegegrad 3 Belastungsindex zusammengefasst. Die
(25 %). 16 % der Familien betreuen Fa- Auch die Nutzung von Angeboten Belastungen zeigen ein differenziertes
milienangehörige mit einem sehr hohen kann zu den Unterstützungsressourcen Bild der Familien. Während die eine
Pflegebedarf (Pflegegrad 5). gezählt werden (Abb. 2). Drei Viertel Hälfte der befragten Hauptbetreuungs-
der Familien nehmen Angebote zur Ent- personen sehr geringe bzw. geringe Be-
Die Betreuung der Familienmitglieder lastung wahr. lastungen zeigt, weist die andere Hälfte
mit Behinderung kann, entsprechend hohe bis sehr hohe Belastungssymptome
der angegebenen Pflegegrade, als auf- Am häufigsten werden regelmäßige auf. Das Ausmaß der Belastungen kor-
wändig beschrieben werden, variiert Angebote für die Begleitung und Assis- reliert moderat negativ mit der Ein-
jedoch stark im von den Hauptbetreu- tenz bzw. Pflege des Familienmitglieds schätzung des Gesundheitszustands (r =
ungspersonen eingeschätzten zeitlichen mit Behinderung genutzt, gefolgt von -0,44, p < 0,01, N = 222), d. h., mit
Umfang unter der Woche und am Wo- Freizeit-, Sport- und Ferienangeboten. höheren Belastungen geht tendenziell
chenende. Diese Variation kann eben- Deutlich seltener werden Kurzzeitange- ein schlechterer Gesundheitszustand
falls damit erklärt werden, dass die bote und Angebote der Selbsthilfe ge- einher. Schließlich stellt sich die Frage,
Familien über die WfbM akquiriert nannt. Den größten Vorteil dieser Ange- womit die Belastungen zusammenhän-
wurden, sodass die Familienmitglieder bote sehen die Familien in der sozialen gen. Im Rahmen der Befragung konnte
mit Behinderung werktags einer außer-
familialen Beschäftigung nachgehen.
Die meisten Familienmitglieder mit Be- Abb. 2: Nutzung von Angeboten (Mehrfachantworten, N = 236; 427 Nennungen)
hinderung (33 %) benötigen an Werkta-
gen 2–5 Stunden Unterstützung. Jeweils
etwas weniger als ein Viertel benötigt Betreuung durch FuD/FeD/Offene Hilfen 42%
werktags unter 2 Stunden (21 %) bzw. Freizeitangebote 28%
über 10 Stunden Unterstützung (22 %). Einzel- oder Gruppenreisen 26%
Am Wochenende überwiegt der Anteil
Kurzzeitpflege/-wohnen/-betreuung 17%
der Personen (37 %), die über 10 Stun-
den Unterstützung benötigen, gefolgt Haushaltshilfe 10%
von 2–5 Stunden (24 %) und 5–10 Beratungsangebote 7%
Stunden (19 %). 40 % der Familien- Assistenzleistungen/ambulant betreutes Wohnen 7%
mitglieder mit Behinderung benötigen
Ferienbetreuung 6%
auch nachts Betreuung.
Pflegedienst/Übernahme von Pflegemaßnahmen 5%
Selbsthilfegruppen/-angebote 2%
Unterstützungsressourcen
Trainingswohnen 0,4%
Drei Viertel (75 %) der Familien gaben an,
Sonstige 6%
regelmäßig Unterstützung innerhalb der
Familie zu erhalten. Durchschnittlich Gar keine 25%
sind es in den Familien zwei Personen,
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kein Zusammenhang zwischen dem Aus- Familiales Bewältigungsverhalten Auszugsplanung gefragt, gibt ein Fünftel
maß der Belastungen und dem Alter der der Familien an, dass ein Auszug des
Hauptbetreuungspersonen oder ihrem Des Weiteren wurde das Bewältigungs- Familienmitglieds mit Behinderung „nie
Bewältigungsverhalten festgestellt wer- verhalten der Familie in den Blick ge- erfolgen wird“, bei etwa der Hälfte der
den. Dahingegen zeigte sich ein deut- nommen: Orientieren sich die Familien Familien liegt ein Auszug „in weiter
licher Zusammenhang der Belastungen bei der Alltagsbewältigung eher nach Ferne“. 29 % geben Planungsperspek-
mit dem Pflege- und Betreuungsauf- innen (auf den Zusammenhalt inner- tiven „in absehbarer Zeit“ an. Für 40 %
wand. Mit höherem Pflegebedarf des halb der Familie) oder nach außen (auf ist ein dauerhaftes Wohnen außerhalb
Familienmitglieds mit Behinderung stei- die Nutzung außerfamilialer Unterstüt- der Familie nicht oder gar nicht vor-
gen die Belastungen der Hauptbetreu- zung)? Das Bewältigungsverhalten der stellbar. Je höher der Pflege- und Unter-
ungsperson. Das gleiche Bild zeichnet innerfamilialen Orientierung wurde durch stützungsbedarf ist, desto schlechter
sich beim Ausmaß des Unterstützungs- acht Items erhoben und zu einem Index ist ein Wohnen außerhalb vorstellbar:
bedarfs ab: Je höher der tägliche Unter- der Innerfamilialen Orientierung zu- Die Einstellung, das Familienmitglied
stützungsbedarf ist, desto höher ist die sammengefasst. so lange betreuen zu wollen, wie es
Ausprägung der Belastungssymptome. irgendwie möglich ist, ist dann an-
Im Ergebnis konnte festgestellt werden, steigend. Auch die Art der familialen
Schließlich korrelieren die Belastun- dass die innerfamiliale Orientierung in Orientierung scheint hierbei eine Rolle
gen auch stark mit der subjektiven Ein- den Familien ausgeprägt ist, bei 27 % zu spielen. Nur 18 % der Familien, bei
schätzung der gesellschaftlichen Zu- der Befragten ist sie als „sehr hoch“ zu denen die innerfamiliale Orientierung
gehörigkeit der Familien (Korrelation bezeichnen. Das heißt, diese Familien stark ausgeprägt ist, haben schon kon-
104 nach Spearman, r = -0,63, p < 0,001). orientieren sich bei der Bewältigung krete Auszugspläne. Das gleiche Bild
Dazu wurden die Hauptbetreuungsper- ihrer Belastungen hauptsächlich inner- zeichnet sich ab, wenn die Auszugs-
sonen gebeten, anhand der bildlichen halb der Familie und versuchen, Prob- planung mit der Inanspruchnahme von
Darstellung eines Fischschwarms die leme auch dort zu lösen, anstatt außer- Angeboten für Begleitung, Pflege und
gesellschaftliche Position der Familie familiale Unterstützung zu nutzen. Assistenz in Bezug gesetzt wird. Nur 18 %
zu verorten: mittendrin, am Rand oder Die innerfamiliale Orientierung steigt der Familien, die keine dieser Hilfen in
außerhalb. 47 % der befragten Familien tendenziell mit dem Alter der Hauptbe- Anspruch nehmen, haben schon kon-
verorten sich selbst am Rand bzw. 13 % treuungsperson an. krete Auszugspläne.
außerhalb der Gesellschaft. Je größer
das Empfinden an gesellschaftlicher Aus- Wenn das Familienmitglied mit Be-
Vorstellung der zukünftigen
geschlossenheit, desto höher der Anteil hinderung im jüngeren Erwachsenen-
Wohn- und Betreuungssituation
an belasteten Familien. So sind 93 % alter ist (unter 30 Jahre), ist der Anteil
der Familien, die sich selbst am Rande Einen der Kernpunkte der Untersuchung der Familien mit Umzugsplänen höher
der Gesellschaft sehen, belastet bzw. stellt die Frage nach den Zukunftsper- als im mittleren und höheren Erwach-
hochbelastet. spektiven der Familien dar. Nach der senenalter. Auf der anderen Seite führen
ältere Hauptbetreuungspersonen häu-
Abb. 3: Wohnwunsch der Familienmitglieder mit Behinderung (N = 176) figer Gespräche mit dem Familienmit-
glied mit Behinderung über das Wohnen
außerhalb der Familie. Allerdings steigt
der Anteil derer, die noch zu keiner Lö-
Elternhaus 41%
sung gekommen sind, mit dem Alter der
eigene Wohnung (alleine/mit Partner*in)
13% Hauptbetreuungsperson.
mit Unterstützung

WG mit Unterstützung 11% Des Weiteren scheint das Bildungs-


Wohnheim 7% niveau der Hauptbetreuungsperson einen
Geschwister 7%
Einfluss auf die Planungen der zukünfti-
gen Wohn- und Betreuungssituation zu
Sonstige 1%
nehmen. Während 41 % der Hauptbe-
noch keine feste Meinung 15% treuungspersonen mit einem hohen Bil-
noch nie Thema 4% dungsabschluss schon Pläne für einen
künftigen Auszug haben, sind dies bei
Hauptbetreuungspersonen, die entweder
keinen oder einen Förderabschluss be-
Abb. 4: Wohnwunsch der Hauptbetreuungspersonen (N = 240) sitzen, nur 17 %.

Die Frage nach dem Wohnwunsch,


Wohnheim der Behindertenhilfe 22%
also wo das Familienmitglied lang-
WG mit Unterstützung 20% fristig (in zehn Jahren) wohnen soll,
Elternhaus 18% sollten die Hauptbetreuungspersonen
eigene Wohnung (alleine/mit Partner*in) aus ihrer eigenen Perspektive und der
14%
mit Unterstützung des Familienmitglieds mit Behinderung
Geschwister 5% beantworten.
Alten-/Pflegeheim 1%
Sonstige 1%
Die Familienmitglieder mit Behin-
derung wünschten sich, nach Einschät-
noch keine Lösung 15%
zung ihrer Hauptbetreuungspersonen,
noch keine Gedanken gemacht 4% mit Abstand am häufigsten den Ver-
bleib im Elternhaus (Abb. 3).
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Lebensqualität und Lebensperspektiven von Familien mit behinderten Angehörigen im Erwachsenenalter

Die Antworten der Hauptbetreuungs- Wohnformen, die aus Sicht der Haupt- Hauptbetreuungspersonen ein Wohnen
personen sind im Vergleich diverser: Zu betreuungspersonen nicht in Frage im elterlichen Haushalt an.
fast gleichen Teilen werden das Wohn- kämen. Hierbei wurde mit 37 % am
heim (22 %), die unterstützte Wohnge- häufigsten das Alten- und Pflegeheim Fazit und Perspektiven des Projekts
meinschaft (20 %) und der Verbleib im genannt. Als Gründe hierfür wurden die
Elternhaus (18 %) genannt (Abb. 4). nicht altersentsprechende Betreuung, Das gemeinsame Zusammenleben im
die mangelnde Qualität der Betreuung Erwachsenenalter scheint bei einem
Wird lediglich zwischen familialen sowie die Überversorgung genannt. Für großen Teil der Familien zu einem festen
Arrangements und professioneller Be- immerhin 32 % der Hauptbetreuungs- Bestandteil des Lebensentwurfs gewor-
treuung unterschieden, so bevorzugen personen kommt auch das Wohnheim den zu sein. Je älter die Hauptbetreu-
57 % der Hauptbetreuungspersonen eine als zukünftige Wohnform nicht in Frage. ungspersonen sind und je höher der
professionell betreute Wohn- und Un- Dies ist aus dem Grunde erstaunlich, Unterstützungsbedarf des Familienmit-
terstützungsform und nur ca. 24 % die weil es gleichzeitig die meistgenannte glieds mit Behinderung ist, desto stärker
Familie. Bei den Familienmitgliedern mit präferierte Wohnform der Hauptbetreu- ausgeprägt ist die innerfamiliale Orien-
Behinderung zeigt sich ein umgekehrtes ungspersonen darstellt. Salopp gesagt: tierung.
Bild. Hier überwiegt das familiale Ar- Am Wohnheim scheiden sich die Geister.
rangement, das für 48 % der Familien- Neben Ängsten in Bezug auf die pas- Nur ein kleiner Teil der Familien plant
mitglieder mit Behinderung angegeben sende Betreuung und die fehlende Selbst- konkret einen Auszug (eher bei Famili-
wurde, während nur 31 % ein profes- bestimmung bzw. den fehlenden fami- enmitgliedern im jüngeren Erwachse-
sionelles Arrangement präferierten. liären Charakter wurden hier auch nenalter). Während sich die Familien-
schlechte Erfahrungen und das Ar- mitglieder mit Behinderung nach Ein- 105
Die Erwartungen, die mit dem Aus- gument der nicht mehr zeitgemäßen schätzung der befragten Hauptbetreu-
zug in ein dauerhaftes Wohnen außer- Wohnform genannt. Gleich hinter dem ungspersonen häufig den Verbleib im
halb der Familie angegeben werden, Wohnheim nannten 29 % der Haupt- Elternhaus wünschen, überwiegt bei den
sind größtenteils positiv. Fast die Hälfte betreuungspersonen das Wohnen in Hauptbetreuungspersonen der Wunsch
der befragten Familien verbindet mit einer eigenen Wohnung als Wohnform, nach professioneller Unterstützung.
dem Wohnen außerhalb der Familie die nicht in Frage käme. Als Argument Dabei bevorzugen die Hauptbetreu-
eine Entlastung im familialen Alltag so- gegen diese Wohnform wurden die ungspersonen von jüngeren Familien-
wie eine größere Selbstständigkeit des fehlende Selbstständigkeit des Familien- mitgliedern mit Behinderung ambulante
Familienmitglieds mit Behinderung. mitglieds mit Behinderung und die Ge- bzw. neue und alternative Settings, die
fahr der Vereinsamung genannt. Beacht- Hauptbetreuungspersonen von älteren
Ein weiterer Punkt, der in der Be- licherweise gaben bei den nicht in Frage Familienmitgliedern hingegen stationäre
fragung eine Rolle spielte, waren die kommenden Wohnformen nur 4 % der Wohnformen.

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Teilhabe 3/2021, Jg. 60
Lebensqualität und Lebensperspektiven von Familien mit behinderten Angehörigen im Erwachsenenalter

Die älteren Hauptbetreuungspersonen L I T E R AT U R In: Wansing, Gudrun; Windisch, Matthias


beschäftigen sich durchaus mit dem (Hg.): Selbstbestimmte Lebensführung
Wohnen außerhalb der Familie, kommen BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Teilhabe – Behinderung und
aber vermehrt zu keiner Lösung. Als und Soziales (2016): Zweiter Teilhabe- Unterstützung im Gemeinwesen.
mögliche Gründe zeigen sich die bericht der Bundesregierung über die Stuttgart: Kohlhammer, 33–48.
fehlende Übereinstimmung der Wohn- Lebenslagen von Menschen mit Beein- SCHÄFERS, Markus (2018): Familien mit
wünsche mit dem Familienmitglied mit trächtigungen. Teilhabe – Beeinträchti- behinderten Angehörigen im Erwachse-
Behinderung, die fehlende Verfügbarkeit gung – Behinderung. nenalter. Zwischen familiärem Zusammen-
von passenden Angeboten vor Ort, Warte- http://www.bmas.de/SharedDocs/ halt und professioneller Betreuung.
listen auf stationäre Plätze, ökonomi- Downloads/DE/PDF-Publikationen/a125- In: Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hg.):
sche Aspekte sowie innere Ambivalen- 16-teilhabebericht.pdf (abgerufen am Familien unterstützen. Ideen und Praxis-
zen. Das weist auf Beratungsbedarfe 15.06.2018). beispiele für Haupt- und Ehrenamtliche.
und Erfordernisse der Sozialraument- BURTSCHER Reinhard; HEYBERGER, Marburg: Lebenshilfe, 53–68.
wicklung hin. Thomas; SCHMIDT Thomas (2015): SCHÄFERS, Markus; WANSING, Gudrun
Die „unerhörten“ Eltern. Eltern zwischen (2009): Konzept Familienunterstützende
Der Verbleib im Elternhaus fungiert Fürsorge und Selbstsorge. Marburg: Hilfen. Abschlussbericht.
somit häufig als Auffanglösung bzw. Lebenshilfe-Verlag. www.lwl.org/spur-download/fuh/fuh-
kleinster gemeinsamer Nenner: So ist CLAS, Dörte (2012): Bachelorarbeit. bericht.pdf (abgerufen am 15.06.2018).
es innerfamilial betrachtet die Wohn- Unterstützungsbedarf von Eltern behin- STAMM, Christof (2008): Erwachsene
form mit den geringsten Vorbehalten derter Kinder als Grundlage für familien- Menschen mit geistiger Behinderung im
106 und dem geringsten Konfliktpotenzial. orientierte Hilfsangebote am Beispiel der Elternhaus. Zur Situation von Familien,
Jedoch ist der Verbleib im familialen Kurzzeiteinrichtungen. Universität Ham- in denen erwachsene Menschen mit geis-
Haushalt für einen großen Teil der Fa- burg. Fakultät für Erziehungswissenschaft, tiger Behinderung leben – eine empirische
milien mit erheblichen objektiven Ri- Psychologie und Bewegungswissenschaft Studie im Kreis Minden-Lübbecke (ZPE-
siken (Aufgabe der Erwerbstätigkeit, 41-62.200.1 B.A. Forschungswerkstatt Schriftenreihe Nr. 21). Siegen: ZPE.
Armutsrisiko) und subjektiven Belas- Erziehungs- und Bildungswissenschaft. STAMM, Christof (2009): Erwachsene
tungen (gesundheitlich und psycho- CLAS, Dörte (2014): Familienorientierung Menschen mit geistiger Behinderung im
sozial) verbunden. Insbesondere das als Grundlage zur Gestaltung von Hilfs- Elternhaus – familiäre Situation und Zu-
deutlich erhöhte Armutsrisiko der Fa- angeboten. In: Teilhabe 53 (2), 69–74. kunftsperspektiven aus Sicht der Haupt-
milien ist auffällig und gehört dringend DRILLER, Elke et al. (2008): Die INA- betreuungspersonen. Ergebnisse einer
auf die sozialpolitische Agenda. Studie. Inanspruchnahme, soziales Netz- empirischen Studie. In: Zeitschrift für
werk und Alter am Beispiel von Angebo- Heilpädagogik 60 (7), 255–264.
Die von den Familien in Anspruch ten der Behindertenhilfe. Freiburg i. Br.: THEUNISSEN, Georg (2001): Verhaltens-
genommenen Angebote (vor allem Of- Lambertus. auffälligkeiten – Ausdruck von Selbst-
fene Hilfen sowie familienunterstützende FAßBENDER, Karl-Josef; ISKENIUS- bestimmung? Dargestellt und diskutiert
und familienentlastende Dienste) wirken EMMLER, Hildegard (2012): Gemeinsam am Beispiel der Ablösung vom Elternhaus.
deutlich in Richtung Entlastung der Fa- unter einem Dach leben – Sichtweisen In: Theunissen, Georg (Hg.): Verhaltens-
milien und Teilhabeförderung des Fa- und Bedürfnisse von Eltern Erwachsener auffälligkeiten – Ausdruck von Selbst-
milienmitglieds. Die Nichtnutzung von mit Behinderung. In: Zeitschrift für Heil- bestimmung? Bad Heilbrunn: Klinkhardt,
Angeboten verweist in der Regel nicht pädagogik 63 (8), 345–351. 173–192.
auf ungedeckte Bedarfe, sondern ist im FISCHER, Ute (2008): Autonomie in Ver- WITTIG, Walther (2012): Kurzzeit-
Wesentlichen darauf zurückzuführen, bundenheit. Ablöseprozesse in Familien wohnen – Im Mittelpunkt steht die Familie.
dass die Familien selbst keinen Bedarf mit erwachsenen Angehörigen, die als In: Maier-Michalitsch, Nicola; Grunick,
sehen. Zum Teil ist dies als Ausdruck schwer geistig behindert gelten. Die Sicht Gerhard (Hg.): Leben pur – Wohnen.
innerfamilialer Orientierung zu werten, der Eltern. Deskription und Analyse von Erwachsen werden und Zukunft gestalten
also der Tendenz, Herausforderungen Ablöseprozessen. Humboldt-Universität mit schwerer Behinderung. Düsseldorf:
innerhalb der Familie zu lösen. zu Berlin. Berlin. Bundesverband für körper- und mehr-
http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/ fachbehinderte Menschen, 160–174.
In jedem Fall gilt es, Beratungs- und fischer-ute-2008-06-05/PDF/fischer.pdf
Entlastungsangebote im Sozialraum auch (abgerufen am 23.03.2021).
für jene Familien auszubauen, die die HELLMANN, Michaela; BORCHERS, i Die Autor*innen:
Ursprungsfamilie als geeignetes Wohn- Andreas; OLEJNICZAK, Claudia (2007): Dr. Katrin Reich
arrangement gewählt haben. Diese zu Perspektiven alternder Menschen mit
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt
stärken, gefährdende Belastungen zu schwerster Behinderung in der Familie. „Familien.Stärken“ der Hochschule Fulda
reduzieren, und bei der Entwicklung von Abschlussbericht.
Zukunftsperspektiven zu begleiten, sollte www.bmfsfj.de/blob/79206/8e6fe870105 @ katrin.reich@live.de

das Ziel der Angebote sein. Da viele 6e070f5741b9ea8cc9832/perspektiven- Prof. Dr. Markus Schäfers
Familien den Unterstützungsbedarf von alternder-menschen-data.pdf (abgerufen Professor für Rehabilitation und Teilhabe
sich aus nicht unbedingt sehen, erscheint am 20.06.2020). im Sozialraumbezug an der Hochschule
ein proaktives Anbieten dieser Unter- MÜLLER-FEHLING, Norbert (2010): Fulda
stützung und ein niedrigschwelliger, Was Familien brauchen! Zur Bedarfslage @ markus.schaefers@sw.hs-fulda.de
aufsuchender Charakter der Angebote von Familien mit behinderten Angehö-
sinnvoll. Offen bleibt die Frage, wie rigen im Spiegel des 13. Kinder- und
insbesondere bei den Nichtnutzer*in- Jugendberichts. In: Teilhabe 49 (3),
nen von professionellen Beratungs- und 126–130.
Betreuungsangeboten rechtzeitig ein SCHÄFERS, Markus (2017): Personen-
Handlungsbedarf erkannt werden kann, zentrierung als sozialpolitische Programm-
um zukünftige Krisensituationen und formel – zum Diskurs der Eingliederungs-
Notunterbringungen zu vermeiden. hilfereform.

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