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– nach ihrer religiösen Überzeugung – mit Die Auseinandersetzung mit folgenden weitergegeben hat. Die Ärzte sehen in die-
den Grundnormen des Islam nicht ver- Fragen hat wesentlich zur Konsensfin- ser Situation einen klaren Verstoß gegen
einbar. dung beigetragen: „das Recht auf Wissen“ des Patienten. Mit-
Es ist wichtig, in einem solchen Dilem- F Ist eine „barrierefreie“ Kommunikati- hilfe eines anderen Dolmetschers fragen
ma die perspektivisch bedingten Unter- onsebene im Sinn einer „Verantwor- sie den Patienten, ob er sich eine detail-
schiede der Argumentationen zu konsta- tungspartnerschaft“ [7] zwischen Arzt lierte Information über seinen aktuellen
tieren; auf der einen Seite das rational, und Patient gewährleistet? und zukünftigen Gesundheitszustand
aber nicht wertfrei gedeutete beste Inte- F Kann die Dolmetscherin den Infor- wünsche, was dieser bejaht. Daraufhin
resse des Kindes und auf der anderen Seite mationsfluss beeinträchtigen oder so- holen sie einen professionellen Überset-
die in sich logisch konsistent begründete gar die Entscheidung der Eltern be- zer, der dem jungen Mann mitteilt, dass er
kulturell-religiöse Entscheidung der emo- einflussen? möglicherweise in Kürze sterben werde.
tional überforderten Eltern („Unser Kind F Wurde die Familie auch über andere Nach 2 Tagen stirbt der Patient. Die Ärzte
wird sterben“). In solchen Konflikten islamisch legitimierbare Optionen werden später von den Eltern beschuldigt,
scheint es sinnvoll zu sein, im ersten und Argumente [8] von einem ver- für den Tod ihres Kindes verantwortlich
Schritt eine Kommunikationsebene zu trauenswürdigen, kompetenten Bera- zu sein. Sie hätten durch ihre Aufklärung
schaffen, auf der die Konfliktparteien über ter (z. B. Imam) informiert (theolo- zur Verschlechterung des Krankheitszu-
die Hintergründe der Entscheidungsfin- gische Aufklärung)? standes beigetragen und somit seinen
dungen der jeweils anderen Partei mehr F Ist der Inhalt des normativen Begriffs schnellen Tod hervorgerufen.
erfahren. „das beste Interesse des Kindes“ den
Nach der Gewährleistung einer barrie- Eltern klar? Konfliktsituation. Im obigen Fall handelt
refreien und vertrauensvollen Verständi- F Können die Fragen: „Was wünschen es sich um einen Konflikt zwischen den
gung stellt sich die Kernfrage, ob es über- Sie sich für Ihr Kind?“ und „Was ist Eltern des Patienten und dem Behand-
haupt möglich ist, zwischen dem medi- das Beste für Ihr Kind?“ von den El- lungsteam über die Weitergabe der infaus-
zinischen Team und den Eltern einen tern in ihrem emotional überforder- ten Diagnose bzw. Prognose an den Pati-
ethisch vertretbaren Konsens herzustellen ten Zustand klar differenziert wer- enten. Das Behandlungsteam ist der Mei-
(1. Schritt). Wenn ja, wie? Wenn diese zen- den? nung, dass der Patient selbst entscheiden
trale Frage mit „nein“ zu beantworten ist, soll, ob er von seinem Recht auf Wissen
so stellt sich die folgende Frage: „Wie kön- Fall II: Weitergabe einer infausten bzw. auf Nichtwissen Gebrauch macht.
nen die religiös bedingte Entscheidung Diagnose und Prognose im Die Eltern haben sich für die Nichtweiter-
der Eltern und das vom medizinischen interkulturellen Setting gabe der Diagnose an ihren Sohn ent-
Team eingeschätzte beste Interesse des schieden, weil sie ihm die Angst vor dem
Kindes in einer wertpluralen Gesellschaft Fallbeschreibung. Bei einem 23-jährigen Tod bis an das Lebensende ersparen wol-
gegeneinander abgewogen werden?“ türkisch-muslimischen jungen Mann len. Dadurch soll die Beeinträchtigung
(2. Schritt). Hier müssen also die 2 norma- wurde ein bösartiger Krebs festgestellt. seines Wohlbefindens vermieden werden.
tiven Güter, d. h. die durch die medizi- Trotz mehrerer Chemotherapiezyklen Im oben dargestellten Fall stirbt der Pati-
nischen Maßnahmen zu erreichende Le- konnte kein Behandlungserfolg erzielt ent unglücklicherweise 2 Tage nach der
bensverlängerung und das damit verbun- werden. Der Gesundheitszustand des Pa- Aufklärung. Daher deuten die Eltern die
dene Leid gegenübergestellt werden. tienten verschlechterte sich ständig, so- vom medizinischen Team bevorzugte
In diesem Fall konnte durch Vermitt- dass der Tod immer wahrscheinlicher Handlung als Schaden. Sie sind der Mei-
lungstätigkeiten des Autors in der ersten wurde. Daher wurde der Patient auf eine nung, diese hätten einen Beitrag zum Tod
Phase ein Konsens zwischen den Eltern Palliativstation verlegt. ihres Kindes geleistet.
und dem medizinischen Team erreicht Sowohl der Patient als auch seine El- In diesem Zusammenhang ist es wich-
werden. Danach sollte die bereits durch- tern haben nur geringe Deutschkennt- tig zu betonen, dass die Haltung der Eltern
geführte Behandlung nicht erweitert wer- nisse, die für die erforderliche Kommuni- in vielen Ländern [9, 10, 11, 12] – darunter
den. Ferner sollten nicht erforderliche kation mit dem medizinischen Team nicht auch in der Türkei – gängig ist und auf
Maßnahmen beendet und nicht wieder ausreichen. Die Eltern informieren sich traditionellen sittlichen Überzeugungen
begonnen werden. Es sollte jederzeit si- bei dem behandelnden Arzt mittels eines beruht. Es ist üblich, dass die Familienan-
chergestellt sein, dass das Kind weder Dolmetschers aus ihrem Verwandtenkreis gehörigen gegenüber dem behandelnden
Hunger noch Schmerzen oder Angst hat. über die aussichtslose Situation ihres Arzt in einem Gespräch – meistens vor
Ein Tag später verschlechterte sich die Si- Sohnes. Dabei ist auch der Sohn anwe- einer Diagnose – den Wunsch äußern,
tuation des Kindes sehr schnell, und es send. Eine Krankenschwester türkischer den Patienten über eine schlechte Diagno-
verstarb. Der Familie war es möglich, an- Herkunft hört zufällig mit und informiert se nicht zu informieren. Es ist auch nicht
gemessen zu trauern. In einem Nachge- später die Ärzte, dass der Dolmetscher selten, dass der behandelnde Arzt nach
spräch wurden gleichzeitig Erleichterung dem Patienten – wahrscheinlich auf Ver- einer Diagnose zuerst mit den Angehöri-
sowie Dankbarkeit gegenüber dem medi- langen der Eltern – die Information über gen über die weitere medizinische Vorge-
zinischen Team zum Ausdruck gebracht. den zu erwartenden baldigen Tod nicht hensweise diskutiert [13].
Der dargestellte Fall ereignete sich in Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 2008 · 51:857–864
Deutschland. Hier ist die von den Eltern DOI 10.1007/s00103-008-0606-6
© Springer Medizin Verlag 2008
gewünschte Vorgehensweise aus recht-
lichen und ethischen Gründen in der Pra- I. Ilkilic
xis kaum umsetzbar. Diese Sachlage macht
den Fall kompliziert und fordert die Kulturelle Aspekte bei ethischen Entscheidungen am Lebensende
ethische Urteilsfindung in einer wertplu- und interkulturelle Kompetenz
ralen Gesellschaft heraus. Das medizi-
nische Team befindet sich im Dilemma Zusammenfassung
zwischen dem rechtlich bzw. arztethisch Das Ende des menschlichen Lebens ist wie ethischen Konfliktfälle im interkulturellen
erforderlichen Verhalten (Patientenauf- nie zuvor technologisch gestaltbar. Die Arzt-Patienten-Verhältnis in absehbarer
klärung) und dem kulturbedingten Wi- neuen technischen Eingriffsmöglichkeiten Zukunft stetig steigen wird. Der Autor
derspruch der Angehörigen gegen diese bringen zugleich neue ethische Fragen mit dieses Beitrags vertritt die Auffassung, dass
ethische Praxis. Auf der Metaebene stellt sich. Diese Fragen gewinnen eine beson- in der Gesundheitsversorgung rechtzeitig
sich die klassische Frage nach der univer- dere Komplexität, wenn der Pluralismus Maßnahmen entwickelt werden müssen,
salen Gültigkeit und kulturinvarianten der Wertüberzeugungen und -haltungen um den Gesundheitsberufen im Umgang
Anwendbarkeit medizinethischer Prin- zu den konstitutiven Eigenschaften einer mit kulturbedingten ethischen Konflikten
zipien wie dem Respekt vor der Patienten- Gesellschaft gehört. Im vorliegenden Bei- am Lebensende eine Entscheidungsunter-
autonomie bzw. der Selbstbestimmung trag werden 3 reale Fallbeispiele, in der stützung anzubieten. Er sieht die interkul-
des Patienten [14]. Der Verlauf des Falles unterschiedliche kulturell-religiöse Wert- turelle Kompetenz und kultursensible und
zeigt, dass sich die Konfliktparteien über vorstellungen eine maßgebliche Rolle -sensitive Patientenverfügungen als
den ethischen Interessenskonflikt über- spielen, diskutiert. Die Therapiezielände- mögliche Hilfsmittel zur Lösung solcher
haupt nicht ausgetauscht haben und kei- rung am Lebensende, die Weitergabe einer komplexen ethischen Konflikte. Weitere
nen Zugang zueinander gesucht haben. infausten Diagnose und Prognose sowie Empfehlungen werden im Anschluss
Für eine sachliche Auseinandersetzung die Ermittlung des mutmaßlichen Willens konkretisiert.
scheinen die folgenden Fragen von Rele- eines entscheidungsunfähigen Patienten
vanz zu sein: machen die ethischen Kernfragen dieser Schlüsselwörter
F Könnte eine kultursensible Kommu- Fälle aus. Aufgrund der demographischen Lebensende · Kultur · Kommunikation ·
nikation zwischen dem medizi- Entwicklungen in Deutschland ist es ab- Interkulturelle Kompetenz · Patienten-
nischen Team und den Eltern des Pa- sehbar, dass die Anzahl solcher medizin- verfügung
tienten der gegenseitigen
Verständigung dienen und die
Grundlage für einen möglichen Kon- Cultural aspects of ethical decisions at the end of life and cultural
sens schaffen? competence
F Hätte die Frage an die Eltern: „Was
würden Sie sich wünschen, wenn Sie Abstract
an der Stelle Ihres Sohnes gewesen Advances in medical science and technol- argues that concepts and measurements
wären?“ ihre Einstellung verändert? ogy offer new medical interventions at the must be urgently developed in health care
F Ist das medizinische Team bzw. der end of life. These new medical measures systems to help the medical staff in their
professionelle Dolmetscher bei der create new ethical issues, which increase in daily practises. According to him, cultural
zweiten Aufklärung des Patienten complexity in a multicultural society. This competence and cultural sensitive ad-
wirklich kultursensibel mit der Sach- paper discusses three cases, in which cul- vanced directives can be helpful for solving
lage umgegangen? tural value systems play a decisive role. complex ethical problems at the end of life.
F Hätte die Einschaltung eines Vermitt- Change in the goals of therapy, truth telling Other interventions and measurements
lers (Medizinethiker, angesehene Per- of diagnosis and prognosis and presumed were also described for improved end-of-
son im Bekanntenkreis oder Imam will of the patient are the key ethical points life care in multicultural setting.
etc.) den Fallverlauf positiv beein- in these cases. Because of growth in minor-
flusst? ity populations in Germany, it is foreseeable Keywords
that the number of these issues will increase End of life · culture · communication ·
Fall III: Traditionelle Entschei- in the near future. The author of this paper cultural competence · advanced directive
dungshierarchien und stellvertre-
tende Entscheidung am Lebens-
ende
Die Reanimationsbemühungen führten der Familie durchgesetzt hat oder ob ßere Wertstellung besitzt als in der deut-
zu einer gewissen Kreislaufstabilisierung. nach einem familiären Gespräch eine an- schen Gesellschaft?
Es entwickelte sich aber später ein Mittel- dere Entscheidung getroffen worden ist,
hirnsyndrom mit fehlender Spontanat- bleibt eine wichtige Frage zur Bewertung Interkulturelle Kompetenz in
mung und keiner Reaktion auf Reize. des Falles. medizinethischen Konfliktfällen
Dieses Bild veränderte sich auch unter der Es ist für in Deutschland lebende Mus- am Lebensende. Chancen und
Anwendung der üblichen Maßnahmen lime nicht selten, dass sie wichtige Ent- Grenzen
nach 6 Tagen nicht. Der ärztliche Vor- scheidungen in der Familie besprechen
schlag gegenüber der Ehefrau und dem und treffen. Dies betrifft auch Entschei- Die oben diskutierten Fälle geben ein
jüngeren Sohn, die Beatmung des Pati- dungen über wichtige medizinische Inter- Bild über die Komplexität der medizin-
enten aufgrund der Aussichtslosigkeit sei- ventionen [16]. Es ist sicherlich nicht an- ethischen Konfliktfelder am Lebensende.
nes inkurablen Grundleidens zu beenden gemessen, eine familiäre Einflussnahme Hier spielen kulturell-religiöse Wertvor-
und das natürliche Ende abzuwarten, stieß von vornherein als eine klare Verletzung stellungen eine gewisse Rolle. Die Feststel-
auf Verständnis. Zu diesem Zeitpunkt er- der Selbstbestimmung des Patienten zu lung der im Konflikt stehenden ethischen
schien der älteste – auswärts wohnende – verurteilen. Sie kann auch eine Hilfe und Güter und die Klärung der dahinter ste-
Sohn. Er verlangte die Fortsetzung aller Unterstützung für den Betroffenen dar- henden kulturbedingten Wertvorstellun-
therapeutischen lebensverlängernden stellen. Für die Beurteilung sollte in erster gen können für das Behandlungsteam
Maßnahmen. Diese wurde entsprechend Linie die persönliche Einstellung des Pati- im medizinischen Alltag mit enormen
fortgeführt. Drei Tage später erlitt der Pa- enten entscheidend sein. Die Gründe für Schwierigkeiten verbunden sein [19]. Für
tient einen plötzlichen Herzstillstand und den Wunsch nach einer Familienbeteili- die Überwindung solcher Konflikte und
verstarb. Bei der Aufarbeitung des Falles gung am Entscheidungsprozess sind sehr das Erreichen ethisch vertretbarer Lö-
stellte sich heraus, dass zwar die Labor- vielschichtig [17]. So kann eine von Tradi- sungen kann eine interkulturelle Kompe-
werte exakt eingetragen worden waren, tion geprägte familiäre Autoritätsstruktur tenz einen gewissen Beitrag leisten [20, 21,
aber jede Dokumentation zu den Ge- Anlass für die Akzeptanz einer Entschei- 22, 23, 24]. Unter interkultureller Kompe-
sprächen mit den Angehörigen oder zu dung sein oder aber auch die Überzeu- tenz in medizinethischen Konfliktfällen
Wünschen des Patienten fehlten [15]. gungskraft der familiären Argumente für verstehe ich die Fähigkeit zur Feststellung
oder gegen eine medizinische Interventi- und Analyse der im interkulturellen Kon-
Konfliktsituation. Im obigen Fall gibt es on. Ein weiterer Grund für die Zustim- flikt stehenden Güter sowie ihre Integrati-
innerhalb der Familie einen Dissens in mung zur Entscheidung der Familie kann on in die medizinethische Entscheidungs-
Bezug auf die Entscheidungen über inten- das volle Vertrauen in diese sein. Dies findung.
sivmedizinische Maßnahmen am Lebens- kommt in der Vorstellung zum Ausdruck, Die Feststellung eines kulturbedingten
ende des Patienten. Solche Konflikte trifft die eigene Familie könne einem nichts Interessens- und Entscheidungskonflikts
man auch bei deutschen Familien an, d. h., Schlechtes wünschen. In einem transkul- bedarf zunächst einer gelungenen Kom-
sie sind nicht kulturspezifisch. Was diesen turellen Arzt-Patienten-Verhältnis sollten munikation. Diese Kommunikation er-
Fall aber exzeptionell macht, ist die all diese Optionen im Bewertungsprozess schöpft sich nicht nur in der erforder-
Durchsetzungskraft des ältesten Sohnes. mitberücksichtigt werden. Die oben dar- lichen sprachlichen Verständigung, son-
Sie resultiert aus der traditionell geprägten gestellte Argumentationslage lässt sich dern muss auch in der Lage sein, kulturelle
hierarchischen Struktur in der türkischen jedoch nicht auf unseren Fall übertragen. Barrieren zu überwinden [25]. Die obigen
Familie [10, 12]. Für das medizinische Denn es ist hier kaum noch möglich, die Ausführungen haben gezeigt, dass alle
Team war daher nicht zu erkennen, wel- Einstellung des Patienten zur familiären dargestellten Fälle Kommunikationslü-
che Entscheidung dem mutmaßlichen Entscheidung festzustellen. cken und -schwierigkeiten unterschied-
Willen des nicht entscheidungsfähigen Aus der Perspektive der interkultu- licher Qualität beinhalteten, die wiederum
Patienten entsprochen hätte. rellen Ethik ist der Umgang mit traditio- eine ethisch angemessene Entscheidungs-
Die zentrale Frage: „Wie würde der nell sittlichen Entscheidungsformen in findung enorm erschwerten. Es ist auch
Patient in einer solchen Situation ent- einer wertpluralen Gesellschaft ein kom- an dieser Stelle hervorzuheben, dass der
scheiden?“ scheint kaum eine Rolle für plexes Problem. Der oben dargestellte Zeitfaktor und andere organisatorische
die Entscheidung der Familie zu spielen. Entscheidungsablauf dient keineswegs der Schwierigkeiten (z. B. Erreichbarkeit eines
Vielleicht wurde dieses Anliegen in Ge- Ermittlung des mutmaßlichen Patienten- für die Medizin professionell ausgebil-
sprächen zwischen dem medizinischen willens [18]. Wie soll die familiäre Ent- deten Dolmetschers) im medizinischen
Team und den Familienangehörigen scheidung mit ihren traditionellen hierar- Alltag fast immer ein Hindernis für eine
auch nicht thematisiert. Erwartungsge- chischen Strukturen in einer wertpluralen gelungene Kommunikation sind [26].
mäß müsste die Ehefrau mehr über die Gesellschaft ethisch beurteilt werden? Eine erfolgreiche Analysephase kann
Wertvorstellungen und Wünsche ihres Darf eine familiäre Entscheidung über- nur auf einer gelungenen Kommunikati-
Ehemannes wissen als der auswärts woh- haupt die Ermittlung des mutmaßlichen on basieren. In dieser Phase sollen das
nende ältere Sohn. Ob der Sohn sich al- Willens des Patienten ersetzen, weil die Verhältnis zwischen Entscheidung bzw.
lein aufgrund seiner Stellung innerhalb Familie in der jeweiligen Kultur eine grö- Haltung des Patienten und die dieser
Ein weiterer wichtiger Punkt im inter- sible und kultursensitive Patientenverfü- tursensible und -sensitive Patientenverfü-
kulturellen Setting ist das Verhältnis zwi- gung. gung alle für eine bestimmte Bevölke-
schen Religiosität und möglichen Ent- rungsgruppe relevanten kultur- und reli-
scheidungen über medizinische Maßnah- Kultursensible und kultursensitive gionsspezifischen Entscheidungsoptionen
men. So kann einem einzelnen religiösen Patientenverfügungen in einer umfassen sollte.
Muslim keineswegs eine bestimmte Ent- wertpluralen Gesellschaft. Die Patientenverfügung wird in Fach-
scheidungsoption und Haltung zuge- Chancen und Grenzen diskussionen als ein probates Mittel gese-
schrieben werden, nur weil diese von hen, um den mutmaßlichen Patientenwil-
einem anderen Muslim in einem ver- Aus der Analyse der realen Konflikte und len in einer Entscheidungssituation vor-
gleichbaren medizinischen Kontext ge- demographischen Veränderungen kön- rangig zu behandeln. Sie betont somit den
troffen bzw. eingenommen wurde. Im nen gute Argumente für die Entwicklung Wert der Selbstbestimmung des Individu-
Fall I könnte man aus der christlichen Per- und Anwendung einer kultursensibel und ums. Eine berechtigte Frage ist jedoch,
spektive mit der Unverfügbarkeit des Le- kultursensitiv aufbereiteten Patientenver- inwiefern die erfolgreiche Anwendung
bens argumentieren und auf die medizi- fügung abgeleitet werden. Eine solche Pa- einer Patientenverfügung vom kulturim-
nischen Maßnahmen am Lebensende tientenverfügung und damit verbundene manenten Stellenwert der Selbstbestim-
verzichten. Auch wenn diese Argumenta- Leitlinien können für ethisch angemes- mung beeinflusst wird [41, 42]. Anders
tion und Haltung durchaus auch aus mus- sene Entscheidungsfindungen eine Hilfe gefragt: Wird die Patientenverfügung in
limischer Perspektive nachvollziehbar ist, bieten [40]. nicht individualistisch geprägten Gesell-
vertreten die muslimischen Eltern hier Unter einer kultursensiblen und kul- schaften weniger erfolgreich sein?
eine Gegenposition. Sie stützen sich dabei tursensitiven Patientenverfügung verstehe Für die Umsetzung einer kultursensib-
auf die Glaubensüberzeugung, dass das ich eine Patientenverfügung, die in der len und kultursensitiven Patientenverfü-
menschliche Leben als Gottesgabe anzu- Lage ist, kulturspezifische Wertvorstellun- gung für muslimische Patienten in
sehen ist, das mit allen zur Verfügung ste- gen und Wünsche am Lebensende ver- Deutschland sprechen mindestens 2 gute
henden Maßnahmen zu bewahren und ständlich, deutlich und in anwendbarer Argumente: Erstens kann eine solche Pa-
ggf. zu verlängern sei. Auch dies ist nach Form auszudrücken. Mit dem Begriff tientenverfügung u. a. kulturspezifische
islamischem Glauben vertretbar. Wie „kultursensibel“ meine ich eine Offenheit Wünsche in Bezug auf die Sterbebeglei-
dieses Beispiel zeigt, darf eine bestimmte für die Wünsche und Entscheidungen des tung und auch Informationen über kultu-
Glaubensüberzeugung nicht automatisch Patienten, die auf seine kulturell-religiöse relle Einstellungen zum Tod und Sterben
mit einer bestimmten Form der Entschei- Wertvorstellungen zurückzuführen sind. vermitteln. Hierin unterscheidet sie sich
dung über bzw. mit einer bestimmten „Kultursensitiv“ bedeutet, eine Differen- in ihrer Funktion sicherlich von einer
Haltung gegenüber medizinischen Maß- zierungsfähigkeit, die solche Wünsche konventionellen Patientenverfügung. In
nahmen gleichgesetzt werden. und Entscheidungen in einer kategorisier- ihr können für den Betroffenen wichtige
Sowohl die individuellen Formen von ten Form vermittelt. Diese Wünsche soll- religiöse Rituale oder andere Maßnahmen
Religiosität innerhalb einer Bevölkerungs- ten sehr klar formuliert werden, damit das konkretisiert werden, die nicht unbedingt
gruppe als auch differierende Implikati- Behandlungsteam daraus im aktuellen mit Therapieentscheidungen im Zusam-
onen des Glaubens für Entscheidungen Fall konkrete Entscheidungen und Hand- menhang stehen und daher in konventio-
über medizinische Maßnahmen unter- lungen ableiten kann. nellen Patientenverfügungen nicht aufge-
streichen die Schlüsselfunktion der inter- Ein Informationsblatt, das dieser Pati- griffen werden.
kulturellen Kompetenz [26, 37]. Sie stellen entenverfügung beigefügt ist und die Aus- Der zweite Vorteil kultursensibler und
Ärzte und das Pflegepersonal aber vor die gangspunkte und Begründungen für die kultursensitiver Patientenverfügungen
schwierige Aufgabe, inmitten ihres hek- möglichen kulturspezifischen Entschei- liegt darin, dass sie die religiös-kulturelle
tischen Arbeitsalltags kulturell geprägte dungsformen beinhaltet, würde ihren Heterogenität veranschaulichen. Wie
Besonderheiten und die damit einherge- Nutzen für die Praxis verbessern. Dadurch oben ausführlich diskutiert, praktizieren
henden Haltungen ihrer Patienten indivi- kann das medizinische Team den Sinn Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft
duell einschätzen zu müssen. Die Situati- und die Zusammenhänge zwischen den unterschiedliche Formen der Religiosität,
on wird umso schwieriger, wenn die kulturell-religiösen Wertvorstellungen die u. a. wiederum mit unterschiedlichen
Kommunikation mit einem Patienten am und den konkreten Wünschen des Pati- Präferenzen am Lebensende verbunden
Lebensende auf ein Minimum beschränkt enten besser nachvollziehen und in der sein können. Eine Patientenverfügung
oder gar unmöglich ist. Hier kann eine konkreten Situation berücksichtigen. Die kann diese unterschiedlichen Präferenzen
Patientenverfügung bei der Präzisierung Aufbereitung einer solchen Patientenver- präzisieren. Zudem kann die Bedeutung
des mutmaßlichen Patientenwillens eine fügung könnte durch eine interdisziplinär der Familie für den Entscheidungsprozess
wichtige Hilfe sein. Nachfolgend geht es besetzte Arbeitsgruppe (Ärzte, Juristen, konkretisiert und ihre Einflussnahme –
um eine zusätzliche Fragestellung des Ethiker, zuständige Theologen und Kran- abhängig von mutmaßlichen Willen des
Umgangs mit dem Lebensende, für die kenseelsorger) unter Mitwirkung der zu- Patienten – ausgeschlossen oder zugelas-
ebenfalls kultursensitive Gesichtspunkte ständigen religiösen Gemeinden geleistet sen werden. Auch kann beispielsweise die
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