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Kobbe
m m Die Medizin
ignoriert die Lustfunktion
Gerade das Schweigen über sexuelle Bedürfnisse in Ver- von Sexualität^
bindung mit der - meist unausgesprochenen - Unter-
drückung gelebter Sexualität ist in der Psychiatrie ein
Paradoxon, wenn man bedenkt, daß es meist beziehungs-
gestörte Menschen sind, die stationär aufgenommen
werden, und daß intime oder sexuelle Beziehungen ein
wesentlicher Aspekt des gesunden oder sogenannten Beim Gespräch über Sexualität mit Patienten wie mit
normalen Verhältnisses zu dem anderen oder zu mir Mitarbeitern in der Psychiatrie kann es u.a. dazu kom-
selbst sind. Denn in welcher Form existiert Sexualität im men, daß deren Religiosität einer derart offenen The-
psychiatrischen Krankenhaus? Im allgemeinen doch nur matisierung dieses intimen Lebensbereiches Widerstand
als Anekdote, als Witz - selbstverständlich auch als aka- leistet. Solcherlei Bedenken sind zwar ernst zu nehmen
demisches Fortbildungsthema. Immerhin ist bemerkens- und zu berücksichtigen, andererseits aber ist Sexualität
wert, daß die Institution Psychiatrie wie auch ihre Mit- ein Lebensbereich, der alle Menschen betrifft, der nicht
arbeiter einen inneren Widerstand gegen die sexuelle nur einfach der Reproduktion dient, sondern auch Lust,
Selbständigkeit von Patienten entfalten, obwohl das Ziel Freude und Vergnügen wie Zufriedenheit und Befriedi-
gung bereitet. Wer versucht, sexuelle Aktivitäten auf die böden oder das Gebüsch im Klinikpark aufsuchen. In
Ehe, auf die Zeugung von Kindern zu reduzieren, leistet welcher Klinik ist schon ein ungestörter Aufenthält des
einen ähnlichen Verdrängungsprozeß wie mancher Besuchers auf dem Zimmer des Patienten möglich'? Es
Psychiatriepatient, der sich in Behandlung befindet. gibt Institutionen, die ein sogenanntes Kontakt- oder
Es wäre verhängnisvoll, sich auf diese Selbstzejisur, Pettingzimmer eingerichtet haben. Auch diese (Schein)-
eine derartige (moralische) Schere im Kopf einzulassen, Lösung ist unwürdig und beschämend. Zumindest kann
und es ist sicher weiterführender, das sachliche - nicht ich mir die Situation nur schwer vorstellen, als Patient
empörte - Gespräch mit dem anderen zu suchen. Eines beim Stationspfleger den Schlüssel zu diesem Zimmer
läßt sich hierzu mit Sicherheit sagen: Vorurteile kann abzuholen. Letztlich ist es eine Art »Double-bind«, eine
man durch Aufklärung nicht abschaffen. Sie werden Zeit Beziehungsfalle, wenn einerseits mit einem hausinternen
und Geduld benötigen, um auch und gerade im Bereich Ordnungs^tmd Normsystem ein sozusagen sauberes ste-
von gelebter Sexualität auf die Fixierungen und vorur- riles Leben vom Patienten erwartet und andererseits von
teilsbelasteten Überzeugungen des anderen einzugehen. ihm aus therapeutischer Sicht die Normalisierung seiner
»Um sie im Ernst zu verändern, würde daher nicht ge- zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen ange-
nügen, sie zu belehren, ihnen andere Überzeugungen strebt wird.
beizubringen, es müßte bei ihnen durch langwierige Pro- So ist in bezug auf die normativen Erwartungen der
zesse erst einmal die Fähigkeit gebildet und wiederher- Klinikmitarbeiter auch das Lesen pornografischer Lite-
gestellt werden, ein spontanes und lebendiges Verhältnis ratur zunächst als harmloses Ventil der Bedürfnisse des
zu Menschen und Dingen zu gewinnen« (Richter, deprivierten Patienten anzusehen. Wem schadet es, wenn
1981). Menschen Befriedigung in der Masturbation oder in der
Nun können sich sexuelle Bedürfnisse sowohl auf die Pornografie finden? Für geriatrische Patienten schreibt
eigene Person wie auch auf einen Partner oder eine Part- z.B. der praktische Arzt Klaus Franke: »Ihnen diese
nerin beziehen. Gerade psychiatrische Patienten sind so- Form der sexuellen Befriedigung ersatzlos zu streichen,
wohl aufgrund ihrer Erkrankung wie auch wegen ihres ist destruktiv.« Wir sollten psychiatrischen Patienten
Aufenthalts im Krankenhaus auf sich selbst verwiesen. »ihr Recht auf Selbstbefriedigung zugestehen und dies
Mit ihnen muß darüber gesprochen werden, daß Selbst- ggf. deutlich zu erkennen geben. Hiermit verbundene
befriedigung etwas ganz Normales, vollkommen Unge- Sexualphantasien sind weder sündhaft noch unnatür-
fährliches ist und daß das Bedürfnis zur Masturbation lich, sondern Bestandteil jedes normalen Sexuallebens.
gerade in der Klinik größer ist als zu Hause. Im Gegen- Sie sollten weiterhin darüber informiert sein, daß das
teil, »bei psychischen Störungen wie auch extremer schi- Ausmaß der Phantasietätigkeit zunimmt, wenn die Mög-
zoider Persönlichkeit oder gar Psychose mögen psychi- lichkeiten der konkreten Realisierung des Sexualkon-
sche Behinderungen die Kontaktaufnahme zu einem taktes eingeschränkt werden. Dies betrifft ja insbeson-
Partner unmöglich machen«, sagt Hans Molinski und dere die völlig Alleinstehenden und Isolierten. Zu wenig
führt weiter aus: »In derartigen Situationen dürfte ist bekannt, welche entscheidende Rolle Phantasien für
Selbstbefriedigung unausweichlich und notwendig, ja die eigene Lebensbewältigung spielen. Diese können sich
psychologisch nützlich sein. Dabei ist es besonders nütz- ja sehr wohl mit rein sexuellen Wünschen in Gegenwart
lich, wenn der Behinderte es lernen kann, Befriedigung und Vergangenheit beschäftigen. Wichtig bleibt hierbei
nicht nur durch direkte genitale Masturbation zu errei- jedoch, daß die Betreffenden - und damit auch wir - sich
chen, sondern dadurch, daß er es lernt, der Eigenwahr- über den Unterschied von Phantasie und Wirklichkeit im
nehmung seiner normalen körperlichen und muskulären klaren sind.«
Funktionen seine Aufmerksamkeit liebevoll zuwenden Andererseits sollte Mitarbeitern in der Psychiatrie
zu können.« auch die andere Facette der Pornografie bewußt sein,
damit sie bei bestimmten Patienten darauf achten kön-
nen: Pornografie ist gegen gefühlsbezogene Vertrautheit
und innige Gefühlsbeziehungen, sie ist gegen den ästhe-
ie Medizin tischen Bestandteil der Erotik. Pornografie verschafft
eine Scheinbefriedigung, die den isolierten Patienten den
begreift Sexualität am ehesten Weg zum anderen sicher erschwert und eventuell sogar
als Krankheit, droht, die Möglichkeit der direkten Lust vollends zu
amputieren.
Abnormität, Perversion Selbstbefriedigung wie erotische Phantasien oder
und Kriminalität^^ Pornografie sind für sich genommen gesellschaftlich si-
cher nichts Besonderes, nichts Auffälliges, doch können
sie in Anwesenheit anderer indiskret sein oder als äußerst
störend empfunden werden. Dies muß mit Patienten, die
kein Einbettzimmer haben, besprochen werden. Ebenso
müssen Mitarbeiter darauf achten, vor dem Eintritt in
Ich gehe davon aus, daß sexuelle Deprivation keineswegs ein Zimmer anzuklopfen und auf eine Antwort zu war-
wünschenswert oder gar gesund sein kann. Doch wo und ten, schon allein um zu vermeiden, sich in peinliche Si-
wie kann ein erkrankter Patient mit seinem ihn besu- tuationen zu bringen. Andererseits ist verständlich, wenn
chenden Partner zärtlich oder intim sein? Klassisch ken- Stationsschwestern oder -pfleger die »Entdeckung« se-
nen psychiatrische Einrichtungen hierfür überhaupt kei- xuellen Verhaltens als »Vorfall« oder »Zwischenfall« be-
ne Möglichkeit. Die Patienten müssen daher in ihrer Not zeichnen und in der Situation mit Ärger reagieren. Dies
so entwürdigende Orte wie Toilette, Kellergänge, Dach- ist vielleicht in bezug auf ihre Wahrnehmung insofern
verständlich und korrekt, als sie die Beobachtung dieses
intimen Verhaltens als einen Angriff auf ihre Autorität, 46 Die Medizin wt
als eine Infragestellung empfinden. Dennoch sollten Anpassung Beseitigung^
Mitarbeiter auf Entkleiden oder öffentliche Selbstbefrie-
digung erregter oder regressiver Patienten entschlossen Emanzipation
handeln und es wie jedes andere extreme Verhalten be-
handeln, d.h. den Betreffenden aus der Öffentlichkeit der
Klinik oder der Station aufsein Zimmer bringen, ihm die
Möglichkeit zum verbalen Ausdruck seiner Gefühle und
;:
Bedürfnisse geben und ihn notfalls beruhigen.