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U.

Kobbe

Auf psychiatrischen Stationen


ein Fremdwort?
Die Sexualität psychiatrischer Patientinnen und Patien- der Behandlung doch größtmögliche psychische Selb-
ten wird verschwiegen, tabuisiert; sie findet einfach nicht ständigkeit ist. Zu dieser Ich-Autonomie gehören ganz
statt. Als Beispiel dafür mag die Absage eines Analyti- wesentlich der selbstbewußte Umgang mit den eigenen
kers dienen, der mir seinen Buchartikel zur »Sexualität Trieben und Impulsen, die Sigmund Freud als die Grund-
hinter verschlossenen Türen« nicht übersenden konnte, triebe Sexualität und Aggression definierte, die Konrad
weil der Leiter der Klinik, in der er seine Beobachtungen Lorenz als Sexualität, Hunger, Angst, Aggression und
gemacht hatte, ihn das Manuskript zurückziehen ließ, Sozial- und Gruppeninstinkt auflistet und Abraham
ihm sozusagen Redeverbot auferlegte. Ebensowenig wa- Maslow in der Hierarchie von Sicherheit, Liebe, Aner-
ren die angeschriebenen Weiterbildungsstätten für Fach- kennung und Selbstverwirklichung beschreibt.
krankenpflege in der Psychiatrie in der Lage, praxisnahe Doch wer von den Kollegen in der Psychiatrie fühlt
oder überhaupt Literatur zum Thema »Sexualität in der sich berufen und befähigt, mit den Patienten über deren
Unterbringung« nachzuweisen. Sexualität zu sprechen? Wer ist bereit, diesbezüglich über
Volkmar Sigusch hat 1970 Thesen zur kritischen Re- sich selbst erst einmal nachzudenken, um dann auf der
flexion des Verhältnisses von Medizin und Sexualität Station beispielsweise Sexualaufklärung zu betreiben
formuliert. Sie dienen mir als Gliederung meiner kriti- oder über Empfängnisverhütung zu sprechen? Aufklä-
schen Ausführungen. rung sowohl der eigenen Kollegen wie auch der Patienten
ist zweifellos erforderlich, und hier verbleibt dem, der
sich diesem Problemthema stellt, nur der Weg über kon-
krete Information. Daß Sexualaufklärung ein Thema bei
psychiatrisierten Patienten ist, auch bei solchen, die be-
mm Die Medizingeschichte reits Sexualerfahrung haben oder selbst Eltern sind, be-
ist zugleich eine Geschichte legt ganz eindeutig auch die Studie der Amerikanerin
Virginia Abernethy (1974).
des Kampfes
gegen Sexualität^

m m Die Medizin
ignoriert die Lustfunktion
Gerade das Schweigen über sexuelle Bedürfnisse in Ver- von Sexualität^
bindung mit der - meist unausgesprochenen - Unter-
drückung gelebter Sexualität ist in der Psychiatrie ein
Paradoxon, wenn man bedenkt, daß es meist beziehungs-
gestörte Menschen sind, die stationär aufgenommen
werden, und daß intime oder sexuelle Beziehungen ein
wesentlicher Aspekt des gesunden oder sogenannten Beim Gespräch über Sexualität mit Patienten wie mit
normalen Verhältnisses zu dem anderen oder zu mir Mitarbeitern in der Psychiatrie kann es u.a. dazu kom-
selbst sind. Denn in welcher Form existiert Sexualität im men, daß deren Religiosität einer derart offenen The-
psychiatrischen Krankenhaus? Im allgemeinen doch nur matisierung dieses intimen Lebensbereiches Widerstand
als Anekdote, als Witz - selbstverständlich auch als aka- leistet. Solcherlei Bedenken sind zwar ernst zu nehmen
demisches Fortbildungsthema. Immerhin ist bemerkens- und zu berücksichtigen, andererseits aber ist Sexualität
wert, daß die Institution Psychiatrie wie auch ihre Mit- ein Lebensbereich, der alle Menschen betrifft, der nicht
arbeiter einen inneren Widerstand gegen die sexuelle nur einfach der Reproduktion dient, sondern auch Lust,
Selbständigkeit von Patienten entfalten, obwohl das Ziel Freude und Vergnügen wie Zufriedenheit und Befriedi-
gung bereitet. Wer versucht, sexuelle Aktivitäten auf die böden oder das Gebüsch im Klinikpark aufsuchen. In
Ehe, auf die Zeugung von Kindern zu reduzieren, leistet welcher Klinik ist schon ein ungestörter Aufenthält des
einen ähnlichen Verdrängungsprozeß wie mancher Besuchers auf dem Zimmer des Patienten möglich'? Es
Psychiatriepatient, der sich in Behandlung befindet. gibt Institutionen, die ein sogenanntes Kontakt- oder
Es wäre verhängnisvoll, sich auf diese Selbstzejisur, Pettingzimmer eingerichtet haben. Auch diese (Schein)-
eine derartige (moralische) Schere im Kopf einzulassen, Lösung ist unwürdig und beschämend. Zumindest kann
und es ist sicher weiterführender, das sachliche - nicht ich mir die Situation nur schwer vorstellen, als Patient
empörte - Gespräch mit dem anderen zu suchen. Eines beim Stationspfleger den Schlüssel zu diesem Zimmer
läßt sich hierzu mit Sicherheit sagen: Vorurteile kann abzuholen. Letztlich ist es eine Art »Double-bind«, eine
man durch Aufklärung nicht abschaffen. Sie werden Zeit Beziehungsfalle, wenn einerseits mit einem hausinternen
und Geduld benötigen, um auch und gerade im Bereich Ordnungs^tmd Normsystem ein sozusagen sauberes ste-
von gelebter Sexualität auf die Fixierungen und vorur- riles Leben vom Patienten erwartet und andererseits von
teilsbelasteten Überzeugungen des anderen einzugehen. ihm aus therapeutischer Sicht die Normalisierung seiner
»Um sie im Ernst zu verändern, würde daher nicht ge- zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen ange-
nügen, sie zu belehren, ihnen andere Überzeugungen strebt wird.
beizubringen, es müßte bei ihnen durch langwierige Pro- So ist in bezug auf die normativen Erwartungen der
zesse erst einmal die Fähigkeit gebildet und wiederher- Klinikmitarbeiter auch das Lesen pornografischer Lite-
gestellt werden, ein spontanes und lebendiges Verhältnis ratur zunächst als harmloses Ventil der Bedürfnisse des
zu Menschen und Dingen zu gewinnen« (Richter, deprivierten Patienten anzusehen. Wem schadet es, wenn
1981). Menschen Befriedigung in der Masturbation oder in der
Nun können sich sexuelle Bedürfnisse sowohl auf die Pornografie finden? Für geriatrische Patienten schreibt
eigene Person wie auch auf einen Partner oder eine Part- z.B. der praktische Arzt Klaus Franke: »Ihnen diese
nerin beziehen. Gerade psychiatrische Patienten sind so- Form der sexuellen Befriedigung ersatzlos zu streichen,
wohl aufgrund ihrer Erkrankung wie auch wegen ihres ist destruktiv.« Wir sollten psychiatrischen Patienten
Aufenthalts im Krankenhaus auf sich selbst verwiesen. »ihr Recht auf Selbstbefriedigung zugestehen und dies
Mit ihnen muß darüber gesprochen werden, daß Selbst- ggf. deutlich zu erkennen geben. Hiermit verbundene
befriedigung etwas ganz Normales, vollkommen Unge- Sexualphantasien sind weder sündhaft noch unnatür-
fährliches ist und daß das Bedürfnis zur Masturbation lich, sondern Bestandteil jedes normalen Sexuallebens.
gerade in der Klinik größer ist als zu Hause. Im Gegen- Sie sollten weiterhin darüber informiert sein, daß das
teil, »bei psychischen Störungen wie auch extremer schi- Ausmaß der Phantasietätigkeit zunimmt, wenn die Mög-
zoider Persönlichkeit oder gar Psychose mögen psychi- lichkeiten der konkreten Realisierung des Sexualkon-
sche Behinderungen die Kontaktaufnahme zu einem taktes eingeschränkt werden. Dies betrifft ja insbeson-
Partner unmöglich machen«, sagt Hans Molinski und dere die völlig Alleinstehenden und Isolierten. Zu wenig
führt weiter aus: »In derartigen Situationen dürfte ist bekannt, welche entscheidende Rolle Phantasien für
Selbstbefriedigung unausweichlich und notwendig, ja die eigene Lebensbewältigung spielen. Diese können sich
psychologisch nützlich sein. Dabei ist es besonders nütz- ja sehr wohl mit rein sexuellen Wünschen in Gegenwart
lich, wenn der Behinderte es lernen kann, Befriedigung und Vergangenheit beschäftigen. Wichtig bleibt hierbei
nicht nur durch direkte genitale Masturbation zu errei- jedoch, daß die Betreffenden - und damit auch wir - sich
chen, sondern dadurch, daß er es lernt, der Eigenwahr- über den Unterschied von Phantasie und Wirklichkeit im
nehmung seiner normalen körperlichen und muskulären klaren sind.«
Funktionen seine Aufmerksamkeit liebevoll zuwenden Andererseits sollte Mitarbeitern in der Psychiatrie
zu können.« auch die andere Facette der Pornografie bewußt sein,
damit sie bei bestimmten Patienten darauf achten kön-
nen: Pornografie ist gegen gefühlsbezogene Vertrautheit
und innige Gefühlsbeziehungen, sie ist gegen den ästhe-
ie Medizin tischen Bestandteil der Erotik. Pornografie verschafft
eine Scheinbefriedigung, die den isolierten Patienten den
begreift Sexualität am ehesten Weg zum anderen sicher erschwert und eventuell sogar
als Krankheit, droht, die Möglichkeit der direkten Lust vollends zu
amputieren.
Abnormität, Perversion Selbstbefriedigung wie erotische Phantasien oder
und Kriminalität^^ Pornografie sind für sich genommen gesellschaftlich si-
cher nichts Besonderes, nichts Auffälliges, doch können
sie in Anwesenheit anderer indiskret sein oder als äußerst
störend empfunden werden. Dies muß mit Patienten, die
kein Einbettzimmer haben, besprochen werden. Ebenso
müssen Mitarbeiter darauf achten, vor dem Eintritt in
Ich gehe davon aus, daß sexuelle Deprivation keineswegs ein Zimmer anzuklopfen und auf eine Antwort zu war-
wünschenswert oder gar gesund sein kann. Doch wo und ten, schon allein um zu vermeiden, sich in peinliche Si-
wie kann ein erkrankter Patient mit seinem ihn besu- tuationen zu bringen. Andererseits ist verständlich, wenn
chenden Partner zärtlich oder intim sein? Klassisch ken- Stationsschwestern oder -pfleger die »Entdeckung« se-
nen psychiatrische Einrichtungen hierfür überhaupt kei- xuellen Verhaltens als »Vorfall« oder »Zwischenfall« be-
ne Möglichkeit. Die Patienten müssen daher in ihrer Not zeichnen und in der Situation mit Ärger reagieren. Dies
so entwürdigende Orte wie Toilette, Kellergänge, Dach- ist vielleicht in bezug auf ihre Wahrnehmung insofern
verständlich und korrekt, als sie die Beobachtung dieses
intimen Verhaltens als einen Angriff auf ihre Autorität, 46 Die Medizin wt
als eine Infragestellung empfinden. Dennoch sollten Anpassung Beseitigung^
Mitarbeiter auf Entkleiden oder öffentliche Selbstbefrie-
digung erregter oder regressiver Patienten entschlossen Emanzipation
handeln und es wie jedes andere extreme Verhalten be-
handeln, d.h. den Betreffenden aus der Öffentlichkeit der
Klinik oder der Station aufsein Zimmer bringen, ihm die
Möglichkeit zum verbalen Ausdruck seiner Gefühle und
;:
Bedürfnisse geben und ihn notfalls beruhigen.

und Pfleger auf fast allen Stationen gemeinsam tätig.


w die Medizin Wenn früher die Krankenschwester mit Haube
hat »gesunde« Sexualität und Tracht in ihrer Schwesternrolle akzeptiert und als
Frau kaum wahrgenommen wurde, Ordensschwestern
vor allem eine erst recht als asexuelle Wesen erschienen, so treffen die
reproduktive Patienten heute auf Schwestern, die in ihrer Rolle als
Frau erkennbar sind und häufig auch nicht mehr mit
-- »Schwester« angesprochen werden. Für weibliche Pa-
tienten bietet dies Identifikationshilfen, für männliche
die Möglichkeit zu klarer Abgrenzung der eigenen von
der gegengeschlechtlichen Rolle. Zugleich ergeben sich
Wenn Sexualität im Krankenhaus auch kein Thema ist, jedoch auch Situationen, in denen attraktive Schwestern
so gab und gibt es in der Psychiatrie doch eine Ära der oder Ärztinnen von Patienten als Intimpartner weiter-
Geschlechtermischung auf den Stationen - dies ist aller- phantasiert werden, also eine erotische Gefühlsübertra-
dings nur unter Gesichtspunkten der Milieugestaltung, gung erfolgt. Diese und ähnliche Probleme können eben-
nicht des intimen Zusammenseins von männlichen und so männlichen Therapeuten begegnen, wenn sich ihnen
weiblichen Patienten wegen. In der Tat sind die Ängste gegenüber eine Patientin z. B. plötzlich entblößt.
z. B. von psychotischen Patienten vor einer erotischen Abgesehen von einer Supervision oder zumindest
Partnerbeziehung meist stärker als die Triebdynamik, Selbstreflexion dieser Situationen im Stationsteam las-
sofern diese nicht bereits neuroleptisch gedämpft wurde. sen sich derartige erotisch getönte Patient-Therapeut-
Darüber hinaus reguliert auch die Stationsgemeinschaft Beziehungen bereits im Vorfeld durch eindeutiges Ver-
das Zusammenleben der Patienten, so daß Ängste und halten und Berücksichtigung therapeutischer Distanz
Befürchtungen meist (nur) Projektionen von Befürch- verhindern. Symptomatisch für die institutionelle Be-
tungen der Mitarbeiter oder der Patienten darstellen. wältigung dieser zwischenmenschlichen Beziehungen ist,
Dennoch erscheint es sinnvoll und erforderlich, mit den daß entweder die strenge Trennung oder im Gegenteil die
Patienten einer Station oder mit einzelnen über deren Konfusion der Rollen der involvierten Mitarbeiter und
Sexualität oder Intimkontakte zu sprechen, hierbei al- Patienten stattfindet. In der Tat ist der Einbruch nur
lerdings zu beachten, daß das eigene Rollenverständnis schwer verständlicher Gefühle in das therapeutische Feld
von Mann und Frau, die eigene Sexualmoral, die Auf- eine der Hauptschwierigkeiten moderner psychiatrischer
fassung von Freiheit und Verantwortung keineswegs für Institutionen. Der Konflikt des Patienten überträgt sich
den oder die betreffenden Patienten zutreffen muß. An- häufig auf die Stationsmitarbeiter, mitunter auf das
dererseits gibt es schichtspezifische sexuelle Praktiken Krankenhaus selbst, zumal »moderne« Bewegungen in-
und mehr oder weniger rigides Sexualverhalten, so daß es nerhalb der Psychotherapie die sexuell abstinenten Ver-
erforderlich ist, sich im Gespräch mit dem Patienten auf haltensmuster der traditionellen Psychiatrie in Frage
dessen Vorbildung. Herkunft und auch auf das Milieu stellen.
einzustellen, das ihm entspricht. Weiterhin scheint es Zur Frage, wem denn in der Klinik Sexualkontakte
sinnvoll, auch für sich selbst zu klären, ob und inwieweit angesichts des einerseits therapeutischen und anderer-
es unterschiedliche männliche und weibliche Moral- seits moralischen Auftrags der Gesellschaft gestattet
strukturen, geschlechtsspezifische emotionale und damit werden dürfen bzw. müssen, definieren S. Akhtar et ai,
auch sexuelle Selbst- und Fremdbilder gibt, auf die ent- daß jede sexuelle Aktivität zwischen psychiatrischen Pa-
sprechend differenziert eingegangen werden muß. tienten verhindert werden sollte, wenn einer (oder beide)
In einem oder mehreren Gesprächen dieser Art soll- der Partner
ten Mitarbeiter einer Station überlegen und besprechen, * minderjährig.
ob und wie der einzelne für empfängnisverhütende Maß- * unmündiger Erwachsener,
nahmen sorgt. Zwei Dinge erscheinen mir hierbei beach- * minderbegabt,
tenswert. Zumeinen: Wer verhütet, der Mann oder-wie * wahnhaft oder in anderer Weise im Affekt oder
immer - die Frau? Zum anderen: Betreibt der konsul- Verhalten beeinträchtigt sind,
tierende Frauenarzt eine Zweiklassengynäkologie, in- ® erhebliche Mengen an Psychopharmaka erhalten
dem er psychiatrischen Patientinnen die Dreimonats- oder
spritze verabreicht, anderen Frauen jedoch die Spirale * im klassischen Sinne agieren (»Acting out«).
empfiehlt oder die Pille'.' Die Beeinflussung sexueller Funktionen durch Psycho-
Mit der Geschlechtermischung sind auch Schwestern pharmaka ist allgemein bekannt, und es fällt in die Köm-
44 Sexualforschung ist wird, so existiert kein einheitlicher Wissensstamm dar-
über, in welchem Ausmaß oder unter welchen Umstän-
im Bereich der Medizin den sexuelle Betätigung zur Entwicklung psychiatrischer
Störungen beiträgt oder durch sie betroffen wird. Viele
unerwünscht; der Überzeugungen von Psychiatern wie von Patienten
es gibt noch keine und der Berichte in der psychiatrischen Literatur können
nicht belegt werden, zumal sie zum Teil widersprüchlich
Sexualmedizin J J sind. Die meisten Patienten und die Mehrzahl der Psych-
iater glauben, daß eine Beziehung zwischen vielen psych-
iatrischen Störungen und der Sexualität besteht, daß
Psychiater dies mit Patienten besprechen sollten und
auch besprechen. Allerdings besteht keinerlei Einigkeit
petenz des z. B. Neuroleptika verordnenden Arztes, den über Art, Inhalt und Nutzen dieser Besprechungen. Au-
Patienten über die zu erwartende Beeinträchtigung der ßerdem basieren die Kenntnisse der Ärzte nur allzu häu-
Libido, der Erektion und/oder der Ejakulation aufzu- fig mehr auf ihren eigenen theoretischen Konzepten und
klären sowie ihn während der medikamentösen Behand- Überzeugungen zum Verhältnis von sexueller Entwick-
lung unterstützend zu begleiten. Doch wer weiß denn lung und psychiatrischer Erkrankung und zuwenig auf
wirklich genau und differenziert mehr als das, was in der präzisen Kenntnissen oder guten Studien.
Für die alltägliche Praxis in der Klinik bedeutet dies,
daß sich die Mitarbeiter am besten berufsübergreifend in
Alle Mitarbeiter, die sich in der alltäglichen Pra- kleinem Kreis, z. B. auf der Station, aber evtl. auch in
xis mit der Sexualität in der psychiatrischen Me- einer klinikinternen Arbeitsgruppe zusammensetzen
dizin beschäftigen - und nicht nur sie -, sollten und ihre Fragen so offen wie möglich diskutieren sollten.
sich die sieben Fragen beantworten, die der Auch könnten Themen einzeln vorbereitet werden, da-
holländische Praktiker Jan Moors in Sexualme- mit dieselbe Thematik aus der Perspektive unterschied-
dizin (Januar-Ausgabe 1987) formuliert hat. licher Berufsgruppen, unter theoretischen wie prakti-
schen Grundsätzen zu erarbeiten ist.
1. Bin ich sexuellen Problemen gegenüber
offen?

2. Welche Rolle spielt Sexualität in meinem m* Die Sexualmoral


eigenen Leben? der Medizin
3. Sind mein Partner und ich zufrieden? ist tmditioneü-oppressiv
4. Was weiß ich über sexuelle Probleme?

5. Was weiß ich über mögliche Behandlungs-


weisen? Sexualität in der Psychiatrie findet trotz und/oder wegen
aller Reglementierung statt, z. B. in der entfremdeten
6. Bin ich interessiert, mich mit den Sexual- Form weiblicher Prostitution, in der Form sexueller Aus-
störungen meiner Patienten zu befassen? beutung psychiatrisch stigmatisierter Frauen durch Mit-
patienten wie durch Männer außerhalb der Klinik. Eine
7. Habe ich besonderes Geschick im Behan- ehemalige Patientin formuliert: »Die Psychiatrie ist der
deln psychosoziaier Probleme? größte Puff.« Sie berichtet von den Verführungssituatio-
nen, von der Anmache durch Mitpatienten, von ihrer
Unterlegenheit als Frau. Wir sollten uns hüten, die Pro-
»Roten Liste« oder im Beipackzettel steht? Wer ist sich stitution psychiatrischer Patientinnen gleichzusetzen mit
der selbstverständlichen Aufgabe bewußt, mit diesen Pa- Unmoral, Zügellosigkeit und erforderlichem Eingriff
tienten über ihre möglicherweise medikamentös beding- durch Mitarbeiter ais moralische Saubermänner und
ten Beeinträchtigungen zu sprechen? Die diesbezügliche »Verantwortliche«. Es sollte zunächst geklärt werden, ob
Unsicherheit und das Unwissen der Ärzte führen dazu, die betreffende Patientin absehen kann, was sie da tut, ob
daß die den Patienten im Alltag begleitenden Schwestern sie z. B. erheblich minderbegabt ist oder akut manisch
und Pfleger mit Fragen und Nöten konfrontiert werden, erkrankt oder ähnliches. In diesen Fällen sollten und
die sie ihrerseits ebensowenig beantworten, geschweige müssen wir aus Fürsorgegründen intervenieren, mit den
denn »lösen« können. Hier empfiehlt sich, daß sich alle betreffenden Frauen und Männern sprechen, evtl. Ar-
Stationsmitarbeiter zusammensetzen und sich rangements in Form von Gruppenausgängen, zur Not in
•. über die allgemeinen Nebenwirkungen der Form von Verlegungen auf eine andere Station treffen.
Medikation verständigen und Zugleich jedoch bleibt zu beachten, daß Patienten wie
• über konkrete Patienten und deren (auch bislang Mitarbeiter auch ein Recht auf Zärtlichkeit und Liebe
verschwiegenen) Probleme nachdenken. haben und daß keineswegs unter dem Motto »Patientin
Wenn schon die Nebenwirkung von Psychopharma- prostituiert sich« die eigenen Ordnungsphantasien oder
ka nur unvollkommen bekannt ist und angesprochen der eigene Sexualneid ausagiert werden darf, daß be-
rücksichtigt werden muß, inwieweit dieses Verhalten ein
»bloßes« Anstaltsartefakt ist. Auch hier wird nur übrig-
bleiben, die eigene Sicht des (angeblichen) Problems mit
den Kollegen zu besprechen und zu diskutieren, um an-
schließend gemeinsam zu entscheiden, wie gehandelt
und/oder behandelt werden muß oder auch nicht. Auf dem Weg zu einer würdigen Berücksichtigung
Sicher ist es unmöglich, Rezepte oder detaillierte der sexuellen Bedürfnisse ihrer Patienten hat die
Handlungsanweisungen zu formulieren, doch erscheint Psychiatrie noch eine ganze Reihe von Hürden zu
es mir zunächst sinnvoll, für sich und nicht primär für die nehmen. Das Recht auf Zärtlichkeit und Liebe gilt
therapeutische Arbeit mit anderen, das eigene Verhältnis auch für psychisch Kranke. Das müssen auch die
zur Sexualität zu klären. Darüber hinaus bleibt noch .- Mitarbeiter der Psychiatrie erkennen und verar-
obwohl selbstverständlich - anzufügen, daß Sexualität beiten lernen, ihre Verantwortung kann nicht die
für eine harmonische Entwicklung einen bergenden moralischer Saubermänner sein; deshalb ist es
Raum und eine bergende Form braucht, in der Patienten wichtig, daß sie zunächst ihr eigenes Verhältnis
die Beziehungen untereinander und zueinander erfahren zur Sexualität klären.
können. So darf die Vermittlung von sexuellem Wissen,
von sexueller Technik oder von sexuellen Kontakten nie-
mals bedrängend wirken. Die Intimität des einzelnen
muß geschützt sein; er muß das Gefühl des Respektiert-
werdens haben, Nähe und Distanz erleben und von sich
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