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Ulrich Kobbe

Milieugestaltung. Zum 'Handwerk der Pflege 1 im Maßregel-


vollzug

Die Unterbringung von straffälligen Kranken in der foren-


sischen Psychiatrie stellt neben dem Sicherungsauftrag zu-
nehmend den Behandlungsauftrag in den Vordergrund. Dieser
bleibt jedoch zumindest solange unerfüllt wie nicht aus-
führlich über die Gestaltung des B e h a n d l u n g s m i l i e u s in den
Einrichtungen des Maßregelvollzugs diskutiert wird.

Bei Betrachtung der Literatur, so z. B. aller J a h r g ä n g e der


Zeitschrift 'Recht & Psychiatrie', stehen eher Fragen der
B e g u t a c h t u n g , der Prognose und der Psychotherapie von Pa-
tienten im Maßregelvollzug zur Diskussion, wird über die
unabdingbare Gestaltung des Milieus auf den Therapiesta-
tionen weder gesprochen noch gestritten. Dieses Fehlen
einer systematischen Aufarbeitung des Themas macht stutzig,
geht es doch immerhin um die Grundlagen der eigenen Arbeit,
um unsere Einstellung zu den zwangsuntergebrachten Patien-
ten, zu ihren Entwicklungschancen wie zu unseren Handlungs-
möglichkeiten .

In einer Zusammenfassung schrieb Moser bzgl. dieser Ein-


stellung noch 1971 folgendes:

"Am vorteilhaftesten für die eigenen Anstalten, wie über-


haupt für die Gewissensentlastung, mußte es für die Krimi-
nalpsychiater sein, wenn in der Öffentlichkeit und unter
StrafJuristen sich der Eindruck verfestigte, daß die Psycho-
pathen unkorrigierbar, unbehandelbar, starr, nicht reso-
zialisierbar usw . seien, bzw. daß Behandlungsaufwand und
Pädagogisierung des Umgangs mit ihnen nicht lohnend seien.
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Die Strategie, die infolgedessen eingeschlagen w u r d e , war der erst recht auf die E i n r i c h t u n g e n des M a ß r e g e l v o l l z u g e s
die der gezielten Verbreitung von Skepsis gegenüber allem,
zutreffen m u ß , den Schönfelder (16) als das Grenzgänger-
was die Therapie betraf. Dabei muß man b e d e n k e n , daß nir- dasein 'Aufsichtsbeamter - K r a n k e n p f l e g e r ' charakterisiert.
gendwo in Deutschland auch nur ein h a l b w e g s t a u g l i c h e r Ver-
Hier stellt sich gerade für K r a n k e n p f l e g e r und -Schwestern
such zur Resozialisierung oder B e h a n d l u n g von P s y c h o p a t h e n , wie für Er z i eher/innen die Frage n a c h dem eigenen Selbst-
die diesen N a m e n verdient hätte, unternommen worden war.
verständnis :
Die "Eindrücke der Kriminalpsychiater über die Psychopathen
stammten aus der M a s s e n v e r w a h r u n g in Anstalten ohne geeig- "Das Krankenpflegepersonal sieht sich einem 'Nicht'-Patien-
netes und geschultes Personal; mit im Spiel ist der latende ten g e g e n ü b e r , hinter dem sich verdachtsweise doch ein Pa-
Zorn, daß man neben 'Kranken' d u r c h e i n e u n g l ü c k l i c h e Ge- t i e n t v e r b i r g t : Wie sonst k ä m e die forensische Fragestel-
setzesregelung nun auch Kriminelle zu betreuen habe. Man lung z u s t a n d e , wenn nicht durch den V e r d a c h t , es sei - zu-
kann ohne Übertreibung sagen, daß die Kriminalpsychiater m i n d e s t zu einem bestimmten Zeitpunkt - mit ihm psychisch
mit negativen B e h a n d l u n g s p r o g n o s e n nur so um sich w a r f e n , 'irgend etwas 1 nicht in O r d n u n g gewesen. Die A u f n a h m e er-
ohne mit dieser B e h a n d l u n g ü b e r h a u p t vernünftige Erfah- folgt jedoch nicht wegen eines Leidens, selbst wenn es vor-
rungen gemacht zu haben" (11,205-206). handen wäre, sondern wegen einer 'Tat', - ohne diese wäre
der Proband wahrscheinlich nicht in die Psychiatrie gekom-
Rasch (14) beschrieb dies in seinem G u t a c h t e n über die fo- m e n . Wenn abey das A u f n a h m e k r i t e r i u m wesentlich bestimmt
rensische Psychiatrie in Eickelborn fast ähnlich und 1986 wird von einem n o r m v e r l e t z e n d e n , vorwerfbaren, mit mora-
immerhin sagte Schumann auf einer Tagung hier: lischen Bewertungen und StrafSanktionen v e r b u n d e n e n Hand-
lungsablauf - eben der b e g a n g e n e n Straftat - ist für das
"Gerade die Öffentlichkeit ist von der U n h e i l b a r k e i t psy- Pflegepersonal eine wertneutrale helfende H a l t u n g erschwert.
chisch kranker Rechtsbrecher zutiefst überz.eugt. Gerade auf Die Besorgnis, durch Einhaltung von besonderen Sicherungs-
diese unumstößliche Ü b e r z e u g u n g ist ja ein großer Teil der vorschriften zum 'Wärter' zu w e r d e n , der g l a u b t , bei Ver-
Abwehr und E m p ö r u n g gegen Reformen im Maßregel V o l l z u g zu- stößen g e g e n die aufoktroyierte Ordnung von der Justiz
rückzuführen - eine Ü b e r z e u g u n g , von der man ehrlicherweise zur Verantwortung gezogen werden zu k ö n n e n , verunsichert
sagen m u ß , daß sie 'drinnen' wie 'draußen' anzutreffen ist" die berufliche Identität: 'Bin ich nun Krankenschwester/
(17, 25). pfleger oder n i c h t 1 " (16, 47-48).

Noch ein weiterer Literaturhinweis: Seine Arbeit über die Insofern s t e l l t sich erneut die Frage nach Orientierungs-
psychiatrische Krankenpflege seit 1945 schrieb Konrad (7) h i l f e n , nach der 'richtigen' E i n s t e l l u n g . Denn immerhin
unter dem Titel 'Bändigen, pflegen, therapieren' und m a c h t e sind wir auch als Privatpersonen von Straftaten betroffen,
so bereits für die Allgemeinpsychiatrie diesen Spannungs-
haben wir eine durch unser A l l t a g s l e b e n b e d i n g t e Einstel-
bogen von kontrollierendem Schließerdasein bis therapeu- lung, sind andererseits einem k a u m definierten fachlich-
tischem Pflegeverständnis deutlich - ein Spannungsbogen,
beruflichen Einstellungsbegriff verpflichtet (7) und arbei-
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ten im Feld sozialer Kontrolle, in einer Paralleleinrich-


"Es ist soviel Ruhe, Ordnung und Sicherheit herzustellen,
tung zum Strafvollzug (6). Womit sich die Frage stellt, ob
und inwieweit ich die im Maßregel Vollzug Untergebrachten als daß niemand für sich oder andere gefährlich wird. Es sind
Kranke oder Behandlungsbedürftige akzeptieren, ihre Bezie- verläßliche Grenzen zu setzen, an denen der Orientierungs-
hungsstörungen und -konflikte als solche erkennen und an- lose sich orientieren kann, der Unsichere Geborgenheit fin-
nehmen, mich mit ihnen in therapeutische Beziehungen bege- det, der Protestierende bei Grenzüberschreitung die Folgen
ben kann (s. a. 1). D. h. es gibt so etwas wie mir gegebene seines Handelns spürt. Körperliche Krankheitsteile müssen
Handlungsmöglichkeiten einerseits und zugleich ein Parallel- erkennbar werden. Menschen in sozialer Not müssen das Wohl-
system von offensichtlichen Handlungserwartungen (Einschluß, tuende eines Asyls empfinden. Die Stunden des Tages und der
Sicherung, Kontrolle...) wie kaum beschriebene Handlungsnot- Nacht müssen in ihren Unterschieden wieder erlebt werden
wendigkeiten ("Besserung", B e h a n d l u n g , therapeutischer Um- können. Bedürfnisse, g l e i c h welcher Art, müssen zu ihrem
gang...) im Milieu einer Station. Immerhin: Recht kommen. Zugleich muß soviel Freiraum sein, daß der
Verrückte sich ausleben, der Protestierende protestieren
"Der Betroffene braucht Hilfe und er stört. Der gesell- k a n n , der Verspannte sich entspannen und zurückziehen kann.
schaftliche Auftrag an uns als Experten ist: Hilfe zu lei- Der Isolierte soll das Zusammensein mit anderen Menschen
sten und die Störung zu beseitigen. Bei psychischen Erkran- wiederempfinden. Derjenige der seine Grenzen nicht mehr
kungen ist Heilung oder Linderung in der Regel nur m ö g l i c h , empfinden k a n n , soll seine eigene Position im Unterschied
wenn man die Störungen nicht gleich beseitigt, sondern sie zu den Positionen anderer Menschen wieder erfahren können.
zunächst als Ausdruck realer Konflikte akzeptiert. Dem wi- Jeder muß die C/hance h a b e n , sich und andere als Täter und
derspricht in der Regel die gesellschaftliche Erwartung an Opfer von Recht und Unrecht zu erleben (4, 18).
die Psychiatrie, n ä m l i c h die Störung so schnell wie und so
schmerzlich wie möglich aufzuheben, zu unterdrücken, wenn In anderer Weise lassen sich verkürzt aus den Arbeiten
nicht mit direkter Gewalt, so doch auf dem Wege der Ver- Bettelheims (2; 3) folgende Prinzipien der Milieugestal-
schleierung: abschieben, v e r d r ä n g e n , projizieren, u n g e - tung in Stichworten für den Maßregelvollzug ableiten:
schehen machen, isolieren, abtöten, dieselben 'kranken'
Problemlösungsmechanismen, die wir beim Einzelnen in der 1. Die Einrichtungen des Haßregelvollzugs müssen zunächst
Familie,in gesellschaftlichen Gruppen und Systemen kennen, ein therapeutisches Milieu schaffen, das dem zwangs-
werden als Erwartungen an die Psychiatrie herangetragen - untergebrachten Patienten das Leben erträglich werden
und von uns häufig praktiziert" (13,2-3). und es so (wieder) lebenswert finden läßt, ihm die Mög-
lichkeit gibt, die Begrenztheit, aber auch die Vielfalt
Im Kontrast zu dieser knappen Beschreibung der Ausgrenzungs- möglicher Befriedigungs- und Erlebnisweisen zu erarbei-
situation, in der sich Zwangsuntergebrachte wie auch Mitar- ten.
beiter täglich befinden, steht folgende ideale .Beschreibung
der G r u n d h a l t u n g , des Arbeitsstils auf einer Station: 2. Die Einstellung, die innere Haltung der Mitarbeiter müs-
sen dem Patienten Hoffnung auf Veränderung, Verbesserung
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der eigenen Person und/oder Situation vermitteln, indem senen Supervision h a b e n , damit sie nicht in ihrem Selbst-
und weil sie die Hoffnungsträger für den Patienten sind, verständnis leiden.
er nur über die Erfahrung, daß er verstanden und akzep-
tiert wird, Hoffnung für sich erlangen kann. Um einem Mißverständnis zu entgehen: in der Tat wird bereits
seit geraumer Zeit die Reform des Maßregelvollzugs g e p l a n t ,
3. Ein wesentlicher Aspekt der Milieugestaltung ist die besser noch: gebaut. Immerhin entstanden allein in den letz-
Schaffung von 'Privatbereichen' zur Ermöglichung und ten Jahren im Landschaftsverband Westfalen-Lippe das Westf.
zum Ertragen von Splittingversuchen wie von archaischen Therapiezentrum Marsberg Bilstein (1984), in Berlin kürz-
Aggressionen, so daß Patienten um so eher in der Lage lich der N e u b a u des sogenannten 'Festen Hauses' der Abtei-
und bereit sind, sich anderen früher und damit weniger lung für Forensische Psychiatrie in der Karl-Bonhoeffer-
affektgeladen mitzuteilen; dies beinhaltet die Möglich- Nervenklinik Berlin (s. 19) sowie im Bereich des Landschafts-
keit zu räumlicher Nähe und Distanz, andererseits aber verbandes Rheinland der N e u b a u der Abteilung für Forensi-
auch die richtige Einschätzung der situativ erforder- sche Psychiatrie der Landesklinik Düren (s. 20). Gerade
lichen physischen und psychologischen Entfernung oder für die letzten beiden Neubauten unterstreicht Zwoch (19;
Nähe. 20), daß deren architektonische Angebote eine Anforderung
an die therapeutische Nutzung und Ausgestaltung durch Pfle-
4. Die Gestaltung des Milieus muß den rundum versorgenden ger, Therapeuten und Ärzte sei. Lassen wir uns durch die
Charakter der 'Anstalt' berücksichtigen und Regressions- "schönen Neubauten" den Blick für das Eigentliche nicht ver-
tendenzen von Patienten durch einen entsprechenden An- stellen: die neuen Bauten bedeuten zunächst 'nur' ein
forderurgscharakter des Lebens auf der Station entgegen- "Schöner Wohnen" wie auch ein "Schöner Sichern", sind der
wirken, was b e z ü g l i c h des Stationsklimas sowohl die Ver- Öffentlichkeit gegenüber vorzeigbar und verstellen nur all-
meidung einer Unterforderung durch 'low expressed zu schnell den Blick für die alltägliche Wirklichkeit der
emotions' wie auch einer Überforderung der meist affek- zwangsuntergebrachten Patienten wie auch der dort Tätigen.
tiv leicht reizbaren Patienten durch 'high expressed So p a r a d o x es scheint - gerade die baulichen Aspekte des
emotions' bedeutet. Maßregelvollzuges, die nach Mühlich-Von Staden (12, 53-54)
als "hart" und "veränderungsträge" gelten, werden vorrangig
5. Letztlich erfordert die Arbeit mit den schwergestörten behandelt und signalisieren sozusagen beispielhaft, daß
Patienten des Maßregelvollzuges, daß das soziale Milieu "etwas für die psychisch Kranken getan wird". Die psycho-
darauf vorbereitet ist, erhebliche Mengen und Qualitä- sozialen Bedingungen der Einrichtungen dagegen, die nach
ten infantiler W u t , Aggression und Angst/Ohnmacht zu M ü h l i c h - V o n Staden als "weich" oder "plastisch" zu betrach-
ertragen bzw. aufzufangen; dies setzt v o r a u s , daß die ten sind,stehen wesentlich weniger im Mittelpunkt der all-
diesen als zerstörerisch erlebten Gefühlen ausgesetz- gemeinen Aufmerksamkeit. Doch gerade diesbezüglich weist
ten Mitarbeiter die Möglichkeit zur systematischen Kon- auch Bettelheim (2) darauf h i n , daß selbst dra.stische Maß-
crolle ihrer (Ubertragungs-)Reaktionen, zur angemes- nahmen zur Veränderung und Neugestaltung von Bauten nicht
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ausreichen, um eine Verbesserung des therapeutischen Milieus staltung der Patientenrolle und ihrer R a h m e n b e d i n g u n g e n
zu erzielen. - ansetzen müssen" (12, 59). Gerade auch diese Arbeit ver-
weist auf den wichtigen Stellenwert unserer Einstellung zu
"Als ich in die Orthogenic Schoul k a m , war die alte Fassade dem, was Patienten benötigen, was ihnen im R a h m e n der Sta-
immer noch sehr reizvoll und gut erhalten. Aber noch bevor tionsatmosphäre hilfreich ist, verweist auf "das soziothera-
man das Gebäude betrat, bekam man eine düstere Vorahnung, peutische Milieu als Antwort auf 'die Wirklichkeit des
von der man geradezu überwältigt w u r d e , wenn man die Ein- Straftäters 1 " (18) und auf die Notwendigkeit h e i l p ä d a g o -
gangstür geöffnet h a t t e und einem der deprimierend wider- gischer bzw. psychagogischer 'Experimente' wie sie in Frank-
liche Geruch entgegenschlug. Unerfahren wie ich war, glaubte reich in Bonneuil (15), in den USA in Chicago von Bettel-
ich, ein Großputz mit S c h r u b b e n und Neuanstrich würde das heim (2; 3) sowie in Deutschland in Frankfurt von Cornel
beheben. Aber es stellte sich heraus, daß es eine gewaltige
(4; 5) unternommen wurden.
Aufgabe war, den üblen Geruch auszutreiben, denn er hatte
das K r a n k e n h a u s förmlich im Besitz genommen und sich in al- Konkret verweisen uns diese Überlegungen und Erfahrungen auf
len Ecken und Ritzen festgesetzt. Wände und Fußböden abzu-
unsere eigene Theorie und Praxis im Alltag der Stationen
waschen und Holz- und Mauerwerk neu zu streichen, nützte
des Maßregelvollzuges, auf die unabdingbare Offenheit für
gar nichts. Als nächstes warfen wir alle V o r h ä n g e , Decken, Erfahrungen, die Einfühlung aus geschärfter Selbstwahrneh-
Teppiche und altes Bettzeug h i n a u s , auch die Möbel gaben wir
mung und'die Bereitschaft - auch vom Patienten - zu lernen.
weg. Dann kamen weitere drastische M a ß n a h m e n dazu. Zwar ver-
minderte sich dadurch der widerwärtige Geruch, aber schließ-
"Bettelheim nennt sein Behandlungsmodell 'totale Milieuthe-
lich m u ß t e ich doch einsehen, daß diese Methode zu kurz-
rapie' und meint damit etwas ungleich Anspruchsvolleres,
sichtig gewesen war. Ich war allem äußerlich mit geballter
als was hierzulande Milieutherapie heißt. Es basiert auf
Kraft entgegengetreten, aber das genügte nicht, wo es um
der Erkenntnis, daß Therapie fruchtlos bleibt, wenn der
das Wesentliche ging. Diese radikalen Maßnahmen säuberten
Rahmen, in dem sie stattfindet, ihren Zielen widerspricht.
zwar die Luft, stellten aber nicht den 'richtigen Geruch'
Minuziöse Aufmerksamkeit widmet Bettelheim den Baulichkei-
her. Dieser konnte nur entstehen, wenn die Schule richtig
ten, der Symbolik von R ä u m e n , Fluren, Treppenhäusern, von
geführt wurde" (2, 122-123).
Badezimmern und Toiletten; schon hier drückt sich aus, wie
ernst die Gefühle und Bedürfnisse des Patienten genommen
Mühlich-Von Staden u. a. (12) von der Planungsgruppe Ulm
werden. Das Prinzip der offenen Tür ist so selbstverständ-
schlußfolgern entsprechend in ihrer Studie über 'Bedürfnis-
lich wie der absolute Verzicht auf Zwang und Manipulation,
se und Wünsche psychiatrischer Langzeitpatienten' - und das
der Abbau des hierarchischen Machtgefalles, die Einbezie-
werden die im Maßregelvollzug Untergebrachten zwangsläufig
hung noch des Küchenpersonals und des Hausmeisters in das
nur zu häufig -, "daß g r u n d l e g e n d e Verbesserungen der Le-
therapeutische Konzept. Aber all dies ist erst die Voraus-
bensbedingungen trotz aller Schwierigkeiten auch bei den
setzung für das Eigentliche: das Engagement der mensch-
psychosozialen B e d i n g u n g e n - d. h. vor allem bei der Ge-
lichen Beziehung und die Aufmerksamkeit für Gefühle (auch
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des Betreuers übrigens, der von der Solidarität der Gemein- Wissen um allgemeinpsychiatrisches G e d a n k e n g u t , kann sich
schaft getragen werden muß). (...) jedoch nicht auf das Referieren konkreter Handlungswei-
sen oder Verhaltensmöglichkeiten beschränken: die Re-
Lassen sich unsere psychiatrischen Krankenhäuser 'nach flexion der Milieugestaltung b e d a r f v i e l m e h r eines N a c h -
Bettelheims Muster in therapeutische Einheiten u m s t r u k t u - d e n k e n s über die Grundlagen der eigenen A r b e i t , der E i n -
rieren' , wie Günter Ammon in seinem Nachwort meint? Zumindest stellung zu ihr und zum Patienten selbst.
zeigt das Beispiel: es geht auch anders. Eindringlicher als
der Bericht der Deutschen Enquete-Kommission, dringlicher 3. A u s g e h e n d von der These, daß sich in der forensischen
auch als Szasz' Kritik der instituionalen Psychiatrie for- Psychiatrie insbesondere frühgestörte Patienten befin-
dert Bettelheims Buch zu radikalem U m d e n k e n heraus. Im Be- d e n , d i e sowohl im Gefängnis wie im M i l i e u 'draußen' wie
richt der Enquete-Kommission heißt es, allen Reformen vor- auch im M a ß r e g e l v o l l z u g wiederkehrende Erfahrungen
auszugehen habe die Befriedigung der h u m a n e n Grundbedürf- m a c h e n , die strukturell eine Wiederholung der f r ü h k i n d -
nisse des Patienten. Dazu gehört freilich mehr als ausrei- lichen und traumatischen Beziehungskonflikte darstellen,
chende sanitäre Einrichtungen und das Recht auf einen klei- bietet sich das von Bettelheim erarbeitete m i l i e u t h e r a -
nen persönlichen Bereich. Nehmen wir die 'humanen Grundbe- peutische Konzept für frühgestörte Kinder und J u g e n d -
dürfnisse 1 wirklich ernst, so ernst wie Bruno Bettelheim, liche an.
so sind wir schon mitten drin in einer Reform, die über
die zaghaften, mehr an Kategorien von Organisation und Ver- 4. Die Institution - und damit die Mitarbeiter auf Sta-
sorgung d e n k e n d e n Empfehlungen der Enquete-Kommission weit tion - müssen dem zwangsuntergebrachten Patienten das Le-
hinausführt. " (8). ben erträglich machen und damit die G r u n d l a g e dafür
schaffen, daß der Patient das Leben (wieder) als liebens-
Milieugestaltung. Zum "Handwerk der Pflege" im Maßregel- und lebenswert empfinden lernt. Der Patient muß die Mög-
vollzug - Thesen lichkeit h a b e n , die Begrenztheit, aber auch die V i e l -
falt möglicher Befriedigungs- und Erlebnisweisen zu er-
Michael Becker, Ulrich K o b b e , Siegmund Peters
arbeiten, einen Zugang zu dem zu e r h a l t e n , was dem Le-
ben auf der jeweiligen Entwicklungsstufe einen Sinn g i b t ,
1. Einzelpsychotherapie an sich ist nicht therapeutisch.
neugierig zu werden und zugleich die Fähigkeiten zum
Sie bedarf der Einbettung in ein entsprechendes Behand-
Denken zu entwickeln wie auch Emotionen zu klären bzw.
lungsmilieu für die weiteren 23 Stunden am Tag des Pa-
zu differenzieren.
tienten. Hierfür ist die Ausgestaltung des Stations-
milieus durch alle Mitarbeiter, insbesondere durch
5. Die Gestaltung des M i l i e u s b e i n h a l t e t ein K l i m a in der
Schwestern und Pfleger, unabdingbar.
Einrichtung und auf der Station, in dem P a t i e n t e n (wie-
der) Hoffnung haben können. Hoffnung jedoch läßt sich
2. Die Gestaltung des B e h a n d l u n g s m i l i e u s auf forensisch-
weder lehren noch aufzwingen: nur die 'andere' Art zu
psychiatrischen Stationen ergibt sich zum einen aus dem
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leben und zu reagieren, die Tatsache, daß sich die Ein- gung der Belange des Patienten, sondern auch die Beach-
richtung auf die Seite des Patienten stellt ohne symbio-
tung der Psychohygiene und Belastbarkeit der Mitarbei-
tisch mit ihm zu verschmelzen, läßt Hoffnung keimen. ter, beinhaltet persönliches E n g a g e m e n t ebenso wie Ent-
Hoffnung erlangen beziehungsgestörte Patienten nur über
lastung durch i n d i v i d u e l l e Bezüge zwischen Mitarbeitern
die Erfahrung, daß sie verstanden und akzeptiert werden,
und Patienten, durch gegenseitige Akzeptanz sowie durch
was nicht unbedingt heißt, daß man ihr Verhalten billigt.
eine adäquate Supervision.

6. Ein wesentliches Moment der Milieugestaltung auf Station


ist die Reflexion und W a h r u n g bzw. Herstellung von Di-
stanz und N ä h e , die der Patient sowohl physisch wie auch
psychisch benötigt: sowohl Nähe wie auch Distanz sind
für die untergebrachten Patienten zunächst nur im phy-
sischen Bereich erfahrbar und vermittelbar, lange bevor
sie überzeugt sind, daß dies auch für den emotionalen
und intellektuellen Bereich gilt. Dies beinhaltet kon-
kret die Strukturierung der Einrichtung in Stationen oder
Wohngruppen v o n 6 - 8 Patienten.

7. Patienten müssen auch im alltäglichen Umgang dort "abge-


holt" werden, wo sie in ihrer p s y c h o i n d i v i d u e l l e n Ent-
wicklung stehen: dies bedeutet häufig, daß frühgestörte
Patienten symbiotische Verschmelzungswünsche haben, Stö-
rungen auf der Ebene der Mutter-Kind-Dyade h a b e n , und
zunächst berücksichtigt werden m u ß , daß eine Triangu-
lierung (noch) nicht stattgefunden hat. Hier erscheint
die Identifikation des Patienten mit dem Therapeuten,
der als Aggressor erlebt w i r d , wesentlich; über die Iden-
tifikation mit dem Anderen erwirbt der Patient das 'Nein'
des Anderen und damit die Möglichkeit, von der Hand-
lungs- auf die Verbalebene überzuwechseln, sich mit dem
Anderen wie auch mit dem Selbst b e o b a c h t e n d und disku-
tierend auseinanderzusetzen.

i. Milieugestaltung beinhaltet nicht nur die Berücksichti-


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