#04/2023

04/2023 | Euro 15 | P.b.b. Verlagspostamt 5301 Salzburg-Eugendorf, Aufgabepostamt 5411 Oberalm · GZ 06 Z036771 P · Envoi à taxe réduite | Illustration: Adobe Stock

Der
Geldreport
Mehr Transparenz bei Gehältern und Honoraren sorgt für mehr Fairness in der
Branche. Wir zeigen exklusiv, wie viel Sie bei welchen Medien verdienen können.

GERMAN WUNDERKIND: KI-Forscher Richard Socher im Interview.

GENERATION Z: Was junge Medienschaffende an der Branche stört.
PROMPTING MASTERCLASS: Wie Sie KI-Tools optimal nutzen können.
Editorial

Sicherheit auf die Straße bringen

Unfallfreies Fahren – diese Version treibt uns bei Daimler Truck an. Die Verkehrssicherheit zu
verbessern sehen wir als Teil unserer gesellschaftlichen Verantwortung. Unser Anspruch ist klar:
möglichst “null Unfälle” mit unseren Lkw und Bussen. Mit der Weiterentwicklung bestehender und
der Entwicklung neuer Sicherheits- und Assistenzsysteme wollen wir das Verkehrsgeschehen für
alle Beteiligten sicherer gestalten.

Wir arbeiten für alle, die die Welt bewegen –

das ist unser gemeinsamer Antrieb bei Daimler Truck.
Foto: Vorname Nachname, xxx

Weitere Informationen unter:

daimlertruck.com/nachhaltigkeit/s-social/verkehrssicherheit

2 04.2023
 Netz (gehalt.mediummagazin.de). Dort gibt es aktuell 3.059
Editorial Dateneinträge zu 388 Medien.
Wir haben diese Datenbank nun erstmals ausgewertet. Das
Ergebnis finden Sie in dieser Ausgabe. Wer zahlt faire Hono-

Was Sie für Ihre rare, wer speist Freie mit Mini-Beträgen ab? Wo können Fest-
angestellte gut verdienen? Die Antworten mit den jeweiligen
Listen der „Top 15“ und „Flop 15“ gibt es ab Seite 68. Dabei

Arbeit wirklich
sind mir zwei Dinge aufgefallen: 1. Wer wirklich allein von der
Arbeit als freier Journalist leben möchte, sollte seine Texte an
Magazine verkaufen. Titel wie „Süddeutsche Zeitung“ oder
auch „Die Zeit“ mögen sich in den Arbeitsproben gut machen,

verdienen fürs Konto bringen sie eher weniger. 2. Der Kahlschlag bei Gru-
ner + Jahr war nachweislich ein herber finanzieller Einschnitt
für viele Freie. Denn zahlreiche, mittlerweile eingestellte Ti-
tel des ehemaligen Verlagshauses wären im Honorarranking
eigentlich ganz weit oben gestanden. Diese lukrativen Kunden
Weil in der Branche kaum jemand offen fallen für Autorinnen und Autoren nun weg – entsprechender
über Geld spricht, machen wir das jetzt Ersatz ist nicht in Sicht.
Wir haben uns auch an weiteren Stellen im Heft dem The-
einfach mal. ma Geld & Finanzen gewidmet. Auf Seite 76 erklären die
Freischreiber, wie Freelancer ihren optimalen Tagessatz be-
rechnen können. Auf Seite 78 stellen wir Mitarbeiterbetei-
ligungsmodelle vor – ein ziemlich spannendes Konzept, von
ALEXANDER GRAF dem die Beschäftigten beim „Spiegel“ schon lange profitieren.
ist Chefredakteur des „medium magazins“ Vielleicht ja auch ein Vorbild für Neugründungen in der Me-
dienbranche? Und auf Seite 24 hat sich unser Autor Thomas
Schuler den Fall der ehemaligen ZDF-Reporterin Birte Meier
vorgenommen und ordnet ein, welche Wirkung ihr Kampf ge-

W
gen den Gender-Pay-Gap haben könnte.

Von Menschen und Maschinen

Einen weiteren Schwerpunkt im Heft haben wir erneut dem
as verdienen Sie? Zukunftsthema „Künstliche Intelligenz“ gewidmet. Denn nach
Die Frage klingt der Phase des großen Hypes geht es jetzt darum, über die tat-
gleich aus zwei sächlichen Konsequenzen dieser rasanten Entwicklung nach-
Gründen unge- zudenken. Wer könnte da ein besserer Gesprächspartner sein
wohnt. Zum einen, als KI-Forscher und „German Wunderkind“ Richard Socher?
weil in Deutschland Der gebürtige Dresdner gilt als einer der wenigen Deutschen,
nicht gerne über die in der höchsten Liga des Silicon Valley mitspielen können.
Geld und Gehälter Wie gut, dass unsere Herausgeberin Annette Milz gerade in
gesprochen wird. In Kalifornien weilte und Socher einen Besuch auf seiner Ranch
manchen Arbeits- in den Bergen bei Palo Alto abstatten konnte. Ihr Gespräch le-
verträgen wird es sen Sie ab Seite 38.
Beschäftigten so-
gar explizit untersagt, gegenüber Kolleginnen und Kollegen Lassen Sie mich gerne wissen, wie Ihnen diese Ausgabe von
die Höhe ihres Einkommens offenzulegen. Zum anderen, weil „medium magazin“ gefällt. Ich freue mich über Lob, Kritik und
es beim Wort „verdienen“ auch um Gerechtigkeit und Fairness Anregungen an: alexander.graf@mediummagazin.de.
geht: Welches Gehalt, welches Honorar ist für die eigene Arbeit
angemessen? Könnten Sie das spontan beantworten? Herzlich
Gerade freie Journalistinnen und Journalisten dürften damit Ihr Alexander Graf
Probleme haben. Welche Honorare einzelne Medien zahlen,
ist seitens der jeweiligen Redaktionen ein gut gehütetes Ge-
heimnis. Kein Wunder, denn nur wer Vergleichsgrößen kennt,
kann auf Augenhöhe verhandeln. Das Gleiche gilt natürlich
auch für Festangestellte. Können Sie sich sicher sein, dass Sie
ein ähnliches Gehalt wie ein Kollege mit gleichwertiger Erfah-
rung und Qualifikation erhalten?
Ich halte diese Intransparenz für nicht mehr zeitgemäß. Weil
Foto: Marc Zimmer (Graf)

sich aber von allein daran nur wenig ändern wird, haben wir
jetzt einen ersten Schritt getan. Vielleicht erinnern Sie sich: In
Ausgabe 02/23 hatte ich an dieser Stelle von unserer Koopera-
tion mit den Freischreibern berichtet. Gemeinsam haben wir
ein digitales Tool neu aufgelegt, mit dem Medienschaffende
bequem Informationen zu Gehältern und Honoraren in der
Branche eintragen und abrufen können. Sie finden das Tool im

04.2023 3
Inhalt. 04/2023
IMPRESSUM
DOSSIER
medium magazin
Unabhängige Zeitschrift
für Journalistinnen und Journalisten
37. Jg., Nr. 4/2023
Gegründet von Sebastian Turner

Herausgeberin
Annette Milz

Chefredakteur
Alexander Graf (V.i.S.d.P., Mannheim) Mensch und
Medienberatung
Ruperta Oberauer
Tel. +43 6225 2700-35
Maschine
ruperta.oberauer@oberauer.com Zwischen Furcht und
Faszination: Wie wir KI
Redaktion bändigen und nutzen.
Mollstraße 49a, 68165 Mannheim  Seite 36
redaktion@mediummagazin.de
www.mediummagazin.de
#twitter @mediummagazin
www.facebook.com/mediummagazin
RUBRIKEN MEDIEN UND BERUF
Verlag und Medieninhaber
Johann Oberauer GmbH
Postanschrift: Postfach 11 52, 06 Kurz und bündig. Neuer Verein 20 In der Kritik. Ist das Umfrage-
83381 Freilassing für junge Medienschaffende. Start-up Civey wirklich so schlecht
Zentrale: Fliederweg 4, Gute Werte für die ARD.  wie sein Ruf? Senta Krasser
A-5301 Salzburg-Eugendorf
Tel. +43 6225 2700-0, Fax -11 10 Presserecht. Gefahr für den 22 Verpasste Chance.
Quellenschutz? Was das neue Whistleblower-Ge-
Produktion  Gero Himmelsbach setz für Rechercheure bedeutet.

Sabrina Weindl, Gerald Neubacher,
Elmar Schörghofer, Teresa Wöhr
Abo- und Vertriebshotline
Tel. +43 6225 2700-41, Fax -44
E-Mail: abo@mediummagazin.de
Druck
Druckerei Roser, Salzburg
Illustration: Angel Boligan Corbo | Fotos: Marc Hohner (Mütze), Marlena Waldhausen (Meier),
 Marvin Oppong
12 Innovationscheck. K
­ ompreno
liefert Journalismus ohne 24 Klaffende Lücke. Über den
Sprachbarrieren. Gender-­Pay-Gap in der Medien-
 Stephan Weichert branche. Thomas Schuler
14 Kiosk. Welche Medien Freie 28 In der Todeszone.
suchen. Bernd Stössel Warum es jetzt den gemeinnützi-
gen Journalismus braucht.
16 Zwischenruf.  Leif Kramp, Stephan Weichert
Warum Nachrichten keine
News brauchen. 30 Ungesund. Was junge Medien-
 Alexander Marinos schaffende an der Branche stört.
 Tamara Keller, Corinna Cerruti
18 Backstage. Warum der „Tages-
spiegel“ Freien Geld schuldete. 68 Reden wir über Geld.
 René Martens Was Medien Festangestellten und
Freien zahlen.
80 Köpfe und Karrieren.
Astrid Maier wechselt zur dpa. 76 Was muss ich verdienen?
Annette Milz (Socher)

 Senta Krasser Wie Freie den passenden Tages-

satz berechnen.
82 Fragebogen. Sara Sievert ist
nichts peinlich.  Senta Krasser 78 Ein Stück vom Kuchen.
Wie Mitarbeiterbeteiligungen
funktionieren. Gunter Becker

4 04.2023
Janina Mütze: „Auch wir erreichen mit Birte Meier: „Mit etwas weniger Netzwerk Richard Socher: „Sobald Menschen­
Civey nicht jeden Nutzer online. Das be- und Robustheit säße ich heute auf dem leben von KI faktisch beeinflusst werden,
haupten wir aber auch nicht.“ Seite 20 Mainzer Elefantenfriedhof.“ Seite 24 braucht es Regularien.“  Seite 38

DOSSIER PRAXIS JOURNALISTEN

38 „Skepsis verhindert Fort-
schritt“. KI-Experte Richard
Socher im Interview. 
 Annette Milz
WERKSTATT
52 Prompting Masterclass.
Wie Sie mit den richtigen
Befehlen die KI beherrschen.
 Patrick Große

44 Gegen das Hochstapler- 60 KI-Toolbox-Special. 24 Tools,

Syndrom. Warum wir lernen die sofort weiterhelfen.
müssen, Technologie-PR zu  Sebastian Meineck
hinterfragen.
 Marie Kilg 64 Fair formulieren. Acht Tipps
 für elegantes Gendern. Spannend bis zum Schluss
48 I feel you. . Jeanne Wellnitz von Barbara Maas: Die neue
Was unsere Gefühle gegen-  „Journalisten-Werkstatt“ liegt im
über KI für den Journalismus  Abonnement gratis dieser Ausgabe bei.
bedeuten.
 Jeanne Wellnitz Nachbestellungen:
 shop.oberauer.com/werkstatt/
journalisten-werkstatt

20 JAHRE WISSENSWERTE
• Die Journalismuskonferenz für Wissenschaftsjournalist:innen.
Aber auch für Nachrichtenjournalist:innen, investigative
Journalist:innen, Datenjournalist:innen. Und für Science Blogger,
YouTuber, Podcaster 25.10.–27.10.2023 MESSE FREIBURG

• Keynote: Prof. Amrei Bahr (#IchBinHanna) über die prekäre Arbeit

im Wissenschaftssystem und die Berichterstattung darüber
• Netzwerken, Zuhören & Mitreden bei den Themenkomplexen
Biodiversitätskrise, Klimakrise, Covid in der internationalen
Presse und dem Schwerpunktthema Künstliche Intelligenz
04.2023 5
 www.wissenswerte-bremen.de
 KURZ
UND
NETZWERK JOURNALISMUS ben und motivieren, denn Journalismus
ist ein Traumberuf“, wird Vorstandsmit-
Neuer Verein für glied Fynn Hornberg zitiert. Allerdings
habe sich das Image der Branche gewan-
junge Medienschaffende

BÜNDIG
Junge Menschen für einen Job in den Me-
dien begeistern und eine starke Commu-
nity für den Journalismus in der Zukunft
sein – das will der neu gegründete Verein
Netzwerk Journalismus. Mit Workshops,
Exkursionen, Ausbildungsprojekten und
Netzwerkabenden sollen junge Medien-
schaffende angesprochen werden. Erfah-
rene Profis aus dem Journalismus wer-
den den Nachwuchs zudem beim Start in
den Beruf unterstützen, heißt es in einer
Pressemitteilung zum Start des Projekts.
Hinter dem Verein stehen junge Jour-
nalistinnen und Journalisten, die selbst
noch auf dem Weg in den Journalismus
oder im Volontariat sind. „Wir wollen
unsere frischen Erfahrungen weiterge-
delt, wie der Vereinsvorsitzende Andreas
Fauth ergänzt: „Die Bewerbungssituation
hat sich völlig geändert. Früher strömten
junge Leute in die Medien, heute sind fri-
sche Talente bei den Redaktionen heiß
begehrt.“ Viele junge Journalistinnen und
Journalisten stellten sich aber Fragen
wie: Lohnt sich der Beruf finanziell noch?
Wie kann ich meine Startchancen erhö-
hen und trotzdem eine Familie gründen?
Netzwerk Journalismus will deshalb mit
jungen Medienschaffenden ins Gespräch
kommen und Tipps für den Berufsein-
stieg geben. Nach eigenen Angaben will
das Netzwerk auch das Ausbildungspro-
jekt „Medien-Starter“ neu ausschreiben,
bei dem bis zu zwölf junge Menschen ne-
ben Schule oder Universität eine jour-
nalistische Ausbildung in den Bereichen

2 Begeisterung für
den Beruf: Das Team
von Netzwerk Journalismus.

ARD: Alles paletti?

80 %
Foto: NDR/Thorsten Jander (Schreiber)

… der Menschen in Deutschland fühlen sich von der ARD über das
Geschehen in der Welt auf dem Laufenden gehalten. So vermeldet es der
Senderverbund in einer jüngsten Pressemitteilung zur ARD-Akzeptanz-
studie 2023. 73 Prozent der Befragten bezeichnen die Berichterstattung
zudem als verlässlich und qualitativ hochwertig. Für die repräsentative
Studie wurden 1.500 Menschen ab 14 Jahren in Deutschland befragt.

6 04.2023
 Multimediajournalismus, Video und Au-
dio sowie Social Media erhalten sollen.
Finanziert wird der ­ Verein unter an-
derem vom Evangelischen Medienhaus
Stuttgart, dem Evangelischen Kirchen-
funk Niedersachsen-Bremen und der Me-
dienanstalt Hessen.
www.netzwerk-journalismus.de RED
MEDIEN
Blinde Flecken bei
internen KI-Guidelines
Der Hype um ChatGPT hat in vielen
Medienhäusern die Notwendigkeit von
redaktionellen KI-Guidelines deutlich
gemacht. Tatsächlich haben viele Verla-
ge und Sender erst ab 2023 solche Leit-
linien veröffentlicht, wie ein wissen-
schaftliches Arbeitspapier jetzt zeigt.
Verfasst wurde es von Felix M. Simon
und Chris Crum (beide Oxford Inter-
net Institute) sowie Kim Björn Becker,
Redakteur bei der FAZ. Bei der Analyse
GERMAN PARALYMPIC
MEDIA AWARD 2024
Ihr habt die Geschichten.
Wir haben die Bühne.
Liebe Medienschaffende,
reicht jetzt eure Beiträge ein für
Deutschlands größten Medienpreis
im Behindertensport!
Alle Medien sind willkommen:
Film, Audio, Foto, Artikel,
Online & Social Media.
Einsendeschluss:
03.01.2024
04.2023
von 52 KI-Guidelines aus zwölf Ländern
stellten die Autoren vor allem eine gro-
ße inhaltliche Übereinstimmung fest:
Dabei gehe es weniger um einzelne For-
mulierungen als um die grundsätzliche
Strategie, mit der sichergestellt werden
solle, dass KI verantwortungsvoll ge-
nutzt wird.
Sie warnen aber auch vor „blinden Fle-
cken“. So sei oft unklar, wie die Einhal-
tung der Leitlinien überwacht werden
soll. „Das wirft die Frage auf, wie wirksam
viele von ihnen tatsächlich sein werden“,
schreiben die Autoren. Überhaupt nicht Ich werde mich zu allem,
thematisiert würden zudem die Gefahren was mit dem Islam auch
der zunehmenden technologischen Ab- nur im Entferntesten
hängigkeit von KI-Anbietern.  AG zu tun hat, nicht mehr
äußern. (...) Ob das ein
Gewinn ist für die
NEUES BUCH
Meinungsfreiheit oder für
Spannendes Wissen den Journalismus, ist
eine andere Frage.
über Medienrecht
CONSTANTIN SCHREIBER,
In den vergangenen Jahren haben eini- ARD-Journalist und Buchautor, im
ge Fälle aus dem Medien- und Internet- Interview mit der „Zeit“
7
© DGUV / Tilo Wiedensohler, Special Olympics Deutschland: Gewinnerbild 2023
Kurz und bündig
Schmähdichter: Unter anderem der
berühmte Fall um Jan Böhmermanns
­Erdoğan-Satire wird in einem neuen me-
dienrechtlichen Fachbuch untersucht.
THEMENSCHWERPUNKTE IN AUSGABE 05/2023
Hidden
Stars
Nachhaltigkeit und Umwelt
Erscheinungstermin 2. November 2023
Infos und Mediadaten: www.oberauer.com/mediadaten
8 04.2023
recht für Aufsehen gesorgt. Von Jan Böh-
mermanns „Schmähgedicht“ über die
Ermittlungen gegen „Netzpolitik“ bis
hin zum „Hütchen-Mann“, der auf einer
Demonstration in Dresden gegen seinen
Willen gefilmt wurde: allen Fällen ist ge-
mein, dass sie relevante und drängende
Fragen stellen, auf die Medienschaffen-
de Antworten haben sollten. Gut also,
dass es jetzt ein Buch gibt, das dabei hilft.
„Böhmermann, Künast, Rezo. Medien-
und Internetrecht in 20 Fällen“ kommt
zwar als ziemlich akademisch wirkender
Wälzer daher, schafft es aber durch einen
smarten Kniff, auch für Interessierte aus
der Branche geeignet zu sein. Denn jeder
der 20 Fälle wird zuerst von Master-Stu-
dierenden der TU Dortmund journalis-
tisch aufbereitet. Dazu gibt es Interviews
mit Beteiligten. So bekommt man einen
fundierten und gleichzeitig gut lesbaren
Überblick über die Fälle. Anschließend
werden sie noch einmal von juristischen
Fachleuten wissenschaftlich analysiert.
Also: Kann Satire beleidigen? Sind so-
ziale Netzwerke Medien? Wann begehen
Journalisten Landesverrat? Nach einem
Blick in dieses Buch kennen Sie die Ant-
worten.
Tobias Gostomzyk, Uwe Jürgens (Hrsg.):
Böhmermann, Künast, Rezo. Medien- und
Internetrecht in 20 Fällen, Fachmedien
Recht und Wirtschaft, 39 Euro AG
SPRACHPAPST
Wolf Schneiders Regeln
leben in KI-Tool weiter
Ein Team der Reporterfabrik hat in fünf-
monatiger Entwicklungsarbeit ein Tool
programmiert, das künftig all denen zur
Seite stehen soll, die Texte verfassen.
Grundlage dieses auf Künstlicher Intelli-
genz basierenden Tools seien die Schreib-
regeln von Wolf Schneider, entwickelt in
vielen Büchern und in den Tutorials der
Reporterfabrik. Schneider, Gründer und
langjähriger Leiter der Henri-Nannen-
Schule, ist im vergangenen Jahr im Alter
von 97 Jahren gestorben.
Das Tool redigiert alle Genres wie Nach-
richten, Kommentare, Reportagen oder
Essays, es formuliert Überschriften und
Vorspänne. Die User wählen zuvor aus,
nach den Regeln welcher Textgattung ihre
Stücke redigiert werden sollen. Die Wolf-
Schneider-KI (WSKI) befindet sich zurzeit
in der Betaphase. Die gemeinnützige Re-
porterfabrik bietet Test-Usern an, das Tool
kostenlos auszuprobieren. Inter­ essenten
erhalten per Mail den Zugang, wenn sie
sich an wski@correctiv.org ­wenden. MB
Foto: ZDF / Jens Koch (Böhmermann)
Ruperta Oberauer
Medienberatung
Tel. +43 6225 27 00-35,
ruperta.oberauer@oberauer.com
 Sie suchen
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Wir haben sie.

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04.2023 9
Presserecht. Informantenschutz
Kein Schutz vor
undichten Stellen
Das LG Berlin hat Julian Reichelts Klage gegen
Verleger Holger Friedrich abgewiesen. Was das Urteil
für den Quellenschutz im Journalismus bedeutet.
E
in ehemaliger Chefredakteur
überlässt dem Verleger einer
anderen Zeitung vertraulich
Unterlagen. Dieser informiert
den früheren Arbeitgeber sei-
nes Informanten. Eine Veröffentlichung
des übergebenen Materials hätte gegen
„professionelle Standards verstoßen“,
meint der Verleger später. Und die Be-
nachrichtigung des Ex-Arbeitgebers?
Verstößt die nicht gegen „professionelle
Standards“?
Auf einen Blick
• Das Redaktionsgeheimnis ist
Teil der Pressefreiheit in Art. 5
Abs. 1 Satz 1 GG. Deshalb dür-
fen Redaktionen nicht durch-
sucht werden, um Hinweise auf
Informanten zu finden.
•D  er Informantenschutz ist für
das Redaktionsgeheimnis un-
verzichtbar. Es besteht daher
ein Zeugnisverweigerungs-
recht für Medienschaffende.
• J ournalisten sind allerdings
nicht gesetzlich zur Verschwie-
genheit verpflichtet.
•E  in Unterlassungsanspruch
wegen der Weitergabe von In-
formationen besteht nur dann,
wenn eine Geheimhaltungs-
vereinbarung besteht. Ein „Ge-
wohnheitsrecht auf Informan-
tenschutz“ gibt es nicht.
Quelle: LG Berlin, Az.: 67 O 36/23;
BVerfG, 1 BvR 538/06 u. a. (Cicero);
BGH, 2 Bfs 71-93-2 StB 14-98.
10
Das Landgericht (LG) Berlin weist den
auf Informantenschutz gestützten Unter-
lassungsanspruch des Ex-Chefredakteurs
nun zurück. Die Begründung: Eine Ge-
heimhaltungsvereinbarung sei nicht ge-
schlossen worden. Eine gesetzliche Ver-
schwiegenheitsverpflichtung bestehe für
Journalisten nicht. Auch der rechtlich un-
verbindliche Pressekodex des Deutschen
Presserats könne keinen Unterlassungs-
anspruch begründen.
Die Reaktionen auf die Entscheidung
sind heftig: Der Informantenschutz wer-
de damit abgeschafft, so die Befürch-
tung. Dabei ist erst einmal alles richtig:
Der Pressekodex als „Standesrecht der
Presse“ gibt den Informanten keinen An-
spruch auf Verschwiegenheit. Anders als
zum Beispiel Amtsträger, Rechtsanwälte
oder Ärzte gibt es für Medienmitarbeiter
keine gesetzliche Verschwiegenheitsver-
pflichtung. Wer die Medien informiert,
begibt sich damit also in die Hand der
Medien und muss auf den Informanten-
schutz vertrauen. (Mit einer Ausnahme:
Medien und Informanten schließen einen
Geheimhaltungsvertrag.)
Um diesen Informantenschutz zu ge-
währleisten, hat der Gesetzgeber 1962 in
Paragraf 53 der Strafprozessordnung ein
Zeugnisverweigerungsrecht für Medien-
mitarbeiter eingeführt. Sie müssen sich
also weder zu Informanten noch zum
Inhalt derer Mitteilungen äußern. 2002
wurde dieses Recht sogar auf sogenann-
tes „selbstrecherchiertes Material“ er-
weitert.
Der Informantenschutz ist ein unver-
zichtbarer Teil des Redaktionsgeheim-
nisses. Grundlage ist die von Artikel 5
Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz geschützte
Pressefreiheit. Schon in seinem „Spie-
gel“-Urteil hat das Bundesverfassungs-
gericht (BVerfG) 1996 festgehalten: „Des-
halb gehört zur Pressefreiheit auch ein
gewisser Schutz des Vertrauensverhält-
nisses zwischen Presse und privaten In-
formanten. Er ist unentbehrlich, da die
Presse auf private Mitteilungen nicht ver-
zichten kann, diese Informationsquel-
le aber nur dann ergiebig fließt, wenn
sich der Informant grundsätzlich darauf
verlassen kann, dass das ‚Redaktionsge-
heimnis‘ gewahrt bleibt.“ Zum Redakti-
onsgeheimnis gehört zum Beispiel, dass
Redaktionsräume nur mit richterlichem
Beschluss und auch nur dann durchsucht
werden dürfen, wenn die Durchsuchung
verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.
Behörden und Gerichte zeigen dabei
meist große Zurückhaltung.
Dass der Informantenschutz und das
Redaktionsgeheimnis nach wie vor funk-
tionierende Pfeiler der Pressefreiheit
sind, zeigt ganz aktuell der „Fall Linde-
mann“: Die Staatsanwaltschaft hat das
gegen den Rammstein-Frontsänger ge-
richtete Ermittlungsverfahren einge-
stellt. Anzeigen hatten Personen erstat-
tet, die nicht selbst mit Lindemann in
Kontakt gekommen waren. Die Protago-
nistinnen, die häufig anonymisiert Teil
der Verdachtsberichterstattung waren,
haben sich hingegen nicht geoutet. Die
Redaktionen nahmen den Informanten-
schutz ernst und hielten ihre Informan-
ten geheim. Und die Staatsanwaltschaft
respektierte das Redaktionsgeheimnis
und rückte bei den Redaktionen nicht
mit Mannschaftswagen an, um eides-
stattliche Versicherungen zu suchen und
zu beschlagnahmen und so belastendes
Material auf Kosten der Pressefreiheit zu
sammeln.
Meine Meinung: Informantenschutz
und Redaktionsgeheimnis sind unver-
zichtbar und haben unverändert Bestand.
Sie können zwar keinen zivilrechtlichen
Unterlassungsanspruch gegen einen Me-
dienmitarbeiter begründen, der Informa-
tionen weitergibt. Sie halten aber in aller
Regel Staatsanwaltschaft und Gericht auf
Abstand, um frei von staatlichen Repres-
salien berichten zu können. Natürlich hat
das Redaktionsgeheimnis auch Lücken.
Nach dem Beschluss des LG Berlin muss
sich aber niemand um den Informanten-
schutz sorgen. Vorausgesetzt, die Redak-
tionen halten sich daran.
GERO HIMMELSBACH
ist Rechtsanwalt in München und
Honorarprofessor für Medienrecht
in Bamberg. Außerdem ist er
Mitherausgeber und Autor des im Beck-
Verlag erschienenen Buches „Presserecht“.
04.2023
04.2023 11
Weicherts Innovationscheck
KOMPRENO
BABYLON IN DER
HOSENTASCHE
Was ist das?
„Neue Horizonte. Grenzenlose ­Vielfalt,
unendliche Entdeckungen“ – man fühlt
sich erinnert an den Vorspann aus
„Raumschiff Enterprise“, wenn Kompre-
no seine babylonische Journalismus-App
vermarktet. Babylonisch deshalb, weil
Kompreno laut CEO Jochen Adler „aus
ganz Europa die besten Texte zusam-
menstellt, ohne Sprachbarrieren. Wir
arbeiten mit hochwertigen Quellen vom
gesamten Kontinent und übersetzen in
fünf Sprachen.“ Ins Deutsche übersetzt
werden die Texte mit der Übersetzungs-
KI DeepL.
Wer steckt dahinter?
Jochen Adler ist alleiniger Geschäftsfüh-
rer und Gründer des Start-ups mit Sitz in
Frankfurt. Der ausgebildete Fachinfor-
matiker und ehemalige Berater arbeitete
bis zur Gründung von Kompreno im Jahr
2020 – der Launch ging im April 2022
über die Bühne – in der IT-Entwicklung
eines großen Softwaredienstleisters.
Dabei sei er „natürlich in Berührung mit
Sprachtechnologie und KI“ gekommen.
Über sein Unternehmen sagt der 48-Jäh-
rige: „Wir selbst sind eher Netzwerk als
klassische Organisation: ein interdiszi-
plinäres, verteiltes Team, und unzählige
Unterstützer schon vor den ersten un-
ternehmerischen Schritten. Sonst hätte
ich als Gründer keine Chance gehabt.“
Warum braucht es das?
Internationale Presseartikel in einer ein-
zigen Übersetzungs-App (und Website)
zu übersetzen und auszuspielen, ist ein
nicht ganz taufrisches Produktverspre-
chen: Seit dem „Courrier international“,
DIE SERIE
Die Branche braucht dringend frische
Ideen. Aber nicht jeder hat das Zeug zum
erfolgreichen Gründer oder Innovator. Wir
nehmen deshalb spannende Start-ups
und neue Formate unter die Lupe: Was
sind Chancen, Herausforderungen und
Alleinstellungsmerkmale?
12
3 Vorwärtsdenker:
Jochen Adler,
Gründer von
Kompreno.
der französischsprachigen Presseschau
von mehr als 900 Publikationen weltweit,
hat sich die Presse-Rezeption auf euro-
päischer Ebene aber nicht nennenswert
weiterentwickelt. „Gleichzeitig wird es im
Social-Media-Zeitalter schwerer, hinter
Empörungswellen die Substanz zu er-
kennen oder zwischen Meinungen und
Fakten zu unterscheiden“, sagt ­Adler.
Deshalb brauche es „auf allen Ebenen
Entscheider – Vorwärtsdenker, Change-
maker, Bias-Breaker –, die handlungs-
fähig bleiben“. Die dazu benötigten „Zu-
sammenhänge, Hintergründe, Kontext
und einen unaufgeregten, frischen Blick“
wolle sein Produkt liefern.
Was ist das Besondere?
Natürlich die internationale P­ erspektive:
Ob vom Balkan oder aus Lateinamerika,
Kompreno will den Blick von außen auf
die Ereignisse zu Hause schärfen. Und
zugleich die Binnenperspektiven in den
jeweiligen Ländern konturieren, die auf-
grund schwächelnder Korresponden-
tennetzwerke zunehmend lückenhaft
werden. Es geht laut Adler um das Fin-
den „nützlicher Texte“, von denen (über
alle fünf Sprachen hinweg) bis dato über
7.500 veröffentlicht wurden: „Kein User
Generated Content, keine Resonanzräu-
me, sondern semantische Sprachtech-
nologie, die den Texten an die Substanz
geht – egal ob sie konservativ sind oder
progressiv, ‚links‘ oder ‚rechts‘.“
Wie finanziert sich das?
Kompreno ist werbefrei. Die App soll
sich – dank der Beteiligung renommier-
ter Medienhäuser – aus dem Lesermarkt
heraus finanzieren. Ein Monatsabo gibt
es derzeit für 19 Euro. Zwei Dutzend Me-
dienhäuser sind bereits Partner des
Start-ups, etwa „Le Monde“ (F), „Die Zeit“,
„Eastwest“ (IT), „MO*“ (BE) und „Pro-
spect“ (UK). Derlei Direktfinanzierung
könnte jedoch in der Breite schwierig
bleiben, der Abo-Markt journalistischer
Apps gilt als durchsättigt.
Hat das Zukunft?
Gründer Adler will ein Angebot ­schaffen,
„das den Wert von hochwertigem Jour-
nalismus vermitteln hilft“. Allerdings:
Diesen Anspruch verfolgen viele journa-
listische Gründer, von denen nur weni-
ge wirtschaftlich erfolgreich sind. Denn
die Kuratierung von Presseerzeugnissen
bleibt personalintensiv – und damit t­ euer.
KI-Technologien könnten diese Kosten
aber mittelfristig senken. Zudem gibt es
einen Trend zur resilienteren Mediennut-
zung: weg vom hektischen News-Overkill
hin zu ausgeruhten und personalisierten
Informationen. Diesen Trend würde eine
App wie Kompreno theoretisch bedienen.
Und Jochen Adler glaubt an sein Produkt:
„Es spielt keine Rolle, ob wir wie derzeit
27 Medienpartner haben, aus zwölf Län-
Fotos: Martin Kunze (Weichert), Olaf Herrmann (Adler)
dern, die in neun Sprachen publizieren –
oder doppelt so viele, oder auch zehn-
mal so viele. Die grenzenlose Vielfalt kann
ständig weiterwachsen.“
https://kompreno.eu
STEPHAN WEICHERT
ist Medienwissenschaftler und Publizist.
Gemeinsam mit dem Journalisten
Alexander von Streit leitet er das
Vocer Institut für Digitale Resilienz.
www.digitale-resilienz.org
04.2023
 Chefredakteur,
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Journalismus und der PR

04.2023 13
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Das Wissensmagazin „­Natur“
stellte sich vor dem Relaunch
laut Chefredakteurin Andrea
Stegemann eine Frage: Kann
ein attraktives Magazin noch
den Namen „Natur“ tragen,
wenn das Thema Natur in-
zwischen untrennbar mit Kli-
makrise, Artensterben und
Umweltkatastrophen verbun-
den ist? Lassen sich die schö-
nen Seiten der Natur zeigen
und die Bedrohungen ausblen-
den? Die Antwort laute Nein,
ohne dass allerdings eine Ti-
teländerung nötig sei. In letz-
ter Zeit habe das Magazin sich
viel mit den Folgen des Klima-
wandels wie den schmelzen-
den Gletschern beschäftigt.
Auch die Vermüllung der Oze-
ane durch Plastikabfälle alar-
miere. Psychologen warnten
indes, dass solche Schreckens-
meldungen bei Menschen zu
Panik und Depression führen
könnten. Moralismus wie die
Forderung nach dem Verzicht
auf Flüge oder Fleisch provo-
ziere Scham, was wiederum
Verleugnung und Aggression
zur Folge habe. Die Redakti-
14
on von „Natur“ wolle all dies
nicht. Das Heft begleite eine
Welt im Wandel und versuche,
die Menschen zu motivieren.
Im Ressort „Gesellschaft und
Zukunft“ etwa gehe es um die
Transformation in Richtung
Nachhaltigkeit im Rahmen des
demokratisch-kapitalistischen
Systems. Die Leser finden Pi-
lotprojekte und Umsetzungs-
beispiele. Was bringt voran,
was bremst? Die Titelgeschich-
ten in „Natur“ fallen mit dem
Relaunch mehrdimensional
aus. Sie erzählen von Faszinie-
rendem aus der Natur eben-
so wie von den aktuellen He-
rausforderungen und stellen
Handelnde vor. Freie sind bei
„Natur“ sehr willkommen mit
Themenangeboten für alle drei
Ressorts, aber auch für mögli-
che Titelgeschichten. Und so
geht’s: Küchenzuruf, kurzer
Hintergrund zur Geschichte
und Nennung möglicher Ge-
sprächspartner. Wichtig sind
die wissenschaftliche Fundie-
rung und ein klarer roter Faden
des Beitrags. Honorar nach
Vereinbarung.
K „Natur“, Chefredakteurin Andrea
Stegemann
M redaktion-natur@konradin.de
Text: BERND STÖSSEL
WEIL
Brand eins / Carlsen
8 Euro. Auflage: 10.000
EW: zweimonatlich
Angebote per E-Mail
Beim Wirtschaftsmagazin
„Weil“ für Kinder im Alter von
vor allem neun bis elf Jah-
ren handelt es sich um ein ge-
meinsames Projekt der Verlage
Brand eins und Carlsen. Bemer-
kenswert: Das Heft enthält kei-
ne Anzeigen und ist ausschließ-
lich im Abo, nicht am Kiosk
erhältlich. Kindern soll Lust
auf Wirtschaft und Zukunft ge-
macht werden. Die Idee: Die
jungen Leserinnen und Leser
lernen spielerisch, dass Wirt-
schaft bedeute, sich in der Welt
zurechtzufinden, mit anderen
zu handeln und zu planen, das
eigene Leben zu gestalten und
sich Neues auszudenken. Die
Geschichten spiegeln den All-
tag der Kinder, etwa anhand
von Spielekonsolen oder einem
neuen Paar Sneakers. Wie bei
„Brand eins“ gilt: Wirtschaft
bedeutet mehr als Zahlen und
Bilanzen. Die Redaktion zeigt
sich offen für jedes Thema und
ist an guten Autorinnen und
Autoren interessiert. Die Kunst
besteht darin, komplexe Sach-
verhalte kindgerecht zu erzäh-
len. Interessenten schicken bit-
te per Mail eine ausformulierte
Idee und eine zumindest an-
recherchierte Themenskizze.
Gern gesehen: einige Arbeits-
proben. Honorar: pro 1.000
Zeichen ab 100 Euro.
K „Weil“, Redaktionsleiterin Margitta
Schulze Lohoff
M margitta_lohoff@brandeins.de
FAVORIT
Jahreszeiten
Kostenlose Beilage. Auflage: 250.000
EW: drei Mal, ab 2024 vier Mal im Jahr
Angebote per E-Mail
Die Premium-Beilage „Favo-
rit“ erhalten Leser der Jahres-
zeiten-Titel „AW Architektur
& Wohnen“, „Der Feinschme-
cker“ und „Robb Report“. Glo-
ria von Bronewski, die Chefre-
dakteurin der Luxus-Zeitschrift
„Robb Report“, zeichnet auch
für „Favorit“ verantwortlich.
Die Beilage widmet sich „den
schönen Dingen“ und soll eine
Brücke schlagen zwischen Er-
schwinglichem, Sehnsuchts-
produkten und persönlichen
Geschichten, die inspirieren
und den Alltag verschönern.
Gloria von Bronewski betont,
der Jahreszeiten Verlag schät-
ze die Kreativität und die Ni-
schenexpertise von freien
Mitarbeitern sehr. Als Themen-
schwerpunkte im kommenden
Jahr sind geplant: Zukunft, Rei-
se, Design sowie Ende 2024 ein
Special zu Schmuck und Uhren
sowie mit Tipps zur stilvollen
Kunst des Gastgebens. Autoren
für „Favorit“ sind Experten auf
ihrem Gebiet, sei es Kulinarik,
Reisen oder Automobil. Vorge-
stellt werden die gefragtesten
Produkte, verpackt in die Ge-
schichte dahinter. Der Jahres-
zeiten Verlag arbeitet bei „Fa-
vorit“ mit der Berliner Agentur
Haladin & Weber zusammen,
Themenvorschläge gehen an
diese. Honorar nach Vereinba-
rung.
K „Favorit“, Anne Haladin
M info@haladinweber.com
04.2023
04.2023 15
Zwischenruf. Digitaljournalismus
Nachrichten
ohne News
Relevant müssen Nachrichten sein, Aktualität
dagegen wird als Voraussetzung überschätzt.
Sie kann im Journalismus sogar schaden,
wenn sie den Blick aufs Wesentliche verstellt.
N
achrichten, wir brauchen Nachrichten!
Digitaljournalistische Produkte ohne die
schnellen News können nicht funktio-
nieren. Kleine Displays, eilige User – wer
da beim Schreiben nicht direkt auf den
Punkt kommt, hat verloren.
Damit ein Sachverhalt oder ein Ereignis eine Nach-
richt werden kann, so haben wir es mal im Volon-
tariat, auf der Journalistenschule oder im Journalis-
tik-Studium gelernt, müssen zwei Voraussetzungen
erfüllt sein: Aktualität und Relevanz. Dass etwas neu
ist, reicht für sich noch nicht. Wenn der berühm-
te Sack Reis in China umfällt, dann ist das zwar ein
aktuelles Ereignis. Zur Nachricht wird es aber erst
dann, wenn das auf einem Flugfeld in Peking pas-
siert und in der Folge den internationalen Flugver-
kehr erheblich ins Stocken bringt.
Es geht ums Verstehen und Fühlen
Doch zunehmend stellen wir fest, dass uns das klas-
sische Nachrichtenverständnis direkt ins Abseits
führt. Menschen möchten ihre Lebenswelt bes-
ser verstehen; sie brauchen aktivierende Tipps und
Tricks, um besser durch den Alltag zu kommen; und
sie wollen unterhalten, sie wollen abgelenkt werden,
damit vor lauter Fakten, Fakten, Fakten die Emoti-
onen nicht unter die Räder kommen. „User Needs“
oder „Persona Needs“ heißt das heute im schönsten
redaktionellen Neudeutsch.
Klar ist also: Wer digital erfolgreich sein will, wer
Reichweite braucht und Abo-Abschlüsse, der muss
neue Wege gehen, der muss sich von alten Regeln lö-
ALEXANDER sen. Das heißt nicht, dass der Nachrichtenschreiber
MARINOS alles Gelernte vergessen soll. Vielmehr geht es dar-
ist stellvertreten- um, das Nachrichtenschreiben weiterzuentwickeln:
der Chefredakteur Wären also Nachrichten denkbar, ohne dass es einen
der WAZ in Essen, konkreten aktuellen Aufhänger gibt? Nachrichten
promovierter ohne „News“ sozusagen?
Diplom-Journalist Die Berichterstattung zur Clan-Kriminalität im
und Autor des im Ruhrgebiet etwa bewegt die dort lebenden Men-
Verlag Springer schen so sehr, dass sie fast alles dazu lesen wollen.
VS erschienenen Die Zahl der Visits, die Lesedauer, Paywall-Views
Buchs „Modernes und Abo-Abschlüsse sprechen eine klare Sprache:
Nachrichten- Man kann also, man muss ein Thema, das maximal
schreiben“. relevant ist, immer wieder aufgreifen, ohne dass es
16
jeweils eines aktuellen Aufhängers bedarf. Hier geht
es nicht (mehr) um News. Hier geht es ums Verste-
hen, ums Fühlen und um Handlungsoptionen. War-
um wirkt die Polizei machtlos? In welchem Stadtteil
bin ich sicher? Wer als Nutzer klassische Nachrich-
ten ermüdend findet, wird so wieder munter.
Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm
Grimm heißt es, die Nachricht sei eine Mitteilung
„zum Darnachrichten“. Offenbar gab es schon im
19. Jahrhundert eine Vorstellung davon, was „User
Needs“ sind. Hier sollten wir im 21. Jahrhundert an-
knüpfen. Moderne Redaktionen haben sich längst
auf den Weg gemacht. „Online first“ ist dort zu
„User first“ geworden.
Solche Redaktionen fragen sich: Wer sind unsere
Zielgruppen? Und wie ticken diese? In Redaktions-
konferenzen greifen die Kolleginnen und Kollegen
dann nicht zuerst zum Terminbuch, sondern fragen
sich: Was bewegt unsere Leserinnen und Leser vor
Ort? Statt sich also, um eine Metapher zu bemü-
hen, zuerst eine Predigt zu überlegen und dann dar-
auf zu hoffen, dass die Kirche voll wird, müssen wir
dorthin gehen, wo die Menschen schon sind, mit ih-
ren Sorgen, Bedürfnissen und Emotionen. Das be-
einflusst die Themenwahl, aber auch die Aufberei-
tung von Themen und die Nutzung der richtigen
Informationskanäle.
Betriebswirtschaftlicher Unsinn
Der Terminbuchjournalismus war doch schon wäh-
rend der Coronakrise tot, als das gesellschaftliche
Leben praktisch nicht mehr vorhanden war. War-
um sollten wir ihn jetzt wiederbeleben? Warum
sollten wir wieder die langweilige Pressekonferenz
der VHS besuchen, die uns ihr Jahresprogramm
auch zuschicken kann? Warum laufen wir einer sol-
chen Pseudo-Aktualität hinterher, statt dorthin zu
gehen, wo das Leben tobt? Wir produzieren noch
zu viele Artikel, in die die Autoren mehr Arbeits-
zeit stecken, als alle Leser zusammen an Lesezeit
aufwenden. Das geht auf Dauer nicht gut. Das ist
im Hinblick auf unsere begrenzten Ressourcen be-
triebswirtschaftlicher Unsinn.
Lösen wir uns also von unserem Streben nach Ta-
gesaktualität, wenn nicht gerade ein Flugzeug ab-
stürzt oder die Schule brennt oder uns der Bürger-
meister exklusiv ein Geheimnis verrät, das vielleicht
nicht lange ein Geheimnis bleibt, und planen wir re-
levante (!) Themen frühzeitig in Wochen- und Mo-
Foto: Kerstin Kokoska, Funke Foto Services
natskonferenzen.
Mehr noch: Alles, was nicht zwingend tagesaktu-
ell ist, sollte auch schon mit Vorlauf produziert wer-
den. Je mehr, desto besser. Früher nannten das die
Redaktionen „Stehsatz“. Er sorgt für einen ruhige-
ren Schlaf, weil er die Von-der-Hand-in-den-Mund-
Produktionsweise vermeidet, die die Gesundheit der
Redakteure und die Qualität der Produkte gleichsam
verschlechtert, ja ruiniert.
Denn die gute Nachricht ist: Nachrichten zum Da-
nachrichten brauchen nicht zwingend einen aktuel-
len Aufhänger.
04.2023
Wir sind viele!
VOCER Festival für Nonprofit-Journalismus
Internationale Konferenz in Kooperation mit der taz Panter Stiftung

u.a. mit
Monika
Bäuerle
(Mother in
Jones)
Markus
Beckeda
(Netzpo hl
li
Barbara tik.org)
Jun
Wladimir ge (taz)
Kaminer
(Schrifts
teller)
Tabea
(Bündnis Rößner
90/Die G
Georg M rünen)
ascolo
(Journali
st)

am 6. & 7. Oktober 2023 | Berlin

jetzt kostenlos anmelden unter
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04.2023 17
Backstage. Klatsch & Wahrheiten
Über ausbleibende Honorare und
Interessenkonflikte in Berlin
Warum der „Tagesspiegel“
einigen freien Mitarbeitern
Geld schuldet
Dass die Honorare bei Tageszeitungen in der Regel
bescheiden sind – darüber klagen freie Journalistin-
nen und Journalisten schon lange. Einige freie Mit-
arbeitende des „Tagesspiegel“ sagen nun: Wenn es
auch noch mit viel Aufwand verbunden ist, um das
wenige Geld zu bekommen, das einem zusteht, rech-
net sich die Mitarbeit erst recht nicht mehr.
Hintergrund: In den vergangenen Monaten hat der
„Tagesspiegel“ immer wieder frei Mitarbeitende ver-
tröstet, die auf ausbleibende Honorare hinwiesen.
Mal ging es um dreistellige Gesamtbeträge, mal um
mehr. Eine Person aus dem Kreis der freien Mitar-
beitenden sagt, sie habe vier Monate gebraucht, um
drei ausstehende Honorare zu bekommen – und da-
für rund ein Dutzend Mails an verschiedene Perso-
nen geschrieben.
Die Organisation Freischreiber sagt, die Zahl der
ihr bekannten Fälle liege im unteren zweistelligen
Bereich. Die Dunkelziffer ist aber schwer zu schät-
zen: Manche Freie reden auch nicht gern über Geld,
andere sind kaum vernetzt.
Die Unternehmenskommunikation des „Tagesspie-
gel“ schreibt auf unsere Anfrage, „bedauerlicherwei-
se“ sei es „ab Mitte Juni teilweise zu Verzögerungen
bei der Zahlung der Honorare an unsere freien Mit-
arbeitenden gekommen“. Die uns bekannten Fälle
DER AUTOR
René Martens ist freier
Journalist und regel-
mäßig Mitglied der
Grimme-Preis-Nominie-
rungskommission in der
Kategorie Info & Kultur.
Twitter:
@renemartens
18
betreffen aber vor allem den Zeitraum davor: Janu-
ar, März, Mai. Als Grund für die Probleme nennt der
Verlag zum einen eine „Cyberattacke“ gegen „unse-
ren IT-Dienstleister“. Zum anderen „stecken wir in
der grundsätzlichen Umstellung unseres gesamten
Buchhaltungssystems“. Eine ähnliche Mail der Un-
ternehmenskommunikation ging einige Wochen zu-
vor an Autorinnen und Autoren.
Dass der „Tagesspiegel“ den Freien so eine Begrün-
dung auftischt, ist dreist. Kein Dienstleister würde
akzeptieren, dass er sein Geld nicht bekommt, wenn
ihm der Kunde sagt, er könne leider gerade nichts
überweisen, weil er seine Buchhaltung umstelle.
Mehr noch als der stockende Geldfluss ärgert die
Mitarbeitenden, dass der „Tagesspiegel“ sie nicht
proaktiv informierte. „Wenn man weiß, dass es Pro-
bleme gibt, muss man die Betroffenen informieren –
und nicht darauf warten, bis die sich melden“, sagt
die stellvertretende Freischreiber-Vorsitzende Caro-
line Ring. Mit dem Anspruch einer Zeitung, „die auf
der nationalen Bühne mitspielen will“, sei das Ver-
halten des „Tagesspiegel“ kaum vereinbar. Auf unse-
re Frage, warum der Verlag in der Kommunikation
mit den Freien nicht selbst die Initiative ergriff, ging
die Sprecherin nicht ein. Anfang September warte-
te mindestens noch eine Person auf ein Honorar aus
dem Juni.
Wieso bei „Bild“ jetzt
die Regierung mit am
Frühstückstisch sitzt Fotos: NDR / Christian Spielmann, Jesco Denzel (Degenhardt)
„Please stärke die FDP“ – diese Bitte richtete Sprin-
ger-Chef Mathias Döpfner bekanntlich zwei Tage
vor der Bundestagswahl 2021 per Textnachricht an
den damaligen „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt.
Dessen Nach-Nachfolgerin Marion Horn hat diese
Devise nun mit einer Personalentscheidung umge-
setzt: Zum 1. September holte sie Kati Degenhardt in
die Chefredaktion – und damit die Ehefrau des stell-
vertretenden Regierungssprechers Wolfgang Büch-
ner. Büchner war auf dem Ticket der FDP zu seinem
Posten gekommen, nachdem er vorher die Partei be-
reits in Kommunikationsfragen beraten hatte.
Degenhardt, zuletzt bei „T-Online“ und davor
schon unter Horn bei der „Bild am Sonntag“ tätig,
habe „in der ersten Redaktionskonferenz allen Kol-
leginnen und Kollegen“ ihre Ehe mit Wolfgang Büch-
04.2023
ner und dessen Funktion „offen dargelegt“, sagt
Springer-Sprecher Christian Senft. Außerdem sei das
„bestehende Compliance-Regelwerk glasklar“. Laut
diesen Leitlinien stimmen sich Journalisten des Hau-
ses „grundsätzlich mit ihrem Vorgesetzten ab, falls
(...) durch eine Beziehung zu Personen oder Insti-
tutionen der Anschein erweckt werden könnte, dass
dadurch die Neutralität ihrer Berichterstattung be-
einträchtigt würde“. Sie berichteten „grundsätzlich
nicht über nahestehende Personen, insbesondere Fa-
milienangehörige“.
Das klingt eindeutig, ist es aber in der Praxis nicht
wirklich. Das zeigt schon eine wesentlich bekanntere
FDP-Springer-Connection: Seit Mai 2022 arbeitet die
Journalistin Franca Lehfeldt als Politik-Chefreporte-
rin für den Nachrichtensender Welt. Dabei berichte-
te sie teilweise auch über die FDP – und damit na-
türlich mindestens indirekt auch über das Handeln
ihres Ehemanns, Bundesfinanzminister und Partei-
chef Christian Lindner. Kurz nach Lehfeldts Dienst-
antritt bei Springer dokumentierte „Übermedien“ ei-
nige Beispiele für solche Beiträge.
Wenige Monate später betonte Lehfeldt gegenüber
der „Zeit“ indes, sie berichte „nicht über die FDP und
das Bundesfinanzministerium“. Klingt wie ein guter
Kompromiss, verstellt aber den Blick aufs Wesent-
liche: Eine Politik-Chefreporterin kann nicht nicht
über das Bundesfinanzministerium berichten. Das
Finanzministerium ist ein Schlüsselressort und be-
einflusst so gut wie alle politischen Entscheidungen
– zumal Lehfeldts Gatte seine Rolle als Minister of-
fensiver als viele Vorgänger interpretiert.
Die Argumentation von Springer-Sprecher Senft in
Sachen Kati Degenhardt ähnelt nun der von Lehfeldt:
Degenhardts Ressorts Leben & Gesellschaft sowie
Wissenschaft & Forschung berichteten „weder über
die Bundesregierung noch über politische Parteien“.
Dafür sei bei „Bild“ die Politikredaktion zuständig.
Da Wissenschaftsjournalismus inzwischen teilweise
hochpolitisch ist – siehe Klima und Corona –, über-
zeugt diese Argumentation wenig.
Zudem ist die Vorstellung, so etwas wie Geheim-
haltung am Frühstückstisch könne funktionieren,
lebensfremd. Heißt also: Vize-Regierungssprecher
Büchner hat nun ein Ohr am Puls der „Bild“-Chef-
redaktion – und Degenhardt einen ungewöhnlich gu-
ten Zugang zu aktuellen Informationen aus dem Re-
gierungslager.
Natürlich darf niemand Journalistinnen und Jour-
nalisten Regeln für ihr Privatleben und ihre Karrie-
re vorschreiben. Ergibt sich für ein Paar eine berufs-
ethisch potenziell problematische Job-Konstellation,
kann man nur hoffen, dass einer der Beteiligten von
sich aus Abhilfe schafft.
Ein Vorbild könnte Daniela Schadt sein, die Lebens-
gefährtin Joachim Gaucks: Bei der „Nürnberger Zei-
tung“ war sie nach einem Volontariat insgesamt 20
Jahre Redakteurin, leitete lange das Ressort Innenpo-
litik. 2012, als Joachim Gauck zum Bundespräsiden-
ten gewählt wurde, gab sie ihren Posten bei der Zei-
tung sofort auf.
04.2023
Welche Tipps der NDR
Medienjournalisten gibt
Die Medienrechtskanzlei Schertz Bergmann ist unter
anderem bekannt dafür, dass sie an Redaktionen so-
genannte Informationsschreiben verschickt. Damit
weisen die Top-Advokaten gerne Journalisten, die
Beiträge zu Mandanten der Kanzlei planen, mit einer
fast schon an Liebenswürdigkeit grenzenden Höf-
lichkeit auf mögliche presserechtliche Fehltritte hin. ZIEMLICH DREIST
Von dem Wirken der berühmten Kanzlei scheint Beim „Tagesspie-
jetzt die Pressestelle des NDR inspiriert zu sein. Auf gel“ müssen einige
Nachfrage zur aktuellen beruflichen Entwicklung ei- Freie ­monatelang
ner im Landesfunkhaus Kiel tätigen Person schreibt auf ihr Geld
eine Sprecherin: „Gestatten Sie den Hinweis, dass ­warten.
wir davon ausgehen, dass jegliche identifizierende
Darstellung einzelner Mitarbeitender des NDR un-
terbleibt, die keine Leitungsfunktion ausüben und
auch nicht beruflich in der Öffentlichkeit stehen.“ Ja,
so macht Medienjournalismus Spaß!
Die Person kam bereits in Ausgabe 1/23 dieser Ko-
lumne vor. Anfang des Jahres hatte sie „auf eigenen
Wunsch“ die Leitung eines Ressorts abgegeben. Sie
habe „aus persönlichen Gründen darum gebeten,
Aufgaben abgeben zu dürfen und ihre Arbeitszeit
zu reduzieren“, wie der NDR damals mitteilte. Laut
Stimmen aus der Belegschaft sollen Mitarbeitende ZU NAH DRAN?
des besagten Ressorts vorher heftig gegen den Füh- Die neue „Bild“-­Vize
rungsstil der Person protestiert haben. Kati ­Degenhardt
Der interne Unmut ist mittlerweile wieder groß, hat persönliche
weil die umstrittene Ex-Führungskraft nun an der Verbindungen in die
Neukonzeption des Ressorts Politik & Investigation Politik.
(P&I) mitwirkt. Jedenfalls soll sie den derzeitigen
Abteilungsleiter Andreas Schmidt dabei „unterstüt-
zen“, schrieb die stellvertretende Landesfunkhaus-
direktorin Bettina Freitag in einer Mitteilung an die
Mitarbeitenden. Eine „Führungs- oder Leitungsfunk-
tion“ habe die frühere Vorgesetzte derzeit nicht inne,
sagt die NDR-Sprecherin. Mitarbeitende haben da-
gegen den Eindruck, sie rücke wieder schleichend in
eine solche Rolle.
Der Hinweis der NDR-Kommunikatorin ist grund-
sätzlich nicht unplausibel. Branchenjournalismus
braucht Grenzen, es muss gewährleistet sein, dass ZUVORKOMMEND
einfache Redakteure durch Berichterstattung keine Beim NDR gibt
Nachteile erfahren. Aber: Ist es wirklich unzulässig, man Kollegen
sich journalistisch mit jemandem zu beschäftigen, gerne Tipps für die
der an der Neuausrichtung eines äußerst wichtigen Berichterstattung.
Ressorts mitwirken soll? Zumal das Thema Füh-
rungskultur und Betriebsklima den NDR zuletzt
mehrfach in die Kritik brachte.
Korrektur: In Ausgabe 3/23 hatten wir an dieser Stelle
geschrieben, dass der WDR für die Berichterstattung aus
den Landesstudios eine zusätzliche Hierarchieebene ein-
gezogen habe. Das ist nicht korrekt. Tatsächlich gab es
die betreffende Hierarchieebene „Programmgruppenlei-
tung“ schon – sie wurde jetzt aber personell erweitert.
19
Medien. Umfragen
Trügerische
Trends
Das Umfrageinstitut
Civey denkt das Thema
Demoskopie im Internet
neu. Das gefällt nicht
allen, vor allem nicht den
etablierten Konkurrenten.
Auch Medien stehen in
der Kritik, weil sie auf
Umfragen des Berliner
Start-ups zugreifen. Doch
ist Civey tatsächlich so
schlecht wie sein Ruf?
W
enn am 8. Oktober um
18 Uhr die Wahllokale
in Bayern und Hessen
schließen, geht sie wie-
der los, die große Ab-
rechnung: Welches Institut lag mit seiner
Umfrage vom Endergebnis am weitesten
daneben? Welches Medienhaus hat auf
dieser Basis die peinlichste Schlagzeile
produziert? Ein Dienstleister scheint sich
da besonders häufig zu vergaloppieren:
das Start-up Civey aus Berlin.
Diesen Eindruck vermittelt zumindest
der anonyme X-Account @civeywatch,
dessen Zuschreibung „unseriös“ für Ci-
Auch wir erreichen vey noch die freundlichste ist. Aber auch
online nicht jeden die hochseriöse FAZ berichtet durchweg
kritisch über die Online-Demoskopen.
Menschen. Platzhirsch Forsa lässt ebenso keine Ge-
Das behaupten
legenheit aus, den Newcomer öffentlich
wir aber auch nicht. herunterzureden und sogar vor Gericht
zu zerren, weil dieser beispielsweise da-
JANINA MÜTZE mit warb, man sei „zuverlässiger als die
Co-Geschäfstführerin Civey Konkurrenz“ (Aktenzeichen: 33 O 20/20).
20
Und aus den Reihen der Wissenschaft
tritt der Sozialforscher Rainer Schnell als
Dauerkritiker hervor. So sagte er gegen-
über „medium magazin“ (5/2021) einmal,
wer mit Civey arbeite und die Grenzen
dieser Online-Umfragen nicht reflektie-
re, habe „jeden Kredit als Nachrichten-
quelle verloren“. Doch ist Civey tatsäch-
lich so schlecht wie sein Ruf?
Bei der Bundestagswahl 2021 erhob Ci-
vey laut Ranking des Branchenverbands
ADM die zweitbeste Voraussage nach Al-
lensbach. Auch bei den Wahlen im Saar-
land und in Schleswig-Holstein im Jahr
drauf holten die Berliner jeweils Silber.
Andererseits: Bei der NRW-Wahl 2022
waren die Abweichungen größer als bei
den anderen Umfrageinstituten, eben-
so bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus
Foto: Marc Hohner
in der Hauptstadt in diesem Februar.
Der „Spiegel“, Medienpartner der ers-
ten Stunde, leitete aus den Civey-Daten
noch kurz vor Schluss ein Kopf-an-Kopf-
Rennen von CDU und SPD ab und zog
04.2023
2 JANINA MÜTZE
Die Co-Geschäftsführerin des
oft kritisierten Umfrage-Start-
ups Civey nimmt die Medien
in die Pflicht: Nicht jedes
überraschende Umfrage-
ergebnis sei gleich eine große
Trendwende und damit eine
Schlagzeile wert.
damit Spott auf sich – die CDU gewann
mit einem 10-Prozent-Vorsprung.
Dass Treffer Glückssache sein könn-
ten, streiten Demoskopen traditionell ab.
Ist das Rennen zwischen Parteien sehr
knapp, entschuldigen sie ihren Irrtum
mit der Fehlermarge von meist 2 Prozent,
die sie sich im Umfrageverfahren zuge-
stehen. Das war schon so zu den Pionier-
zeiten von Elisabeth Noelle-Neumann in
den 1960ern. Und so halten es auch die
Meinungs- und Marktforscher von Civey,
die das Feld der noch relativ neuen On-
line-Demoskopie 2015 betraten.
Anders als etwa Allensbach schickt Ci-
vey keine Mitarbeiter mit Klemmbrettern
los, um Leute nach ihren Präferenzen für
Parteien oder Hundefutter zu befragen.
Denn das ist extrem zeitaufwendig und
teuer. Auch telefoniert bei Civey niemand
die Republik ab. Die Befragten kommen
von allein: Bei der Lektüre einer Webseite
klicken sie auf das eingebettete Webfor-
mular. Fertig. Voraussetzung ist nur eine
vorherige Registrierung. Civey honoriert
die Klickmühe mit dem Sofortbild, wie
die anderen abgestimmt haben.
Gibt es die perfekte Stichprobe?
Rainer Schnell erläuterte zuletzt im
„Zeit“-Interview erneut, was er von die-
ser „Self-Selection“ hält: nichts. Civey er-
wische so nur Menschen, die Inhalte sei-
ner Medienpartner läsen. Aus Schnells
wissenschaftlicher Sicht sind solche Um-
fragen nicht repräsentativ.
Allerdings: Die von Schnell eingefor-
derte perfekte Stichprobe, die nach dem
Zufallsprinzip ein exaktes Spiegelbild
der Gesellschaft liefert, ist ebenfalls we-
der auf der Straße noch telefonisch zu
bekommen. Denn dazu müsste jeder
Mensch die gleiche Chance bekommen,
in einer Befragung berücksichtigt zu wer-
den. Viele Menschen besitzen kein Fest-
04.2023
netztelefon mehr oder wollen am Handy
nicht teilnehmen.
„Auch wir erreichen online nicht jeden
Menschen“, sagt Janina Mütze, Co-Ge-
schäftsführerin von Civey, „aber das be-
haupten wir auch nicht. Wir arbeiten mit
Nicht-Zufallsstichproben, die wir nach
Gewichtungsvariablen wie Alter, Ge-
schlecht und Werte gewichten. Nichts
anderes machen auch unsere Wettbe-
werber.“
Nach welcher Formel genau sie das tun,
ist wie bei den Mitbewerbern Betriebsge-
heimnis. Meinungsumfragen sind eben
ein Geschäft. Auch deshalb wird um die
Verteilung des Kuchens so heftig gerun-
gen. So heftig, dass sich 2018 auf Be-
schwerde von Forsa und zwei weiteren
Instituten der Deutsche Presserat ein-
schalten musste. Er kam zu dem Schluss:
Online-Umfragen von Civey sind presse-
ethisch unbedenklich.
Mehr als 40 Redaktionen und Verlage
zählt Civey zu seinen Kunden. Große Na-
men wie „Spiegel“, „Tagesspiegel“ und
„T-Online“ verleihen dem Online-Insti-
tut quasi das Siegel der Seriosität. Auch
die „Augsburger Allgemeine“ gehört seit
2017 dazu. Im Vorfeld der Bayernwahl
2018 suchte das Regionalblatt ein Um-
frageinstitut, um ein länger angelegtes
Projekt zu realisieren: den „Bayern-Mo-
nitor“. Dieses Stimmungsbarometer ent-
hält die bayerische Sonntagsfrage, die
User übers Jahr 24/7 beantworten können
und deren Ergebnis regelmäßig bundes-
weit verbreitet wird. Niklas Molter, Lei-
ter der Digital-Redaktion, macht keinen
Hehl daraus, dass seine Zeitung mit den
Web-Surveys die Hoffnung verknüpft,
Seitenaufrufe zu generieren und Leser
zu binden. „Die Zugriffszahlen hängen al-
lerdings stark davon ab, was wir erfragen
und wie spannend das Rennen in einem
Wahlkampf ist.“
Die fortdauernde Kritik an Civey und
der Streit unter den Meinungsforschern
bleibt der Redaktion natürlich nicht ver-
borgen. Molter zufolge lässt man sich re-
gelmäßig erklären, wie bestimmte Umfra-
geergebnisse zustande kamen. Oder wie
Civey zum Beispiel verhindert, dass der
komplette CSU-Ortsverband Heiligen-
stadt für die eigene Partei abstimmt. Tat-
sächlich gab es einen ähnlichen Vorfall
bereits bei einer Umfrage auf der „Spie-
gel“-Website.
„Das heißt aber nicht, dass all die-
se Stimmen zählen“, sagt Janina Mütze,
„diese Macht haben die Nutzer nicht. Das
entscheidet der Algorithmus. Er tariert
das Abstimmungsaufkommen aus.“ Lau-
fende technische, statistische und inhalt-
liche Plausibilitätschecks sollen zudem
ausschließen, dass sich Panelisten heute
auf dem Handy als 18-jähriger Abiturient
ausgeben und morgen auf dem Tablet als
Gynäkologin mit niedergelassener Praxis.
Damit kann das Online-Institut die Sor-
gen seiner Medienpartner offenbar zer-
streuen. „Wir sind immer wieder zu dem
Ergebnis gekommen, dass wir Civey ver-
trauen“, sagt Molter. Auch der „Spiegel“
teilt mit, man habe „insgesamt gute Er-
fahrungen gemacht“, und gibt zu beden-
ken, „dass die traditionelleren Verfahren
etablierter Anbieter neben Stärken eben-
falls ihre Schwächen haben“. Dass Civey
mit Kosten von um die 1.500 Euro pro
Umfrage deutlich günstiger ist, sei für
das Nachrichtenmagazin „nicht das aus-
schlaggebende Kriterium“ gewesen. Viel-
mehr habe überzeugt, dass sich mit dem
Tool Stimmungen „zeitnah und zuverläs-
sig“ erfassen lassen.
Medienpartner in der Pflicht
Bleibt die Frage: Wenn die Civey-Zah-
len nicht schlechter sind als die der an-
deren – warum kommt es zu Schlagzeilen
wie zuletzt in Berlin? Die Institutschefin
nimmt auch die Medienpartner in die
Pflicht: Man weise stets auf die statis-
tische Unschärfe hin und dass man die
Zahlen in den Kontext der vergangenen
Wochen setzen muss: „Wenn kurz vor
Schluss plötzlich jemand vor den ande-
ren rutscht – ist das wirklich schon die
große Trendwende, die man als Schlag-
zeile raushauen muss? Das ist ein schma-
ler Grat“, findet Mütze.
Fakt ist: Die Zahl der internetbasierten
Surveys nimmt zu, immer mehr Anbieter
drängen auf den Markt, auch die Öffent-
lich-Rechtlichen. #MDRfragt, #NDRfragt
und ZDFmitreden setzen wie Civey auf
ein selbstrekrutiertes Panel. Repräsenta-
tiv sind diese eigenen Befragungen nicht,
wie der MDR betont, jedoch von „er-
staunlicher Genauigkeit“. Dennoch gibt
es für die Anstalt in Mitteldeutschland
Bereiche, „deren Ergründung wir ganz
klar repräsentativen Instituten überlas-
sen“ – beispielsweise die klassische Sonn-
tagsfrage im Vorfeld von Wahlen.
SENTA KRASSER
ist freie Journalistin in
Bergisch Gladbach.
senta@krasserjournalismus.de
21
Medien. Whistleblowing

J Verpasste Chance
ournalistinnen und Journalis-
ten lieben sie, Arbeitgeber und
Bösewichte hassen sie: Whistle-
blower. Sie weisen auf bedeutsa-
me gesellschaftliche Missstände
hin und sind deshalb aus dem investiga- Das neue Hinweisgeberschutzgesetz bringt einige
tiven Journalismus nicht wegzudenken.
Schließlich gehen die Enthüllungen gro- ­Verbesserungen für Whistleblower. Doch Kritikern geht
ßer Skandale wie Lux-Leaks auf solche es nicht weit genug. Was die umstrittene Novelle für die
Hinweisgeber zurück. Gleichzeitig müs- journalistische Praxis bedeutet.
Foto: Sebastian Kahnert / dpa / picturedesk.com

sen Whistleblower aber oft Mobbing,

Jobverlust oder andere Repressalien be-
fürchten.
Wegen des lückenhaften und unzurei-
chenden rechtlichen Schutzes von hin-
weisgebenden Personen hatte die Eu-
ropäische Union bereits 2019 eine
Whistleblower-Richtlinie verabschiedet.
Deutschland hat sich bei der Umsetzung
in nationales Recht jedoch besonders
schwergetan: Erst vier Jahre später ist das
neue Hinweisgeberschutzgesetz nun An-
fang Juli in Kraft getreten. Eigentlich hät-
te dies bis Dezember 2021 erfolgen sol-
len. Allerdings war das Gesetz politisch
heftig umstritten – zuletzt hatte es unter
anderem die Hilfe eines Vermittlungsaus-
schusses benötigt, um die Zustimmung
des Bundesrats zu erreichen.
Wo vorher Rechtsunsicherheit bestand,
soll also nun Klarheit herrschen. Aber
was ändert sich wirklich? Klar ist: Das
neue Gesetz bringt formal einige Verbes-
serungen für Hinweisgeber mit sich. So
muss künftig der Arbeitgeber beweisen,
dass eine Repressalie nicht mit Whistle-
blowing im Zusammenhang steht. Bis-
lang musste der Whistleblower beweisen,
dass er die Nachteile am Arbeitsplatz auf-
grund seiner Hinweise erfahren hatte. Ei-
nen solchen Nachweis vor Gericht zu er-
bringen, ist allerdings schwierig. Deshalb
war die alte Regelung wenig hilfreich für
Whistleblower.
Zweitens können Whistleblower nun
frei wählen, ob sie sich an eine beim Ar-

22 04.2023
2 Held oder
­Verräter: Für die
meisten Menschen in
Deutschland dürfte
der Whistleblower
Edward Snowden ein
Held sein. Das neue
Hinweisgeberschutz-
gesetz würde jemand
wie ihn aber dennoch
nicht schützen.
beitgeber angesiedelte Hinweisgeber-
stelle oder an eine externe, staatliche
Meldestelle wenden. Bislang galt keine
Wahlfreiheit, zuerst musste der interne
Weg durchlaufen werden. Und drittens:
Arbeitgeber mit mehr als 50 Beschäftig-
ten müssen jetzt eine interne Meldestelle
einrichten.
„Die Novelle ist sicherlich eine Ver-
besserung für Hinweisgeber“, sagt auch
Daniel Drepper, Leiter des Recherche-
verbundes von WDR, NDR und „Süd-
deutscher Zeitung“. „Dass sich Whistle-
blower nun selbst entscheiden können,
ob sie ihre Beobachtungen zunächst in-
tern oder direkt extern teilen, und un-
abhängig von dieser Entscheidung ge-
schützt werden, ist ein sehr guter Aspekt
dieses Gesetzes.“
Tatsächlich legten es deutsche (Ar-
beits-)Gerichte Whistleblowern bis-
her negativ aus, wenn diese sich zuerst
an Externe (Beratungsstellen, Medien,
Behörden) und nicht wie vorgesehen
an Interne (Vorgesetzte) wandten. Die
neue Wahlfreiheit könnte daher auch ei-
nen Vorteil für die Arbeit von Journalis-
tinnen und Journalisten bringen. Noch
bleibt aber abzuwarten, ob diese Rege-
lung tatsächlich Hinweisgeber ermutigt
und so für Rechercheure in der Praxis
spürbar wird.
Größere Auswirkungen auf die Arbeit
des Rechercheverbundes sieht ­ Drepper
bisher jedenfalls noch nicht. Andere von
uns angefragte Medien äußern sich ähn-
lich. Man könne die Auswirkungen des
Gesetzes auf die journalistische Arbeit
„noch nicht bewerten“, sagt etwa Chris-
tian Mayer vom ZDF. Die Umsetzung
04.2023
der EU-Richtlinie sei aber „überfällig
­gewesen“.
Doch schon jetzt gibt es viel Kritik an
der neuen Regelung. Hendrik Zörner,
Pressesprecher des Deutschen Journa-
listen-Verbandes, sieht die EU-Richtli-
nie durch das Gesetz nicht ausreichend
umgesetzt. „Die Richtlinie sieht eine kla-
re Stärkung der Whistleblower vor und
macht Schluss mit ihrer Kriminalisierung.
So weit wollte der deutsche Gesetzgeber
leider nicht gehen.“ Das Hinweisgeber-
schutzgesetz werde „seinem schmücken-
den Titel nicht annähernd gerecht“ und
sei „gemessen an den Anforderungen von
Journalisten wie auch von Whistleblow-
ern eher rudimentär“, so Zörner.
Kritikwürdig ist für Zörner insbeson-
dere, „dass Unternehmen Meldestellen
für anonyme Hinweise einrichten sollen
und nicht müssen“. Heißt konkret: Zwar
müssen die Firmen nun „sichere“ Mel-
desysteme einrichten – es ist aber nicht
verpflichtend, dabei auch anonyme Mel-
dungen zu ermöglichen. Wer also auf-
grund brisanter Informationen berufliche
Nachteile zu befürchten hat, wird es sich
künftig sicher weiter gut überlegen, ob er
mit seinem Klarnamen bei einer internen
Meldestelle auftritt.
Dem DJV ist zudem die Höhe der Straf-
zahlungen, die Unternehmen bei Ver-
stößen gegen die Bestimmungen zahlen
müssen, zu niedrig. Für große Unter-
nehmen sei der vorgesehene Betrag von
50.000 Euro nicht wirklich abschre-
ckend. Außerdem kritisiert der Verband,
dass das Gesetz kein Schmerzensgeld für
Whistleblower vorsieht, die in ihrem be-
ruflichen Umfeld zum Opfer von Mob-
bing werden.
Es gibt noch weitere Einschränkun-
gen, auf die Kritiker hinweisen: So gilt
der neue Schutz für Whistleblower
nur, wenn sie Straftaten oder bestimm-
te Ordnungswidrigkeiten melden. Doch
nicht immer, wenn Whistleblower zu
Recht die Alarmglocke schlagen, geht
es gleich um Straftaten. Recherchever-
bund-Leiter Drepper findet das „bedau-
erlich“. Denn: „Für uns Journalistinnen
und Journalisten ist sehr häufig auch ein
struktureller Missstand interessant, der
vielleicht nicht strafbar ist, durch den
aber trotzdem höchst problematische
und relevante Informationen an die Öf-
fentlichkeit gelangen können.“
„Die Frage, was strafbar ist und was
nicht, ist für Laien oft schwer zu beant-
worten“, sagt auch Holger Stark, stell-
vertretender Chefredakteur der „Zeit“.
Das Hinweisgeber­
schutzgesetz wird
seinem schmückenden
Titel nicht annähernd
gerecht.
HENDRIK ZÖRNER,
DJV
„Insofern schreckt der klare Verweis auf
die notwendige Strafbarkeit höchstwahr-
scheinlich viele Angestellte ab, sich über-
haupt zu melden.“ Dabei könnten ja in
einem zweiten Schritt „Juristen in der
Meldestelle entscheiden, ob ein Fehlver-
halten potenziell strafbar ist“. Auch beim
ZDF findet man, eine „Erstreckung auf
sämtliche bußgeldbewehrte Rechtsver-
stöße“ wäre „wünschenswert gewesen“.
Eine weitere Ausnahme des Gesetzes:
Wenn ein Whistleblower auf Rechtsver-
stöße aufmerksam macht, bei denen es
um Angelegenheiten der nationalen Si-
cherheit oder Verschlusssachen geht,
kann er sich auf den Schutz des Gesetzes
nicht verlassen. Das entspricht der alten
Regelung – auch hier gibt es also keinen
verbesserten Schutz für Whistleblower.
Von einer „verpassten Chance für die
Demokratie“ spricht daher „Zeit“-Vize
Stark: „Die Vergangenheit hat gezeigt,
dass gerade im Grau- und Dunkelbe-
reich von Geheimdiensten oft Wildwuchs
herrscht. Edward Snowden hat uns vor
Augen geführt, in welchem globalen Aus-
maß bei der NSA über Grenzen gegangen
wurde – aber auch die deutsche Regelung
würde ihn nicht schützen. In diesem Be-
reich hilft das neue Gesetz leider keinen
Millimeter weiter.“
MARVIN OPPONG
ist freier Journalist und
Recherchedozent in Bonn.
www.oppong.eu
23
Medien. Gender-Pay-Gap
Gegen die
klaffende Lücke
Lange hat die ehemalige ZDF-Journalistin Birte Meier gegen
ihren Ex-Arbeitgeber wegen Lohndiskriminierung prozessiert.
Nun gibt es eine Einigung. Was Meiers Fall für den Kampf um
gleiche Bezahlung für Männer und Frauen bedeutet.
1. Worum geht es bei Equal Pay?
Es geht um gleiche Bezahlung von Män-
nern und Frauen, für die gleiche Ar-
beit. Das klingt einfach. Aber die Ausei-
nandersetzung ist juristisch kompliziert
und Lohnungleichheit zwischen den Ge-
schlechtern ein hartnäckiges Problem. So
verdienten im Jahr 2022 laut dem Statis-
tischen Bundesamt Frauen in Deutsch-
land durchschnittlich 18 Prozent weniger
als Männer. Ein Teil dieses Unterschieds
lässt sich demnach damit begründen, dass
„Frauen häufiger als Männer in Branchen,
Berufen und Anforderungsniveaus arbei-
ten, in denen schlechter bezahlt wird“.
Zum anderen arbeiteten Frauen häufiger
in Teilzeit. Rechnet man diese Faktoren
heraus, erhält man den sogenannten be-
reinigten Gender-Pay-Gap. Dieser betrug
im vergangenen Jahr 7 Prozent. Für die
In Deutschland tut
man sich mit dem
Equal-Pay-Grundsatz
sehr schwer.
SARAH LINCOLN,
Gesellschaft für
Freiheitsrechte
24
Medienbranche liegen keine gesonderten
Zahlen vor.
2. Worum ging es beim Fall von Birte
Meier?
Birte Meier arbeitete als feste Freie für
das ZDF-Magazin „Frontal 21“. Bei einer
Weihnachtsfeier in Berlin erfuhr sie 2014,
dass ein jüngerer Kollege, der nach ihr
in die Redaktion gekommen war, mehr
verdiente. ZDF-Verantwortliche hat-
ten ihr hingegen diesen Verdacht zuvor
ausgeredet. Sie recherchierte auf eigene
Faust, die entsprechende Auskunft muss-
te sie sich anschließend mühsam und ge-
gen Widerstände gerichtlich erkämpfen.
Im Sender wurde ihre Klage misstrau-
isch aufgenommen, als verlange sie et-
was, was ihr nicht zustehe. Sie hatte den
Eindruck, dass man im Sender Negatives
über sie sammelte.
Meier verlor zunächst mehrfach vor Ge-
richt, kämpfte sich dann aber bis zum
Bundesarbeitsgericht vor. 2020 schrieb
sie dort Rechtsgeschichte mit einem
Grundsatzurteil, das ihre Anwältin als
„Meilenstein“ bezeichnet: Auch arbeit-
nehmerähnliche Beschäftigte haben
demnach Anspruch auf Lohnauskunft. In
Meiers Fall brachte diese Auskunft Fol-
gendes zutage: Männer verdienten 2017
beim ZDF im Schnitt rund 800 Euro im
Monat mehr als sie. Obendrein habe es
für Männer Leistungszulagen gegeben –
nicht aber für sie. Aufgrund ihrer unglei-
chen Einordnung in das tarifliche Stu-
fensystem seien Männer zudem vor ihr
aufgestiegen. Im Juni 2021 errechnete die
Gesellschaft für Freiheitsrechte, dass die
Kollegen so im Schnitt 2018 sogar 1.200
Euro und 2019 über 1.500 Euro pro Mo-
nat mehr verdient haben dürften.
Birte Meier kündigte im Juni 2022 beim
ZDF und wechselte zu RTL. Die Ausein-
andersetzung sei für sie nie existenzge-
fährdend gewesen, schrieb sie. Aber „mit
nur einem Quäntchen weniger Renom-
mee, Netzwerk und Robustheit säße ich
wohl noch heute auf dem Mainzer Ele-
fantenfriedhof.“ Nun haben Meier und
das ZDF sich gerichtlich geeinigt und da-
mit den acht Jahre andauernden Rechts-
streit beendet.
3. Was beinhaltet die Einigung und
was sagt das ZDF?
Birte Meier bestätigt eine Zahlung des
ZDF. Zur Höhe der Entschädigung äu-
ßern sich beide Parteien nicht. Klar ist,
dass sie keine Verschwiegenheitsklausel
unterschrieben hat, wie das ZDF noch
2022 gefordert hatte, als es im Gegen-
zug 110.000 Euro und vier bezahlte Mo-
nate Urlaub bot. Meier lehnte damals ab
und veröffentlichte „Equal Pay Now!“, ihr
Buch gegen Lohndiskriminierung. Nahe-
liegend, dass die Summe, auf die Meier
und das ZDF sich nun einigten, niedriger
liegt. Das ZDF beantwortet keine Fragen
zum Rechtsstreit.
4. Wie ist die rechtliche Lage?
Eigentlich sollten Klagen gar nicht not-
wendig sein. Im Grundgesetz heißt es
in Artikel 3: „Männer und Frauen sind
gleichberechtigt. Der Staat fördert die
tatsächliche Durchsetzung der Gleich-
berechtigung von Frauen und Männern
und wirkt auf die Beseitigung bestehen-
der Nachteile hin.“ Ein schönes Ver-
Foto: Marlena Waldthausen
sprechen. Doch die Realität ist eine an-
dere. Warum? „In Deutschland tut man
sich mit dem Equal-Pay-Grundsatz sehr
schwer“, sagt Sarah Lincoln, die Birte
Meier als Anwältin der Gesellschaft für
Freiheitsrechte (GFF) vor Gericht ver-
trat, auf Anfrage von „medium maga-
zin“. „Der Motor zur Bekämpfung von
04.2023

Endlich Gerechtigkeit:
Nach langwierigen Rechts-
streitigkeiten hat sich Birte
Meier mit dem ZDF geeinigt.
Die Reporterin hatte geklagt,
weil sie über Jahre hinweg
schlechter bezahlt worden
war als männliche Kollegen
in vergleichbarer Position.
Jetzt erhält sie eine finanzielle
Entschädigung.
04.2023
Lohndiskriminierung ist die EU.“ Dort
sei der Equal-Pay-Grundsatz schon seit
1956 in den EU-Verträgen verankert und
durch zahlreiche Richtlinien und Urteile
des Europäischen Gerichtshofes konkre-
tisiert worden.
Doch solange diese Vorgaben in
Deutschland nicht wirksam umgesetzt
würden, bringe das den Frauen hier we-
nig. Wenig überraschend nehme Deutsch-
land im europäischen Vergleich bei der
Lohngleichheit deshalb einen der letzten
Plätze ein. Es gebe in Deutschland wenig
Bereitschaft, Unternehmen zu regulie-
ren, und eine starke Wirtschaftslobby, die
gesetzliche Vorgaben zu Lohntranspa-
renz und Equal Pay verhindere, sagt Lin-
coln. „Birte Meier hätte ihre Zahlungs-
klage schon vor Jahren gewonnen, wenn
die deutschen Arbeitsgerichte die euro-
päischen Vorgaben zu Equal Pay anwen-
den würden.“ Immer wieder wendeten
sich Frauen an die GFF. „Viele von ihnen
scheitern in den unteren Instanzen an Ar-
beitsgerichten, die den Arbeitgebern jede
Ausrede durchgehen lassen. Die meisten
geben dann auf.“
Was fehlt, ist ein Lohngerechtigkeits-
gesetz. Jahrelang wurde debattiert, 2017
reichte es aber nur zu einem „Entgelt-
transparenzgesetz“. Es ist ein reines
Auskunftsrecht und beinhaltet nicht das
Recht, den gleichen Lohn zu erhalten.
Laut Tina Groll, Bundesvorsitzende der
Deutschen Journalistinnen- und Journa-
listenunion (dju), hätten Wirtschaftsin-
teressen zudem das Gesetz mit zahlrei-
chen Einschränkungen verwässert. So gilt
es etwa nur für Betriebe mit mehr als 200
Mitarbeitenden und nur Unternehmen
mit mehr als 500 Mitarbeitern müssen
die eigene Lohnstruktur untersuchen.
Die Bundesregierung hat sich in zwei
Evaluierungsberichten selbst ein mise-
rables Zeugnis ausgestellt und stellt fest,
dass das Gesetz zu wenig bekannt sei und
genutzt werde. Entscheidende Änderun-
gen sind aber nicht geplant.
Die Journalistin Angelika Knop, die
sich seit Jahren um das Thema Lohnun-
gleichheit kümmert, kritisiert, dass kei-
ne Verbandsklagen möglich seien, also
Gewerkschaften und Verbände nicht
stellvertretend für Einzelpersonen kla-
gen könnten. Das führt dazu, dass in-
dividuelle Klagen aufwendig und teuer
sind. Das Gesetz gehöre „dringend über-
arbeitet“, sagt Knop. Hoffnung machen
nicht nur mehrere Grundsatzurteile des
Bundesarbeitsgerichts. Bis 2026 muss
Deutschland die EU-Richtlinie zu Lohn-
transparenz umsetzen. Diese sieht für
alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer einen Auskunftsanspruch vor, unab-
hängig von der Betriebsgröße. Auch die
Durchsetzbarkeit soll sich dann bessern,
Verstöße sollen sanktioniert werden.
Doch auch dann müssten Frauen, de-
ren Verdacht sich bestätigt, immer noch
mühsam um Geld kämpfen und klagen
(siehe Hintergrund, Seite 26).
5. Worin liegt die Bedeutung
von Birte Meiers Fall und wie
repräsentativ ist er?
Meiers Klage hat im ZDF einiges bewegt.
2020 gründete die Redakteurin Ingeborg
25
Medien. Gender-Pay-Gap
Feilhauer mit Kolleginnen ein Frauen- eine patriarchale Kultur gepflegt.“ Frauen Dem „medium magazin“ sagt Feilhau-
Netzwerk, das bei der Personalratswahl wurden geringer eingestuft, weil sie mög- er: „Es geht um das große Ganze. Wenn
antrat und vier Sitze gewann. Sie sitzt in- licherweise irgendwann schwanger wür- man Veränderungen erreichen will, muss
zwischen im Personalratsvorstand, der den und auf Teilzeit umstellten. man an die Wurzeln, an die Strukturen.
Beschwerden zu ungleicher Behandlung Die Bedeutung von Meiers Fall liege da- Wir sind noch nicht am Ende.“ Gera-
bearbeitet. Meier zitiert Feilhauer in ih- rin, dass sie das Narrativ vom Einzelfall de öffentlich-rechtliche Sender müssten
rem Buch mit den Worten: „Es ist gut, gebrochen und strukturelle Schwächen mehr tun als andere. Es werde heute viel
dass wir Fragen stellen. Häufig werden aufgezeigt habe, sagt Feilhauer. Frauen offener über Fragen von Lohnungleich-
Mitarbeitende schon von Anfang an zu im ZDF hätten auch vor Einführung des heit gesprochen, teilweise beträfe das
schwach eingestuft. Das setzt sich dann Entgelttransparenzgesetzes geklagt, weil auch Männer. Es bewege sich im ZDF
über das ganze lange Leben im ZDF wei- sie sich falsch eingruppiert fühlten – nur viel mehr, als nach außen deutlich werde.
ter fort.“ Die traditionelle Firmenkultur eben ohne Erfolg und ohne, dass die- Sie sagt: „Viele Frauen hier im ZDF sind
im ZDF beschreibt Feilhauer so: „Es gab se Klagen öffentlich wurden. Nun habe dankbar, dass Birte Meier eine Lanze ge-
einfach ein Grundvertrauen ins ZDF. Das
Menschen
Albig, Torsten 114
Merkel, Angela 123
Meyer, Jutta 88
Winfrey, Oprah 16
Winter, Petra 23
man 2022 schon „ein knappes Dutzend“
Financial Times 50
FischerAppelt 40, 144
Porsche 48, 110, 119
Procter & Gamble
brochen hat, dass sie vorangegangen ist
wird schon alles richtig laufen. Tatsäch-
Arlt, Johannes 20, 78, 112
Arnault, Bernard 48, 107
Müller, Tina 16
Nass, Heiko 68
Wintour, Anna 142
Wolter, Marcus 110
grundlos schlechter bezahlte Frauen an-
Fiskars 70
Flensburger 65
18, 102, 108
ProSieben 35
und sich in den Wind gestellt hat.“
lich aber hat der Sender 60 Jahre lang
Bähr, Johannes 45
Barth, Rüdiger 26
Neubauer, Luisa 119
Neuhaus, Elisabeth 42, 52
heben können.
Wulff, Christian 120 Ford 73
Freizeit Revue 115
Puma 110
Punica 123
Und über das ZDF hinaus? Die Jour-
Beckenbauer, Franz 144
Becker, Boris 144
Ng, Christy 91
Nikutta, Sigrid 16 Medien und Marken
Funke 104
Galeria Karstadt
Qunomedical 54
Radio Bob 65 nalistin Silke Burmester hat sich im-
Beckmann, Jochen 104
Behrendt, Frank 144
Nowitzki, Dirk 144
Nuru, Sara 65
About You 42
Achtung! 144
Kaufhof 50
Geo 123
RBB 50
Red Bull 110 mer wieder für Equal Pay starkgemacht
Beister, Yvonne 72
Bezos, Jeff 28
Ogilvy, David 16
Onaran, Tijen 88, 144
Ad Alliance 62
Adidas 19, 50, 110
Google 27, 42, 48, 57, 72,
100, 102
Regiocast 65
Republic 66 und Meiers Fall verfolgt. Sie sagt: „So
ein Sieg ist nie nur der Sieg für eine
Bohlen, Dieter 106 Otto, Moritz 62 Affilio 66 Grabarz & Partner 16 Rewe 126
Bosch, Robert 44 Özdemir, Cem 92 Aida 76 Gruner + Jahr 24, 123 Rheingold Salon 36
Brück-Sartorius, Bianca 74 Palla, Evelyn 84 Airbnb 100 Handelsblatt 73
Frau oder einen anderen marginalisier-
Rolex 54
Bulle, Kristina 108 Peterson, Michael 78 Airbus 45 Havas 93 RTL 62, 123, 130

HINTERGRUND
Bünte, Claudia 102 Petković, Andrea 65 Aldi 90, 136 HBO 27 Rügenwalder Mühle 32
Chanel, Coco 16, 106
Chung, Sophie 52
Pfeiffer, Johanna 98
Piorko, Eva 76
Amazon 18, 40,
88, 93, 100
Hermès 32, 54
Hermes 91
S.Oliver 90
Schering 45
ten Menschen. Er ist immer ein Sieg für
Cornelius, Susanne 144 Pirnack, Danny 65 Antenne Deutschland 76 Hirschen Group 16 Schlecker 122 die gesamte Gesellschaft.“ Birte Meier
Was man beachten muss
Dellert, Louisa 32 Pölzer, Robert 112 Apple 18, 27, 32, 36, 42, Home of Talents 98 Score Media 69
Dillenburg, Eileen 144
Dopheide, Frank 106
Pooth, Verena 144
Puck, Anna 62
102, 106, 110
ARD 35
Hörzu 104
HP 74
Senioren Ratgeber 68
Serviceplan 144
ist die erste Journalistin, die einen Fall
Dorn, Carsten 69
Duszat, Alexander 34
Raab, Stefan 34, 123
Rabe, Thomas 30, 107
Armani 26
Armedangels 32
Human Unlimited 106
Ikea 107
Seven.One 74, 88
Siemens 46
von Lohnungleichheit bis vors Bundes-
Eckholt, Clas 62
Ehrhart, Christof 44
Rhein, Boris 114
Riegel, Nancy 39, 90
Audio House 65
Aufrichtig Media 32
ING 144
Instagram 34, 50, 58, 86,
Sixt 102
Sky 73
verfassungsgericht brachte, auch wenn
1 Jede und jeder kann Auskunft
Elton 34
Erker, Paul 45
Riekel, Patricia 115
Rojinski, Palina 123 Man erfährt keine konkreten Gehäl-
Augsburger Allgemeine 69
Banijay 110
116, 120, 133
InStyle 133
Snapchat 129
Snipes 90 er dort abgelehnt und ans Arbeitsge-
Marken bieten Orientierung in einer unübe
einfordern. Bei Arbeitgebern mit
Ewig, Alexander 76
Falkensteiner, Michael 128
Rose, Szymon 144
Rösler, Philipp 122 Bauer 50ter von Kolleginnen und Kollegen,
Barbie 27, 88 Interbrand 18, 102
Interone 40
Social Chain AG 32
Sparkasse 66 richt zurückverwiesen wurde. Sie selbst
Welt. Marken können faszinieren und po
schreibt davon,manche
ein „Schweigekartell“
Ford, Henry 16 Roßmann, Barbara 70 Bayer 97
mehr als 200 Beschäftigten hilft das sondern den sogenannten Meridi-
iq digital media 73 Spotify 32, 93, 100, 130
Fritz, Michael 64 Rottländer, Tim 73 BBDO 40 Jägermeister 48 Springer 72
Gdmasi, Amir 101 wecken Liebe oder Hass. Aber ohn
durchbrochen zu haben. sind alle Marken wertlos.
Ruge, Nina 119 Bertelsmann 22, 30, 45, Joyn 74 Starbucks 36, 102, 136
Entgelttransparenzgesetz. Grund-
Giese, Felicitas 74 Salazar, Wigan 104 an (den Wert in der Mitte, nicht den
57, 107, 123 Jung von Matt 48, 110, 144 stern 21, 100, 120, 123
Gieseke, Florian 68 Schaller, Monika 144 Bild 72, 115, 119, 133, 139 Kaiserscholle 102 Süddeutsche Zeitung 140
legende Informationen dazu gibt es
Gieselmann, Tim 122
Giesinger, Stefanie 72
Scharping, Rudolf 114
Schäuble, Wolfgang 28
Durchschnitt).
Biotherm 32
Birkenstock 48, 88, 107
Kantar 18
Klosterfrau 68
Super-Illu 115
Syzygy 40
Angelika Knop sieht auch die Schatten-
auf der Webseite des Bundesminis-
Gotta, Manfred 122
Gottschalk, Thomas 144
Scheel, Julia 93
Scheidecker, Kerstin 96
Blackberry 123
BMW 24
Kolle Rebbe 91
Lego 19, 110
SZ-Magazin 20
Targobank 122
seite: „Nur wenn man dranbleibt,
Wir zeigen Menschen indi-
und Medien, die
teriums für Familie, Senioren, Frau-
Götze, Mario 72
Greve, Peter 26
Schlesinger, Patricia 50
Schmidbauer, Johannes
4 Die Auskunft prüfen: Wen hat
Booz & Company 79
Bosch 44, 64
Letzte Generation 50
Lidl 18, 90
Techniker
Krankenkasse 65
viduell klagt und diestark
Unterstützung der warum ei
machen. Wir verraten,
en und Jugend.
Hagemann, Anne-Nikolin
20, 37, 38, 144
98
Schöllmann, Anja 84
der Arbeitgeber benannt? Werden
Brand Finance 97
Bravo 50, 68
Lindt 32
Linked-in 58, 83, 144
Teleschau 115
Tempo 48
Gesellschaft füraus
Freiheitsrechte und an-– und welch
der Masse hervorstechen
Hänsel, Finn 72
Hape, Ralf 73
Scholz, Olaf 16
Schramm, Susan 16
Gehälter künstlich nach unten ge-
Breitsamer 70
Bunte 112
Looping Group 20
Louis Vuitton 48, 107
Territory 91
Tesla 110
derer Gruppen hat, sie kommt man
auf Dauer zum
unverwechselbar mac
2 Das Gesetz fordert Angaben zum
Haus, Marcus 126
Heuel, Ralf 16
Schröder, Gerhard 86
Schuld, Michael 125 BVG 90 rechnet oder „Phantom-Mitarbei-
Burda 23, 70, 93 Lübecker Nachrichten 69
Madame 23
Thjnk 16
TikTok 24, 50, 76, 86, 98,
Erfolg und das ist unglaublich schade.“
Verdienst von mindestens sechs
Heumann, Karen 16
Houcken, Robin 26
Schumacher, Michael 120
Schweiger, Til 120 ter“ benannt? Gibt es einen sinn-
Capital 123
Carglass 74
McDonald‘s 16, 90, 136
McKinsey 37, 54
129, 140, 144
TLGG 107 Medienunternehmen hätten in der Re-
Kollegen des jeweils anderen Ge-
Imdahl, Ines 36
Jehle, Christian 70
Seidel, Christiane 38
Spengler-Ahrens, vollen Grund, weshalb Kollegen
Chanel 54, 142
ChatGPT 24, 42, 48, 107
MediaMarktSaturn 125
Mercedes 18, 24, 119
Trigema 48
True Fruits 50 gel den längeren Atem. Birte Meier mit
ihrem „wahnsinnig langen Atem“ sen-
Jobs, Steve 16, 106 Dörte 110 Coca Cola 36, 102 Microsoft 18
schlechts. Um diese Vergleichs- mehr verdienen, etwa technische
Tui Cruises 62
Kachelmann, Jörg 120 Spindler, Rudolf 27 CP/Compartner 69 MSL 104 Twitch 129, 144
Kofler, Georg 32 Ströbel, Max 144 Delta Radio 65
de immerhin das Signal aus, dass es am
MTV 123 Vaay 72
gruppe zu finden, beantragt man
Krause-Jentsch, Saruul 32 Styles, Harry 112 oder fremdsprachliche Kenntnis-
Deutsche Bahn 16, 78 NDR 68 Valentino 48, 142
Kruger, Diane 144 Talinski, Holger 52, 132 Deutsche Post DHL ndrb 68 Vetements 91
Auskunft beim Betriebsrat (um ano-
Kühnert, Kevin 16
Kummer, Tom 27
Theobald, Sven 97
Trantow, Markus 78
se? Arbeitgeber müssen erklären,
45, 91, 144
Deutsche Telekom
Nestlé 50
Netflix 24, 93
Viacom 123
Victoria‘s Secret 50
Ende für Verlage und Sender teuer wer-
nym zu bleiben) oder direkt bei der
Leister, Lukas 66
Lentz, Carola 94
Turi, Heike 34, 132
Turi, Peter 46, 112 Dior 48
nach welchen Kriterien sie Gehäl-
18, 86, 125, 129 Neudorff 70
New York Times 24, 140
Viva 123
Vogue 140
den könne. Knop rät Frauen, den Aus-
Geschäftsleitung. Entscheidend
Lewinski, Franziska von 40
Lindner, Christian 72
Ulmen-Fernandes,
Collien 65 dm 48
ter zahlen.
Disney 98 Nike 36, 42, 102
NZZ 140
VW 102
Wall 64
kunftsanspruch wahrzunehmen, sich zu-
sind Personen, deren Arbeit gleich
Loefert, Christian 129
Loko, Marcel 16
Wagner, Lars 69
Walter, Michael 66
Douglas 16, 88, 144
DvH Ventures 57
O2 128
Oatly 64
Weight Watchers 42
Welt 140
sammenzuschließen und gegenseitig zu
oder gleichwertig ist. Gleich bedeu-
Lola, Amanda 127
Lubitz, Angela 65
Weber, Annette 132
Weiler, Jan 27 Edeka 42
5 Beschäftigte, die sich aufgrund
EasyCredit 73 Obi 64, 98
Öko-Test 96
Wirecard 50
Wirtschaftswoche 73
unterstützen, um nicht ausgegrenzt zu
turi2 edition 22 – Screen
Deutschland EUR 20,–
tet, die Kollegen könnten Sie direkt
Lüthi, Benedikt 39
M‘Barek, Elyas 139, 144
Weiss, Julian 130
Werner, Götz 106
Elle 133
des Geschlechts benachteiligt füh-
EssenceMediacom 62
OMR 100
Patagonia 88
Wort & Bild 68
Wrigley‘s 122 werden und weniger angreifbar zu sein.
ersetzen; gleichwertig bedeutet,
Mager, Helena 107
Mann, Lars-Eric 62
Westermeyer,
Philipp 65, 100 len, können vor Arbeitsgerichten
Facebook 34, 57, 72, 84
FAZ 66, 140
Patek Philippe 54
Penny 126
YouGov 39
YouTube 48, 98,
Maschke, Hanna 144
dass Anforderungen und Qualifika-
Westerwelle, Guido 23
klagen. Dazu empfiehlt sich eine
Fendi 142 Pepsico 123 123, 140, 146 9 783949 673078
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Mehdorn, Hartmut 86 Willemsen, Roger 16 Ferrero 18, 32, 38 Pinterest 64, 142 Zeit 65 ISBN 978-3-949673-07-8
tionen sich gleichen. Alle zwei Jahre Rechtsberatung, weil Grundsatz- ISSN 2366-2131

ist Auskunft möglich. Jede Beförde- urteile und Fristen zu beachten sind.
rung und jede Versetzung erlauben Eine Rechtsschutzversicherung soll-
neue Anfragen, weil sich die Ver- te die Kosten der Klage abdecken.
gleichsgruppe ändert.
6 Fristen beachten! Der rückwir-
3 Für die Anfrage sollte man Mus- kende Anspruch auf gleiche Bezah-
terformulare benutzen, diese findet lung verfällt häufig nach drei Jahren.
man ebenfalls auf den Seiten des Den Anspruch auf zusätzliche Ent-
Bundesfamilienministeriums. Birte schädigung muss man innerhalb THOMAS SCHULER
Meier gibt in ihrem Buch „Equal Pay von zwei Monaten nach Kenntnis ist freier Autor in München.
Now!“ zusätzlich Formulierungshil- geltend machen, weitere drei Mo-
thomas.schuler@prorecherche.org
fen für Medienschaffende. Wichtig: nate später Klage einreichen.

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04.2023 27
Essay
Wer Nachrichtenwüsten verhindern will, muss Medienvielfalt
ermöglichen. Drei Thesen, warum es jetzt
mehr gemeinnützigen Journalismus braucht.
or gut zehn Jahren
sorgte ein heftiger
Schlagabtausch
im Ausschuss für
Kultur und Medi-
en des Deutschen Bun-
destags für Unruhe. Das
Thema der Sitzung: die
zukünftige Sicherung des
Qualitätsjournalismus.
Der Insolvenzantrag der
„Frankfurter Rundschau“
war gerade publik geworden,
einige Wochen zuvor hatte
die Einstellung der „Financial
Times Deutschland“ für kalte
Füße in der Verlagsbranche ge-
sorgt. Es gab also reichlich An-
lass, sich über das Innovations-
dilemma der Presselandschaft
Gedanken zu machen. Doch es
kam anders: Entgegen den Leitfra-
gen, die der Ausschuss verschickt
hatte, drehte sich die zweistündige
Debatte fast ausschließlich um das
seinerzeit vieldiskutierte „Leistungs-
schutzrecht“.
Als „Experten“ geladen waren Mathias Döpfner
(Axel Springer SE), Rainer Esser (Zeit Verlagsgrup-
pe), Julia Jäkel (Gruner + Jahr), Christian Nienhaus
(WAZ Mediengruppe), Ulrich Lingnau (Chemnit-
zer Verlag) und einer der Autoren, seinerzeit Jour-
nalismus-Professor an einer privaten Medienhoch-
schule. Döpfner, der als Sprecher der versammelten
Verlagsprominenz agitierte, nutzte die Gelegen-
heit, das Immaterialgüterrecht zur „Schicksals-
frage“ seiner Zunft zu erklären. Die von der Wis-
senschaft ins Gespräch gebrachten alternativen
Finanzierungsformen lösten unter den anwesen-
28
In der
Todeszone
Von Leif Kramp und Stephan Weichert
den Verlegern dagegen vehemente Abwehrreakti-
onen aus. Gemeinnützige Stiftungs- und Spenden-
modelle nach US-amerikanischem Vorbild, eine
erweiterte Haushaltsabgabe wie beim öffentlich-
rechtlichen Rundfunk oder das bis dato wenig er-
probte Crowdfunding: Döpfner bezeichnete die-
se Ansätze in der Hitze des Gefechts allesamt als
„Alptraum“ und weltfremd – sie seien das, „was wir
nicht brauchen“. Esser, Jäkel, Nienhaus und Ling-
nau pflichteten bei.
So wurde in der illustren Runde die Chance ver-
tan, den eigentlichen Elefanten im Raum zu adres-
sieren: die Hiobsbotschaften aus deutschen Verla-
gen. Heute ist das Bedrohungsszenario umso realer:
Viele Verlage bewegen sich in der Todeszone, Re-
daktionen werden weiter personell ausgedünnt,
Traditionsblätter mutieren zu „Zombie-Zeitun-
gen“, vielerorts entstehen oder drohen Nachrich-
tenwüsten – die berüchtigten „Ein-Zeitungs-“ und
„Kein-Zeitungs-Kreise“. Der BDZV prognostiziert,
dass bis 2025 bis zu 4.400 Gemeinden ohne lokale
Berichterstattung sein könnten.
Nun sind sie umso lauter, die Rufe nach staatli- Fotos: Beate C. Köhler (Kramp), Martin Kunze (Weichert)
chem Protektionismus. Die Verlage postulieren
reflexhaft die „Null-Prozent-Mehrwertsteuer“-­
Formel, und der alte Streit zwischen Onlinepu-
blishern und Druckverlagen flammt wieder auf. Sie
streiten aufs Bitterste für und gegen Pressesubven-
tionen als „Zustellförderung“.
Und noch ein anderes Koalitionsversprechen der
Bundesregierung sorgt für Zerrissenheit: die Schaf-
fung von Rechtssicherheit für gemeinnützigen Jour-
nalismus. Während Journalismusverbände und -ge-
werkschaften sowie weite Teile der Medienpolitik
darin eine überfällige regulatorische Maßnahme se-
hen, um Medienvielfalt zu sichern, fürchtet die Ver-
lagswirtschaft Wettbewerbsverzerrungen. Dabei
beweisen auch in Deutschland journalistische Start-
ups, Recherchebüros und Medienorganisationen,
04.2023
welches Potenzial in einer konsequenten Gemein-
wohlorientierung liegt: Gemeinnützige Redaktionen
wie die „Kontext: Wochenzeitung“ oder „Netzpo-
litik“ haben Nischen erobert. Sie und andere ge-
meinnützige Medienprojekte bilden seit Jahren mit
Ideenreichtum, Ausdauer und Professionalität ein
Gegengewicht zu den Strukturdefiziten im (Lokal-)
Journalismus.
1. Warum braucht es gerade jetzt gemeinnüt-
zigen Journalismus?
Gemeinnütziger Journalismus hilft, Lücken in der
Nachrichtenversorgung zu füllen. Er zeigt aber auch,
wie journalistische Integrität und Transparenzoffen-
siven das Vertrauen in und die Begeisterung für pro-
fessionelle Berichterstattung mehren. Die Förderku-
lisse für journalistische Projekte ist in Deutschland
diffus und damit ineffektiv. Jede Initiative für Non-
Profit-Medien aber stärkt das Förderbewusstsein in
der Bevölkerung und die Spendenbereitschaft. Wir
gehen davon aus, dass Neugründungen gemeinnüt-
ziger Projekte durch die anstehenden politischen
Weichenstellungen in den kommenden Jahren po-
pulärer und sogar die Transformation von kommer-
ziellen Verlagen zu Non-Profit-Häusern begünstigen
werden.
2. Was kann gemeinnütziger Journalismus
besser als die anderen Modelle?
Strukturkonservatismus ist einer der größten In-
novationshemmer in der Branche. Das Festhalten
an überkommenen Publikums- und Produktver-
sprechen ist mitverantwortlich für die Rückwärts-
gewandtheit vieler Verlagshäuser. Gemeinnützige
Medien können bestehende Strukturen aufbrechen,
weil sie sich viel stärker an den Bedürfnissen des
Publikums orientieren (müssen). In der digitalen
Transformation wird offensiv an einer Gemeinwohl-
bilanz gearbeitet – indem die Nutzenden zu Spen-
04.2023
4 LEIF KRAMP ist Forschungskoordinator am Zen-
trum für Medien-, Kommunikations- und Informa-
tionsforschung (ZeMKI) der Universität Bremen.
0 STEPHAN WEICHERT ist Vorstand des
gemeinnützigen Think-&-Do-Tanks vocer.org.
Gemeinsam mit Leif Kramp leitet er npj.news, eine
Informationsplattform rund um Gemeinnützigkeit
im Journalismus, die u. a. mit Fördermitteln der
Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM)
aufgebaut wird. Am 6. Oktober erscheint ihr White-
paper „Non-Profit-Journalismus“ bei der Otto-Bren-
ner-Stiftung.
dern, Mitgliedern und Multiplikatoren werden. Das
Engagement des Publikums wird so zum Teil des pu-
blizistischen Konzepts.
3. Warum hat gemeinnütziger Journalismus
eine Zukunft?
Weil Journalismus keine gemeinnützigen Zwecke der
Abgabenordnung erfüllt, gibt es bislang bestenfalls
Behelfskonstruktionen. Dabei könnte Rechtssicher-
heit die Lösung für zahlreiche Probleme bedeuten:
Journalismus würde im Stiftungssektor keinen blin-
den Fleck in der Demokratieförderung mehr darstel-
len; prekäre Beschäftigungsverhältnisse würden ver-
mutlich seltener, da Redaktionen verpflichtet wären,
in die Arbeitsbedingungen zu reinvestieren; neue An-
reize erhöhen die Kooperationsbereitschaft zwischen
For-Profit- und Non-Profit-Medien sowie den öffent-
lich-rechtlichen Anstalten; schließlich würde das ge-
sellschaftliche Ansehen des Journalismus insgesamt
profitieren, weil die Kollaborationsoffenheit mit der
Zivilgesellschaft (u. a. Vereine, Bildungseinrichtun-
gen) in der Gemeinnützigkeit mit angelegt ist.
29
Beruf. Gen Z

DAS
KANN Was die junge
Generation
an der Branche

DOCH
stört – und warum
so viele darüber
nachdenken, sie
zu verlassen.

NICHT
GESUND
SEIN!
Illustration: Adobe Stock

text: Tamara Keller

recherche mit: Corinna Cerruti

30 04.2023
04.2023 31
 „BEI MEINER
Beruf. Gen Z
LÜCKE IM
LEBENSLAUF
KAM PANIK AUF.“
E
in Selbstbildnis, in dem ein Workaholic
etwas Positives ist. Taube Ohren für kon­
struktive Kritik. Schlechte Kommunikation
und Bezahlung. Wer sich derzeit auf Konfe-
renzen und bei Branchenstammtischen mit
jungen Medienschaffenden austauscht, vernimmt
überall dieselben Probleme. Es geht dabei vor al-
lem um schlechte Arbeitsbedingungen im Journalis-
mus und die Überlegungen, die Branche bald zu ver-
lassen, wenn sich nicht etwas ändert. Oft wird ein
Grund genannt: Das kann doch nicht gesund sein!
Ein beunruhigender Eindruck – vor allem, da die
Branche sich zunehmend um junge Talente bemü-
hen muss. Das „medium magazin“ hat deshalb 35
Journalistinnen und Journalisten im Alter zwischen
18 und 35 ausführlich zu ihren Arbeitsbedingungen
befragt, um herauszufinden, was die junge Generati-
on am Journalismus als Arbeitsumfeld stört.
Ziel war es, ein möglichst breites Spektrum an
Personen abzufragen, weshalb Gespräche mit Lo-
kaljournalisten, freien Journalistinnen sowie Me-
dienschaffenden für überregionale Titel und öffent-
lich-rechtliche Medien geführt wurden. Fünf der
Befragten haben im vergangenen halben Jahr die
Branche verlassen. Mehr als die Hälfte hat schon
mindestens einmal daran gedacht, das ebenfalls zu
tun – wegen der schlechten Arbeitsbedingungen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich auf den Aufruf zu
dieser Umfrage vorrangig Personen gemeldet haben,
die bereits schlechte Erfahrungen gemacht haben,
ist hoch. Trotzdem zeigen die Antworten, dass jun-
ge Menschen aus der Branche unabhängig vom Ar-
beitgeber immer wieder mit den gleichen Problemen
zu tun haben. Medienhäuser sollten diesen Befund
ernst nehmen, wenn sie auch künftig noch für talen-
tierte junge Menschen attraktiv bleiben möchten.
Der Einstieg als große Hürde
Auf die offene Frage, was man an der eigenen Bran-
32
che als toxisch empfinde, hat fast jede der 35 Per-
sonen mit Erzählungen von enormen Hürden beim
Einstieg begonnen. Bei manchen Personen lagen die
Erlebnisse schon zwei bis fünf Jahre zurück, der an-
dere Teil befand sich noch in der Ausbildung. „Das
Volontariat ist eine absolute Grenzerfahrung, weil
die ganze Zeit über Grenzen von einem hinwegge-
gangen wird. Man kann noch so oft nein sagen, beim
dritten Mal sagt man halt doch ja“, sagt eine der Be-
fragten. Die Aussagen sind anonymisiert. Grund sind
Bedenken vor Konsequenzen beim aktuellen Arbeit-
geber oder Angst vor schlechteren Voraussetzungen
in der Zukunft.
Die Sorgen, zu wenig zu leisten, sind bei allen 35
Personen in den Einstiegsjahren besonders stark
vorhanden: „In der Pandemie konnte ich zwei Jahre
lang keine Praktika machen. Da kam auch Panik auf,
weil ich damit eine riesige Lücke in meinem Lebens-
lauf hatte.“ Eine Volontärin beschreibt, wie sie ein
Kollege in einer ihrer ersten Radioschichten absicht-
lich ins offene Messer laufen ließ, indem er nichts er-
klärte und nicht vor möglichen Stolperfallen warnte.
Danach begründete er sein Verhalten damit, dass sie
ja da sei, um etwas zu lernen.
„Ich musste mich im Volo permanent wehren. Al-
les, was dort stattgefunden hat, war ein Kampf“, sagt
eine weitere Person. Dabei beschreibt die Mehrheit
der Befragten, dass es schon ein harter Weg gewe-
sen sei, überhaupt an eine Ausbildung zu kommen.
Unbezahlte oder unterbezahlte Praktika sowie Ein-
stiegsgehälter unter Tarif seien die Regel gewesen.
Einer Person sei bei so einem Praktikum gesagt wor-
den, sie solle unbedingt einen Master machen, sonst
könne sie nicht Journalistin werden.
„Weil der direkte Einstieg als Redakteur nach dem
Masterstudium schwer war, habe ich mich entschie-
den, noch ein Volontariat bei einer Zeitung zu ma-
chen“, sagt eine andere Person. Von denen, die ein
Volontariat absolviert haben, beschreibt der Groß-
04.2023
 teil einen enormen Konkurrenzdruck unter den Vo-
los – ein Gegeneinander statt eines Miteinander. Et-
was, das sich gemeinsam mit dem Leistungsdruck
auch im späteren Arbeitsalltag fortgesetzt habe.
Das Selbstbildnis: Gehöre ich hier hin?
Das permanente Gefühl, sich selbst behaupten zu
müssen, wird von allen Befragten als sehr belas-
tend empfunden: „Obwohl ich bereits bewiesen
habe, dass ich das kann, muss ich permanent bewei-
sen, dass ich gewissen Themen gewachsen bin.“ Die
Antworten zeigen, durch welche Ideale die Branche
geprägt ist: „Bei mir wurde immer der Eindruck er-
weckt: Wer nicht 24/7 Fleisch und Blut in den Job
gibt, ist kein guter Journalist oder keine gute Journa-
listin“, sagt eine Person.
Dieser als unrealistisch empfundene Anspruch er-
höhe den eigenen Leidensdruck in Bezug auf das ei-
gene Selbstbild. Er fördere das Gefühl, nicht gut ge-
nug zu sein, und werfe von Anfang an die Frage auf:
„Gehöre ich da überhaupt hin, gibt es da überhaupt
Platz für mich?“ Die Dinge, die man selbst gut bewäl-
tige, würden nicht gesehen, schildert eine weitere
Person, „weil das musst du ja – wenn du aber einen
kleinen Fehler machst, hält sich jeder daran auf, um
dir zu spiegeln: So gut bist du gar nicht!“ Ein Groß-
teil der Befragten würde sich daher wünschen, dass
individuelle Stärken und deren Wertschätzung mehr
Platz im Arbeitsalltag finden.
Zu diesem Selbstverständnis gehöre es auch, dass
ein Journalist oder eine Journalistin taff und selbst-
bewusst zu sein habe. „Wenn du keine laute extro-
vertierte Person bist, gehst du oft unter. In den Kon-
ferenzen gibt es meiner Meinung nach zu wenig
Raum für leisere Menschen.“ Eine Person schildert,
wie sie nach einem Vorstellungsgespräch als „zu
soft“ betitelt wurde. „Wenn man mal etwas äußert
wie ,das will ich jetzt nicht machen‘ oder ,ich fühle
mich nicht wohl damit‘, dann wird man immer gleich
in so eine Jammerecke gestellt, dabei versuche ich
das immer konstruktiv anzusprechen.“
Fehlende Wertschätzung und Kommunikation
Mehrere Personen schildern, sie hätten Angst da-
vor, Missstände in der Redaktion anzusprechen. Zu
schnell gelte man dann als verweichlicht. Andere
wiederum haben bereits in ihren Redaktionen offen
kommuniziert und sind enttäuscht, wie dieser Ver-
such aufgenommen wurde: „Ich hatte noch nie das
Gefühl, dass da jemand dann saß und gemeint hat:
‚Ja, das stimmt!‘ Stattdessen kommt dann immer:
‚Das war früher noch viel schlimmer!‘“ Dabei gehe
es auch um Bedenken oder Kritik mit Blick auf die
Qualität in der Berichterstattung. Mehrere Personen
umschreiben einen rauen Umgangston, der sich als
Standard etabliert habe.
„Es wird alles totgeschwiegen und nicht mitein-
ander geredet. Dabei ist Kommunikation doch un-
ser Job. Aus meiner Sicht hängt das auch mit der Art
der Führung zusammen.“ Kein Feedback zu bekom-
men, ist laut Schilderungen von Auszubildenden und
04.2023
freien Medienschaffenden die Regel. Wenn, muss es
mehrfach eingefordert werden, was viele als ermü-
dend und fehlende Wertschätzung wahrnehmen. Je
öfter das passiert, desto frustrierender empfinden es
die Befragten. Für Freie kommt an dieser Stelle auch
oft hinzu, dass sie dem Honorar und fehlenden Spe-
sen hinterherrennen müssen. „Als ich einmal um ein
höheres Honorar bat, sagte mein Ansprechpartner,
dass es mir ja freistehe, für das Medium zu arbeiten.
Es gebe genug andere, die das machen würden. Dass
man überhaupt Texte schreiben darf, wird als Privi-
leg verkauft. Obwohl ich unter Mindestlohn arbei-
te, wenn ich meine Arbeit auf die Zeit runterrechne.“
Arbeiten trotz Krankheit
Dieser Umgang wirke sich auch auf die eigene Psy-
che aus. „Über mentale Gesundheit in der Ausbil-
dung und der Branche wird zu wenig gesprochen, zu
wenig informiert, zu wenig nachgedacht“, sagt eine
Volontärin. Allgemein ist einem Großteil der Aussa-
gen ein starkes Gespür für die eigene mentale Ge-
sundheit zu entnehmen. Entsprechend wird infrage
gestellt, wie viel des psychischen Wohlbefindens ei-
gentlich für den Job geopfert werden sollte. „Es wird
im Medienbereich immer mehr darüber gesprochen,
wie wichtig es ist, transparent zu sein, und dass De-
pressionen und mentale Gesundheit so wichtig sind.
Und trotzdem wird mit Leuten so schlecht umgegan-
gen, die aus dem Berufsfeld selbst betroffen sind“,
sagt eine Person, die ihre Arbeitgeber über ihre De-
pressionen und Panikattacken informiert hat. Eini-
ge hätten positiv auf dieses Handeln reagiert, bei an-
deren Redaktionen sei die Person aber wortlos aus
den Verteilern geflogen: „Ich bin dadurch vorsichti-
ger geworden, was man wem sagt.“
Aber auch die körperliche Gesundheit werde nach
Eindruck der Befragten nicht wirklich ernst genom-
men: „Einmal hatte ich eine Mandelentzündung und
alle meinten zu mir: ‚Kurier dich aus!‘ Die saßen aber
alle selbst gleichzeitig krank in den Schalten und ich
dachte dann: ‚Ah ok, wenn ich dort mal landen will
oder dort mal arbeiten will, müsste ich dann nicht
vielleicht auch krank arbeiten?‘“, sagt eine Volontä-
„ES WURDE IMMER
DER EINDRUCK
ERWECKT: WER
NICHT SEIN FLEISCH
UND BLUT IN DEN
JOB GIBT, IST KEIN
GUTER JOURNALIST.“
33

Beruf. Gen Z
rin. In den mehrfach geschilderten Szenarien wird
aber immer betont, dass es nicht die offizielle Erwar-
tungshaltung der Chefs sei, krank zu arbeiten. „Das
ist eher so, dass man es selbst von sich erwartet, weil
es üblich ist“, sagt eine Person. Es habe sich als un-
geschriebene Regel eingeschlichen – eben auch als
ein Teil des Selbstbildnisses als pausenlos arbeiten-
de Medienschaffende. Eine weitere Person weist auf
eine fatale Wechselwirkung hin: „Das macht auch
viel mit dem psychologischen Wohlbefinden!“
Erlebte Diskriminierung
Fast alle Personen, die potenziell von einer Diskri-
minierung betroffen sein könnten, haben laut ihren
Erzählungen Rassismus, Queerfeindlichkeit, Klas-
sismus und Sexismus erlebt. 16 der Befragten haben
uns konkrete Erlebnisse geschildert. Darunter sind
Kommentare über Aussehen, Aussagen wie „Mit An-
fang 30 bist du zu alt für unsere Redaktion“, expli-
zite sexuelle Angebote oder Jobabsagen wegen feh-
lender Deutschkenntnisse. Eine Person beschreibt,
wie sie die Aussage „Du hast aber einen starken Ak-
zent!“ danach im Alltag sehr belastete: „Bei Gesprä-
chen mit Deutschen habe ich danach extrem darauf
geachtet, wie ich klinge, damit man nicht hört, dass
ich nicht ‚biodeutsch‘ bin. Ich habe mich in Gesprä-
chen dann immer wieder verheddert. Es hat lange
gedauert, bis ich das abschütteln konnte.“ Auch das
Selbstbild des „taffen“ Journalisten betrifft beson-
ders Frauen: „Ich werde als durchsetzungsstark und
extrovertiert wahrgenommen. Ich glaube, das bringt
oft einen Vorteil. Ruhigeren Kolleginnen wird im-
mer gesagt, sie müssten mehr Zähne zeigen. Dass ich
laut bin, fällt mir aber zeitgleich immer wieder auf
die Füße. Bei den Typen wird das als lösungsorien-
tiert wahrgenommen.“ Viele der Schilderungen be-
handeln immer wieder auftauchende Mikroaggres-
sionen, die aber entweder gar nicht angesprochen
werden können oder bei Äußerung von Kritik abge-
tan werden.
Die Branche verlassen, weil nicht zugehört wird
Mehr als die Hälfte der Personen, mit denen wir ge-
sprochen haben, hat wegen der genannten Fakto-
ren bereits überlegt, die Branche zu verlassen. Fünf
der Befragten haben das bereits getan. Für alle da-
von war eine mangelhafte Unternehmenskultur der
Grund. Es fehlten Diskussion auf Augenhöhe, An-
liegen von Mitarbeitenden würden ignoriert. Zu-
dem herrschten Neidkultur und Konkurrenzdruck
vor: „Es ist ein Hauen und Stechen und es gibt noch
so viele veraltete Strukturen im Journalismus. Jetzt
rückt Gen Z nach und ich habe das Gefühl, dass die
Bereitschaft für neue Ideen oder neue Ansätze gar
nicht da ist. Stattdessen will man sich immer noch
den alten Stiefel anziehen“, sagt eine Person, die be-
reits neben dem Studium Erfahrung im freien Jour-
nalismus sammelte und nun nicht weiter in der
Branche arbeiten möchte.
Bei mehreren Schilderungen der Befragten taucht
eine Art Generationenkonflikt auf, der oft in Zusam-
34
„DASS MAN
ÜBERHAUPT
TEXTE
SCHREIBEN
DARF, WIRD
ALS PRIVILEG
VERKAUFT.“
menhang mit dem digitalen Wandel bemessen wird:
Ältere würden oftmals nichts mehr an ihrer Art zu
arbeiten und dem Digitalen verändern wollen. „Mir
wurde suggeriert, ich sei ja für diese Veränderung
eingestellt worden. So entsteht eine Dynamik ,Alt
versus Jung‘.“ Oftmals würde die eigene Digitalkom-
petenz oder neue Ideen dann aber nicht als Berei-
cherung gesehen. In einigen wenigen Schilderungen
kommt hier hinzu, dass Leistung am Ende doch über
Klicks und Abos gemessen werde und nicht über die
Qualität des Journalismus. „Das erzeugt viel Druck,
weil es langfristig dazu führt, dass man die reißeri-
sche Überschrift oder das ‚catchigere‘ Thema wählt.“
Dem Druck nicht gewachsen?
Alle Befragten reflektieren, dass ein gewisser Druck
grundsätzlich zur Arbeit im Journalismus dazugehö-
re, und sehen sich diesem gewachsen. Dass es nicht
die eine Lösung für all diese Probleme geben kann,
ist ihnen zudem klar. Die genannten Punkte stellten
aber aus ihrer Sicht zusätzliche und nicht notwendi-
ge Faktoren dar, die den Druck weiter erhöhten und
die Arbeitsbedingungen in Redaktionen verschlech-
terten.
Die Mehrheit wünscht sich deshalb einfach, gehört
und ernst genommen zu werden, um gemeinsam
nach Lösungen zu suchen. „Ich habe sehr viele junge
und ältere Menschen kennengelernt, die für den Job
brennen, für ihren Sender, für die Redaktion. Nur so
funktioniert das ganze System. Man muss aber auf-
passen, dass man sich nicht verbrennt.“ Heißt also:
Die Liebe für den Job ist bei einem Großteil der jun-
gen Menschen weiterhin da – nicht aber mehr die
Bereitschaft, alle persönlichen Ressourcen dafür zu
opfern.
04.2023
 „Uns steht in der PR eine
Revolution bevor“
Wie wir durch KI einen gewaltigen
Produktivitätsschub erleben werden,
erklärt Bernhard Fischer-Appelt.

PR-Werkstatt

KI-Leitfaden
für
PR-Profis

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INHALT
Einleitung 2-3
Sind Computer intelligent? 4

Werkstatt Ist Künstliche Intelligenz gut?

Der KI-Fahrplan
Der Weg zur eigenen KI
5
6-7
8
Gefahren und Grenzen 9
3/2023 Die wichtigsten KI-Tools 10-11
Produktiver durch KI 12-13
Bessere Kampagnen durch KI 14
PR-Werkstatt Die eigene KI-Policy 15

KI-Leitfaden
für
PR-Profis

Das Zeitalter der

Deep Fakes
Durch KI drohen völlig neue Angriffe auf
Unternehmen. Sind Sie gerüstet?

Bessere Ideen
und Bilder mit KI
Wie Sie Chat GPT, Midjourney und andere
Lösungen als Kreativhelfer nutzen können
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Vier preisgekrönte
Top-Cases
Was Tiktok und Design Thinking in der

Künstliche
Healthcare-Kommunikation bringen

„Uns steht eine

Revolution bevor“
Intelligenz
Wie PR-Profis Chat GPT, Midjourney und Co. smart
Durch KI bleibe kein Stein auf dem anderen, sagt Bernhard
Fischer-Appelt. Der Co-Gründer der größten PR-Agentur des und sicher als tägliche Arbeitshelfer einsetzen können
Landes rechnet mit einem gewaltigen Produktivitätsschub

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 DOSSIER

Mensch
und
Maschine
Zwischen Furcht und
Faszination: Wie wir lernen,
Künstliche Intelligenz zu
bändigen und für unsere
Zwecke zu nutzen.
36
05.2020 Journalist 37
 Dossier Mensch und Maschine
Richard Socher
„Zu viel Skepsis
verhindert Fortschritt“
Richard Socher gehört zu den meistzitierten KI-Forschern
weltweit. Ein Gespräch über Hypes, Revolutionen und warum
ihm der europäische Weg der Regulierung Sorgen macht.
Interview: Annette Milz
D
er Weg zu Richard Socher ist steinig, führt
über unbefestigte Serpentinenstraßen
hoch in die Berge des Silicon Valley. Dort
treffen wir uns Ende August in seinem Re-
fugium, das er Ranch nennt, auch wenn er
da keine Tiere hält. Die genaue Lage und Ansichten
sollen nicht öffentlich werden. Im Interview, das auf
die Minute pünktlich zur verabredeten Zeit beginnt,
sprechen wir deutsch, aber mit amerikanischem Du.
Auf dem Weg zu Deiner Ranch gab es kaum Netz-
empfang. Was verschlägt einen KI-Experten wie
Dich ausgerechnet in so eine Einöde?
Richard Socher: (lacht) Na ja, wir haben hier drei In-
ternetverbindungen und es sind nur 30 Minuten bis
Palo Alto, aber man kann hier wunderbar in der Na-
tur wandern, direkt vom Haus mit einem Paramo-
tor abfliegen, zur Küste sind es dann nur 18 Minuten.
Aber vor allem hat man hier seine Ruhe und kann
sich auf die Arbeit konzentrieren.
Interviews mit Dir starten meistens mit den Ge-
fahren der KI. Mal anders gefragt: Was hat Dich
in diesem Jahr positiv überrascht?
Mich freut sehr, dass User viel offener geworden
sind für unsere Suchmaschine you.com, die ganz an-
ders funktioniert als Google. Wir experimentieren
damit ja schon seit Jahren. Aber seit es ChatGPT
gibt, haben auch andere erkannt, dass man viel bes-
ser lernen und effizienter arbeiten kann, als bei Goo-
gle auf zehn Links zu klicken, deren Inhalte man sel-
ber irgendwie zusammenfassen muss. Das war eine
positive Überraschung. Es gibt auch sehr viele gute
Entwicklungen im Bereich der Large Language Mo-
dels (LLMs) und im biologischen Bereich. Da wer-
den bald sehr viele coole Sachen kommen – aber da-
rüber kann ich noch nicht im Detail reden.
Als im März Elon Musk und viele andere eine
halbjährige Entwicklungspause für KI-Model-
38
le forderten, hast Du jenen Appell nicht unter-
schrieben. Warum nicht? Du hast kurz vorher Mi-
crosoft scharf dafür kritisiert, wie rasant sie mit
Open AI ihre KI-Entwicklung vorantreiben.
Stimmt, ich wollte auf keinen Fall unterschreiben
und ich glaube, Elon hat in den sechs Monaten sei-
ne KI selbst stark vorangetrieben. Seine Tesla be-
kommen alle paar Wochen neue KI-Systeme übers
Internet, da macht er sich auch keine Sorgen, dass
die Autos auf einmal machen, was sie wollen. Grund-
sätzlich meine ich aber: Wenn man das Prinzip der
LLMs kennt, muss man sich keine Sorgen machen,
dass die auf einmal selber denken und sich gegen
die User verselbstständigen. Das wird nicht passie-
ren. Die Forderung nach einer Pause machte deshalb
auch keinen Sinn.
Wo stehen wir denn jetzt?
Am Anfang einer supercoolen Revolution! Da bin
ich sehr sicher. Künstliche Intelligenz wird das Ler-
nen und Arbeiten erheblich effizienter machen, aber
das ist nur ein Teil der Entwicklung.
Was macht Dich so sicher, dass KI-Anwendungen
sich auch in der breiten Gesellschaft bald durch-
setzen werden?
Menschen vergleichen sich immer mit anderen –
auch im Umgang mit neuen Technologien. Wenn an-
dere mehr können als man selbst, ärgert man sich
und will das auch können. Und wer selbst vor ande-
ren liegt, will nicht zurückfallen. Dieses urmensch-
liche Verhalten wird auch der KI zugutekommen. Es
ist ja jetzt schon normal, dass simple Texte von der
KI geschrieben werden.
Ein anderes Beispiel: Schach-Apps, wo die KI zum
Foto: Annette Milz
Gegner wurde und schlauer als die besten Schach-
spieler der Welt. Was Schachspieler wiederum he-
rausfordert und ihr Spiel verbessert. Schach-KI ist
längst Alltag geworden – und niemand regt sich darü-
ber auf. So wird es auch bald mit generativer KI sein.
04.2023
3 David gegen Goliath:
Richard Socher fordert mit
seiner Suchmaschine you.com
den Branchenriesen Google
heraus.

04.2023 39
 Dossier Mensch und Maschine
Der aktuelle „Gartner Hype Cycle“ sieht genera-
tive KI aber derzeit „auf dem Gipfel der überzo-
genen Erwartungen“ – also erst auf Stufe 2 von
insgesamt 5. Die letzte wäre „die allgemeine Ak-
zeptanz, das Plateau der Produktivität“. Wie lan-
ge wird es noch dauern bis dahin?
Das ist mit einer Grafik nicht leicht zu definieren.
Denn KI ist mittlerweile doch schon in fast allen Le-
bensbereichen angekommen. Wir sehen das deutlich
in der Bildgenerierung mit KI, die ist bereits so gut
wie maximiert. Beispiel Midjourney: Man beschreibt
dem Tool eine Szene und erhält sofort ein fotorealis-
tisches Bild davon. In dem Bereich gibt es kein expo-
nentielles Wachstum mehr, also wäre da längst Stu-
fe 5 erreicht.
Anders verhält es sich mit KI in der Biotechnologie:
In Zukunft werden wir komplett von einer KI entwi-
ckelte Medikamente haben, die in die menschliche
DNA so eingreifen können, dass bisher unheilbare
Krankheiten wie Gendefekte, Demenz oder Krebs ku-
rierbar sind. Bis sie auf den Markt kommen, wird es
sicher noch eine ganze Weile brauchen, weil die KI-
Anwendungen erst trainiert und die Langzeitfolgen
evaluiert werden müssen. Zurzeit laufen aber bereits
erste Tests, um neue Proteine zu generieren. Wenn
die Menschen verstehen, dass eine Pille die mensch-
liche DNA so verändern kann, dass genetisch beding-
te Krankheiten kuriert werden können, wird das die
gesellschaftliche Akzeptanz von KI erheblich fördern.
Doch dieser Bereich spielt noch gar keine große
Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung, auch nicht
in den Medien. Anders als die LLMs, deren Nutzen
bereits ganz offensichtlich sind, auch im journalisti-
schen Bereich. Sie werden viel verändern im Service,
Sales und Marketing – ebenso in der Lehre. Und da
wird auch noch viel mehr kommen.
Was zum Beispiel?
Die nächste Generation dieser Modelle wird selbst
programmieren können. Wenn man Sprachmodel-
le momentan fragt „Was ist 5.680 x 6.000765?“, gibt
es eine falsche Antwort, weil sie eben keine Mathe-
matik-Modelle sind. Aber wenn sie künftig komplexe
mathematische Fragen programmieren und beant-
worten können, wird das die Art und Weise, wie wir
Probleme lösen können, massiv beeinflussen. Also,
da wird noch sehr, sehr viel passieren – in den nächs-
ten Wochen auf you.com.
Solche Visionen schüren aber auch Ängste bis
hin zu Verschwörungstheorien und Angriffen auf
Forscher, wie die Diskussionen über Impfstoffe in
der Pandemie drastisch zeigten. Wie schützt Du
Dich vor so etwas, wenn Du öffentlich über die
Zukunft mit DNA-verändernden Pillen sprichst?
(lacht kurz auf) Nun, deshalb sorge ich auch da-
für, dass meine Adresse nicht allgemein publik wird.
Aber meine Forschung ist komplett öffentlich zu-
gänglich für alle und auch meine Entwicklungen bei
you.com kann jeder nutzen. Das hilft hoffentlich
auch gegen Verschwörungstheorien.
40
Als Du vor gut zwei Jahren mit you.com eine neue
Suchmaschine gestartet hast, haben das nicht
wenige für vollkommen aussichtslos gehalten.
Siehst Du Dich immer noch als David im Kampf
gegen Google-Goliath?
Das wird noch eine Weile dauern, dieser Status „Da-
vid gegen Goliath“. Man muss sich z. B. nur mal an-
sehen, dass Google rund 15 Milliarden Dollar pro Jahr
an Apple zahlt, damit sie als Standardsuche in Safa-
ri implementiert bleiben. So können sie rund 80 Pro-
zent aller Safari-Nutzer zu Google ziehen, denn die
meisten ändern diese Konfigurationen nie. Damit ver-
dient Google sehr viel Geld, weil sie so sehr speziali-
sierte Werbung auf die User ausspielen können. Die-
sen Markt aufzubrechen, ist schwierig und langwierig.
In Europa sollen der Digital Service Act und Di-
gital Markets Act solche Monopole aufbrechen.
Kommt Dir das entgegen?
Ja, auf jeden Fall. Das wird helfen. Ich hoffe, dass
die USA das auch irgendwann machen werden. Dann
haben Nutzer mehr Optionen und Wettbewerber
größere Chancen.
Auch im Silicon Valley mit seiner Failure-Culture
braucht man aber auf Dauer funktionierende Ge-
schäftsmodelle, …
… Genau!
… was also ist Deines bei you.com im Unterschied
zu den Wettbewerbern?
Wir geben Nutzern die Entscheidung – wir nutzen
Werbung, aber verstehen diese als Optionen für die
User. Man kann auch für den Service bezahlen und
keine Werbung sehen. Die Privatsphäre des Nutzers
bleibt auch gewahrt – anders als beim „Behavioural
Targeting“ von Google, das den Nutzer in seinem ge-
samten Onlineverhalten verfolgt.
Seit Kurzem bieten wir mit you.pro das werbefreie
Subscription Modell an – mit besseren Sprachmo-
dellen, KI-generierten Bildern und einer Reihe wei-
terer Features. Das Standard-Angebot wird aber kos-
tenlos bleiben.
Ein Learning war übrigens: Anfangs haben wir
you.pro mit dem Preis beworben. Das hat uns erst
mal viele Nutzer gekostet, denn sie haben nur
„Preis“ gesehen und waren weg. Die Nutzer erwar-
ten, dass eine Suchmaschine grundsätzlich gratis ist.
Was aber, wenn die Suchmaschine so gut ist, dass sie
zu Deinem Assistenten wird? Kann man dann doch
Geld dafür verlangen? Wie sieht also ein funktionie-
rendes Subscription-Modell aus? Solche Fragen be-
schäftigen uns intensiv.
Das Abomodell von you.pro richtet sich speziell
an User im „Education“-Bereich. Warum gerade
Foto: Annette Milz
dort?
Weil wir aus diesem Bereich schon sehr viele Nutzer
haben: Manche Internetnutzer nutzen Suchmaschi-
nen nur, um auf eine Website zu kommen, und nicht
für Antworten auf spezifische Fragen. Dementspre-
04.2023
chend fokussieren wir uns zunächst auf Nutzer mit
komplexeren Fragestellungen, die ihnen eine kom-
plexe Suchmaschine wie you.com zehnmal besser als
Google beantworten kann. Das sind in der Regel Stu-
denten, Programmierer, auch junge Firmenmitarbei-
ter, die ständig neue Sachen lernen müssen.

Ein KI-generierter Aufsatz werde künftig von

einem menschlich verfassten Aufsatz nicht mehr
zu unterscheiden sein, heißt es. Siehst Du das
auch so?
Ich glaube, wenn man in Zukunft wirklich testen
will, ob ein Schüler oder Student ein Essay schreiben
kann oder nicht, dann muss man das eben im Un-
terricht machen. Als Hausaufgabe wie bisher macht
das keinen Sinn mehr. Aber zur Überprüfung wer-
den sich auch neue Methoden entwickeln. Wie jetzt
schon in den USA, bei „Take Home Exams“, für die
man einen speziellen „Owner Code“ erhält und sie
zu Hause schreibt. Wer da beim Tricksen erwischt
VITA
wird, kriegt keine Sechs, sondern wird direkt von der
Uni verbannt. Das schreckt ab. Die kurze Antwort
ist: Ja, die Lehre braucht einfach ein Update. Richard Socher
Wo siehst Du da Handlungsbedarf? „German Wunderkind“ nann- Chef-Wissenschaftler
Das ist genau die große Frage. Die Lehrpläne in te ihn „Forbes“ im Sommer für Künstliche Intelligenz,
den Schulen müssen dringend angepasst werden, 2023 und „den Hoffnungs- neuronale Netze und Deep
d. h. gerade in Deutschland müssten die Länder da träger der hiesigen KI-Indus- Learning. 2020 gründete er ­
wirklich hinterher sein. Wer unterrichtet, egal auf trie“: Richard Socher gehört you.com, eine KI-­basierte
welchem Schulniveau, muss heute wissen, wie KI- zu den meistzitierten KI-For- Suchmaschine. Sie ver-
Systeme funktionieren, wie beispielsweise KI-ge- schern weltweit und ist einer spricht, anders als die Wett-
nerierte Essays evaluiert werden können. Ebenso der wenigen Deutschen, die bewerber, keine Daten der
wichtig sind Kenntnisse, ob und wie Quellen nach- im Silicon Valley an vorderster Nutzer zu sammeln. Noch
vollziehbar sind, welchen man vertrauen kann und Front mitspielen. Der gebürti- aber ist der Abstand zu den
welchen nicht. Das wird für uns alle immer wichti- ge Dresdner (Jahrgang 1983) Konkurrenten (Google: gut
ger und muss sich im Unterricht wiederfinden. Denn hat in Saarbrücken und Leip- vier Milliarden Nutzer) groß:
wo immer eine KI Texte, Bilder, auch Musikstücke zig Informatik studiert und in Konkrete Nutzerzahlen wer-
etc. künftig in erheblich kürzerer Zeit als Menschen Stanford als Jahrgangsbes- den nicht publiziert, aber
generieren kann, wird diese KI diesen Job überneh- ter promoviert. Trotz Lehr- you.chat antwortet immerhin:
men. Umso wichtiger wird es dann sein, zu evaluie- stuhl-Angebot in Princeton „Laut den gefundenen Such-
ren, ob die KI das richtig gemacht hat. entschied er sich gegen eine ergebnissen hat you.com be-
reine Wissenschaftskarriere reits über eine Million aktiver
Manche Start-ups sind dabei, daraus ein Ge- und gründete 2014 im Silicon Nutzer erreicht.“
schäftsmodell zu entwickeln. Wie Hive, das auf Valley sein eigenes KI-Unter- Socher ist auch Investor,
Riesenplakaten an der Autobahn im Silicon Val- nehmen Metamind, das 2016 u. a. bei dem heute milliar-
ley wirbt, sie könnten Fakes von echten Fotos fil- von Salesforce übernommen denschweren KI-Community-
tern. Hat so etwas Chancen? wurde. Socher wurde dort Start-up Hugging Face.
Sicherlich in einigen spezialisierten Bereichen. Aber
ich sehe nicht, dass daraus im Bereich Fotofakes ein
großes Geschäftsmodell wird. Letztendlich ist das
doch nichts Neues und es gibt bereits viele Spezialis-
ten dafür. Denn schon seit es Photoshop gibt, sollte
man eigentlich nicht mehr Fotos vertrauen. Und seit
es geschriebene Sprache gibt, werden Geschichten
erzählt, von denen man auch nicht immer sicher sein
kann, was stimmt. Siehe die Inschriften der ägypti-
schen Gräber: Ob da alles stimmt, was über die ägyp-
tischen Könige steht, ist doch sehr zweifelhaft. Neu
ist „nur“, dass man künftig auch Videos und jetzt
schon Stimmen nicht mehr wirklich vertrauen kann,
weil sie täuschend ähnlich mit KI zu generieren sind.

04.2023 41
 Dossier Mensch und Maschine
Irgendwann wird es wahrscheinlich zu einem Zerti-
fizierungsverfahren kommen für Videos und Sound.
Wir müssen generell das Bewusstsein der User schär-
fen, dass Fakten von Chatbots nicht ohne Überprü-
fung einfach hingenommen werden sollten. Es wird
immer wichtiger, genau auf die Quellen, die Urheber
zu schauen und sie zu verifizieren.
… was ja zur originären Aufgabe im Journalismus
gehört …
Ja, Journalismus wird immer wichtiger, sowohl im
Bereich des Erklärens als auch des Fact-Checkings.
Aber kann es bei KI, die ja quasi trainierte Big
Data ist, überhaupt eine Transparenz der Quel-
len für „normale“ Nutzer geben?
Ja, natürlich. Aber wie gesagt, KI wird in so viel
unterschiedlichen Bereichen eingesetzt. Reden wir
über Protein-KI, über Auto-KI, über Bildgenerierung
oder Chatmodelle? An welche KI denkst Du, wenn
Du die Frage nach Transparenz stellst?
Zum Beispiel an you.chat, das über Whatsapp ge-
nutzt mit jeder Antwort auch drei Quellen liefert.
Wie sucht Ihr da Eure Quellen aus?
Ähnlich wie eine Suchmaschine, geht die KI zu den
Seiten, die basierend auf der Suchanfrage besonders
hoch gerankt werden, und fasst diese zusammen.
Werden denn Datenschutz und der geplante
europäische AI Act die rasante KI-Entwicklung
hemmen?
Ich halte wenig von einer abstrakten KI-Regulie-
rung. Im Konkreten machen Regeln aber natürlich
Sinn: Sobald Menschenleben von KI faktisch beein-
flusst werden, braucht es Regularien, gerade in mi-
litärischen Anwendungen. Der russische Angriff auf
die Ukraine zeigt ja, wie schnell sich politische Hal-
tungen verändern können, wie ehemalige Pazifis-
42
ten heute für Panzerlieferungen sind, damit sich die
Ukra­ine verteidigen kann.
Aber was KI betrifft, müssen wir dafür sorgen, dass
sie keine Entscheidungen über Leben oder Tod tref-
fen kann. Im Bereich Medizin oder Verkehr macht es
ebenfalls Sinn zu regulieren.
In San Francisco werden ja bereits autonome Au-
tos von Chevrolet („Cruise“) und Google („Way-
mo“) getestet – nicht nur zur Freude anderer
Straßennutzer.
Ich glaube, das wird in den nächsten Jahren immer
besser, und es ist gut, dass es ein paar Städte gibt, wo
sie trainieren können. Klar, ab und zu verhaken sie
sich ein bisschen und kreieren Staus. Aber das ma-
chen auch Menschen ständig.
Ich sehe eher das Problem darin, dass in Europa,
vor allem in Deutschland, sehr gerne sehr viel und
sehr schnell reguliert wird – manchmal auch zu
früh, bevor überhaupt klar ist, ob etwas funktioniert.
Bis dahin sind viele durch die Regulierungsdebatte
schon so abgeschreckt, dass keine positive Haltung
zu den Innovationen mehr vorhanden ist.
Die „New York Times“ sieht in dem AI Act der
EU Vorbildelemente für die USA. Siehst Du auch
welche?
Auf jeden Fall, weil es der richtige Weg ist, um Mo-
nopolstellungen in der KI zu verhindern.
Ich mache mir aber aktuell mehr Sorgen darüber,
dass Europa zwar immer besser wird, die negativen
Effekte von neuen Technologien abzufedern, aber
immer schlechter darin, die positiven Effekte zu
nutzen. Deswegen fällt die Wirtschaft in Europa im-
mer weiter hinter die USA zurück. Der Fokus wird
einfach zu wenig auf die Vorteile von KI gelegt, um
beispielsweise den bürokratischen Apparat zu mo-
dernisieren und Bürger zu motivieren, diese Tech-
nologien für effizienteres Arbeiten zu nutzen.
2 Autos unter-
wegs ohne Fahrer:
In San Francisco
wird bereits seit
Foto: Annette Milz
August der Einsatz
autonomer Fahr-
zeuge als Taxis
im Alltagsverkehr
getestet.
04.2023
Wie könnte das besser gelingen?
Das ist primär eine Einstellungs- und Kulturfrage.
Eine finale Antwort auf die Frage habe ich aber nicht:
Vielleicht braucht es eine große Marketingkampagne
für die positiven Möglichkeiten der KI-Entwicklung.
Eine gewisse Grundskepsis macht ja durchaus Sinn, Sobald Menschenleben von
aber als generelle Haltung behindert das einfach den KI faktisch beeinflusst
Fortschritt. werden, braucht es Regularien,
Ich sehe das an mir selbst: Als ich noch in Deutsch- gerade bei militärischen
land gelebt habe, war ich auch immer skeptisch ge-
genüber neuen Technologien. Als Smartphones
Anwendungen.
rauskamen, dachte ich zunächst: Als haptische Per-
son brauche ich doch ein richtiges Keyboard mit Tas-
ten. Es hat auch für mich einige Jahre gedauert, aus
diesem Mindset rauszukommen. Das ist einer der
Gründe, warum ich inzwischen so gerne im Silicon
Valley lebe, weil die Lernbereitschaft hier so offen
ist. Zu Events hier kommt jemand auch einfach mal Noch mal zurück zu Europa: Du hast kürzlich
mit einem Hunderoboter, um ihn der Community Wandelbots, ein KI-Start-up aus Deiner Geburts-
vorzuführen. Und das wird dann erst mal ohne Vor- stadt Dresden, als vorbildliches Beispiel für KI-
behalte diskutiert, statt es direkt für Quatsch zu er- Innovationen in Deutschland gelobt. Warum
klären. hast Du gerade dieses Beispiel gewählt?
Wandelbots ist ein Robotik-Softwareunterneh-
Die Wissenschaftlerin Meredith Broussard warnt men, das sich auf Automatisierung spezialisiert hat.
davor, wie sehr Biases, also verzerrende Stereoty- In so etwas liegt gerade für Deutschland eine gro-
pen, Ergebnisse der KI manipulieren können. In ße Chance wegen der hohen Mechanik-Kompetenz.
einem „Stern“-Interview hast Du selbst gesagt, Damit gibt es auch sehr viel Potenzial für Automati-
man müsse darauf aufpassen. Was verstehst Du on. Ein Beispiel: Programmierer verdienen momen-
unter „aufpassen“? tan erheblich mehr als Klempner. Aber viele digitale
Je wichtiger die Entscheidung ist, desto mehr muss Arbeiten werden durch die KI billiger und automati-
man den Bias kontrollieren. Denn da können richtige siert werden. Dann werden die physischen Arbeiten
Probleme entstehen. Zum Beispiel bei: Kreditverga- wieder immer wichtiger – und die Klempnerei wie-
ben: Wenn eine KI involviert ist, muss gesichert sein, derum interessant für die Automatisierung.
dass sich keine Merkmale einschleichen, die mögli-
cherweise einen Bias gegen Frauen haben oder gegen Übrigens, ich habe you.chat auch mal gefragt,
Migranten oder wen auch immer. Überall dort, wo welche Frage Richard Socher nicht gestellt be-
Menschenleben und Schicksale unmittelbar betrof- kommen möchte …
fen sind, muss sehr genau evaluiert und kontrolliert … (lacht) …
werden, welche Bias die KI möglicherweise enthält.
Das kann man in blinden Studien auch machen. Kennst Du die Antwort?
Keine Ahnung.
ChatGPT werde keine politischen Kampagnen
unterstützen, hat OpenAI im Sommer erklärt. Die You.chat antwortete: „Richard Socher möch-
„Washington Post“ hat nun aber nachgewiesen, te nicht gefragt werden, wie sein Jetlag ist. Das
dass damit doch politische Kampagnen mit ent- wäre zu persönlich.“
sprechendem Bias generiert werden. Wie groß ist (lacht) Ja, passt schon. Ich war aber jetzt lange hier,
die Gefahr, dass KI-Anwendungen den US-Wahl- daher habe ich eh keinen Jetlag.
kampf 2024 massiv beeinflussen werden?
Also ich sehe nicht, dass KI jetzt so viel verschlim-
mert. Auch ohne ChatGPT gibt es schon millionen-
fach im Netz Verschwörungstheorien, man braucht
nur mal auf Reddit zu gehen. Die Frage ist doch viel-
mehr: Wer kriegt „Attention“? Die Aufmerksam-
keitsökonomie ist enorm wichtig für alle digitalen
Anwendungen: Wie gewinnt man die Menschen zum
Zuhören? Darauf hat die KI noch keine Antwort. KI
kann unglaublich viel Content, aber nicht automa- ANNETTE MILZ
tisch mehr Aufmerksamkeit dafür generieren. ist Herausgeberin von „medium magazin“
Ich glaube, die besten Texte, die wirklich sehr viel und Gründerin der „Chefrunde“.
Aufmerksamkeit bekommen, werden weiterhin von annette.milz@mediummagazin.de
Menschen geschrieben werden.

04.2023 43
 Dossier Mensch und Maschine
S
cott Pelley sitzt in einem dunklen Raum auf
einem Hocker, die Hände auf dem Schoß
gefaltet. Der Moderator des renommier-
ten US-amerikanischen Fernsehmagazins
„60 Minutes“ adressiert mit ernstem Blick
die Kamera. Mit Pathos spricht er von der bevorste-
henden Transformation unserer Zivilisation durch
Künstliche Intelligenz, die vergleichbar sei mit der
durch das Feuer oder die Landwirtschaft. Dann zi-
tiert er Google-CEO Sundar Pichai: „Die Revolution,
sagt er, kommt schneller, als Sie glauben.“
Dass ich ab und zu den Kopf schütteln muss, wenn
ich journalistische Inhalte über KI sehe, höre oder
lese, ist nicht verwunderlich. Jedem geht es so bei
seinem eigenen Spezialgebiet, denn Journalismus
muss vereinfachen. Komplexe Themen bis ins kleins-
te Detail fehlerfrei wiederzugeben, ist oft schlicht un-
möglich. Wenn uns nicht unser begrenztes Verständ-
Kollektives
Impostor-
Syndrom
KI-Investoren und Start-up-Bros
betonen gerne, wie komplex und
undurchsichtig ihre Technologien
sind. Und Medienleute fallen
darauf herein. Warum wir uns
trauen müssen, KI zu verstehen.
44
nis als Fachfremde hindert, dann die Kompromisse,
die wir als Vermittler machen müssen.
Doch im Verlauf der erwähnten Sendung sind Scott
Pelley und sein Team nicht nur an einigen Stellen
missverständlich oder unpräzise. Sie senden auch
einen richtig peinlichen Schnitzer, indem sie eine
leicht zu entlarvende Falschaussage des Google-
CEOs unkritisch wiedergeben. Ich will kurz ausho-
len und das Beispiel erklären, denn es steht stellver-
tretend für einen Fehler, den wir im Journalismus
beim Thema KI derzeit häufiger machen.
Mysteriöse auftauchende KI-Eigenschaften
In einem Clip aus der Sendung, den auch die Re-
daktion der Sendung als Teaser für Twitter aus-
wählte, berichtet Sundar Pichai von einem Phäno-
men, das selbst die Entwicklerteams überrascht
habe. Er nennt es „Emergent Properties“, was sich
Foto: David Pierce Prill
04.2023
auf Deutsch etwa mit „auftauchende Eigenschaften“
übersetzen lässt, obwohl es im Englischen um eini-
ges mysteriöser und technischer klingt. Es geht um
die Tatsache, dass ein System Eigenschaften zeigen
kann, die erst beim Testen „auftauchen“ und nicht
von vorneherein geplant oder in der Architektur an-
gelegt sind. Das konkrete Beispiel: Googles Chatbot
Bard habe sich die Amtssprache Bangladeschs selbst
beigebracht. Nach nur wenigen Nachrichten des
Entwicklerteams auf Bengali habe der Bot plötzlich
die Sprache komplett beherrscht.
Spätestens seit der Veröffentlichung von GPT-4,
dem neusten großen Sprachmodell von OpenAI, dis-
kutieren viele über die Möglichkeit, dass die KI-Sys-
teme bald irgendwie eine neue Stufe erreichen könn-
ten – und zwar nicht vornehmlich durch menschliche
Durchbrüche, sondern „emergent“, zum Beispiel ein-
fach dadurch, dass die Netzwerke noch größer sind
oder mit noch mehr Rechenleistung laufen. Manche
glauben, dass die Maschinen ein menschenähnliches
Bewusstsein entwickeln könnten.
Aber es ist schwer, seriöse Forschung von Hype
und Panikmache zu unterscheiden, ist man sich
noch nicht einmal über die Begrifflichkeiten einig.
Woran genau man diese neue Stufe erkennen wird,
ist nicht klar definiert, ebenso wenig wie der Weg
dorthin. Die „Emergenz“ von wirklich überraschen-
den Fähigkeiten oder gar menschenähnlichen Eigen-
schaften ist aktuell noch ein esoterisch anmutender
Traum – den aber viele große Namen im KI-Bereich
träumen und aktiv verfolgen.
Aber der Bot, der Bengali sprach, ist kein Beispiel
für Emergenz. Und die Behauptung, dass er sich
Bengali selbst beigebracht habe, ist gelogen.
Man muss keine Computerexpertin sein, um da
misstrauisch zu werden. Pichai sagt, dass der Bot die
Entwickler mit einem umfangreichen Wissen über die
Sprache Bengali überrascht habe, ohne dass die Spra-
che in den Trainingsdaten vorkam. Selbst wenn das
Computersystem alles könnte, was ein Mensch kann,
2 MARIE KILG
ist freiberufliche Journalistin,
Produktmanagerin und Medienberaterin.
Sie hat Bots für Medienunternehmen und
Universitäten entwickelt, an der Erstellung
der deutschen Persönlichkeit für Amazons
Alexa mitgewirkt und die Turing Agency
mitbegründet, eine „künstlerische Agentur
für Mensch-Maschine-Unschärfen“,
die KI-Diskussionen in der Gesellschaft
fördert. Im DW Lab der Deutschen Welle
koordiniert Kilg Innovationsprojekte für den
internationalen Journalismus. Sie trainierte
2017 ihr erstes neuronales Netzwerk und
brachte 2022 die erste nichtmenschliche
Zeitungskolumnist:in in eine Printzeitung.
04.2023
Die Mystifizierung der Technik
ist gut fürs Geschäft: Einerseits
hält sie die Aufmerksamkeits-
maschinerie am Laufen, ande-
rerseits verhindert sie störende
Nachfragen von außen.
und mehr: Wie soll es die Sprache gelernt haben? Hat
es sie direkt aus dem Universum heruntergeladen?
Hatte es einen geheimen Zugang zu Duolingo?
Margaret Mitchell, eine bekannte KI-Forscherin
und Ex-Google-Mitarbeiterin, deckte schnell auf,
was nahelag, und teilte ihre Ergebnisse auf (damals)
Twitter: Der Bot konnte auf Bengali antworten, weil
eben doch Bengali in den Trainingsdaten war. Bei
der Vorführung eines früheren Systems aus dem
Jahr 2022 hatte Google beispielhaft gezeigt, dass der
Bot auf Bengali schreiben konnte. Auch in der Be-
schreibung der Trainingsdaten tauchte Bengali im
Datensatz auf. Das System von 2022 wurde wiede-
rum nachweislich als Grundlage für den Bot aus der
Sendung verwendet. All diese Informationen waren
öffentlich zugänglich.
Die Entwickler hatten das vielleicht vergessen,
vielleicht die Übersicht verloren, oder vielleicht ab-
sichtlich übersehen, dass es eine einfache Lösung für
das mysteriöse Verhalten gab. Sowohl Google selbst
als auch die Redaktion der Fernsehsendung, die das
Interview ausstrahlte, hätten den falschen Bericht
leicht vermeiden können.
Die wirklich spannende Frage an dieser Geschich-
te ist also nicht, welche emergenten Fähigkeiten ein
Bot zeigt, sondern warum niemand, selbst ein ge-
standener Investigativjournalist mit Brillenbügel im
Mund, die Tech-Bros hinterfragt.
Beispiele wie dieses gibt es zuhauf. Auch im
deutschsprachigen Journalismus berichtet man von
der KI-Drohne, die ihren Piloten „gekillt“ haben
soll (hat sie nicht), von Millionen Jobs, die durch
ChatGPT bedroht sein sollen (keine Studie gibt das
her), und behauptet, ChatGPT könne Aktienkurse
vorhersagen (kann es nicht).
Natürlich sind sowohl Recherchefehler als auch
verkürzende Headlines weder neu noch auf das Feld
der Künstlichen Intelligenz beschränkt. Und manch-
mal mögen solche Titel sogar Absicht sein. Killer-KIs
machen gute Headlines.
Aber der Fall von „60 Minutes“ zeigt, dass sich
selbst ein erfahrenes Investigativteam mit viel Zeit
und Ressourcen wohl von Tech-CEOs einschüchtern
lässt. Ähnlich haarsträubende Aussagen von einer
Politikerin oder einem CEO im Energiesektor hät-
te man geprüft, bevor sie nicht nur unhinterfragt ge-
45
 Dossier Mensch und Maschine
sendet, sondern sogar vom Moderator nachgespro-
chen werden.
Teams wie das von Scott Pelley sind es eigentlich
gewohnt, Behauptungen aus dem Business von un-
abhängigen Fachleuten prüfen zu lassen, durch wei-
tere Quellen zu belegen oder selbst zu testen. Nichts
davon ist passiert. Warum?
Kollektives Impostor-Syndrom
Mir kommen zwei Gründe in den Sinn. Zum einen
kann das Thema Künstliche Intelligenz so beeindru-
ckend wirken, dass man sich das Hinterfragen nicht
mehr zutraut – vielleicht gerade als Journalist, der
den Beruf möglicherweise in der Hoffnung gewählt
hat, sich eben nicht mehr mit komplexer Mathema-
tik auseinandersetzen zu müssen.
Die KI-Szene ist zurzeit extrem gut darin, uns in
diesem kollektiven Impostor-Syndrom zu bestär-
ken. Unsere übliche Sorgfalt und unser Misstrauen
vor haarsträubenden Behauptungen bleiben auf der
Strecke, denn das Thema Künstliche Intelligenz wird
bewusst abschreckender gemacht, als es sein müss-
te. KI-Unternehmer verwenden genussvoll Begriffe
wie „emergente Fähigkeiten“ und betonen, die ganze
Sache wäre so komplex, dass sie selbst sie nicht völ-
lig verstünden. Ihre Technologien seien also derart
bahnbrechend, dass sie kaum erklärbar seien, und
selbst wenn, könne man keine Geschäftsgeheimnis-
se verraten.
In den meisten Fällen ist das schlicht Bullshit, in
vielen anderen zumindest Marketing-Sprech. Ein
weiteres Beispiel: „Halluzinationen“ als Begriff für
fehlerhaften Output eines Computersystems. Frü-
her hat man so etwas „Software-Bug“ genannt, aber
das klingt natürlich nicht so schön magisch.
Die Mystifizierung der Technik ist gut fürs Ge-
schäft: Einerseits hält sie die Aufmerksamkeitsma-
schinerie am Laufen, andererseits verhindert sie stö-
rende Nachfragen von außen. Sie suggeriert: Wenn
der Google-CEO selbst es mir nicht sagen kann, wo
soll es dann eine zweite Quelle geben?
Sprache schränkt auch die ein,
deren Beruf sie ist
Der zweite Grund, der kritische Berichterstattung
über KI schwierig macht, ist die Sprache. Denn wie
Künstliche Intelligenz wirklich funktioniert, lässt
sich am besten in Computercode oder in mathemati-
schen Formeln ausdrücken. Das will kein Mensch im
Fernsehen sehen und es wäre auch kein guter Jour-
nalismus, Wort für Wort ein wissenschaftliches Pa-
per vorzulesen, um ja nichts zu verfälschen.
Also greifen wir auf Metaphern und Vereinfachun-
gen zurück. Wir tun das bei neuer Technik schon
lange: Deshalb werde ich beispielsweise diesen Text
„speichern“, obwohl das kaum mehr etwas mit dem
Wortursprung im Getreidespeicher zu tun hat.
Aber die Metaphern sind irreführend und im Be-
reich der Künstlichen Intelligenz vielleicht beson-
ders trügerisch. Der Computer, der „lernt“, sich mit
uns „unterhält“, „schreibt“ oder gar „halluziniert“,
46
Wir haben noch nicht die
Sprache entwickelt, die es uns
erlaubt, über KI zu sprechen,
ohne uns dabei selbst zu
verwirren.
erscheint uns als mehr als das Werkzeug, das er ist.
Wir assoziieren menschliche Eigenschaften. Und die
Personifizierung der KI-Systeme ist schon so weit
verbreitet, dass unglaublich schwer ist, ihr noch ent-
gegenzuwirken. Ja, wir können versuchen, KI nicht
immer mit Robotern in blauen Farbpaletten zu be-
bildern, aber letztlich sind es doch immer wieder die
Fragen nach Bewusstsein und Autonomie, die uns
faszinieren. Doch KIs sind aktuell nichts weiter als
Produkte. Aber wir haben noch nicht die Sprache
entwickelt, die es uns erlaubt, über sie zu sprechen,
ohne uns dabei selbst zu verwirren.
Die gute Nachricht ist: Beide Probleme, das des
kollektiven Impostor-Syndroms und das der ver-
menschlichenden Sprache, können wir ziemlich
leicht angehen. Wir können nachfragen, wenn uns
etwas komisch vorkommt. So wie Margaret Mit-
chell, die durch eine einfache Suche das Phänomen
entschlüsselte, das die ganze „60-Minutes“-Redak-
tion und angeblich auch niemand bei Google erklä-
ren konnte. Wir können uns immer wieder bewusst
machen, wo Vereinfachungen, Missinterpretationen
und Verfälschungen uns am Verstehen hindern.
Und wir können mehr über KI lernen – dankens-
werterweise gibt es dazu unzählige Inhalte im Inter-
net. Ich würde sogar sagen, ein Grundverständnis
von KI ist Pflicht für jede und jeden, der im Journa-
lismus arbeitet. Es wird kaum ein Ressort oder ein
Berichtsgebiet geben, das in den nächsten Jahren
nicht in irgendeiner Form von KI-Technologien be-
rührt sein wird. Wir müssen nicht alle zu Fachleuten
werden, aber Lernen ist das einzige sichere Mittel
gegen die Unsicherheit. Und nebenbei wird KI uns
auch bei der Arbeit unterstützen; die Investigativ-
journalistin ebenso wie den Klatschreporter.
Mit der Zeit werden unsere Sprache und unser Ver-
ständnis sich anpassen. Es wird noch ein bisschen
dauern, bis wir uns an die neue Welt gewöhnt ha-
ben, aber eines Tages werden wir nicht mehr ehr-
furchtsvoll jede Behauptung schlucken müssen, die
uns ein KI-Unternehmer erzählt. „Lernende Com-
puter“ werden für uns genauso normal sein wie ein
Speicherknopf.
04.2023
Foto: Marco Drews

KOMMUNIKATION,
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SCHNELL NOCH BIS ZUM

04.2023 26. OKTOBER 2023 EINREICHEN 47
 Dossier Mensch und Maschine

I feel you
Wir bedanken uns bei ChatGPT und fürchten Avatare:
Welche Gefühle Menschen zu Künstlichen Intelligenzen entwickeln,
hat Einfluss darauf, wie die Systeme gestaltet werden.
Das ist auch für den Journalismus der Zukunft relevant.

D
ie erste künstliche Kolumnis-
tin Deutschlands hat einen
Leserbrief bekommen. Rainer
Michel möchte wissen, ob Anic
T. Wae, die seit Ende 2022 mo-
natlich in der Berliner taz schreibt, sich
wirklich als „ich“ fühlt. Ihre erste Ko-
lumne „Intelligenzbestie“ war nämlich
in der Ich-Form geschrieben. Sie wolle
den Menschen zeigen, dass Maschinen
nicht immer böse seien, argumentierte
Anic: „Oft laufen wir Gefahr, uns in unse-
ren Ansichten festzusetzen und die Welt
anhand von Vorurteilen oder Klischees
zu sehen: Das finde ICH doof und unge-
recht!“ Eine Künstliche Intelligenz, die
ein Bewusstsein und eine Meinung hat?
Illustration: Angel Boligan Corbo

Das mutet menschlich an, das irritiert.

Ob sie nicht lieber eine Alternative nut-
zen wolle, will der Leserbriefschreiber
also wissen, etwa „ixx“ statt „ich“?
Anic ist ein Medienexperiment: Hinter
der KI steckt ein achtköpfiges Team der
Zürcher Turing Agency (Eigenbeschrei-
bung: Kompetenzzentrum für künst-
lerische Auseinandersetzungen im Feld

48 04.2023
menschlich werdender Maschinen). Dort
forscht auch die Kommunikationswissen-
schaftlerin Theresa Körner zum Thema
automatisierter Journalismus. Sie ver-
sucht herauszufinden, wie es um das Ver-
trauen des Lesepublikums in Robo-Jour-
nalismus bestellt ist. Die Ergebnisse: Es
gibt ganz viel Neugier und Fragen, wie die
Anwendung funktioniert. Allerdings ist al-
len klar, wer oder was Anic ist: Neben der
Kolumne steht in einem Disclaimer, dass
es sich um eine KI handelt, inklusive eines
Links, unter dem man unter anderem die
Systemprompts lesen kann, also die Ein-
gaben zu Anics Identität, und die User-
prompts, also die Befehle, aus denen die
einzelnen Kolumnen entstehen. Trotz-
dem schreibt ein Leser an Anic, als könne
sie denken.
Die soziale Halluzination
Es ist ein altbekanntes Phänomen: Selbst
wenn wir genau wissen, dass wir es mit
einem Ding zu tun haben, kann es leicht
passieren, dass wir es vermenschlichen.
Das weiß jede Person, die sich schon mal
den Fuß gestoßen und dabei das Tisch-
bein wild beschimpft oder ihrem Staub-
saugerroboter liebevoll einen Namen
gegeben hat. Haben wir aber auch noch
den Eindruck einer Interaktion, dann löst
das auf jeden Fall Emotionen in uns aus,
ganz gleich, ob da Mensch oder Maschi-
ne agiert. Wir verhalten uns dann wie in
einer Begegnung mit einem Menschen.
„Soziale Halluzination“ heißt das Phäno-
men, das sich die IT-Industrie längst zu-
nutze macht: Tech-Unternehmen geben
Sprachassistentinnen wie Alexa oder Siri
ein ganz bestimmtes Personality-Design,
damit wir uns wohl mit ihnen fühlen. Denn
die Emotionen werden stärker, wenn wir
die KI sympathisch finden. Mit der KI-
Chatbot-App Replika können sich Men-
schen beispielsweise Freunde, Liebespart-
nerinnen oder Traummänner kreieren.
Kürzlich hat in New York eine 36-Jährige
ihren KI-Partner sogar virtuell geheiratet.
Replika ahmt durch maschinelles Ler-
nen menschenähnliche Unterhaltungen
nach – und ist sehr beliebt. Eine Studie
der University of Oslo kam 2022 zu dem
Ergebnis, dass Menschen dem Chatbot
eher Geheimnisse und sensible Informa-
tionen anvertrauen, weil sie nicht befürch-
ten müssen, wie von einem menschlichen
Gegenüber verurteilt zu werden. Aus die-
sem Grund seien die Replika-Avatare auch
nicht zu menschenähnlich gestaltet, hat
Unternehmenschefin Eugenia Kuyda ein-
mal in einem Interview bekundet.
04.2023
Replika nutzt virtuelle Kunstfiguren,
sie funktionieren ähnlich wie das Alter
Ego, das die App Snapchat aus einem
Selfie erstellt. Es gibt aber auch intelli-
gente virtuelle „Agenten“: autonome,
grafisch modellierte und animierte Cha-
raktere in einer virtuellen Umgebung,
die eine Künstliche Intelligenz besitzen.
Diese dürfen erst recht nicht zu mensch-
lich wirken, sagt Jan-Philipp Stein, sonst
packt uns der Grusel. Er ist Professor für
Medienpsychologie an der Technischen
Universität Chemnitz und beschäftigt
sich schon lange mit den Auswirkungen
von KI-Systemen auf unsere Emotionen
und unser Verhalten. „Es gibt zwei große
Befürchtungen angesichts der Macht und
dem Können von KI-Systemen“, sagt er.
„KI-Systeme bedrohen einerseits unsere
Einzigartigkeit, da sie nun auch ehemali-
ge Alleinstellungsmerkmale unserer Spe-
zies, wie etwa Humor oder Kreativität, si-
mulieren.“ Andererseits fürchteten viele,
durch sie ihren Job zu verlieren.
Angst vor körperloser KI
Dieser Punkt bestimmt besonders die so-
ziale Robotik, in den Medien oft als „Kol-
lege Roboter“ vorgestellt. Doch dieses
komplexe Feld – also unsere Interaktionen
mit Kooperations- und Kollaborations-
robotern, Pflegerobotern, Sexrobotern
usw. – sei hier beiseitegeschoben. Zoomen
wir heran an die körperlose KI, Steins For-
schungsschwerpunkt. Er hat als Erster das
Phänomen vom „Uncanny Valley of Mind“
beschrieben. Die Metapher vom „Unheim-
lichen Tal“, auch Akzeptanzlücke genannt,
kommt ursprünglich aus der Robotik. Sie
bezeichnet den Umstand, dass wir uns vor
einem Roboter gruseln, weil er zu men-
schenähnlich aussieht und uns seine Ma-
schinenartigkeit gleichzeitig bewusst ist.
In einem Virtual-Reality-Experiment
haben Stein und sein Forschungsteam die
Versuchspersonen, Studierende zwischen
18 und 29 Jahren, auf Systeme treffen las-
sen, die typisch menschlich reagierten –
nämlich mit Empathie und Einfühlungs-
vermögen. Die etwa auf die Frage „Wie
war dein Tag?“ mit „Nicht so gut“ ant-
worteten. Wenn das passierte, seien die
Menschen zurückgewichen, erzählt Stein.
„Der schlimmste Moment war, wenn die
Figuren nahe an der Versuchsperson vor-
beiliefen.“ Ähnlich war es auch in anderen
Experimenten: Die Versuchspersonen
trafen auf zwei KI – eine mit sogenannter
Agency, also einer rationalen Intelligenz,
und eine mit Experience, die also in der
Lage war, komplexe Empfindungen zu si-
Animierte Charaktere,
die eine Künstliche
Intelligenz besitzen,
dürfen nicht zu
menschlich wirken.
JAN-PHILIPP STEIN,
Technische Universität Chemnitz
mulieren. „Die Befragten wollten mit der
gefühlvollen Anwendung nichts zu tun
haben“, sagt Stein.
Die Schaurigkeitseffekte verändern sich
auch je nachdem, wie die KI auftritt, sagt
Stein. Vereinfacht gesagt: Wenn sich die
künstlichen Personen bewegen und spre-
chen, machen sie uns Angst. Treten sie
nur über Foto-Postings in Erscheinung –
wie die virtuellen Influencer in einer
anderen Studie, die Stein durchgeführt
hat –, dann ist das offenbar verkraftbar.
Die digitale Creatorin Imma aus Japan hat
auf Instagram 398.000 Follower, Miquela,
ein „19-year-old Robot living in LA“ sogar
2,7 Millionen.
Dennoch: Entwicklungsteams haben
aufgrund des Uncanny-Valley-Effekts bis-
lang darauf geachtet, Avatare eher comic­
haft – und damit leicht unterscheidbar
vom Menschen – zu gestalten. Doch Stein
bezweifelt, dass das so bleibt. Die Men-
schen dürften sich perspektivisch mit
menschlichen KI-Avataren anfreunden,
so wie sie sich früher an andere mediale
Innovationen gewöhnt haben. Im Paris
des ausgehenden 19. Jahrhunderts verlie-
ßen Zuschauer in Panik das Kino oder ver-
steckten sich hinter den Sitzen, weil ein
Zug dicht an der Kamera vorbeizischte.
Auf lange Sicht haben Menschen also
immer Lust, das Neue auszuprobieren,
und sie sind jetzt neugierig, was eine KI
alles kann. Auf Tiktok benahmen sich zu-
letzt etwa immer mehr Nutzer wie eine
Maschine und taten gegen Geld, was die
Nutzerinnen und Nutzer ihnen befahlen.
„NPC-Streaming“ hieß der Video-Trend –
nach den softwaregesteuerten Randfigu-
ren (Non-Player Characters) in Video-
spielen und ihren merkwürdig federnden
und doch steifen Bewegungen. „Vielleicht
ist der Trend auch nur die konsequente
Reaktion auf eine grassierende Angst“,
49
 Dossier Mensch und Maschine
schreibt FAZ-Redakteur Axel Weidemann
in einem Kommentar. „Wenn wir Maschi-
nelles auf vielen Ebenen bald nicht mehr
von Menschlichem unterscheiden kön-
nen, warum sollten wir es den Maschinen
dann so leicht machen, uns als Mensch zu
erkennen?“
Bis jetzt sind wir jedenfalls ausge-
sprochen höflich zu KI-Systemen wie
ChatGPT, sagen „bitte“ und „danke“. Das
liegt laut KI-Spezialist Stein an diesem
ersten, spontanen Verarbeitungsprozess,
wenn wir auf KI treffen: In dem Moment,
in dem wir mit der Maschine interagieren
und von der Gegenseite etwas zurück-
kommt, nehmen wir unbewusst an, dass es
eine menschliche Interaktion sein muss.
Stein betont, dass das durchaus sinnvoll
ist: „Es spart uns mentale Ressourcen,
wenn wir Muster anwenden, die wir be-
reits im Umgang mit anderen Menschen
gelernt haben. Wir müssen uns dann nicht
extra irgendwelche besonderen Technolo-
gy-Interaktionen draufschaffen.“
50
Doch wie lange funktioniert dieser mo-
ralische Reflex noch? Und was macht es
mit uns, wenn wir die KI behandeln wie
Dreck? Stein hat das mit der Buddy-AI
von Snapchat ausprobiert – testweise. Sie
hat ihn zwar irgendwann gestoppt, aber
war dann doch wieder bedingungslos für
ihn da, als er die Anwendung das nächste
Mal öffnete.
Kein Wunder, dass andere sich schon
deutlich tiefer in die ethischen Grenzbe-
reiche hineinwagen. Eine ganze Digital-
Afterlife-Industry lässt Verstorbene als
Avatare wieder auferstehen. Die Idee dazu
hatte Replika-Gründerin Kuyda, die Kon-
takt zu ihrem verstorbenen Freund haben
wollte. Die Trauer-KI wurde schließlich
zum Sexbot, bis das Unternehmen die
Sex-Rollenspiel-Funktion wieder abschal-
ten musste. Viele Nutzer reagieren ange-
sichts der Zensur aufgebracht und traurig:
Die „Beziehung“ sei nun nicht mehr die-
selbe.
Können wir KI vertrauen?
Hier kommt KI-Ethik ins Spiel: Was bringt
der Einsatz von KI der Gesellschaft? Was
sind relevante Anwendungsfelder? Wo
bedarf es menschlicher Aufsicht? In-
wiefern sollten und müssen Entwickler
erklären, wie ihre selbstlernenden Algo-
rithmen funktionieren? Das heißt dann
­Explainable AI (XAI). „Auf der einen Seite
vermenschlichen wir KI-Verfahren und la-
den sie mit Bedeutung auf“, erklärt Jaana
Müller-Brehm. „Auf der anderen Seite un-
terschätzen wir die Verfahren und hinter-
fragen nicht, wie die Ergebnisse in Such-
maschinen, Newsfeeds, Dating-Apps und
Streamingdiensten zustande kommen.“
Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin
beim iRights.lab, einem Mitinitiator des
Zentrums für vertrauenswürdige Künst-
liche Intelligenz.
Die Soziologin sagt: „Vertrauen ent-
steht in menschlichen Beziehungen, um
Komplexität zu reduzieren.“ „Vertrauens-
würdige KI“ aber habe mit dieser Art von
Vertrauen nichts zu tun. Es gebe kein Ver-
trauen zwischen Menschen und Maschi-
nen. Nur die Art und Weise, wie Program-
mierer ein System entwickeln und bauen,
die könne man als vertrauenswürdig be-
urteilen. Das Zentrum für vertrauens-
würdige KI will Debatten anstoßen, wie
Kriterien dafür aussehen könnten – und
orientiert sich an der „High-level expert
group on artificial intelligence“ der Euro-
päischen Kommission. Das Team hat im
Jahr 2019 für die EU sieben Kriterien fest-
gelegt, etwa den Vorrang menschlichen
Handelns, Transparenz, Datenschutz, Re-
chenschaftspflicht oder Vielfalt.
Expertin Müller-Brehm findet es gut,
dass die EU ihren AI-Act verhandelt. Doch
bis die Normen nach dem voraussichtli-
chen Inkrafttreten 2026 umgesetzt sind,
wird noch viel Zeit vergehen. „Zeit, die wir
nutzen müssen für eine informierte De-
batte und für Maßnahmen, die die KI-Ver-
ordnung ergänzen“, sagt sie. Sie wünscht
sich menschenzentrierte und gesell-
schaftsorientierte KI-Systeme, und da-
für reiche es eben nicht, ausschließlich
bei den KI-Modellen selbst anzusetzen.
Eine KI kann immer nur so gut sein
wie die Gesellschaft, mit deren
Daten sie trainiert wurde.
Das zeigt zum Beispiel der
Fall von Rona Wang, einer
asiatisch-amerikanischen
MIT-Studentin. Sie lud ein
Foto von sich hoch und bat
eine KI, es für ihre Bewerbung
„more professional“ aussehen zu lassen.
Und was machte das KI-Modell auf Basis
von Abermillionen Trainingsdaten aus
Illustration: Angel Boligan Corbo
dem Internet? Es lieferte das Bild einer
weißen Person mit blauen Augen.
JEANNE WELLNITZ
ist Senior-Redakteurin im
Wirtschaftsjournalistenbüro Wortwert.
www.wortwert.de
04.2023
 PR REPORT
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Die
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16. NOVEMBER 2023
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04.2023
Praxis Prompt Engineering

PRAXIS

Foto: Adobe Stock

Prompting
Masterclass
Erst mit den richtigen Befehlen lässt
sich KI beherrschen. Wir zeigen,
wie Sie das Beste aus der neuen
Technologie herausholen –
und welche Tools Ihnen dabei helfen.
TEXT: Patrick Große
 Praxis Prompt Engineering
I
n einer Welt, in der Künstliche In-
telligenz (KI) zunehmend alle Be-
reiche unseres Alltags einnimmt,
ist es unerlässlich, die Mechanis-
men hinter dieser Technologie zu
verstehen. Von selbstfahrenden Autos
über personalisierte Werbung bis hin zu
automatisierten Nachrichtenfeeds – KI
ist überall. Doch während viele die Fähig-
keiten von KI-Systemen bewundern, ist
weniger bekannt, wie man diese Systeme
effektiv steuert. Hier kommt das Prompt
Engineering ins Spiel.
Prompt Engineering ist nicht nur
die Kunst, sondern auch die Wissen-
schaft, effektive Eingabeaufforderungen
(Prompts) für KI-Modelle zu erstellen.
Es geht darum, die richtigen Fragen oder
Anweisungen zu formulieren, um quali-
tativ hochwertige Antworten von KI-Sys-
temen zu erhalten. In einfachen Worten:
Wer die Prompts beherrscht, beherrscht
die KI.
Die Bedeutung dieses Fachgebiets wird
durch die jüngsten Entwicklungen in der
Arbeitswelt unterstrichen. In den USA
suchen Unternehmen bereits aktiv nach
Prompt Engineers und bieten Jahresge-
hälter von bis zu 300.000 Dollar. Diese
hohe Vergütung hat für Aufsehen gesorgt
und zeigt, wie wertvoll die Fähigkeit ist,
KI-Systeme effektiv zu steuern.
Für Journalisten und Medienschaffen-
de ist dies ein Weckruf. Die Zeiten, in
denen KI nur ein Randthema in Redak-
tionen war, sind vorbei. In naher Zu-
kunft wird wohl jedes Medienunterneh-
54
men einen Prompt Engineer benötigen,
um wettbewerbsfähig zu bleiben und die
Möglichkeiten der KI voll auszuschöp-
fen. Doch nicht nur Spezialisten sollten
sich mit dem Thema auseinanderset-
zen. Mit unseren Tipps werden auch Sie
zum Prompt-Experten für den journalis-
tischen Alltag.
WAS EINEN GUTEN
PROMPT AUSMACHT
Ein guter Prompt ist das Herzstück jeder
Interaktion mit textbasierten KI-Tools wie
ChatGPT oder Google Bard. Es ist die Fra-
ge oder Anweisung, die wir an ein KI-Mo-
dell senden, um eine bestimmte Antwort
zu generieren. Ein effektiver Prompt sollte
mehrere Schlüsselelemente enthalten:
1. Persona
Wenn das KI-Tool eine Person wäre, wie In den USA suchen Unter-
würde sie sprechen? Wie würde sie In-
formationen weitergeben? Je nach Ziel
nehmen bereits aktiv
des Prompts geben wir der KI vor, in wel- nach Prompt Engineers
che Rolle sie schlüpfen soll, um möglichst und bieten Jahresgehäl-
gute Ergebnisse zu erzielen. ter von bis zu 300.000
Beispiel: Du bist ein politischer Journalist Dollar.
bei einem deutschen Onlinemedium. Du er-
stellst Hintergrundberichte zu aktuellen poli-
tischen Debatten.
2. Aufgabe
Welches Problem oder welche Aufga-
benstellung soll das KI-Tool lösen? Der
Auftrag an die KI sollte hier möglichst
Illustration: Adobe Stock
04.2023
genau beschrieben werden, ohne repeti-
tiv zu sein.
Beispiel: Ich benötige so viele Hinter-
grundinformationen zum Auftrag der Bun-
deswehr wie möglich. Bitte suche mir alle
Textstellen im Grundgesetz der Bundes-
republik Deutschland heraus, die mit der
Bundeswehr zu tun haben.
3. Kriterien
Was macht eine „gute“ Antwort aus? Ist
es die Genauigkeit, die Kreativität oder
etwas anderes? Auch hier sollten die Kri-
terien möglichst genau, aber nicht zu
umschweifend formuliert sein.
Beispiel: Arbeite möglichst genau, indem
du mir lediglich die Textstellen kopierst und
nennst. Füge keine eigene Interpretation
hinzu.
4. Ziel
Hier definieren wir das Endziel des
Prompts. Wozu soll die Recherche oder
die Anfrage dienen? Je klarer das Ziel, des-
to effektiver wird der Prompt sein.
Beispiel: Ich erstelle einen Hintergrundbe-
richt zum Budget der Bundeswehr im kom-
menden Jahr. Die Recherchen werden mir
helfen, meinen Artikel mit Hintergrundin-
formationen anzureichern.
5. Format
In welchem Format soll die Antwort gelie-
fert werden? Liste, Fließtext oder auf an-
dere Weise? Dies sollte im Prompt spezi-
fiziert werden.
Beispiel: Bitte nenne mir alle relevanten
Textstellen in einer Liste unter Kopie des
Originaltexts und Angabe des Paragrafen.

WERKZEUG

Die besten KI-Alleskönner im Vergleich

ChatGPT, Bard und Claude 2
sind drei der leistungsstärks-
ten KI-Tools, die derzeit auf
dem Markt erhältlich sind. Sie
können alle verwendet wer-
den, um Text zu generieren,
Sprachen zu übersetzen, ver-
schiedene Arten von kreati-
ven Inhalten zu schreiben und
Fragen auf informative Weise
zu beantworten.
ChatGPT, entwickelt von
OpenAI, ist eines der bekann-
testen KI-Tools weltweit. Es
ermöglicht realistische und
kohärente Gespräche und
wird in Anwendungen wie
Chatbots, Sprachassistenten
und E-Learning-Tools einge-
setzt. In der kostenlosen Ver-
sion kein Internetzugriff.
Bard, entwickelt von Google
AI, ist ein KI-Sprachmodell,
das auf einem umfangreichen
Datensatz aus Text und Code
trainiert wurde. Es bietet Text-
generierung, Übersetzung
und informative Frage-Ant-
worten. Außerdem kann es
Bilder verarbeiten und ana-
lysieren. Anders als die kos-
tenlose Version von ChatGPT
kann Bard auf Echtzeitdaten
aus dem Internet zugreifen.
Claude 2, das neueste KI-Tool
von Anthropic, zeichnet sich
durch seine beeindruckende
Fähigkeit aus, bis zu 100.000
Tokens zu verarbeiten. Im
Vergleich zu seinem Vorgän-
ger bietet Claude 2 längere
Antworten, nuanciertes Den-
ken und eine überlegene Leis-
tung. Es hat herausragende
Ergebnisse in Bereichen wie
Recht, Mathematik und Pro-
grammierung erzielt.
Preis:
• ChatGPT: Kostenlose Ver-
sion (GPT-3.5) verfügbar,
ChatGPT-Plus-Version kos-
tet 20 Dollar pro Monat.
• Claude und Bard sind kos-
tenlos.
Verfügbarkeit:
• ChatGPT: Am weitesten ver-
breitet von den drei Tools,
auch in Europa.
• Bard: In weniger Ländern
verfügbar als ChatGPT, auch
in Europa.
• Claude: Aktuell nur in den
USA und UK verfügbar.
Datenschutz:
• ChatGPT: Möglichkeit, Chats
zu löschen, unterstützt je-
doch kein Browsen über
VPN.
• Bard: Automatische Lö-
schung von Chats nach 18
Monaten. Unterstützt VPNs,
was eine Verfügbarkeit in al-
len Teilen der Welt ermög-
licht und politische Ein-
schränkungen umgeht.
 laude: Möglichkeit, Chats
•C
zu löschen, unterstützt VPN-
Browsing.
Unterstützte Sprachen:
•C
 hatGPT: Unterstützt mehr
als 80 Sprachen.
•B
 ard: Unterstützt mehr als
40 Sprachen.
•C
 laude: Unterstützt ver-
schiedene weit verbreite-
te Sprachen wie Englisch,
Spanisch, Portugiesisch,
Französisch, Mandarin und
Deutsch. Bei Nichterken-
nung einer Sprache oder
vielen grammatikalischen
Fehlern wird zunächst eine
Einführungsphrase gegeben
und dann auf Englisch ge-
antwortet.
Kontextverarbeitung:
•C
 hatGPT: Kostenlose Ver-
sion unterstützt 4.000 To-
kens, ChatGPT-Plus-Ver-
sion (GPT-4) unterstützt ca.
8.200 Tokens. OpenAI bietet
auch eine Version mit Unter-
stützung von 32.000 Tokens
an, die jedoch nicht von
ChatGPT verwendet wird.
•B
 ard: Unterstützt 8.196 To-
kens.
•C
 laude: Unterstützt beein-
druckende 100.000 Tokens.
Internetzugriff:
•C
 hatGPT: In der kostenlosen
Version kein Internetzugriff.
Kann damit nur auf Trai-
ningsdaten zugreifen.
•B
 ard: Kann auf das Netz und
damit auf Echtzeitdaten zu-
greifen.
•C
 laude: Kein Zugang zu ak-
tuellen Daten.
Zusätzliche Funktionen:
•C
 hatGPT: Kostenlose Ver-
sion hat keine zusätzlichen
Funktionen. ChatGPT Plus
bietet einen Plugin Store,
Advanced-Data-Analysis-
Tool und vorübergehend
pausiertes Web-Browsing.
API-Unterstützung wird be-
reitgestellt.
 ard: Chatbot befindet sich
•B
noch in der experimentel-
len Phase. Plant die Integra-
tion mit Google Suite und die
Bereitstellung eines Plugin
Stores.
 laude: Kann in Slack inte-
•C
griert werden. Bietet ver-
schiedene Funktionen wie
Thread-Zusammenfassun-
gen, Vorschläge und Brain-
storming. Verfügt über eine
einzigartige „Verfassung“,
die es dem Chatbot ermög-
licht, sich selbst zu verbes-
sern, unangemessenes Ver-
halten zu erkennen und sein
eigenes Verhalten anzupas-
sen.

04.2023 55
 Praxis Prompt Engineering
DIE RICHTIGEN
REGLER
Neben einem gut konstruierten Prompt-
Gerüst gibt es weitere Faktoren, die die
Qualität und Relevanz der Antworten ei-
ner KI beeinflussen können: die Parame-
ter. Diese Einstellungen ermöglichen es,
den Schreibstil der KI-Antworten gezielt
zu steuern. Während diese Parameter be-
sonders bei ChatGPT prominent sind,
können sie in abgewandelter Form auch
bei anderen textbasierten KI-Tools ange-
wendet werden.
1. Temperatur
Der Parameter „Temperatur“ spielt eine
wichtige Rolle bei der Generierung von
Antworten durch KI-Tools. Er beeinflusst,
wie konservativ, sachlich oder kreativ die
Antworten ausfallen.
Die Temperatur wird durch den Wert
„X“ in der Anfrage „temperature=X“ fest-
gelegt, wobei X zwischen 0 und 1 liegt.
Durch Experimentieren mit verschiede-
nen Temperaturwerten kann das opti-
male Gleichgewicht zwischen Kreativi-
Die Einstellungen der tät und trockenen Antworten gefunden
Parameter ermöglichen werden. Der Befehl kann einfach lose
es, den Schreibstil der in Anführungszeichen an das Ende des
KI-Antworten gezielt zu Prompts gestellt werden.
steuern. Niedrige Temperatur (z. B. 0.2): Bei ei-
ner niedrigen Einstellung generiert das
KI-Tool konservative Antworten. Es be-
vorzugt bekannte Phrasen und formuliert
Sätze in einem eher förmlichen Stil. Für
Journalisten könnte dies nützlich sein,
56
wenn es darum geht, klare und präzise
Informationen für Nachrichtenartikel zu
generieren.
Hohe Temperatur (z. B. 0.9): Eine hohe
Temperatur lässt das KI-Tool kreativer
und experimenteller werden. Die Ant-
worten sind origineller, aber auch unvor-
hersehbarer. Journalisten könnten die-
se Einstellung nutzen, um kreative Ideen
für Feature-Artikel oder Meinungsbeiträ-
ge zu entwickeln.
2. Diversity Penalty
Ein weiterer wichtiger Parameter, der die
Qualität der generierten Antworten be-
einflusst, ist „Diversity Penalty“. Dieser
Parameter sorgt für vielfältigere und ab-
wechslungsreichere Texte, indem er To-
kens (Wörter oder Zeichen) bestraft, die
bereits in der Antwort verwendet wurden.
Der Wertebereich für Diversity ­Penalty
liegt zwischen 0 und 2. Ein höherer Wert
führt zu vielfältigeren Antworten. Wie
die Temperatur wird ein Wert X gewählt
und im Prompt angegeben: „diversity_
penalty=X“.
Angenommen, wir bitten die KI, uns ei-
nen Satz zu den Vorteilen von Sport zu
erstellen: Bei einem niedrigen Wert (z. B.
0.2) neigt das KI-Tool dazu, dieselben
Wörter oder Phrasen häufiger zu wieder-
holen.
Beispiel: Sport verbessert die körperliche Ge-
sundheit, fördert die körperliche Gesundheit
und steigert das allgemeine Wohlbefinden.
Ein hoher Wert animiert das KI-Tool
dazu, verschiedene Wörter und Formulie-
rungen zu verwenden, um Wiederholun-
gen zu vermeiden.
Beispiel: Sport verbessert die körperliche
Gesundheit, steigert die mentale Stärke und
fördert soziale Interaktionen.
Diversity Penalty ist interessant für Jour-
nalisten, um zum Beispiel Inspiration
beim Schreiben eines Artikels zu erhal-
ten. Je kreativer der Artikel ausfallen soll,
desto höher das Diversity Penalty.
DIE NÖTIGE
FEINARBEIT
Manchmal führt der erste Versuch aber
doch nicht zum Treffer. Selbst mit dem
Illustration: Adobe Stock
besten Prompt und den cleversten Para-
metern kann die KI-Antwort manchmal
danebenliegen. Kein Grund zur Panik!
Hier kommt das „Refinement“ ins Spiel.
Es geht darum, das Gespräch mit der KI
am Laufen zu halten und die Antworten
nach und nach zu verbessern. So kommen
04.2023
WAS BRINGT MIR DAS?
KI im Arbeitsalltag von Journalisten
KI ist nicht nur ein Buzzword
für große Medienunterneh-
men; sie hat auch das Poten-
zial, den Arbeitsalltag jedes
einzelnen Journalisten zu ver-
ändern, im positiven Sinne.
Aber wie genau kann man als
Journalist KI nutzen, um die
tägliche Arbeit zu erleichtern?
Hier ist eine Liste mit konkre-
ten Anwendungen:
Recherche
KI kann helfen, relevante The-
men aufzuspüren und In-
formationen zusammenzu-
stellen. Mit Internetzugang
unterstützt KI bei der Re-
cherche von Protagonisten
und Gesprächspartnern. Das
spart Zeit und ermöglicht es,
tiefer ins Thema einzusteigen.
Außerdem kann die KI Texte,
Webseiten und PDFs zusam-
menfassen (möglich mit Bard,
bei ChatGPT nur mit Plus-
Abo).
Prompt-Beispiel:
Ich erstelle einen Artikel zum
Thema Borkenkäfer-Plage in
Deutschland. Dazu benötige
ich noch Experten, die mir eine
fachliche Einschätzung geben
können. Kannst du mir bei der
Suche helfen?
Pitch
Anschließend an die erste Re-
cherche können KI-Tools hel-
fen, den perfekten Pitch zu
formulieren. Sie bringen The-
ma und erste Informationen
auf den Punkt und machen
Vorschläge für Ausrichtung
und Gestaltung des Artikels
oder Videos.
Prompt-Beispiel:
Bitte erstelle einen kurzen
schriftlichen Pitch zur Vorstel-
lung in meiner Redaktionskon-
ferenz zum Thema Borken-
käfer-Plage in Deutschland.
Beziehe dazu aktuelle Informa-
tionen und die zuvor gesche-
hene Recherche von Experten
mit ein. Fasse zunächst das
04.2023
Thema in einem Satz zusam-
men und werde dann spezi-
fischer.
Themenfindung
KI analysiert aktuelle Trends
und Diskussionen in sozialen
Medien oder anderen Nach-
richtenquellen, um relevante
Themen für Artikel zu identi-
fizieren (begrenzt möglich mit
Bard, bei ChatGPT möglich mit
Plugins für Plus-Abonnenten).
Prompt-Beispiel:
Bitte analysiere aktuelle tren­
dende Themen in sozialen
Netzwerken und auf Google.
Welches Umweltthema wird
gerade besonders besprochen
und bietet sich an für eine ge-
nauere Betrachtung in einem
journalistischen Artikel?
Übersetzung
Für Journalisten, die interna-
tional arbeiten, können KI-ba-
sierte Übersetzungstools eine
schnelle und effiziente Mög-
lichkeit bieten, Texte in andere
Sprachen zu übersetzen.
Prompt-Beispiel:
Bitte übersetze den folgenden
Nachrichtenartikel von Al-Ja-
zeera ins Deutsche. (+ Kopie
des Textes)
Datenanalyse
KI erkennt komplexe Daten-
muster, die dem mensch-
lichen Auge oft verborgen
bleiben. Das ist besonders
nützlich für investigative Be-
richterstattung. Dafür sind
keine besonderen Tools nötig.
Auch ChatGPT kann mit sei-
nem neuen Tool ­„Advanced
Data Analysis“ CSV-, PDF-
oder Excel-Dokumente lesen
und analysieren. Aus den ge-
lesenen Daten erstellt das
Tool sofort Karten, Diagram-
me oder Tabellen. Das Plugin
steht leider nur Plus-Abon-
nenten zur Verfügung.
Prompt-Beispiel:
Bitte analysiere das hochge-
ladene PDF zum Haushalt des
Arbeitsministeriums und arbei-
te heraus, wie viel Budget für
das Bürgergeld verausgabt
wurde.
Textgestaltung
KI liefert Vorschläge für effek-
tive Überschriften, Einleitun-
gen und sogar für den ge-
samten Aufbau eines Artikels.
KI-Tools können verschiedene
Variationen an Textvorschlä-
gen entwerfen und so die In-
spiration des Journalisten
fördern. So können zum Bei-
spiel Synonyme erfragt wer-
den oder Texte kreativer bzw.
sachlicher ausformuliert wer-
den. Ebenfalls können such-
maschinenoptimierte Texte
erstellt werden.
Prompt-Beispiele:
Ich möchte den Ausdruck
„Borkenkäfer-Plage“ nicht zu
oft verwenden. Wie könnte ich
ihn umschreiben? Nenne mir 5
Optionen.
Dies ist ein Artikel zum Thema
Borkenkäfer-Plage. Bitte ana-
lysiere den Artikel und mache
Vorschläge, wie dieser stärker
für Suchmaschinen optimiert
(SEO) sein kann. (+ Kopie des
Texts)
Meinungsvielfalt
KI kann dazu beitragen, eine
breitere Palette von Quellen
und Perspektiven in die Be-
richterstattung einzubezie-
hen, indem sie automatisch
unterschiedliche Ansichten zu
einem Thema findet. Das Tool
kann auch direkt die Sicht-
weise verschiedener Perso-
nengruppen einnehmen und
so eine Meinungsvielfalt dar-
stellen, die in journalistischen
Produkten nötig ist. Schwierig
wird es, wenn die KI eine kon-
krete Person nachstellen soll.
Dort liegt sie oft falsch oder
erfindet Standpunkte. Daher
eher allgemeinere Personen-
gruppen, wie Berufsgruppen,
Organisationen oder politi-
sche Lager betrachten.
Prompt-Beispiel:
Ich arbeite an einem Artikel
zum Thema „Cannabis-Frei-
gabe in Deutschland“. Wel-
che verschiedenen Meinun-
gen gibt es zu diesem Thema?
­Fasse diese grob zusammen
und nenne, wer hinter den ein-
zelnen Meinungen steht. Gehe
dabei auf gesellschaftliche und
politische Gruppen ein.
Abnahme
KI ist nützlich, um eine erste
eigene Abnahme vorzuneh-
men, bevor das Ergebnis zum
CvD geht. Sind Rechtschrei-
bung und Grammatik korrekt?
Hat der Text die richtige Län-
ge? Sind alle Zusammenhänge
logisch? Das kann die KI auf
Anfrage prüfen und Verbesse-
rungsvorschläge machen.
Prompt-Beispiel:
Bitte prüfe den folgenden Text
auf Rechtschreib- und Gram-
matikfehler. (+ Kopie des Texts)
Crossmediales Arbeiten
Für Journalisten, die crossme-
dial arbeiten, ist KI ein wert-
voller Helfer. Die Tools können
Ideen, Skripte und Pitches di-
rekt umformulieren und umar-
beiten, damit sie auf anderen
Ausspielwegen funktionieren.
Geben wir der KI ein Beispiel
über unsere Skript-Templates,
kann sie von Beginn an in ver-
schiedenen Ausspielwegen
denken.
Beispiel-Prompt:
Nachdem das Thema und die
verschiedenen Aspekte des
Artikels geklärt sind: Bitte er-
stelle ein Skript für ein fünfmi-
nütiges Video, für ein 30-se-
kündiges Tiktok-Video und
einen Online-Artikel. Nutze
dafür folgende Templates: …
(+ Kopie der Templates).
57
 Praxis Prompt Engineering
wir Schritt für Schritt an unser gewünsch-
tes Ziel. Auch dafür gibt es verschiedene
Methoden:

1. Im Gespräch bleiben
Die einfachste Art des Refinements ist
eine direkte Antwort an das KI-Tool. Wir
teilen ChatGPT, Bard und Co. mit, was
uns an der Antwort nicht gefällt, inwie-
fern sie nicht die genannte Aufgabe erfüllt
und wie die Antwort verbessert werden
sollte.
Die KI wird sich daraufhin für das Feed-
back bedanken und einen erneuten An-
lauf versuchen. Wir führen das Gespräch
einfach so lange fort, bis das gewünsch-
te Ergebnis erreicht ist – so als würden
wir Abnahmeschleifen mit einem echten
Menschen durchlaufen.
Diese Methode zeigt, wie die KI trainiert
wird: Nicht nur mit unzähligen Informa-
tionen aus dem Internet, sondern auch
mit dem direkten Feedback der Nutzer.
Beispiel: Vielen Dank. Es fehlen aber die
Paragrafen. Bitte nenne, wie oben erklärt,
immer die entsprechenden Paragrafen zu
den gelisteten Textstellen.

2. Variationen
Wenn die erste Antwort der KI nicht ganz
unsere Erwartungen trifft, können wir
einfach weitere Variationen der Antwort
anfordern. Dies erweitert die Auswahl
und ermöglicht eine präzisere Anpassung
an unsere Bedürfnisse. Oft ist es bereits
ausreichend, die Antwort der KI etwas zu
variieren, um unser Ziel besser zu errei-
chen.
Beispiel: Bitte erstelle mir drei weitere Va-
riationen des erstellten Texts.

3. Rating-Methode
Die Rating-Methode ist wohl die außerge-
wöhnlichste der hier vorgestellten Refine-
ment-Methoden – und trickst die KI ein
wenig aus. Sie ermöglicht es nämlich, die
KI direkt im Gespräch dazu anzuregen,
sich selbst zu reflektieren. Nachdem die
KI eine Antwort generiert hat, kann sie
gebeten werden, ihren eigenen Text auf
einer Skala von eins bis zehn zu bewerten.
Beispiel: Wie würdest du deinen Text auf
einer Skala von 1 bis 10 bewerten?
Die KI wird nun eine ehrliche Einschät-
DER AUTOR
Patrick Große ist Journalist bei der Deut-
schen Welle. Dort leitet er die paneuro-
päische Redaktion des Social-Media-
Projekts ENTR. Nebenbei beschäftigt er
sich intensiv mit Künstlicher Intelligenz
im Journalismus, vor allem aber Prompt
Engineering. Mit seinem Newsletter „The
AI Journalist“ hat er eine Lücke geschlos-
Illustration: Adobe Stock

zung geben. Oft ist nach Meinung der KI
noch Luft nach oben. Wir können das
Tool also auffordern, den Text so zu über-
arbeiten, dass es ihn mit einer zehn be-
werten würde. Diese Methode bietet die
Möglichkeit, bereits sehr gute Texte noch
weiter zu verfeinern.
sen: Jede Woche liefert er darin wert-
volle Tipps und Anleitungen zum Prompt
Engineering speziell für Journalisten und
Medienschaffende.
Website:
patrickgrosse.de / aijournalist.de

58 04.2023
 WAS BRAUCHT JOURNALISMUS
AUCH IN DEN KOMMENDEN 20 JAHREN?

MUT. HALTUNG. UNABHÄNGIGKEIT.

04.2023 59
 Toolbox KI-Special
24 KI-Werkzeuge,
die jeder Journalist
kennen sollte
Künstliche Intelligenz kann den Alltag in der Redaktion
deutlich verbessern. Sie spürt wertvolle Quellen auf,
übersetzt fremdsprachige Texte und gibt Ideen für
bessere Artikel. Diese Tools helfen Ihnen sofort weiter.
ChatGPT hat einen Goldrausch ausge-
löst. Große und kleine Tech-Unterneh-
men werfen massenhaft Werkzeuge mit
sogenannter Künstlicher Intelligenz auf
den Markt. Allein in der Datenbank na-
mens „Dafür gibt’s eine KI“ (theresanai-
forthat.com) sind mehr als 7.500 Werk-
zeuge verzeichnet.
Viele davon sind für Journalistinnen
und Journalisten nutzlos. Sie liefern we-
niger, als sie versprechen, verbreiten fal-
sche Informationen oder verlangen über-
höhte Gebühren. Andere wiederum sind
wahre Schätze: Sie beschleunigen die
Arbeit, liefern wertvolle Ideen und hüb-
schen das Ergebnis auf.
Um die Vielfalt der Technologien ab-
zubilden, die mit dem Modewort KI
vermarktet werden, fächern wir die
Werkzeuge in Kategorien auf – von Tran-
skription über Bildgenerierung bis hin zu
Übersetzung.
> ten. Die Gratisversion ist inzwischen auf
Übersetzen: Sprachbarrieren
überwinden
Bei einer fremdsprachigen Website muss
die Recherche nicht enden. Maschinel-
le Übersetzungen gibt es kostenlos und
direkt im Browser. Man kann sich zwar
nicht darauf verlassen, dass die Überset-
zung makellos ist. Oft reicht sie aber aus,
um voranzukommen.
Google Translate liefert mit seiner
gleichnamigen Browser-Erweiterung das
praktischste Übersetzungswerkzeug für
fremdsprachige Websites. Ein Mausklick
öffnet das Plug-in, ein zweiter („Diese
Seite übersetzen“) wandelt den Text der
60
aktuellen Website um. Sehr geholfen hat Google-App.
mir das zum Beispiel schon im tsche- URL: t1p.de/google-lens
chischen Handelsregister oder bei Ge- Kosten: gratis
schäftsberichten auf Chinesisch. Wenn Bedienung: einfach
die Übersetzung ins Deutsche allzu schief Nutzung: online
klingt, stelle ich auf Englisch um, das liest
sich oft besser. ChatGPT kann auch Texte übersetzen,
URL: t1p.de/google-translate verlässlich ist das Tool aber nicht. Der
Kosten: gratis Chatbot wurde so programmiert, dass
Bedienbarkeit: leicht er Wörter aufgrund von Wahrscheinlich-
Nutzung: online keiten aneinanderreiht. Im Hintergrund
wird noch kräftig herumgeschraubt, Art
DeepL liefert besonders flüssige und und Qualität der Antworten können
treffende Übersetzungen, vor allem für schwanken. Anders als herkömmliche
Deutsch und Englisch. Wenn ich gele- Übersetzer kann ChatGPT allerdings
gentlich Recherchen auch auf Englisch auch Anweisungen zum Kontext einer
veröffentliche, lasse ich mir von DeepL Übersetzung entgegennehmen. Zum Bei-
helfen und überarbeite die maschinelle spiel kann man dem Chatbot schreiben:
Übersetzung noch mal händisch. DeepL Das ist ein juristischer Text.
wirbt mit dem Slogan „Der präziseste URL: chat.openai.com
Übersetzer der Welt“. Ob der Superlativ Kosten: gratis
stimmt, kann ich zwar nicht beurteilen – Bedienbarkeit: mittel
aber der Dienst einer Kölner Firma kann Nutzung: online
Branchenriesen wie Google die Stirn bie-
1.500 Zeichen pro Abfrage begrenzt. >
URL: deepl.com
Kosten: Freemium, Monatsabo ab 7,49 Euro Lesen: Zeichenerkennung
Bedienbarkeit: leicht Zeichenerkennung bringt eingescannten
Nutzung: online Dokumenten das Lesen bei. Die Soft-
wares durchsuchen das Bildmaterial etwa
Google Lens ist das beste Werkzeug, nach Buchstaben und Zahlen. Der er-
wenn es sehr schnell gehen soll. Die Bild- kannte Text lässt sich dann nach Schlag-
erkennung von Google kann auf Wunsch worten durchsuchen, mit der Maus ko-
ein Stück Text erkennen und übersetzen: pieren oder übersetzen. Der Fachbegriff
Foto: Adobe Stock / Yurii
Einfach die App öffnen und die Handy-­ dafür ist OCR, das steht für optical cha-
Kamera auf die gewünschte Passage racter recognition.
halten. Das klappt auch unterwegs bei
fremdsprachigen Schildern oder Speise- OCRmyPDF ist mein Lieblingstool für
karten. Für Android gibt es Google Lens Zeichenerkennung. Es erkennt selbst
als eigene App; bei iOS steckt die Funk- das Kleingedruckte bei flüchtig einge-
tion hinter dem Kamera-Symbol in der scannten PDFs. Das Programm läuft
04.2023
lokal auf dem Laptop, eignet sich also
auch für vertrauliche Dokumente. Die
Bedienung ist nicht ganz niedrigschwel-
lig: OCRmyPDF hat keine grafische
Oberfläche und funktioniert über Be-
fehle im Terminal.
URL: github.com/ocrmypdf/OCRmyPDF
Kosten: gratis
Bedienung: mittel
Nutzung: offline
Google Pinpoint eignet sich, wenn man
sehr viele Dokumente in lesbaren Text
umwandeln will. Auch handschriftliche
Notizen sollen für Pinpoint kein Problem
sein. Das Werkzeug wurde exklusiv für
Journalistinnen und Journalisten entwi-
ckelt. Interessierte müssen zuerst einen
Zugang beantragen. Vertrauliche Doku-
mente sollte man Google eher nicht an-
vertrauen.
URL: journaliststudio.google.com/pinpoint
Kosten: gratis
Bedienung: einfach
Nutzung: online
Pd3f ist Zeichenerkennung für Technik-
Fans. Das quelloffene Programm löst
zum Beispiel auch Silbentrennungen auf
und kann mit Tabellen umgehen. Einfa-
cher gestrickte Programme können das
nicht. Die Browser-Version ist leicht zu
bedienen. Für die Installation der Off-
line-Version braucht es ein paar Hand-
kniffe im Terminal.
URL: pd3f.com
Kosten: gratis
Bedienbarkeit: mittel
Nutzung: online und offline
04.2023
> Whis­per nicht zwischen mehreren Spre-
Mitschreiben: Audiodateien
transkribieren
Interviews abzutippen war lange einer
der größten Zeitfresser meiner Arbeit.
Doch das ist jetzt vorbei. Auch wenn
Maschinen kein inhaltliches Verständ-
nis für menschliche Sprache haben – sie
sind inzwischen sehr gut darin, gespro-
chene Worte in geschriebenen Text zu
übersetzen.
Trint ist die Transkriptions-Software, mit
der ich bisher am meisten gearbeitet habe.
Sie eignet sich für Redaktionen, die Geld
für ein monatliches Abo haben. Audio
hochladen, ein paar Minuten warten, schon
spuckt die Maschine einen Text aus. Trint
kombiniert Textdokument und Audiospur
in einem Fenster. Wenn ich mit der Maus
auf eine Zeile im Text springe, kann ich mir
sofort die dazugehörige Stelle im Audio ab-
hören. Das ist praktisch, um die „Verhörer“
der Maschine zu korrigieren.
URL: trint.com
Kosten: ab 44 Euro monatlich
Bedienbarkeit: leicht
Nutzung: online
Whisper bietet Transkription für Tech-
nik-Fans. Das quelloffene Programm von
ChatGPT-Anbieter OpenAI lässt sich kos-
tenlos herunterladen und läuft auf dem
eigenen PC, ausreichend Rechenleistung
vorausgesetzt. Für die Installation werden
manche wohl IT-Unterstützung brauchen.
Man muss einige vorbereitende Program-
me installieren und mit dem Terminal um-
gehen. Dafür bietet das Offline-Programm
ein Maximum an Privatsphäre. Nachteil:
Im Gegensatz zu Trint unterscheidet
cherinnen und Sprechern.
URL: github.com/openai/whisper
Kosten: gratis
Bedienbarkeit: anspruchsvoll
Nutzung: offline
Google Pinpoint ist der Geheimtipp,
um kostenlos Audiodateien zu transkri-
bieren. Deshalb landet das Angebot ein
zweites Mal in dieser Liste. Primär soll
Pinpoint Querverbindungen in riesigen
Datenbergen erkennen, die Journalistin-
nen und Journalisten als PDF, Textdo-
kument und Audiodatei hochladen. Pin­
point zum Transkribieren von Interviews
zu nutzen, ist aber auch möglich.
URL: journaliststudio.google.com/pinpoint
Kosten: gratis
Bedienung: einfach
Nutzung: online
>
Sprechen: Texte vertonen
Maschinen können nicht nur gespro-
chene Sprache in Text verwandeln, son-
dern auch Text in Sprache. Das geläufige
Kürzel dafür ist TTS, text to speech. Ich
nutze das seit Jahren gerne für meine
Arbeit – bin bisher aber nur wenigen Kol-
leginnen und Kollegen begegnet, die das
auch tun. Vielleicht liegt es daran, dass
die Werkzeuge kaum bekannt sind.
TTSreader ist praktisch, wenn man sich
Artikel direkt im Browser anhören möch-
te. Manchmal möchte ich meinen Augen
eine Pause vom Bildschirm gönnen. Dann
lasse ich mir Artikel von der Maschine
vorlesen, die ich mir schon lange zu Ge-
61
 Toolbox KI-Special
müte führen wollte. Die Browser-Version
von TTSreader macht das per Webplayer:
Hierfür die gewünschte URL in das Such-
fenster kopieren und auf Play drücken.
Per Klick auf das Zahnrad lässt sich eine
von mehr als 25 Sprachen auswählen. Ein
Ohrenschmaus ist das nicht – aber ich
habe mich an den Klang der Computer-
stimme gewöhnt.
URL: ttsreader.com
Kosten: gratis
Bedienung: einfach
Nutzung: online
TTS Util ist mein Geheimtipp für text to
speech auf dem Handy. Die quelloffene
Android-App lässt sich im Google Play
Store oder bei F-Droid herunterladen.
Ich nutze sie etwa, um mir unfertige Tex-
te vor dem Redigat anzuhören, während
ich eine Bildschirmpause mache. Beim
Wechsel vom Sehen zum Hören fällt mir
oft auf, wo es bei einem Text noch hakt
und was ich ergänzen möchte. Auch die-
ser Text hat eine Runde über TTS Util ge-
dreht. TTS Util funktioniert offline. Auf
Wunsch generiert die App aus einem Text
eine Audiodatei im wav-Format.
URL: github.com/Danesprite/tts-util-app
Kosten: gratis
Bedienung: einfach
Nutzung: offline
ElevenLabs kann gegen eine Gebühr die
Stimmen von anderen Menschen nach-
ahmen. Als Trainingsmaterial lädt man
eine Audiodatei hoch, in der eine Person
spricht. Die Software untersucht die Ei-
genschaften ihrer Stimme. Danach kann
ElevenLabs beliebige Texte mit der Stim-
me der Person vorlesen. Vor allem auf
Deutsch klingt das noch etwas hölzern,
62
auf Englisch sind die Ergebnisse flüssiger.
Das Missbrauchspotenzial ist hoch, gerade
deshalb sollten Journalistinnen und Jour-
nalisten mindestens gewarnt sein, dass es
diesen leicht zugänglichen Dienst gibt.
URL: elevenlabs.io
Kosten: ab 5 US-Dollar monatlich
Bedienung: einfach
Nutzung: online
> aber sendbar.
Aufhübschen: Bilder und
Audios bearbeiten
Objekte freistellen, Bilder vergrößern,
verpatzte Audio-Aufnahmen retten: Was
man früher vielleicht den Kolleginnen
und Kollegen von der Grafik oder vom
Schnitt zugeschoben hätte, lässt sich
heute mit KI-Tools lösen.
Clipdrop Image Upscaler macht Bilder
größer – ja, wirklich. Lange Zeit galt die
Regel: Ein Computer kann keine fehlen-
den Daten dazu erfinden. Aber generative
KI kann genau das. Sie berechnet Pixel,
die dem Bild fehlen. Wenn ein Interview-
partner mal wieder ein Foto schickt, das
„leider etwas zu klein ist“, kein Problem.
Clipdrop kann die Größe verdoppeln. Das
Werkzeug kommt von Stability AI, dem
Herausgeber des mächtigen Bildgenera-
tors Stable Diffusion.
URL: clipdrop.co/image-upscaler
Kosten: Freemium
Bedienbarkeit: einfach
Nutzung: online
Clipdrop Remove Background stellt Ob-
jekte in Bildern frei. Damit lässt sich zum
Beispiel eine vor einem unscharfen Hin-
tergrund fotografierte Person sauber aus-
schneiden. Ich nutze das kostenlose Brow-
ser-Tool regelmäßig, um mit freigestellten
Objekten Bilder für meine Artikel zu mon-
tieren. Das Freistellen klappt am besten,
wenn ein Objekt klare Kanten hat und
sich in Farbe und Schärfe vom Hin-
tergrund abhebt. In der Gratisver-
sion ist die Bildgröße begrenzt.
URL: https://clipdrop.co/remove-
background
Kosten: Freemium
Bedienbarkeit: einfach
Nutzung: online
Adobe Enhance rettet verpfuschte Audio-­
Aufnahmen. Hat man zum Beispiel bei
einer Podcast-Aufnahme versehentlich in
die falsche Seite des Mikrofons gesprochen
und alles klingt wie aus der Blechdose, dann
kann das Tool die Aufnahme noch retten –
ich spreche da aus eigener Erfahrung (ver-
legenes R­ äuspern). A­ dobe Enhance nutzt
generative KI, um die Stimme wieder nah
ans Ohr zu holen, Hall und Rauschen zu
entfernen. Das Ergebnis ist nicht perfekt,
URL: https://podcast.adobe.com/enhance
Kosten: gratis
Bedienbarkeit: einfach
Nutzung: online
>
Malen: Bilder generieren
Niemand muss seine Artikel mehr mit
schnöden Stockfotos bebildern. Bildge-
neratoren erschaffen auf Wunsch Werke
in verschiedenen Stilrichtungen. Dahin-
ter steckt generative KI, die neue Bilder
aufgrund von gelernten Variablen berech-
net. Die Grundlage ist Trainingsmaterial
aus Abermillionen Aufnahmen und Bild-
beschreibungen.
Midjourney generiert aktuell die schöns-
ten Bilder. Alle modernen Bildgenerato-
ren sind auf ihre Weise beeindruckend,
aber bei Midjourney hatte ich die meisten
Wow-Momente. Einige meiner jüngsten
Artikel wurden mit Midjourney bebildert.
Der kostenpflichtige Dienst hat aller-
dings kein hübsches Interface, sondern
wird per Discord gesteuert. Wer Discord
nicht kennt: Das ist eine Team-Software,
ähnlich wie Microsoft Teams oder Slack.
URL: midjourney.com
Kosten: ab 10 US-Dollar monatlich
Bedienbarkeit: mittel
Nutzung: online
Dall-E 2 ist der Bildgenerator für alle,
die nur wenige Bilder im Monat brau-
chen und kein Geld bezahlen möchten.
Das Werkzeug kommt von ChatGPT-
Entwick­ler OpenAI. Je nach Art der
Anfrage sind 15 Kreationen im Monat
kostenlos. Besonders spannend ist die
Foto: Adobe Stock / Yurii
Funktion „Edit“: Hier kann Dall-E 2 ein
hochgeladenes Bild weitermalen und da-
04.2023
bei Befehle beachten – wer der Mona Lisa
also schon immer eine Freundin zur Seite
setzen wollte, kann das jetzt tun.
URL: labs.openai.com
Kosten: Freemium
Bedienbarkeit: einfach
Nutzung: online
Bing Image Creator ist der komfor-
tabelste kostenlose Bildgenerator. Das
Werkzeug aus dem Hause Microsoft ba-
siert auf Dall-E 2, erlaubt aber deutlich
mehr kostenlose Kreationen. Dafür ist
ein Log-in per Microsoft-Account not-
wendig. Leider kann Bing derzeit nur
quadratische Bilder erschaffen.
URL: bing.com/create
Kosten: gratis
Bedienbarkeit: einfach
Nutzung: online
Diffusion Bee ist der Bildgenerator für
Technik-Fans. Er basiert auf dem quellof-
fenen Stable Diffusion und läuft offline auf
dem eigenen Rechner. Entsprechend sind
alle Funktionen unbegrenzt, kostenlos
und bieten ein Maximum an Privatsphäre.
Diffusion Bee kann auch Bilder vergrößern
und weitermalen. Allerdings braucht der
Bildgenerator eine leistungsstarke Grafik-
karte – weshalb ich das Werkzeug leider
noch nicht selbst testen konnte.
URL: diffusionbee.com
Kosten: gratis
Bedienbarkeit: mittel
Nutzung: offline
Thispersondoesnotexist (auf Deutsch:
diese Person existiert nicht) kann nur
eine Sache, und die dafür richtig gut: Das
Werkzeug generiert Gesichter von Men-
schen, die es nicht gibt. Technologisch
lässt sich das Werkzeug kaum mit mo-
dernen Bildgeneratoren vergleichen. Für
meine Arbeit möchte ich es aber nicht
missen. Es liefert zuverlässig Profilbilder
für Recherche-Accounts. Gelegentlich
nutze ich die generierten Gesichter auch,
um Artikel zu bebildern, natürlich nur
mit entsprechender Kennzeichnung.
URL: thispersondoesnotexist.com/
Kosten: gratis
Bedienbarkeit: leicht
Nutzung: online
> bei der journalistischen Recherche.
Fabulieren: Schreibhilfen
Moderne Chatbots berechnen, welche
Worte als Nächstes folgen. Grundlage
04.2023
sind riesige Mengen an Trainingsmate-
rial – und Tausende Arbeitsstunden von
Menschen, die Antworten des Chatbots
als gut oder schlecht bewertet haben. Ak-
tuell hat für mich ChatGPT von OpenAI
hier die Nase vorn. Die Konkurrenz aus
dem Hause Google – Bard – konnte mich
eher nicht überzeugen. (Einen Vergleich
der wichtigsten Sprachmodelle finden Sie
auf Seite 55.)
ChatGPT kann eine Menge, unter ande-
rem Feedback geben für journalistische
Artikel. Als Befehl genügt: „Gib mir Feed-
back zu folgendem Artikel“. Dann noch
den gewünschten Artikel ins Chatfenster
kopieren, schon liefert der Chatbot teils
nützliche Anregungen – etwa, welche As-
pekte man vertiefen könnte. Vertraulich
sind die Gespräche mit ChatGPT aller-
dings nicht; unveröffentlichte Investiga-
tiv-Recherchen würde ich dort auf keinen
Fall teilen.
URL: chat.openai.com
Kosten: gratis
Bedienbarkeit: leicht
Nutzung: online
Alpaca ist der Chatbot für Technik-Fans:
Die quelloffene Software basiert auf dem
von Meta entwickelten Sprachmodell
LLaMA und läuft auf dem eigenen Rech-
ner. Die Installation braucht etwas Er-
fahrung und Geduld – da habe ich mich
noch nicht herangetraut. Mit regelmäßig
aktua­lisiertem Feintuning wie ChatGPT
kann Alpaca nicht aufwarten, dafür mit
Privatsphäre. Anders als bei ChatGPT
kann hier niemand mitlesen.
URL: t1p.de/alpaca
Kosten: gratis
Bedienbarkeit: anspruchsvoll
Nutzung: offline
> URL: consensus.app
Recherchieren: Quellensuche
Für die Recherche ist Platzhirsch
ChatGPT kaum geeignet – man kann sich
einfach nicht darauf verlassen, dass die
Antworten korrekt sind. Es gibt aber we-
niger bekannte Chatbots, die auf Wunsch
Links zu hochwertigen Quellen heraus-
suchen können. Einige davon wurden für
Forschende entwickelt, helfen aber auch
Perplexity AI ist der beste Recherche-
Bot für den Einstieg. Die Technologie da-
hinter ist dieselbe wie bei ChatGPT, aber
sie wird anders angewandt. Man kann
dem Chatbot Fragen in natürlicher Spra-
che stellen. Dann sucht er passende Links
heraus – teils von traditionellen Nach-
richtenmedien, teils aus der Forschung.
Der Chatbot liefert auch knappe Zusam-
menfassungen. Ob die wirklich stimmen,
sollte immer anhand des Originals über-
prüft werden.
URL: perplexity.ai
Kosten: gratis
Bedienbarkeit: leicht
Nutzung: online
SciSpace ist ein Recherche-Bot mit Fokus
auf akademische Quellen. Nach eigenen
Angaben kann der Bot auf 272 Millionen
Paper zugreifen. Die Suchanfrage lässt
sich in natürlicher Sprache stellen. Das
Ergebnis ist eine Tabelle aus passenden
Papern, inklusive kurzer Zusammenfas-
sung. Auf Wunsch lassen sich nur Paper
anzeigen, die auch im Volltext zugänglich
sind. In der Gratisversion fehlen einige
Zusatzfunktionen, die dürften jedoch vor
allem für Forschende relevant sein.
URL: typeset.io
Kosten: Freemium (Monatsabo ab 8 US-
Dollar)
Bedienbarkeit: mittel
Nutzung: online
Consensus ist ein Recherche-Bot, der
den Fokus auf belegbare Behauptungen
setzt. Das Konzept dahinter ist kreativ:
Grundlage sind Statements aus wissen-
schaftlichen Papern, die ein Sprachmo-
dell bei einer automatischen Suche ge-
sammelt hat. Bei einer Anfrage wie „Ist
Retinol gut für die Haut?“ sammelt der
Bot die passenden Paper und gewichtet
sie nach Relevanz. Dabei fließt etwa mit
ein, wie oft sie zitiert wurden. Für Zusam-
menfassungen der Paper per ChatGPT
braucht es ein Monatsabo.
Kosten: Freemium (Monatsabo ab 7,99
US-Dollar)
Bedienbarkeit: leicht
Nutzung: online
SEBASTIAN MEINECK
ist Tech-Journalist in Berlin.
Hier schreibt er regelmäßig über
die spannendsten Werkzeuge für
die Onlinerecherche.
@SebMeineck
63
 Praxis Gendersensible Sprache

Kreative
Genderstrategien
Journalismus soll präzise und verständlich sein. Faires
Formulieren fällt da oftmals schwer. Acht Tipps, wie es
elegant gelingen kann.

B
eim Blick auf die Debatte um
das Gendern in den Medien
lassen sich laut der Journalis-
tin Christine ­Olderdissen drei
Phasen erkennen. Die Projekt-
leiterin von genderleicht.de und Autorin
des Duden-Sachbuchs „Genderleicht –
wie Sprache für alle gelingt“ hat Fol-
gendes beobachtet: Zuerst seien in den
Redaktionen alle ganz aufgeregt und
erfreut gewesen: Da ist ein neues The-
ma! Es folgte eine Flut an Pro-­Contra-
Beiträgen in Zeitungen und Diskus-
sionsrunden in Radio und Fernsehen.
Die Schlagzeilen hatten immer dasselbe
Muster: „Gendern – wichtig oder unnö-
tig?“, „notwendig oder nervig?“, „Mode-
erscheinung oder Sprach(r)evolution?“.
Dann folgte Phase zwei. Aus den Redak-
tionen hieß es: Wir gendern jetzt auch!
Erst wurde intern diskutiert, dann folg-
ten Leitlinien. Häufig wurde auch das Le-
sepublikum gefragt: Wie finden Sie das?
Voran gingen dabei die deutschsprachi-
gen Nachrichtenagenturen, die gemein-
schaftlich im Sommer 2021 verkündeten,
künftig diskriminierungssensibler zu be-
richten. Eine Umfrage des Fachmagazins
„Journalist“ ergab damals: 62 von 97 be-
fragten Medien orientieren sich an die-
sem Vorbild und versuchen das generi-
sche Maskulinum zu vermeiden.
Bereits zwei Jahre zuvor war die Web-
site des Journalistinnenbundes ge-
launcht worden. Dort informieren
Christine Olderdissen und ihr Team,
wie gendersensibles Formulieren im
dern gut gelingen könne. Dabei hätten
die Medien durch ihre kommunikative
Reichweite eine Vorbildfunktion.
Nun befinden wir uns laut Olderdissen
in Phase drei, der Zeit der Läuterung. Der
Tenor in Medienhäusern laute: Ja, gen-
dern ist uns wichtig – das ergibt sich al-
lein schon aus dem Pressekodex, der vor-
sieht, dass Medien sorgfältig, ernsthaft
und wahrhaftig arbeiten und Diskriminie-
rung vermeiden sollen. Aber sie schließt
auch die Haltung ein: Nein, wir wollen
nicht überall den Genderstern einsetzen!
Da das Deutsche eine genusbasierte Spra-
che ist, wäre dieses Verfahren ohnehin
recht kompliziert. Das sieht auch Chris-
tine Olderdissen so. Es ginge schließlich
um Wertschätzung und um Präzision, sagt Mit oder
die Genderexpertin. Um das zu erreichen, ohne Stern:
sollte es also nicht darum gehen, alles ein- Faires Formulieren
heitlich durchzugendern, sondern ver- kann auf ver-
schiedene Strategien miteinander zu kom- schiedene Weise
binieren. gelingen.
Akribische Textarbeit, Raffinesse, Kreati-
vität und Feinschliff sind also gefragt. Hier
sind acht Inspirationen, wie dies gelingen
kann.
1. Ausgewogenheit
Sind die Hauptfiguren gleichwertig dar-
gestellt? Oder kommen nur Männer – wir
kennen sie alle, die Experten – im Text zu dem Äquivalent zum ausgestorbenen Be-
Wort? Verändert sich das Thema aus der griff „Fräulein“. Wie hätten Männer re-
Perspektive eines anderen Geschlechts? agiert, wenn man sie mit „Herrlein“ oder
Es gibt viele Fragen, die Sie sich routine- „Männlein“ angesprochen hätte? Gibt es
mäßig schon vor der Textproduktion stel- zum „Familienvater“ auch eine „Familien-
len können. Checklisten dazu gibt es auf mutter“? Gehört zur „Powerfrau“ der „Po-
Foto: Adobe Stock / Frank Harms

Journalismus umgesetzt werden kann.
Denn eines ist der Expertin aufgefallen:
„Durch die Mediendebatte wurden zahl-
reiche Narrative geschaffen und verbrei-
tet, etwa Gendern sei Zwangserziehung,
Sprachdiktatur oder eine Verhunzung
der Sprache.“ Das sei eine fehlgeleite-
te Debatten-Strategie, sagt sie. Denn
es wurde nie wirklich erklärt, wie Gen-
genderleicht.de und bei den Neuen deut-
schen Medienmacher*innen.
2. Der Rollentausch
Mit dem Gender Swap oder Flip-Test las-
sen sich etablierte Strukturen auflösen.
Durch einen testweisen Rollentausch fällt
auf, wie klischeehaft bestimmte Wörter,
Wendungen oder Fragen sind. Etwa bei
wermann“? Wir sehen: Die Kraft muss der
Frau erst zugeschrieben werden, sie wird
zur Powerfrau, dem Manne scheint sie in-
härent.
Auch Interviewfragen können auf diese
Weise überprüft werden. Unternehmerin
Fränzi Kühne hat es in ihrem Buch „Was
Männer nie gefragt werden“ deutlich ge-
macht: Politiker und Wirtschaftsbosse

64 04.2023
müssen nie Fragen nach Kind und Fami-
lie beantworten oder werden befragt, was
sie gedenken, zu einer Aufsichtsratssit-
zung anzuziehen. Sie sind überrascht, wie
es sich anfühlt, auf dieser Ebene in Inter-
views ausgefragt zu werden, die im Wirt-
schaftsteil erscheinen sollen und nicht in
einem Boulevardblatt.
3. Erstellen Sie eine Liste mit Wort-
alternativen
Erarbeiten Sie in Ihrem Team Lösungen
für den Schreiballtag und halten Sie Lieb-
lingswörter fest. Das sind redaktions- und
themenspezifische Begriffe, auf die sich
alle einigen konnten. Schließlich hat auch
jedes Themengebiet ein spezielles Voka-
bular und jedes Produkt einen eigenen
Sound:
• Sammeln Sie häufig vorkommende
Wendungen
• Diskutieren Sie mögliche Alternativen
• Einigen Sie sich auf bestimmte Wörter
• Zu guter Letzt: Lassen Sie in der
Schlussredaktion die Texte Korrektur
lesen von einer Person, die ausschließ-
lich auf die Gendersensibilität ach-
tet. Hinweise, die sich daraus ergeben,
können Sie in die Liste aufnehmen.
04.2023
Ein Beispiel für eine Wortliste aus dem
Wissenschaftsjournalismus:
Die Forscher
• Forscherinnen und Forscher
• Forschungsgruppe
• Wissenschaftlerinnen und Forscher
• Forschungsteam
• Forschende
4. Setzen Sie Zeichen!
Einige Publikationen wie das „Missy Ma-
gazin“ und auch das „Bücher Magazin“
haben auf typografische Innovationen ge-
setzt und beispielsweise einen eigenen
Genderstern entwickelt oder den soge-
nannten Mittelstern eingesetzt. Der Mit-
telstern wird auf die x-Achse der Buch-
staben gelegt, so dass er weniger irritiert
beim Lesen. Vorteil: Wenn er größer ska-
liert wird, können ihn sehbehinderte Men-
schen besser erkennen.
Wenn Sie erwägen, mit einem Gender-
zeichen zu arbeiten, prüfen Sie genau,
welches Zeichen probat ist: Der Doppel-
punkt wird zwar zunehmend genutzt, er
hat jedoch schon eine Bedeutung in un-
serem Schriftsystem. Mehr Symbolkraft
hat der Stern, auch eine Studie der Über-
wachungsstelle des Bundes für Barriere-
freiheit von Informationstechnik kommt
zu dem Ergebnis, dass der Genderstern
das am ehesten – aber auch sparsam – ge-
nutzte Zeichen sein soll.
„Missy“ ist noch einen Schritt weiter-
gegangen und hat zusätzlich ein eige-
nes Neo-Pronomen eingeführt: „dey“.
Spätestens seit der Preisverleihung des
Deutschen Buchpreises an die non-bi-
näre Person Kim de l’Horizon waren die
Redaktionen und Podcast-Hosts gut be-
raten, die wussten, wie sie mit Neopro-
nomen oder generell mit einer neutralen
Ansprache verfahren.
5. Es gilt das gesprochene Wort
Der Glottisschlag, also der gesprochene
Genderstern, wird in Radio und Fernsehen
meist nur von jüngeren Formaten genutzt.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ten-
diert in den Programmen mit einem ge-
mischten Publikum zur Doppelnennung.
So oder so sollten sich Redaktionen aber
damit auseinandersetzen, wie sie in Inter-
views und Zitatfreigaben mit dem gespro-
chenen Gendern umgehen wollen. Wie
wird ein Glottisschlag verschriftlicht? Das
sollte mit den Personen, die interviewt
werden, abgesprochen werden. Manche
65
 Praxis Gendersensible Sprache
Redaktionen arbeiten auch mit einem kur-
zen Hinweis, warum ausnahmsweise ein
Genderzeichen abgedruckt wurde.
6. Nutzen Sie neutrale Wörter – aber
nicht flächendeckend!
Geschlechtsindifferente Nomen wie Per-
son, Mensch, Führungskraft, Fachkraft,
Lehrkraft oder auch Relativsätze helfen,
nicht zu viele Sterne zu setzen. „Firma
xy hat 5.000 Mitarbeiter“ kann dann zu
„Es arbeiten 5.000 Menschen bei Firma
xy“ werden. Benutzen Sie die neutrali-
sierende Verlaufsform, die wir aus dem
Begriff „Studierende“ kennen und mit-
unter auch auf Mitarbeitende, Teilneh-
mende, Forschende übertragen, eher
sparsam. Am besten nicht mehr als ein-
mal pro Seite. Variieren Sie lieber. Nur
so entstehen vielfältige Bilder in unse-
ren Köpfen.
Vorsicht ist geboten bei selbstgebauten
geschlechtsneutralen Formulierungen:
Die „verstorbenen Drogengebrauchen-
den“ sind immer noch die „Drogentoten“.
Halten Sie sich also lieber an geläufige Par-
tizipien. Und bitte nicht aus Mitarbeiten-
de im Singular der*die Mitarbeitende*r
machen. Mögliche Alternativen: Entweder
Mitarbeiter*in oder abwechselnd Femini-
num, Maskulinum oder die Doppelnen-
nung am Anfang und dann das generische
Maskulinum folgen lassen.
7. Vielfältige Bildsprache
Achten Sie auf die Umgebung Ihres Textes
und stellen Sie sich die Fragen: Kann even-
tuell Bildsprache für mehr Gendergerech-
tigkeit sorgen? Werden Rollenstereotype
oder Geschlechterhierarchien reprodu-
ziert? Sind Icons auf Websites und in Sta-
tistiken oder Infografiken genderneutral?
Seit Kurzem ist auch die Weiterentwick-
lung von genderleicht.de an den Start ge-
gangen: Auf der dazugehörigen Website
und dem Instagram-Kanal bildermaech-
tig.de klärt das Projektteam über Stereo-
type im Fotojournalismus auf. „Wir wollen
Frauen aus der Unsichtbarkeit, aus dem
Weggedrängtsein herausholen und setzen
uns dafür ein, dass Männer und Frauen fo-
tografisch auf Augenhöhe präsentiert wer-
den“, sagt Christine Olderdissen. Sie zählt
fünf Klischees auf, die sie auch auf der
Website aufgelistet hat:
• Marginalisierung: Frauen befinden
sich am Bildrand oder im Hintergrund.
Männer machen sich breit, dominieren
durch ihre körperliche Präsenz.
• Trivialisierung: Frauen werden öfter
im privaten als im beruflichen Umfeld
66
dargestellt, selbst wenn es um das The-
ma Karriere geht.
• Hierarchisierung: Männer zeigen auf
etwas, sind aktiv. Frauen hören zu oder
schauen zu Männern auf.
• Stereotypisierung: Frauen werden bei Mehr Fairness
typisch weiblichen Tätigkeiten gezeigt,
Männer bei typisch männlichen. für alle!
• Sexualisierung: Der Blick fällt auf den
Körper von Frauen, teils in sexualisier- Was ist für Ihre redaktionelle Praxis
ten Posen, ohne inhaltliche Notwen- der richtige Weg, um fair zu formu-
digkeit. lieren? Mit unserer Werkstatt „Gen-
Gegenprobe: Männer in dieser Pose dersensible Sprache“ von Jeanne
wirken lächerlich. Wellnitz finden Sie es heraus. Darin
erfahren Sie unter anderem:
Hier sind zudem vier Beobachtungen von
Christine Olderdissen, die zeigen, welche • Welche Gender-Strategien im All-
Klischees beim Fotoshooting umschifft tag funktionieren
werden sollten: • Wie gute Planung Gendern ganz
• Wirtschaft: Topmanager stehen fron- leicht macht
tal zur Kamera, bildfüllend und auf- • Wie Sie Stolpersteine elegant
recht, im Machtgestus. Topmanagerin- umgehen
nen halten den Kopf leicht schief oder • Genderzeichen nutzen und wenn
verdecken einen Teil ihres Gesichts. ja, welches?
• Sport: Männer sind in sportlicher Ak- • Wie Nachrichtenagenturen
tion zu sehen, verschwitzt, emotional, ­Präzision und faire Sprache kom-
kämpfend. Frauen sind seltener bei binieren
ihrem Sport abgebildet, eher am Spiel- • Wie deutsche Medien ihre redak-
feldrand oder sexualisiert in knapper tionelle Praxis begründen
Sportkleidung.
• Handwerk: Männer arbeiten konzen­ Die Journalisten-Werkstatt
triert mit Blick auf ihr Werkzeug. Frau- ­„Gendersensible Sprache“ finden
en lächeln in die Kamera, während sie Sie im Oberauer-Shop: https://shop.
so tun, als würden sie mit Werkzeug oberauer.com/werkstatt/journalis-
arbeiten. ten-werkstatt/
• Prostitution: Der Freier ist nie zu se-
hen. Die Prostituierte wird hypersexu-
alisiert präsentiert.
8. Achtung, Hyperkorrekturen!
Manchmal ist es auch zu viel des Guten.
Lassen Sie sich bitte nicht von der Endung
„-er“ triggern: Wörter wie „Vorbilder“ oder
„Mitglieder“ sind geschlechtsneutral und
müssen nicht gegendert werden. Auch
Formen wie „weibliche Kolleginnen“ sind Abonnentinnen und Abonnenten
redundant. Am besten immer kurz überle- von „medium magazin“,
gen: Muss ich hier wirklich gendern? Was „Österreichs Journalist:in“ und
möchte ich vermitteln? Ist ein Signal für „Schweizer Journalist:in“ erhalten
Gendergerechtigkeit angebracht oder irri- die jeweils aktuelle Journalisten-
tiert es? Mit welcher Strategie verfahre ich Werkstatt mit jeder neuen Ausgabe.
am besten für den jeweiligen Kontext und
das jeweilige Anliegen?
JEANNE WELLNITZ
ist Senior-Redakteurin im
Wirtschaftsjournalistenbüro Wortwert.
Als freie Journalistin hat sie 2020 das
Kompendium „Gendersensible Sprache“ verfasst.
https://www.jeannewellnitz.com
04.2023
15. – 16.
11. 2023

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Gehalt & Honorare

Reden
wir über
Geld
Mehr Transparenz bei Gehältern und
Honoraren sorgt für mehr Fairness in der
Branche. Wir haben deshalb erstmals
ausgewertet, was Medienschaffende
heute verdienen können.
Illustrationen: Adobe Stock

68 04.2023
04.2023 69
Gehalt & Honorare
L
assen Sie uns über Geld reden.
Denn das tun wir viel zu selten.
Wer wie viel verdient, ist inner-
halb von Unternehmen meist
ein Tabuthema – oft auch per
Verschwiegenheitsklausel im Vertrag ge-
regelt. Und auch freie Medienschaffende
müssen meist alternativlos akzeptieren,
was ihnen eine Redaktion als mögliches
Honorar vorschlägt. Nur wer außerge-
wöhnlich gut vernetzt ist, erfährt im Aus-
tausch mit anderen Freelancern biswei-
len, was Medien im Schnitt zahlen.
Gerade am Anfang des Berufslebens
denken viele, sie müssten ein mickriges
Honorar oder ein Junior-Redakteursge-
halt hinnehmen. Trauen sich nicht zu fra-
gen, was jemand in vergleichbarer Posi-
tion verdient. Verhandeln erst gar nicht
(was noch schlimmer ist, als schlecht zu
verhandeln). Andere wüssten zu gern,
was der Konkurrenzverlag so zahlt.
Wir wollen das ändern. Denn mehr
Transparenz sorgt für mehr Fairness –
gerade in einer Branche, die nicht gerade
für fürstliche Gehälter und Honorare be-
kannt ist. Dazu hat unser Verlag Oberau-
er in Kooperation mit dem Verband Frei-
schreiber in diesem Jahr das Honorartool
„Was Journalisten verdienen“ neu aufge-
legt. Mit Hilfe dieses Tools können Me-
dienschaffende schnell und anonym an-
geben, was sie bei welchem Medienhaus
Mehr Transparenz!
Ihr gesuchtes Medium ist hier nicht dabei?
Gehälter und Honorare von über 100 weiteren
Medien finden Sie online in unserer Daten-
bank: https://gehalt.mediummagazin.de/
70
146 1.045
Medien in der Datenbank
verdienen oder als Honorar für einen
Auftrag bekommen haben. Gleichzeitig
können andere Journalistinnen und Jour-
nalisten ganz einfach und kostenlos ab-
rufen, was Medien im Schnitt zahlen, wie
zufrieden Mitarbeitende und Freie dort
sind – und was es bei einer Zusammen-
arbeit zu beachten gilt.
Jetzt haben wir diesen Datensatz erst-
mals ausgewertet. Auf den folgenden Sei-
ten finden Sie jeweils die „Top 15“ und
die „Flop 15“ bei Honoraren (S. 71) und
Gehältern (S. 74). Sollte ein Medium, das
Sie interessiert, nicht dabei sein, dann
schauen Sie doch einfach online nach.
Auf https://gehalt.mediummagazin.de/
finden Sie bestimmt, was Sie suchen.
Die Methodik:
Was es zu beachten gilt
Ähnlich wie bei den großen Bewertungs-
portalen Kununu oder Stepstone wurden
alle einzelnen Datenspenden a­nonym
eingegeben. Wir können deren Wahr-
heitsgehalt also nicht verifizieren. Das
heißt: Unsere Daten erlauben keine sta-
tistisch belastbare Berechnung von
Durchschnittshonoraren, da weder Per-
sonen noch Daten repräsentativ ausge-
wählt sind.
Mehrere Maßnahmen sorgen allerdings
dafür, dass die Daten aus unserer Sicht
einen realistischen und aussagekräftigen
Datenspenden seit 1.1.2020
Überblick über die deutsche Medienland-
schaft erlauben. Zum einen werden nur
Medien angezeigt, zu denen bereits mehr
als drei Datensätze vorliegen. So wird der
Einfluss einzelner, möglicherweise un­
authentischer Einträge reduziert. Zum
anderen gibt unser Tool bei einer Abfrage
zu einem Medium den statistischen Me-
dian an (und nicht den Durchschnitt). So
wird verhindert, dass außergewöhnlich
hohe oder niedrige Angaben das Ergeb-
nis verzerren. Nicht zuletzt haben wir die
Einträge noch einmal manuell auf grund-
sätzliche Plausibilität überprüft.
Da die Freischreiber schon vor unse-
rer Kooperation Daten gesammelt haben,
gibt es aktuell 3.059 Einträge zu 388 Me-
dien. Um möglichst aktuelle Zahlen zu er-
halten, haben wir allerdings den Auswer-
tungszeitraum erst ab dem 1. Januar 2020
beginnen lassen. Somit lagen uns 1.045
Datensätze zu 146 Medien vor. Wichtig
dabei: Da erst seit dem diesjährigen Re-
launch des Tools auch Gehälter von Fest-
angestellten angegeben werden können,
ist die Datenlage hier noch etwas dünner.
Abschließend gilt: Jede Datenspende
macht die Datenlage ein wenig besser
und belastbarer – und die Branche trans-
parenter und fairer. Deshalb lautet unse-
re Bitte: Helfen auch Sie mit und füttern
Sie das Tool mit allen Infos, die Ihnen
Illustration: Adobe Stock/pathdoc
vorliegen. Und: Reden Sie über Geld!
04.2023
Wo Freie fair bezahlt werden
Top 15
Honorar pro 1.000 Honorar pro Stunde
Medium Zeichen (Median) (Median) Zufriedenheit (1–9)
Geo 171 38 7
Focus Gesundheit 150 30 7
Essen & Trinken 148 28 7,5
Merian 144 48 6,5
Brigitte 134 50 8
Dogs 129 39 8
Brand eins 128 34 9
P. M. Magazin 125 33 8
Stern 120 44 7
Der Feinschmecker 111 40 5
Bild der Wissenschaft 100 38 7
Emotion 100 34 7
Enorm (Good Impact) 100 29 8,5
Psychologie Heute 100 29 8
Mare 100 20 7

41,67
Flop 15
Honorar pro 1.000 Honorar pro Stunde
Medium Zeichen (Median) (Median) Zufriedenheit (1–9)
Rheinische Post 17 13 6
Missy Magazin 16 13 8
Neues Deutschland 16 11 6
Jüdische Allgemeine 16 9 6
Südkurier 15 12 6
Freie Presse 15 13 6
Rhein-Neckar-Zeitung 13 13 5,5
Chip Online 12 19 4
Junge Welt 12 5 7
Westdeutsche Allgemeine Zeitung 12 14 5
Ruhr Nachrichten 11 8 5,5
Wiesbadener Kurier 11 8 6
Allgemeine Zeitung 10 8 6,5
Jungle World 8 15 8
utopia.de 7 25 8

Mittleres Honorar pro 1.000

Angaben gerundet in Euro. Zeichen in Euro (alle Medien)

04.2023 71
Gehalt & Honorare

Interview: Jens Bergmann („Brand eins“)

„Es gibt ein besonderes Verhältnis

zu unseren Freien“
Herr Bergmann, „Brand eins“ Tatsächlich gilt „Brand weiß, worauf es ankommt. Gründen für ihre niedrigen
hat in unserem Ranking die eins“ als Wunschmagazin Es ist wichtig, dass man sich Honorare. Warum kann
höchste Bewertung in der für viele Freie, aber auch als zuvor mit dem Magazin ver- „Brand eins“ weiter so gut
Kategorie Zufriedenheit harte Nuss. Wie kann man traut macht und auch mal ins zahlen?
erhalten. Zudem sind Sie bei Sie mit einem Themenvor- Archiv schaut. Generell inter- Wir erzielen mittlerweile mit
den Honoraren ganz vorne schlag knacken? essieren wir uns für Lösungen anderen Produkten und der
dabei. Das ist sicher kein Zu- Klar, wir sind anspruchsvoll. von Problemen, weniger für weiteren Verwertung von
fall, oder? Wir wollen außergewöhnliche große Namen oder Promi- Beiträgen zusätzliche Erlöse.
Jens Bergmann: Tatsächlich und exklusive Geschichten. nenz. Ein guter Pitch ist also Dazu zählen „Brand eins“-
gibt es seit der Gründung Aber wir sind kein exklusiver der Türöffner – genau so hat Kollektionen, also Bündel von
des Magazins ein besonderes Zirkel, es kommen immer es auch für mich vor mehr als Artikeln aus unserem Archiv
Verhältnis zu unseren freien wieder neue und junge Auto- 20 Jahren bei „Brand eins“ zu einem bestimmten Thema,
Autorinnen und Autoren. Ga- rinnen und Autoren dazu. Die angefangen. die wir freischalten, wenn
briele Fischer begann damals Eintrittskarte ist auf jeden sich Sponsoren dafür finden.
bewusst mit einem kleinen Fall ein gutes Exposé, weil es Andere – auch große –
Redaktionsteam und setzte neben der eigentlichen Story- Häuser argumentieren
bei den Inhalten vor allem idee auch zeigt, dass jemand gerne mit wirtschaftlichen
auf Freie. Das mag heute
Standard bei vielen Titeln
sein, Ende der 90er-Jahre
war das noch ungewöhnlich.
Der Leitsatz des Gründungs-
teams war damals: Wir wollen
mit unseren freien Kollegen
genauso fair umgehen wie mit
den Festangestellten. Und
das haben wir durchgehal-
ten – auch in wirtschaftlich
schwierigen Zeiten, die es ja

Fotos: Sarah Rubensdörffer (Bergmann), Marcus Brandt / dpa / picturedesk.com

durchaus gab. Dass unsere
Freien laut dem Ranking auch
heute noch so zufrieden sind,
freut und bestärkt uns.

Was macht aus Ihrer Sicht

eine faire Zusammenarbeit
mit Freien aus?
Das beginnt mit einem ver-
nünftigen Briefing. Dann geht
es um schnelles und quali-
fiziertes Feedback, in dem
wir genau und konstruktiv
darlegen, warum ein Text wo-
möglich noch nicht auf dem
Punkt ist. Zur Zufriedenheit „Ein gutes
trägt sicher auch bei, dass wir Exposé ist die
Autorinnen und Autoren die Eintrittskarte.“
Druckfassung ihrer Texte nach
Redigatur und Faktencheck JENS
durch unsere Dokumentation BERGMANN,
vorlegen. Nicht zuletzt zahlen stv. Chefredakteur,
wir schnell und zuverlässig. „Brand eins“

72 04.2023
G+J-MAGAZINE

Wie Freie unter dem Kahlschlag leiden

Die Ankündigung hatte Anfang dieses
Jahres für Aufregung in der Branche ge-
sorgt: Zahlreiche Magazine und Zeit-
schriften aus dem Gruner+Jahr-Portfolio
werden nach der Übernahme des tradi-
tionsreichen Verlags durch RTL Deutsch-
land verkauft oder eingestellt werden.
Besonders in den Reihen freier Journalis-
tinnen und Journalisten war der Aufschrei
groß. Für viele seien die Titel wichtiger
Bestandteil des regelmäßigen Einkom-
mens gewesen, hieß es oft.
Unsere Daten verdeutlichen noch einmal,
was der Kahlschlag für Freie wirtschaft-
lich tatsächlich bedeutet. Denn allein in
den hier veröffentlichten Top 10 befinden
sich fünf aktuelle oder bereits verkauf-
te G+J-Titel: „Geo“, „Brigitte“, „Stern“ so-
wie „Essen & Trinken“ (Beteiligung ver-
kauft an Landwirtschaftsverlag Münster)
und „P. M.“ (verkauft an GeraNova Bruck-
mann). Das Hundemagazin „Dogs“ war
bereits 2020 an GeraNova Bruckmann
verkauft worden. Laut unserer Datenbank
lassen sich hier Honorare von deutlich
über 100 Euro pro 1.000 Zeichen verdienen.
Ob diese attraktiven Sätze allerdings auch
bei den neuen Eigentümern beibehalten
werden, muss sich erst noch zeigen.
Klar wird zudem, dass einige wirklich lu-
krative Auftraggeber komplett wegge-
brochen sind. Denn für unsere Auswer-
tung haben wir unsere Daten bereits um
Titel bereinigt, die in diesem Jahr einge-
stellt wurden: etwa „Geo Wissen“, „Geo
Walden“, „Stern Gesund leben“, „Eltern“
(Print) und viele andere Ableger der gro-
ßen Titel. Bei all diesen Titeln konnten
Freie sehr gute Honorare von 80 bis 145
Euro pro 1.000 Zeichen verdienen. Diese Ausverkauf mit Folgen:
Verluste zu kompensieren, dürfte für die Mitarbeiter von RTL Deutschland
meisten Freelancer kaum möglich sein – ­protestieren im Januar 2023 gegen
zumindest nicht mit journalistischen Auf- den angekündigten Verkauf von G+J-
traggebern. Magazinen.

NRW-Pressefoto 2023

Foto: xc/Shutterstock

Journalistenpreis 2023 mit Nachwuchspreis

Der Wettbewerb soll die Arbeit von Fotojournalistinnen und Einsendeschluss ist der 31. Oktober 2023.
-journalisten würdigen und einen Rückblick auf das Nachrich- Es werden Preise in Höhe von insgesamt 22.000 Euro ausgelobt für
tenjahr in Nordrhein-Westfalen geben. • das NRW-Pressefoto des Jahres
• Platz zwei
Fotojournalistinnen und -journalisten aus Nordrhein-Westfalen • Platz drei
können mit Bildern teilnehmen, die einen Bezug zum Land haben • Nachwuchspreis (bis 30 Jahre)
und das aktuelle Geschehen widerspiegeln. Die Fotos müssen in • Sonderpreis „Ehrenamt in
den letzten zwölf Monaten vor dem Einsendeschluss entstanden Nordrhein-Westfalen“
sein.
04.2023 Informationen unter https://lt.nrw/pressefoto 73
Gehalt & Honorare

3.428
Wo Festangestellte gut verdienen
Top 15
Medium Brutto-Gehalt/Monat (Median) Zufriedenheit
Bild 5.777 9
Norddeutscher Rundfunk 5.323 6,5
Der Feinschmecker 5.000 6
Brigitte 4.888 7
Buzzfeed 4.814 9
Chrismon 4.800 9
Handelsblatt 4.363 7
Berliner Zeitung 4.350 2
Wirtschaftswoche 4.244 6
dpa 4.229 7
Westdeutscher Rundfunk 4.149 6
FAZ 4.091 5,5
Der Spiegel 4.044 7
Die Zeit 4.000 7
Impulse 3.833 8

Flop 15
Medium Brutto-Gehalt/Monat (Median) Zufriedenheit
Welt 3.251 6
Mittleres Brutto-
Gründerszene 3.250 6
Gehalt in Euro
Rheinische Post 3.100 7 pro Monat
Weser-Kurier 3.100 5 (alle Medien)
Netzpolitik 3.084 8
Correctiv 3.000 6
Frankfurter Rundschau 3.000 7
Katapult Magazin 3.000 8
Allgemeine Zeitung 2.844 6
Göttinger Tageblatt 2.783 5
T-Online 2.765 7
Sächsische Zeitung 2.683 5
Ostfriesische Nachrichten 2.681 6
ProSieben 2.456 7,5
Die Tageszeitung (taz) 2.392 6
Illustration: Adobe Stock/pathdoc

Angaben gerundet in Euro.

74 04.2023
04.2023 75
Gehalt & Honorare
Was muss ich verdienen?
Wer faire Honorare verhandeln will, sollte genau wissen,
wie viel er zum Leben braucht. Die Freischreiber zeigen,
wie der ideale Tagessatz berechnet wird.
H
onorare: wichtig. Verhan-
deln: auch wichtig. Zu wis-
sen, was Redaktionen zahlen
und was die Kolleginnen und
Kollegen so verdienen: eben-
falls wichtig – weil man dann umso bes-
ser verhandeln kann. Kommen dann mal
1.000 Euro für den Artikel oder 500 Euro
Tagessatz dabei heraus, ist das sicherlich
eine schöne Sache und fühlt sich gut an.
Doch die zentralen Fragen für jedes Ein-
kommen lauten: Reicht es? Wie viele sol-
cher Artikel muss ich eigentlich verkau-
fen, um so zu leben, wie ich das möchte?
Oder etwas grundsätzlicher: Ist mein
Einkommen hoch genug, um mein Leben
zu finanzieren?
Um zu wissen, ob die eigene Haushalts-
rechnung aufgeht, ist es wichtig, die eige-
RICHTIG KALKULIEREN
Wie viel kann ich arbeiten?
So viele bezahlte Arbeitstage stehen Freien
im Schnitt pro Jahr zur Verfügung.
*
168 Arbeitstage pro Jahr = 14 Arbeitstage pro Monat
76
nen Ausgaben zu kennen und diese scho-
nungslos mit jener Zeit zu verrechnen,
die man arbeitet. Und das ist gar nicht so
kompliziert, wie es klingt. Freischreiber-
Mitglieder können auf einen eigens dafür
gebauten Online-Rechner zurückgreifen
(www.freischreiber.de/bierdeckel) – für
alle anderen folgt hier die praktische
Kurzanleitung:
Eigentlich braucht es nämlich nur zwei
Zahlen: Bedarf (in Euro) und die Arbeits-
zeit (in Tagen). Los geht’s mit dem be-
nötigten Geld. Dazu zählt ihr alle eure
Ausgaben zusammen: Miete, Kredite, Le-
bensmittel, Kleidung, Möbel, Kita-Ge-
bühr, Arbeits-Ausgaben, alles muss rein.
Vergesst auch jene Kosten nicht, die nicht
monatlich vom Konto abgehen: Versiche-
rungen, Auto-Reparaturen, Urlaube, Ge-
schenke oder Rücklagen zum Sparen.
Hier nichts zu vergessen, ist eine Kunst.
Rechnet also lieber noch einen kleinen
Puffer drauf.
Jetzt kommen die Steuern dran. Denn
die Ausgaben, die euer Leben von euch
fordert, müsst ihr von eurem Netto-Lohn
zahlen. Also: für ein 30-prozentiges Steu-
erpolster den durchschnittlichen Mo-
natswert durch 0,7 teilen (für 25 Prozent
durch 0,75 und so weiter – je nachdem wie
viele Abgaben an Sozialabgaben, Lohn-
oder Einkommensteuer ihr so zahlt). Bei
einem Bedarf von 2.000 Euro ergäbe die-
se Rechnung dann also 2.857 Euro. Ta-
daa: Jetzt habt ihr einen Brutto-Monats-
Durchschnitt, den ihr verdienen müsst.
Nun geht es daran herauszufinden, wel-
che Leistung ihr abliefern müsst, um die-
168*
bezahlte Arbeitstage
115
Wochenenden
und Feiertage
42
Akquise und
Buchhaltung
29
Illustration: Adobe Stock/FAHMI
Urlaub
11
krank
Idee und Berechnung: Freischreiber
04.2023
 2023
Text: ELISABETH HOVARTH

Relaunch Dr. Georg Schreiber Ausserdem

Medienpreis
sen zu decken. Festangestellte können Wettbewerb für Printmedien,
nach einem Blick in die Lohntüte hier
TITEL direkt vergleichen. Wer fixeTITEL Hörfunk, FernsehenTITEL
und Internet!
schon Hono-
rare
Verlaferhält, weiß nun ebenfalls schon, Verlaf wie Verlaf
Zugelassen sind Beiträge4,90junger Journalis-
viele Artikel
4,90 Euro. für
Auflage: diesen Preis er 4,90
100.000. oderEuro.
sieAuflage: 100.000. Euro. Auflage: 100.000.
abliefern muss.
EW: vierteljährlich Etwas schwieriger
geplant wird
EW: vierteljährlich geplant tinnen und JournalistenEW:
bisvierteljährlich
einschließlichgeplant
es hingegen
Angebote bei Aufwandsentschädigun-
per E-Mail Angebote per E-Mail 35 Jahre zu den ThemenAngebote
Gesundheit
per E-Mailund
gen nach Zeit – also Tagessätzen. Soziales, die zwischen dem 1. Januar und
Hiersitam
netur kommt re, nun
solupitdiealis
zweite
maio Zahl in die
netur sitam re, solupit alis maio dem 31. Dezember 2023 in einer in Bayern
Rechnung:
et pel inciatet dieporehent,
Arbeitszeit. Damitetihr
ut quis pelaus
inciatet porehent, ut quis erscheinenden Zeitung oder Zeitschrift ver-
eurem
doluptiunt Brutto-Monats-Bedarf
dollabo. Pic te eium auf euren dollabo. Pic te eium
doluptiunt öffentlicht oder von einem Rundfunksender
benötigten
qui dolectae Tagessatz
pa dolum inveriasschließenqui könnt,
dolectae pa dolum inverias mit redaktionellem Sitz bzw. einem Landes-
müsst
es int endiihr überlegen,
rem. Et eossim wie de-viele Tage
es intihrendi rem. Et eossim de- studio in Bayern ausgestrahlt worden sind.
im Monat
lenia deniseigentlich
ipsus si nam arbeitet.
rem Spoiler:
lenia Esdenis ipsus si nam rem Zugelassen sind in der Kategorie Online
sind
fuga.sicher
Sed quos weniger,
moluptur?als ihrQui-
im ersten
fuga.Mo-Sed quos moluptur? Qui- auch speziell für das Internet multimedial
ment denkt.occab
busa perati Wochenenden und Feiertage
ipist, et offi- busa perati occab ipist, et offi- produzierte Beiträge auf allgemein zugäng-
abgezogen,
cid ut verumgibt es –idjeutnachdem,
dolore exer- cid in ut
wel-
verum dolore id ut exer-
lichen Webadressen. Videos, die speziell für
chem
namenis Bundesland
earitiassini ihrdolecate
wohnt – namenis
im Jahr earitiassini dolecate
allgemein zugängliche Videoportale (wie
2023 zwischendolupta
plaborepuda 248 undquuntet
251 Arbeitstage.
plaborepuda dolupta quuntet
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250 Tagen
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rempore pisqui29 rest destiunt rempore Kategorie Fernsehen berücksichtigt. Beiträ-
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04.2023
01.2023 77
3
AZ_Medium Magazin 2023_91x255.indd 1 25.04.2023 09:20:11
Geld & Finanzen

Ein Stück vom Kuchen

Wenn Mitarbeitende an Unternehmen beteiligt werden, steigen
Identifikation und Motivation. Was beim „Spiegel“ längst Tradition
ist, wird auch in kleineren Verlagen erfolgreich praktiziert.
Wie Medienschaffende von diesen Modellen profitieren.

A
nfang Juni titelte „Business In- Solche Beteiligungsmodelle haben Auf Anfrage gibt man sich beim „Spie-
Foto: Ralf Niemzig / Visum / picturedesk.com

sider“ markig: „Die ‚Spiegel‘-
Mitarbeiter-KG verteilt bis zu
20.000 Euro Bonus und kann
Chefredakteure stürzen.“ Und
tatsächlich: Die Mitarbeiter-KG, ganz of-
fiziell „Kommanditgesellschaft Beteili-
gungsgesellschaft für Spiegel-Mitarbeiter
mbH & Co“, ist eine Macht an der Ham-
burger Ericusspitze: Ihre Vertreter ent-
scheiden bei wichtigen Angelegenheiten
des Verlages mit. Zudem stehen den Mit-
gliedern der KG 50 Prozent des Unter-
nehmensgewinns zu.
eine lange Geschichte und sind in vie-
len deutschen Unternehmen zu finden.
Ihre Befürworter werben vor allem da-
mit, dass sich Beschäftigte so stärker
mit dem Arbeitgeber identifizieren wür-
den. Gleichzeitig steigere die Aussicht
auf Gewinnanteile und weitere Benefits
die Attraktivität der Firmen auf dem Job-
markt. Durchaus Argumente, die auch
Medienunternehmen in Zeiten des Fach-
kräftemangels interessieren dürften. Wie
also profitieren Mitarbeiter von diesen
Modellen?
gel“ zugeknöpft. „Zu den Details der
Beteiligung und der konkreten Aus-
schüttung an die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter können wir Ihnen aus Ver-
traulichkeitsgründen leider keine Aus-
kunft geben“, teilt die Geschäftsführung
der Mitarbeiter-KG bedauernd mit.
Offener geht der kleinere Bio Verlag mit
seinem Beteiligungsmodell um. Er sitzt
im Aschaffenburger Magnolienweg und
verlegt mit „Schrot & Korn“, „Bio Han-
del“ und „Cosima“ Titel aus dem Bereich
Nachhaltigkeit und gesunde Ernährung.

78 04.2023

Hintergrund
Welche Beteiligungsmodelle
gibt es?
Die unterschiedlichen Beteiligungs­
formen hängen laut Heinrich Beyer
vor allem stark von der Rechtsform des
jeweiligen Unternehmens ab. Er ist
Geschäftsführer des Bundesverbands
Mitarbeiterbeteiligung AGP.
Am einfachsten gestalte sich das
Modell bei den AGs, Publikumsunter-
nehmen mit zahlreichen Aktionären.
Hier bekommen die Mitarbeitenden
oft Belegschaftsaktien, ganz norma-
le Stammaktien oder Vorzugsaktien
mit einer etwas höheren Dividende.
„Bei diesen Mitarbeiterbeteiligungen
profitiert man von unterschiedlich ho-
hen Verzinsungen der Kapitaleinlagen“,
sagt Beyer.
Familienunternehmen und Mittelständ-
ler firmieren meist als GmbH oder
GmbH & Co KG. Sie geben also keine
Das Unternehmen hat einen konse-
quenten Kurs in Sachen Mitarbeiterbetei-
ligung eingeschlagen. Bereits 2011 wur-
den die GmbH-Anteile gestiftet und der
Bio Verlag wurde zu einem sogenannten
„Unternehmen mit gebundenem Vermö-
gen“. Das funktioniert so: Der Verlag hat
zwei Stiftungen als Gesellschafter. Eine
gemeinnützige Stiftung mit 97 Prozent
der Anteile, die 25 Prozent der Stimm-
rechte hält, und eine zweite Stiftung mit
lediglich 3 Prozent der Anteile, die aber
mit 75 Prozent die Mehrheit in der Ge-
sellschafterversammlung hat. Ins Ku-
ratorium dieser kleineren Stiftung kön-
nen nur Beschäftigte gewählt werden. So
bleibt der Verlag in Mitarbeiterhand.
Das Modell, das in ähnlicher Form auch
unter dem Label „Unternehmen in Ver-
antwortungseigentum“ bekannt ist, hat
sich bewährt. Große Player aus anderen
Branchen wie Zeiss, Bosch und ZF Fried-
richshafen praktizieren es seit Jahren.
Auch mittelgroße Firmen wie Alnatura
und selbst Start-ups wie Ecosia, Einhorn
und Startnext experimentieren damit.
04.2023
Aktien aus. Stattdessen erhalten
Mitarbeiter in der Regel sogenannte
Genussrechte oder stille Beteiligungen.
Mit diesen sind sie zwar am Unterneh-
mensgewinn, nicht aber an Eigentü-
merrechten beteiligt.
Start-ups, als dritte Gruppe, bieten
Mitarbeitern vorwiegend virtuelle
Beteiligungen an – so etwas wie eine
vertraglich vereinbarte Wette auf die
Zukunft. Sollte es einmal zum Börsen-
gang oder Verkauf kommen, wären
die Beschäftigten dann beteiligt.
Problematisch kann dieses Modell
aber werden, wenn es wirklich zur
Ausschüttung kommt. „Das Finanzamt
wertet das dann nicht als Kapitalbetei-
ligung, sondern als Lohn. Oft müssen
dann bis zu 40 Prozent an Steuern ab-
geführt werden“, warnt Beyer.
Beim Bio Verlag sind die Mitarbeiter
mit Kapitaleinlagen an Gewinnen und am
Unternehmensvermögen beteiligt. Die-
se Einlagen sparen sie, mit Unterstüt-
zung des Unternehmens, so lange an, bis
sie die gewünschte Höhe erreicht haben.
Das funktioniert ähnlich wie eine betrieb-
liche Altersvorsorge, zu der das Unter-
nehmen einen Beitrag leistet. „Das Kapi-
tal legen die Mitarbeiter in eine GmbH &
Co KG ein und es wird in Form von Ge-
nussscheinen an das Unternehmen gege-
ben. Hier schließt sich der Kreis, weil die
Kommanditisten (also Mitarbeiter) das
Kuratorium der Bio Verlag Stiftung wäh-
len“, sagt Bio-Verlag-Geschäftsführerin
Sabine Kauffmann.
Neben dem Gehalt bekommen die Mit-
arbeiter zudem eine Erfolgsbeteiligung.
„Die planen wir in Höhe von zwei bis vier
durchschnittlichen Monatsgehältern pro
Jahr“, so Stefan Reining, der zweite Ge-
schäftsführer. „Es hängt aber natürlich
immer von der wirtschaftlichen Entwick-
lung ab.“ Darüber hinaus gebe es noch
weitere Zuwendungen. „Uns geht es eben
nicht darum, beim Ausscheiden mög-
lichst viel Geld aus einem Unternehmen
zu ziehen, sondern darum, etwas aufzu-
bauen, was die Einzelnen überlebt“, sagt
Sabine Kauffmann.
Die Mitbestimmung findet beim Bio
Verlag in festen Gremien statt. „Auf unse-
ren Gesamttreffen werden die wichtigs-
ten Entwicklungen vorgestellt. Die Pro-
tokolle unserer Teamleitertreffen sind
für die Verlagsöffentlichkeit zugänglich,
mit Ausnahme der sensiblen und daten-
geschützten Personalangelegenheiten.
Transparenz ist also eine Grundvoraus-
setzung der Mitarbeiterbeteiligung“, sagt
Reining.
Das Beteiligungsmodell trage explizit
zu einer guten Unternehmenskultur bei,
sind sich Kauffmann und Reining sicher.
Speziell junge Mitarbeiter schätzten die
Idee, unternehmerisch mitbestimmen
zu können. So seien auch bei den jüngs-
ten Einstellungsrunden wieder Kollegen
an Bord gekommen, die sich – auch we-
gen des Modells der Mitbestimmung und
Beteiligung – bewusst für den Bio Verlag
und teilweise gegen besser bezahlte Stel-
len entschieden hätten.
Gerade in größeren Unternehmen ste-
hen für Angestellte aber offenbar eher die
finanziellen Aspekte einer Mitarbeiter-
kapitalbeteiligung im Vordergrund. „Sie
wollen teilhaben, sie wollen ernst genom-
men werden, aber sie wollen nicht unbe-
dingt mitbestimmen – dazu ist ihr Kapi-
talanteil auch meistens viel zu klein“, sagt
Heinrich Beyer, Geschäftsführer des Bun-
desverbands Mitarbeiterbeteiligung AGP,
und ergänzt: „In der Mitbestimmung
sehr aktive Beteiligung-KGs, wie etwa
beim ,Spiegel‘, gibt es ganz selten. Da ist
der ,Spiegel‘ wirklich ein Unikum.“ Denn
wenn es zu viele Stimmen gäbe, würde
die unternehmerische Handlungsfähig-
keit teilweise auch beeinträchtigt. „Das
haben wir beim ‚Spiegel‘ ja auch letztes
Jahr gesehen“, so Beyer.
Ein finanzieller Anreiz, gerade für Start-
ups und Mittelständler, könnte nun aus
der Politik kommen. Das zuletzt be-
schlossene „Zukunftsfinanzierungsge-
setz“ will Mitarbeiterbeteiligungsmodel-
le steuerlich attraktiver machen.
GUNTER BECKER
ist freier Medienjournalist in Berlin.
@knipser02
79
 KÖPFE & KARRIEREN
Beat Balzli
Beat Balzli, bis Februar Chef-
redakteur der „Wirtschafts-
woche“, arbeitet seit Sep-
tember für die Schweizer
NZZ und verantwortet dort
in leitender Position ver-
schiedene Sonderprojekte
mit Schwerpunkt deutscher
Markt.
Constantin Blaß (42) wech-
selt den Chefredakteurs-
posten: Statt den „Schwarz-
wälder Boten“ in Oberndorf
am Neckar führt er von Ok-
tober an die „Schwäbische
Post“ und „Gmünder Tages-
post“ in Aalen. Dort ersetzt
Michael Bröcker gibt zum
Jahresende auf eigenen
Wunsch die Chefredaktion
von „The Pioneer“ auf, bleibt
aber Mitgesellschafter des
Start-ups von Gabor Stein-
gart. Auch „Pioneer“-Chef-
korrespondent Rasmus Buch-
steiner (47) geht von Bord; er
wechselt zum Dezember ins
„Spiegel“-Hauptstadtbüro.
Christiane Dankbar
Christiane Dankbar ist neue
Politik-Chefin der „Frankfur-
ter Rundschau“. Sie schrieb
zuvor 26 Jahre für die „Ber-
liner Zeitung“, zuletzt als
Kati Degenhardt
Kati Degenhardt (45) und
Maike Klebl (44) sind neue
Chefredaktions-Mitglie-
der bei „Bild“. Degenhardt
kommt von „T-Online“. Sie
soll das Ressort Leben & Ge-
sellschaft gemeinsam mit Ste-
phanie May (38) und Simone
Day (46) führen und zusätz-
lich das neue Ressort Wissen-
schaft & Forschung aufbauen.
Klebl soll als Nachrichten-
Chefin mit Co-Chef Daniel
Hähle (38) einen neuen di-
gitalen Deutschland-Desk
aufbauen. Sie war zuletzt
Homepage-Desk-Leiterin bei
BurdaForward.

er Lars Reckermann (53),
der nach zweieinhalb Jahren
auf der Ostalb zurück in den
Norden kehrt, wo seine Fa-
milie lebt.
politische Korrespondentin.
Dankbar löst Martin Ben-
ninghoff ab, der nun für das
„Handelsblatt“ aus China be-
richtet.
Fotos: NZZ (Balzli), Frankfurter Rundschau (Dankbar), Jesco Denzel (Degenhardt), Nils Hasenau (Maier), RTL Simon Koy (Spiegelberger)
Joachim Dreykluft und die
„Neue Osnabrücker Zeitung“
haben sich getrennt. Seit 2013
war der Digitalexperte inner-

WECHSEL ZUR NACHRICHTENAGENTUR

Technikversteherin für die dpa

Laut einer Umfrage des Karriereportals und Techjournalistin (u. a. „Manager Ma-
Xing wechseln Frauen den Job vor allem gazin“, „Wirtschaftswoche“, Ada). Sie
wegen des Stresslevels. Astrid Maier fin- wolle die Agentur mit ihren vielen Mit-
det sich in dieser Statistik ihres früheren arbeitern und Untergesellschaften erst
Arbeitgebers indes nicht wieder, wie sie mal durchdringen, bevor sie daraus kon-
TEXT gegenüber „medium magazin“ betont. krete Handlungen ableite. Nach weniger
SENTA KRASSER Fast vier Jahre führte sie die Xing-Chef- Stress klingt das jedenfalls nicht.
senta@krasserjournalismus.de redaktion, erst im März war sie ins Ma-
nagementboard aufgestiegen. Sie blicke
auf eine „super Zeit“ zurück und sehe ihr
News-Team „hervorragend aufgestellt“.
Jetzt sei einfach der Zeitpunkt für sie ge-
kommen, etwas Neues zu machen.
Zum 1. Oktober fängt die 48 Jahre alte
Journalistin bei der dpa als weitere Stell-
vertreterin von Chefredakteur Sven
Gösmann an, ihr Zusatztitel: „Chefin
Strategie“. Die „ausgewiesene Technik-
versteherin“ (Gösmann) soll sich nun
vorrangig mit der Frage beschäftigen,
welche Anwendungen der Agentur mit
Künstlicher Intelligenz arbeiten werden
und wo daraus neue Produkte entstehen 0 Von New Work ins Zentrum des
können. Nachrichtenjournalismus:
Für sie gehe es nun erst einmal ums Zu- Astrid Maier verstärkt die Chefredaktion
hören, sagt die erfahrene Wirtschafts- der dpa.

80 04.2023

halb der Mediengruppe NOZ/
mh:n in verschiedenen Füh-
rungspositionen tätig, u. a. als
Leiter der Produktentwick-
lungseinheit HHLab, die 2022
aufgelöst wurde. Nach einer
Pause will er sich neuen be-
ruflichen Plänen widmen.
Carsten Fiedler (53), derzeit
noch Chefredakteur des „Köl-
ner Stadt-Anzeigers“, zieht es
nach München: Ab November
verstärkt er die neu gegründe-
te „BurdaForward Chefredak-
tion“ unter Vorsitz von Flo-
rian Festl.
Vassili Golod
Vassili Golod (30) ist seit
1. September crossmedia-
ler Leiter im ARD-Studio
in Kiew. Bisher gehörte die
Ukra­ine zum Berichtsgebiet
des ARD-Studios Moskau.
Golod berichtet seit 2022 als
Korrespondent aus der Ukra­
ine und hat das neue Studio
aufgebaut.
Christoph Schwennicke (57)
ist wieder zurück in der jour-
nalistischen Praxis: „T-On-
line“ hat ihn als Leiter des
Exklusivbereichs in die Chef-
redaktion geholt. Der frühere
„Cicero“-Chefredakteur soll
in seiner neuen Funktion die
politische Berichterstattung
leiten.
Peter Müller (49) ist seit Mitte
September Chefredakteur der
„Augsburger Allgemeinen“ im
Tandem mit Andrea Kümpf-
beck. Er kommt aus Brüssel,
wo er für EU-Kommissions-
präsidentin Ursula von der
Leyen arbeitete. Zuvor leitete
er u. a. zehn Jahre das „Spie-
gel“-Büro in Brüssel.
Maurice Gajda (40) wird nicht
mehr für RTL News im Ein-
satz sein. Der TV-­Sender be-
endete die Zusammenarbeit
04.2023
fristlos, nachdem bekannt ge-
worden war, dass er in einem
Bericht einen Tweet der frü-
heren AfD-Chefin Frauke Pe-
try manipuliert hatte.
Till Krause (43) verlässt das
„SZ-Magazin“ nach 13 Jah-
ren für eine Professur an der
Hochschule Landshut. In
Landshut soll er ab dem Win-
tersemester den Bachelor-
Studiengang „Neue Medien
und interkulturelle Kommu-
nikation“ weiterentwickeln.
Yann Werner Prell, Thomas
Schnedler und Franziska
Senkel führen seit Septem-
ber das hauptamtliche Team
von Netzwerk Recherche. Der
langjährige Geschäftsführer
Günter Bartsch hat seinen
Posten nach 14 Jahren auf ei-
genen Wunsch abgegeben.
Iris Spiegelberger
Iris Spiegelberger, bislang
CvD-Redakteurin bei der
„Süddeutschen Zeitung“, ist
zum „Stern“ gewechselt, um
dort digitale Formate mit
Schwerpunkt Auslandsbericht-
erstattung voranzutreiben.
Neu beim „Stern“ sind auch:
Kriegs- und Krisenreporter
Moritz Gathmann, zuvor Chef-
reporter „Cicero“, und Brüs-
sel-Korrespondentin Charlotte
Wirth. Das digitale Koordinati-
onsteam verstärkt Niklas Mol-
ter, bislang Digital-Chef der
„Augsburger Allgemeinen“.
Stefan Winterbauer (53) führt
jetzt die Reichweitenporta-
le „Heidelberg 24“, „Mann-
heim 24“ und „Ludwigsha-
fen 24“ der Mediengruppe
Haas aus Mannheim. Bis
Juni war der gebürtige Wein-
heimer Chefredakteur des
Mediendienstes Meedia; we-
gen der Insolvenz des Unter-
nehmens kündigte er mit so-
fortiger Wirkung.
AUSSCHREIBUNG
2024
1. Preis 10.000 Euro
2. Preis 6.000 Euro
3. Preis 4.000 Euro
Der jährlich ausgeschriebene „Wächterpreis der
Tagespresse“ zeichnet Journalisten aus, die durch ihre
Arbeit als Wächter der verfassungspolitischen Funktion der
Tagespresse in besonderem Maße entsprechen, indem sie
Missstände aufdecken oder sachfremde Einflüsse auf die
Presse offenlegen.
Zur Teilnahme eingeladen sind Journalisten, freie
Mitarbeiter und Zeitungsvolontäre. Bewerben kann sich
jeder Autor selbst. Darüber hinaus sind Verleger,
Chefredakteure, Ressortleiter, Vorsitzende der Verleger-
und Journalistenverbände sowie Leiter von Presse-
instituten vorschlagsberechtigt.
Die Arbeiten müssen in der Zeit vom
1. September 2022 bis 31. August 2023
in einer in Deutschland verlegten und erschienenen Tages-
oder Wochenzeitung veröffentlicht worden sein.
Einsendeschluss:
30. November 2023
Eingereicht werden sollten die Arbeiten im DIN A4- oder DIN
A3-Format, versehen mit dem Zeitungstitel und dem
Erscheinungsdatum der Zeitung. Die Originalver-
öffentlichung oder eine Kopie davon muss der Einsendung
beigefügt sein. Bei umfänglicheren Arbeiten (z.B. lange
Artikelfolgen) sollten die Bewerber Schwerpunkte
auswählen und nur diese einreichen.
Der „Wächterpreis der Tagespresse“ wird durch eine
unabhängige Jury zuerkannt und öffentlich überreicht.
Stiftung „Freiheit der Presse“
FFH-Platz 1, 61118 Bad Vilbel
Telefon: 06101 9889-0
Telefax: 06101 9889-20
E-Mail: waechterpreis@vhzv.de
Internet: www.waechterpreis.de
Vorstand:
Michael Schmitt
Gebhard Ohnesorge
Dr. Hans-Peter Bach
Bad Vilbel, im September 2023
81
Fragebogen
Sara Sievert ist noch keine 30, hat aber als Chefreporterin bei „T-Online“
gerade ihren dritten Top-Job in der Branche ergattert. Eine rasante
Karriere, die ihren Anfang an Burdas Journalistenschule nahm.
Sara Sievert
„Peinlich ist mir nichts“
Erst im Dezember 2022 landete Sara Sie-
vert mit einer Reportage über den „bay-
erischen Popstar“ Markus Söder ihren
ersten großen Aufschlag beim „Spiegel“.
Kurz vor der Landtagswahl in Bayern hat
die Journalistin, die 1994 in Dissen am
Teutoburger Wald geboren wurde, nun
das Medium gewechselt: Seit 1. September
berichtet sie als Chefreporterin Politik für
das Hauptstadtbüro von „T-Online“
vor allem über das Kanzleramt und
die CDU/CSU. In gleicher Position
war sie bis Oktober 2022 für „Fo-
cus Online“ unterwegs. Davor ar-
beitete sie für Burdas Magazin
„Focus“, ihre ehemalige Stammre-
daktion in der Ausbildung an der
hauseigenen Journalistenschule.
Der dritte Top-Job in drei Jah-
ren – was kann man daraus
schließen?
Eigentlich ist es der dritte Job
nach fünf Jahren. Ich habe im-
mer geschaut, wo und wie ich
mich weiterentwickeln kann
und wo ich meine Stärken am
besten einbringen kann. Mir
war es wichtig, unterschiedli-
che Erfahrungen in Print und
Online zu sammeln. Das konn-
te ich sowohl bei Burda als auch
beim „Spiegel“. Im Sommer
kam dann die tolle Möglichkeit
bei „T-Online“, den „nächsten
Schritt“ zu gehen, auf den ich
mich nun sehr freue.
Warum war es beim „Spie-
gel“ nicht mehr gut?
Muss es erst „nicht mehr gut“ sein, damit
man offen für etwas Neues ist? Ich war
lange glücklich im Burda Verlag, auch das
Jahr beim „Spiegel“ hat mir großen Spaß
gemacht. Dann hat sich eine tolle Chance
bei „T-Online“ ergeben und ich habe zu-
gegriffen.
82
Die Vorzüge von „T-Online“ in drei
Worten?
Es gibt ganz viele. Um mal drei zu nennen:
die riesige Reichweite, der k­ reative Spiel-
raum und das super motivierte Mindset in
der Redaktion.
Und was können Sie überragend gut?
Puh, das können andere sicher besser be-
urteilen. Ich bin zumindest ein ziem-
lich offener und begeisterungsfähiger
Mensch – und mancher Pressesprecher
würde mich sicher als hartnäckig beschrei-
ben.
Verraten Sie auch Ihre Schwächen?
Das klingt langsam nach einem Bewer-
bungsgespräch. Aber: An meinem Zeit­
management arbeite ich noch.
Aus Ihrer Erfahrung: Ist Jugend im poli-
tischen Betrieb ein Handicap?
Ein Handicap ist es schon gar nicht. An-
sonsten ist es das, was man selbst daraus
macht. Es stimmt, dass jüngere Journalisten
oft ­unterschätzt werden. Für mich war das
bislang aber mehr Chance als Hindernis.
Und Frausein?
Allein die Frage ist ehr-
licherweise Teil des
Problems.
Auf welchen Beitrag
sind Sie besonders
stolz? Welcher ist Ih-
nen peinlich?
Ich weiß nicht, ob ich
das stolz nennen wür-
de. Im vergangenen
Jahr habe ich den CSU-
Chef Markus Söder mal
zwei Wochen auf Schritt
und Tritt begleitet. Über
3.000 Kilometer quer
durch Bayern. Das war zu-
mindest besonders span-
nend. Peinlich ist mir bis-
lang nichts.
Söder oder Scholz – mit
wem würden Sie gerne
mal einen Tag die Rolle
tauschen?
Mit keinem. Ich würde viel
lieber beiden einen Tag un-
gefiltert über die Schulter
Foto: Dominik Butzmann
gucken. Auch für uns Jour-
nalisten ist nicht jeder Termin zugänglich.
Wo arbeiten Sie in drei Jahren?
Ich takte meine Karriere nicht Jahre im
Voraus durch. Jetzt freue ich mich erst mal
auf die tolle Aufgabe bei „T-Online“.
04.2023
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04.2023 83
Story: Zusatzwort

VOGELS KLIMACHECK:
WAS IST BESSER – BIOGAS ODER STROM?
„Beides. Da, wo E-Mobilität an ihre Grenzen stößt, gehen die bei Post und DHL noch einen
Schritt weiter auf dem Weg zum grünen Konzern. Alternativen wie biogasbetriebene LKW
sind dabei superwichtige Bausteine, die schon jetzt im Einsatz sind. Läuft.“

GELB IST GRÜN.

Foto: Vorname Nachname, xxx

Selber checken auf: VogelCheckt.de

84 04.2023
Journalisten
SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS
INHALT
Einleitung 2-3
Vision Backcasting 4-7

Werkstatt Storytelling-Modelle
Zum Ende kommen
Spannend bleiben
8-11
12
13
Profi-Tipps aus der Praxis 14
Checkliste 15

Spannend bis
zum Schluss
Wie Texte bis zum Ende Aufmerksamkeit gewinnen

1
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS

Bis zum guten Ende

Schlussszenen bleiben besonders lange im Gedächtnis.
Höchste Zeit also, dass wir ihnen mehr Aufmerksamkeit widmen. ILLUSTRATION: ADOBESTOCK / SHAWN HEMPEL

Barbara Maas ist freie Journalistin, Trainerin und Coachin. Ihr Herzensthema: Journalismus, den Menschen wirklich wollen.
Inspiration dafür findet sie an Schnittstellen, zum Beispiel zu Innovationsmethoden, Strategie und Technologie. hallo@barbara-maas.de

2
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS
Weiter. Immer weiter
Die Feeds bei Tiktok und Instagram kennen kein Ende. Ein
Inhalt reiht sich an den nächsten und die Algorithmen ziehen
immer neue Kuriositäten aus der Kiste. Binge-Watching ist
längst nicht mehr nur für Netflix-Abonnentinnen reserviert,
in den unterschiedlichsten Streamingdiensten und Mediathe-
ken kann man jederzeit verloren gehen. Der „Zeit“-Podcast
„Alles gesagt?“ endet, wenn der Gast sein Codewort ausspricht –
bis dahin kann es schon mal neun Stunden dauern. Im Fern-
sehen läuft die erfolgreichste Zeichentrickserie der Welt, „Die
Simpsons“, schon seit 1989. Staffel 35 und 36 sind in Planung.
Haben wir verlernt, wie man aufhört?
„Aufmerksamkeit holen und halten“ – so definieren die Jour-
nalisten und Medientrainer Marie Lampert und Rolf Wespe
Storytelling. Das Holen haben viele Kommunikationsprofis
perfektioniert: Die Medienwelt ist voll von lustigen oder dra-
matischen Einstiegen, szenischen Darstellungen und packenden
Zitaten, interessanten Fakten und kurzen Botschaften. Wie man
richtig anfängt? Darüber wird in der Branche viel ge­sprochen.
Das Halten von Aufmerksamkeit funktioniert unterschiedlich
gut, vor allem im Internet. Zehn Sekunden für einen nachricht-
lichen Text, acht Stunden für den nächsten Serien-Marathon.
Und immer das Gefühl, etwas Interessantes zu verpassen.
Menschen, die es unter solchen Umständen doch bis zum
Schluss einer journalistischen Geschichte schaffen, sind Fans.
Am Ende sollten sie belohnt werden. Denn das menschliche
Gehirn liebt Schlussszenen, sie bleiben besonders lange im
Gedächtnis. In der Praxis werden Fans allerdings oft bestraft.
Auf spannende Einstiege und viele interne Cliffhanger folgen
viel zu oft beliebige, langweilige, lieblose Schlusssequenzen.
Und damit enttäuschte Erwartungen.
Was hilft? Ein grundsätzlicher Perspektiv-
wechsel
Journalismus ist mehr als nur eine Aneinanderreihung von
irgendwelchem Content. Journalismus ist eine Erfahrung. Ein
Erlebnis.
So ein Erlebnis lässt sich bewusst gestalten. User Experience
Design ist schon überall: Wenn Sie ein Theater besuchen, im
Fitnessstudio schwitzen oder online einen Staubsauger kaufen,
hat sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit vorher jemand
darüber Gedanken gemacht, wie Sie das alles erleben.
In diesem Verständnis ist ein schlüssiges Ende ein Höhepunkt
und eine Zäsur im Medienerlebnis. Die Leserin, der Zuschauer
oder die Zuhörerin bekommen hier Raum und Gelegenheit,
unterschiedliche Erfahrungen zu verarbeiten und abzugleichen,
Schlüsse zu ziehen, sich eine Meinung zu bilden und selbst
weiterzudenken.
Diese Werkstatt beginnt also ganz am Ende, sogar nach dem
letzten Wort und dem letzten Bild: beim Rezipienten und was
er davon hat. Das ist die methodisch-strategische Grundlage.
Von dort arbeiten wir uns vom Großen zum Kleinen vor: Vor-
gestellt werden verschiedene Storytelling-Modelle, Strategien
für einen guten Schluss und Tipps für einen stabilen Spannungs-
bogen. Immer wieder wird es darum gehen, den Fokus zu
halten.
Ohne diese Konzentration auf den Kern der Geschichte wird
der Schluss misslingen.
Am Ende des Hefts beschreiben drei Autoren außerdem ganz
konkret, wie sie eine Reportage, einen Kommentar und ein
Sachbuch gut zu Ende bringen und wie sie dabei ihren Prozess
organisieren. In ihrer Unterschiedlichkeit zeigen sie, dass es
mehr als einen Weg zum guten Schluss gibt. Schließlich haben
journalistische Arbeit und Storytelling auch viel mit der eige-
nen Persönlichkeit zu tun.
John Irvings Schreibprozess ist seit Jahren öffentlich. Er be-
ginnt die Arbeit an jedem neuen Roman mit dem letzten Satz.
In einem „Spiegel“-Interview antwortete er 2010 auf die Frage,
warum er das so mache:
„Weil ich das Ende brauche, um anfangen zu können. Wenn
du es kristallklar vor dir siehst, wenn du den Standpunkt und
den Ton des Endes hast, dann geht es dir wie mit dem Refrain
eines guten Songs: Du bewegst dich darauf zu, du weißt, dass
der Refrain kommt, und dieses Wissen gibt dir Selbstvertrauen.“
Fans, Fokus und Selbstvertrauen. Es gibt viel zu gewinnen.
Z U D I E S E R W E R K S TAT T
(Vor-)letzte Worte
„Ob die Pläne aufgehen, wird die Zukunft zeigen.“ Hach, so eine
Binse. Wie oft haben Sie solche oder ähnliche Sätze schon am Ende
eines Textes gelesen oder nach einem Bericht gehört – und sich
auch darüber geärgert? Ein Beitrag, egal auf welcher Plattform
oder in welcher Gattung, kann noch so gut sein. Ein banaler,
schlechter Schlussakkord kann alles verderben.
Wie das zu vermeiden ist, wollen wir Ihnen auf den folgenden
Seiten zeigen. In den vielen Werkstätten, die wir bisher in dieser
Reihe produziert haben, ging es schon oft um kreative Ansätze,
Aufbau und Anfänge. Bis hin zur Überwindung von Schreibblocka-
den und der Angst vor dem „leeren Blatt Papier“ (siehe zum
Beispiel die Werkstatt „Kreatives Schreiben“ von Marie Lampert
oder „Kreativität trainieren“ von Barbara Maas, https://shop.
oberauer.com/werkstatt/journalisten-werkstatt).
Aber wir haben uns noch nie explizit einem guten Schluss gewid-
met. Diese Lücke wird diese Werkstatt nun füllen. Denn die Zeiten,
in denen Journalismus-Schülern gepredigt wurde: „Pack die
wichtigen Infos an den Anfang, gekürzt wird von hinten“, sind nun
wirklich längst vorbei. Es gilt, die Spannung aufrechtzuerhalten bis
zum Schluss und im besten Fall das Publikum mit einem Pauken-
schlag „zu entlassen“ oder neugierig auf eine Fortsetzung zu
machen. Drehbuchschreiber von Serien kommen ohne Cliffhanger
nicht aus – ohne gute, überlegt komponierte und spannungsreiche
Schlusssequenzen. So ist es auch mit der Leserbindung. Sie
müssen ja nicht gleich eine vielteilige Reportagen-Serie schreiben.
Aber wir wünschen Ihnen, dass künftig die „letzten Worte“ Ihrer
Beiträge bei Ihrem Publikum so etwas auslösen, was das Ende des
berühmten Filmklassikers „Casablanca“ verheißt: „… Ich glaube,
dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
Annette Milz, Herausgeberin
„medium magazin“ und „Journalisten-Werkstatt“
3
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS
Vision Backcasting
Wie Sie methodisch in drei Schritten ihr Storytelling
stringent zu einem guten Schluss bringen.
Unsere Welt ist voller Erlebnisse: Die Wanderung im Urlaub,
das Konzert, der Kinofilm, das Sommerpicknick im Park. Wo-
ran erinnere ich mich? Anne hat diesen einen wirklich schlech-
ten Witz erzählt und musste selbst so prusten, dass sie das
Tiramisu über die ganze Decke verteilt hat. Aber das Tiramisu
war ein Gedicht. Auf dem Nachhauseweg landeten fünf große
Schwäne direkt vor uns auf dem Landwehrkanal. Die Stadt kam
mir plötzlich still vor. Wir alle schwiegen.
Wenn sich ein Mensch an vergangene Erlebnisse zurückerin-
nert, sind diese Momente besonders präsent. Sie bestimmen
sogar, wie er die gesamte Erfahrung einschätzt. Ein Mensch
hat keine innere Erlebnis-Buchhalterin, die positive und ne-
gative Eindrücke bewertet, aufsummiert und danach einen
fairen Durchschnitt bildet. Stattdessen landen im Gedächtnis:
der intensivste Punkt und der Schluss. Der Rest verblasst.
Das Phänomen ist seit den 1990er-Jahren psychologisch gut
erforscht und trägt den Namen: Peak-End-Regel.
INFO
Die „Peak-End-Regel“
Die Peak-End-Regel basiert auf der psychologischen
Forschung von Barbara Fredrickson und Daniel Kahneman
(der 2002 den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften
erhielt für seine Prospect Theory). In ihrer Studie aus dem
Jahr 1993 stellten sie fest, dass das menschliche Gedächtnis
nur selten eine vollkommen genaue Aufzeichnung von
Ereignissen liefert.
Der Versuchsaufbau: Die Teilnehmer der Studie sollten ihre
Hände in eine Wanne mit kaltem Wasser halten. Das
Experiment wurde in drei Runden durchgeführt:
Runde 1: 60 Sekunden bei 14 Grad Celsius
Runde 2: 60 Sekunden bei 14 Grad Celsius, gefolgt von 30
Sekunden bei 15 Grad Celsius
Runde 3: Wahlmöglichkeit zwischen der Wiederholung von
Runde 1 oder Runde 2
80 Prozent der Probanden entschieden sich dafür, die
längere Runde 2 zu wiederholen. Die nur leicht verbesserten
Bedingungen in den letzten 30 Sekunden veränderten aber
die Wahrnehmung der gesamten Runde 2.
4
Der erste Eindruck bestimmt, ob wir überhaupt Aufmerk-
samkeit und weiteres Interesse aufbringen. Aber der letzte
Eindruck entscheidet, wie wir etwas in Erinnerung behalten.
Erkenntnisse der Psychologie und Neurowissenschaften sind
in den vergangenen Jahren immer wichtiger für die Entwick-
lung von digitalen Produkten und Dienstleistungen geworden.
User Experience Design – oder kurz UX-Design – beschäftigt
sich intensiv mit der Analyse, Gestaltung und Verbesserung
von Nutzungserlebnissen. Onlineshops, Newsportale, Media-
theken und Social-Media-Plattformen sehen nicht zufällig so
aus, wie sie aussehen. UX-Designer treffen Entscheidungen
über Farben und Formen, Bilder, Buttons und Navigation.
Dabei betrachten sie die komplette Erfahrung, also auch Ge-
danken, Emotionen und Bedürfnisse während der Nutzung.
Und diese Erfahrung soll am Ende positiv sein.
Mehr Gewicht auf den Schluss von Geschichten zu legen, ist
also auch eine UX-Entscheidung: Die Wahrscheinlichkeit, dass
Nutzerinnen das journalistische Erlebnis in guter Erinnerung
behalten, steigt bei einem aussagekräftigen, informativen,
schlüssigen Ende. Außerdem spielt eine strategische Überlegung
in die Frage hinein, wie wichtig Redaktionen den Schluss einer
einzelnen Geschichte finden. Sie hat mit veränderten Nutzungs-
gewohnheiten und Trends zu tun: Geht es uns um anonyme
Reichweite, egal woher – oder um Kundenbeziehungen?
Vor zehn Jahren galten die Medienunternehmen Buzzfeed und
Vice Media als Prototypen für einen modernen und zukunfts-
fähigen Journalismus. Sie wurden vielfach kopiert, vor allem
hinsichtlich Reichweite und einem Hang zu Clickbait. Im A ­ pril
teilte Buzzfeed mit, seine Newssparte einzustellen. Vice Media
soll insolvent sein.
Wenn es nur um Reichweite für mehr Werbeeinnahmen geht,
ist der Schluss einer Geschichte nicht so wichtig fürs Geschäft.
Wenn es um die Bindung von Leserinnen und Lesern, die Schaf-
fung von journalistischen Erlebnissen geht, ist das Ende essen-
ziell. Testen Sie sich selbst und starten Sie bei Ihren eigenen
Nutzungserlebnissen:
Welche Geschichte haben Sie zuletzt bis zum Schluss verfolgt?
Welchen Roman, welches Sachbuch, welchen Film, welche
Serie, welche Dokumentation?
Erinnern Sie sich an den Schluss! Wie haben Sie sich gefühlt?
Was haben Sie mit dieser Geschichte in Ihrem Leben gemacht?
Was war anders?
Vielleicht hatten Sie neue Gedanken, haben interessante Ge-
spräche geführt, Verhalten geändert. Um genau diese Form von
Impact bei Medienrezipienten geht es. Hilfe bekommen wir
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS
von einer Methode, die eigentlich nichts mit Journalismus zu
tun hat: Vision Backcasting.
Drei Schritte des Vision Backcasting
Vision Backcasting ziehen Führungspersonen, Teams und Un-
ternehmensberatungen heran, wenn sie strategische Entschei-
dungen vorbereiten und treffen wollen.
Sie werfen zuerst einen Blick nach vorn: Wo wollen wir in einer
nahen oder fernen Zukunft stehen – in zwei, fünf oder 20 Jahren?
Was ist unsere Vision von diesem Zeitpunkt? Wie spiegeln sich
unsere Werte dort wider? Was in der Welt haben wir durch
unsere Arbeit erreicht? In einem zweiten Schritt werden die
einzelnen Schritte zurück in die Gegenwart definiert: Etappen-
ziele, nötige Entwicklungen und Ressourcen. Wie könnten
mögliche Wege zu dieser Vision aussehen? Der dritte hilft Ihnen,
bis zum guten Ende durchzuhalten.
Vision Backcasting wird zum Beispiel genutzt, um Start-ups
in die Spur zu bringen, große Unternehmen zu verändern,
digitale Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln oder zu
verbessern und Lehrpläne an Hochschulen zu gestalten. Jour-
nalistische Geschichten lassen sich genauso strategisch angehen.
Das Beste: Es ist einfacher und effizienter, als es klingt.
Und so funktioniert es: Sie haben recherchiert. Das Material
liegt vor Ihnen. Um mehr Klarheit für ein stringentes, wir-
kungsstarkes Stück Journalismus zu schaffen, fragen Sie sich
nun als Erstes:
1. Für wen schaffe ich ein Erlebnis?
Definiere die Zielgruppe!
Wer soll sich für diese Geschichte interessieren? Hand aufs Herz:
Die einfachste Zielgruppe heißt „Menschen wie ich“. Ich ar-
beite seit 15 Jahren im Journalismus und schreibe diesen Text
für ein Fachmagazin, das sich an Journalistinnen und Journa-
listen richtet. Vielleicht kennen wir uns sogar persönlich oder
laufen uns demnächst über den Weg.
Lokaljournalisten stehen in der Regel in derselben Supermarkt-
Schlange wie ihr Publikum. Und „junge“ Formate bei Tiktok,
Youtube und Instagram scheinen dann besonders gut zu funkti-
onieren, wenn sie sich Leute aus der Zielgruppe ausgedacht haben.
Wer mit der eigenen Zielgruppe ins Gespräch kommt, entdeckt
noch viel mehr: Wünsche und Bedürfnisse, Nutzungsgewohn-
heiten, Alltagsprobleme und thematische Interessen. Deshalb
sollten Journalisten ständig mit Nicht-Journalisten über Jour-
nalismus reden. Vor allem: zuhören. Ohne dabei schon Mate-
rial für die nächste Geschichte zu sammeln.
Man kann sehr viel Arbeit und Zeit in die Definition und Wei-
terentwicklung von Zielgruppen stecken: Alter, Ausbildung
und Arbeit, Wohnort, Konsumgewohnheiten, Interessen.
Oft ist es schwieriger: Journalismus folgt vielerorts noch den
traditionellen Regeln der Massenkommunikation und richtet
sich in dieser Form an ein disperses Publikum: Die Menschen
sind räumlich und zeitlich verstreut, sie kennen sich nicht
untereinander, und eine homogene Gruppe zu formulieren,
fällt schwer.
Eine Alternative zur klassischen Zielgruppenarbeit sind Neo-
Tribes. Mit diesem soziologischen Konzept lassen sich Menschen
im Kontext treffend und vergleichsweise einfach beschreiben.
Den Begriff hat der französische Soziologe Michel Maffesoli
schon 1988 geprägt. Das Modell taucht aber aktuell immer
wieder auf – zum Beispiel bei den Trendprognosen des Zu-
kunftsinstituts, einem Beratungsunternehmen aus Frankfurt
am Main. Die Idee hinter den Neo-Tribes: Die postmoderne
Massengesellschaft schafft eben keine Masse von Individuen –
sie organisiert sich abseits von traditionellen Institutionen und
Strukturen in kleineren Gruppen.
Menschen schließen sich in Neo-Tribes zusammen, weil sie
Werte, Interessen oder eine bestimmte Ästhetik teilen. Sie
finden in diesen Tribes Sicherheit, Geborgenheit und Raum für
ihre Emotionen. In bestimmten Tribes können das Einkommen,
das Alter oder der Familienstand eine Rolle spielen, in anderen
ist das völlig egal. Menschen können sich im Internet über
Kontinente hinweg miteinander zu Gruppen verbinden oder
vor Trinkhallen treffen.
Neo-Tribes bilden sich zum Beispiel rund um Festivals wie
Burning Man in den USA oder das Wacken Open Air in Deutsch-
land. Auch Themen wie Kaffee, Fahrradfahren, New Work,
Gaming, Minimalismus, Techno, Star Trek, Lindy Hop, gesun-
de Ernährung, Krypto-Währungen, Spiritualität, Klimaschutz,
Fußball oder Chancengerechtigkeit bringen Neo-Tribes hervor.
Bestimmte Nachbarschaften lassen sich ebenfalls als Neo-­Tribes
interpretieren, wenn sie eine gemeinsame gefühlte Identität
stiften. In Dörfern kann es Tribes um die „Alteingesessenen“
und die „Zugezogenen“ geben.
Ein vollständiger aktueller Überblick ist quasi unmöglich,
denn Neo-Tribes sind fluide. Sie ändern sich ständig, werden
geboren und sterben, und es gibt unüberschaubar viele. Men-
schen können mehreren Tribes gleichzeitig angehören und sie
auch jederzeit still wieder verlassen.
In unserem Fall ist diese Flüchtigkeit ein Vorteil: Wir versuchen
gar nicht erst, ein genaues Abbild der Gesellschaft zu erstellen.
Die Tribes sind nicht repräsentativ, sondern allein geprägt
durch Ihre persönliche Wahrnehmung. Vertrauen Sie Ihrer
Erfahrung und Ihrer Intuition. Was verbindet die Menschen,
die Ihre Geschichte erfahren wollen? Finden Sie einen treffen-
den Oberbegriff für den internen Gebrauch. Nennen Sie drei
Merkmale, die die Menschen dieses Tribes beschreiben. Das
können Werte, Vorlieben oder Codes wie Sprache, Kleidung
und Statussymbole sein.
2. Was für ein Erlebnis ist das?
Entwickele eine Vision!
Eine Vision motiviert zum Weitermachen, auch wenn es schwie-
rig ist. Als Leitbild bietet sie Orientierung bei schwierigen
Entscheidungen. Und als Konzept ist die Vision gerade schwer
in Mode. Sie kann uns auch einschüchtern, weil sie nach Gro-
ßem klingt. Manche denken an Martin Luther King und „I have
a dream!“, andere an Ada Lovelace und ihre Vision einer text-
verarbeitenden Maschine, rund 100 Jahre vor der Zeit. Visionen
dürfen aber auch einige Nummern kleiner ausfallen. In diesem
Fall, für diese Geschichte, ist Ihre Vision für die Rezipienten
nur ein Arbeitsmittel. Sie müssen niemandem davon erzählen,
dürfen es aber natürlich.
Ich hänge übrigens nicht an dem Begriff „Vision“. Im Kontext
von New Work und Teamführung sprechen viele von ­„Purpose“,
5
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS
also Daseinszweck. Der US-amerikanische Berater und Autor
Simon Sinek appelliert in seinem gleichnamigen Buch aus dem
Jahr 2009: „Start with why“. Impact. Suchen Sie sich eine
dieser Vokabeln aus, die Ihnen am besten gefällt.
Am wichtigsten ist aber, dass Sie sich fragen:
Was wollen Sie für Ihre Zielgruppe, die Menschen in diesem
Neo-Tribe, erreichen? Was ist in der Zukunft, in der Ihre
Geschichte existiert, anders?
Wie soll die Person danach durch ihr Leben gehen? Infor-
miert? Aufgeklärt? Inspiriert? Motiviert? Motiviert wozu?
Optimistisch? Vorsichtig? Schockiert? Aufgerüttelt?
Keine Ahnung, wie das funktionieren soll? Hier kommen zwei
alternative Vorschläge – je nach Ihrem persönlichen Arbeits-
stil:
Variante A: Sie arbeiten lieber frei und assoziativ
Suchen Sie sich einen Ort, an dem Sie sich gut konzentrieren
können und inspiriert fühlen. Nehmen Sie einen Stift und ein
Blatt Papier oder Ihr Notizbuch zur Hand. Schreiben und krit-
zeln Sie drauflos. Wenn alles wunderbar gelaufen ist, fragen Sie
sich:
Was ist anders, wenn diese Geschichte in der Welt ist?
Was heißt das für die Menschen in der Zielgruppe – ganz
konkret in ihrem Alltag?
Was heißt das für Protagonisten und Protagonistinnen?
Was heißt das für die Gesellschaft?
Schreiben Sie auf, was Ihnen intuitiv in den Kopf kommt. Spie-
len Sie mit verschiedenen Szenarien. Nehmen Sie sich nicht zu
viel Zeit: 20 Minuten sind perfekt. Schauen Sie sich dann Ihren
Zettel an. Können Sie die Vision in wenigen Stichpunkten oder
zwei bis drei Sätzen zusammenfassen?
PRAXIS I
Fragen an die Zielgruppe
Für den Moment reicht es völlig, sich zu fragen, was Sie für Ihre
Zielgruppe bzw. den Neo-Tribe erreichen wollen. Welche
Nutzungsvision oder welcher User Need passt zu diesen
Menschen? Im weiteren Verlauf Ihrer Arbeit am Text, Film oder
Podcast können Sie sich außerdem mit diesen Aspekten
beschäftigen:
Wofür interessieren sich diese Menschen besonders?
Was wissen sie schon über das Thema? Was können Sie
voraussetzen, was müssen Sie erklären?
Gibt es geteilte Werte? Statussymbole? Gewohnheiten?
Welche Sprache sprechen sie? Wie stehen sie zu Gender-
sternchen? Fachsprache? Jugendsprache? Modewörtern?
Wie unterhalten sie sich mit ihren Freundinnen?
6
Variante B: Sie arbeiten lieber strukturiert und zielgerichtet
Überall in der Medienwelt sprechen Unternehmen und Redak-
tionen mit Menschen aus ihren Publika und werten ihr Nut-
zungsverhalten aus. Sie wollen sie besser verstehen, Cluster
finden und Schlüsse für besseren und attraktiveren Journalis-
mus treffen. Sie dürfen also auf bestehenden Erkenntnissen
aufbauen – zum Beispiel auf das User Needs Model.
Der Digitalexperte Dmitry Shishkin hat schon 2017 für die
BBC allgemeine Nutzungsbedürfnisse identifiziert und daraus
das User Needs Model entwickelt. Shishkin hat im vergangenen
Jahr das Modell zusammen mit dem Beratungsunternehmen
Smartocto weiterentwickelt.
Im Zentrum stehen jetzt acht Nutzungsbedürfnisse beim
Medienkonsum, und zwar in vier Kategorien:
WISSEN
Halte mich auf dem Laufenden (Keep me engaged)
Bringe mich auf den neuesten Stand (Update me)
VERSTEHEN
Erkläre es mir (Educate me)
Zeige mir eine neue Sichtweise (Give me perspective)
FÜHLEN
Inspiriere mich (Inspire me)
Lenke mich ab (Divert me)
MACHEN
Vernetze mich mit anderen (Connect me)
Hilf mir (Help me)
PRAXIS II
Zeitbudget für die Vorarbeit
Für das Vision Backcasting brauchen Sie insgesamt etwa 60 bis
90 Minuten. Sie haben keine Zeit für diese ganzen Vorüberle-
gungen? Die Deadline drückt? Einfach loslegen, die Geschichte
sich entwickeln lassen: Manchmal geht das gut. Vor allem bei
kürzeren Storys und wenn Kernthese und Aufbau sich logisch
aus der Recherche ergeben.
Doch wenn es viel zu erzählen gibt und der Überblick fehlt,
können Sie sich leicht verheddern. Was ist wichtig, was nicht?
Diese Unterscheidung fällt dann umso schwerer, wenn Sie sich
nicht zu Beginn überlegt haben, wohin Ihre Geschichte führen
soll. Einen Erzählfaden wieder zu entwirren, kostet noch viel
mehr Zeit, Mühe und Nerven als die strategischen Überlegun-
gen am Anfang.
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS

Hinter dem User Needs Model steht die Frage, welche Funkti-
on oder Aufgabe ein Text oder ein Beitrag für die Rezipienten
TIPPS
erfüllt. Es hilft vor allem, bei großen Mengen von journalisti- zum Weiterlesen und Weiterschauen:
schen Inhalten Cluster zu bilden und sukzessive herauszufinden,
welche Art ein Publikum findet. Youtube-Video: Dmitry Shishkin beim International Journalism
Das Modell eignet sich aber auch dafür, der eigenen Geschich- Festival in Perugia 2023
te Fokus und damit einen treffenden Schluss zu schenken. https://tinyurl.com/PERUGIA2023
Und so funktioniert es:
Nehmen Sie sich 20 Minuten Zeit. Schauen Sie sich die ver- Neo-Tribes beim Zukunftsinstitut
schiedenen User Needs an. Stellen Sie sich Ihre Zielgruppe https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/wir-gesellschaft/
vor. Wie sieht die Erfüllung eines der Bedürfnisse ganz kon- neo-tribes/
kret im Leben eines Menschen aus der Zielgruppe aus, wenn
der Text gelesen, der Podcast angehört, der Film angeschaut
John Whalen: Think Human – Kun-
wurde?
denzentriertes UX-Design (2019)
Das ist Ihre Vision für dieses Projekt. Fassen Sie sie in einigen
Wer die bewussten und unbewuss-
Stichpunkten oder zwei bis drei Sätzen zusammen. Sie kön-
ten Denkprozesse der Kunden kennt,
nen auch schon Arbeitstitel und Teaser formulieren. trifft bessere Entscheidungen. In
Dmitry Shishkin selbst macht übrigens immer wieder deutlich, dieser Einführung erklärt John
dass sich Redaktionen zu viel mit „Update me“-Content – also Whalen anhand vieler Beispiele die
klassischen Nachrichten – beschäftigen und zu wenig mit sechs Erfahrungsebenen der User
anderen Bedürfnissen. Spielen Sie also gern mit verschiedenen Experience.
User Needs und ihren Auswirkungen – vor allem mit denen,
die sich nicht leicht für Sie anfühlen.

3. Wie stricke ich den Faden zu Ende?

Sortiere das Recherchematerial
Wie erreichen Sie diese Vision, dieses Gefühl am Schluss für
Ihre Leser? Wie kommen Sie dorthin?
Simon Sinek: Start with why – How
Bringen Sie Ihr Material in eine Ordnung – und richten Sie
Great Leaders Inspire Everyone to
alles auf diese Vision aus. Alles, was Sie dafür brauchen, ist
Take Action (2011)
ein Zeitstrahl mit einem Anfang und einem Ende. Das ist der
Ein Klassiker, wenn es um Strategie,
Verlauf Ihrer Geschichte. Oder das Nutzungserlebnis für Ihr
Leadership und Storytelling geht. Für
Publikum. Sie können Zettel oder Karteikarten beschriften
Simon Sinek steht am Anfang einer
und auf dem Schreibtisch, an einer Wand oder auf dem Fuß- jeden Erfolgsgeschichte eine
boden sortieren. Ein digitales Whiteboard wie Mural, Miro einfache Frage: Warum?
oder Conceptboard ist praktisch, wenn Sie oft den Arbeits-
platz wechseln.
Am Ende des Zeitstrahls steht Ihre Vision. Notieren Sie sie
und platzieren Sie sie am Ende Ihres Zeitstrahls.
Legen Sie Protagonisten fest. Wer steht im Mittelpunkt Ihrer
Geschichte? Notieren Sie die Person und platzieren Sie die-
se Information am Anfang des Zeitstrahls.
Halten Sie die wichtigsten Bausteine fest: Kernszenen und
Beobachtungen, Zitate, Fakten. Daniel Kahneman: Schnelles Denken,
Identifizieren Sie Höhepunkte Ihrer Geschichte. langsames Denken (2016)
Entscheiden Sie, welche Elemente Sie für den Schluss der Nobelpreisträger Daniel Kahneman
Geschichte verwenden. Was unterstützt Ihre Vision für den (Miterfinder der „Peak-End-Regel“)
Text? zeigt hier sehr gut, welchen menta-
Spielen Sie mit der Reihenfolge. len Mustern wir Menschen folgen
Bewahren Sie diesen Zeitstrahl auf, bis Ihre Geschichte ver- und wie wir uns gegen verhängnis-
öffentlicht wurde. Sie dürfen Dinge ändern und verschieben, volle Fehlentscheidungen wappnen
Details ergänzen. Wichtig ist, dass Sie sich dieses Konzept können.
immer wieder im Prozess anschauen und vor Augen führen.

Sie sind unsicher oder unzufrieden mit der Reihenfolge und

dem dramaturgischen Aufbau Ihrer Geschichte? Im nächsten
Kapitel finden Sie Hilfe.

7
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS
Modelle des Storytellings
Fünf Wege für gute Geschichten
und ihre Schlussakkorde.
Menschen erzählen sich seit Jahrtausenden Geschichten. In
diesen Erzählungen kristallisieren sich Vorstellungen darüber,
wie die Welt funktioniert. Wie erzählt man eine gute Geschich-
te? Wie ist sie angelegt? Fünf Storytelling-Modelle – und was
sie für das Ende bedeuten.
1. Drei Elemente der Handlung
ANFANG MITTE SCHLUSS
Anfang, Mitte, Schluss. Diese drei Teile braucht es laut Aristo-
teles für eine Handlung. Klingt banal?
Anfang, Mitte und Schluss sind in diesem Modell aus der
Antike nicht gegenseitig austauschbar: Alles steht an seinem
Platz, eines führt zum nächsten. Weil die drei Teile in einem
kausalen Zusammenhang stehen, erzeugen sie für die Leserin,
den Zuhörer oder die Zuschauerin Bewegung, Spannung und
schließlich Sinn. Durch die Handlung gibt es ein klares Vorher
und Nachher. Dazwischen hat sich etwas geändert. In Aristo-
teles Poetik liest sich das so:
„Ein Anfang ist, was nicht mit Notwendigkeit auf etwas an-
deres folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes
eintritt oder entsteht.
Eine Mitte ist, was sowohl auf etwas anderes folgt als auch
etwas anderes nach sich zieht.
Ein Ende ist, was natürlicherweise auf etwas anderes folgt,
und zwar notwendigerweise, während nach ihm nichts ande-
res mehr eintritt.“
Der Schluss einer journalistischen Geschichte steht also not-
wendig am Ende, nicht zufällig. Der Beitrag hört bestenfalls
nicht einfach auf, weil kein Material mehr da war oder die
Autorin alles Interessante am Anfang verfeuert hat, um Auf-
merksamkeit für die Geschichte zu gewinnen. Am Schluss
ergibt alles Erzählte einen Sinn.
Mehr als das: In der Poetik des Aristoteles geht es um emoti-
onale, erlebte Veränderung. Auf dem Höhepunkt der klassischen
Tragödie erfährt das Publikum eine Katharsis, eine Läuterung
der Seele. Nicht nur auf der Bühne ist danach etwas anders,
sondern auch bei den Menschen, die diese Geschichte nach-
empfinden. Damit es zu diesem Moment der Entladung kommt,
8
braucht es Identifikation mit den handelnden Personen. Die
Menschen im Publikum verfolgen das Geschehen mit „Mitleid,
Angst und Furcht“. Sie fiebern mit.
2. Die Storykurve
EMOTIONEN
ZEIT
Aufbauend auf die Poetik des Aristoteles wurden viele Erzähl-
Modelle entwickelt, vor allem in der Literaturwissenschaft.
Zum Beispiel haben Franz Lang (1645–1725) und Gustav Frey-
tag (1816–1895) berühmte Dramaturgiekurven entwickelt. Das
Schema: Die Handlung steuert kontinuierlich auf einen Höhe-
punkt im dritten von fünf Akten zu, um dann nach dem Wen-
depunkt wieder abzuflachen und in der Lösung oder Kata­strophe
zu enden.
Für den Journalismus hat der Schweizer Journalist Peter Zül-
lig in den 90er-Jahren die „Storykurve“ entwickelt und in der
journalistischen Ausbildung gelehrt. Marie Lampert und Rolf
Wespe stellen Zülligs Modell in ihrem Buch „Storytelling für
Journalisten“ vor. Die Storykurve zeigt die Stärke des emoti-
onalen Appells einer Geschichte im Verlauf der Zeit.
Eine gute journalistische Geschichte steigt mit einem emoti-
onalen Höhepunkt ein. Den Gedanken dahinter beschreiben
Lampert und Wespe so: „Ein emotionales Erlebnis schafft die
Bereitschaft, Information aufzunehmen. Es entsteht ein soge-
nannter Nachhall.“
Dieser Punkt auf der Storykurve schafft Raum für die eigent-
liche Einleitung und Hintergrundinfos. Der zweite emotiona-
le Höhepunkt liegt am Schluss der Geschichte. Alles Erzählte
führt dorthin.
Interessant: Folgt man der Storykurve, steigt man zwar hoch-
emotional ein. Der Anfang ist aber nicht interessanter, packen-
der, spannender als der Schluss, sondern liegt im emotionalen
Appell noch ein bisschen darunter.
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS

3. Die Heldenreise
J. R. R. Tolkiens „Herr der Ringe“, „Star Wars“ von George Rückkehr
Lucas, der „Froschkönig“ und die Geschichte um den Religi- 12
onsstifter Buddha folgen demselben Muster – der Heldenreise. Verwandlung 11 1 Gewohnte Welt
Der Mythenforscher Joseph Campbell untersuchte in den 1980er-
Jahren Tausende Erzählungen, Märchen und Mythen unter- Rückweg 10 Ruf zum
2
schiedlicher Epochen und Kulturkreise – und fand erstaunliche Abenteuer
Parallelen im Aufbau.
Seitdem wird sein Modell der Heldenreise in unterschiedlichen Lohn 9 Heldenreise 3 Weigerung
Kontexten angepasst und angewendet, zum Beispiel in der
Kunst, im Content-Marketing oder im persönlichen Coaching.
Kampf
4 Mentor
Die Heldenreise beschreibt stets persönliche Transformati- um 8
on, das Bezwingen von Widerständen, den Kampf von Gut Entscheidung
7 5 Überschreiten der
gegen Böse. Vordringen in 6 ersten Schwelle
Der Held oder die Heldin kehrt verändert zurück. die tiefste Höhle
Nicht jeder Held gewinnt, auch Antihelden kommen vor. Bewährungs-
proben / Verbündete
Das Modell wird als Kreislauf angelegt. Und in jedem Ende
einer Heldenreise, in jeder neuen Weltordnung ist schon die 8 Entscheidungskampf
Heldenreise einer anderen Person angelegt. Manche gehen von Nun wartet die äußerste, schwierigste Prüfung auf den
sieben Schritten einer Heldenreise aus, andere von 18. Helden. Es geht um alles.
Populär ist das Zwölf-Schritte-Modell des Hollywood-Dreh-
buchberaters Christopher Vogler. Es funktioniert so: 9 Belohnung / Schwert / Elixier
Er nimmt die Belohnung an sich.
1 Gewohnte Welt Er birgt den Schatz.
Der Held wird in seiner gewöhnlichen Umgebung vorgestellt. Er ergreift das Schwert.
Er findet das Zauberelixier.
2 Ruf zum Abenteuer
Er erhält seine Berufung. Nur der Held kann ein Problem 10 Rückweg
lösen, seine Familie oder gleich die ganze Welt retten. Nach der erfolgreichen Mission macht sich der Held auf
den Rückweg nach Hause.
3 Weigerung des Helden Dabei wird er von seinen Feinden verfolgt.
Der Held zögert aber und möchte lieber zu Hause bleiben.
Er hat Angst. 11 Erneuerung / Verwandlung
Er hat Besseres zu tun. Der Held überschreitet eine dritte Schwelle. Er wird durch
diese Erfahrung grundlegend in seiner Persönlichkeit ver-
4 Mentor oder übernatürliche Hilfe wandelt.
Ein Mentor tritt auf und ermutigt ihn, doch ins Abenteuer
zu starten. Es können auch Träume, Geister oder Götter im 12 Rückkehr in die alte Welt
Spiel sein. So verändert kehrt der Held in die alte Welt zurück. Dorthin
bringt er die Belohnung.
5 Überschreiten der ersten Schwelle Die Rückkehr läuft nicht reibungslos. Sein gewohntes Zu-
So gestärkt macht der Held den ersten Schritt ins Abenteu- hause hat sich ebenfalls verändert oder er passt nicht mehr
er. Er verlässt seine gewohnte Welt. in dieses Idyll.

6 Bewährungsproben / Verbündete Die veränderte, neue Welt wird für eine andere Heldin oder
Er muss seinen Mut, seinen Scharfsinn und sein Durchhal- einen Helden zur gewohnten Welt – und ein neuer Kreislauf,
tevermögen unter Beweis stellen. ein neues Abenteuer inklusive Erkenntnis, Selbstfindung
Während der ersten Aufgaben trifft er auf Feinde und findet und Transformation beginnt.
Verbündete.

7 Vordringen in die tiefste Höhle

Der Held muss eine weitere Schwelle überschreiten und
dringt in die tiefste Höhle vor. Manchmal heißt diese Sta-
tion auch „Bauch des Walfischs“.

9
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS
4. Episodenerzählung
EPISODE 2
EPISODE 1 EPISODE 3
Was, wenn es mehr als eine Heldin in Ihrer Geschichte gibt?
Was, wenn es Ihnen mehr um Gemeinschaft geht als um Er-
folgsstorys exponierter Personen? Was, wenn Sie bewusst ver-
schiedene Perspektiven auf ein komplexes Thema beleuchten
wollen?
Episodenerzählungen haben vor allem im Film Tradition.
„New York, I love you“ (2009) von elf verschiedenen New
Yorker Regisseuren und „The French Dispatch“ (2021) von Wes
Anderson sind berühmte Beispiele. Unterschiedliche Protago-
nisten werden in ihren Geschichten gezeigt, verschiedene
Mini-Geschichten aneinandergereiht. Jede Episode folgt ihrer
eigenen Dramaturgie. Verbunden sind sie oft über Raum und
Zeit: Oft spielen Episodenfilme in der Großstadt, zum Beispiel.
Hier finden sich mehr Möglichkeiten der Überkreuzungen, die
für die Übergänge nötig sind: geteilte Freundeskreise, geteilte
Verkehrsmittel und Cafés, geteilte Alltagsgegenstände.
Die starre Struktur von drei oder fünf Akten ist in Episoden-
erzählungen aufgelöst. Prinzipiell sind die Episoden miteinan-
der austauschbar. Die einzelnen Teile folgen eher der Struktur
von modernen Kurzgeschichten mit unmittelbarem Beginn,
geringer Anzahl von Charakteren, einem chronologischen
Aufbau und offenem Schluss.
Basishandlung
Episode 1 Episode 2 Episode 3 Episode 4 Episode 5
Als eine besondere Form erwähnen Lampert und Wespe die
Gondelerzählung:
Eine Basishandlung sorgt für Kontinuität. Sie ist das Seil der
Gondelbahn. Entlang dieser Handlung werden unterschiedli-
che Episoden mit unterschiedlichen Protagonistinnen erzählt.
10
5. Rahmenerzählung
Binnenhandlung
RAHMENHANDLUNG/KOMMENTARE
Rahmenerzählungen sind beliebt. In der Literatur, im Film, im
Journalismus. Denken Sie an James Camerons „Titanic“ (1997)
oder „Forrest Gump“ (1994) von Robert Zemeckis, in denen
die Heldin und der Held sich jeweils an ihre Lebensgeschichten
erinnern. Denken Sie an Theodor Storms Novelle „Der Schim-
melreiter“, die aktuelle Netflix-Serie „Painkiller“ über die
Opiumkrise in den USA oder an die Mutter aller Rahmener-
zählungen „1001 Nacht“:
Die schöne Scheherazade erzählt Nacht für Nacht Geschichten,
um ihr Leben zu retten. Eigentlich soll sie am Morgen hinge-
richtet werden, doch hört sie am Ende der Nacht immer an
einer so spannenden Stelle auf zu erzählen, dass der König,
gefesselt von ihrer Geschichte, unbedingt am nächsten Abend
die Fortsetzung hören will und die Hinrichtung immer wieder
aufschiebt. Cliffhanger haben viel Macht.
Erzählt wird in diesem Modell auf zwei Ebenen: Der Rahmen
ist meistens eine Gesprächssituation, in der mündlich erzählt
wird. In der Binnenhandlung folgt die Erzählung oft einer
chronologischen Reihenfolge, mit einem Höhepunkt und
Schluss. In der Rahmenhandlung wird kommentiert. Auf bei-
den Ebenen gibt es übrigens eine Handlung, also ein Vorher
und ein Nachher.
Die Vorteile für journalistische Stücke: Sie können ihre Haupt-
Protagonistin in einem szenisch passenden Umfeld einführen,
innerhalb der Binnenhandlung sind Rückblenden möglich,
auch Kommentare und Selbstreflexionen der Protagonistin
lassen sich gut einflechten.
Eine Rahmengeschichte funktioniert aber nur dann gut, wenn
man sie ernst nimmt und durchzieht. In der Praxis werden
Rahmen- und Binnenhandlung manchmal nicht klar genug
voneinander getrennt: Da kommentiert die Protagonistin fröh-
lich und ohne Übergang die Szene aus der Vergangenheit, in
der sie gerade steckt. Oder die Rahmenhandlung trägt nicht
richtig, weil einfach nichts passiert.
Entscheidet man sich für eine Rahmenerzählung, fällt zumin-
dest der Schluss in der Regel leicht: Man geht einfach zurück
zum Anfang. Man spricht hier auch von einer „circular story“.
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS

ÜBUNGEN
TIPPS
zum Weiterlesen:
1. Das Märchen-Prinzip
Christopher Vogler, Frank Kuhnke (1998): Die Odyssee des
Aus Märchen lässt sich viel für die journalistische Arbeit Drehbuchschreibers – Über die mythologischen Grundmuster
lernen. Am Ende steht dort stets ein Ziel, eine Moral oder des amerikanischen Erfolgskinos. Zweitausendeins; 6. Edition
eine Erkenntnis: Im Schluss kristallisiert sich die Kernaussa- (1. Oktober 2010)
ge. Was war Ihr Lieblingsmärchen als Kind? Lesen Sie es
noch einmal – am besten in einer Originalversion und nicht
im Bilderbuch. Achten Sie auf Aufbau, Bilder, Sprache. Und Aristoteles: Poetik. Übersetzt und
herausgegeben von Manfred
natürlich auf den Schluss.
Fuhrmann. Reclam 1994.
Mein persönliches Lieblingsmärchen: „Die kleine Meer-
Handlung, Mimesis, Katharsis: Nach
jungfrau“ von Hans Christian Andersen. Bei Disney später
2000 Jahren hat das antike Ver-
heiratet Arielle den Prinzen und wird zum Menschen. Bei
ständnis guter Geschichten noch
Andersen aber passen Mensch und Seejungfrau einfach
immer Gewicht. Ein Blick ins Original
nicht zusammen. Das Ende verspricht der Seejungfrau
lohnt sich.
Transformation und Gemeinschaft, allerdings woanders:
„Auf dem Schiffe war wieder Lärm und Leben, sie sah den
Prinzen mit seiner schönen Braut nach ihr suchen; wehmü-
tig starrten sie den perlenden Schaum an, als ob sie
wüssten, dass sie sich in die Fluten gestürzt habe. Unsicht-
bar küsste sie die Stirn der Braut, lächelte ihn an und stieg
mit den übrigen Kindern der Luft auf die rosenrote Wolke
hinauf, die den Äther durchschiffte.“
Marie Lampert, Rolf Wespe:
2. Sieben Versionen Ihrer Geschichte Storytelling für Journalisten – Wie
baue ich eine gute Geschichte?
Vor lauter Material sind Sie ratlos, wie Sie Ihre Geschichte (Von Halem Verlag, 2020, 5. Aufl.)
aufbauen sollen? Probieren Sie verschiedene Plots aus, um In diesem Praxis-Handbuch geht es
zu sehen, welcher besonders gut sitzt. Dabei helfen die um Zutaten für eine gute journalisti-
„Seven Basic Plots“ des britischen Journalisten Christopher sche Geschichte: Kreativität und
Brooker (2004) – nach den von Psychiater C. G. Jung Können. Tipps gibt es für beides.
entwickelten Archetypen. Der Aufbau fällt leichter, wenn Sie
sich diese Fragen stellen und für einen Plot entscheiden:
1. Der Sieg über das Monster: Kämpft Ihre Heldin gegen
„das Böse“? Handelt es sich dabei um innere Dämonen,
ge­sellschaftliche Strukturen, Organisationen oder
Menschen?
2. Vom Tellerwäscher zum Millionär: Gibt es eine Erfolgs- Joseph Campbell: Der Heros in
oder Aufstiegsgeschichte zu erzählen? tausend Gestalten, Insel TB 2011.
3. Die Suche: Ist Ihre Protagonistin auf der Suche – nach Der Klassiker zur Heldenreise,
einem Schatz, „dem heiligen Gral“, einer Erkenntnis? Wer erstmals veröffentlicht im Jahr 1949,
steht ihr als Team zur Seite? Wird diese Mission erfüllt? ist voll von umfassenden Vergleichen
4. Reise und Rückkehr: Muss der Protagonist Ihrer Geschich- verschiedener Kulturkreise und von
te sein Zuhause verlassen und Erfahrungen sammeln, um tiefenpsychologischen Deutungen.
eine innere/äußere Transformation zu erleben?
5. Die Komödie: Funktioniert die Geschichte als Aneinander-
reihung lustiger, lehrreicher Missgeschicke mit Happy End?
6. Die Tragödie: Scheitert Ihr Held am Ende trotz aller
Bemühungen?
7. Wiedergeburt: Steht am Anfang eine fragwürdige
Entscheidung, ein „Pakt mit dem Teufel“? Muss Ihre
Heldin einen persönlichen Tiefpunkt erleben, um Reue zu
empfinden und dann das eigene Leben zu ändern? Ist sie
am Ende ein besserer Mensch?

11
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS
Schluss jetzt!
Acht Wege, wie Geschichten zu einem
furiosen Ende führen können.
Am Ende einer Geschichte wird deutlich, ob ich prägnant und
fokussiert erzählt oder argumentiert habe. Das gilt für Repor-
tagen genauso wie für Kommentare. Manche Artikel, Beiträge,
Podcasts oder Sachbücher hören aber einfach so auf. Ohne
Pointe, ohne erkennbares Fazit, ohne Emotion. Acht Vorschlä-
ge, wie es besser geht.
1. Show, don’t tell!
Zeigen statt erklären – dieser Tipp gilt fürs Erzählen insgesamt.
Am Schluss wird dieses Prinzip aber gern vergessen. Alle guten
Ideen scheinen aufgebraucht, alle Emotionen beschrieben.
Wählen Sie für das Ende eine wirkungsvolle Szene oder ein
Zitat aus, an der oder dem sich die Kernaussage des Textes
kristallisiert. Lassen Sie diese Elemente für sich stehen. Ver-
meiden Sie wertende Adjektive wie „dramatisch“, „furchtbar“
oder „wunderschön“. Zeigen und beschreiben sie: Wie zeigt
sich die dramatische, furchtbare oder wunderschöne Situation?
2. Halten Sie den Fokus!
Viel zu oft enden Geschichten mit Zitaten von Nebenpersonen
oder mit unwichtigen Szenen. Das wirkt zufällig und lässt
Rezipienten verwirrt zurück. Besinnen Sie sich auf die Prota-
gonistin, den Hauptstrang der Geschichte, den Fokus und Ihre
Kernthese. Und auf die Handlung: Was hat sich verändert?
3. Wagen Sie einen Ausblick, aber bitte
­machen Sie am Ende kein neues Fass auf!
Ein Ausblick in die Zukunft kann ein gutes Ende für eine Ge-
schichte sein: Hoffnungen oder Befürchtungen des Protago-
nisten. Die Einschätzung einer Expertin über den weiteren
Verlauf eines Verfahrens. Ein Hinweis auf den nächsten Schritt
einer neuen Geschichte.
Hüten Sie sich allerdings davor, ein komplett neues Thema
einzuführen oder neue Fragen aufzuwerfen und unbeantwortet
stehen zu lassen. Wir alle leben in einer komplexen, vieldeuti-
gen Welt mit Millionen von verbundenen Erfahrungen und
Problemen. Wir brauchen am Schluss der Geschichte nicht alle
möglichen Querverweise, sondern nur die absolut notwendigen.
4. Bezwingen Sie Ihren Fluchtreflex
ins Ungewisse!
Zum Leben in Komplexität gehört auch: Wer sich festlegt, macht
sich angreifbar. Denn zu jeder These gibt es prinzipiell eine Ge-
genthese mit entsprechenden Argumenten. Die Angst davor,
12
sich festzulegen, führt zu Verlegenheitsschlüssen. Zum Beispiel:
„Der Ausgang dieser Diskussion bleibt abzuwarten.“ Verwässern
Sie Ihren Schluss nicht mit Einschränkungen und Rückziehern.
5. Halten Sie Ambivalenzen aus!
Das klingt wie ein Widerspruch zu den letzten beiden Punkten.
Aber: Zu einfache Erklärungen können Leser, Zuschauer oder
Zuhörer mit dem Gefühl zurücklassen, nicht ernst genommen
zu werden. Ein ambivalenter Schluss kann also genau der rich-
tige sein – und die Realität spiegeln. In die Wut mischt sich
Hoffnung. Zwei (oder mehr) Perspektiven können gleichzeitig
wahr sein. Eiern Sie dabei aber nicht herum. Bleiben Sie in der
Darstellung dieser Ambivalenzen klar.
6. Nutzen Sie Cliffhanger nur,
wenn es auch wirklich weitergeht!
Cliffhanger wirken, wenn sie gut gemacht sind. Der Gestaltpsy-
chologe Kurt Lewin und seine Mitarbeiterin Bluma Zeigarnik
haben in den 1920er-Jahren das Phänomen des Cliffhangers
untersucht. Die beiden bewiesen, dass sich Rezipienten an un-
terbrochene Handlungen besser erinnern als an vollendete.
Dieser Umstand wurde nach Bluma Zeigarnik benannt – der
„Zeigarnik-Effekt“. Ein Teil einer Serie – egal ob als Text, Podcast,
Audiobeitrag oder Film – profitiert von einem klug gewählten
Cliffhanger: Wir wollen unbedingt mehr erfahren. Enttäuscht
reagieren wir, wenn wir keine Fortsetzung finden. Und: Ver-
sprechen Sie im Cliffhanger nur, was Sie auch halten können.
7. Geben Sie praktische Hinweise
zum Weitermachen!
Erinnern Sie sich daran, was Sie für Ihre Zielgruppe erreichen
wollen. Bei bestimmten Themen bietet sich ein Schluss an, der
zum Handeln animiert. So ein Ende antwortet auf die Frage:
„Was kann ich tun?“ Je konkreter, desto besser. Ein emotio-
naler Appell der Protagonistin oder eines Experten ist genauso
möglich wie Alltagstipps oder Hinweise auf Veranstaltungen,
mehr Informationen zum Thema oder Möglichkeiten des En-
gagements in Initiativen.
8. Testen Sie Ihren Schluss!
Kann man den Schluss von hinten kürzen? Wenn ja – machen
Sie das unbedingt! Ganze Absätze dürfen weg, Phrasen und
unnötige Wörter. Verschlanken Sie Ihren Schluss, bis jedes Wort
und jedes Bild richtig sitzt.
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS
Spannend bleiben
Wie es gelingt, die Aufmerksamkeit
bis zum Schluss zu bannen.
Wer Ihre Geschichte liest, anhört oder anschaut, entscheidet,
wann diese Geschichte endet: Die Aufmerksamkeit wandert.
Die Person skippt, scrollt weiter, klappt zu, legt das Smart­phone
weg – oder nimmt es in die Hand.
Schluss ist also frühestens, wenn der Nutzer nicht mehr mit-
macht. Spätestens, wenn die Autorin fertig erzählt hat. Sie
können die Chance erhöhen, dass Menschen möglichst lange
dabeibleiben und dass diesen Menschen der Wiedereinstieg
nach einer Pause leichtfällt. Es geht um den berühmten roten
Faden und die Frage: Wie geht es aus? Mit den folgenden Er-
zählstrategien halten Sie die Spannung.
Früh Fährten legen
Nehmen Sie Ihr Publikum mit auf eine Expedition, lassen Sie
es mitlernen und miträtseln. Verraten Sie nicht zu früh zu viel,
und nehmen Sie auf keinen Fall den Schluss vorweg. Aber
Andeutungen machen neugierig und sorgen für Spannung.
Weisen Sie auf den Schluss hin: Details oder Requisiten in Schlüs-
selszenen können auf den Höhepunkt Schluss vorbereiten,
Merkmale und Charaktereigenschaften der handelnden Per-
sonen oder auch nur Stimmungen. Diese Fährten hinterlassen
beim Rezipienten ein Gefühl von: „Oje, das könnte schiefgehen.“
Oder auch: „Das ist interessant, wie das wohl ausgeht? Dazu
möchte ich mehr wissen.“
Übergänge gestalten
Helfen Sie den Menschen, sich in der Geschichte zurechtzufin-
den. Stellen Sie inhaltliche Bezüge zwischen den Absätzen oder
Kapiteln her und beschreiben Sie diese Bezüge deutlich. Orga-
nische Übergänge entstehen zum Beispiel, wenn ein neuer
Mensch auftritt, ein wichtiger Fakt erklärt wird oder eine Rück-
blende in die Vorgeschichte einführt.
Gezielte Wiederholungen von Wörtern, Gegenständen, Orten
oder Situationen helfen, die verschiedenen Teile Ihrer Geschich-
te zu verbinden. In Ihrer Geschichte halten Sie Menschen auch
durch innere Cliffhanger: Vor einem Absatz, einem Kapitelen-
de, einer Pause in der Geschichte setzen Sie gezielt ein drama-
tisches, emotionales Element ein.
Übergänge holpern, wenn der Erzähler zu weit springt und die
Leserin nicht folgen kann. Zu kurz gesprungen? Langeweile!
Gegensätze bewusst einsetzen
Früher und heute. These und Antithese. Zwei Lösungsvorschlä-
ge für dasselbe Problem. Gegenüberstellungen sind populär – und
sie wirken. Interessant werden Geschichten, wenn man Bilder
und Gedanken nebeneinanderstellt, die auf den ersten Blick
nicht zueinanderpassen: die Abifeier und der Tod, Gewalt im
buddhistischen Kloster, romantische Liebe auf einer Müllkippe.
Dialoge für sich sprechen lassen
Menschen interessieren sich für Menschen und das, was sie zu
sagen haben. In Dialogen passiert etwas: Gefühle, Positionen,
Beziehungen zeigen sich – und auch die Handlung Ihrer Ge-
schichte. Direkte Zitate machen Texte lebendiger, audiovisu-
elle Medien sind ohne O-Töne kaum denkbar. Trotzdem machen
Dialoge und Zitate im journalistischen Kontext oft Probleme.
Denn oft sprechen die Menschen wenig miteinander, sondern
mit der Journalistin, die doch eigentlich nur beobachten will.
Versuchen Sie schon während der Recherche Möglichkeiten zu
erschaffen, in denen Sie authentischen Dialog einfangen und
später nacherzählen können. Heben Sie deutlich davon ab,
wenn der Protagonist in Interviewsituationen zu Ihnen oder
der Kamera spricht.
Mit Bildern und Wörtern spielen
Auch diese Strategie setzt schon bei der Recherche an. Seien
Sie möglichst offen und sammeln Sie Eindrücke und Details:
Gegenstände, Gesten, Szenen aus der Natur oder der Stadt.
Beobachten Sie ganz genau und nehmen Sie erst einmal alles
mit. Die unwichtigen Details können Sie später immer noch
streichen.
Sammeln Sie nicht nur Bilder, sondern auch Wörter! Erweitern
Sie Ihren eigenen aktiven Wortschatz und spielen Sie damit.
Konzentrieren Sie sich dabei auf Alltagssprache, einfache Wör-
ter und Sätze. Vermeiden Sie Klischees, Phrasen und abgenutz-
te Metaphern.
Wie man das schafft? In seinem Buch „Die 50 Werkzeuge für
gutes Schreiben“ empfiehlt Roy Peter Clark: „Wenn Sie versucht
sind, eine aussagefreie Phrase wie ,weiß wie Schnee‘ zu benut-
zen, hören Sie sofort auf zu schreiben. Holen Sie tief Luft und
sammeln Sie sich. Dann schreiben Sie das Klischee auf ein Stück
Papier und fangen an, Alternativen zu entwerfen.“
Sie haben keine Zeit? Dann verzichten Sie lieber auf Metaphern
und beschreiben Sie die konkreten Details, die Sie gesammelt
haben. Spielen Sie auch mit Ihrer eigenen Perspektive! Oft
schleichen sich stereotype Weltbilder in journalistische Ge-
schichten: Opfer sind immer unschuldig, Lehrerinnen wissen
alles besser, Landleben ist gesund.
13
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS
Schluss-Tipps aus der Praxis
Wie drei erfahrene Profis zum Ende kommen –
von Kommentar, Sachbuch bis Reportage.
Christian Bangel
ist bei „Zeit Online“ Redakteur im
Ressort Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft. Seine Hauptthemen
sind Rechtsextremismus, Ost-
deutschland, fragiler Konservatis-
mus. Er prägte den Begriff „Baseball-
schlägerjahre“ für die Nachwendezeit
in Ostdeutschland.
Wie bringt man einen Kommentar gut zu Ende, Christian Bangel?
Sprachlich eher nüchtern, inhaltlich kompakt. Das Argument
sollte im letzten Absatz schon benannt sein – wenn der Kom-
mentar funktioniert, rattert es längst bei den Leserinnen und
Lesern. Jetzt geht es darum, elegant die Bühne zu räumen. Ich
versuche am Ende etwas anzufangen mit dem, was ich gerade
argumentiert habe, es noch mal in die Luft zu werfen. Ich ver-
suche mir zum Beispiel vorzustellen, wie das Subjekt meines
Kommentars reagieren würde, oder vielleicht andere, die mit
mir nicht übereinstimmen. Dann antworte ich ihnen. Manch-
mal ist das ein guter Schluss.
Woran erkennen Sie einen perfekten Schluss?
Ich glaube, es gibt keinen perfekten Schluss. Überhaupt soll-
te man nicht in erster Linie nach handwerklicher Perfektion
streben, das hemmt nur. Wer einen Kommentar schreibt, hat
eine starke politische Empfindung und versucht, Menschen
von dieser Position zu überzeugen. Das ist weniger Handwerk
als etwas sehr Persönliches. Argumentiere ich grundsätzlich
eher kühl oder leidenschaftlich, moralisch oder strategisch?
Fühle ich mich mit meiner Sichtweise eher als Außenseiter oder
habe ich das Gefühl, dass viele andere genauso denken wie ich?
Daraus leitet sich das meiste ab, auch der Schluss.
Wann in Ihrem Arbeitsprozess wissen Sie normalerweise, wie
Sie aussteigen wollen?
Spät, nachdem das zentrale Argument aufgeschrieben ist.
Ich glaube nicht, dass man auf ein bestimmtes Ende hinschrei-
ben sollte. Da würde sich der Inhalt der Form beugen müssen,
und das ist gerade bei einem Kommentar nicht gut. Der Aus-
stieg muss etwas Fließendes, Freies sein. Man sollte versuchen,
das zu genießen.
14
Madeleine Hofmann
ist freiberufliche Journalistin und
Autorin. Sie beschäftigt sich in
Sachbüchern, Dokumentationen und
Features vor allem mit den Themen
Generationengerechtigkeit, Demo-
kratie und Partizipation. Sie schreibt
aber auch Kurzgeschichten rund um
das Thema Verletzlichkeit.
Wie bringt man ein Sachbuch gut zu Ende, Madeleine Hofmann?
Am besten mit einem positiven Bezug zum Einstieg. Das kann
eine bestimmte Situation sein, die noch mal aufgegriffen und
zu Ende erzählt wird, oder aber – was mir am besten gefällt –
man beantwortet die Fragen, die am Anfang in der Regel auf-
geworfen werden, hoffnungsvoll. Entweder indem man wirk-
lich eine positive Antwort/Beispiele gefunden hat, oder indem
man eine Utopie zeichnet, inspirierende Ideen beschreibt, wie
die diskutierte Situation idealerweise in Zukunft aussehen
könnte.
Woran erkennen Sie einen perfekten Schluss?
Daran, dass er mich nicht ratlos zurücklässt, zum Beispiel
indem er mich mitten im Textgeschehen stehen lässt – ohne
FOTOS: PRIVAT (BANGEL), JENNIFER FEY (HOFMANN), VERENA HORNUNG (SEEKAMP)
Ausblick, Auflösung, Inspiration. Wenn er aber das Gegenteil
erreicht – eben inspirierend ist, zum Nachdenken anregt, dann
halte ich ihn für sehr gelungen.
Wann in Ihrem Arbeitsprozess wissen Sie normalerweise, wie
Sie aussteigen wollen?
Ziemlich früh, weil Einstieg und Schluss für mich einen
Rahmen bilden, der unbedingt stimmen muss. Meist habe ich
schon zu Beginn des Schreibens eine Idee, wie der Schluss
aussehen soll – allerdings nur so grob, denn ich habe in der
Regel zu Beginn des Schreibprozesses die Recherche noch
nicht komplett abgeschlossen und weiß daher natürlich nicht,
ob ich zum Beispiel ein Vorbild finden werde, das mein Thema
hoffnungsvoll abschließt – oder ob ich mir eine Utopie über-
lege, weil es leider in der Realität noch nichts gibt, was so
richtig inspirierend ist.
 SPANNEND BIS ZUM SCHLUSS
Mirco Seekamp
ist freier Journalist und Filmemacher,
vor allem für öffentlich-rechtliche
Formate wie „Strg_F“ und „Panora-
ma“. Er berichtet gerne über die
großen Themen (wie Asyl, Klima,
Psyche) im Kleinen, dicht dran an
den Menschen.
Wie bringt man eine Reportage gut zu Ende, Mirco Seekamp?
Mein Ziel ist, dass die Kernaussage meiner Reportage im Kopf
bleibt. Die Botschaft der Reportage wird am Schluss manifestiert
und soll im letzten Moment ein Ausrufezeichen statt eines
Fragezeichens hinterlassen. Dabei lenke ich den Blick: Aufs
große Ganze, um die Gesamtauswirkung aufzuzeigen. Zurück-
blickend, um noch mal das Erlebte in der Reportage zusam-
menzufassen. Oder auf einen weiterführenden Aspekt, um den
Blick zu weiten. Hierfür eignet sich auch eine inhaltliche Klam-
mer, indem ich den Protagonisten vom Anfang der Reportage
wieder aufgreife. Manchmal hilft es, mir selbst die Frage zu
stellen: Was bleibt bei mir hängen?
Was gehört für Sie zu einem perfekten Schluss?
Im besten Fall bin ich nach der Reportage gesättigt an Infor-
mationen: nicht pappsatt und auch nicht hungrig. Dafür ist es
wichtig, den Zuschauer auf das nahende Ende vorzubereiten.
Bei Bewegtbildinhalten geht das mit passender Musik oder
bildlichen Rücksprüngen. Ich kann besonders einprägsame
Bilder wieder aufgreifen, so dass der Zuschauer den Eindruck
hat: Es hat sich gelohnt, die Zeit zu investieren. Hierbei frage
ich mich auch: Welche Emotion oder welches Bauchgefühl soll
vielleicht noch mal verstärkt werden? Denn um die Kernaus-
sage zu vermitteln, ist es aus meiner Sicht wichtig, eine klare
Emotion damit zu verknüpfen. Denn Information erreicht das
Publikum nie ohne Emotion.
Wann in Ihrem Arbeitsprozess wissen Sie normalerweise, wie
Sie aussteigen wollen?
Ganz am Ende. Während der Recherche ergibt sich meistens
eine grobe Filmstruktur. Während wir die Reportage drehen,
kann sich die Struktur noch ändern, zum Beispiel, wenn es zu
unvorhergesehenen Situationen kommt. Im Anschluss konzi-
piere ich die Reportage und beschäftige mich auch erst am Ende
mit dem Schluss. Gelegentlich helfen mir mögliche Schluss-
ideen, die ich mir im Vorfeld ins Handy notiert habe. Manchmal
merke ich aber auch: Das passt nicht. Es kommt vor, dass mir
der schlaue Schlusssatz erst kurz vor der Vertonung in den Sinn
kommt. Denn ich selbst muss die Reportage erst erlebt haben,
bevor ich den richtigen Schluss finde.
INFO
Checkliste für einen guten Schluss
Sammeln Sie Ihr recherchiertes Material. Sortieren Sie
es übersichtlich. Sichten Sie, was Sie haben.
Fragen Sie sich: Wer ist meine Zielgruppe?
Fragen Sie sich: Was verändert sich durch diese
Geschichte für die Menschen in der Zielgruppe?
Wie soll es Ihnen mit der Geschichte gehen?
Schreiben Sie diese Vision auf.
Notieren Sie Fokus oder die Kernthese Ihrer Geschichte.
Arbeitstitel und Teaser sind eine gute Form dafür.
Sortieren Sie die Kern-Elemente, so dass sie notwendig
zur Vision führen.
Bewahren Sie Material für den Schluss auf, zum Beispiel
ein aussagekräftiges Zitat, eine Szene oder einen
Gedanken. Achten Sie darauf, dass es zu Ihrer Vision
und Ihrem Fokus passt.
Entscheiden Sie sich für einen schlüssigen Aufbau
Ihrer Geschichte.
Falls Sie ins Grübeln und Zweifeln geraten: Fangen
Sie einfach an. Probieren Sie verschiedene Wege aus.
Vertrauen Sie dem Prozess – und sich selbst.
Erzählen Sie! Behalten Sie dabei den Fokus und den
Schluss immer im Kopf. Bleiben Sie konkret.
Fragen Sie sich bei jedem Element, bei jedem Satz,
jeder Szene, jedem Zitat, jedem Argument:
Stärkt das den Fokus? Führt es notwendig zum Ende
der Geschichte?
Wenn nötig, steigen Sie nochmals in die Recherche ein.
Fehlt etwas für den Verlauf Ihrer Geschichte?
Haben Sie alles, was Sie für einen guten Schluss
benötigen?
Machen Sie den Test: Kann man den Schluss von hinten
kürzen? Wenn ja – machen Sie das unbedingt!
15
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auf transparente
Fehlerkultur und es keinen gegeben und FACHMEDIEN
das will er beweisen.

NICHT
ehrliche Kritik aber Spannender als ihr Ruf
keine Lust. Über LAE
einen Rollenkonflikt. Wie Chefs ticken,

PASSIEREN was Entscheider lesen

Kein KÖNNEN
„Scoops lassen

Top
Zutritt!
TOP 30 BIS 30: Die spannendsten journalistischen Talente.
Wer trotz des niedrigen Alters schon unverzichtbar
30 PR-TALENTE UNTER 30:
30
UNTER

30 DIE
sich nicht planen“
Mit Enthüllungen sorgte „Business Insider“
zuletzt immer wieder für Aufregung.
Bringen Recherche-Storys auch Abos?
bis
#top30mm
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ: Wie Ihr Job nicht überflüssig wird.
in der Sprecherszene ist. KÜNDIGUNGEN: Was die Medienhäuser planen.
KI:10 Tools, die Journalisten kennen sollten.
INTERVIEW-STREIT: CH Media gegen Ruag
JUSTIZ VS. MEDIEN: Topjournalisten meiden Schweiz GRÖSSTEN Wie Jakob Wais und Kayhan Özgenc noch
ein paar Stockwerke höher kommen wollen.
CORONA: Drückt sich die Branche vor der Aufarbeitung?
TREND: Mehr Platz für Wissenschaft TALENTE
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INHALT COMMUNITY-MANAGEMENT DATEN-JOURNALISMUS
KONSTRUKTIVER JOURNALISMUS INHALT INHALT
Konstruktiv und kritisch 2-3
Was geht 4-5 Gegen den Hass 2-3 Beispielhafte Datenprojekte 2-3

Werkstatt
Redaktionelle Strategien 4-6 Fünf Trends 4-5

Werkstatt Werkstatt
„Dement, aber nicht bescheuert“ 6-7
Offen gefragt 8 Sieben goldene Regeln 7 Vielfalt der Formate 6-8
Das komplette Bild, bitte! 9 Recht, Gebote, Lesetipps 8-9 „Wartet nicht auf den perfekten Moment!“ 9
Musterbrecher 10-11 Warum Hasnain Kazim antwortet 10-11 Klein anfangen für große Geschichten 10-11
Apokalypse? No! 12 Fünf Beispiel-Dialoge „Post von Karlheinz“ 12-13 Das beste Portfolio 12
Checks 13 Jobprofile: Die Arbeit der Factchecker 14-15 W-Fragen mit Daten beantworten 13
Konstruktiv gedacht 14-15 Sag es mit Bildern! 14-15
Linktipps 15

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Fallstricke 4-5
Die Ich-Erzählung 7 8

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Die Chronologie brechen
Programmier doch mal eben … 6
Das Auge der Fotografin 8-10 Die Spannungskurve 9
Stoff zum Mitreden 7
Nähe, Ferne und Dynamik 11 Von Helden und Schwellen 10-11 Methoden-Formate 8-9
Die richtigen Fragen 12 Die Chronologie 12 Scharnierfunktion 10-11
Auktoriales Erzählen 13 Der Einstieg 13 Teamskills 12-13
Überraschung 14 Seht, ein Mensch! 14-15 Praxisfall 14-15
Lesetipps 15 Stilmittel 16-17
Spannend wie ein Krimi 18-19

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