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Eine Strategie zur Beendigung der dritten Welle der COVID19-

Pandemie in Deutschland
Berlin, 12. April 2021

Deutschland befindet sich im April 2021 in der dritten Welle der Coronavirus-Pandemie. Diese
Situation ist eingetreten, weil Gegenmaßnahmen nicht frühzeitig eingeleitet und zu schnell
Lockerungen beschlossen wurden, ohne sie durch eine verbesserte Test-Trace-Isolate (TTI)-
Strategie abzusichern. Die Intensivstationen füllen sich wieder, derzeit sind über 4.500
Patienten in intensivmedizinischer Behandlung, mit steigender Tendenz. Der
Altersdurchschnitt der Intensivpatient*innen liegt, wie zuvor schon in England und anderen
Ländern, mit etwa 50 Jahren ca. 10-15 Jahre unter dem Altersdurchschnitt der Patienten der
vorherigen beiden Wellen.
Die Politik ist erneut gefordert, dieser dringlichen Herausforderung rasch und entschieden zu
begegnen. Zur Unterstützung legen wir hier eine Reihe von stichpunktartig zusammen-
gefassten Empfehlungen vor. Werden diese umgesetzt, können die politischen
Entscheidungsträger*innen eine nachhaltige Öffnungsperspektive schaffen, den seit
November andauernden JoJo-Lockdown, endgültig beenden und weitere Pandemiewellen
vermeiden. Unsere Empfehlungen stützen sich auf unsere bisherigen Publikationen
(https://nocovid-europe.eu/#publications) und enthalten viele Details für die Umsetzung
einzelner Maßnahmenpakete, die wir in bisher neun Toolboxen ausgeführt haben (siehe
Anhang). Sie beinhalten Maßnahmen zur Reduzierung physischer Kontakte, gehen aber weit
darüber hinaus. Eine proaktive Pandemiebekämpfung ist dringend erforderlich, um Tausende
von weiteren Toten und Hunderttausenden von LongCovid-Fällen zu vermeiden und baldige,
nachhaltige Öffnungen zu ermöglichen.

1. Ziele und Kommunikation


Eine klare und verständliche politische Zielsetzung ist der wichtigste Punkt.
Die Politik muss endlich ein klares Ziel für die Pandemiebekämpfung formulieren, um eine
nachhaltige Strategie zu ermöglichen anstelle des bloßen “Durchwurschtelns” der
vergangenen Monate. Aus unserer Sicht ist das einzig sinnvolle Ziel, die Inzidenz dauerhaft
auf ein möglichst niedriges Niveau zu drücken.
Die geplante Erhöhung der Grenzinzidenz-Werte von 35/50 auf 100 erscheint kontraproduktiv,
weil sie die Jojo-Lockdown-Strategie perpetuiert, eine kaum steuerbare Situation schafft, und
somit eine nachhaltige Öffnung in weite Ferne verschiebt.

Begründungen für eine Niedriginzidenz-Strategie:


1. Die Zahlen müssen schnell reduziert werden, weil zu viele Menschen schwer erkranken
und sterben (4.500 Intensivpatienten derzeit, Tendenz steigend). Die Sterblichkeit von
COVID19-Intensivpatienten liegt immer noch bei 30% bis 50%. Viele Überlebende haben
monate- oder jahrelange, schwerste Folgeerkrankungen zu bewältigen.
2. Die hohen Infektionszahlen führen zur Zunahme von langfristigen LongCovid-
Erkrankungen, auch bei jüngeren Menschen, die nicht hospitalisiert waren.
3. Die hohen Infektionszahlen und wiederholten und unkalkulierbaren Lockdowns schaden
der Gesellschaft, der politischen Stabilität und der Wirtschaft.

1
4. Bei Niedriginzidenz wirken sowohl Screening als auch Expositionsanalyse und
Rückverfolgung überproportional effektiver als bei Hochinzidenz.1
5. Es ist auch im Sinne der Wahrnehmung der internationalen Verantwortung der
Bundesrepublik wichtig, für niedrige Inzidenzwerte zu sorgen. Nur wenn alle Staaten die
Pandemie unter Kontrolle bekommen besteht Aussicht, dass die Pandemie auch global
eingedämmt werden kann. Die Entstehung neuer, impfresistenter Mutanten kann dadurch
verhindert werden.
Die notwendigen Maßnahmen sollten unterstützt werden durch eine tägliche, umfassende
Informationskampagne durch die politischen Entscheidungsträger*innen in den öffentlich-
rechtlichen Medien.
Glücklicherweise steht der politischen Kommunikation der positive Ausblick zur Verfügung,
dass jetzt bei Verfügbarkeit großer Mengen an Impfdosen (vorausgesetzt es setzen sich keine
Escape-Mutanten durch) voraussichtlich nur noch um wenige Monate handelt, bis eine
wesentliche Besserung zu erwarten ist. Auch danach wird es allerdings weiter notwendig sein,
Schutzvorkehrungen zu treffen (z. B. Masken zu tragen, sowie Abstandsregeln und
Hygienemaßnahmen einzuhalten).

2. Exekutive Steuerungsinstrumente
• Ein effizienter TTI-Prozess kann die Reproduktionszahl R deutlich senken. Wegen
seiner besonderen Bedeutung sind hierzu einige zusätzliche Maßnahmen notwendig:
- Die Kontaktnachverfolgung muss konsequent weiter präzisiert und beschleunigt
werden, u. a. durch konsequente Digitalisierung.
- Die Gesundheitsämter müssen personell mit Fachpersonal dauerhaft ausgerüstet
werden, um den TTI-Prozess schneller durchführen zu können.
- Das Infektionsschutzgesetz muss so angepasst werden, dass eine konsequente
(datenschutzkonforme und Cyber-sichere) Weitergabe von Daten bzw. deren
Anreicherung mit anderen, geocodierten Daten2 zur schnelleren Kontakt-
nachverfolgung und Erkennen von Infektionsherden ermöglicht wird.
• Die Effizienz der Arbeit in der für die Pandemiebekämpfung wesentlichen Exekutive (im
ÖGD) muss deshalb weiter optimiert und auch kontrolliert werden (neben dem TTI-
Prozess auch die wirksame Durchführung der Quarantäne und Isolierung).
• Die politischen Beschlüsse und verhängten Maßnahmen nach dem Infektions-
schutzgesetz müssen von allen eingehalten werden. Die Einhaltung muss effizient
überwacht werden.

3. Kontaktreduzierung
Privat
• Die Politik muss klar die Bedeutung der Reduzierung privater Kontakte kommunizieren.
• Es sollten sich maximal 2 Haushalte treffen dürfen. Idealerweise hat jeder Haushalt
einen festen Partnerhaushalt statt wechselnder Kontakte (social bubble).
• Zudem sollte weiter kommuniziert werden, wie sich private Treffen sicherer durchführen
lassen: Im Freien, mit ausreichend Abstand und mit unmittelbar davor durchgeführten

1
https://journals.aps.org/prl/abstract/10.1103/PhysRevLett.99.148701
2
https://blog.infas360.de/2021/04/05/nutzung-innerstaedtischer-covid19-zonen-fuer-eine-nachhaltige-
niedriginzidenz/
2
Schnelltests. Wenn sich Kontakte in Innenräumen nicht vermeiden lassen, sollten alle
Beteiligten Masken tragen und regelmäßig und großzügig lüften.
• Alle touristischen Reisen im In- und Ausland sind einzustellen.
• Der Einzelhandel muss schließen, mit Ausnahme der Einkaufsmöglichkeiten für den
täglichen Bedarf, Apotheken usw.
• In Kreisen mit Inzidenz über 100 gelten nächtliche Ausgangssperren zwischen 20 und 6
Uhr.
Arbeit und Berufsleben
• Gesetzliche Verpflichtung zum Home-Office für alle Betriebe. Home-Office gilt, sofern
dem nicht zwingende betriebliche Gründe entgegenstehen. Kritische Infrastrukturen sind
von dieser Regelung ausgenommen.
• Bei Tätigkeiten in der Industrie, die keine Abstände zulassen, sind strategische
Testkonzepte verpflichtend.
• Im Übrigen gilt die Testpflicht (mind. 2x pro Woche) und Maskenpflicht für alle Betriebe
mit Präsenz.
• Sozialräume sollten nur unter strengsten AHAL-Regeln betrieben werden, für Kantinen
sollte möglichst auf Take out-Konzepte umgestellt werden.
• Einsatz einer digitalen Architektur für die Gewährleistung einer schnellen Kontakt-
Nachverfolgung und zur Ermöglichung von mehr Mobilität (siehe Luca-App).

4. Schulen und Bildungseinrichtungen


• Bei einer Inzidenz von über 50/100.000/Woche muss der Präsenzunterricht eingestellt
werden und Kitas sollen schließen.
• Bei einer Inzidenz unter 50 und fallenden Infektionsraten können Schulen/Kitas öffnen
(ggf. im Wechselunterricht), wenn ein Testkonzept und eine Testinfrastruktur vorhanden
ist und Tests 2x pro Woche durchgeführt werden können.
Zusätzliche Maßnahmen sind:
• Es muss ein Lüftungskonzept vorhanden sein und umgesetzt werden. Als zusätzliche
unterstützende Maßnahme können Raum-Luftfilter installiert werden. Bei deren Einsatz
ist allerdings dauerhaft auf professionelle Weise sicherzustellen, dass der Betrieb der
Systeme sicher ist.
• Einsatz einer digitalen Architektur für die Gewährleistung einer schnellen Kontakt-
Nachverfolgung und zur Ermöglichung von mehr Mobilität.
• Es muss ein verlässliches Konzept für Kohortierung von Schülern inklusive Didaktik
vorliegen.
• Die Anreise zur Schule muss durch Apps & Konzepte gesichert werden (gestaffelter
Beginn, Rhythmisierung mit Wirtschaftsbetrieben zur Entzerrung, Hygiene, Aufstockung
der Transportkapazitäten).
• Die Präsenzpflicht sollte grundsätzlich ausgesetzt werden.
Neben den Hygiene-Maßnahmen wären wichtig:
• Sichernde Strukturen für Familien durch familienpolitische und arbeitsrechtliche
Instrumente bzw. Experimentierklauseln, die ein automatisches Ablaufdatum haben
(schnell und unbürokratisch).
• Ausbau der digitalen Infrastruktur an Schulen.

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• Sozialpädagogische und psychotherapeutische Struktur für Kinder, die durch die
Pandemie besonders benachteiligt oder gefährdet sind (Sprache, Armut und soziale
Randständigkeit, räumliche Enge im Haushalt etc.).

5. Impfen
• Es ist eine maximale Geschwindigkeit erforderlich, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die
Woche.
• Deutliche Reduktion der bürokratischen Verpflichtungen und der Impfbeschränkungen
für bestimmte Gruppen.
• Impfgeschwindigkeit erhöhen durch Einbeziehen aller relevanten Impfakteure
(Hausärzte, Betriebsärzte, Gesundheitsämter). Schwankungen bei den Impfstoff-
Liefermengen dürfen nicht einseitig bei den impfenden Praxen abgezogen werden,
sondern diese Säule der Impfstrategie muss gleichberechtigt bedient werden

6. Testen
• Tests werden vor allem in Betrieben, Schulen und Kitas benötigt. Ziel muss sein, alle
Personen zweimal pro Woche, besser aber dreimal pro Woche zu testen.
• Das Testsystem muss allgemein verpflichtend sein, gemeinsam mit der raschen
Einführung eines digitalen und mit den Gesundheitsämtern verbundenen
Nachverfolgungssystems.
• Einreisende aus Ländern außerhalb des Schengenraumes: PCR-Test (vor Abflug) und
verpflichtende 14-Tage-Einreisequarantäne für alle mit Test am 5. und 10. Tag. Dazu
muss der Transport ins Quarantänehotel oder nach Hause ohne Kontakte stattfinden
können. Für Berufspendler, Lieferanten und andere begründete Fälle gelten
Ausnahmen.
• Testen in kontaktstarken (Klein-)Betrieben und Baustellen (insbesondere im Handwerk,
in Gartenbetrieben und auf Baustellen).
• Durchführung von PCR-Massentests in den größten Hotspots (z. B. durch mobile
Testteams, mobile PCR-Systeme und/oder die Bundeswehr).
• Modellprojekte zur Öffnung gemäß No-COVID-Strategie, die Öffnungen (beispielsweise
von Museen, Außengastronomie usw.) an Tests und die Einführung einer digitalen
Architektur für die Nachverfolgung binden, sollen nur bei niedrigen bzw. deutlich
sinkenden Inzidenzen durchgeführt werden (siehe Toolboxen).

7. Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV)


• Die Rolle des ÖPNV als Pandemietreiber wird bisher unterschätzt.
• Es ist auch im ÖPNV in jedem Fall die Einhaltung der Hygienemaßnahmen zu fordern,
zu überwachen und bei Zuwiderhandlung zu sanktionieren.
• Der ÖPNV muss durch eine digitale Architektur & neue Konzepte gesichert werden
(gestaffelter Arbeitsanfang, Rhythmisierung mit Wirtschaftsbetrieben zur Entzerrung,
Hygienemaßnahmen, Kapazitäten erhöhen, Obergrenzen für die Nutzung pro
Fahrzeug).
• Eventuell Einführung von Testpflicht (negativer Antigenschnelltest, maximal 12h alt)
vor Nutzung des ÖPNV.

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8. Internationale Kooperation
Der Erfolg der Maßnahmen in Deutschland hängt auch von den Erfolgen in anderen Ländern
ab und umgekehrt. Dies ist deutlich zu sehen am Beispiel der SARS-CoV-2-Mutanten. Deshalb
ist es von großer Wichtigkeit noch stärker als bisher europäische und globale Strategien
abzustimmen und gemeinsame Initiativen – insbesondere zum Impfen – zu unterstützen.

Autorinnen und Autoren


Prof. Dr. Menno Baumann (Pädagogik, Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf)
Dr. Markus Beier (Medizin, Allgemeinmediziner, Vorsitzender Bayerischer
Hausärzteverband)
Prof. Dr. Melanie Brinkmann (Virologie, TU Braunschweig/Helmholtz Zentrum für
Infektionsforschung Braunschweig)
Prof. Dr. Dirk Brockmann (Physiker, Humboldt Universität Berlin)
Prof. Dr. Heinz Bude (Soziologie, Universität Kassel)
Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest (Ökonomie, ifo Institut und LMU München)
Ass. jur. Denise Feldner, M.B.L. (Jura, Technologierecht, Crowdhelix/KU Leuven Germany)
Prof. Dr. Michael Hallek (Medizin, Internist, Klinik I für Innere Medizin, Universität zu Köln)
Prof. Dr. Dr. h.c. Ilona Kickbusch (Global Public Health, Graduate Institute Geneva, WHO-
Beraterin, GPMB)
Prof. Dr. Maximilian Mayer (Politikwissenschaft, CASSIS, Universität Bonn)
Prof. Dr. Michael Meyer-Hermann (Physik, Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung
Braunschweig)
Prof. Dr. Andreas Peichl (Ökonomie, ifo Institut und LMU München)
Prof. Dr. Elvira Rosert (Politikwissenschaft, Universität Hamburg/Institut für
Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, IFSH)
Prof. Dr. Matthias Schneider (Physik, TU Dortmund)

Für Rückfragen wenden Sie sich bitte an info@nocovid-europe.eu.

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Anhang:

Die folgenden Dokumente wurden von uns erarbeitet und können als Handlungsoptionen im
politischen Entscheidungsprozess benutzt werden. Sie sind im Internet abrufbar unter:
https://nocovid-europe.eu
- Rahmendokument: Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von
SARS-CoV-2
- Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 2.
Teil: Handlungsoptionen
• Toolbox #1: Mit Grünen Zonen zu dauerhaften Lockerungen
• Toolbox #2: No-COVID Partnership Europe
• Toolbox #3: Test – Trace – Isolate (TTI)
• Toolbox #4: Wirtschaft und Arbeitsmarkt
- Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 3.
Teil
• Toolbox #5 Teststrategien
- Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 4.
Teil
• Toolbox #6: Bildung, Schulen und Kitas
- Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 5.
Teil
• Toolbox #7: Risikoinzidenz
• Toolbox #8: Einfach anfangen
- Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 6.
Teil
• Toolbox #9: SARS-CoV2-Impfungen

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