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Katja Gelbrich, Rainer Souren (Hrsg.

)
Kundenintegration und Kundenbindung
GABLER EDITION WISSENSCHAFT
Katja Gelbrich, Rainer Souren (Hrsg.)

Kundenintegration
und Kundenbindung
Wie Unternehmen von
ihren Kunden profitieren

GABLER EDITION WISSENSCHAFT


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

1. Auflage 2009
Alle Rechte vorbehalten
© Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
Lektorat: Claudia Jeske / Anita Wilke
Gabler ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.
www.gabler.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.


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Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem


Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche
Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten
wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany
ISBN 978-3-8349-1472-9
Vorwort

Bücher zum Thema Kundenorientierung gibt es viele – warum also noch eines herausgeben?
Weil herkömmliche Kundenbindungsmaßnahmen, wie bspw. Kundenkarten oder Loyalitäts-
programme, mittlerweile zum Standardrepertoire der meisten Unternehmen gehören. Die
Kunden haben sich daran gewöhnt; von Wettbewerbern absetzen kann man sich dadurch
kaum noch. Um Käufer langfristig zu binden, müssen Unternehmen ihren Abnehmern mehr
bieten: Sie müssen sie am Prozess der Leistungserstellung teilhaben lassen. Dies gilt zunächst
für die Forschung und Entwicklung sowie für den Produktionsprozess, wo Konzepte wie
Open Innovation oder Mass Customization die bloße Auftragsentwicklung und -fertigung
ablösen. Es gilt aber auch für das Marketing, wo Kunden z. B. Impulse für Innovationsprozes-
se geben. Von einer solchen Kundenintegration profitieren in erster Linie die Kunden selbst:
Sie haben kein Produkt gekauft, sondern an einem Projekt mitgearbeitet. Dadurch erhalten sie
nicht nur eine maßgeschneiderte Leistung, sondern sie fühlen sich ernst genommen und sind
oft stolz auf „ihre“ Leistung. Davon profitieren aber auch die Unternehmen, denn wer das
Gefühl hat, an einem gemeinsamen Projekt mitgewirkt zu haben, der fühlt sich diesem Projekt
– und seinem Partner – auch langfristig verbunden.
Da die geschilderten neuartigen Konzepte zu den Forschungsschwerpunkten unserer beiden
Fachgebiete sowie weiterer Institutionen der TU Ilmenau gehören, haben wir uns schon Ende
2007 entschlossen, die Tagung der Fakultät Wirtschaftswissenschaften der TU Ilmenau am
15. Mai 2009 unter das Generalthema „Kundenintegration und Kundenbindung“ zu stellen.
Dieses Buch bündelt die Beiträge dieser Tagung.
Wenn der Sammelband im Titel die Namen der beiden Herausgeber und die einzelnen Beiträ-
ge die Namen der Autoren tragen, so darf man Eines nicht vergessen: Beim „Sammeln“ und
„Binden“ hat uns eine ganze Reihe von Personen unterstützt, denen wir auf diesem Wege
ganz herzlich danken möchten. Es sind dies in erster Linie die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter unserer beiden Fachgebiete an der Technischen Universität Ilmenau. Herr Dipl.-Kfm.
Magnus Richter und Herr Dipl.-Kfm. Holger Roschk haben mit Freundlichkeit und Ausdauer
die Korrespondenz mit den Autoren und Reviewern gehandhabt. Frau Dipl.-Ing. Dipl.-
Wirtsch.-Ing. Sigrun Leipe hat in vorbildlicher Weise die Beiträge in die passende Form
gegossen, bei dieser Gelegenheit so manchen Rechtschreib- und Formatierungsfehler ausge-
merzt und dafür gesorgt, dass der Tagungsband pünktlich zur Tagung druckfrisch vorlag.
Auch bei der Organisation der Tagung haben uns unsere Mitarbeiter zuverlässig zur Seite
gestanden. Frau PD Dr. Kerstin Pezoldt hat auf charmante Art und Weise Sponsoren gewon-
nen, ohne die wir die Tagung gar nicht hätten realisieren können. Frau Dipl.-Ök. Julia Baltzer
hat mit Elan und geschultem Auge Einladung und Tagungsprogramm entworfen. Frau Dipl.-
Kffr. Meike Buchholz und Frau Dipl.-Wirtsch.-Inf. Manja Krümmer haben engagiert und
zielsicher organisatorische Hürden aus dem Weg geräumt. Frau Dipl.-Kffr. Britta Sattler hat
mit viel Engagement eine Addressdatenbank für die Einladenden aufgebaut und gepflegt. Und
Herr Dipl.-Kfm. Daniel Gäthke hat schließlich dafür gesorgt, dass die Tagungsanmeldungen
reibungslos funktionierten. Nicht vergessen möchten wir Frau Kathleen Schunder, die mit
ihrer freundlichen Art im Sekretariat die Fäden zusammengehalten, Treffen organisiert und
überhaupt jederzeit ein offenes Ohr für Fragen und Probleme gehabt hat.
VI Vorwort

Danken möchten wir auch allen Mitgliedern des Programmkomitees, welche die Beiträge
anonym begutachtet haben und uns so geholfen haben, die Qualität der Beiträge sicherzustel-
len. Schließlich gilt unser Dank Frau Claudia Jeske und Frau Anita Wilke vom Gabler Verlag
für die unkomplizierte und kooperative Zusammenarbeit beim Verlegen des Buches.

Ihnen allen herzlichen Dank!

Ilmenau, im März 2009 Katja Gelbrich, Rainer Souren


Inhalt

Teil A
Kundenintegration in den Innovationsprozess

Herausforderungen für die Unternehmensführung durch Open Innovation und


Interaktive Wertschöpfung......................................................................................................... 3
Frank Piller, Kathrin Möslein, Ralf Reichwald

Vom Ideenwettbewerb zum externen Vorschlagswesen – Internetbasierte Integration


von Kunden in den Innovationsprozess bei adidas .................................................................. 19
Dominik Walcher

Consumer Integrated Technology Screening (CITS) – Ein Prozessmodell zur Integration


industrieller Kunden bei der Analyse des Potenzials von Technologiekonzepten................... 31
Thomas Niemand, Stefan Hoffmann, Gritt Ott

Systematische Kundenintegration zur Entwicklung innovativer Produkte und


Dienstleistungen der Telekommunikationsindustrie................................................................ 43
Fee Steinhoff, Annika Schröder

Kundenintegration in Innovationsprozesse unter Einsatz von Web 2.0-Anwendungen.......... 55


Marion Büttgen

Game Modding und digitale Distribution – Die Veränderung der Wertschöpfung von
Computerspielen durch Kundenintegration ............................................................................. 67
Florian Schwarzer, Sven Jöckel, Andreas Will

Teil B
Kundenintegration in der (Dienstleistungs-) Produktion

Defizite aktivitätsanalytischer Produktionsmodelle bei der Abbildung


dienstleistungsspezifischer Kundenintegrationsprozesse......................................................... 81
Magnus Richter, Rainer Souren

Prozess-Beziehungsmatrizen als Grundlage für die Modularisierung von


Dienstleistungen ....................................................................................................................... 95
Hans Corsten, Kai-Michael Dresch, Ralf Gössinger

Kundenintegration im Produktionsanlauf – Analyse der Ansatzpunkte für eine


flexibilitätsorientierte Koordination....................................................................................... 109
Ralf Gössinger, Florian Lehner
VIII Inhalt

Mass Customization in der Fahrzeugindustrie – Vergleich der Planungs- und


Steuerungsaktivitäten in Abhängigkeit des Individualisierungszeitpunktes ......................... 125
Antje Krey, Ulrike Meuser, Peter Schentler

Teil C
Kundenbindung und CRM

Integriertes Marken- und Kundenwertmanagement............................................................... 141


Tina Kießling, Cornelia Zanger

Beschwerdestimulierung – Status quo und Potenziale am Beispiel der Schweizer


Versicherungsbranche ............................................................................................................ 153
Osman Bayraktar, Volker Nissen

Web 2.0 als Instrument des Kundenbeziehungsmanagements – Sachstand, Potenziale


und Risiken im Kontext der Versicherungswirtschaft ........................................................... 167
Peter Rausch, Jens Westerheide

Markenkommunikation bei Energieversorgern – Entwicklung und Erfolgsmessung einer


Imagekampagne am Beispiel der WVV................................................................................. 181
Cornelia Zanger, Kerstin Klaus, Tina Kießling, Norbert Menke

Wechselverhalten von Stromkunden...................................................................................... 193


Kerstin Pezoldt, Katja Gelbrich, Alexander Wesselmann

Autorenverzeichnis................................................................................................................. 205
Teil A

Kundenintegration
in den Innovationsprozess
Herausforderungen für die Unternehmensführung
durch Open Innovation und Interaktive Wertschöpfung

Frank Piller, Kathrin Möslein, Ralf Reichwald

Die Vision offener Unternehmens- und Führungsstrukturen, die sich in der Zielvorstellung
einer Enterprise 2.0 bündelt, setzt auf Selbstorganisation und Zusammenarbeit in der Wert-
schöpfung. Sie bedingt die Auflösung von Unternehmensgrenzen im Inneren von Unterneh-
men wie auch in der Zusammenarbeit mit ihren Kunden. Im Inneren zeigt sich diese Grenz-
auflösung durch einen teilweisen Verzicht auf hierarchische Koordinationsmechanismen.
Interaktiver Austausch und Wertschöpfung als kooperativer Prozess kann aber nicht auf Mit-
arbeiter im Inneren beschränkt bleiben und an den äußeren Unternehmensgrenzen enden. Die
Vision greift weiter und bindet Externe, Kunden und Wertschöpfungspartner in die Interakti-
on ein. Interaktionskompetenz auf Seiten der Mitarbeiter wie auch der Kunden eines Unter-
nehmens wird damit zum Schlüssel einer grenzüberschreitenden interaktiven Wertschöpfung.
Für die Führung bietet diese neue Form und Intensität der Interaktion besondere Herausforde-
rungen. Diese stehen im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Er erläutert zunächst das Grund-
konzept der „Interaktiven Wertschöpfung“ (Abschnitt 1) und zeigt Wege von den klassisch
dominierenden Organisationsformen „Hierarchie und Markt“ zur interaktiven Wertschöpfung
auf (Abschnitt 2). Abschnitt 3 führt ein in die Grundlagen der Offenheit: das Prinzip der
„commons-based peer production“. Fallstudien illustrieren Prinzip und Umsetzung in Ab-
schnitt 4. Doch wie meistern Unternehmen, ihre Führungskräfte, Mitarbeiter und Kunden die
zentrale Herausforderung der Interaktionskompetenz? Hiermit befasst sich Abschnitt 5, bevor
die Chancen, aber auch Grenzen der interaktiven Wertschöpfung abgeschätzt werden können.

1 Was ist interaktive Wertschöpfung1


Interaktive Wertschöpfung heißt Kooperation und sozialer Austausch. Das Konzept der inter-
aktiven Wertschöpfung geht von einem stark kooperativen Prozess aus. Im Mittelpunkt stehen
dabei Strategien von Unternehmen, die ihre Kunden bzw. Nutzer nicht mehr als nur passive
Empfänger und Konsumenten einer von Herstellern autonom geleisteten Wertschöpfung
sehen. Vielmehr treten Nutzer als Wertschöpfungspartner von Unternehmen oder anderen
Nutzern auf, indem sie Produkte oder Dienstleistungen mitgestalten und teilweise sogar deren
Entwicklung und Herstellung bestimmen oder übernehmen. Aus der von Unternehmen domi-

1
Der vorliegende Beitrag basiert auf dem Buch „Interaktive Wertschöpfung“ von Ralf Reichwald und Frank
Piller (Gabler Verlag, 2. Auflage 2009), das unter www.open-innovation.de zum Download zur Verfügung
steht.
4 Frank Piller, Kathrin Möslein, Ralf Reichwald

nierten Wertschöpfung wird durch die aktive Rolle der Mitarbeiter und Kunden eine interak-
tive Wertschöpfung [Reichwald/Piller 2009, S. 47 ff.].2
Interaktive Wertschöpfung findet statt, wenn ein Unternehmen oder eine andere Institution
eine Aufgabe, die bislang intern durch die Mitarbeiter erstellt wurde, an ein undefiniertes,
großes Netzwerk von Kunden und Nutzern in Form eines offenen Aufrufs zur Mitwirkung
vergibt. Offener Aufruf heißt dabei, dass die zu lösende Aufgabe offen verkündet wird und
die externen Problemlöser durch Selbstselektion entscheiden, ob sie mitwirken oder nicht. Die
Erstellung dieser Aufgabe erfolgt dabei oft kollaborativ zwischen mehreren Nutzern, in ande-
ren Fällen aber auch durch einen Akteur allein. Die Aufgabe selbst kann sich dabei auf eine
Innovation (Schaffung neuen Wissens), aber auch auf operative Aktivitäten (z. B. die Mitwir-
kung beim Marketing oder bei der Konfiguration eines Produkts) beziehen. In jedem Fall aber
wandelt sich die vom Unternehmen dominierte Wertschöpfung durch die aktive Rolle der
Kunden und Nutzer zu einer Co-Kreation der resultierenden Leistung.
Ein konkretes Beispiel, wie wir interaktive Wertschöpfung verstehen, liefert das Unternehmen
Threadless. Das im Jahr 2000 in Chicago gegründete Unternehmen verkauft mit großem
Erfolg ein eigentlich einfaches Produkt: bedruckte T-Shirts. Die beiden Gründer und ihre
knapp 20 Mitarbeiter erwirtschaften aber inzwischen pro Monat Gewinne in Höhe von fast
einer halben Million Dollar – und das mit einer Handvoll von Mitarbeitern und ohne Entwick-
lungsrisiko [Ogawa/Piller 2006, S. 67]. Dieser Erfolg ist auf die Auslagerung aller wesentli-
chen wertschöpfenden Aufgaben auf die Kunden zurückzuführen, die diesen mit großer Be-
geisterung nachkommen.3 Einige Nutzer entwerfen neue Designs für T-Shirts und stellen sie
auf die Webseite des Unternehmens. Dabei werden etwa 800 neue Designs pro Woche hoch-
geladen. Die meisten Nutzer haben weder Lust noch Zeit und vor allem nicht die Fähigkeit,
selbst ein neues Design zu entwerfen. Sie sind aber dennoch nicht nur klassische Käufer,
sondern übernehmen eine zentrale andere Aufgabe eines Modeunternehmens: das Produkt-
management.
Jede Woche bewerten mehr als 200.000 Nutzer die neuen Designs und machen Verbesse-
rungsvorschläge zu den Entwürfen anderer. Threadless vertraut dabei seinen Nutzern völlig:
Das Unternehmen produziert wöchentlich etwa vier neue Designs, und zwar die, die von der
Mehrheit der Nutzer als besonders gelungen („I love it“ in der Sprache von Threadless) be-
wertet wurden. Diese werden dann in hohen Auflagen gedruckt und für 15 US-$ verkauft,
rund 60.000 T-Shirts pro Monat. Die Kunden übernehmen für das Unternehmen auch weitge-
hend das Marktrisiko, da sie sich zum Kauf eines Wunsch-T-Shirts (moralisch) verpflichten,
bevor dieses in Produktion geht. Dieses Commitment wird durch das Anklicken eines kleinen
Buttons gegeben („I'd buy it“), der besagt, dass ein Nutzer ein Design nicht nur für gelungen
hält, sondern dieses auch kaufen würde. Die Kunden übernehmen weiterhin die Werbung für
Threadless, stellen die Models und Photographen für die Katalogphotos und werben neue
Kunden.

2
Unter einem Kunden verstehen wir den Abnehmer und vor allem Nutzer einer Leistung und unter einem
Unternehmen den Anbieter und vor allem Hersteller einer Leistung. Ein Kunde bzw. Nutzer kann dabei
auch ein Unternehmen sein (im B-to-B-Geschäft). Bei der Leistung kann es sich sowohl um materielle Pro-
dukte als auch Dienstleistungen handeln.
3
Siehe für eine ausführliche Darstellung des Falls http://tinyurl.com/ptbyy.
Herausforderungen für die Unternehmensführung durch Open Innovation und Interaktive Wertschöpfung 5

Die Kunden fühlen sich aber nicht etwa ausgenutzt, sondern zeigen im Gegensatz große
Begeisterung für das Unternehmen, das ihnen diese Mitwirkung ermöglicht. Sie beschützen
Threadless vor Nachahmern und übermitteln unzählige Ideen, wie das Unternehmen noch
besser und produktiver werden kann. Threadless selbst konzentriert sich auf die Bereitstellung
und Weiterentwicklung einer Interaktionsplattform, auf der die Interaktion mit und zwischen
den Kunden abläuft. Das Unternehmen definiert zudem die Spielregeln, honoriert die Kun-
dendesigner, deren Entwürfe für eine Produktion ausgewählt wurden (der Urheber eines
Gewinnerdesigns erhält 2.000 US$) und steuert den eigentlichen materiellen Leistungserstel-
lungsprozess (Herstellung und Distribution).

2 Von Hierarchie und Markt zur interaktiven Wertschöpfung


Das Beispiel Threadless ist mehr als eine kreative Spielerei. Es ist eine völlig neue Art der
Koordination arbeitsteiliger Wertschöpfung. Arbeitsteilung ist das Grundprinzip unseres
Wirtschaftssystems. Sie hilft, Spezialisierungseffekte zu nutzen und komplexe Aufgaben
effizient zu bewältigen. Gleichzeitig aber verursacht Arbeitsteilung auch Aufwand (Transak-
tionskosten). Deshalb suchen Ökonomen seit jeher nach Wegen, die arbeitsteiligen Prozesse
effizient zu organisieren. Hierzu werden bislang zwei wesentliche Alternativen unterschieden:
die hierarchische Koordination im Unternehmen (Erstellung einer Leistung im Unternehmen)
oder die Nutzung des Marktmechanismus über Angebot und Nachfrage (Einkauf der Leistung
am Markt). Eine Zwischenform bilden die Varianten von Unternehmensnetzwerken.
Die heute immer noch dominierende Vorstellung, wie Unternehmen Werte schaffen, kann auf
Prinzipien zurückgeführt werden, die vor 100 Jahren in der damals aufkommenden Industrie-
gesellschaft entwickelt wurden. Vor allem Frederick Taylors Ansatz des „Scientific Manage-
ment“ legte mit seinem Fokus auf die Senkung von Produktionskosten die Basis für alle
folgenden Debatten. Rationalprinzip, Güterknappheit und das Allokationsproblem kennzeich-
nen in seinem Modell die betriebswirtschaftliche Problemstellung von Organisation, Arbeits-
teilung und Koordination der Wertschöpfung [Gutenberg 1951; Kosiol 1959]. Im Mittelpunkt
steht die effiziente Durchführung innerbetrieblicher Wertschöpfungsprozesse. Porters [1985]
Modell einer Wertschöpfungskette präsentierte der Managementlehre einen integrierten An-
satz, wie sie den Wertschöpfungsprozess von der Entwicklung über Produktion und Vertrieb
bis hin zur Auslieferung von Gütern und Leistungen mithilfe des Produktionsfaktors Informa-
tion organisieren und steuern können. Anfang der 1990er Jahre wurde durch Hammer und
Champy [1993] mit der Idee des Business Process Reengineering ein in der Wirtschaft be-
geistert aufgenommener Ansatz vorgestellt, wie durch eine Konzentration auf die interne
Effizienz in einem Unternehmen Wert geschaffen werden kann, indem die Differenz zwi-
schen der Zahlungsbereitschaft und den gesamten Herstellungskosten ausgeweitet wird.
Diese interne Sichtweise wurde später um das Bild eines grenzenlosen (oder gar virtuellen)
Unternehmens erweitert, in dem ein eng verbundenes Netzwerk professioneller Akteure eine
abgestimmte und friktionslose Wertschöpfungskette schafft, die viele Organisationen umfasst
[Picot/Reichwald 1994, S. 556; Picot et al. 2003, S. 13]. Die Zulieferer (und Zulieferer der
Zulieferer) wurden in die Suche nach neuen effizienten Wertschöpfungsarrangements einbe-
zogen (Supply Chain Management). Mit dem Aufkommen des Internets und den daraus fol-
genden Potenzialen zur Senkung von Transaktionskosten wurden schließlich auch die Schnitt-
6 Frank Piller, Kathrin Möslein, Ralf Reichwald

stellen zu Abnehmern in die Effizienzbetrachtung einbezogen (Electronic Commerce). Ent-


lang aller Stufen dieser Evolution steht dennoch stets die Annahme, dass das Streben nach
interner (unternehmens- bzw. netzwerkintern) Kosteneffizienz die Quelle betrieblicher Wert-
schöpfung ist.
Doch Kunden und Nutzer honorieren in der Regel nicht die interne operative Effizienz eines
Anbieters bzw. Netzwerks. Sie mögen zwar günstige Preise als Resultat dieser Effizienz, doch
hat sich gezeigt, dass das Streben nach immer weiterer operativer Effizienz innerhalb eines
Netzwerks keine Quelle dauerhaft nachhaltiger Wettbewerbsvorteile ist [Porter 1996]. Opera-
tive Effizienz ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für dauerhafte
Wettbewerbsvorteile. Vielmehr zeigt sich heute, dass vor allem die Gestaltung der Schnittstel-
len und der Aktivitäten an der Peripherie eines Unternehmens wesentliche Ansatzpunkte für
die Schaffung von Wert bildet. Damit tritt auch ein Akteur in den Mittelpunkt der Betrach-
tung, der bislang in der Debatte um die Gestaltung der Wertschöpfung weitgehend ausgeblen-
det war: der Kunde bzw. Nutzer.
Wir sehen heute, dass Kunden das Ergebnis betrieblicher Wertschöpfung nicht nur konsumie-
ren, sondern selbst einen wesentlichen Beitrag bei der Schaffung von Wert leisten [Ramirez
1999, S. 51]. Dies geschieht dabei nicht nur autonom in der Kundendomäne, ein Bereich, der
in der Mikroökonomie schon lange im Zusammenhang mit Konsumentenproduktion unter-
sucht wurde, [siehe z. B. Becker 1965; Lancaster 1966], sondern auch in einem interaktiven
und kooperativen Prozess mit Herstellern und anderen Nutzern einer Leistung. Kunden und
Nutzer tragen dazu bei, die Kenntnisse, Fähigkeiten und Ressourcen eines Herstellers zu
erweitern [Gibbert et al. 2002, S. 460]. Interaktive Wertschöpfung heißt, die Kunden als
strategischen Faktor in die Aktivitäten eines Herstellers zu integrieren, die in einem erweiter-
ten Wertschöpfungsnetzwerk einen Wert schaffen. Die Wahrnehmung dieses Wertes umfasst
dabei weit mehr als die Erhöhung der Differenz zwischen Zahlungsbereitschaft und interner
Effizienz. Ziel ist vor allem die gemeinsame Schaffung von Innovationen auf der Produkt-
und Prozessebene.
Dazu wird eine Aufgabe, die bislang intern durch die Mitarbeiter eines Unternehmens (oder
innerhalb eines geschlossenen Netzwerks klar definierter Partner) erstellt wurde, an eine
offene, undefinierte und große Gruppe von Akteuren in der Peripherie des Unternehmens
vergeben [Benkler 2002; Huff et al. 2006]. Diese Vergabe erfolgt in Form eines offenen
Aufrufs zur Mitwirkung. Das heißt, dass entweder das fokale Unternehmen oder ein Akteur
innerhalb des Netzwerks ein Problem technischer oder organisatorischer Art formuliert („Su-
che ein tolles T-Shirt-Design!“, „Wie kann ich das T-Shirt waschen, ohne das es einläuft?“,
„Wer tauscht sein Panda-T-Shirt gegen ein StarWars-T-Shirt?“) und auf einer offen zugängli-
chen Plattform veröffentlicht. Alle potenziellen Akteure entscheiden dann selbst, ob sie mit-
wirken oder nicht (Selbstselektion). Die Erstellung dieser Aufgabe erfolgt anschließend oft
kollaborativ zwischen mehreren Nutzern (Peer-Production), in anderen Fällen aber auch durch
einen Akteur allein. Neu ist aber nicht nur die Aufgabenverteilung (Ausschreibung und
Selbstselektion), sondern auch die Art und Weise, wie eine komplexere Aufgabe arbeitsteilig
gelöst wird.
Denn entlang der Evolution der Organisation arbeitsteiliger Wertschöpfung ändert sich nicht
nur die Sichtweise, welche Akteure am Wertschöpfungsprozess aktiv beteiligt sind, sondern
Herausforderungen für die Unternehmensführung durch Open Innovation und Interaktive Wertschöpfung 7

auch die Vorstellung, wie das Organisationsproblem, d. h. die Koordination und Motivation
der einzelnen Akteure, die die Gesamtaufgabe arbeitsteilig vollziehen, am besten gelöst wer-
den kann:
x Taylors Modell setzt vor allem auf die hierarchische Koordination und Motivation durch
finanzielle Anreize in einem geschlossenen Wertschöpfungssystem.
x Die Netzwerkansätze erweitern diese Vorstellung um eine Kombination marktlicher und
hierarchischer Koordinationsformen und betonen darüber hinaus auch eine Motivation
durch nichtmonetäre Anreize.
x Die interaktive Wertschöpfung ergänzt diese beiden klassischen Koordinationsformen
(Hierarchie und Markt) durch einen dritten Weg: die Selbstselektion und Selbstorganisa-
tion von Aufgaben durch (hoch) spezialisierte Akteure, deren Motivation vor allem die
(eigene) Nutzung der kooperativ geschaffenen Leistungen ist, die jedoch durch eine Viel-
zahl weiterer sozialer, intrinsischer und extrinsischer Motive ergänzt werden kann.
Betrachten wir diese Prinzipien am Beispiel Threadless: In einem klassischen Modeunter-
nehmen würde der Designchef den am besten geeigneten Spezialisten mit der Aufgabe
betrauen, ein neues T-Shirt mit einem bestimmten Motiv zu gestalten. Dazu würde er entwe-
der unter den eigenen Mitarbeitern denjenigen aussuchen, den er für das Design am besten
geeignet hält bzw. vielleicht auch einfach nur den Mitarbeiter, der gerade nicht ausgelastet zu
sein scheint. Oder er würde in seinem Adressbuch suchen, um eine externe Designerin zu
finden, die seines Erachtens das „beste“ Design liefern kann. In beiden Fällen wird der Ent-
wurf mit einem festen Preis entlohnt. Der Designchef wird einen festen Liefertermin nennen,
damit der gesamte Produktionsprozess des Produkts nicht gefährdet wird, und die Einhaltung
dieses Termins überwachen. Wird das Design geliefert, wird er es entweder akzeptieren,
Verbesserungsvorschläge machen oder vielleicht auch ganz verwerfen („Das ist ja was ganz
anderes, als was ich Ihnen im Briefing gesagt habe“) – er koordiniert die arbeitsteilige Wert-
schöpfung mithilfe hierarchischer oder marktlicher Kontrolle.
Bei Threadless dagegen gibt es keine Designchefs, die ihre Mitarbeiter anleiten, bestimmte
Entwürfe zu gestalten. Threadless lädt jeden, der sich dazu berufen fühlt, ein, bei der Prob-
lemlösung mitzuwirken. Ob eine externe Designerin hierbei mitwirkt, wie viel Energie sie in
die Lösung investiert und welche Motive sie dazu veranlasst, bestimmt sie allein selbst. Der
klassische hierarchische Koordinationsmechanismus wird durch Selbstmotivation, Selbstse-
lektion und Selbstorganisation der Akteure ersetzt. Es gibt weder Hierarchien noch klassische
Märkte. Jeder leistet den Beitrag, den sie oder er am besten leisten kann. Dies ist vor allem
dann der Fall, wenn ein Teilnehmer bereits ein Wissen hat, das für die Problemlösung weiter-
verwendet werden kann. Zum Threadless-Modell gehören aber nicht nur die Designer, son-
dern auch die tausenden „gewöhnlichen“ Nutzer, die die Bewertung der neuen Designs über-
nehmen, durch Affiliate-Marketing die Produkte bewerben – und natürlich letztlich die
Produkte kaufen. Unsere Analyse über Threadless zeigt, dass so gut wie alle Kunden, die ein
T-Shirt kaufen, auch vorher andere T-Shirts bewertet haben. Die Beiträge der gewöhnlichen
Nutzer haben aus einer aggregierten Sicht einen genauso bedeutenden Anteil für eine effizien-
te Wertschöpfung des Unternehmens.
Ein anderes klassisches Beispiel für Peer-Production ist Wikipedia, wo die Teilnehmer selbst
sowohl neue Beiträge in das Gesamtsystem integrieren als auch Ergänzungen und Verbesse-
8 Frank Piller, Kathrin Möslein, Ralf Reichwald

rungen bestehender Beiträge vornehmen. Dabei entscheiden alle Akteure selbst, warum und
bei welchen Aufgaben sie mit welcher Intensität mitwirken. Bei Wikipedia ist auch die wich-
tige Aufgabe der Qualitätssicherung auf die Gesamtheit der Beitragenden ausgelagert. Basis
der Qualitätssicherung ist dabei das Normensystem dieser Organisation. Doch auch hoch
komplexe technische Produkte können nach diesen Prinzipien erstellt werden – wenn auch
unter etwas anderen Rahmenbedingungen.
Ein gutes Beispiel dafür bietet Innocentive, ein amerikanischer Intermediär, der gegen Gebühr
Probleme mit externen Problemlösern zusammenbringt. Der Name Innocentive ist ein Kunst-
wort, in dem „Innovation“ mit Anreiz („incentive“) verschmolzen ist. Das Geschäftsprinzip
von Innocentive ist einfach: Eine Firma sucht nach einer Lösung für ein Problem, das ihre
Entwicklungsabteilung allein nicht lösen kann. Sie stellt diese Frage mit einer Beschreibung,
Formeln oder Grafiken auf der Website von Innocentive dar und lobt ein Preisgeld aus, das in
der Regel zwischen 10.000 und 100.000 US$ liegt. Das Preisgeld bekommt der Problemlöser,
der die Aufgabe innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens, z. B. zwei Monate, am besten
löst. Mehr als 100.000 Tüftler haben sich bei Innocentive inzwischen registriert und lesen
regelmäßig die neuen Aufgaben. Der Auftraggeber bleibt dabei anonym, um Firmengeheim-
nisse zu schützen. Im Gegenzug verlangt die Börse vom Fragesteller eine Gebühr. Seit ihrer
Gründung im Jahr 2001 expandiert die Tüftlerbörse kräftig. Ursprünglich war sie eine Aus-
gründung des Pharma-Riesen Eli Lilly. Heute zählen zu den Kunden sogar konkurrierende
Konzerne wie BASF, Novartis, Nestlé oder der Konsumgüterkonzern Procter & Gamble.
Auch hier zeigt sich eine völlig neue Organisation der Wertschöpfung: Statt die Aufgabe an
den „besten“ bekannten internen oder externen Wissenschaftler zu vergeben, wird das Prob-
lem selbst offen ausgeschrieben. Ob jemand sich an der Lösungsfindung beteiligt, entscheidet
jeder selbst.
Eine Evaluierung der Erfolgsquoten von Innocentive zeigt, dass dieses offene Prinzip hoch
effizient ist [Lakhani 2005, S. 120 ff.]: Mehr als die Hälfte aller Probleme werden schnell
gelöst, obwohl in vielen Fällen die internen Abteilungen an der Lösung zunächst gescheitert
waren. Oft gewinnen Problemlöser einen Wettbewerb, die die Lösung vorher schon hatten.
Dies zeigt ein weiteres wesentliches Prinzip interaktiver Wertschöpfung: die effiziente Wie-
derverwertung des vorhandenen Wissens. Viele Gewinner hatten bereits in einer anderen
Domäne eine Lösung für ein ähnliches Problem und können diese dann auf die neue Domäne
übertragen (siehe für eine Beschreibung des gleichen Mechanismus bei Open-Source-
Software [Lakhani/Hippel 2003]. Damit wird ein wesentliches Problem technischer Problem-
lösung überwunden: die „lokale“ Suche nach Lösungen, d. h. klassischerweise kann ein Un-
ternehmen nur in den Bereichen nach Lösungen suchen, die es kennt, bzw. nur solche Lösun-
gen finden, die im Kompetenzbereich seiner Entwickler liegen. Innocentive überwindet – wie
auch Threadless im Vergleich zum Designchef eines klassischen Modeunternehmens – diese
Schranken „lokaler“ Suche.

3 Voraussetzungen der „Commons-based Peer Production“


Das hinter der interaktiven Wertschöpfung stehende Organisationsprinzip wurde vom Yale-
Wissenschaftler Yochai Benkler [2002, 2006] als „commons-based peer production“ bezeich-
net: „peer production“, da eine Gruppe Gleichgesinnter („peers“) gemeinschaftlich ein Gut
Herausforderungen für die Unternehmensführung durch Open Innovation und Interaktive Wertschöpfung 9

produziert, „commons-based“, da das Ergebnis der Allgemeinheit zur Verfügung steht und
auf offenem Wissen („commons“) basiert. Die Idee der interaktiven Wertschöpfung baut auf
der commons-based peer production auf, erweitert diese aber um einen Rahmen, in dem ein
fokales Unternehmen diesen Prozess anstößt, moderiert oder unterstützt – genau wie wir es
bei Threadless oder Innocentive gesehen haben.
Damit diese interaktive Wertschöpfung funktioniert, müssen aber drei Bedingungen erfüllt
sein:
x Erstens muss sich die Gesamtaufgabe in viele Teilaufgaben zerlegen (Prinzip der „Granu-
larität“) und einfach über eine Interaktionsplattform verteilen lassen. Denn nur so kann
die Hürde und der Aufwand für einzelne Nutzer gesenkt werden. Ziel ist, dass komplexe
Aufgaben durch die verteilten Fähigkeiten vieler gelöst werden können, indem einzelne
Nutzer vorhandenes Wissen optimal einbringen. Wikipedia zeigt dieses Prinzip ganz ge-
nau: Ein Nutzer könnte nie das gesamte Lexikon schreiben, die Mitwirkung tausender
Teilnehmer mit jeweils kleinen Aufgaben (ein Stichwort schreiben, einen Fehler verbes-
sern) bewältigt dagegen aus aggregierter Sicht eine gewaltige Aufgabe. Im Fall von
Threadless geschieht dies durch die Zweiteilung der Mitwirkung in „Designer“, also Ak-
teure, die bestimmte kreative Fähigkeiten haben, und „Bewerter“, d. h. (potenzielle) Kun-
den, die nur aufgrund ihres persönlichen Geschmacks entscheiden müssen. Bei Innocenti-
ve sorgen in der Regel genau abgrenzbare Teilprobleme (z. B. „Entwickle ein Molekül
mit diesen Eigenschaften“) für eine mögliche Zuordnung der Aufgabe zu den Fähigkeiten
spezialisierter Wissensträger.
x Zweitens müssen ausreichend viele motivierte Teilnehmer gewonnen werden können. Die
Motivation der teilnehmenden Kunden und Nutzer ist einer der zentralen Aspekte der in-
teraktiven Wertschöpfung. Denn die Ökonomie geht von rational handelnden Akteuren
aus, d. h. sie tragen nur dann etwas zum Erfolg bei, wenn sie dafür auch einen Gegenwert
bekommen. Materielle Anreize fehlen bei den genannten Beispielen aber teilweise völlig.
Bei Threadless stellen mehr als 800 Designer jede Woche neue Designs auf die Seite, ge-
winnen können aber nur drei bis vier. Was motiviert die Designer, hier mitzuwirken?
Zum einen natürlich durchaus der Anreiz auf das Preisgeld, das mit 2000 US-$ ca. vier-
mal so hoch ist wie das übliche Honorar für ein T-Shirt-Design bei einem klassischen
Auftrag. Zum anderen aber vor allem die Möglichkeit, sich in einem Wettbewerb mit an-
deren Nutzern zu messen und dabei auch die eigenen Designfähigkeiten zu zeigen. Denn
für einen (unbekannten) Graphikdesigner ist es sehr schwer, im Markt eine hohe Be-
kanntheit zu erreichen. Threadless bietet ihnen hier eine Plattform, ihre Arbeiten zu zei-
gen und potenzielle Auftraggeber auf ihre Fähigkeiten aufmerksam zu machen. Außer-
dem schätzen die Designer das Feedback, das sie von den Nutzern auf ihre Designs
bekommen. Zu jedem T-Shirt gibt es nicht nur einen Bewertungsscore, sondern auch ein
Forum, wo die Bewerter bis zu 90 Kommentare hinterlassen, von reinen Gefälligkeitsbe-
merkungen bis zu detaillierten Ideen, wie sich ein Design noch verbessern ließe.
Bei Innocentive scheint das hohe Preisgeld auf den ersten Blick ein Motivationsfaktor zu
sein. Jedoch zeigt Karim Lakhani [2005] in einer Dissertation am MIT, dass die Mitwir-
kenden neben der Aussicht auf einen Preis vor allem auch durch den Wettbewerbscharak-
ter motiviert sind: Sie wollen nicht nur mit ihrem Wissen Geld verdienen, sondern ebenso
10 Frank Piller, Kathrin Möslein, Ralf Reichwald

reizt sie auch die Aufgabe des Tüftelns und sich mit anderen Wissenschaftlern aus aller
Welt zu messen.
Die inzwischen recht umfangreichen Arbeiten über die Motivation von Open-Source-
Programmierern zeigen, dass bei aktiven Nutzern die Erwartung des extrinsischen Nut-
zens (Honorar, Nutzung der geschaffenen Lösung) oft durch intrinsische Motive domi-
niert wird. Der intrinsische Nutzen bezieht sich auf die Ausführung einer Tätigkeit selbst.
Eine Aktivität wird um ihrer selbst willen geschätzt und auch ohne unmittelbare Gegen-
leistung ausgeführt. So ist oft ein Interaktionserlebnis selbst als solches positiv und Nut-
zen stiftend, wenn es das Gefühl von Spaß, Kompetenz, Exploration und Kreativität ver-
mittelt [Deci et al. 1999, S. 630 ff.]. Ebenso wird die Mitwirkung mit der Erfüllung
sozialer Normen erklärt. Beispiele für eine solche Norm sind z. B. Reziprozität, Gemein-
nützigkeit oder Fairness.
x Die dritte Voraussetzung schafft den eigentlichen Vorteil einer interaktiven Wertschöp-
fung, ist aber in den Beispielen Threadless und Innocentive derzeit – wenn überhaupt –
nur ansatzweise erfüllt: Offenheit und ein nichtproprietärer Schutz der geschaffenen Güter
(„commons-based“). Nur wenn ohne aufwändige Lizenzierung auf vorhandenes Wissen
zur Lösung neuer Probleme zurückgegriffen werden kann, kommt die Effizienz der neuen
Art der Arbeitsteilung im Netz wirklich zum Tragen. Interaktive Wertschöpfung basiert
so in ihrer Idealform auf der Offenlegung des geschaffenen Wissens der Beitragenden zur
einfachen Nutzung, Kombination und Weiterentwicklung durch andere. Eric von Hippel
[2005, S. 107 ff.] sieht deshalb die bestehenden Patentsysteme als einen wesentlichen
Faktor, der heute in etlichen Bereichen Innovation verhindert. Er verlangt Reformen, um
die Wiederverwertung von vorhandenem Wissen zu erleichtern.
Threadless und Innocentive dagegen agieren noch im klassischen System intellektueller
Schutzrechte: Ein Problemlöser bei Innocentive muss nachweisen, dass er das geistige
Eigentum an einer Lösung hat (am besten durch ein vorhandenes Patent), um dieses dann
gegen Zahlung des Gewinns an den Urheber des Problems zu lizenzieren (eine wesentli-
che Aufgabe von Innocentive ist genau, diesen Transfer zu garantieren). Auch bei
Threadless wird mit dem Gewinn die Übertragung des Copyrights für den T-Shirt-Druck
abgegolten.
Bei Open-Source-Software bestehen diese Schranken dagegen nicht. Hier kann zur Lö-
sung eines Problems weitgehend auf das bereits vorhandene Wissen zurückgegriffen wer-
den, um es in eine eigene Lösung zu integrieren. Diese Vorgehensweise ist auf lange
Sicht viel effizienter, als jedes Mal die genauen Schutzrechte an einem Wissensbaustein
klären zu müssen. Wir können aber an dieser Stelle nicht vertieft in diese Diskussion
einsteigen und wollen nur die grundsätzlichen Mechanismen aufgreifen: Interaktive Wert-
schöpfung funktioniert auch innerhalb klassischer Schutzrechte, ist jedoch erst dann wirk-
lich leistungsfähig, wenn neue offene Schutz- und Lizenzierungsmodelle gefunden wer-
den.
Herausforderungen für die Unternehmensführung durch Open Innovation und Interaktive Wertschöpfung 11

4 Fallstudien zur interaktiven Wertschöpfung


Die Stata Corp. ist ein Hersteller für statistische Software. Das Unternehmen setzt systema-
tisch auf die interaktive Co-Entwicklung seiner Produkte durch die Anwender und hat einen
geeigneten Weg zwischen Offenheit und Geschlossenheit der resultierenden Ergebnisse ge-
funden. Kunden bzw. Anwender der Stata-Software sind überwiegend Wissenschaftler oder
Entwickler, die das Programm für eine Vielzahl statistischer Tests anwenden. Die Software
erlaubt die einfache Programmierung neuer Tests, falls die vorhandenen Anwendungen in
dem Programm eine bestimmte Aufgabe nicht ausreichend (elegant) lösen können. Stata hat
deshalb seine Software in zwei Teile gespalten: in einen proprietären Teil, der die Grundfunk-
tionen bereitstellt, durch das Unternehmen selbst weiterentwickelt und durch eine klassische
Software-Lizenz kostenpflichtig vertrieben wird, und in einen offenen Teil, zu dem die Ge-
meinschaft aller Nutzer wesentliche Beiträge in Form neuer statistischer Algorithmen und
Tests leistet. Stata unterstützt diese Expertennutzer, indem es ihnen eine Entwicklungsumge-
bung und ein Online-Forum zur Verfügung stellt, wo die Nutzer die eigenen Tests austau-
schen, Fragen stellen und Entwicklungen anderer Nutzer weiterentwickeln können [Hippel
2005, S. 128].
Da allerdings nicht alle Nutzer derart versiert sind oder ausreichende Programmierkenntnisse
haben, hat Stata ein Prozedere entwickelt, um regelmäßig die „besten“ bzw. populärsten
Weiterentwicklungen der Nutzer auszuwählen und in die nächste kommerzielle Release-
Version zu integrieren. Diese Entscheidung wird allein im Hause Stata getroffen, dessen
Software-Entwickler auch die ausgewählten Anwendungen der Nutzer verbessern und rei-
bungslos mit der Standardsoftware integrieren. Diese zusätzliche Wertschöpfung durch das
Unternehmen ist auch Anreiz für die Nutzer, ihre Eigenentwicklungen in der Regel ohne
monetäre Gegenleistung für Stata zur Verfügung zu stellen, denn das Motiv für die Eigenent-
wicklung war ja ohnehin die Nutzung der eigenen Anwendung für die eigene wissenschaftli-
che Arbeit.
Wir wollen abschließend noch ein letztes Beispiel betrachten, bei denen die Nutzer eine klas-
sisch organisierte Industrie durch eine vollständige commons-based peer production völlig
gewandelt haben (in Anlehnung an die Beschreibung dieses Beispiels [Hippel 2005,
S. 14 ff.]). Kite-Surfing ist eine der derzeit aufstrebenden Trendsportarten. Der Sport wurde
von Surfern initiiert, die – getrieben von dem Wunsch nach immer höheren und weiteren
Sprüngen – mit der Kombination eines Surfboards und eines Segels vom Drachenfliegen
experimentierten. Aus diesen anfänglichen Versuchen entwickelte sich in den letzten Jahren
eine beachtliche Nischenindustrie, die inzwischen viele Anhänger hat. Die Kite-Surfing-
Industrie ist ein Beispiel dafür, wie Kunden als Produktentwickler die Regeln industrieller
Wertschöpfung verändern können. Sie tragen nicht nur entscheidend zur Entwicklung des
Equipments bei, sondern übernehmen inzwischen auch viele andere Aufgaben, die früher in
der Verantwortung professioneller Hersteller gesehen wurden, allen voran die Koordination
des Produktionsprozesses.
Diese Hersteller, oft gegründet von Sportlern, die ihr Hobby zum Beruf gemacht haben, bil-
den heute eine ca. 100-Millionen-US$-Industrie, die vor allem die Kites (Drachensegel) ent-
wickelt, produziert und vertreibt. Um ein neues Kite-Produkt erfolgreich umzusetzen, werden
vielseitige Fähigkeiten benötigt: Kenntnisse über Materialien und deren Eigenschaften für die
12 Frank Piller, Kathrin Möslein, Ralf Reichwald

Segel, Kenntnisse über Aerodynamik und Physik für die Formen der Segel, Kenntnisse über
Mechanik für die Seilsysteme etc. Die Hersteller sind bei der Entwicklung neuer Designs in
der Regel auf die Kenntnisse beschränkt, über die sie aus der hauseigenen Forschungs- und
Entwicklungsarbeit verfügen, meist kleine Entwicklungsabteilungen aus drei bis fünf Mitar-
beitern. Das Ergebnis sind eher kontinuierliche Weiterentwicklungen und Verbesserungen
bestehender Designs als radikal neue Entwicklungen.
Die Kunden haben dagegen ein viel größeres Potenzial zur Verfügung und keine Werksgren-
zen zu beachten. Initiiert und koordiniert von einigen begeisterten Kite-Surfern existieren
heute eine Reihe von Internetcommunities, in denen die Mitglieder neue Designs für Dra-
chensegel gemeinsam entwickeln, veröffentlichen und kommentieren. Mithilfe einer Open-
Source-Design-Software (eine Art CAD-System) können die Nutzer zum Beispiel auf zero-
prestige.org neue Designs für die Kites entwerfen und zum Download bereitstellen. Anderen
Nutzern dienen diese Designs als Ausgangslage für eine Weiterentwicklung. Vielleicht be-
kommen sie auf diese Weise aber auch die Idee für eine radikal neue Entwicklung. Unter den
vielen hunderten teilnehmenden Nutzern arbeiten manche in ihrem Berufsleben mit neuen
Materialien. Andere studieren vielleicht Physik oder sind gar als Strömungstechniker bei
einem Autohersteller tätig. Oft kann diese Gruppe von Kundenentwicklern auf einen viel
größeren Pool von Talenten und Fähigkeiten zurückgreifen, als dies einem Hersteller möglich
ist. Das Ergebnis ist eine Vielzahl an neuen Entwicklungen, Tests, Modifikationen und
schließlich neuer Designs für Drachensegel, die allen Mitgliedern der Community zur Verfü-
gung stehen (unter einer Open-Source-Lizenz).
Kite-Surfing ist ein besonders spannender Fall, da hier die Kunden als Anwender noch einen
Schritt weiter gehen: Denn was nützt der innovativste Entwurf für einen neuen Kite, wenn
dieser nur als Datenfile existiert? Findige Kunden haben herausgefunden, dass an jedem
größeren See ein Segelmacher existiert, der CAD-Files verarbeiten kann. Die Kunden können
so ein Design ihrer Wahl runterladen, diesen File zum Segelmacher bringen und dort profes-
sionell in ein Produkt umsetzen. Da dieser Prozess keinerlei Innovationsrisiko und Entwick-
lungskosten für den Hersteller beinhaltet, sind die derart hergestellten Drachen oft um mehr
als die Hälfte billiger als die Produkte der professionellen Kite-Hersteller, und das bei oft
überlegender Leistung. Die Koordinationsleistung des Produzierens wird dabei ebenfalls von
den Anwendern übernommen. Setzt sich diese Entwicklung fort, ist leicht vorzustellen, dass
die Kunden Teile dieser Industrie „übernehmen“ bzw. die bisherigen Anbieter in eine reine
„Produzentenrolle“ drängen werden. Die Motivation der Nutzer ist dabei nicht Profitmaximie-
rung oder die Marktführerschaft, sondern das Streben nach dem bestmöglichen Produkt zur
Eigennutzung. Die Anwender, die sich an diesem Prozess beteiligen, haben verstanden, dass
dieses Ziel am besten nicht durch einen geschlossenen, sondern durch einen offenen Innovati-
onsprozess erreicht werden kann – in dem auch die Ergebnisse offen mit allen geteilt werden.
Das eigene Engagement ruft Reaktionen und Beiträge anderer Nutzer hervor und schafft
damit einen höheren Mehrwert für alle.
Herausforderungen für die Unternehmensführung durch Open Innovation und Interaktive Wertschöpfung 13

5 Interaktionskompetenz als zentrale Herausforderung der interaktiven


Wertschöpfung
Die erfolgreiche Umsetzung der interaktiven Wertschöpfung verlangt von Unternehmen wie
ihren Kunden Interaktionskompetenz. Für Unternehmen konkretisiert sie sich sowohl in inter-
aktionsförderlichen Organisations-, Führungs- und Anreizsystemen als auch in den Systemen
und Werkzeugen der Information und Kommunikation (z. B. Toolkits, Interaktionsplattfor-
men). Interaktionskompetenz wird zu einer Kernkompetenz der Organisation im Sinne des
Resource-based View [Prahalad/Hamel 1990]. Hierbei ist nicht nur das Vorhandensein der
Ressourcen von Bedeutung, sondern auch die Art und Weise, wie verschiedene Ressourcen
miteinander verbunden werden können. Zum Aufbau von Kernkompetenzen tragen klassische
Produktionsfaktoren wie maschinelle oder Kapitalressourcen weniger bei als „organisationale
Ressourcen“ im Sinn von etablierten Verfahren, Routinen und Methoden der Koordination
und Führung.
Wenn Innovationen zunehmend über Netzwerke unterschiedlicher Organisationstypen gene-
riert werden, ist der Prozess der Ablauforganisation für die Leistungserstellung über die inter-
ne Herstellerorganisation hinaus zu erweitern. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Wie
der Integration unterschiedlicher Akteure und ihrer Beiträge vor dem Hintergrund diverser
Interessen in einem vernetzten Innovations- und Wertschöpfungsprozess. Eine wichtige Rolle
spielen dabei interaktionsförderliche Anreizstrukturen. Geeignete innerbetriebliche Anreize
müssen die Weitergabe von Kundenwissen im Unternehmen und die Aufnahme von externem
Wissen belohnen. Es ist bekannt, dass nicht in allen Unternehmen eine derartige Offenheit für
den Input der Nutzer herrscht wie bei Stata oder Threadless. Für viele Hersteller ist die Vor-
stellung, dass Nutzer einen (besseren) Beitrag zur Weiterentwicklung der eigenen Produkte
leisten können, sehr neu. Oft sind es einige fortschrittlich denkende Abteilungen im Unter-
nehmen, die eine Initiative zur Integration von Kundeninformation starten und Beiträge durch
die Nutzer anregen. Diese müssen dann aber im Unternehmen durch andere Abteilungen
weiterverarbeitet und genutzt werden. Unter dem Begriff Not-Invented-Here-Syndrom (NIH-
Syndrom) wird im Innovationsmanagement ein Problem diskutiert, das sich genau auf diesen
Transfer bezieht. Katz und Allen [1982, S. 7] definieren das NIH-Syndrom wie folgt: „The
tendency of a project group of stable composition to believe that it possesses a monopoly of
knowledge in its field, which leads it to reject new ideas from outsiders to the detriment of its
performance.“ Klassischerweise wurde das NIH-Phänomen unternehmensintern zwischen
verschiedenen Bereichen nachgewiesen (z. B. die Widerstände der Entwicklungsingenieure,
den Input aus der Marketingabteilung zu berücksichtigen). Es ist anzunehmen, dass Wider-
stände gegen externes Wissen oft noch größer sein können als in Bezug auf den Input eigener
Kollegen. Dies bedeutet im Fall einer interaktiven Wertschöpfung zwischen Kunden und
einem Herstellerunternehmen, dass Wissen aus externen Quellen auf Widerstand bei wenigs-
tens einem Teil der internen Nutzer dieses Wissens stoßen kann.
Ein klassisches Konzept für die Überwindung des NIH-Syndroms ist die Betonung von „Ga-
tekeepern“ [Allen 1977], die ein Entwicklungsteam mit externen Wissensquellen verbinden,
aber zugleich auch nicht zielführende Informationen herausfiltern. Gatekeeper haben sowohl
Mechanismen als auch Anreize, ihr Wissen über externes Wissen mit den relevanten Teilen
der restlichen Organisation zu teilen (siehe [Allen 1977] sowie [Gemünden 1981] und [Moe-
naert/Souder 1990] zur Gestaltung der Gatekeeper-Rolle). Unternehmen sollten in diesem
14 Frank Piller, Kathrin Möslein, Ralf Reichwald

Sinn Gatekeeper einrichten, deren spezielle Rolle die Aufnahme und Weitergabe von Kun-
deninformationen in den internen Entwicklungsprozess des Unternehmens ist. Ein Beispiel
dafür ist das Unternehmen Microsoft [Prahalad/Ramaswamy 2000, S. 82]. Microsoft hat eine
Gruppe von ca. 1500 zentralen Nutzern mit Lead-User-Charakter (Web-Master, Programmie-
rer oder Software-Distributeure), die als so genannte „Microsoft Buddies“ einen wichtigen
Input für die langfristige Entwicklung der Microsoft-Software geben.4 Die Mitglieder dieser
Gruppe werden als erste Betatester in neue Releases einbezogen, geben intensives Feedback
zu bestehenden Produkten und übermitteln Ideen für neue Funktionalitäten. Im Austausch
bekommen sie freie Software und Einladungen zu speziellen Events. Um das NIH-Problem
zwischen den Ideen den „Buddies“ und dem Unternehmen zu verhindern, hat Microsoft „Li-
aison Officers“ nominiert, die als Gatekeeper zwischen Microsofts internen Entwicklungs-
teams und den Nutzern agieren. Diese Manager sind bereits seit langem in der Organisation,
haben ein großes internes Netzwerk, aber auch eine gewisse hierarchische Macht, um die
Integration des Nutzerinputs so gut wie möglich vorantreiben zu können.
Eine andere Maßnahme für den Aufbau einer Interaktionskompetenz auf der Ebene der An-
reizstrukturen ist die Schaffung einer offenen Unternehmensstruktur. Hierzu wird in der Lite-
ratur zum internen Wissensmanagement, das genau vor der gleichen Herausforderung der
Verteilung und Nutzung lokalen Wissens zwischen verschiedenen Domänen steht, der Vorteil
dezentraler Unternehmensstrukturen und einer Delegation von Entscheidungen auf die opera-
tive Ebene betont [Foss et al. 2005]. Die Idee ist es, Entscheidungskompetenz auf die Ebene
zu verlagern, auf der auch das relevante Wissen für die Entscheidungsfindung und -exekution
liegt. Denn auch im Unternehmen ist ein Informationstransfer häufig durch „sticky informati-
on“ geprägt, die eine einfache Weitergabe von einer Stelle zur anderen verhindert. Das kon-
krete Ausmaß dieser Reintegration dispositiver und administrativer Aufgaben hängt dabei von
der Betrachtungsebene und der Aufgabenstellung ab. Grundsätzlich wird jedoch das Subsidia-
ritätsprinzip als Richtlinie für die Dezentralisierung der Funktionen befolgt [Picot et al. 2003,
S. 67]: Entscheidungskompetenz und Ergebnisverantwortung sollen in der Hierarchie so
niedrig wie möglich, d. h. möglichst nahe am eigentlichen Wertschöpfungsprozess angesie-
delt sein. So bedeutet z. B. die prozessnahe Entscheidungskompetenz eine deutlich höhere
Flexibilität der Unternehmung durch viele dezentrale und kundennahe Regelkreise und den
Wegfall langer und fehleranfälliger Entscheidungswege. Gleichzeitig soll die Motivation der
Mitarbeiter durch eine ganzheitliche Aufgabenerfüllung erhöht und der Anreiz für ein markt-
gerechtes Handeln verstärkt werden.
Eine enge Kooperation mit Externen unter Einschluss der Weitergabe des Wissens kann bei
einzelnen Mitarbeitern aber auch zu Befürchtungen führen, sich entbehrlich zu machen und
damit im Extremfall den eigenen Arbeitsplatz zu gefährden. Auf der Unternehmensebene
führt Innovationskooperation häufig zu der Befürchtung, die Konkurrenzfähigkeit einzubü-
ßen. Entsprechend ist es erforderlich, auf diesen Feldern durch transparente Maßnahmen
Vertrauen zu generieren und durch ein gezieltes „Vertrauensmanagement“ die Basis für eine
erfolgreiche Kooperation zu schaffen. Wie jedoch entsprechende Prozesse aussehen können,
die zu erfolgreichen Innovationsnetzwerken führen, welche Faktoren in unterschiedlichen

4
Siehe auch http://msdn2.microsoft.com/de-de/isv/Bb190446.aspx.
Herausforderungen für die Unternehmensführung durch Open Innovation und Interaktive Wertschöpfung 15

Bereichen eine fördernde oder hemmende Wirkung entfalten – das hängt von den betriebli-
chen und überbetrieblichen Organisations-, Führungs- und Anreizsystemen ab.

6 Chancen und Grenzen der interaktiven Wertschöpfung


Die interaktive Wertschöpfung hat, wie wir schon gesehen haben, auch deutliche Grenzen.
Einige wollen wir hier abschließend kurz diskutieren [siehe ausführlich Reichwald/Piller
2009, S. 111 ff.]. Aufgrund dieser Grenzen werden auch in Zukunft die klassischen Modelle
zur Organisation arbeitsteiliger Wertschöpfung ihre Berechtigung behalten. Denn nicht alle
Aufgaben, die in einer Wirtschaft zu erfüllen sind, lassen sich nach dem Modell der interakti-
ven Wertschöpfung lösen. Wesentliche Grenzen dieses Modells sind der Trade-off zwischen
Granularität der Aufgabenteilung und Transaktionskosten sowie die nachhaltige Motivation
der Teilnehmer zur Mitwirkung:
x Trade-off zwischen Granularität der Aufgabenteilung und Transaktionskosten: Je besser
sich eine Wertschöpfungsaufgabe für eine sehr feingliedrige Aufteilung eignet, d. h. eine
hohe Granularität besitzt, desto leichter kann ein größerer Aufgabenumfang an ein Netz-
werk aus Kunden und Nutzern externalisiert werden. Ebenso können auf diese Weise
leichter Spezialisierungseffekte im Netzwerk genutzt werden. Allerdings bedarf es der in-
nerbetrieblichen Koordination und Integration der einzelnen Wertschöpfungsbeiträge, die
bei einer feingliedrigen Aufgabenteilung aber hohe interne Kosten verursacht. Deshalb ist
bei Aufgaben, die sich nicht einfach digital abbilden lassen, eine interaktive Wertschöp-
fung viel schwieriger als bei rein digitalen Gütern.
Doch ist in vielen Bereichen heute eine Trennung des Informationsanteils und des physi-
schen Kerns recht einfach möglich: T-Shirts, ein klassisches materielles Produkt, wurden
von Threadless zu einem Informationsgut gewandelt, das erst kurz vor der Produktion die
digitale Gestalt verlässt. Gleiches gilt für die Drachensegel im Kite-Surfing-Beispiel. Auf
der anderen Seite ist das ambitionierte „OSCAR-Projekt“, das Projekt zur Schaffung ei-
nes „Open-Source Car“, bislang jedoch weitgehend gescheitert. Das Problem scheint hier
unter anderem die Schwierigkeit zu sein, einen komplexen technischen Vorgang wie die
Entwicklung eines Automobils allein dezentral im Netz zu koordinieren.
x Motivation der Teilnehmer: Eine weitere Grenze ist die Motivation der Teilnehmer. Bis-
lang scheint die Begeisterung bei den Nutzern und Unternehmen grenzenlos. Das Wissen
der Kunden bzw. Nutzer wird als großer ungenutzter Wissenspool gesehen, den es nur
abzuschöpfen gilt. Viele Unternehmen versuchen derzeit, teilweise recht unbeholfen, die
Fähigkeiten ihrer Kunden und Anwender zu nutzen. (Piller [2006] beschreibt am Beispiel
des Unternehmens Kraft, wie man es nicht machen soll.) Solange jedoch mit solchen Ini-
tiativen keine klaren Anreizstrukturen verbunden sind, werden die Nutzer nach einer Pha-
se der Euphorie („Das Unternehmen hört mir ja endlich mal zu“) schnell in einer Ernüch-
terung verfallen („Die saugen ja nur mein Wissen ab“) und nicht mehr zur Mitwirkung
bereit sein.
Ein wesentlicher Punkt ist an dieser Stelle sicherlich die freie, nichtproprietäre Verfüg-
barkeit des resultierenden Wissens. Diese hat nicht nur eine produktive Wirkung, wie be-
reits oben diskutiert, sondern auch einen motivierenden Effekt (Fairness, vor allem aber
16 Frank Piller, Kathrin Möslein, Ralf Reichwald

sofortige Nutzungsmöglichkeit durch die Beitragenden). Eine Vielzahl der heute herr-
schenden Geschäftsmodelle bestehender Unternehmen verhindert jedoch diese Offenheit.
Deshalb müssen Unternehmen sehr genau die Motive ihrer Kunden zur Mitwirkung ken-
nen und diese durch entsprechende Anreize bedienen [siehe auch Brockhoff 2005]. Bei
vielen Unternehmen scheinen dafür aber sowohl Wissen als auch Verständnis zu fehlen.
Interaktive Wertschöpfung kann deshalb nicht einfach als „Outsourcing“ interner Aufgaben
an die Peripherie gesehen werden, sondern verlangt vielmehr eine aktive Beteiligung durch
den Anbieter, der hierfür bestimmte Ressourcen und Fähigkeiten besitzen muss. Diese Inter-
aktionskompetenz konkretisiert sich in den Organisations-, Führungs- und Anreizsystemen
und in Systemen und Werkzeugen der Information und Kommunikation, um den Interakti-
onsprozess effizient, effektiv und auch mit entsprechender Usability ablaufen zu lassen. Bis-
lang haben nach unserer Einschätzung nur wenige Unternehmen diese Interaktionskompetenz
überzeugend aufgebaut.
Deshalb ist interaktive Wertschöpfung auch kein dominierendes System, das alte Wertschöp-
fungssysteme über Nacht ablösen wird. Viele Unternehmen stehen bei der Umsetzung der
interaktiven Wertschöpfung erst ganz am Anfang. Man sollte aber nicht vergessen, dass auch
die klassische Massenproduktion viele Jahrzehnte gebraucht hat, bis sie in modernen Produk-
tionssystemen perfektioniert wurde. Genauso wird es auch noch etliche Zeit dauern, bis sich
die interaktive Wertschöpfung als breites Phänomen zeigt. Ein Faktor ist dabei jedoch anders:
Anders als bei klassischen Unternehmensformen, die dem Beharrungsvermögen des Mana-
gements ausgesetzt waren, bestimmen heute Mitarbeiter und Kunden in Interaktion den Wan-
del und treiben ihn voran. Interaktive Wertschöpfung ist aber nicht universell anwendbar. Es
handelt sich vielmehr um eine Ergänzung bewährter Ansätze und Instrumente des Innovati-
ons- und Wertschöpfungsmanagements. Die alten Prinzipien haben zwar weiter Bestand, die
neuen aber schaffen eine Grundlage für neue Wege zu Wettbewerbsvorteilen.

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Vom Ideenwettbewerb zum externen Vorschlagswesen –
Internetbasierte Integration von Kunden in den
Innovationsprozess bei adidas

Dominik Walcher

1 Hintergrund
Seit längerem war es das oberste Ziel der adidas-Salomon AG, nach alternativen Geschäfts-
feldern zum klassischen Massengeschäft zu suchen. Als Konsequenz wurde das Mass-
Customization-Projekt mi adidas entwickelt und im Jahr 2000 erfolgreich in den Markt einge-
führt. Grundidee von mi adidas ist es, Schuhe, die an die individuellen Bedürfnisse des Trä-
gers angepasst sind, nicht wie bislang nur professionellen Athleten, sondern allen Interessier-
ten anzubieten. Da der Kunde beim Mass Customization-Ansatz stark in den Leistungs-
erstellungsprozess integriert wird, waren die mi adidas-Verantwortlichen von Anfang an auch
daran interessiert, den Kunden aktiv in den Innovationsprozess mit einzubeziehen. Zu diesem
Zweck sollte eine internetbasierte Integrationsmethode entwickelt werden [Walcher 2007,
S. 75 ff.].
Adidas startete im Jahr 2000, nach einer zweijährigen Vorbereitungsphase, das Mass Custo-
mization-Projekt mi adidas. Zunächst wurde die Möglichkeit der Schuhindividualisierung nur
für den Bereich Fußball und Laufen angeboten, eine Erweiterung des Angebots auf andere
Sportarten wie etwa Tennis war aber von Anfang an geplant [Berger/Piller 2003, S. 9 ff.]. Bei
mi adidas kann der Kunde nicht nur zwischen verschiedenen Farbgestaltungen und Schriftzü-
gen für den gewünschten Schuh wählen, sondern auch mit Hilfe von verschiedenen Messsys-
temen die exakte Länge und Breite seiner Füße sowie die Besonderheiten seines Laufstils
bestimmen lassen. Ein derartiger Service, bei dem auf die Wünsche des Kunden hinsichtlich
Passform (fit), Funktion (performance) und Aussehen (design) eingegangen wird, war bislang
nur professionellen Athleten vorbehalten. Die Schuhe werden zu einem Preis angeboten, der
etwa 50 % über dem des Standardschuhs liegt.
Die Erhebung der Individualisierungsinformationen erfolgt in den Verkaufsräumen von
Sporthäusern an einem mobilen Konfigurationsterminal, der so genannten mi adidas Unit.
Diese Units samt Betreuungsteam können von Sporthändlern für einen Zeitraum von wenigen
Tagen bis mehreren Wochen gebucht werden. Allen Terminals ist gemein, dass speziell aus-
gebildete Produkttrainer die kundenindividuellen Anforderungen erfassen. Die Termine, an
denen eine Unit in einem Sportgeschäft aufgebaut wird, werden im Vorfeld auf der adidas-
Website und durch den Sporthändler bekannt gegeben. Das Terminal besteht aus einem stati-
schen Präzisionsmessgerät, mit Hilfe dessen die Fußlängen und -breiten bestimmt werden,
einer Sensormatte, dem so genannten Footscan-System, mit dem die dynamische Druckvertei-
lung der Füße ermittelt wird, einem Laptop, der die Informationen sammelt und verarbeitet
sowie einem Regalsystem mit mehreren hundert Probeschuhen. Die Erhebung der kundenin-
20 Dominik Walcher

dividuellen Daten wird in mehreren Schritten durchgeführt: (1) Im ersten Schritt erfolgt die
Erfassung der genauen Länge und Breite jedes Fußes. Dies geschieht mit dem Messsystem,
auf das sich der Kunde zu Beginn des Konfigurationsprozesses nach Ausziehen seiner Schuhe
stellen muss. (2) Im nächsten Schritte erfolgt die Untersuchung des Laufverhaltens. Hierzu
wird der Kunde aufgefordert, mehrmals ohne Schuhe so über die Footscan-Matte zu laufen,
wie es seinem gewöhnlichen Stil entspricht. Die durch das dynamische Messsystem ermittelte
Druckverteilung der abrollenden Füße wird dem Produkttrainer am Computerbildschirm
sofort visualisiert und er kann dem Kunden die Besonderheiten seines Laufstils erläutern. (3)
Anschließend erfolgt das Testen eines Probeschuhs. Ein wesentlicher Bestandteil der Unit
sind die Regale mit den Probeschuhen. Nach Eingabe der Maße und Bestimmung des Lauf-
verhaltens schlägt der Computer einen Schuh für jeden Fuß vor, welcher vom Produkttrainer
dem Kunden zum Anprobieren zur Verfügung gestellt wird. Hier hat der Kunde die Möglich-
keit, den vom System bestimmten Schuh auszuprobieren und Änderungswünsche zu äußern.
(4) Der nächste Schritt besteht aus der Auswahl des individuellen Schuhdesigns. Am Compu-
terbildschirm wird ein ungestalteter, weißer Basis-Schuh dargestellt, der sich in alle Richtun-
gen drehen und wenden lässt. Der Kunde kann nun verschiedene Bereiche des Schuhs wie
beispielsweise Zunge, Oberleder, Streifen etc. auswählen und auf einer Farbpalette eine von
50 verschiedenen Farben wählen. Schließlich hat er die Möglichkeit, auf jeden Schuh ein
Monogramm mit maximal acht Zeichen (Buchstaben oder Zahlen) sticken zu lassen. (5) Im
letzten Schritt erfolgt die Erfassung der persönlichen Daten des Kunden; auch werden Zah-
lungs- und Auslieferungsmodalitäten besprochen [Berger/Piller 2003, S. 9 ff.].

2 Kundenintegrationsprojekt mi adidas-und-ich
Das Kundenintegrationsprojekt startete mit einer intensiven Untersuchungsphase, innerhalb
derer das spezifische Innovationsmanagement bei adidas bzw. mi adidas untersucht wurde.
Darauf aufbauend wurden zahlreiche Integrationskonzepte entwickelt. Die Entscheidung
durch die adidas-Verantwortlichen fiel schließlich auf einen internetbasierten Ideenwettbe-
werb als die für mi adidas geeignetste Kundenintegrationsmethode. Der Ideenwettbewerb
sollte so gestaltet werden, dass kreative Beiträge zur Verbesserung bzw. Neuausrichtung des
bestehenden Kaufvorgangs einschließlich der Nachkaufphase eingesendet werden und nicht
zur Verbesserung der bestehenden Produkte. Der Fokus lag somit auf Dienstleistungs- und
nicht auf Produktinnovationen.

2.1 Aufbau
Während der Durchführung des mi adidas-und-ich-Projekts wurde der letzte Schritt im Kon-
figurationsprozess durch die Aufklärung des Kunden über das Projekt ergänzt. Grundsätzlich
wurde folgender organisatorischer Ablauf verfolgt: (1) Mit dem Projektstart wurde der Kunde
am Verkaufsterminal darauf hingewiesen, dass er in den nächsten Tagen via E-Mail zur Teil-
nahme am Projekt eingeladen wird. Die Teilnahme war gemäß den Vorgaben der adidas-
Verantwortlichen ausschließlich für mi adidas-Kunden im deutschsprachigen Raum für den
beschränkten Zeitraum von sechs Monaten vorgesehen. (2) Hinsichtlich des Sportschuhtyps
wurden keine Einschränkungen gemacht, sodass sowohl Kunden von Laufschuhen als auch
von Fußballschuhen teilnehmen konnten. (3) Um nur den mi adidas-Kunden den Zugang zu
Vom Ideenwettbewerb zum externen Vorschlagswesen 21

der Plattform zu gewähren, wurden in der Einladungs-Mail die persönlichen Zugangsdaten


übermittelt. Nahm der Kunde innerhalb von sieben Tagen nicht teil, so wurde eine Erinne-
rungs-Mail versandt. (4) Die Preise für die von einer adidas-internen Jury ermittelten drei
besten Einsendungen bestanden aus einer Einladung nach Herzogenaurach mit Einkaufsgut-
scheinen im Wert von je 250,- €.
Hat sich der Kunde erfolgreich mit den in der E-Mail enthaltenen Zugangsinformationen
angemeldet, so gelangt er auf eine personalisierte Website, auf der er weitere Informationen
zum Projekt erhält und wird schließlich zum Ideenwettbewerb weitergeleitet. Grundsätzlich
ist der Ideenwettbewerb in zwei Bereiche geteilt: Zum einen gibt es den Bereich „gestalte“,
bei dem der Kunde seine Beiträge systematisch formulieren kann, zum anderen findet sich der
Bereich „bewerte“, bei dem der Kunde die Möglichkeit hat, die Ideen anderer Teilnehmer zu
bewerten und fortzuführen. Die systematische Ideenformulierung im „gestalte“-Bereich wird
durch eine Visualisierung der wichtigsten Stationen des Kaufprozesses und Situationen der
Nachkaufphase unterstützt. Mit Hilfe einer On-Mouse-Over-Funktion wird dem Kunden beim
Überfahren der Bilder angezeigt, um welche Situation und Teilschritte es sich im Speziellen
handelt. Nach Auswahl einer Station durch Anklicken des Bildes hat der Kunde die Möglich-
keit, in ein Titelfeld eine passende Überschrift für seinen Beitrag zu schreiben und in einem
darunter erscheinendem Freitextfeld seine kreativen Gedanken in beliebiger Länge auszufor-
mulieren. Ziel des gesamten Projektes war es, festzustellen, ob die Kunden sich überhaupt an
dem Projekt beteiligen (= Teilnahmeverhalten) und ob die beim Ideenwettbewerb eingesand-
ten Beiträge überhaupt kreativ sind (= Leistungsverhalten).

Abb. 1: „gestalte“-Seite des Wettbewerbs [Walcher 2007, S. 281]


22 Dominik Walcher

2.2 Teilnahmeverhalten
Innerhalb der sechsmonatigen Projektphase wurden Einladungen an insgesamt 774 Kunden
versendet. Beim Ideenwettbewerb wurden insgesamt 103 Beiträge eingesendet. Dabei zeigte
sich, dass 82 Beiträge als sinnvoll bezeichnet werden können. Die 21 ausgeschlossenen Bei-
träge stellen mehr oder weniger ernst gemeinte Einträge dar, die vermutlich überwiegend zum
Testen des Systems getätigt wurden. Die 82 verwertbaren Beiträge wurden von insgesamt 57
Personen verfasst. Dies beruht auf der Tatsache, dass einige Personen mehrere Beiträge ein-
gesandt hatten. Jeweils eine Idee wurde von 38 Personen, jeweils zwei Ideen wurden von 15
Personen und jeweils drei Ideen wurden von drei Personen eingesandt. Eine Person verfasste
sogar fünf kreative Beiträge [Walcher 2007, S. 100 ff.].

2.3 Leistungsverhalten
Neben der reinen Feststellung der Beteiligungszahlen muss darüber hinaus auch die Qualität
(Kreativität) der eingesandten Ideen überprüft werden. Hierzu wurde auf die von der Kreativi-
tätsforscherin Amabile entwickelten „Consensual Assessment Technique“ (CAT) zurückge-
griffen [Amabile 1996, S. 41 ff.]. Konkret bewerteten fünf adidas-interne Experten die Bei-
träge an Hand der vier Dimensionen (1) Originalität, (2) Kundennutzen, (3) Anzahl der
Nutznießer und (4) Ausarbeitungsgrad. Die Beurteilung erfolgte auf einer siebenstufigen
Skala, wobei null für keine Ausprägung und sechs für eine sehr hohe Ausprägung stand. Der
Gesamtscore ergab sich durch Addition der Einzelscores. Aufgrund der Tatsache, dass fünf
Experten bei vier Dimensionen Werte zwischen null und sechs verteilt hatten, ergab sich ein
Maximalscore von 120 (= fünf Experten mal vier Bewertungsdimensionen mal max. sechs
Punkte) und ein Minimalscore von Null. Auf Basis dieser Gesamtscores konnten alle 82
Beiträge in eine Reihenfolge gebracht werden. Da einige Teilnehmer mehrere Ideen einge-
sandt hatten, wurde beschlossen, jeweils nur den Beitrag mit dem höchsten Score zu verwen-
den, da dies der für die Untersuchung relevanten Maximalleistung des Kunden entsprach. So
wurden die 57 Teilnehmer des mi adidas-Ideenwettbewerbs gemäß ihrer Kreativitätsleistung
in eine finale Reihenfolge gebracht. Die Auswertung ergab einen Maximalscore von 107 und
einen Minimalscore von 51.
Zur Verdeutlichung wurden alle Einzelscores in Gruppen eingeteilt. Die Einteilung erfolgte in
Fünferschritten, so dass zwölf Gruppen von 50-54 bis 105-109 entstanden. Es zeigte sich,
dass die Scoreverteilung einer Normalverteilungskurve folgte. Anhand dieser Verteilung
konnte eine übergeordnete Einteilung aller Beiträge in die Kategorien Kommentare, Verbes-
serungsvorschläge und neue Ideen vorgenommen werden. Es wurde festgelegt, die fünf von
sehr geringer Kreativität geprägten Beiträge unterhalb der Scoremarke von 65 als Kommenta-
re, die 46 Beiträge mit Leistungsscores zwischen 65 und 100 als Verbesserungsvorschläge
und die sechs Beiträge über der Scoremarke von 100 als neue Ideen zu bezeichnen [Walcher
2007, S. 118]. Die Abb. 2 zeigt diese Kategorisierung anhand der Normalverteilungskurve.
Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass ca. zehn Prozent der eingesandten Beiträge als
völlig neue Ideen klassifiziert werden konnten.
Vom Ideenwettbewerb zum externen Vorschlagswesen 23

Anzahl
10
10

8 7
8
7
5
5
6
4
4
4

2 2 2
2
1

50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110 115


Kreativscore

Kommentare (n=5) Verbesserungsvorschläge (n=46) Neue Ideen (n=6)

Abb. 2: Verteilung des Kreativscores [Walcher 2007, S. 118]

2.4 Motive und Einstellungen


Nachdem nachgewiesen wurde, dass Kunden (1) am Ideenwettbewerb teilnehmen und (2) die
Ideen zum Teil von sehr hoher Qualität sind, sollten nun die Gründe für das festgestellte
Leistungsverhalten untersucht werden. Parallel zur Ideeneingabe wurden den Teilnehmern
daher auch Fragen zu ihren Motiven und Eigenschaften gestellt. Die Konzeptualisierung und
Operationalisierung der Einstellungskonstrukte basierte auf Skalen aus der Konsumentenver-
haltensforschung [Bruner et al. 2001] sowie auf Analysen der stetig wachsenden Literatur im
Bereich der Lead-User-Forschung [Franke/Shah 2003; Hippel 2005]. Die Konzeptualisierung
und Operationalisierung der Motivationskonstrukte erfolgte auf Basis einer Auswertung von
Ergebnissen aus der Open-Source-Forschung [Franck/Jungwirth 2003; Osterloh et al. 2002].
Die erhobenen Daten wurden mit Hilfe von explorativen und konfirmativen Faktoranalysen
aggregiert und auf Diskriminanz- und Konvergenzvalidität geprüft. Bezüglich Reliabilität
wurde während der explorativen Faktorenanalyse Cronbach’s Alpha und mit Hilfe der kon-
firmativen Faktorenanalyse die Indikatorreliabilitäten, die durchschnittlich erfasste Varianz
sowie die Faktorreliabilitäten bestimmt [Walcher 2007, S. 220 ff.].
Auf Seiten der Eigenschaften konnten folgende Faktoren ermittelt und hinsichtlich Gütekrite-
rien getestet werden: Involvement, Trendführerschaft, Meinungsführerschaft, Wissen, Erfah-
rung und Neugier. Bei den Motiven konnten folgende Faktoren festgestellt werden: Identifi-
kation, Selbstmarketing, Anerkennung, Hedonismus, Vergütung und Altruismus. Innerhalb
einer multiplen linearen Regression (schrittweises Vorgehen) wurde der Zusammenhang
zwischen den ermittelten Faktoren und dem Kreativscore untersucht. Bei den Eigenschaften
erwiesen sich Involvement ( E 4, 86 *** ), Neugier ( E 2, 83 ** ), Wissen ( E 2, 849 ** ),
Meinungsführerschaft ( E 2,11** ) und Erfahrung ( E 0, 99 * ) als signifikant, bei den Moti-
ven Identifikation (mit der Marke adidas) ( E 1, 87 *** ), (Wunsch nach) Kontakt (mit den
Verantwortlichen) ( E 0, 83 ** ), Anerkennung (durch Verantwortliche oder andere Teilneh-
24 Dominik Walcher

mer) ( E 0, 81* ) und Hedonismus (= Spaß, Stimulation etc.) ( E 0, 63 * ) [Walcher 2007,


S. 220 ff.].1

3 Externes Vorschlagswesen
Insgesamt wurde die Untersuchung von den adidas-Entscheidern nach Auswertung der erho-
benen Daten sehr positiv beurteilt. Über die Qualität mancher Ideen waren die Beteiligten
sogar regelrecht begeistert. Es wurde darauf gedrängt, Überlegungen zur permanenten Instal-
lation eines „offenen Kreativkanals“ anzustellen.

3.1 Struktur
Betrachtet man die (in den allermeisten Unternehmen) bereits vorhandenen Managementsys-
teme, so können zwei Bereiche als Orientierungshilfe und Anknüpfungspunkte identifiziert
werden: das betriebliche Vorschlagswesen (BVW) sowie das Beschwerdemanagement [Kum-
mer/Genz 2001; Stauss/Seidel 2002]. Das betriebliche Vorschlagswesen stellt im Grunde
einen permanenten unternehmensinternen Ideenwettbewerb dar. Das Beschwerdemanagement
öffnet das Unternehmen zum Kunden. Durch Orientierung an Strukturen des betrieblichen
Vorschlagswesens und des Beschwerdemanagements sowie unter Einbezug der Ergebnisse
der empirischen Untersuchung wurde das System des externen Vorschlagswesens (vgl.
Abb. 3) entwickelt, welches durch interaktive Kommunikation mit den Kunden deren Einbe-
ziehung in den betrieblichen Innovationsprozess ermöglicht.
Zur Einreichung der externen Innovationsvorschläge soll eine internetbasierte Interaktions-
plattform dienen. Die positiven Erfahrungen aus dem mi adidas-Projekt zeigen, dass diese Art
der Interaktion von den Kunden sehr gut angenommen wird, wobei die Aufgabenstellung
durch die multimediale Darstellung leicht verständlich und nutzerfreundlich aufbereitet wer-
den kann. Grundsätzlich ist zu bemerken, dass innerhalb eines Unternehmens für verschiede-
ne Produkte und Prozesse ein externes Vorschlagswesen installiert werden kann. Der Kunde
wählt sich ein Gebiet aus, zu dem er etwas beitragen möchte, und findet dort die entsprechend
gestalteten Webseiten. Die Annahme der Ideen erfolgt gemäß der innerhalb des Beschwerde-
managements bestehenden Prozesse. So werden die mit Hilfe des Interaktionstools eingesand-
ten Beiträge von den Mitarbeitern des Back Office, die bereits auf die Bearbeitung von
schriftlichen Anliegen spezialisiert sind, entgegengenommen. Im System des betrieblichen
Vorschlagswesens entspricht das Back Office somit der Funktion des BVW-Beauftragten.
Gemäß den unterschiedlichen Themenbereichen findet eine Zuordnung zu einem Spezialisten
statt, der eine erste Sichtung vornimmt. Beiträge von eindeutig geringem Kreativitätsniveau,
wie beispielsweise die beim mi adidas-Projekt als reine Kommentare klassifizierten Einsen-
dungen, werden aussortiert. Allen Einsendern, auch den Verfassern der wenig innovativen
Kommentare, wird ein Antwortscheiben zugesandt, innerhalb dessen der Empfang des Bei-
trags bestätigt, eine Anerkennung der Teilnahme ausgesprochen und das weitere interne
Procedere mit Nennung der ungefähren Bearbeitungsdauer dargestellt wird. Wird ein Beitrag

1
Signifikanzniveaus: * 0,01 < p  0,05; ** 0,001 < p  0,01; *** p  0,001
Vom Ideenwettbewerb zum externen Vorschlagswesen 25

Produkt / Dienstleistung

Involvement Wissen

Kunde

Telefonische Stimulation von Anerkennung


Anliegen Kreativbeiträgen Prämierung
Eingang:
Externes
Schriftliche Kreativbeiträge
Hedonismus Vorschlagswesen
Ausgang:
Internetplattform
Bestätigung, Anerkennung

Customer-Interaction-Center
Anerkennung
1st Level
Weitergabe Innovations-
Back Office Anerkennung / Prämierung
protokoll

2nd Level

Unternehmensführung
Sichtung / Sortierung / Weitergabe
Beurteilung / Weitergabe

Innovationskommission
Anordnung der
Umsetzung
Sichtung / Weitergabe

BVW-Beauftragter

Vorschlag bezüglich des


Leistungsangebots

Anerkennung / Prämierung
Mitarbeiter

Identifikation
Unternehmen
Abb. 3: Externes Vorschlagswesen [Walcher 2007, S. 276]

nicht weiter bearbeitet, so wird dem Verfasser dies ebenfalls mitgeteilt. Die Mitarbeiter des
1st und des 2nd Levels, bei denen die Kundenanliegen telefonisch eingehen, sollen dahinge-
hend geschult werden, sich beschwerende Kunden zur Äußerung von möglichen Problem-
lösungen bzw. Neuerungen zu stimulieren. Die Mitarbeiter sollen die Kunden aktiv auf die
Möglichkeit ansprechen, ihre Beschwerden als Innovationsvorschlag zu artikulieren und sie
auf die Möglichkeit zur Teilnahme am Ideenwettbewerb und den damit verbundenen Prämie-
rungsmöglichkeiten aufmerksam machen. Analog zur Erstellung eines Beschwerdeprotokolls
soll im Falle einer kreativen Äußerung ein Innovationsprotokoll angefertigt werden, das die
Ideen des Kunden so detailliert wie möglich zusammenfasst. Diese schriftlichen Protokolle
werden an das Back Office weitergeleitet.
26 Dominik Walcher

Sowohl die direkt im Back Office schriftlich eingesandten Beiträge wie auch die von den
Mitarbeitern des 1st und 2nd Level festgehaltenen Äußerungen werden thematisch sortiert
und an eine neu zu schaffende Innovationskommission weitergeleitet. Hier werden die Ein-
sendungen hinsichtlich der für das Unternehmen relevanten Bewertungsdimensionen beur-
teilt. Wurden beim mi adidas-Projekt die Beiträge an Hand der Dimensionen Originalität,
Kundennutzen, Anzahl der Nutznießer und Ausarbeitungsgrad bewertet, so müssen im Unter-
nehmen gegebenenfalls andere, auf den spezifischen Kontext der Aufgabenstellung angepass-
te Kriterien verwendet werden. Eine Orientierung an den Erkenntnissen der Kreativitätsfor-
schung, die sich seit Jahrzehnten mit der Bewertung von kreativen Leistungen beschäftigt,
erscheint auf Grund der im mi adidas-Projekt gesammelten positiven Erfahrungen als sehr
empfehlenswert. Die Zusammensetzung der Innovationskommission hängt von den situativen
Gegebenheiten im Unternehmen ab. Es kommen jedoch Mitarbeiter aus den Bereichen For-
schung und Entwicklung, Innovationsmanagement, Strategisches Marketing, Unternehmens-
kommunikation sowie Customer Relationship Management in Betracht. Die Kommission ist
der Unternehmensführung direkt unterstellt, weshalb auch zumindest ein Mitglied der obers-
ten Führungsebene dem Gremium angehören sollte. Die Einbindung der Mitglieder in den
Entscheidungsprozess sollte mit größter Sorgfalt erfolgen, um Reaktanzen, die auf das „Not
Invented Here“ (NIH)-Phänomen zurückzuführen sind, zu vermeiden [Howells 1990].
Darüber hinaus hat das Unternehmen durch die Einrichtung der Innovationskommission die
Möglichkeit, die externen Kundenbeiträge sowie die innerhalb des betrieblichen Vorschlags-
wesens gesammelten internen Ideen, die sich auf Verbesserungen bzw. Neuerungen bezüglich
des Leistungsangebots des Unternehmens beziehen, zusammenzuführen. Tatsächlich zeigt die
Analyse der Beiträge des betrieblichen Vorschlagswesens, dass überwiegend Ideen zur Ver-
besserung der internen Prozesse und Abläufe eingesandt werden (= Effizienz-Dimension)
[Kummer/Genz 2001, S. 23 ff.]. Beim externen Vorschlagswesen werden hingegen Ideen für
neue Produkte bzw. Dienstleistungen aufgenommen (= Effektivitäts-Dimension). Beiträge
von Mitarbeitern, die sich auch auf Verbesserungen bzw. Neuerungen bezüglich des Leis-
tungsangebots beziehen, können nun ebenfalls vom BVW-Beauftragten direkt an die Innova-
tionskommission weitergeleitet werden. Somit erfolgt eine konzentrierte Bündelung des
innovativen Potenzials sowohl der Kunden als auch der Mitarbeiter. Innerhalb des betriebli-
chen Vorschlagswesens kann zudem durch besondere Ausschreibungen oder Sonderprämie-
rungen gezielt auf die Entwicklung von neuen Produkten/Dienstleistungen hingesteuert wer-
den.
Die Entscheidungen der Innovationskommission werden an die Unternehmensführung wei-
tergeleitet, die die Prämierung der Gewinner vornimmt sowie über die tatsächliche Umset-
zung der Ideen entscheidet. Wie die empirischen Untersuchungen beim mi adidas-Projekt
zeigten, ist den Teilnehmern am Ideenwettbewerb eine immaterielle Gratifikation, wie bei-
spielsweise Anerkennung durch die Unternehmensführung durch persönliche Gratulation,
Listung als Gewinner auf der Unternehmenswebsite oder Nennung als Erfinder der neuen
Leistung, oft mehr wert als monetäre Kompensation. So bedeutet eine höhere Prämie nicht
automatisch ein höheres Engagement der Kunden. Innerhalb des betrieblichen Vorschlagswe-
sens ist die Höhe der Prämie unter anderem an die Höhe der erwarteten Ersparnisse, die durch
Umsetzung der Idee realisiert werden können, gekoppelt. Eine Übertragung auf das externe
Vorschlagswesen bestünde darin, die Höhe der Prämie an der Höhe des erwarteten Erfolgs der
Vom Ideenwettbewerb zum externen Vorschlagswesen 27

neuen Leistung zu orientieren, was bei zeitnaher Auszahlung jedoch von einem äußerst spe-
kulativen Charakter geprägt ist bzw. bei Abwarten der ersten Erlöse eine kundenunfreundli-
che Zeitverzögerung mit sich bringt. Praktikabler ist die Auszahlung einer im Vorfeld festge-
setzten und bei der Ausschreibung des externen Vorschlagswesens angekündigten festen
Prämienzahlung, die (1) in ihrer Höhe der Bedeutung der Aufgabenstellungen angemessen ist,
(2) nach den Platzierungen gestaffelt sein kann, sowie (3) ergänzt wird durch immaterielle
Honorierungen. Beim mi adidas-Projekt wurden die Autoren der drei besten Einsendungen zu
einem „Tag hinter den Kulissen“ in den Firmenhauptsitz nach Herzogenaurach eingeladen,
wo ihnen nach einer ausgedehnten Führung und einem Mittagessen mit den mi adidas-
Verantwortlichen ein Einkaufsgutschein über je 250,- € für den adidas-Outletstore ausgehän-
digt wurde. Bereits im Vorfeld wurden die Gewinner auf der mi adidas-Website genannt und
ihnen für ihre Leistungen gedankt. Das Feedback der Kunden beim Verlassen des Firmensit-
zes auf die erbrachten Honorierungen war sehr positiv, sodass die Gestaltung der immateriel-
len sowie die Höhe der materiellen Prämierungen vom gesamten Team als angemessen beur-
teilt wurden.

3.2 Gestaltungsparameter
Bei den empirischen Untersuchungen zum Teilnahme- und Leistungsverhalten der Kunden
beim mi adidas-Ideenwettbewerb konnten verschiedene signifikante Motive und Eigenschaf-
ten identifiziert werden. Tatsächlich ergeben sich auf Grundlage dieser Erkenntnisse ver-
schiedene Ansatzpunkte, die Gestaltung des externen Vorschlagswesens positiv zu beeinflus-
sen. Besonders die Motive (1) Anerkennung, (2) Identifikation und (3) Spaß sowie die
Eigenschaften (4) Wissen und (5) Involvement stellen eine überaus geeignete Basis für Ge-
staltungsoptionen dar. Zwar ist es für adidas ebenfalls sehr gut zu wissen, dass ihre Kunden
hohe Ausprägungen von Neugier, Trend- und Meinungsführerschaft etc. aufweisen (bei-
spielsweise zur Konzeptionierung von zielgruppenspezifischen Marketingmaßnahmen), doch
eignen sich diese Eigenschaften weniger für konkrete Gestaltungsempfehlungen bei der Ein-
richtung des externen Vorschlagswesens.

3.2.1 Anerkennung
Wie bei den Ausführungen zur Prämierung der Kunden dargelegt, ist es besonders wichtig,
den Teilnehmern ein anerkennendes Feedback zukommen zu lassen. Diese immaterielle
Honorierung ihrer Leistungen wird in vielen Fällen sogar höher als eine materielle Kompen-
sation eingestuft. Im Fall des externen Vorschlagswesens erfolgt ein Feedback direkt nach
Abgabe des Kreativbeitrags durch die Mitarbeiter des CI-Centers (1st/2nd Level bzw. Back
Office) sowie durch die Unternehmensführung im Fall eines Gewinns. Wichtig hierbei ist es,
dem Kunden zeitnah zu antworten sowie die internen Abläufe transparent zu machen. Hierzu
zählt auch das Informieren der Kunden, deren Beitrag nicht prämiert wird. Die Kontaktauf-
nahme mit diesen Personen und Darlegung der Gründe für einen Nichtgewinn ist zwar einer-
seits mit einem Mehraufwand für das Unternehmen verbunden, stellt jedoch andererseits für
den Kunden eine weitere Anerkennung seines Engagements dar und zeigt, dass seine Bemü-
hungen durchaus ernst genommen wurden. Ein solch transparentes Verhalten des Unterneh-
mens kann auf lange Frist zu gesteigerter Kundenloyalität führen, die sich auf Kundenseite
28 Dominik Walcher

wiederum in Re-, Up- und Cross-Selling-Aktivitäten sowie positiven Weiterempfehlungen


ausdrückt [Bruhn 2001, S. 23 ff.; Stauss/Seidel 2002, S. 56 ff.].

3.2.2 Identifikation
Beim mi adidas-Projekt zeigte sich, dass Personen, die sich besonders mit der Marke adidas
identifizieren, in erhöhtem Maße bereit sind, am Ideenwettbewerb teilzunehmen bzw. auch
besondere Leistungen zeigten. Eine Marke besteht stets aus materiellen und immateriellen
Komponenten [Burmann et al. 2003, S. 22 ff.]. Mit dem Erwerb eines Markenartikels kauft
der Kunde nicht nur ein Gebrauchsgut, sondern zusätzlich einen ideellen Gegenstand, nämlich
ein Versprechen bezüglich Qualität, Image und anderer Eigenschaften des Produktes, das an
die Marke geknüpft ist. All dies führt beim Nachfrager zu einem wahrgenommenen Mehr-
wert, der für Unternehmen über Preis- und Mengenprämien kapitalisierbar ist. Wie beim mi
adidas-Projekt empirisch nachgewiesen werden konnte, hat das Markenbewusstsein der Kun-
den auch positiven Einfluss auf deren Verhalten innerhalb des Kundenintegrationsprozesses.
Die Gewinner des mi adidas-Ideenwettbewerbs können als regelrechte adidas-Fans bezeichnet
werden. Bezieht man diesen in der Marketingliteratur wenig beachteten Einfluss der Marken-
identifikation auf das Innovationsverhalten der Kunden in die Überlegungen zur Gestaltung
des externen Vorschlagswesen mit ein, so kann die Empfehlung ausgesprochen werden, wei-
tergehende Maßnahmen zur Stärkung der Marke zu ergreifen.

3.2.3 Hedonismus
Beim mi adidas-Projekt konnte festgestellt werden, dass die Leistungsträger besonderen Spaß
bei der Bearbeitung der Kreativaufgabe hatten. Bei der Planung des externen Vorschlagswe-
sens kann diesem Punkt durch die sorgfältige Gestaltung der internetbasierten Interaktions-
plattform Rechnung getragen werden. Das Bedürfnis nach Spaß und Unterhaltung, Zerstreu-
ung und Entspannung ist nach Kroeber-Riel und Weinberg ein entscheidendes Motiv für den
Mediengebrauch im Allgemeinen [Kroeber-Riel/Weinberg 1999, S. 44 ff.]. Sie dienen als
Antriebskräfte für kognitive Prozesse wie Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und
Erinnerung – allesamt Voraussetzungen für kreatives Verhalten. Zur kognitiven Anregung
dienen vor allem solche Informationen, die unterhaltsam gestaltet sind. Dieser Effekt spiegelt
sich in dem in den Medien zu beobachtenden Trend des Infotainments wider [Wittwen 1995,
S. 23 ff.]. Das bedeutet, dass der Spaß zur Bearbeitung bereits durch die Präsentationsform
der Produkte und das Layout der Interaktionsplattform signalisiert werden kann. Hierzu kön-
nen neue multimediale Techniken wie VRML, Java oder Flash genutzt werden [Bartl 2006,
S. 134 ff.].

3.2.4 Involvement
Die empirischen Untersuchungen im mi adidas-Projekt zeigten, dass das Involvement der
Kunden, also wie interessant und aufregend sie den Kaufprozess empfinden, ebenfalls großen
Einfluss auf das Teilnahme- und Leistungsverhalten hatte. Diese Erkenntnis stimmt mit der
allgemeinen Beobachtung überein, dass das reine Anbieten von Produkten und Dienstleistun-
gen heute nicht mehr ausreicht, sondern dass die Kunden in allen Lebensbereichen, so auch
beim Einkauf, etwas erleben wollen. Pine und Gilmore beschrieben bereits Mitte der 1990er
Vom Ideenwettbewerb zum externen Vorschlagswesen 29

Jahre dieses erlebnisorientierte Wirtschaften als Experience Economy [Pine/Gilmore 1999].


Seither etablierte sich Kundenerlebnis bzw. Customer Experience als fester Begriff im Marke-
ting [Schmitt/Mangold 2005]. Das Customer Experience-Marketing (CEM) ist der Prozess
des strategischen Managements aller Kundenerlebnisse mit einer Marke an sämtlichen Kon-
taktpunkten und kann als Fortentwicklung des CRM gesehen werden. In diesem Sinne haben
bereits einige Unternehmen erkannt, dass durch die bewusste Schaffung emotionaler Erleb-
niswerte, die in ihrer Summe ganze Erlebniswelten für Produkte und Dienstleistungen sein
können, Differenzierungs- und Positionierungspotenziale am Markt entstehen. Eine Methode,
dem Kundenverlangen gerecht zu werden, ist die Schaffung eines durchgängigen Themas,
dem alle Aspekte des Angebotes untergeordnet werden. Wichtig ist die durchgehende Erzeu-
gung von positiven Signalen in Verbindung mit dem kommunizierten Thema, was letztlich zu
einer Steigerung des Involvements führt [Opaschowski 1995, S. 34].

3.2.5 Wissen
Beziehen sich die Motivaspekte auf das Wollen der Kunden, so zielt die Eigenschaft Wissen
auf das Können der Teilnehmer ab. Es zeigte sich, dass Kunden mit einem höheren Wissens-
stand auch zu besseren Innovationsleistungen fähig sind. Gouthier beschreibt in seinen Aus-
führungen zur Kundenentwicklung im Dienstleistungsbereich die Möglichkeit, Kunden durch
gezielte Maßnahmen zu qualifizierten Partnern bei der Integration in den Leistungserstel-
lungsprozess zu machen, wobei er sich am Konzept der Mitarbeiterentwicklung aus dem
Bereich der Personalführung orientiert [Gouthier 2003]. Die Vermittlung von relevantem
Wissen zur Ausführung der innerhalb der Kundenintegration anfallenden Aktivitäten ist ein
Kernpunkt seiner Argumentation. Wie einleitend dargestellt, baut das System der Kundenin-
tegration in den Innovationsprozess auf der Kundenintegration in den Leistungserstellungs-
prozess auf, weshalb eine Übertragung der Wissensvermittlungskonzepte als durchaus prakti-
kabel erscheint. Gouthier unterscheidet zwischen den zwei Bereichen erfahrungsorientierte
und informationsorientierte Maßnahmen zur Wissensvermittlung. Einem Unternehmen steht
somit eine Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung, das innovationsrelevante Wissen bereit
zu stellen. Gerade durch die Konzeptionierung des externen Vorschlagswesens als internetba-
sierte Anwendung erscheinen die informationsorientierten Maßnahmen, die auf einer Wis-
sensvermittlung via Internet (z. B. Querverweise) basieren, als besonders nahe liegend.

4 Fazit
Aufbauend auf den im Projekt gesammelten Erfahrungen wird der internetbasierte temporäre
Ideenwettbewerb zu einem permanenten externen Vorschlagswesen ausgebaut. Dieses geplan-
te externe Vorschlagswesen orientiert sich am betrieblichen Vorschlagswesen sowie am
Beschwerdemanagement bzw. stellt eine um spezifische Komponenten erweiterte Kombinati-
on beider Systeme dar. Besonders bei Fragestellungen zur Ablauforganisation, Mitarbeiter-
qualifizierung sowie Incentivierung gibt die Orientierung an diesen bestehenden Manage-
mentsystemen nützliche Anhaltspunkte. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen
liefern darüber hinaus ebenfalls weitere wichtige Hinweise. So können bezüglich der Motive
Anerkennung, Identifikation und Spaß sowie der Eigenschaften Involvement und Wissen
konkrete Empfehlungen zur Gestaltung des externen Vorschlagswesens gemacht werden.
30 Dominik Walcher

Literatur
Amabile, T. M.: Creativity in Context. Oxford 1996.
Bartl, M.: Virtuelle Kundenintegration in die Neuproduktentwicklung. Wiesbaden 2006.
Berger, C./Piller, F.: Customers as Co-Designers – The mi adidas Mass Customization Strat-
egy. In: IEE Manufacturing Engineer, 4 (82) 2003, S. 42-46.
Bruhn, M.: Relationship Marketing. München 2001.
Bruner, G. C./James, K. E./Hensel , P. J.: Marketing Scale Book – A Compilation of Multi-
Item Meauseres. 3. Aufl., Chicago 2001.
Burmann, C./Blinda, L./Nitschke, A.: Konzeptionelle Grundlagen des identitätsbasierten Mar-
kenmanagements. Arbeitspapier Nr. 1 des Lehrstuhls für innovatives Markenmanage-
ment (LiM), Bremen 2003.
Franck, E./Jungwirth, C.: Die Governance von Open Source Projekten. In: Zeitschrift für
Betriebswirtschaft, Ergänzungsheft 5 (73) 2003, S. 1-21.
Franke, N./Shah, S.: How Communities Support Innovative Activities. In: Research Policy,
1 (32) 2003, S. 157-178.
Gouthier, M.: Kundenentwicklung im Dienstleistungsbereich. Wiesbaden 2003.
Hippel, E. v.: Democratizing Innovation. Cambridge 2005.
Howells, J.: The Location and Organization of Research and Development – New Horizons.
In: Research Policy, 2 (19) 1990, S. 133-146.
Kroeber-Riel, W./Weinberg, P.: Konsumentenverhalten. 7. Aufl., München 1999.
Kummer, A./Genz, H. O.: Betriebliches Vorschlagswesen als Ideenmanagement. Ratgeber
Gesundheitsmanagement, RGM 9, 2001.
Opaschowski, H. W.: Freizeitökonomie – Marketing von Erlebniswelten. Opladen 1995.
Osterloh, M./Rota, S./Kuster, B.: Die kommerzielle Nutzung von Open Source Software. In:
Zeitschrift Führung Organisation, 4 (71) 2002, S. 211-217.
Pine, B. J. II/Gilmore, J.: The Experience Economy. Boston 1999.
Schmitt, B./Mangold, M.: Kundenerlebnis als Wettbewerbsvorteil. Wiesbaden 2005.
Stauss, B./Seidel, W.: Beschwerdemanagement – Kundenbeziehungen erfolgreich managen
durch Customer Care. 3. Aufl., München 2002.
Walcher, D.: Der Ideenwettbewerb als Methode der aktiven Kundenintegration. Wiesbaden
2007.
Wittwen, A.: Infotainment – Fernsehnachrichten zwischen Information und Unterhaltung.
Bern 1995.
Consumer Integrated Technology Screening (CITS) –
Ein Prozessmodell zur Integration industrieller Kunden
bei der Analyse des Potenzials von Technologiekonzepten

Thomas Niemand, Stefan Hoffmann, Gritt Ott

1 Notwendigkeit eines frühzeitigen, ganzheitlichen Technologiescreenings


Eine systematische und an den Bedürfnissen der Kunden angepasste Entwicklung von Pro-
dukten kommt in der bisherigen Forschungspraxis oft zu kurz. Zwar erkennen immer mehr
Unternehmen, staatliche Institutionen und Forschungseinrichtungen die Bedeutung eines
systematisch geplanten und durchgeführten Technologie-Transfers. Dennoch werden tech-
nische Ideen noch immer nicht konsequent zu praktikablen Anwendungen, die dem Anspruch
des Marktes genügen, weiterentwickelt [Schmoch et al. 2000]. So werden nur ca. 22 % eines
durchschnittlichen Forschungsetats darauf verwendet, Lösungen bis zur Marktreife zu führen
[Studt 2004].
Einer Metaanalyse von Adams et al. [2006] zufolge scheitert der Technologie-Transfer insbe-
sondere in der letzten Phase der Produktentwicklung, der Kommerzialisierung (Abb. 1). Die
vorangegangenen und oftmals kostenintensiven Schritte der Konzeptbewertung und Produkt-
entwicklung bleiben fruchtlos, wenn das Produkt anschließend nicht in den Markt eingeführt
wird. Eine weitere bedeutsame Ursache dafür, dass sich Innovationen am Markt nicht durch-
setzen können, ist das Over-Engineering, d. h. die Entwicklung marktferner, zu komplexer
Produkte. Denn Kunden verlangen Lösungen, die auf ihre Probleme zugeschnitten sind, und
nicht Produkte mit zahlreichen überflüssigen Funktionen, die nicht ihren Wünschen entspre-
chen und die aufgrund des großen Funktionsumfangs hohe Kosten verursachen.

1. Phase: Bewertung 2. Phase: Entwicklung 3. Phase:


Kommerzialisierung
Produktkonzept Prototyp Evaluierung Einführung

Abb. 1: Phasenkonzeption der Produktentwicklung [in Anlehnung an Adams et al. 2006; Höft 1992].

Der vorliegende Beitrag stellt mit dem Consumer Integrated Technology Screening (CITS)
ein Verfahren vor, mit dessen Hilfe Forscher und Entwickler Innovationen für industrielle
Kunden frühzeitig an den Anforderungen des Marktes ausrichten können. Eine isolierte Be-
trachtung der Kundenwünsche zeigt jedoch nicht auf, ob die Merkmale auch technologisch
umsetzbar sind. Deshalb wird ein mehrstufiges Prozessmodell vorgeschlagen, das hilft, inte-
grativ zu beurteilen, was technisch machbar ist (Technologieorientierung), wie die Technolo-
gie gegen andere Technologien bestehen kann (Konkurrenzorientierung) und was die Kunden
wünschen (Kundenorientierung). Die im CITS vorgeschlagene kundenorientierte Bewertung
32 Thomas Niemand, Stefan Hoffmann, Gritt Ott

weist konzeptionelle Überschneidungen zum Quality Function Deployment (QFD) auf [Akao/
Mazur 2003]. Letzteres eignet sich jedoch vorrangig für die qualitätssichernde Produktverbes-
serung. Dagegen werden mithilfe des CITS Anforderungen industrieller Kunden an eine
Technologie erfasst, noch bevor ein Prototyp des Produktes existiert. Darüber hinaus grenzt
sich das CITS vom QFD ab, indem die zu entwickelnde Technologie bereits frühzeitig auch
konkurrenzorientiert bewertet wird.
Der Beitrag beschreibt den Ablauf des CITS, die Anwendung der eingesetzten Methoden und
die Integration einzelner Befunde für die Entscheidung zur Weiterentwicklung von technolo-
gischen Verwertungsideen. Das Vorgehen wird anhand eines Fallbeispiels aus dem Bereich
Leichtbau veranschaulicht.

2 Ablauf des CITS im Überblick


Ausgangspunkt des CITS sind Technologiekonzepte, die sich in einem frühen Entwicklungs-
stadium befinden. Ein Vorzug des Verfahrens besteht darin, dass mehrere Technologien
berücksichtigt und vergleichend bewertet werden können. Im Folgenden wird zunächst ein
Überblick über den Ablauf des mehrstufigen Bewertungsprozesses gegeben, bevor die einzel-
nen Analyseschritte isoliert betrachtet werden.
Ziel des ersten Analyseschrittes ist es, Konzepte aus technologischer Sicht zu beurteilen
(Technologieorientierung). Einzigartig an dem vorgeschlagenen Vorgehen ist, dass nicht nur
Forscher und Entwickler, sondern auch industrielle Anwender (d. h. potenzielle zukünftige
Kunden) schon vor der Weiterentwicklung der Technologien zu konkreten Produktkonzepten
in den Entwicklungsprozess eingebunden werden. Im zweiten Analyseschritt des CITS wer-
den die Potenziale alternativer Technologien sowie die Verfahren von Konkurrenzanbietern
auf Basis von Sekundäranalysen bewertet (Konkurrenzorientierung). Auf diese Weise lassen
sich noch vor der kostenintensiven Weiterentwicklung der Technologiekonzepte zur Markt-
reife Hürden (wie im Markt dominierende Konkurrenztechnologien) erkennen. Im dritten
Schritt sollen die Technologiekonzepte aus Sicht der potenziellen Anwender bewertet werden
(Kundenorientierung). Das CITS sieht vor, zunächst Wünsche und Ansprüche der Nutzer im
Rahmen einer qualitativen Vorerhebung zu ermitteln. Darauf aufbauend werden Messinstru-
mente entwickelt, um in einer umfassenden Befragung das Potenzial der Konzepte quantitativ
beurteilen zu können.
Auf die Ergebnisse aller drei Sichtweisen stützend, fällt eine Expertengruppe im vierten
Schritt des CITS die Entscheidung, welche Konzepte weiterentwickelt werden sollen (Ent-
scheidungsfindung). Hierbei kommt die Nutzwertanalyse zum Einsatz. Abschließend sollte
die Wirtschaftlichkeit der weiter zu verfolgenden Technologie auch mit Blick auf realisierbare
Preise und anfallende Kosten analysiert werden (Abb. 2).
Bei der auf die Entscheidungsfindung nachfolgenden Phase der Weiterentwicklung sollte auf
eine kontinuierliche Einbindung potenzieller Kunden geachtet werden. In Schritt 3 stehen
bereits die Kenntnis und das Verständnis der Anforderungen und Wünsche potenzieller Kun-
den im Vordergrund. Das Gesamtkonzept des CITS geht jedoch darüber hinaus. Da eine die
gesamte Entwicklung begleitende Integration potenzieller Kunden nachweislich den Erfolg
Consumer Integrated Technology Screening (CITS) 33

1. Technologieorientierung
• Technologiebeschreibung • Merkmalsableitung

3. Kundenorientierung
4.
Qualitative Vorstudien Quantitative Studien Entscheidungsfindung
• Expertenbef ragung • Conjoint-Analyse
• Interviews mit • Bestimmung des • Nutzwertanalyse
AAnwendern gUmsatzpotenzials • Wirtschaf tlichkeits-
analyse

2. Konkurrenzorientierung
• Konkurrenzanalyse • Sekundäranalyse

Abb. 2: Ablauf des CITS

von Innovationen steigert [Shaw 1985; Maidique/Zirger 1985], sollten Kunden im Sinne der
Kundenintegration auch über die Phase der Ideengewinnung und der Anforderungsanalyse
hinaus in den Entwicklungsprozess einbezogen werden [Hippel 1978; Wecht 2006]. Ein
besonderer Vorteil des CITS ist, dass sich der Kontakt zu den relevanten Kunden, der sich bei
Business-to-Business-Lösungen im Gegensatz zu Konsumgütern oftmals auf eine eng be-
grenzte Gruppe bezieht, bereits durch die qualitativen Befragungen in Schritt 3 aufbauen lässt.

Fallbeispiel Leichtbau: Im vorliegenden Beitrag wird der Ablauf des CITS an einem Fallbeispiel aus
dem Bereich Leichtbau veranschaulicht. Dieser ist insbesondere für die Automobil- und Luftfahrt-
industrie relevant, da hier aufgrund steigender Stahlpreise und strengerer Emissionsanforderungen der
Druck wächst, Automobile und Flugzeuge gewichtsparend und ressourcenschonend zu fertigen. Aus-
gangspunkt waren die folgenden Überlegungen: Die bereits bestehenden Lösungen für Faserverbund-
werkstoffe können oftmals nicht verwirklicht werden, da Kunststoffe mit Kohlefasern, derer sich die
Luft- und Raumfahrtbranche häufig bedient, für andere Bereiche wie den Automobilsektor zu kosten-
intensiv sind. Als Alternative bieten sich einfache Textilien an, die aus Glasfasern und Polypropylen
bestehen. Diese werden unter Druck und hohen Temperaturen gepresst und zu kompakten, leichten
und dennoch robusten Bauteilen verarbeitet. Im dargestellten Fallbeispiel wurden fünf Technologie-
konzepte zur Verbesserung dieses Fertigungsverfahrens einem Screening unterzogen. Mithilfe des
CITS konnten die fünf Technologien bewertet und darüber entschieden werden, welche Innovationen
weiterentwickelt werden sollten und welche nicht.

3 Schritt 1: Technologieorientierte Bewertung


Konzepte zur Technologiebewertung verfolgen meist das Ziel, die Technologie möglichst
ganzheitlich zu erfassen und deren Nachhaltigkeit zu bewerten. Verschiedene Vorgehens-
weisen wie Indikatorensysteme, Risikoanalysen und Scoring-Modelle wurden hierfür vorge-
schlagen [Hall 2002; Boer 1999]. Auch in der Betriebswirtschaftslehre findet sich dieser
Ansatz wieder. Fritz [1995, S. 178] beispielsweise schlägt vor, die Bewertungsdimension
„Technologie“ als Teil eines integrierten Gesamtmodells der Unternehmensführung zu be-
trachten. Generell gilt, dass sowohl isolierte Technologieanalysen als auch isolierte Betrach-
tungen der Kundenanforderungen dem komplexen Anspruch einer ganzheitlichen Technolo-
giebewertung nicht gerecht werden. Das CITS sieht deshalb vor, dass potenzielle Anwender
die Bewertung des Technologiekonzepts über rein technologische Kriterien (Schritt 1 des
CITS) hinaus aktiv prüfen können (Schritt 3 des CITS).
34 Thomas Niemand, Stefan Hoffmann, Gritt Ott

Die bislang existierenden Konzepte der Technologiebewertung setzen meist voraus, dass die
Technologiekonzepte bereits einen gewissen Reifegrad erreicht haben. Konzepte, die sich
noch in einem Frühstadium der Entwicklung befinden, lassen sich mit gängigen Bewertungs-
verfahren nicht beurteilen. So sind detaillierte Kosten-Nutzen-Analysen [Renn 1982, S. 62 ff.]
zu einem frühen Zeitpunkt noch nicht möglich. Im ersten Schritt des CITS werden deshalb
Experten (insb. die Forscher und Entwickler selbst) gebeten, zunächst über Checklisten zu
beurteilen, wie nützlich die Technologie ist. Dies bildet die Grundlage für die Analyse der
Wünsche industrieller Anwender.
Fallbeispiel Leichtbau: Im vorliegenden Anwendungsfall wurden die Konzepte durch Experten
mithilfe von Checklisten detailliert bewertet. Neben der Beschreibung der Technologie stand insbe-
sondere die Einschätzung des Potenzials der Technologie im Vordergrund. Wettbewerbsorientierte
(z. B. Akzeptanz durch den Nutzer) und wirtschaftliche (z. B. Kostensenkungspotenzial) Faktoren
konnten so genauso frühzeitig einbezogen werden wie technische Kriterien (z. B. Reife und Verfah-
rensvorteile).

4 Schritt 2: Konkurrenzorientierte Bewertung


Um abschätzen zu können, wie erfolgreich sich eine neue Technologie am Markt etablieren
kann, reicht es nicht aus, einzig das technologische Potenzial zu beurteilen [Porter 2008,
S. 86]. Alternative Fertigungsverfahren, fehlende Abnehmer oder ein geringer Bekanntheits-
grad sind Hürden, welche die Durchsetzungskraft einer Technologie am Markt schmälern
oder verhindern. Daher gilt es, Technologiekonzepte auch vor dem Hintergrund verschiedener
konkurrierender Verfahren zu bewerten [Becker 2002, S. 95 ff.]. Eine erste Einschätzung
ermöglichen die bereits in Schritt 1 befragten Experten. Zudem sollten potenzielle Abnehmer
befragt und Sekundärstatistiken analysiert werden.
Die Wettbewerbsfähigkeit einer Technologie lässt sich mithilfe von Porters [1979] Five-
Forces-Modell darstellen, in dessen Mittelpunkt der brancheninterne Wettbewerb steht. Die-
ser wird von vier weiteren Kräften beeinflusst. Einige Forscher erachten die vorgeschlagene
Einteilung jedoch als simplifizierend und kritisieren, dass die Inhalte der Kräfte je nach An-
wendungsfall austauschbar sind. Grundy [2006, S. 227] empfiehlt deshalb, die Kräfte des
Modells für jeden Anwendungsbereich individuell anzupassen. Eine starre Einteilung, wie sie
Porter vornimmt, wird daher von CITS nicht vorausgesetzt (Abb. 3).

2. Alternative Forschungsansätze
(z. B. Kohlefaser-Glasfaser-Verbunde)
5. Exklusiv-
4. Bestehende
verträge mit
Lieferverträge 1. Entwicklung im Leichtbausektor
Abnehmern
(z. B. mit langfristig (z. B. steigende Öl- und Stahlpreise erzwingen
(z. B.
festgesetzten Leichtbauweise)
Zuliefererketten für
Stahlpreisen)
Aluminiumbauteile)
3. Alternative Werkstoffe im Leichtbau
(z. B. „Carbon“: Kohlefaser-Verbunde)

Abb. 3: Angepasste Wettbewerbskräfte des CITS (Beispiel: Automobilindustrie)


Consumer Integrated Technology Screening (CITS) 35

5 Schritt 3: Kundenorientierte Bewertung


5.1 Vorüberlegungen zum Methodeneinsatz
Aufgrund ihrer Komplexität empfiehlt es sich, Technologien generell mehrstufig zu bewerten
[Höft 1992]. Das CITS sieht deshalb vor, qualitative und quantitative Analysemethoden zu
kombinieren, um die Anforderungen und Nutzungsbedingungen potenzieller Anwender um-
fassend ermitteln zu können. So lässt sich das Potenzial der untersuchten Konzeptideen in
seiner gesamten Breite und Tiefe erfassen.
Untersuchungen, die dem quantitativen Paradigma folgen, prüfen meist deduktiv gewonnene
Hypothesen mithilfe etablierter Skalen. Deshalb bewegen sie sich letztlich immer in einem
vertrauten Rahmen [Srnka 2007, S. 250]. Um eine dem potenziellen Nutzer bislang unbe-
kannte Technologie bewerten zu können, sind auch explorative und qualitative Ansätze nötig.
Allerdings bemängeln einige Autoren, dass es der qualitativen Forschung an methodischer
Strenge fehle und dass sie die Forderung nach Objektivität nicht erfülle [Deshpandé 1983].
Um realitätsnah und gleichzeitig methodisch fundiert vorzugehen, sollten deshalb qualitative
und quantitative Ansätze kombiniert werden [Varadarajan 2003].
Nach der von Srnka [2007] vorgeschlagenen Klassifikation von fünf Formen der Integration
qualitativer und quantitativer Forschungsansätze entspricht das Vorgehen im Rahmen des
CITS einem Vorstudiendesign. Dabei werden qualitative und quantitative Daten sequenziell
erhoben. Die in einer ersten Stufe durchgeführte qualitative Analyse dient dazu, in einem
bislang noch nicht hinreichend erforschten Bereich Forschungsfragen herzuleiten und Indika-
toren für Erhebungsinstrumente zu entwickeln. Die neu entwickelten Erhebungsinstrumente
ermöglichen anschließend eine umfassendere quantitative Untersuchung.
Fallbeispiel Leichtbau: Im Fallbeispiel galt es zunächst in einer qualitativen Vorstudie zu ermitteln,
wie hoch das Technologiepotenzial jeder der fünf untersuchten Konzepte ist und in welchen Bereichen
prinzipiell Forschungs- und Entwicklungsbedarf besteht. In einer darauf folgenden quantitativen
Analyse sollte dieser Bedarf dann genauer untersucht und die Wichtigkeit verschiedener Anforderun-
gen vergleichend bewertet werden.

5.2 Qualitative Vorstudien


Zunächst gilt es, den Untersuchungsgegenstand (d. h. die Anforderungen an die Weiterent-
wicklung der Konzeptideen) aus der Sicht potenzieller industrieller Nutzer zu verstehen. Im
Vordergrund der qualitativen Analyse stehen deshalb die unbeeinflussten Meinungen und
Präferenzen der potenziellen Zielgruppe. Dem Forscher stehen für qualitative Analysen ver-
schiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Die tieferliegenden Anforderungen der Unterneh-
mensvertreter können bspw. mithilfe von halbstrukturierten Interviews, in deren Rahmen die
Laddering-Technik eingesetzt wird, ermittelt werden [Gutman 1997]. Die positiven und nega-
tiven Eigenschaften von bisherigen Lösungen lassen sich u. a. mit der Critical Incident Tech-
nique ermitteln. Detaillierte Mitschriften und Kurzprotokolle nach dem Cut-and-Paste-Prinzip
[Lamnek 1998, S. 168] stellen sicher, dass sowohl alle Detailinformationen erhalten bleiben
als auch die wesentlichen Erkenntnisse sichtbar werden.
Um die Güte der Untersuchung zu gewährleisten, sollten qualitative Daten stets aus der Per-
spektive mehrerer Kodierer interpretiert werden. Es empfiehlt sich, bspw. je einen Entwick-
ler, einen potenziellen industriellen Anwender und einen Marktforscher die Wichtigkeit ver-
36 Thomas Niemand, Stefan Hoffmann, Gritt Ott

schiedener Befunde der qualitativen Voruntersuchung anhand einer Fünf-Punkte-Rating-


Skala einstufen zu lassen. Das daraufhin zu ermittelnde Reliabilitätsmaß (z. B. Krippendorffs
Alpha) zeigt die inhaltliche Konsistenz verschiedener Kodierer an. Darüber hinaus liefert die
Einschätzung der Wichtigkeiten Hinweise auf redundante Merkmale einer Technologie [Neu-
endorf 2002].
Der besondere Vorteil einer qualitativen Vorstudie liegt darin, dass sich so erste Forschungs-
fragen und -ansätze einfach und schnell ableiten lassen. Durch die Mitarbeit potenzieller
Anwender wird sichergestellt, dass das Entwicklerteam nicht nur eigene Entwicklungsziele
verfolgt, sondern auch den Wünschen der Kunden Rechnung trägt. Auf diese Weise werden
auch Argumente berücksichtigt, welche gegen die Weiterentwicklung der Technologie spre-
chen (z. B. geringe Kundenakzeptanz) oder gravierende Entwicklungslücken aufzeigen. Die
Kenntnis der von den industriellen Kunden wahrgenommenen Vor- und Nachteile der Tech-
nologien gegenüber alternativen Verfahren ermöglicht es, diese so weiterzuentwickeln, dass
sie relevante Alleinstellungsmerkmale aufweisen.
Fallbeispiel Leichtbau: Im Fallbeispiel erbrachten die ersten Interviews mit den Entwicklerteams vor
allem technische Details und wenig detaillierte Aussagen zu den Vor- und Nachteilen der Technolo-
gien. Deshalb wurden mögliche Anwender aktiv eingebunden. Das Forschungsteam präsentierte die
strukturiert aufbereiteten Ideen verschiedener Anwender, um so die Diskussionen zwischen den An-
wendern zu den Vorzügen und Nachteilen des jeweiligen Verfahrens anzuregen. Insbesondere (ano-
nymisierte) Aussagen vorheriger Interviews lösten mehrfach intensive Diskussionen aus, die bisher
unbeachtete Probleme und Chancen aufdeckten. Bspw. stellte sich heraus, dass ein Vorschlag, Werk-
zeuge aus Metalllamellen zu schichten, enorme Kostenvorteile aufweisen kann, da sich die benötigten
Heiz- und Kühlkanäle zum Heißpressen nahe an die Oberfläche des Werkzeugs legen lassen.

5.3 Quantitative Hauptstudien


Die quantitative Hauptstudie zur Beurteilung des Potenzials der Technologie aus Kundensicht
setzt sich aus zwei Komponenten zusammen. Zunächst wird das Umsatzpotenzial der Techno-
logien abgeschätzt. Anschließend werden gezielt Weiterentwicklungspotenziale aufgezeigt.

5.3.1 Abschätzung des Umsatzpotenzials


Kennzahlen für das wirtschaftliche Erfolgspotenzial einer Technologie sind für eine Branche
schwer zu erheben. Eine Ausnahme bilden Umsatzstatistiken. Sie sind objektiv bestimmbar.
Zudem werden sie über die Organisation Creditreform erhoben, geprüft und angeboten. Die
aus diesen Informationen gespeiste Datenbank MARKUS enthält die Umsatzzahlen aller in
Deutschland ansässigen Unternehmen. Mithilfe der kürzlich überarbeiteten Wirtschaftszweig-
Klassifikation WZ 2008 lassen sich über diese Datenbank die Branchenzugehörigkeit und die
Umsätze der für die Untersuchung relevanten Unternehmen herausfiltern. So ist es möglich,
die Zielmärkte jeder Technologie anhand ihres Umsatzpotenzials zu vergleichen.
Fallbeispiel Leichtbau: Im Fallbeispiel offenbarte die Datenbankanalyse, dass die fünf untersuchten
Technologien sehr unterschiedliche Zielmärkte und Umsatzpotenziale aufweisen. Für das Werkzeug
aus Metalllamellen konnten über 100 Firmen mit einem Umsatzpotenzial von insgesamt mehr als 5
Milliarden Euro ermittelt werden, während sich für ein alternatives Schneidverfahren nur ca. 20 Fir-
men mit ca. 500 Millionen Euro Umsatzpotenzial finden ließen. Diese Angaben sind jedoch mit einem
Zurechnungsproblem behaftet, da die verwendete Datenbank nur nach der Hauptklassifikation durch-
sucht werden kann und damit Umsätze anderer Einnahmequellen unbeachtet bleiben müssen. Abhilfe
Consumer Integrated Technology Screening (CITS) 37

schufen im Fallbeispiel die Schätzungen der Umsatzanteile durch Befragungen potenzieller Anwen-
der. Auf diese Weise ließen sich nicht nur gegenwartsbezogene Einschätzungen, sondern auch Prog-
nosen finden.

5.3.2 Identifikation von Weiterentwicklungsbedarf


Nachdem das Umsatzpotenzial abgeschätzt wurde, gilt es zu ermitteln, wie die Technologien
weiterentwickelt werden sollten, damit sie sich am Markt durchsetzen können. Konkrete
Anforderungen der Unternehmen, welche individuell (d. h. je Unternehmen) und aggregiert
(d. h. für die gesamte Branche) für jede Technologie zu erheben sind, geben den Entwicklern
Hinweise, wie die Technologie verbessert werden kann und wo die Gefahr des Over-
Engineering besteht.
Das CITS schlägt vor, Conjoint-Analysen durchzuführen. Diese Methode ist, wie Kim/Srini-
vasan [2006] bei High-Tech-Produkten und Moskowitz/Itty [2003] bei Low-Tech-Produkten
zeigen, geeignet, dem Over-Engineering frühzeitig vorzubeugen. Bislang liegen noch keine
empirischen Befunde für industrielle Technologien vor. Gustafsson et al. [2007] weisen je-
doch darauf hin, dass der Einsatz der Conjoint-Analyse prinzipiell möglich ist.
Eine Technologiebeurteilung erfordert oftmals die simultane Betrachtung von zahlreichen
Merkmalen. Dies führt bei traditionellen Ansätzen der Conjoint-Analyse zu einer Vielzahl
von für den Befragten kaum unterscheidbaren Paarvergleichen. Es empfiehlt sich deshalb,
neuere Varianten der Conjoint-Analyse einzusetzen, welche den Befragten kognitiv nicht
überfordern und trotzdem eine Bewertung zahlreicher Merkmale und Merkmalsausprägungen
ermöglichen. Besonders geeignet ist hierfür die Adaptive Conjoint-Analyse (ACA) von John-
son [1987]. Bei dieser Variante können bis zu 30 Merkmale mit maximal 15 Merkmalsaus-
prägungen untersucht werden, was ihre zunehmende Beliebtheit erklärt. Empirische Untersu-
chungen, welche die ACA mit etablierten Verfahren verglichen, zeigen, dass keiner Variante
eine eindeutige Überlegenheit hinsichtlich Güte und Replizierbarkeit der Befunde attestiert
werden kann [Voeth/Bornstedt 2007; Hartmann/Sattler 2004]. Da die ACA somit keinen
wesentlichen Nachteil gegenüber den traditionellen Verfahren aufweist, jedoch eine wesent-
lich höhere Informationsmenge effizient verarbeiten kann, sollte ihr der Vorzug gegeben
werden. Zudem ist sie als serverbasierte Internetanwendung verfügbar. Auf diese Weise wird
die Akquise von Teilnehmern erheblich erleichtert. Zusätzliche und unnötige Geschäftsreisen
zum Teilnehmer lassen sich so reduzieren.
Fallbeispiel Leichtbau: Im Fallbeispiel kam die ACA zum Einsatz. Die Befragung wurde jedoch
dadurch erschwert, dass die Teilnehmer bedingt durch die hochspezialisierte Fragestellung Vorwissen
und technisches Verständnis aufweisen mussten. Dies führte zu einer vergleichsweise geringen Rück-
laufquote von 39,3 %. Durch persönliche Kontakte, Workshops und mehrere Reminder (Telefon-
anrufe) konnte jedoch eine hinreichende Teilnehmerzahl erreicht werden. Das Fallbeispiel zeigt, dass
für die weitere Forschung äußert nützliche Befunde aufgedeckt werden konnten (Abb. 4). So offenbar-
te die Analyse, dass potenzielle Anwender die Qualität der Oberfläche als die wichtigste Eigenschaft
eines Bauteils aus Faserverbundwerkstoffen ansehen (relative Wichtigkeit). Ihnen ist diese Eigen-
schaft wesentlich wichtiger als z. B. die Kraft, der ein Bauteil standhalten muss (6,1 %). Die Conjoint-
Analyse zeigte aber auch auf, dass sich Anwender mit einer mittleren Qualität der Oberfläche des
Bauteils zufrieden geben (Teilnutzenwert). Eine hohe Oberflächenqualität stiftet demgegenüber kaum
zusätzlichen Nutzen. Mit diesem Wissen kann Over-Engineering gezielt vermieden werden: Es sind
keine aufwendigen Detail-Lösungen notwendig, um die Oberfläche zur Perfektion zu bringen.
38 Thomas Niemand, Stefan Hoffmann, Gritt Ott

Ergebnisbeispiel:
Teilnutzenwert Oberflächenqualität eines Bauteils
0,8 0,57
0,5

0,4

0
Relative Wichtigkeit:
25,3 %
-0,4
-0,69

-0,8
geringe Oberflächenqualität mittlere Oberflächenqualität hohe Oberflächenqualität

Abb. 4: Ergebnisbeispiel der Conjoint-Analyse

6 Schritt 4: Entscheidungsfindung
Nachdem die Technologie aus der technologie-, der konkurrenz- und der kundenorientierten
Perspektive isoliert betrachtet wurde, gilt es, diese Befunde zu integrieren und eine Entschei-
dung über die Weiterentwicklung zu treffen.

6.1 Nutzwertanalyse
Mit der Nutzwertanalyse lässt sich diese Entscheidung fällen. Dabei wird angenommen, dass
ein Merkmal für jede Technologie einen individuellen Nutzen stiftet, die Gewichtung des
Merkmals jedoch bei allen Technologien gleich ist. Summiert man die Produkte aus Gewich-
tung und Merkmalsnutzen aller Merkmale, erhält man den Gesamtnutzenwert, der als Ent-
scheidungsgrundlage dient [Ossadnik et al. 1997].
Fallbeispiel Leichtbau: Im Fallbeispiel ließ sich mithilfe der Ergebnisse aus der qualitativen Vorstu-
die das Befragungsinstrument so anpassen, dass eine Beurteilung der Technologie anhand von acht
Items möglich ist. Abb. 5 verdeutlicht exemplarisch drei Items, und zwar je eines für Technologie,
Konkurrenz und Kunden. Das Gesamtergebnis wurde dabei zweistufig berechnet. Zuerst wurden die
Gewichte bestimmt, anschließend die Nutzenausprägungen. Die Gewichtung wurde von ausgewählten
Unternehmensvertretern festgelegt; die Merkmalsausprägung durch die beteiligten Ingenieure. Um die
Gewichte zu ermitteln, kamen Konstantsummenskalen zum Einsatz. Die befragten Unternehmer
beurteilen auf diese Weise die relative Wichtigkeit (d. h. die Wichtigkeit im Vergleich zu anderen
Merkmalen). Dieses vergleichende Vorgehen hilft, der Anspruchsinflation entgegen zu wirken, d. h.
der Tendenz, im Rahmen einer Befragung alle untersuchten Merkmale als sehr wichtig zu beurteilen
[Dichtl/Müller 1986].
Innerhalb der einzelnen Orientierungen offenbarten sich für die fünf Technologiekonzepte unter-
schiedliche Ergebnisse. Dennoch differieren die summarischen Nutzenwerte kaum. Eine Expertenrun-
de entschied sich unter Einbindung mehrerer Unternehmensvertreter (potenzielle Kunden), alle fünf
Konzepte zusammenzuführen. Die Kenntnis der im Rahmen der Untersuchung identifizierten techno-
logie-, konkurrenz- und kundenorientierten Defizite zeigt zudem den konkreten Weiterentwicklungs-
bedarf für jede Technologie auf.
Consumer Integrated Technology Screening (CITS) 39

Orientierung Gewichtung (Beispiel-Items) Nutzenausprägung (Beispiel-Items)

Eine Technologie sollte… Die Technologie…

Technologie g1 ... so ausgereift sein, dass einem n 1 ... ist so ausgereift, dass einem
produktiven/industriellen Einsatz produktiven/industriellen Einsatz
nichts im Wege steht. nichts im Wege steht.

Konkurrenz g3 ... in ihrem jeweiligen n 3 ... stellt in ihrem jeweiligen


Anwendungsbereich eine erhebliche Anwendungsbereich eine erhebliche
qualitative Verbesserung oder qualitative Verbesserung oder
Prozessvereinfachung darstellen. Prozessvereinfachung dar.

Kunden g7 ... sich leicht an kundenspezifische n 7 ... lässt sich leicht an kunden-
Anforderungen anpassen lassen. spezifische Anforderungen
anpassen.

Konstantsummenskala (100 Punkte) Rating-Skala (fünfstufig)

Gesamtbeurteilung der Technologie ( gi * ni)

Abb. 5: Quantitative Nutzwertanalyse

6.2 Wirtschaftlichkeitsanalyse
In der Endphase des Potenzialscreenings ist eine Wirtschaftlichkeitsanalyse vorgesehen.
Dabei werden zum einen die bei der Herstellung eines Prototyps anfallenden Kosten betrach-
tet. Zum anderen werden die Preise berücksichtigt, die durch den Verkauf der Technologie
bzw. den daraus entwickelten Produkten erzielbar sind. Zur Preisbestimmung kann erneut die
Conjoint-Analyse angewandt werden. Hier empfiehlt sich ein zweistufiges Vorgehen: Zu-
nächst bestimmt der Befragte ähnlich einem „Konfigurator“ die gewünschten Ausprägungen
der Technologie, die er anwenden will. Anschließend wird für diese eine iterative Van-
Westendorp-Analyse [Lyon 2002] gerechnet. Bei diesem Verfahren gibt der Befragte seine
Preisbereitschaft zunächst selbst an, um sie dann für variierende Kombinationen stufenweise
anzupassen. Durch die Aggregation der Preisbereitschaft aller Probanden entstehen Preis-
Absatzfunktionen für jede Konfiguration der Technologie [Mai et al. 2008]. Als Ausgangs-
punkt für realistische Preisgrenzen dient eine systematische Prozesskostenrechnung [Coo-
per/Kaplan 1988], die z. B. im Rahmen der Erprobung eines Prototyps Anwendung findet.
Die Ergebnisse dieser Wirtschaftlichkeitsanalyse zeigen, ob die Technologie wirtschaftliche
Vorteile zu erzielen vermag.
Fallbeispiel Leichtbau: Innerhalb der nächsten zwei Jahre soll die vorgestellte Technologie zum
Heißpressen von Leichtbaukomponenten zur vollständigen Produktionslinie weiterentwickelt und
erprobt werden. Da bislang noch keine empirischen Daten vorliegen, entwickelt das Forscherteam
derzeit eine Simulation, die neben der technischen Machbarkeit auch Hinweise auf die zu erwartenden
laufenden Kosten geben soll. Zusammen mit der Berücksichtigung realistischer Investitionskosten
entsteht eine erste Kostenbasis.
40 Thomas Niemand, Stefan Hoffmann, Gritt Ott

7 Fazit
Das CITS stellt ein Prozessmodell dar, um technologie-, konkurrenz- und kundenorientierte
Ansätze zu integrieren und damit Technologien ganzheitlich bewerten zu können. So kann
schon frühzeitig das Marktpotenzial abgeschätzt, der Weiterentwicklungsbedarf aufgedeckt
und die Gefahr einer technisch überladenen (und damit nicht marktgerechten) industriellen
Lösung vermieden werden.
Trotz der ganzheitlichen Betrachtungsweise liegt der Schwerpunkt des CITS in den beschrie-
benen vier Schritten auf der Kundenorientierung, denn nur wenn die späteren Anwender
frühzeitig, direkt oder indirekt, in die Entwicklung einer Technologie involviert werden, kann
diese am Markt bestehen. Der Ansatz schlägt vor, Wünsche und Bedürfnisse der Kunden
unter Berücksichtigung technologischer und konkurrenzorientierter Überlegungen sowohl mit
Hilfe qualitativer als auch quantitativer Methoden zu erfassen.
Im vorliegenden Beitrag wurde der Prozess des CITS bis zur Entscheidungsfindung beschrie-
ben. In der sich daran anschließenden Phase der Weiterentwicklung sollte die ganzheitliche
Betrachtungsweise weiter verfolgt werden. Insbesondere sollte im Sinne der Kundenintegrati-
on der Kontakt zu späteren Anwendern, der u. a. durch die Befragungen in Schritt 3 bereits
aufgebaut wurde, gehalten werden. Diese potenziellen Kunden sollten nicht nur als Informati-
onsgeber und Initiatoren betrachtet werden. Vielmehr sollten ihnen technologische Ergebnisse
rückgemeldet und sie als Entscheider eingebunden werden. Dies lässt sich beispielsweise
durch eine sorgfältig gepflegte Austauschplattform realisieren. Zudem können im weiteren
Verlauf zusätzliche Verfahren, wie das Quality Function Deployment, eingesetzt werden.

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Wecht, C. H.: Das Management aktiver Kundenintegration in der Frühphase des Innovations-
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Systematische Kundenintegration zur Entwicklung innovativer
Produkte und Dienstleistungen der Telekommunikationsindustrie

Fee Steinhoff, Annika Schröder

1 Problemstellung
Die Notwendigkeit einer systematischen Ausrichtung von Innovationen an den Bedürfnissen
der Zielkunden ist sowohl in der Unternehmenspraxis als auch in der wissenschaftlichen
Forschung unbestritten [Mason/Harris 2005]. Gleichzeitig verweisen empirische Studien
jedoch auf erhebliche Implementierungsmängel der Kundenorientierung im Innovationsma-
nagement [z. B. Ekström/Karlsson 2001]. Eine systematische Kundenorientierung geht mit
einem hohen Bedarf an Informationen über den Markt einher. Traditionelle Marktfor-
schungsmethoden sind für die Generierung von Marktinformationen bei Innovationen nur
bedingt geeignet. Durch eine intensive Integration ausgewählter Kunden in den Innovations-
prozess kann jedoch die Informationsbasis und die Prognosegenauigkeit des erwarteten
Marktpotenzials einer Innovation erheblich erhöht werden [Ernst 2001].
In der zentralen F&E-Einheit der Deutschen Telekom, den Deutschen Telekom Laboratories,
werden Marktunsicherheiten von Innovationen durch eine systematische Kundenintegration
reduziert. Der Ansatz basiert auf innovativen Methoden der Kundenintegration, die kontinu-
ierlich und iterativ entlang des Innovationsprozesses angewandt werden. Ein besonderes
Augenmerk wird auf die Implementierung gelegt: Nach jeder Kundeninteraktion erfolgt ein
Workshop mit den Produktverantwortlichen, um eine direkte Umsetzung der generierten
Informationen im Entwicklungsprozess sicherzustellen. Zunächst wird der Stand der For-
schung zum Erfolgseinfluss der Kundenintegration mit Hilfe der Ressourcenabhängigkeits-
perspektive sowie empirischer Erkenntnisse aus der Erfolgsfaktorenforschung dargestellt.
Anschließend wird der Ansatz zur systematischen Kundenintegration abgeleitet. Es erfolgt
zunächst eine theoretische Darstellung, unterschieden nach den Phasen Exploration, Ideenge-
nerierung und Evaluation. Darauf aufbauend werden die Anwendungsbeispiele im Bereich
Mobiles Fernsehen und Mobiles Internet aufgezeigt. Es schließt sich eine qualitative Betrach-
tung des Ansatzes an. Der Beitrag endet mit einer Zusammenfassung.

2 Stand der Forschung zum Einfluss der Kundenintegration auf den


Innovationserfolg
Viele Instrumente der traditionellen Marktforschung (z. B. quantitative Prognosemodelle)
sind im Kontext von Innovationen ungeeignet. Die Innovationsforschung verfügt aber durch-
aus über „intelligente“ Konzepte und Methoden, mit denen auch in Fällen, in denen das Vor-
stellungsvermögen der Zielkunden an Grenzen stößt, fundierte Marktinformationen gewonnen
werden können. Eine wichtige Rolle nimmt dabei eine intensive Integration von Kunden in
44 Fee Steinhoff, Annika Schröder

den Innovationsprozess ein [Ernst 2001]. In der Literatur dominiert das Verständnis, dass
Kundenintegration mehr ist als Marktforschung. So differenzieren z. B. Ernst [2001] und
Brockhoff [2003] zwischen einer reinen Ausrichtung der Innovationstätigkeit an Kundenbe-
dürfnissen (im Sinne von Marktforschung) und einer Einbindung von Kunden als aktive
Mitgestalter des Innovationsprozesses. Erfolgreiche Innovatoren nutzen zunehmend Kompe-
tenzen in einem erweiterten Netz, zu dem insbesondere auch die Kompetenzen der Kunden
gehören [Prahalad/Ramaswamy 2000]. Aus einer Management-Perspektive stellt sich die
Frage, inwieweit Kundenintegration einen positiven Einfluss auf den Erfolg hat. Die folgen-
den Abschnitte beinhalten eine theoretische Erfolgsbetrachtung mit Hilfe der Ressourcenab-
hängigkeitsperspektive (2.1) sowie eine Darstellung relevanter Erkenntnissen aus der Erfolgs-
faktorenforschung (2.2).

2.1 Theoretische Erfolgsbetrachtung mit Hilfe der


Ressourcenabhängigkeitsperspektive
Aus der Ressourcenabhängigkeitsperspektive lässt sich ein hoher Grad der Abhängigkeit von
Unternehmen von der externen Interessensgruppe „Kunden“ ableiten [Homburg 1995, S. 46;
Pfeffer/Salancik 1978, S. 45 ff.]. Erstens sind Unternehmen aufgrund hoher Entwicklungs-
und Vermarktungskosten von Innovationen besonders stark auf Informationen zu Kundenbe-
dürfnissen sowie eine hohe Nachfrage im Markt angewiesen (hohe Ressourcenwichtigkeit).
Zweitens kann von einer Verfügungsgewalt über die Ressourcen seitens der Kunden ausge-
gangen werden [Lettl 2004, S. 96]: Zum einen besitzen Kunden finanzielle Ressourcen zur
Innovationsnachfrage; zum anderen stellen latente Bedürfnisse implizites Wissen dar, das sich
in der Regel durch einen intensiven persönlichen Austausch in explizites Wissen umwandeln
lässt [Nonaka/Konno 1998, S. 46]. Schließlich besteht eine hohe Konzentration der Ressour-
cenkontrolle, da sich neben der Nachfrage im Markt auch Informationen zu Kundenbedürfnis-
sen nicht einfach substituieren lassen. Das Verständnis von Unternehmen darüber, was Kun-
den einen Nutzen stiftet, weicht erheblich von dem ab, was Kunden tatsächlich als
nutzenstiftend wahrnehmen [Woodruff 1997, S. 143].
Pfeffer/Salancik [1978, S. 92 ff.] verweisen auf unterschiedliche Strategien zur Abhängig-
keitsbewältigung. Im Marketing-Kontext haben drei Strategien besondere Relevanz [Ernst
2001, S. 176; Homburg 1995, S. 46 f.]: (1) Erfüllung der Anforderungen der Interessensgrup-
pe; (2) Stärkung der Beziehung zur Interessensgruppe (z. B. durch Informationsaustausch,
verstärkte Interaktion) und (3) Beeinflussung der Forderungen (z. B. kommunikative Steue-
rung der Erwartungen potenzieller Kunden). Die erste, rein passive Erfüllungsstrategie ist
insofern problematisch, als dass sie aufgrund inkompatibler Anforderungen von Interessens-
gruppen auf Dauer kaum durchzuhalten ist und die Abhängigkeit tendenziell verstärkt. Lang-
fristig sinnvoll ist die Intensivierung der Kooperation mit externen Interessensgruppen [Scott
1992, S. 197 spricht von „bridging strategies“].
Kundenintegration beinhaltet definitionsgemäß eine Ausrichtung der Innovationstätigkeit auf
den Kunden [Plinke 1992, S. 836] und zielt damit auf eine Erfüllung der Anforderungen
potenzieller Kunden ab [Ernst 2001, S. 176; Homburg 1995, S. 46 f.]. Durch die Zusammen-
arbeit mit ausgewählten Kunden und dem damit verbundenen Informations- und Interaktions-
austausch stärkt der Hersteller die Beziehung zur Interessensgruppe [Plinke 1992, S. 839]. Da
es sich bei der Kundenintegration um einen beiderseitigen Lernprozess handelt, werden dar-
Systematische Kundenintegration 45

über hinaus Erwartungen der Kunden an die Innovation und damit auch Forderungen der
Kunden beeinflusst. Da die Strategien über den passiven Erfüllungsansatz hinausgehen, kann
eine Kundenintegration als eine langfristige Möglichkeit der Bewältigung der Abhängigkeit
von den Kunden und damit als eine „bridging strategy“ verstanden werden [Lettl 2004, S. 96].
Aus dem Verständnis der Ressourcenabhängigkeitsperspektive lässt sich damit ein positiver
Einfluss der Kundenintegration auf den Innovationserfolg ableiten.

2.2 Erkenntnisse aus der Erfolgsfaktorenforschung


In der Literatur wird relativ häufig auf kontroverse Ergebnisse zum Erfolgseinfluss der Kun-
denintegration hingewiesen [z. B. Henard/Szymanski 2001]. Kundenintegration ist nicht nur
mit Vorteilen, sondern auch mit potenziellen Nachteilen (z. B. hohe Kosten) verbunden [z. B.
Enkel et al. 2005] und verlangt demnach eine differenzierte Betrachtung [Ernst 2001,
S. 305 f.]. Empirische Studien weisen darauf hin, dass der Erfolgseinfluss abhängig ist von
der Intensität [Bstieler/Kleinschmidt 1992] bzw. der Kontinuität der Kundenintegration. So
zeichnen sich erfolgreiche Innovationsprojekte dadurch aus, dass bereits in sehr frühen [Mul-
lins/Sutherland 1998] bis hin zu späten Phasen Kunden einbezogen werden [Gruner/Homburg
2000]. Relevanz hat eine kontinuierliche Kundenintegration, die sich über den gesamten
Innovationsprozess erstreckt [Lettl 2004; Millson/Wilemon 2002]. Zum anderen konnte empi-
risch festgestellt werden, dass ausgewählte Kunden integriert werden, die sich durch be-
stimmte Eigenschaften wie z. B. Lead User Eigenschaften bzw. eine bestehende, enge Ge-
schäftsbeziehung auszeichnen [z. B. Gruner/Homburg 2000].
Weitere Befunde machen darauf aufmerksam, dass (insbesondere hochgradige) Innovations-
projekte eine interaktionsintensive Form der Kundenintegration verlangen [Callahan/Lasry
2004]. Dabei zeigt sich häufig der von Lynn [1993] als Probe & Learn bezeichnete experi-
mentelle Lernprozess, bei dem Probeversionen immer wieder iterativ mit Kunden diskutiert
und getestet sowie anschließend verbessert werden, als gut geeignet [Mullins/Sutherland
1998]. Lettl [2004, S. 300] stellt fest, dass aufgrund der Erklärungsbedürftigkeit der Informa-
tionen die Interaktionen häufig direkt und persönlich erfolgen. Bei hochgradigen Innovatio-
nen wird die Erfolgsrelevanz von Methoden, die spezifisch für den Kontext radikaler Innova-
tionen entwickelt wurden (z. B. Ethnografie), deutlich. Der Kontakt zum Kunden ist dabei
nicht nur auf Marketing-Mitarbeiter beschränkt, sondern häufig besteht darüber hinaus ein
direkter Forschung- und Entwicklung- (F&E-) bzw. Produktmanagement-Kunden-Kontakt
[Veryzer 1998].

3 Ableitung eines systematischen Ansatzes der Kundenintegration


3.1 Systematische Kundenintegration entlang der Phasen Exploration,
Ideengenerierung und Evaluation
Ausgehend von den dargestellten Ergebnissen zum Einfluss der Kundenintegration auf den
Erfolg wird bei den Deutschen Telekom Laboratories im Rahmen der Entwicklung innovati-
ver Telekommunikationsprodukte und -dienstleistungen ein systematischer Ansatz der Kun-
denintegration angewandt. Zur Sicherstellung einer intensiven und kontinuierlichen Kunden-
integration erstreckt sich der Ansatz über den gesamten Innovationsprozess, von der
46 Fee Steinhoff, Annika Schröder

Exploration über die Ideengenerierung bis hin zur Evaluation. Dabei werden im Schwerpunkt
interaktionsintensive und innovative Methoden der Kundenintegration angewandt.
In Anlehnung an „Probe & Learn“ [Lynn 1993] handelt es sich um einen iterativen Prozess,
das heißt, je nach erzieltem Erkenntnisstand werden bestimmte Phasen bzw. Methoden des
Prozesses wiederholt. Besonderes Augenmerk wird auf die Implementierung der Ergebnisse
gelegt, indem nach jeder Phase der Kundenintegration alle für den Produktentwicklungs- und
Markteinführungsprozess verantwortlichen Personen (u. a. aus dem Bereich Design, Marke-
ting, Technik und Produktmanagement) zur Analyse und Interpretation der Ergebnisse einge-
bunden werden. Abb. 1 zeigt den systematischen Ansatz zur Kundenintegration im Überblick.

Exploration Ideengenerierung Evaluation

Ergebnis- Definition von


Identifikation von
Suchfeldern priorisierung Produkt-/
& Definition von Service- bzw.
für neue Produkte
Innovations- Markteinführungs-
und Services
bedürfnissen konzepten

Konzept- Anwendungsfälle, Markt-


Bedürfnis- Ideenstimulus entwicklungs- Prototypen bzw. einführungs-
Start- Workshop
Workshop Workshop Marketingkonzept Workshop

Tiefes
(Iterative) Konzept-
Verständnis der Ideengenerierung
bzw. Prototypen-
Kunden & ihrer & -priorisierung
evaluation
Bedürfnisse

(WKQRJUDILVFKH%HREDFKWXQJ Web-basierte Ideengenerierung (YDOXDWLRQVNOLQLN


7DJHEXFKIRUVFKXQJ Ideenworkshop 9HUWLHIXQJVNOLQLN
%HGXUIQLVNOLQLN

Abb. 1: Systematischer Ansatz zur Kundenintegration

Entsprechend der Definition von Kundenintegration und den Ergebnissen der Erfolgsfakto-
renforschung werden ausgewählte Kunden in den Innovationsprozess eingebunden. Um lang-
fristig Synergien bei der Rekrutierung geeigneter Kunden zu erzielen, wird ein Kundenpool
aufgebaut. Das Sample besteht aus Entscheidern und Nutzern aus kleinen und mittleren Un-
ternehmen (1 bis 250 Mitarbeiter) in Deutschland. Zur Bewertung der Eignung der Kunden
erfolgt jeweils im Rahmen von Kundeninteraktionen (z. B. einem Ideenworkshop) eine exper-
tenbasierte Einschätzung von Kundenmerkmalen wie z. B. Know How im Bereich Sprach-/
Datendienste (Durchschnitt, Expertentum), Interaktionstyp (Analytiker, Macher, Schweiger,
Redner), Persönlichkeit (interessiert, kreativ, emotional) und Adoptergruppe (Lead User,
Innovator, Folger). Aktuell sind ca. 60 Kunden Mitglied des Pools, der jedoch zukünftig
sukzessive erweitert wird. Zur Teilnahme am Kundenpool werden neben monetären Anreizen
auch hochwertige Geschenke (z. B. Ledermappe, Uhr, Geldbörse) zur Verfügung gestellt.
Insgesamt betrachtet stößt die Vorgehensweise auf sehr positive Resonanz bei den Kunden:
Systematische Kundenintegration 47

Alle bisher in den Kundenpool eingeladenen Kunden haben das Angebot angenommen und
durchweg positiv auf die bisher durchgeführten Aktivitäten der Kundenintegration reagiert.

3.1.1 Exploration
Die Phase der Exploration bezieht sich auf das noch vage Anfangsstadium eines Innovations-
projektes. Die Exploration hat ein umfassendes und tiefgehendes Verstehen der gegenwärti-
gen und zukünftigen Kunden zum Ziel, z. B. hinsichtlich ihrer Arbeits- und Lebenssituation,
ungelösten Probleme sowie Bedürfnisse und Wünsche. Dabei geht es um anschauliche Be-
schreibungen ungelöster Probleme oder unerfüllter Bedürfnisse (engl. customer insights),
dargestellt aus der Perspektive des Kunden.
Zu Beginn der Explorationsphase gilt es zunächst, Suchfelder für neue Produkte und Dienst-
leistungen im Telekommunikationsbereich zu identifizieren und sich im Rahmen eines Start-
Workshops gemeinsam im Team (verantwortliche Mitarbeiter aus den Bereichen F&E, Mar-
keting und Produktmanagement) auf Ziele und einzusetzende Methoden zu einigen. Im Rah-
men der anschließenden Kundeninteraktion werden zur Erlangung eines tiefen Verständnisses
der Kunden und ihrer Bedürfnisse im Schwerpunkt drei verschiedene, innovative Methoden
angewandt:
x Ethnografische Beobachtung: Integraler Bestandteil dieser Methode sind persönliche
Besuche bei (potenziellen) Kunden. Kunden werden in ihrem (Lebens- und Berufs-) All-
tag beobachtet und Hintergründe zu beobachtetem Verhalten werden per Interview erho-
ben. Diese Besuche werden i. d. R. von kleinen interdisziplinären Teams (z. B. bestehend
aus Marktforschern, Psychologen, Produktmanagern und Ingenieuren) durchgeführt.
Während und nach der direkten Kundeninteraktion wird eine anschauliche Dokumentati-
on, z. B. der Informations- und Kommunikationsinfrastruktur des Kunden, angefertigt
[Leonard/Rayport 1997].
x Tagebuchforschung: Bei der sog. Tagebuchforschung werden Zielgruppen gebeten, über
einen im Vorfeld festgelegten Zeitraum (Online-)Tagebücher zu führen. Entsprechend der
jeweiligen Forschungsfrage (z. B. latente Bedürfnisse/Wünsche oder auch Treiber und
Barrieren von Produkt- oder Dienstleistungsinnovationen) findet eine Vorstrukturierung
der Tagebücher statt.
x Bedürfnisklinik: Der Ursprung der sogenannten Klinik-Methode (engl. clinic) ist die
Automobilklinik, eine spezifische Marktforschungsmethode der Automobilindustrie. Die
Methodenbezeichnung basiert auf der Tatsache, dass Testpersonen an einen speziellen Ort
(z. B. ein Laboratorium in einer Entwicklungsabteilung) eingeladen werden, an dem sie
dann gewissermaßen als „Patienten“ behandelt werden – als handele es sich um einen Kli-
nikbesuch [Burmann 1994]. Im Falle der so genannten Bedürfnisklinik kommt es zu einer
direkten persönlichen Interaktion zwischen Kunden und Entwicklern bzw. Produktmana-
gern entlang verschiedener Stationen. Der Fokus der Stationen kann z. B. auf der Kon-
frontation mit bestehenden Produkten und Dienstleistungen zur Identifikation von Barrie-
ren, auf der Erhebung von Ziel-Mittel-Ketten mithilfe der Laddering-Technik oder auch
z. B. auf der Bewertung abstrakter zukünftiger Anwendungsfunktionalitäten [sog. Mini-
Konzepte; Durgee et al. 1998] liegen.
48 Fee Steinhoff, Annika Schröder

Die Phase der Exploration mündet in einem so genannten Bedürfnisworkshop. Ziel ist es,
gemeinsam mit den verantwortlichen Mitarbeitern die Ergebnisse der angewandten Methoden
der Kundenintegration zu analysieren, zu strukturieren und zu interpretieren. Bei Bedarf
können auch in dieser Phase Schlüsselkunden eingeladen werden, so dass eventuelle Rückfra-
gen gestellt bzw. vertiefende Diskussionen zu identifizierten latenten Bedürfnissen geführt
werden können.

3.1.2 Ideengenerierung
Die Phase der Ideengenerierung wird initiiert mit einer Ergebnispriorisierung und Definition
von kundenbezogenen Innovationsbedürfnissen. Darauf basierend wird als Ideenstimulus
anschauliches Material (z. B. Visualisierungen) angefertigt, das die Suche nach Innovations-
ideen unterstützen soll. Im Falle von Marktsog-Innovationen bilden die Kundenbedürfnisse
den Ausgangspunkt; Technologiedruck-Innovationen hingegen werden durch technologische
Ideen oder Erfindungen initiiert, für die in Kongruenz zu den identifizierten Innovationsbe-
dürfnissen konkrete Anwendungen gefunden werden sollen [Chidamber/Kon 1994]. In dieser
Phase ist Kreativität erforderlich, die durch folgende Methoden der Kundenintegration unter-
stützt werden kann:
x Web-basierte Ideengenerierung: Der sog. Information Pump-Ansatz basiert auf spieltheo-
retischen Untersuchungen des Massachusetts Institute of Technology [Dahan/Hauser
2002]. Im Kern handelt es sich um ein webbasiertes Diskussionsforum, ähnlich struktu-
riert wie die Delphi-Methode. Die Kunden formulieren basierend auf Stimulusinformati-
onen in einer ersten Runde Ideen für zukünftige Produkte und Dienstleistungen, und in
einer zweiten Runde werden diese Ideen dann von den jeweiligen anderen Teilnehmern
nach vorgegebenen Kriterien (z. B. Originalität, Nutzen etc.) bewertet.
x Ideenworkshop: Im Rahmen von Ideenworkshops kommen Kreativitätstechniken wie
z. B. „Trendkarten“, „Lernen von anderen Produkten/Marken“ und „Building the Future
World with Lego“ zum Einsatz. Das kreative Potenzial der Teilnehmer soll möglichst
ganzheitlich zur Generierung idealisierter (Design-) Ideen stimuliert werden. Je nach
Themenstellung können Experten und/oder besonders innovative Kunden, sog. Lead User
[Lüthje/Herstatt 2004], zu den Workshops eingeladen werden. Lead User haben die Nei-
gung, Innovationen überdurchschnittlich früh zu übernehmen, die Fähigkeit, Bedürfnisse
der Märkte von morgen zu antizipieren sowie eine Unzufriedenheit mit bestehenden Pro-
dukten und ein damit verbundenes Eigeninteresse an Problemlösungen [Hippel 1986].
Die Phase der Ideengenerierung endet mit einem sogenannten Konzeptentwicklungswork-
shop. Auch hier steht eine bestmögliche Vorbereitung der Implementierung der Ergebnisse im
Vordergrund, indem die für die Umsetzung verantwortlichen Personen gemeinsam die Ergeb-
nisse auswerten und verdichten.

3.1.3 Evaluation
Im Rahmen der dritten Phase, der Evaluation, können Marktunsicherheiten zu zwei Arten von
Fehlentscheidungen führen. Während bei der ersten Art in ein Innovationsprojekt (weiter)
investiert wird, obwohl das zu erwartende Erfolgspotenzial niedrig ist, werden bei der zweiten
Art Erfolgspotenziale nicht erkannt und das Projekt wird fälschlicherweise eingestellt [Eli-
Systematische Kundenintegration 49

ashberg et al. 1997]. Valide Marktpotenzialvorhersagen mittels innovativer Methoden der


Kundenintegration erhöhen die Wahrscheinlichkeit korrekter Entscheidungen.
Die Evaluationsphase beginnt mit einer internen Definition von Produkt-/Dienstleistungs-
bzw. Markteinführungskonzepten, abgeleitet aus den Ergebnissen des vorangegangenen
Konzeptentwicklungsworkshops. Diese Konzepte werden in möglichst anschauliche Anwen-
dungsfälle, Prototypen bzw. Markteinführungsbeschreibungen umgesetzt. Ziel der Evaluation
ist die Reduzierung vorhandener Innovationsideen und -konzepte auf jene, welche ein mög-
lichst hohes Erfolgspotenzial im Markt erkennen lassen. Dabei wird in der Regel ein iteratives
Vorgehen gewählt. Eine Idee bzw. ein Konzept wird ausgewählten Kunden vorgestellt und
von diesen bewertet, anschließend verbessert bzw. weiter ausgearbeitet und dann erneut von
den Kunden evaluiert. Dabei stehen zwei verschiedene Methoden im Vordergrund:
x Evaluationsklinik: So genannte Evaluationskliniken können zur Selektion erfolgverspre-
chender Ideen/Konzepte Informationen über eine Vielzahl von Themen liefern – z. B.
über Kundenpräferenzen und das Lernverhalten potenzieller Kunden. Die Datenerhebung
kann auf Beobachtungen, Fragebögen, Tiefeninterviews und/oder Gruppendiskussionen
basieren. Die wahlweise Durchführung einer Conjoint Analyse ermöglicht besonders zu-
verlässige Ergebnisse für eine nutzenbasierte Ideen- bzw. Konzeptpriorisierung.
x Vertiefungsklinik: Für besonders erfolgversprechende neue Produkte und Dienstleistun-
gen können durch eine intensive Kommunikation mit Kunden im Rahmen von Vertie-
fungskliniken detaillierte, weitergehende Informationen (z. B. zur Benutzerfreundlichkeit,
zu Produktmodifikationen und Preisbereitschaften etc.) erhoben werden.
Wenn das interdisziplinäre Team zu dem Ergebnis kommt, über einen ausreichenden Wis-
senstand zu den Bedürfnissen und konkreten Präferenzen der Zielkunden zu verfügen, kommt
es zum so genannten Markteinführungsworkshop. Ziel ist es, abschließend alle Erkenntnisse
des gesamten Kundenintegrationsprozesses zu sichten und für den Markteinführungsprozess
freizugeben.

3.2 Anwendungsbeispiele
3.2.1 Mobiles Fernsehen
Ein Beispiel für den im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Ansatz der Kundenintegration
ist das Projekt Mobiles Fernsehen, das von den Deutschen Telekom Laboratories seit Sommer
2007 durchgeführt wird. Mobiles Fernsehen gilt als eine erfolgversprechende Innovation in
der Telekommunikationsindustrie. Insbesondere Interaktionsszenarios, wie z. B. interaktive
Fernsehshows und interaktive Spiele stellen interessante Umsatzpotenziale in Aussicht [Bar-
rett 2006]. Interaktive Dienste im Bereich des Mobilen Fernsehens weisen einen hohen Grad
an Innovativität auf, sowohl in technologischer Hinsicht (z. B. bezogen auf Schnittstellen und
Plattformen), aber insbesondere auch aus Marktperspektive (z. B. bzgl. Personalisierung,
Kooperation von Marktakteuren etc.). Obgleich entsprechende Dienste ein hohes Potenzial für
ein neues Fernseherlebnis bergen, verlangen sie von den Zielkunden gleichzeitig eine deutli-
che Verhaltensänderung, die sich in einem erheblichen Kognitions- und Zeitaufwand wider-
spiegeln kann.
50 Fee Steinhoff, Annika Schröder

Zur Unsicherheitsreduktion werden im Projekt Mobiles Fernsehen systematisch Kunden in


den Innovationsprozess integriert. In der ersten und zweiten Phase des Innovationsprozesses,
der Exploration und der Ideengenerierung, wurde aufgrund der Innovativität der Themenstel-
lung mit Lead Usern [Hippel 1986] zusammengearbeitet. Zunächst wurden die Lead User
gebeten, während einer Periode von zehn Tagen alle ihre Gedanken und Ideen zum Thema
Mobiles Fernsehen in vorstrukturierten Tagebüchern festzuhalten (Tagebuchforschung).
Durch regelmäßige Informationen via SMS und E-Mail wurden Kontexte angestoßen, welche
die Teilnehmer bisher evtl. noch nicht in ihre Überlegungen miteinbezogen hatten.
Nach der Auswertung der Tagebücher und der Definition von Innovationsbedürfnissen im
Rahmen eines internen Bedürfnisworkshops wurde ein Ideenworkshop durchgeführt. Um eine
vollständige Erfassung aller möglichen Ideen sicherzustellen, wurden verschiedene Kreativi-
tätstechniken angewandt. Zur Erzeugung einer offenen und kreativen Atmosphäre wurde mit
einem Lego-Spiel gestartet: Die Teilnehmer wurden gebeten, mobile Fernseh-Szenarien mit
den bunten Bausteinen zu entwerfen. Es wurden darüber hinaus immer wieder Ideenstimuli,
etwa in Form von Kurzfilmen über Zukunftstrends, integriert.
Ideen, die ausreichende Analogien aufwiesen, wurden im Rahmen eines internen Konzept-
entwicklungsworkshops zu Anwendungsfällen zusammengefasst. Zur Erhebung empirischer
Präferenzdaten wurden anschließend potenzielle Zielkunden zu Evaluationskliniken eingela-
den. Die Teilnehmer durchliefen zunächst eine intensive Lernphase: Mobile Fernsehdienste
wurden anhand von Visualisierungen und Demonstratoren anschaulich erklärt. Im Anschluss
beantworteten die Teilnehmer per Laptop Fragen bzgl. der soeben kennen gelernten Dienste
und es wurden conjoint-basierte Nutzenwerte erhoben. Aus den Präferenzen wurde eine kurz-,
mittel- und langfristige Roadmapplanung abgeleitet, die anschließend im Rahmen des Markt-
einführungsworkshops freigegeben wurde.

3.2.2 Anwendungsbeispiel Mobiles Internet


Ein weiteres Anwendungsbeispiel zur Illustration von Kundenintegration in den Innovations-
prozess ist das Teilprojekt Mobiles Internet, das im Frühjahr 2008 durchgeführt wurde. Im
Rahmen des Projektes Mobile Applikationen im B2B- (Business to Business-) Bereich kleiner
und mittelständischer Unternehmen forcierte Mobiles Internet Applikationen wie z. B. mobile
Email. Mobiles Internet erschließt im Hinblick auf Trends wie „Everything as a service“ (d. h.
physische Produkte werden äquivalent als Web-Service angeboten) im B2B-Bereich neue
Anwendungsmöglichkeiten für den Kunden. Für den Hersteller ergeben sich sowohl in der
Technologie als auch bei der Entwicklung neuer Applikationen Innovations- und Umsatzpo-
tenziale. Derzeit besteht die Adoptionsrate von mobilem Internet im B2B Bereich unter 10 %
[Microsoft/TechConsult 2007]. Ziel des Projektes war es u. a., die Gründe für die geringe
Adoptionsrate zu untersuchen. Daher waren die Aktivitäten auf die Phasen Exploration und
Ideengenerierung ausgerichtet.
In der Explorationsphase wurde mit verschiedenen Kundentypen zusammengearbeitet. Auf-
grund der explorativen Themenstellung wurden die Kunden in ihrem beruflichen und privaten
Kontext bezüglich ihres Kommunikationsverhaltens und ihres Umgangs mit mobilem Internet
beobachtet und im Anschluss dazu interviewt. Es wurden dabei sowohl Lead User mobiler
Systematische Kundenintegration 51

Datenapplikationen als auch Nutzer alternativer mobiler Internetdienste (z. B. UMTS USB-
Stick) und Nicht-Nutzer beobachtet.
Zunächst wurde deduktiv aus vorhandenen Daten (z. B. Studien, akademische Literatur) ein
Kategoriensystem entwickelt, das zur Dokumentation der Beobachtungen und des Interviews
diente. Darüber hinaus wurden die Beobachtungen per Videokamera aufgezeichnet. Die
Auswertung führte zu einer induktiven Erweiterung des bereits bestehenden Kategoriensys-
tems. Beispielhaft soll hier ein Ausschnitt des Ergebniskategoriensystems näher erläutert
werden. Abb. 2 zeigt das wertebasierte Profil des Kundenprofils „Nomade“, der sich maßgeb-
lich durch seine ortsunabhängige Arbeitsumgebung auszeichnet.

Ansprechbar Ein-Inseln bedeutet, sich von externen Arbeitseinflüssen zu


Ein-Inseln sein isolieren und sich auf eine Sache zu fokussieren. Dies steht
im Spannungsfeld zur Ansprechbarkeit.

Vor Ort sein Erreichbar Im Gegensatz zur physischen Präsenz steht der Zustand
sein der Erreichbarkeit.

Bei der Nutzung von Pausen (freie Zeiten) besteht das


Digitales „Shower“ Gegensatzpaar aus schnellem Surfing (digitales Snacken)
Snacken Momente und Nachdenken über z.B. Ideen („Shower“ Momente).

Tiefe Schnell, Langfristig ausgerichtete tiefe Produktivität steht schnellem


Produktivität effizient Abarbeiten von Aufgaben gegenüber.

Work-Life Work-Life Es besteht ein Gegensatz zwischen dem Umgang mit


Integration Balance Arbeit und Privatem, der klaren Trennung steht die
Integration gegenüber.

= Mobile Datenapplikationen

Abb. 2: Wertebasiertes Kundenprofil „Nomade“

Diese wertebasierte Kategorisierung wurde für alle identifizierten Kundengruppen erstellt.


Außerdem konnten Herausforderungen und Strategien im Umgang mit mobilen Datenapplika-
tionen für jedes Kundenprofil identifiziert werden.
Auf Basis der gesamten Ergebnisse wurde im Anschluss ein Ideenworkshop mit Projektmit-
gliedern und Experten durchgeführt. Die Teilnehmer vertieften sich in Kleingruppen mittels
eines vorgefertigten Ideenbaukastens in die Welt des Kunden und entwickelten auf dieser
Basis mehr als 15 Ideen für die kurz- und mittelfristige Roadmapplanung.

3.3 Qualitative Evaluation des Methodenansatzes


Zur Qualitätsanalyse werden die Methoden evaluiert. Abb. 3 stellt einen Ausschnitt der Eva-
luation für verschiedene Methoden exemplarisch zusammen. Die Evaluation basiert auf der
Bewertung aus Kunden- und Projektperspektive.
Außerdem wird im Anschluss an die Projekte eine Zielerreichungsanalyse erstellt, in der z. B.
Fragen erörtert werden, inwiefern eine Anpassung des Methodeneinsatzes zur Zielerreichung
erforderlich ist.
52 Fee Steinhoff, Annika Schröder

Exploration Ideengenerierung Evaluation

Bedürfnisklinik Ethnographische Tagebuchforschung Ideenworkshop Evaluationsklinik


Beobachtung

• Ermöglicht guten • Guter Ansatz zur • Identifizierung und • Integrativer Ansatz • Bewährter Ansatz
Austausch mit Gewinnung von Dokumentation von zur Generierung von zur Evaluation des
Kunden Informationen zu Kundenideen im Input zu neuen Kundennutzen für
latenten Kunden- Alltag Produkten innovative Produkte.
• Sehr nützlich für bedürfnissen
kreative • Kunde wird für • Ermöglicht eine gute
Diskussionen Thema sensibilisiert Bindung zum
und kreativ aktiv Kunden
• Reichhaltige
Datengenerierung

• Analyse methodisch • Hoher Planungs- • Betreuung während • Sehr aufwändiges • Unmittelbares


noch nicht ausgereift und Durchführungs- der Tagebuchphase Such- und Kundenfeedback
aufwand intensiv (Stimulus Auswahlverfahren über
• Problematik der
zum Ausfüllen des der Teilnehmer, um den Fragebogen
Gruppendynamik • Problematik: soziale
Tagebuches gute Ergebnisse hinausgehend wird
ungelöst Erwünschtheit
bereitstellen) sicher zu stellen nicht aufgenommen

Abb. 3: Qualitative Methodenevaluation (Auszug)

4 Zusammenfassung
Im vorliegenden Beitrag wurde ein systematischer Ansatz der Kundenintegration zur Ent-
wicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen der Telekommunikationsindustrie erläu-
tert. Dazu wurde zunächst der Stand der Forschung zur Integration von Kunden in den Inno-
vationsprozess vorgestellt. Aufbauend auf der Erkenntnis, dass Kundenintegration „mehr ist
als Marktforschung“ und eine aktive Mitgestaltung der Kunden im Innovationsprozess bein-
haltet, wurde eine Erfolgsbetrachtung vorgenommen. Dazu wurde zunächst die Ressourcen-
abhängigkeitsperspektive auf den Kontext der Kundenintegration in den Innovationsprozess
übertragen. Es konnte gezeigt werden, dass gegenwärtige und potenzielle Kunden aufgrund
ihrer Ressourcen „Nachfrage“ und „Informationen über Kundenbedürfnisse“ essenzielle
Interessensgruppen darstellen und ein hoher Abhängigkeitsgrad Bewältigungsstrategien ver-
langt. Es konnte hergeleitet werden, dass die Integration ausgewählter Kunden als eine geeig-
nete Strategie der Abhängigkeitsbewältigung im Sinne einer „bridging strategy“ verstanden
werden kann und sich somit theoretisch ein positiver Einfluss der Kundenintegration auf den
Innovationserfolg ableiten lässt.
Aufbauend auf Erkenntnissen aus der Erfolgsfaktorenforschung wurde anschließend deutlich,
dass Kundenintegration nicht pauschal positiv, sondern differenziert betrachtet werden muss.
Empirische Studien konnten in der Vergangenheit einen positiven Einfluss einer hohen Inten-
sität der Kundenintegration nachweisen. Eine erfolgreiche Kundenintegration verlangt spezi-
fische Gestaltungsoptionen wie z. B. Kontinuität entlang des Innovationsprozesses, Auswahl
zu integrierender Kunden anhand spezifischer Eigenschaften sowie Einsatz besonders interak-
tionsintensiver und innovativer Methoden der Kundenintegration.
Die Erkenntnisse wurden zur Ableitung eines systematischen Ansatzes der Kundenintegration
zur Entwicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen in der Telekommunikationsin-
dustrie herangezogen. Der Ansatz basiert auf spezifischen Methoden zur Generierung von
Kundeninformationen und zur internen Umsetzung der Erkenntnisse. Dabei erfolgt eine Dif-
Systematische Kundenintegration 53

ferenzierung nach den drei Innovationsprozessphasen Exploration, Ideengenerierung und


Evaluation. Innerhalb dieser Phasen erfolgt der Einsatz spezifischer Methoden der Kundenin-
tegration, wie z. B. Ethnografische Beobachtung, Web-basierte Ideengenerierung und Evalua-
tionskliniken. Aus den bisherigen erzielten Ergebnissen und den Reaktionen der integrierten
Kunden lässt sich ableiten, dass es sich um einen erfolgversprechenden Innovationsmanage-
mentansatz handelt. Der Erfolg spiegelt sich zum einen in der Entwicklung von neuen Pro-
dukten und Dienstleistungen mit einem überdurchschnittlich hohen Marktpotenzial wider.
Darüber hinaus formulieren die integrierten Kunden immer wieder das Gefühl, dass ihre
Bedürfnisse eine hohe Bedeutung haben und erstmalig auch nachhaltig im Innovationsprozess
umgesetzt werden. Diese Erkenntnis führt zu einer hohen Identifikation mit der Deutschen
Telekom und einer darauf aufbauenden starken Kundenbindung.

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Kundenintegration in Innovationsprozesse
unter Einsatz von Web 2.0-Anwendungen

Marion Büttgen

1 Einleitung
Ein entscheidender Erfolgsfaktor unternehmerischer Tätigkeit besteht darin, Leistungen zu
entwickeln, die möglichst weitgehend an den Kundenbedürfnissen ausgerichtet sind. Um dies
zu realisieren, sollten Kunden bereits frühzeitig in Innovationsprozesse eingebunden werden,
sodass sichergestellt wird, dass ihre Wünsche und Anforderungen adäquat berücksichtigt
werden und die Gefahr einer Fehlentwicklung und mangelnder Marktakzeptanz gemindert
wird. Die Möglichkeiten einer Kundenintegration in Innovationsprozesse sind vielseitig:
Kunden können als Impulsgeber und Ideenlieferant fungieren, ihre Anforderungen an neue
Produkte übermitteln, an der Konzeptentwicklung mitwirken oder als Lead User sogar eigen-
ständige Lösungsvorschläge für bestehende oder zukünftige Kundenprobleme ausarbeiten; sie
können in der Prototyping-Phase oder unmittelbar vor der eigentlichen Markteinführung als
Testpersonen fungieren und somit wertvolles Feedback bezüglich der zu erwartenden Markt-
akzeptanz liefern.
In einer Zeit, in der das Internet zunehmend an Bedeutung gewinnt, stellt sich die Frage,
welche neuen Methoden dieses Medium für die Kundenintegration bietet. Speziell der Begriff
Web 2.0 steht für eine neue Ära des Internets und für die Veränderungen, die es in den letzten
Jahren vollzogen hat. War der Internetnutzer in den Anfängen nur der Konsument von Unter-
nehmens- und Produktinformationen, so schafft er heute selbst Inhalte und befindet sich in
einem regen Informationsaustausch mit anderen Internetnutzern wie auch mit Unternehmen.
Der „User Generated Content“ und die Zusammenarbeit der Nutzer bestimmen das Internet
von heute. Die verschiedenen Web 2.0-Anwendungen wie Weblogs oder Communities, Wi-
kis, Podcasts oder virtuelle Welten ermöglichen eine aktive Beteiligung der Internetuser, eine
weltweite Verbreitung von Bildern und Videos, aber auch von Meinungen, Ideen und Wissen.
In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie diese Web 2.0-Anwendungen genutzt wer-
den können, um Kundeninformationen wie auch gestalterischen und bewertenden Input zu
sammeln und ihn in die Entwicklungsprozesse neuer Leistungen zu integrieren. Welches
Potenzial weisen Web 2.0-Anwendungen diesbezüglich auf und in welchen Phasen des Inno-
vationsprozesses sind welche Web 2.0-Anwendungen sinnvoll einsetzbar? Diese Fragen
sollen im vorliegenden Beitrag geklärt werden. Unter anderem wird dabei auf die Erkenntnis-
se aus Experteninterviews zurückgegriffen, welche mit Vertretern von Pionierunternehmen im
relevanten Themenkontext geführt wurden.
56 Marion Büttgen

2 Der Innovationsprozess in seinen wesentlichen Phasen


Eine systematische, ganzheitlich angelegte Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen
stellt eine komplexe Aufgabe dar, zu deren Bewältigung i. d. R. ein mehrstufiges Vorgehen
empfohlen wird. In der Literatur lassen sich verschiedene Phasenansätze finden, die in Art
und Anzahl der unterschiedenen Phasen variieren [Billing 2003; Disselkamp 2005; Ernst
2002; Herstatt/Verworn 2007; Reichwald/Piller 2006; Vahs/Burmester 2005]. Unter Berück-
sichtigung des gegebenen Themenfokus der Kundenintegration wird für den vorliegenden
Beitrag ein Phasenmodell gewählt, welches die folgenden Kernphasen der Neuproduktent-
wicklung mit entsprechenden Teilaufgaben differenziert:
1. Ideengenerierung und -selektion (Innovationsanstoß, Ideensuche und -sammlung, Ideen-
bewertung und -selektion)
2. Ideenrealisierung (Konzeptentwicklung, Prototyping, Produkttests)
3. Markteinführung (Markttests)
In der ersten Phase der Neuproduktentwicklung sollen Ideen für potenzielle Produktinnovati-
onen generiert, im Hinblick auf ihre Marktchancen und Realisierbarkeit bewertet und selek-
tiert werden. Innovationsanstöße wie auch konkrete Produktideen können dabei nicht nur aus
der Sphäre des Unternehmens kommen, sondern auch von Kunden oder potenziellen Produkt-
verwendern eingebracht werden. Im B-to-B-Bereich ist dies unter der Bezeichnung „Lead-
User-Konzept“ bereits seit längerer Zeit gängige Praxis [Hippel 1986]. Hier werden besonders
fortschrittliche und kompetente Produktverwender bereits in den frühen Phasen der (Neu-)
Produktentwicklung aktiv eingebunden. Werden kundenseitig eingebrachte Produktideen
realisiert, spricht man auch von Pull-Innovationen [Vahs/Burmester 2005, S. 80]. Aufgrund
ihres anwenderseitigen Ursprungs ist die Wahrscheinlichkeit der Marktakzeptanz bei diesen
Innovationen meist höher als bei unternehmensgetriebenen Push-Innovationen.
In der Phase der Ideenrealisierung soll eine vorab positiv bewertete Produktidee in eine
marktfähige Lösung umgewandelt werden. Hierfür gilt es zunächst, unter Berücksichtigung
von Kunden-, Wettbewerbs- und Unternehmensanforderungen ein Konzept zu entwickeln,
welches dann – meist in iterativen Prozessen – in physischen und/oder virtuellen Modellen
realisiert, erneut bewertet und schließlich in Form von realitätsnahen Prototypen umgesetzt
wird [Reichwald/Piller 2006, S. 103 f.]. In sämtliche dieser Teilaufgaben können Kunden
eingebunden werden: als Co-Designer, Berater und Tester, zur Übermittlung der eigenen
Bedürfnisse, Anforderungen und des konkreten Anwenderwissens sowie zur eigenständigen
Gestaltung (virtueller) Produktmodelle.
Die abschließende Phase der Markteinführung beinhaltet das Testen des Produktes und dessen
Leistungsfähigkeit unter realen Marktbedingungen. Hierfür werden in der Regel begrenzte
regionale oder nationale Testmärkte genutzt, die Auskunft über die allgemeine Kundenakzep-
tanz bei den relevanten Zielgruppen geben sollen. Naturgemäß kann diese Phase des Produkt-
entwicklungsprozesses nur unter Einbeziehung von Kunden und ihrer Kaufreaktionen durch-
laufen werden, wobei klassische Markttests meist keine direkte Interaktion mit den Kunden
beinhalten, sondern lediglich aggregierte Verkaufsdaten berücksichtigen. Unter Laborbedin-
gungen durchgeführte Tests können jedoch durchaus auch artikulierte Kundenreaktionen
erfassen.
Kundenintegration in Innovationsprozesse unter Einsatz von Web 2.0-Anwendungen 57

Nach der allgemeinen Darstellung der verschiedenen Teilaufgaben im Rahmen der Neupro-
duktentwicklung und der diesbezüglichen Erfordernisse und Möglichkeiten einer Kundenin-
tegration sollen im Folgenden nun für diesen Zweck relevante Web 2.0-Anwendungen identi-
fiziert und in ihrer Funktionsweise kurz erläutert werden.

3 Relevante Web 2.0-Anwendungen


Trotz seiner starken Präsenz innerhalb der internetbezogenen Fachliteratur hat sich für den
Begriff Web 2.0 noch keine klare, einheitliche Definition etabliert. Im allgemeinen Verständ-
nis wird er meist als Sammelbegriff angesehen, der für neue Möglichkeiten der Vernetzung
und der freiwilligen Zusammenarbeit von Computeranwendern steht [Wolf 2006]. Als zentra-
les Element sieht Tim O’Reilly, der Mitbegründer des Begriffes Web 2.0, die Nutzung der
kollektiven Intelligenz an [O’Reilly 2006]. Diese „Wisdom of Crowd“ basiert auf der An-
nahme, dass Inhalte qualitativ hochwertiger werden, je mehr Menschen daran arbeiten, ihre
Gedanken einbringen, sich gegenseitig kontrollieren und verbessern [Hatscher 2007, S. 6].
Dass der Kunde oder User nicht nur ein Konsument von Produkten und Informationen ist,
sondern sich zum Produzenten wandelt, zeigt sich in den verschiedenen Anwendungen des
Web 2.0 sehr deutlich. Die Internetnutzer generieren eigene Inhalte, indem sie ihr Wissen und
ihre Meinungen in Weblogs und Communities weitergeben oder auch Videos und Fotos
veröffentlichen – der User Generated Content bestimmt das Internet von heute bereits in
wesentlichem Maße. Zur Einbindung von aktuellen und potenziellen Kunden in Produktent-
wicklungsprozesse erscheinen v. a. die im Folgenden aufgezeigten Anwendungen geeignet.
Wie sich in Expertenbefragungen bei diesbezüglich innovativen Unternehmen gezeigt hat (es
wurden Gespräche mit insgesamt 9 Unternehmensvertretern geführt; [Grimm/Büttgen 2009]),
kommen sie in mehr oder minder ausgeprägter Form auch bereits in der Unternehmenspraxis
zum Einsatz.
Weblogs bzw. Blogs sind in ihrer klassischen Erscheinungsform eine Art Tagebuch, das onli-
ne geschrieben wird und von anderen Internetnutzern gelesen und kommentiert werden kann
[Alby 2007, S. 21]. Sie sind durch eine einfache Handhabung, d. h. Einrichtung und Führung,
gekennzeichnet [Kienitz 2007, S. 23]. Durch die Möglichkeit für die Leser, Beiträge zu kom-
mentieren sowie durch Verlinkungen können Weblogs zu Diskussionsplattformen werden.
Weblogs können zudem als Instrument eingesetzt werden, um die Zielgruppen eines Unter-
nehmens direkt anzusprechen und mit ihnen in einen Dialog zu treten. Dies geschieht z. B. in
Form so genannter Corporate Blogs [Schütte/Diedrich 2006, S. 26].
Wiki-Systeme sind Sammlungen von Internet- und Intranet-Seiten, bei denen die Besucher (in
der Regel nach erfolgter Registrierung) berechtigt sind, Inhalte einzugeben, zu erweitern, zu
ändern und auch zu löschen. Neues Wissen lässt sich durch solche Anwendungen erschließen,
indem frei zugängliche Informationen und persönliches Wissen der User so zusammengefasst
werden, dass ein umfassender themenbezogener Überblick entsteht [Hatscher 2007, S. 6].
Online Communities bzw. Virtuelle Gemeinschaften sind ein „Zusammenschluss von Indivi-
duen oder Organisationen, die gemeinsame Werte und Interessen miteinander teilen und die
über längere Zeit mittels elektronischer Medien […] orts- und (teilweise auch) zeitungebun-
den in einem gemeinsamen semantischen Raum […] kommunizieren.“ [Schubert 1999,
58 Marion Büttgen

S. 30]. Die Mitglieder geben in der Regel in Profilen Informationen über sich selbst preis; sie
können sich zu Gruppen zusammenschließen und dadurch Netzwerke aufbauen. Die inhaltli-
chen Komponenten einer Community können die Grundlage zur Vertrauensbildung unter den
Mitgliedern schaffen und so den Aufbau von Beziehungen fördern [Merz 2002]. Um den
Mitgliedern einer Community sowohl die Interaktion und Kommunikation untereinander zu
ermöglichen wie auch soziale Beziehungen zu fördern, werden von den Betreibern meist
Anwendungen wie Chats, Foren, Weblogs oder Wiki-Systeme zur Verfügung gestellt.
Virtuelle Realitäten als weitere Variante der Web 2.0-Anwendungen sind 3D-Plattformen im
World Wide Web, auf denen Benutzer – vertreten durch digitale Avatare – in Echtzeit kom-
munizieren und (inter)agieren können [Pauchard 2004]. Das wohl bekannteste Beispiel einer
virtuellen Realität ist das inzwischen recht umstrittene Second Life, eine digitale 3D-Welt, die
durch ihre Nutzer aktiv gestaltet wird [Betz 2007, S. 11 f.]. In dreidimensionaler Form können
die Anwender unter Rückgriff auf einen integrierten 3D-Editor virtuelle Gegenstände jegli-
cher Art erzeugen. Die Möglichkeit, in Second Life eigene Firmenpräsenzen zu errichten,
Events zu veranstalten und die eigenen Leistungen zu präsentieren, ist von vielen Unterneh-
men bereits genutzt worden. Allerdings nehmen inzwischen immer mehr Firmen wieder
Abstand von ihrem Second Life-Engagement, da das diesbezügliche Engagement die ur-
sprünglichen Erwartungen oftmals nicht erfüllen konnte [ibusiness 2007].
Internetforen sind in Webseiten integriert und ermöglichen es den Anwendern, sich auszutau-
schen und Themen zu diskutieren. Dabei stehen die einzelnen Foren meist unter einem be-
stimmten Oberthema, wie beispielsweise Politik, Lifestyle oder PC-Probleme, die in ver-
schiedene Unterthemen gegliedert werden. Diskussionen entstehen durch das Antworten auf
Beiträge (Posts) anderer Anwender [Alby 2007, S. 22]. Eine Baumstruktur verdeutlicht meist
die Reihenfolge der verschiedenen Beiträge und damit die Zusammenhänge. Um einen mora-
lisch und rechtlich einwandfreien Austausch innerhalb der Foren zu gewährleisten, können
Moderatoren eingesetzt werden, die Diskussionen überwachen und eingestellte Inhalte über-
prüfen.
Spezifischer als die bisher dargestellten Anwendungen sind webbasierte Konfigurations- und
Innovationstools. So genannte „Toolkits for Open Innovation“ ermöglichen die Integration
der Kunden bzw. Anwender in unterschiedliche Phasen des Innovations- und Konfigurations-
prozesses [Reichwald/Piller 2006, S.163 ff.]. Diese virtuellen Designwerkzeuge stellen Inter-
aktionsplattformen für Kunden dar, über die sie ihre spezifischen Wünsche artikulieren und
zu individuellen Lösungen beitragen können. Um das gewünschte Produkt mitzugestalten
bzw. zu entwerfen, steht dem Kunden in dieser Entwicklungsumgebung allerdings oft nur ein
begrenzter Lösungsraum (z. B. im Hinblick auf vorgegebene optische Gestaltungsaspekte) zur
Verfügung.

4 Einsatzpotenziale von Web 2.0-Anwendungen zur Kundenintegration


Im Folgenden gilt es nun, die Einsatzpotenziale der vorab aufgezeigten Web 2.0-Anwen-
dungen innerhalb der einzelnen Phasen des Produktentwicklungsprozesses zu untersuchen
und zu beurteilen. Hierzu werden einerseits phasenspezifische, aus den konkreten Teilaufga-
ben abgeleitete Anforderungen auf ihre Erfüllung durch die Anwendungen überprüft. Zum
anderen werden phasenübergreifende Kriterien wie die Funktionalitäten der Anwendungen,
Kundenintegration in Innovationsprozesse unter Einsatz von Web 2.0-Anwendungen 59

ihre Gestalt- und Steuerbarkeit durch die Unternehmen, die Anwenderfreundlichkeit und der
Realisierungsaufwand des Einsatzes herangezogen [Grimm/Büttgen 2009]. Die Beurteilung
basiert primär auf den Erkenntnissen aus Experteninterviews, die mit Vertretern von neun im
Themenkontext führenden Unternehmen geführt wurden. Zusätzlich werden einzelne Befunde
aus bereits vorliegenden Forschungsarbeiten in die Darstellung einbezogen.

4.1 Methodisches Vorgehen im Rahmen der Experteninterviews


Die Erhebung erfolgte in Form von qualitativen Experteninterviews mit Vertretern von neun
Unternehmen, die bereits eine internetbasierte Kundenintegration im Rahmen der Produkt-
entwicklung praktizieren. Um einen möglichst umfassenden Überblick zu erhalten, wurden
Unternehmen verschiedener Branchen und Unternehmensgrößen ausgewählt; ferner wurde es
aus Gründen der Aussagebereitschaft der Unternehmensvertreter vermieden, direkte Konkur-
renten in die Fallstudien einzubeziehen.
Die Erhebung erfolgte in Form von persönlichen oder telefonischen halbstrukturierten Inter-
views mit Führungskräften aus dem Kommunikations-, Marketing- oder Vertriebsbereich
(durchweg mit Zuständigkeit für Gestaltung und Einsatz von Online-Medien) der entspre-
chenden Unternehmen. Die Fallstudieninterviews wurden auf Tonband aufgezeichnet, im
Anschluss zusammenfassend protokolliert und mittels Inhaltsanalyse im Hinblick auf die
zugrunde liegenden Forschungsfragen ausgewertet [Mayring 2003].
Hinsichtlich des verallgemeinerbaren Erkenntniswertes der Untersuchungsergebnisse ist
einschränkend festzustellen, dass sich zu bestimmten Untersuchungsfragen nur einzelne
Unternehmensvertreter geäußert haben bzw. äußern konnten, sodass die Ergebnisse an diesen
Stellen recht exemplarisch sind. Hinzu kommt, dass bei Fragen, die einer persönlichen Ein-
schätzung bedürfen, die Schilderungen der Unternehmensvertreter perspektivisch verengt sein
können und i. d. R. auf deren persönlichen Erfahrungen bzw. sogar auf einer Interpretation
der persönlichen Erfahrungen basieren, sodass die Aussagekraft und Verallgemeinerbarkeit
der Ergebnisse hier begrenzt ist.

4.2 Ideengenerierung und -selektion


Damit Web 2.0-Anwendungen die Anforderungen der Ideengenerierung und -selektion erfül-
len können, sollten sie die Darstellung, Erläuterung und Bewertung von Ideen ermöglichen.
Anwendern sollte die Übermittlung ihrer Anregungen und Vorschläge sowie gegebenenfalls
der Austausch mit anderen Internetnutzern ermöglicht werden, d. h. die Anwendungen müs-
sen die Kommunikation und Interaktion zwischen Kunden und Unternehmen fördern; außer-
dem sollten die Interessenten ermutigt werden, sich in den Innovationsprozess einzubringen.
Diesbezüglich sind Communities, Foren und webbasierte Innovationstools besonders gut
geeignet. Sie ermöglichen durchweg die Übermittlung von Ideen wie auch das gemeinschaft-
liche Generieren und Bewerten, das Kommentieren und Weiterentwickeln von Ideen. So
bietet z. B. die Firma Henkel den Mitgliedern ihrer Community „Womensnet“ mit dem
„Ideen-Pool“ die Möglichkeit, Verbesserungsvorschläge und Produktideen eigeninitiativ
einzureichen. Der Teilnehmer muss dabei bestätigen, dass alle Rechte an den Ideen und Ver-
besserungsvorschlägen auf die Firma Henkel übergehen. Als Anreiz für den Ideen-Pool dient
die automatische Teilnahme an Gewinnspielen, bei denen meist Beautyprodukte des unter-
60 Marion Büttgen

nehmenseigenen Produktportfolios verlost werden [Grimm/Büttgen 2009]. Online-Communi-


ties ermöglichen i. d. R. auch die Interaktion und Kommunikation unter den Anwendern und
fördern damit die im Vordergrund stehende Gemeinschaft. Die Anwender fühlen sich meist
der Gemeinschaft verbunden und können somit leicht motiviert werden, sich in den Ideenfin-
dungs- und Bewertungsprozess zu integrieren. Das Design und die Funktionalitäten einer
Community sind vollkommen von den Betreibern bestimmbar. Vorteilhaft ist auch die meist
große Nutzergruppe von Communities, die für vielseitige Beiträge innerhalb der Gemein-
schaft sorgen kann. Allerdings ist zu beachten, dass die Benutzer- und Rechteverwaltung bei
großen Communities aufwändig werden kann.
Internetforen gehören zu der Gruppe von Anwendungen, die den öffentlichen Meinungsaus-
tausch in einer asynchronen Form ermöglichen, d. h. die Kommunikation kann zeitunabhän-
gig geführt werden. In dieser Hinsicht sind Foren vergleichbar mit Weblogs, allerdings bieten
sie eine bessere Diskussionsplattform, da die Nutzer mehr Rechte und Interaktionsmöglich-
keiten (z. B. Eingabe längerer Texte, Bilder und Grafiken) besitzen. Die übersichtliche Auf-
teilung in verschiedene Hauptthemen erleichtert die Bedienung für die Anwender. Das Er-
scheinungsbild und die Funktionen eines Forums lassen sich mittels frei verfügbarer Foren-
Software weitgehend an die Wünsche des Unternehmens anpassen. Der bei den Communities
bereits beschriebene Effekt des Gemeinschaftsgefühls ist auch bei Internetforen festzustellen,
gerade wenn der Themenschwerpunkt auf Produktbereichen mit hohem Involvement der
Teilnehmer liegt. So nutzt die Firma fischer z. B. das ausgeprägte Produktinteresse der welt-
weit 30.000 Mitglieder ihres fischertechnik-Forums und analysiert die zahlreichen Nutzerbei-
träge, um Wünsche, Anregungen, Lob und Kritik herauszufiltern und diese in Neuprodukt-
entwicklungen umzusetzen [Grimm/Büttgen 2009]. Der Einsatz von Foren und die damit
verbundenen Kommunikationsfreiräume der Nutzer können jedoch auch mit Problemen un-
qualifizierter, kontraproduktiver oder gar verleumderischer Wortbeiträge verbunden sein. Um
die Einhaltung des Verhaltenskodexes zu überwachen, sollten daher Moderatoren bestimmt
werden, die ggf. auch aus dem Kundenkreis kommen können und das kollektive Regulativ
solcher Anwendungen unterstützen können. Neben dem Betrieb eigener Foren können Unter-
nehmen bei unabhängigen, produktaffinen Foren zudem gezielt nach vorhandenen Ideen und
Anregungen zu bestimmten Themen suchen.
Auch die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten der webbasierten Innovationstools för-
dern die Kundenintegration in die Produktentwicklung. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind
hier vollkommen frei. Die Entwicklung, insbesondere die der Toolkits für User Innovation
sowie für User Co-Design [Reichwald/Piller 2006, S. 167], kann allerdings sehr aufwändig
und kostenintensiv sein. Verschiedenste Kombinationsoptionen müssen aufeinander abge-
stimmt werden. Bei zu komplexen Toolkits besteht zudem die Gefahr, dass der Anwender
überfordert wird und die Bearbeitung abbricht. Die speziell auf die frühe Phase der Produkt-
entwicklung ausgerichteten Toolkits zum Ideentransfer – auch als externes Vorschlagswesen
bezeichnet [Reichwald/Piller 2006, S. 171] – weisen diese Probleme in geringerem Maße auf,
da sie nicht den Restriktionen und Gestaltungsanforderungen eines begrenzten Lösungsraums
unterliegen. Sie dienen zur Übermittlung von Innovationsideen aus der Nutzerdomäne und
unterstützen eine strukturierte Eingabe von Verbesserungsvorschlägen, meist auf Basis einer
Intranetplattform. Unternehmen wie Procter & Gamble oder Henkel setzen solche Toolkits
z. B. ein, um Produkt- und Konzeptbewertungen, aber auch Kundenbedürfnisse und -ideen
Kundenintegration in Innovationsprozesse unter Einsatz von Web 2.0-Anwendungen 61

über spezifische Formulare zu erfassen [Reichwald/Piller 2006, S. 114 ff.; Grimm/Büttgen


2009].
Virtuelle Welten bieten Kunden und Interessenten vielfältige Möglichkeiten, sich in die
Ideengenerierung und -selektion einzubringen, z. B. durch Diskussionsrunden, Briefkästen
oder den persönlichen Kontakt zwischen Avataren der Kunden und Unternehmensvertretern.
Diese Möglichkeiten werden z. B. von der Firma EnBW im Rahmen ihres „Energy Parks“ in
Second Life genutzt. Die 3D-Darstellung eigener Objekte hat für Unternehmen den Vorteil,
sich selbst und ihre Produkte besser präsentieren zu können. Kunden ermöglicht dies die
plastische Betrachtung von Produkten und eine realitätsnahe Interaktion mit den Unterneh-
mensvertretern. Eine Präsenz in einer virtuellen Welt ist für Unternehmen allerdings mit
hohen Kosten und ausgeprägtem personellen (Betreuungs-)Aufwand verbunden, wenn sie als
echte Interaktionsplattform genutzt werden soll. Der Nutzen, der aus den ausgeprägten Inter-
aktionsmöglichkeiten solcher Anwendungen resultieren könnte, wird zudem dadurch relati-
viert, dass bislang nur sehr spezielle, für die Kundschaft vieler Unternehmen nicht repräsenta-
tive Zielgruppen in virtuellen Realitäten anzutreffen sind, die noch dazu unter dem
Deckmantel der Anonymität agieren können. Sofern diese Nutzer jedoch durch besondere
Kreativität und ein hohes Maß an Innovativität gekennzeichnet sind, könnte daraus aber auch
ein spezielles Innovationspotenzial im Sinne einer Kreativzone für außergewöhnliche Ideen
entstehen. Die Internationalität der Nutzerschaft könnte dabei zusätzlich förderlich sein.
Bei Wikis haben Anwender die Möglichkeit, neben Texten auch Bilder und Grafiken einzu-
binden, um Gegenstände darzustellen bzw. Sachverhalte zu verdeutlichen. Dadurch können
die Nutzer – sowohl Unternehmensmitarbeiter als auch externe Interessenten – kollektiv
neues Wissen generieren, und es können Netzwerke von Ideen entstehen, die viele verschie-
dene Sichtweisen aufzeigen. Allerdings dürfte es sich für ein Unternehmen als schwierig
erweisen, Kunden dazu zu motivieren, ihr Wissen in Kollaboration mit anderen Nutzern
einzubringen und jegliche Verfügungsrechte an das Unternehmen abzutreten. Hier müssten
schon wirkungsvolle Incentives zum Einsatz kommen. Wird für die Anwendung eine beste-
hende Wiki-Software genutzt, so können die Wiki-Syntax wie auch die Oberfläche grafisch
angepasst werden. Die Grundstruktur bleibt allerdings bestehen. Die Kosten für den Einsatz
einer frei verfügbaren Open-Source-Variante sind gering; eine individuelle Erstellung hat aber
den Vorteil eines größeren Gestaltungsspielraums. Von den befragten Unternehmen setzt
bislang keines Wikis zur Kundenintegration in die Ideengenerierung und -selektion ein.
In Weblogs können Unternehmen primär eigene Ideen vorstellen und von Kunden bewerten
lassen. Kommentare werden über Formulare und oft unter einem Pseudonym abgegeben.
Mittels der Kommentarfunktion wird es den Internetnutzern ermöglicht, Ideen, Anregungen
und Kritik direkt an das Unternehmen zu übermitteln. Allerdings wird diese Funktion dadurch
eingeschränkt, dass Unternehmen die Themen vorgeben müssen, indem sie entsprechende
Einträge in Weblogs schreiben. Kunden haben kaum Möglichkeiten, eigenständig ein neues
Thema anzustoßen oder neue Ideen einzubringen. Ein weiteres Manko der Weblogs besteht
darin, dass diese stets aktuell gehalten werden müssen. Werden nicht ständig neue Inhalte
eingestellt, so verlieren die Internetnutzer schnell das Interesse an einem Blog. Dies wurde
auch von den befragten Unternehmensvertretern mit entsprechender Anwendungserfahrung
betont.
62 Marion Büttgen

4.3 Ideenrealisierung
Um die Aufgaben der Ideenrealisierung zu bewältigen, ist es ebenfalls erforderlich, die
Kommunikation zu fördern, damit konkrete Kundenanforderungen wie auch Konzeptvor-
schläge eruiert und unter den Anwendern diskutiert werden können. Damit Kunden auch
direkt in die Konzept- und Prototypenerstellung integriert werden können, sollten die Anwen-
dungen zudem grafische, idealtypisch 3D-Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Außerdem sollten
die Anwendungen die Kreativität der Anwender fördern und sie animieren, Zeit, Energie und
Know-how in die Projekte zu investieren. Von Vorteil sind diesbezüglich Anwendungen, die
die Bildung von und den Austausch in Gemeinschaften fördern. Unter den grundsätzlich in
Frage kommenden Web 2.0-Anwendungen werden wiederum Communities und Internetforen
diesen Anforderungen am besten gerecht.
Die vielseitigen Interaktionsmöglichkeiten, die oft große Nutzerschaft und das Gemein-
schaftsgefühl bei Communities lässt diese besonders geeignet erscheinen. Um Prototypen
nicht nur verbal darzustellen, müssen allerdings Werkzeuge vorhanden sein, die die Erstel-
lung von dreidimensionalen Modellen ermöglichen. Communities bieten aufgrund des thema-
tischen Involvements und community-bezogenen Commitments der Mitglieder zudem gute
Möglichkeiten, Interessenten zur aktiven Beteiligung zu motivieren und auch für reale Pro-
dukt- bzw. Prototypentests zu gewinnen. Diese Möglichkeit wird z. B. von der Firma Henkel
genutzt, die im Rahmen ihrer Community „Womensnet“ den Mitgliedern die Teilnahme an so
genannten Testcentern anbietet. Hierbei werden Produkte an ausgeloste Kandidaten ver-
schickt, die diese testen und ein Feedback dazu abgeben [Grimm/Büttgen 2009]. Ähnlich
günstig erweisen sich die Rahmenbedingungen bei unternehmensseitig initiierten Internetfo-
ren, welche z. B. von der Firma fischer erfolgreich zur Teilnehmerakquisition für Produkttests
genutzt werden.
Der Einsatz webbasierter Innovationstools, insbesondere der Toolkits für User Co-Design,
eignet sich v. a. in Kombination mit Communities, da auf diese Weise die Vorteile beider
Anwendungen – die Darstellungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Toolkits und das User-
involvement der Communities – kombiniert werden können. Das dänische Unternehmen Lego
ermöglicht seinen Kunden z. B. über ein Toolkit im Rahmen seiner „Lego-Factory“ die Kon-
struktion von neuen (virtuellen) Gegenständen mit Lego-Bausteinen. Den passenden Lego-
Baukasten können sie dann käuflich erwerben. Toolkits für User Co-Design sind allerdings
nicht für jedes Produkt geeignet. Eine zu hohe Komplexität und Vielfalt bei den Produktkom-
ponenten schränkt die Einsatzmöglichkeiten der Toolkits ein, da die Kunden überfordert
werden können und der Programmierungsaufwand für die zugrunde liegende Software extrem
hoch ist, wie sich z. B. im Fall der Firma fischer im Hinblick auf ihre fischertechnik-Produkte
gezeigt hat [Grimm/Büttgen 2009].
Bis auf die Möglichkeit zum (realen) Testen von Prototypen erfüllen virtuelle Welten eben-
falls die Anforderungen im Rahmen der Ideenrealisierung. Der Vorteil dieser Anwendungen
ist die Möglichkeit der dreidimensionalen grafischen Darstellung von Prototypen. Die in
Abschnitt 4.2 bereits beschriebenen Nachteile dieser Anwendungen sowie die oft geringe
grafische Leistungsfähigkeit können deren Potenzial zur Unterstützung einer markt- und
zielgruppengerechten Konzeptentwicklung und -umsetzung jedoch einschränken.
Kundenintegration in Innovationsprozesse unter Einsatz von Web 2.0-Anwendungen 63

Da die Infrastruktur von Wikis das Zusammenarbeiten und die Versionierung zulässt, eignen
sich diese ebenfalls, um kollaborativ Konzepte zu entwickeln. Die Konzeptentwicklung be-
schränkt sich allerdings auf verbale und grafische Darstellungen. Eine Erstellung und Bewer-
tung von Prototypen kann nur sehr bedingt durchgeführt werden. Weblogs sind für diese
Phase wenig geeignet, denn sie lassen keinen umfassenden Austausch zwischen den Anwen-
dern zu (z. B. unter Einsatz von Grafiken, Dateien, Videos etc.), sondern bieten lediglich die
Möglichkeit, kurze schriftliche Kommentare einzustellen. Auch die gemeinschaftliche Ent-
wicklung von digitalen Prototypen ist nicht möglich, da die benötigten Werkzeuge fehlen.
Allgemein lässt sich sagen, dass das Testen von Prototypen im Internet nur in Ausnahmefäl-
len (z. B. bei Software) möglich ist. Ansonsten kann eine Bewertung nur auf Tests mit realen
Objekten basieren, zu welchen im Rahmen der Anwendungen Aufrufe gestartet werden kön-
nen. Zudem können in dieser Phase weitere Probleme auftreten: Werden Erfindungen oder
Ideen veröffentlicht, bevor diese patentiert sind, so können diese keinen Patentschutz mehr
erhalten. Auch können auf diese Weise vertrauliche Informationen über Innovationsprojekte
an Unbefugte – z. B. Konkurrenten – gelangen. Hier zeigt sich eine wesentliche Problematik,
die mit dem Einstellen und der Entwicklung von Ideen, Konzepten oder Prototypen im Inter-
net einhergeht.

4.4 Markteinführung
Für die Phase der Markteinführung bzw. für eventuell vorgelagerte Akzeptanztests marktrei-
fer Produkte müssen die Anwendungen Funktionen besitzen, die eine Einschätzung der kauf-
verhaltensbezogenen Akzeptanz und das Testen von Produkten zulassen. Keine der Web 2.0-
Anwendungen erfüllt diese Anforderungen vollständig. Wie bei der Phase der Ideenrealisie-
rung bereits festgestellt, lassen sich Produkte nur in Ausnahmefällen im Internet testen, und
eine Abschätzung der konkreten Kaufbereitschaft ist unter diesen Bedingungen ebenfalls nur
sehr begrenzt möglich. Aus diesem Grund bieten Web 2.0-Anwendungen keine ausgeprägten
Einsatzpotenziale in dieser Produktentwicklungsphase. Hinzu kommt, dass die Nutzer solcher
Anwendungen meist durch ein besonderes Interesse an der jeweiligen Produktkategorie
und/oder dem speziellen Unternehmen gekennzeichnet sind, sodass ihre Einschätzung und
eventuelle Kaufbereitschaftsbekundungen nicht repräsentativ für sämtliche potenzielle Käu-
fersegmente sein dürften. Erlauben die Anwendungen aber den Aufruf zu realen Testaktionen
sowie eine anschließende Bewertung innerhalb der Anwendung, so sind sie zumindest mittel-
bar für das Testen und Bewerten marktfähiger Produkte geeignet. Solche Tests können unter
Umständen die Kosten realer Testmarkteinführungen reduzieren.
Weblogs, Communities und Foren ermöglichen einen solchen Einsatz aufgrund ihrer spezifi-
schen Eigenschaften und ihrer potenziellen Reichweite am besten. Tab. 1 fasst die Ergebnisse
der Potenzialbeurteilung dieses Kapitels zusammen.
64 Marion Büttgen

Eignung der Weblogs Wikis Online- Virtuelle Internet- Webbasierte


Anwendungen Communities Realitäten foren Innovations-
für... tools
Ideengenerierung o o ++ + ++ ++
und -selektion
Ideenrealisierung - o ++ + ++ +
Markteinführung + - + - + -
Eignung zur phasenspezifischen Kundenintegration: ++ sehr gut geeignet o nur bedingt geeignet
+ gut geeignet - vollkommen ungeeignet

Tab. 1: Einsatzpotenziale von Web 2.0-Anwendungen in den Phasen der Neuproduktentwicklung

5 Fazit
Die Notwendigkeit und der wirtschaftliche Nutzen einer Einbeziehung von Kunden in Pro-
duktentwicklungsprozesse gelten inzwischen als unbestritten. Kundenideen, -einschätzungen
und -bewertungen werden als wichtiger Input für marktgerechte und wettbewerbsfähige Leis-
tungsangebote angesehen. Noch nicht abschließend geklärt ist allerdings die Frage nach der
effektivsten und effizientesten Form der Kundenbeteiligung an Produktinnovationen und
-verbesserungen. Durch die zunehmende Bedeutung, die Web 2.0-Anwendungen im Informa-
tions- und Kommunikationsverhalten von Konsumenten und Beschäftigten von Unternehmen
erlangen und aufgrund der Tatsache, dass solche Anwendungen per se durch ein hohes Maß
an aktiver Beteiligung ihrer Nutzer gekennzeichnet sind, erscheint es nahe liegend, sie für
eine Kundenbeteiligung an Innovationsprozessen in Erwägung zu ziehen.
Generell lässt sich dazu sagen, dass der Einsatz von Web 2.0 in den früheren Phasen der
Innovationsprozesse die besten Ergebnisse hervorbringen kann. Dies liegt in den für diese
Phasen typischen Aufgabenbereichen und deren Kompatibilität mit den technischen und
nutzungsbezogenen Möglichkeiten der Web 2.0-Anwendungen begründet. Communities,
Internetforen und webbasierte Innovationstools weisen dabei die besten Voraussetzungen für
eine Erfolg versprechende Kundenintegration auf.
Ein Blick in die Unternehmenspraxis zeigt, dass Web 2.0-Anwendungen bereits vielseitig
eingesetzt werden, um Kunden zu integrieren. Zu beachtende Probleme sind einerseits in
urheberrechtlichen Aspekten, einem möglichen Missbrauch der bereit gestellten Informatio-
nen durch Dritte sowie datenschutzrechtlichen Herausforderungen zu sehen und bestehen
andererseits in der (fehlenden) Repräsentativität, dem möglichen Ausmaß und der Qualifi-
ziertheit des generierbaren Kundeninputs. Mit zunehmender Verbreitung und Akzeptanz der
Anwendungen in weiten Teilen der Bevölkerung sowie mit der zu erwartenden Weiterent-
wicklung in technischer und funktionaler Hinsicht werden sich die Einsatzpotenziale in naher
Zukunft aber weiter verbessern. Um diese Potenziale erfolgreich nutzen zu können, kommt es
für die Unternehmen nicht zuletzt darauf an, aktuelle und potenzielle Kunden zu einer aktiven
und gewissenhaften Beteiligung zu motivieren. Hierbei spielen monetäre und nicht monetäre
Anreize (Belohnungen und Anerkennungen) eine ebenso wichtige Rolle wie die Gestaltung
der Anwendungen in einer Form, dass die Nutzung den Kunden Spaß bereitet.
Kundenintegration in Innovationsprozesse unter Einsatz von Web 2.0-Anwendungen 65

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66 Marion Büttgen

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Zugriff am 09.04.2007.
Game Modding und digitale Distribution – Die Veränderung der
Wertschöpfung von Computerspielen durch Kundenintegration

Florian Schwarzer, Sven Jöckel, Andreas Will

1 Digitale Spiele und digitale Distribution


In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Industrie digitaler Spiele, d. h. von sowohl Konso-
len- als auch Computerspielen, aus der Nische für eine weitgehend junge und männliche
Zielgruppe zu einer Kernbranche der Unterhaltungsindustrie entwickelt [Pricewaterhouse-
Coopers 2006]. Digitale Spiele werden von mehr als zwei Dritteln aller amerikanischen Fami-
lienvorstände genutzt, das Durchschnittsalter der Rezipienten liegt höher als 30 Jahre, und
etwa zwei von fünf Spielern sind weiblich [Electronic Software Association 2006; Vorderer et
al. 2006]. Die Industrie erwirtschaftet höhere Umsätze als die Kinobranche und nähert sich
der Musikindustrie an. Diese Entwicklungen scheinen sich auf zwei Marktsegmente zu stüt-
zen: Das wachsende Konsolensegment (die so genannten Videospiele) und die zunehmende
Bedeutung des Online-Spiele-Marktes [Müller-Lietzkow 2007; Müller-Lietzkow et al. 2006;
Williams 2002]. Es wird angenommen, dass das Onlinesegment in den nächsten fünf Jahren
ein Marktvolumen von mehr als 13 Milliarden US$ erreichen wird. Die Hälfte dieser Erlöse
wird voraussichtlich in der Form von Abonnementgebühren anfallen; die andere Hälfte
stammt aus In-Game-Werbeerträgen, den Verkäufen von virtuellen Gütern und insbesondere
dem digitalen Verkauf von Spielen [DFC Intelligence 2007].
Digitale Spiele eignen sich bestens für die Distribution über digitale Kanäle. Das Produkt
besteht bereits in digitaler Form und erfordert somit keine Umwandlung. Die Kernzielgruppe
für digitale Spiele weist eine hohe Technikaffinität auf, und die Nutzung von Spielen in On-
lineumgebungen gewinnt mehr und mehr an Bedeutung [Chan/Vorderer 2006]. Spiele für den
PC („Computerspiele“) haben in der Einführung von digitalen Distributionswegen in die
Medienindustrie eine Pionierrolle inne: Schon in den frühen 1990ern wurde das Internet als
Distributionskanal genutzt [Demaria/Wilson 2004]. Bislang hat sich noch kein dominantes
Geschäftsmodell für die onlinebasierte Distribution von Spielen auf den Massenmarkt heraus-
kristallisiert; es gibt jedoch bereits eine Reihe von Beispielen für Distributionsansätze, unter
denen sich Hinweise auf ein allgemeines Online-Vertriebsmodell für digitale Spiele finden.
Der Schritt vom klassischen Vertrieb durch den Handel hin zu einer digitalen Distribution
erfordert eine Anpassung nicht nur der distributiven, sondern auch der produktiven Teile der
Wertschöpfungskette [MacInnes et al. 2005; Blömeke et al. 2008]. Für die digitale Spiel-
industrie, deren Produkte vom Nutzer aufgrund ihrer Interaktivität im Konsumerlebnis aktiv
mitgestaltet werden [Grodal 2002] und eine steigende Anzahl nutzergenerierter Elemente
beinhalten [Laukkanen 2005; Raessens 2005], liegen die Chancen und Herausforderungen der
digitalen Distribution in der Integration des Konsumenten in die Wertschöpfungskette. Ziel
dieser Studie ist es, zu untersuchen, wie die Wertschöpfungskette von Computerspielen durch
68 Florian Schwarzer, Sven Jöckel, Andreas Will

den digitalen Vertriebsweg und die dadurch ermöglichte Integration von nutzergeneriertem
Inhalt in die Wertschöpfung beeinflusst wird. Hierzu wird zunächst eine theoretische Unter-
suchung der Wertschöpfungskette für den Onlinevertrieb von Computerspielen durchgeführt,
um daraufhin Akteure des Feldes in einem qualitativ-explorativen komparativen Fallstudien-
design anhand ihrer Positionierung in der Wertschöpfungskette zu analysieren. Auf dieser
Basis werden Rückschlüsse zur zukünftigen Rolle des Kunden im Wertschöpfungsprozess der
online distribuierten Spielindustrie gezogen.

2 Grundlagen der Distribution digitaler Spiele


Vergleichbar mit der Distribution anderer Medienangebote (wie Musik oder Filme) ermög-
licht die digitale Distribution den Anbietern zwar, die Kosten der Bereitstellung eines digita-
len Produktes im Vergleich zu klassisch handelsbasierter Wertschöpfung zu senken, es erge-
ben sich aber auch neue Herausforderungen in Bezug auf die Präsentation (etwa den Wunsch
nach Vorschau- und Hereinhöroptionen) und den Kopierschutz des Produktes [McCourt/
Burkart 2003]. Solche neuartigen Herausforderungen können neue Geschäftsmodelle erfor-
dern [Leyshon et al. 2005], diese sind bislang im Bereich der digitalen Spiele nicht ausge-
prägt. Eine Analyse der Wertschöpfungskette offline distribuierter digitaler Spiele ermöglicht
den Ausblick auf zentrale Tendenzen zur Ableitung erfolgreicher Geschäfts- und Erlösmodel-
le digitaler Distribution.
Strukturell hat die digitale Spielindustrie mehr Gemeinsamkeiten mit der Musikindustrie als
mit den Rundfunkindustrien [Kerr 2006, Williams 2002]: Ein Medienprodukt (das Spiel) wird
erstellt und auf einem Trägermedium wie CD oder DVD fixiert, verpackt und im Handel
vertrieben [Müller-Lietzkow et al. 2006; Williams 2002]. Williams bietet einen Überblick der
Wertschöpfungsschritte der digitalen Spielindustrie: (a) Entwicklung, (b) Publishing, (c)
Herstellung und (d) Handel. Ein Bericht der OECD [2005] zur Entwicklung der Online-
Spielindustrie beschreibt die gleichen Schritte. Da digitale Spiele indes als Netzeffektgüter
beschrieben werden [Alvisi 2006; Evans et al. 2005], bei denen eine Softwarekomponente
unter Zuhilfenahme einer Hardwarekomponente abgespielt werden muss, betrachtet der Be-
richt die Wertschöpfungskette der Software als mit den Hardwareherstellern und den Produ-
zenten von Software-Tools für den Produktionsprozess verbunden [OECD 2005]. Im gleichen
Bericht beschreibt die OECD die grundlegende Rolle der Onlinedistribution als die Bereitstel-
lung zweier zusätzlicher Vertriebskanäle: Erstens können Internet Service Provider und
Spielwebseiten von Publishern als weiterer, onlinebasierter Vertriebsweg gewählt werden.
Zweitens wird der Direktvertrieb vom Entwickler zum Konsumenten möglich. Aus diesem
überarbeiteten Modell wird ersichtlich, dass Onlinedistribution entweder den Ausschluss
eines Gliedes der Wertschöpfungskette – des Handels – oder die Wandlung dieses Gliedes hin
zu Onlinedienstleistern oder Spielwebseiten bedeutet. Bouncken und Müller-Lietzkow [2004]
erweitern dieses Geschäftsmodell um die Integration von handelbaren Softwarelösungen,
sogenannten „Engines“, die den ersten Schritt in der Wertschöpfung von digitalen Spielen
darstellen.
Bedeutsamer noch ist die Berücksichtigung der veränderten Beziehung zwischen Konsument
und Produzent: Durch von Konsumenten erstellte Erweiterungen, sogenannten Modifikatio-
nen oder „Mods“ (nutzergenerierte Veränderungen des Spiels), wird der Kunde in die Wert-
Game Modding und digitale Distribution 69

schöpfungskette integriert. Im Vergleich zur Musik- und Filmindustrie kann die Beziehung
zwischen Kunde und Anbieter in der digitalen Spielindustrie als differenzierter beschrieben
werden. Der Konsument erwirbt oft nicht nur das Recht zur Nutzung des Produktes, sondern
darf es auch verändern und diese Veränderung weiter verbreiten [Jenkins 2004; Raessens
2005; Schleiner 2005; Behr 2008]. Diese Rekonfiguration des eigentlichen Medienproduktes
in einem Prozess des „produktiven Konsums“ – des „Prosums“ [Toffler 1980; Tapscott/Willi-
ams 2006] – kann von der Integration nutzergenerierter Objekte in bestehenden Spielen bis
zur Erstellung sogenannter „Total Conversions“ reichen. In diesem Fall bleibt nur die Engine,
die der Spiellogik zu Grunde liegende Software, erhalten und wird vom Nutzer zum Erstellen
eines eigenständigen Spiels genutzt. Der Grad, zu dem das Spiel manipuliert werden kann und
zu dem solche Veränderungen unterstützt werden, variiert dabei, wobei klassisch „mediale“
Aspekte gewöhnlich eher zugänglich sind als die zugrunde liegende Software-Basis [Laukka-
nen 2005; Schleiner 2005, S. 405]. Häufig werden Onlineportale als Vertriebsplattformen für
nutzergenerierte Inhalte verwendet.
Anders als in vielen klassischen Fällen von Kundenintegration, in denen der Kunde lediglich
externe Faktoren in die Co-Produktion einbringt [Fließ 2001], wie beispielsweise Kundenbe-
wertungen des fertigen Produktes im Web [Blömeke et al. 2008], liegt die Kombination der
Produktionsfaktoren im Falle des Game Moddings also beim Kunden: Kunden erstellen Con-
tent auf Basis der vom Anbieter bereitgestellten Produktionsfaktoren. Diese Entwicklung
könnte sich auf die Wertschöpfungskette von Spielen auswirken. Die Beachtung der Rolle
von nutzergenerierten Inhalten in der Wertschöpfung kann als weitere große Anforderung an
eine Wertschöpfungskette, die die Möglichkeiten von digitaler Distribution in der Spielindust-
rie zutreffend beschreibt, verstanden werden.
Weiterhin kann der Wertschöpfungsprozess digitaler Spiele im Allgemeinen mit dem anderer
Softwareprodukte verglichen werden. Wie auch jene entspricht die digitale Spielindustrie der
Definition der „Knowledge-Intensive Business Services“ [Miles et al. 1995]: Dienstleistun-
gen, die auf Fachwissen basieren, selbst Informationen und Wissen generieren, und weitest-
gehend von anderen Unternehmen nachgefragt werden. Die digitale Spielindustrie kann somit
als eine Dienstleistungsindustrie, die ihre Wertschöpfung traditionell anderen Unternehmen
anbietet, verstanden werden. Nur die Übertragung auf das Trägermedium kann als Element
einer Sachgüterindustrie gesehen werden. Im Online-Distributionsmodell ist diese Übertra-
gung nicht notwendig. Stattdessen gewinnt das Angebot flankierender Dienstleistungen, wie
die Bereitstellung der Spiele selbst oder die Integration von Vorschauoptionen, an Bedeutung
[Chang et al. 2004]. Es ist anzunehmen, dass dieser Prozess es nicht nur dem Nutzer erlaubt,
ein Spiel an seine Vorlieben anzupassen, sondern auch den Distributionsvorgang an sich
wissensintensiver macht. Dies impliziert auch einen stärkeren Einfluss des Kunden auf die
bereitgestellten Produkte, da gerade dort, wo individualisierte Leistungen nachgefragt werden,
von einer hohen Bedeutung der Kundenintegration ausgegangen werden kann [Poznanski
2007]. Der Bereich der digitalen Spiele, die durch Interaktivität und Adaptabilität gekenn-
zeichnet sind, fällt in diese Kategorie.
Zusammenfassend können drei Annahmen für die digitale Distribution digitaler Spiele identi-
fiziert werden: (1) die Auslassung oder Ablösung des Handels durch Internet Service Provider
oder Spielwebseiten; (2) die Integration nutzergenerierten Inhaltes (Prosum); und (3) die
70 Florian Schwarzer, Sven Jöckel, Andreas Will

Wandlung eines handelsorientierten Geschäftes hin zu einem eher wissensintensiven, perso-


nalisierten Vertriebsprozess.

3 Die Neuordnung der Wertschöpfungskette von digitalen Spielen


Auf diese drei Annahmen aufbauend kann ein integriertes Modell der Wertschöpfungskette
der Onlinedistribution von digitalen Spielen beschrieben werden. Hierbei wird angenommen,
dass eine solche Wertschöpfungskette aus denen der handelsbasierten Distribution von digita-
len Spielen und anderer vergleichbarer Industrien und der Multimedia-Industrie an sich [Booz
Allen Hamilton GmbH 1995] heraus entwickelt werden kann. Das vorgeschlagene Modell
einer Wertschöpfungskette für den Onlinevertrieb von digitalen Spielen ist in Abb. 1 darge-
stellt.

Abb. 1: Wertschöpfungskette von online vertriebenen digitalen Spielen

Was in den oben beschriebenen Konzepten der Wertschöpfungskette als Middleware oder
Engines beschrieben wird, kann unter der Bezeichnung „Software“ subsumiert werden. Dieser
Schritt beinhaltet die Produktion von Software-Werkzeugen, auf deren Basis Computer- und
Videospiele entwickelt werden können. Die Erstellung des Spiels an sich kann, basierend auf
der grundlegenden Wertschöpfungskette für Multimediaprodukte, als die Herstellung von
„Content“ bezeichnet werden, wo Spielinhalte auf Basis der grundlegenden Software erstellt
werden. Diese zwei Schritte korrespondieren mit dem Stadium der Entwicklung in der han-
delsbasierten Industrie [Williams 2002], beachten aber die Tatsache, dass Entwicklungsunter-
nehmen häufig die Erstellung neuen Contents auf Basis bestehender Spiele zulassen, ohne die
Manipulation des Software-Fundaments (Spiel- und Physikengines, vgl. [Schleiner 2005]) zu
erlauben. Das dritte Glied der Wertschöpfungskette kann als „Value-Added Services“ be-
schrieben werden. Hierbei handelt es sich um jene Prozesse, die den Zugang zum Produkt
erleichtern [Hess 2005]. Diese sind Substitute zu Prozessen, die im Falle des handelsbasierten
Vertriebes vom Publisher durchgeführt würden. Während der handelsbasierte Vertrieb auf die
Herstellung der verpackten Ware hinsteuert, wird hier das fertige Spiel jedoch für den digita-
len Vertrieb vorbereitet. Dieser beginnt dann mit dem vierten Glied in der Wertschöpfungs-
kette, den „Servern“, und beschreibt die Organisation und Instandhaltung einer Server-
Infrastruktur, die es den Nutzern erlaubt, das Spiel zu erlangen. Das fünfte Glied besteht
folglich aus den „Net Services“, jenen Dienstleistungen, die für den Absatz des digital distri-
buierten Produktes notwendig sind, darunter etwa Übertragungs- und Buchungsdienste. Im
letzten Schritt wird das Produkt an den Endkunden weitergegeben. Dieser wird jedoch nicht
Game Modding und digitale Distribution 71

mehr nur als einfacher Konsument, sondern darüber hinaus auch als Prosument gesehen. Die
Prosumenten können als Anbieter neuer Inhalte in Erscheinung treten [Müller-Lietzkow et al.
2006] und werden, soweit sie ihre Produkte anderen zur Verfügung stellen, zwangsläufig
Value-Added Services erbringen.
Es bestehen drei Prozesse, die unterstützend in jedem Teil der Wertschöpfungskette aufge-
funden werden können. „Consulting“, „Systemlösungen“ und „Dienstleistungserbringung“
sind an jedem Punkt der Wertschöpfungskette möglich. Weiterhin können repräsentative
Aufgaben für vertikal integrierte Unternehmen in jedem Glied der Kette entstehen. Beispiele
wären hier die Bewerbung einer neuen Spielengine, neuer Inhalte oder einer neuen internetba-
sierten Dienstleistung für einfachere Transaktionsführung.
Unter der Annahme, dass die Gesamtheit der Wertschöpfungskette als wissensbasierte Dienst-
leistung beschrieben werden kann, ist die Erbringung von Dienstleistungen nicht mehr auf die
Produktion der „First Copy“ beschränkt, sondern sie sind in jedem Teil der Wertschöpfungs-
kette erforderlich, um die komplexe Informationsware „Spiel“ zu erstellen und zu vertreiben.
Jedes Glied der Wertschöpfungskette generiert zusätzliche Informationen: Beispielsweise
Informationen über die Position der relevanten Daten auf den Servern, die Integration von
Promotion-Material für den Online-Shop oder Dienstleistungsanwendungen für individuali-
sierte Downloadoptionen. Diese industrieweite Dienstleistungsorientierung, die eine Leis-
tungsindividualisierung mit sich bringt [Fließ 2001; Poznanski 2007], und das Auftreten von
Prosumenten, deren Produkte vom Anbieter in die eigene Wertschöpfung integriert werden
können, erfordert von der Spielindustrie auf mehreren Ebenen die Einbeziehung des Kunden
in die Leistungserbringung.

4 Forschungsfragen
Das vorliegende Modell der Wertschöpfungskette der Onlinedistribution von digitalen Spie-
len basiert auf der theoretischen Analyse der handelsbasierten digitalen Spielindustrie sowie
der allgemeinen Multimedia-Industrie. Es ist nicht empirisch geprüft. Die Frage, ob die be-
schriebenen Glieder der Wertschöpfungskette tatsächlich den Realitäten der digitalen Distri-
bution von Computer- und Videospielen genügen, ist weiterhin offen. Die erste Forschungs-
frage ist folglich:
Frage 1: Können bestehende Vertriebsplattformen im vorliegenden Modell einer Wertschöp-
fungskette für die Onlinedistribution von digitalen Spielen verortet werden?
Mit der zunehmenden Informationsintensität der Onlinedistribution und der dadurch anzu-
nehmenden Verdrängung des klassisch-handelsorientierten Publishers aus deren Wertschöp-
fungskette ist zu erwarten, dass entweder spezialisierte Dienstleister die so frei werdenden
Nischen füllen, oder dass die Entwickler die Onlinedistribution selbst übernehmen werden.
Die späteren Stadien der Wertschöpfungskette in den Händen eines anderen Dienstleisters zu
belassen, würde den Nutzen der Online-Plattform als soziales Werkzeug und den damit ver-
bundenen Rückfluss von nutzergeneriertem Inhalt erschweren. Aus diesem Grund ist zu
fragen:
Frage 2: Profitieren Unternehmen von der Integration der Wertschöpfungskette, insbesondere
von der Integration von prosumierenden Kunden und deren Content?
72 Florian Schwarzer, Sven Jöckel, Andreas Will

In dem Maße, in dem Kunden selbst Contentanbieter werden, kann angenommen werden,
dass kleinere unabhängige Unternehmen aus der Szene der Prosumenten in die eigentliche
Industrie eintreten und dabei die Möglichkeiten von Onlineplattformen zur Distribution ihrer
Inhalte nutzen. Dies könnte langfristig den Einfluss der konventionell-handelsorientierten
Akteure schwächen und integrierten Kunden ermöglichen, aus ihrem Engagement selbststän-
dige Geschäftsmodelle zu schaffen. Demnach ist zu fragen:
Frage 3: Profitieren kleinere Unternehmen vom digitalen Vertriebsweg in der digitalen Spiel-
industrie?

5 Methode
Es gibt wenige empirische Untersuchungen der Wertschöpfungskette in der digitalen Spielin-
dustrie und noch keine empirische Betrachtung der Onlinedistribution digitaler Spiele. Ziel
dieser Arbeit ist es, erste Antworten auf unsere Forschungsfragen zu finden.
Die Untersuchung basiert auf einem komparativen Fallstudiendesign [Hollifield/Coffey
2006], in dem bestehende Onlinevertriebsplattformen für digitale Spiele betrachtet wurden.
Die Fälle wurden nicht repräsentativ, sondern bewusst zur Erzeugung eines möglichst diffe-
renzierten Bildes gewählt. Besonderes Augenmerk lag auf vertikalen Integrationsbestrebun-
gen und hierbei wiederum auf der Einbeziehung des Prosumenten und der Rolle kleiner Un-
ternehmen. Die Fälle können entlang ihrer Beziehungen gruppiert werden: (1) das vertikal
expandierende Entwicklungsstudio Valve Software, dessen Content-Plattform und Download-
System, Steam, eines der führenden Beispiele für Onlinedistribution ist; (2) der Entwickler
Unknown Worlds Entertainment (UWE), ein Inhaltslieferant für Steam; (3) der Distributor
Triton (ehemals Games xStream), der mit Steam in direkter Konkurrenz stand, bis das Unter-
nehmen 2006 den Markt verließ; sowie (4) Three Rings Design, ein weiteres vertikal integ-
riertes Unternehmen mit Engagements in jedem Teil der Wertschöpfungskette und mehreren
verschiedenen Wertschöpfungsstrategien.
Unsere Datenerhebung basierte auf der Betrachtung von Presseveröffentlichungen, Unter-
nehmensmaterial, journalistischen Beiträgen und, im Fall von UWE, E-Mail-Interviews.

6 Erkenntnisse
6.1 Fallgruppe Valve Software – Unknown Worlds Entertainment – Triton
Valve war ursprünglich als der Entwickler von Spielen wie dem 1998 veröffentlichten Half-
Life bekannt, unterstützte aber früh die Erstellung von nutzergeneriertem Content auf Basis
der eigenen Produkte [Laukkanen 2005]. Als Folge hiervon expandierte das Unternehmen in
den Onlinevertrieb, um seine eigenen und von ihren Kunden generierte Inhalte zu veröffentli-
chen. Das erste über die so entstandene Plattform vertriebene Produkt war Counter-Strike, ein
von Prosumenten auf Basis von Half-Life geschaffenes Spiel, das von Valve Software einge-
kauft und im Haus weiter entwickelt wurde. Heutzutage engagiert sich Valve in jedem Teil
der Online-Wertschöpfungskette und nimmt dementsprechend für jedes Glied eine klar auf
Dienstleistungserbringungen fokussierte Strategie an. UWE kann als Nutznießer dieses verti-
kal integrierten Ansatzes gesehen werden: Es handelt sich dabei um ein Kleinunternehmen,
Game Modding und digitale Distribution 73

das als Folge einer Professionalisierung innerhalb der Modding-Szene1 um Valves Produkte
entstand. Es nutzt Valves Vertriebsplattform als primären Distributionskanal für seine Pro-
dukte. Die Beziehung zwischen UWE und Valve kann somit als die einer prosumierenden
Kundengruppe, die sich als kommerzieller Spielentwickler (UWE) formiert und von einem
vertikal integrierten Entwickler-Publisher-Distributor (Valve) als Zulieferer von Content in
dessen Wertschöpfung integriert wird, gesehen werden. Triton, eine ursprünglich unter dem
Namen Games xStream gegründete Tochterfirma von Digital Interactive Streams Inc., kon-
kurrierte für die Zeit seines Bestehens mit Valve Software in der Onlinedistribution von digi-
talen Spielen. Im Gegensatz zu Valves Steam-Plattform, die eine Reihe von produktunabhän-
gigen Dienstleistungen anbietet und bei jeder Nutzung eines über sie vertriebenen Spiels aktiv
und für den Konsumenten spürbar wird, orientierte sich Triton am Ziel einer möglichst großen
Transparenz für den Kunden, der das Vertriebssystem nach dem Erwerb des Produktes zu
keinem Zeitpunkt bemerken sollte [McMaster 2006]. Tritons Geschäft wurde zusammen mit
den Aktivitäten seiner Mutterfirma im Herbst 2006 eingestellt.
Valve selbst bietet sowohl eigene als auch fremde Spielprodukte gegen konventionelle Li-
zenzgebühren zum Download auf seiner Steam-Vertriebsplattform an, wobei in die Plattform
gleichzeitig eine Reihe anderer Dientleistungen für private wie Geschäftskunden subsumiert
sind. Diese Value-Added Services können in soziale Dienste, Bündelungsdienste und Sicher-
heitsdienste eingeteilt werden. Die sozialen Dienste umfassen primär ein Social Networking-
Angebot namens „Steam Community“. Bündelungsdienste beziehen sich etwa auf das An-
sammeln und Selektieren von Content analog zum konventionellen Publisher, gehen darüber
jedoch hinaus und umfassen auch die Aggregation von Nutzerinformationen für Data Mining.
Sicherheitsdienste beschreiben schließlich Aufgabengebiete wie das Digital Rights Manage-
ment (DRM). Weiterhin unterhält Valve für die Steam-Plattform ein Netzwerk von über 80
Servern. An Net Services bietet Steam vollständig integrierte Buchungs- und Transportdienste
für die Distribution von Produkten zum Kunden, und enthält ein Login-System, das mit den
Sicherheitsdiensten verbunden ist und den Zugang zu erworbenen Produkten unabhängig vom
Zugangsort ermöglicht. Das hauptsächliche von Valve vertriebene Softwareprodukt ist seine
„Source“-Engine. Diese Programmsammlung umfasst alle notwendigen Komponenten für die
Erstellung eines 3D-basierten digitalen Spiels. Nutzungslizenzen für die Software werden an
Geschäftskunden verkauft [Valve 2007], Prosumenten, die Source-basierte Mods erstellen
wollen, erhalten eine eingeschränkte kostenlose Lizenz. Prosum wird neben den beschriebe-
nen kostenlosen Softwarelizenzen durch die gezielte Unterstützung erfolgreicher Modder
[Laukkanen 2005] gefördert. Die Modding-Szene um Valves Produkte kann in soweit mit
anderen integrierten Kundeneliten (Lead-Usern [Hippel 1986]) verglichen werden.
UWE nimmt die Rolle eines klassischen unabhängigen Entwicklungsstudios [Kerr 2006] ein.
Das erste Produkt des Unternehmens basierte auf Half-Life Software. UWE konzentriert sich
auf die Produktion von Content, plant für zukünftige Projekte aber die Integration von Value-
Added Services in der Form der Bündelung von nutzergeneriertem Content.
Valve kann als Beispiel für die erfolgreiche vertikale Integration der gesamten Wertschöp-
fungskette der Onlinedistribution gesehen werden. Das Unternehmen umgeht somit Publisher

1
Als Modding-Szene lässt sich die Gemeinschaft der Nutzer und Nutzerinnen bezeichnen, die – oftmals mit-
einander über z. B. Foren vernetzt – sog. Mods (siehe oben) von digitalen Spielen erstellen.
74 Florian Schwarzer, Sven Jöckel, Andreas Will

und Handel, bietet dem Kunden zusätzliche Dienste auf der Steam-Plattform, und integriert
prosumierende Kunden nahtlos. Unser Modell einer Wertschöpfungskette scheint Valves
Geschäftsmodell adäquat abbilden zu können. UWE kann als Beispiel für die Vorteile kleiner
Unternehmen am Onlinemarkt und als Beispiel der letzten Konsequenz der Integration von
prosumierenden Kunden gesehen werden: Eine aus der Modding-Szene um einen bestehenden
Akteur entstandene Unternehmung vertreibt ihren eigenen Content über den Distributionska-
nals desselben Akteurs. Der Lead-User wird zum Geschäftspartner. Der Fall von UWE illust-
riert so, dass aus der Integration prosumierender Kunden neue Geschäftsmodelle und Unter-
nehmensnetzwerke entstehen können.
Triton stellt einen Gegenentwurf zu diesen Strategien dar: Das Unternehmen konzentrierte
sich auf die Bündelung und den Vertrieb von durch Dritte bereitgestelltem Content. Das
Hauptalleinstellungsmerkmal Tritons war ein innovativer Net Service, der die Nutzung von
Content bei seiner gleichzeitigen Übertragung ermöglichte. Wie oben angesprochen, verzich-
tete Triton auf die Bereitstellung weiterführender Dienstleistungen. Diese Strategie ermög-
lichte keine Einbeziehung des Kunden jenseits der Abwicklung der Transaktion. Gleichzeitig
bedeutete die Abwesenheit einer eigenen Contentproduktion, dass sich keine prosumierende
Szene bilden konnte, die im Folgenden hätte integriert werden können. Der Fall Tritons
scheint sich somit zwar ebenfalls in der vorgeschlagenen Wertschöpfungskette abbilden zu
lassen, zeigt aber weder Anzeichen einer vertikalen Integration noch einer Kundenintegration
durch die Einbettung von nutzergenerierten Inhalten. Es lässt sich festhalten, dass die Platt-
form mit einem einzelnen größeren Produkt im Angebot (dem Shooter Prey) offenkundig
Schwierigkeiten bei der Contentakquise hatte. Der Umstand, dass Triton keine Inhalte aus
eigenem Hause zur Erstellung eines Kernangebotes zur Verfügung standen, könnte diese
Probleme verschärft haben. Gleichzeitig bedeutete das Leitbild der hohen Kundentransparenz
eine bewusste Abkehr von jeglicher Form von Kundenintegration. Triton versäumte es, Vor-
teile aus vertikaler- und Kundenintegration zu ziehen, was sein Scheitern zumindest begüns-
tigt zu haben scheint.

6.2 Der Fall von Three Rings Design


Three Rings betrat 2003 mit dem Spiel Puzzle Pirates den Markt für Online-Rollenspiele. Das
Produkt, das zunächst über monatliche Nutzungsgebühren und später über den Verkauf von
virtuellen Gütern im Spiel (sogenannte „Item Sales“) finanziert wurde, erforderte wie jedes
Online-Rollenspiel [OECD 2005] den Aufbau eines Serversystems mit Net Services zur
Durchführung von Updates an den sehr langlebigen Produkten. Da Three Rings nach kurzer
Zeit begann, das Produkt in einer beschränkten Version kostenlos anzubieten, war das Unter-
nehmen schon früh in der Distribution seiner eigenen Produkte involviert. Wie für Online-
Rollenspiele üblich, veröffentlicht das Unternehmen regelmäßig in Reaktion auf Feedback
von Konsumenten Anpassungen und Erweiterungen. Grundlage von Puzzle Pirates und sei-
nem Nachfolger Bang! Howdy sind im eigenen Hause entwickelte Softwarelösungen, die
Prosumenten zur Verfügung gestellt wurden, wobei von Kunden entwickelte Inhalte wieder-
um in die fortlaufend erweiterten Produkte des Unternehmens integriert werden. Diese enge
Einbeziehung der Modding-Szene in Three Rings’ Geschäftsmodell findet im neuesten Pro-
dukt der Firma, dem als „virtuelle Welt“ beschriebenen Whirled [GameSpy Staff 2007] seinen
Höhepunkt. Das auf Adobe Flash basierende Produkt wird weniger als Spiel an sich, denn als
Game Modding und digitale Distribution 75

Plattform, auf der Modder ihre Produkte anbieten können, verstanden. Three Rings’ Wert-
schöpfungsstrategie basiert hierbei auf der Ausschüttung einer virtuellen Währung, mit der
von Prosumenten auf Basis der Whirled-Software geschaffener Content gehandelt werden
kann. Three Rings vollführt in diesem Zusammenhang die Dienstleistung der Bereitstellung
des Marktes, überlässt die Produktion von Spielcontent weitgehend dem Kunden selbst und
greift als Softwaregrundlage auf das universelle Adobe Flash zurück.
Three Rings ist somit ein weiteres Beispiel für ein Unternehmen, das dem vorgeschlagenen
Modell der Wertschöpfungskette entspricht und sie durch eine vollständige vertikale Integra-
tion ausfüllt. Weiterhin sind – neben der konventionellen Erbringung von Leistungen auf
Basis von Kundeninformationen – zwei verschiedene Intensitäten von Integration prosumie-
render Kunden zu erkennen: Im Falle der bestehenden Produkte des Unternehmens wird
nutzergenerierter Content zur Unterstützung der eigenen Contentproduktion integriert, wäh-
rend das aktuelle Whirled vollständig auf die vom Kunden geschaffenen Inhalte ausgelegt ist
und dem vom Unternehmen selbst erstellten Content die lediglich unterstützende Rolle zu-
kommt. An Three Rings zeigt sich, dass es einem kleinen Unternehmen möglich ist, von der
Integration prosumierender Kunden in einem so hohen Maße zu profitieren, dass die gesamte
Wertschöpfungsstrategie des Unternehmens auf diese Integration aufbaut.

7 Diskussion und Schlussfolgerungen


Wie an den Fällen von Valve und UWE sichtbar, können prosumierende Kunden erfolgreich
in die Wertschöpfung bestehender Akteure integriert werden und dabei eine neue Geschäfts-
chance für kleine und sehr kleine auf die Entwicklung von Spielinhalten orientierte Unter-
nehmen (wie etwa UWE) darstellen. Die Nutzung von Valves Distributionsplattform ermög-
lichte es einem Entwickler, der im klassischen handelsorientierten Umfeld den Markteintritt
aufgrund hoher strategischer Markteintrittsbarrieren nicht hätte wagen können, Produkte zu
generieren. Durch die Integration verlässlicher Software und eines dienstleistungsorientierten
digitalen Vertriebskanals (Steam) gelang es Valve, nutzergenerierten Content zu bündeln und
in seine Wertschöpfung zu integrieren. Der so ermöglichte leichte Zugang zu nutzergenerier-
ten Inhalten erhöht wiederum die Attraktivität der Plattform für prosumierende Kunden.
Triton ist das Gegenbeispiel. So handelt es sich hier um ein auf eine einzelne Wertschöp-
fungsstufe konzentrierten, singulären Distributionsdienst. Das Scheitern Tritons ist sicherlich
nicht monokausal erklärbar. Der angebotene Dienst scheint jedoch für Zulieferer wie Abneh-
mer weniger attraktiv gewesen zu sein als die vertikal integrierten Konkurrenzangebote wie
beispielsweise Steam. Das Festhalten am Prinzip der Kundentransparenz und das Fehlen
eigener inhaltlicher Ressourcen bei Triton machten die Integration des Kunden unmöglich
und erschwerten so die Schaffung eines konstanten Abnehmerkreises.
Three Rings stellt dagegen eine Weiterverfolgung des schon in Valve Software sichtbar ge-
wordenen Gedankens der Integration nutzergenerierten Contents zur Unterstützung der eige-
nen Contentproduktion dar: Wir sehen ein vertikal integriertes Unternehmen, das mit Whirled
seine Ressourcen in der gesamten Wertschöpfungskette von der Software bis hin zur Distribu-
tion einsetzt, um ein möglichst günstiges Umfeld für Prosum zu bieten. Das Unternehmen
wird zum Dienstleistungsanbieter für Prosumenten, denen es eine Plattform für ihre Aktivitä-
ten anbietet. Es bildet sich eine Interaktion zwischen Kunden und Anbietern in der Art, dass
76 Florian Schwarzer, Sven Jöckel, Andreas Will

Anbieter aus der Spielindustrie ihren Kunden Teile des verkauften Produktes als Werkstoffe
zur Verfügung stellen, auf deren Basis im Rahmen eines Prosumprozesses neue Produkte
generiert werden, die von den Anbietern wiederum als Faktoren der eigenen Leistungserstel-
lung genutzt werden.
Der Markterfolg von Whirled, einem noch sehr jungen Produkt, ist noch nicht abzusehen, es
handelt sich jedoch hierbei nur um ein vergleichsweise extremes Beispiel eines immer weiter
zunehmenden Trends hin zu derartiger Integration von Prosum in die Produktstrategie von
Spielentwicklern. Beispiele sind Spore (Electronic Arts) und Little Big Planet (Media Mole-
cule), zwei der meistbeachteten Spielveröffentlichungen des Jahres 2008. In beiden Fällen
werden die Modifikationswerkzeuge nicht mehr lediglich zusätzlich verfügbar gemacht; sie
werden im Produkt integriert und als Verkaufsargumente kommuniziert (im Fall von Spore
wurden Teile der Modifikationstools zu Werbezwecken vor dem eigentlichen Spiel veröffent-
licht). In beiden Fällen wird der Austausch von nutzergenerierten Inhalten zwischen Kunden
als zentrales Spielelement kommuniziert. In beiden Fällen werden diese Elemente über Onli-
nedistributionsmechanismen realisiert.
Es wird spürbar, dass die Integration prosumierender Kunden zum zentralen Geschäftsaspekt
der digitalen Spielindustrie wird und dass diese Entwicklung von der zunehmenden Beach-
tung des digitalen Vertriebsweges und seiner Möglichkeiten gestützt wird.

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Teil B

Kundenintegration in der
(Dienstleistungs-) Produktion
Defizite aktivitätsanalytischer Produktionsmodelle
bei der Abbildung dienstleistungsspezifischer
Kundenintegrationsprozesse

Magnus Richter, Rainer Souren

1 Einleitung
Die Produktionswirtschaftslehre ist eine Funktionenlehre, die Elemente der betrieblichen
Leistungserstellung fokussiert. Zu ihren Erkenntnisobjekten zählen all jene Sachverhalte, die
für die Durchführung von Produktionsprozessen bedeutsam und unter wirtschaftlichen Aspek-
ten zu lösen sind [Kern 1990, S. 1]. Während zahlreiche industrielle Produktionsbetriebe
ihren Output – zumindest aus technischer Sicht – autonom, d. h. unter ausschließlicher Ver-
wendung interner Produktionsfaktoren fertigen, existiert auch eine Vielzahl Unternehmen, die
Kunden aktiv in ihre Wertschöpfungsprozesse einbinden. Die Kundenintegration kann dabei
in der Produktentwicklung ansetzen und wie im Fall von Lead-User-Projekten [Hippel 1986]
fakultativer Natur sein. Sie kann jedoch auch eine conditio sine qua non der Produktion dar-
stellen, wie z. B. bei individuellen Auftragsarbeiten, der Mass Customization [Reichwald/
Piller 2006, S. 198] sowie im Fall von Dienstleistungen. Deren Produktionsvollzug ist in
hohem Maße durch das Erfordernis zur Integration externer Faktoren geprägt.
Unabhängig von der Art der Produktion bedarf ihre effiziente Gestaltung der Offenlegung und
Darstellung der zugrunde liegenden technologischen Regeln, d. h. insbesondere der quantita-
tiven Relationen zwischen dem Faktoreinsatz und der Ausbringungsmenge [Fandel 2005,
S. 11]. Die funktionalistische Produktionstheorie erreicht diesen Zweck mit Hilfe formaler
Gleichungen zur Beschreibung und Erklärung der Wirkungszusammenhänge zwischen Fak-
tor- und Produktquantitäten [Matthes 1996, Sp. 1569]. Die in diesem Beitrag fokussierte
Aktivitätsanalyse untersucht hingegen aus stärker prozessorientierter Sicht die Menge tech-
nisch realisierbarer Produktionen (Technik bzw. Technologie) [Koopmans 1951; Hildenbrand
1966; Wittmann 1968; Debreu 1971; Dyckhoff 2006, S. 10].
Unter Zugrundelegung einer weiten Definition von Produktion als durch den Menschen ver-
anlasste, sich systematisch vollziehende Transformation von Objekten, die der Nutzenerhö-
hung dient und zielgerichtet gelenkt ist [Dyckhoff 2006, S. 3], zählen auch Dienstleistungen
zu den Produktionen [Richter/Souren 2008, S. 31]. Demzufolge besteht die Aufgabe der
Produktionstheorie darin, Modellkonzepte bereitzustellen, die sich auch zur Beschreibung von
Dienstleistungen eignen. Zwar ist der Aussage Fandels und Blagas zuzustimmen, dass „zur
Untersuchung und Gestaltung effizienter Produktionen mit der Aktivitätsanalyse ... ein leis-
tungsfähiges Instrument entwickelt worden ... [ist, und] Ansätze, sie auch auf die Dienstleis-
tungsproduktion anzuwenden, ... keineswegs erfolglos geblieben [sind]“ [Fandel/Blaga 2004,
S. 2]. Dennoch wird im vorliegenden Beitrag die Ansicht vertreten, dass die Abbildungsgüte
aktivitätsanalytischer Produktionsmodelle bezüglich einiger Besonderheiten von Dienstleis-
82 Magnus Richter, Rainer Souren

tungen als defizitär bezeichnet werden kann. Dies gilt nicht nur für die formalen Modelle der
Aktivitätsanalyse, sondern bereits für ihr graphisches Instrumentarium, mit dessen Hilfe
sowohl einzelne Produktionen (Aktivitäten) als auch die Menge aller möglichen Produktionen
(Techniken) visualisiert werden.
Das Ziel des vorliegenden Beitrags besteht darin, anhand eines exemplarischen Produktions-
modells für Beratungsleistungen die Defizite sog. Input/Output-Graphen (kurz: I/O-Graphen)
bei der Darstellung von Dienstleistungen herauszuarbeiten. In Kapitel 2 wird zunächst eine
Einführung in die konzeptionellen Grundlagen der Aktivitätsanalyse gegeben sowie eine
Definition des Dienstleistungsbegriffs präsentiert. In Kapitel 3 erfolgt die Modellierung einer
Rechtsberatung mithilfe herkömmlicher Elemente von I/O-Graphen. Anhand des resultieren-
den einfachen I/O-Graphen werden in Kapitel 4 anschließend Defizite des aktivitätsanalyti-
schen Instrumentariums illustriert. Kapitel 5 rekapituliert die wesentlichen Erkenntnisse des
Beitrags und präsentiert kursorisch erste Ideen bezüglich möglicher Erweiterungen von In-
put/Output-Modellen.

2 Grundlagen der Aktivitätsanalyse für Dienstleistungen


2.1 Zentrale Erkenntnisobjekte und Darstellungsformen der Aktivitätsanalyse
Die mengenmäßigen Zusammenhänge werden im Rahmen der Aktivitätsanalyse mithilfe von
Techniken (synonym: Technologien) formalisiert, wobei als Technik die Menge aller mittels
eines bestimmten Produktionsverfahrens realisierbaren Produktionen (synonym: Aktivitäten)
bezeichnet wird. Ein einfaches Beispiel für eine Technik ist das Brotbacken. Auf Grundlage
ihrer Technik sind grundsätzlich unterschiedliche Produktionen, d. h. Mengenkombinationen
der Einsatzfaktoren Mehl, Wasser und Hefe, realisierbar. So kann eine konkrete Aktivität in
der Kombination der Faktormengen 1 Kilogramm Mehl, 1 Liter Wasser und 5 Gramm Hefe
bestehen, die zu einer Outputquantität in Höhe von 1,8 Kilogramm Brot führt. Abb. 1 verdeut-
licht diese einzelne Aktivität anhand eines einfachen I/O-Graphen.1

1 kg
1

1l 1,8 kg
2 Brotbacken 4

5g
3

Abb. 1: Einfacher I/O-Graph der Aktivität Brotbacken

1
Ein stärker detailliertes graphisches Instrumentarium zur Konstruktion von Input/Output-Modellen ver-
wendet Müller-Merbach. Seine Erweiterungen betreffen u. a. die Unterscheidung zwischen Verzweiger-
und Sammlerstellen sowie die Variabilität der Mengenverhältnisse der Objektarten [Müller-Merbach 1981,
S. 26]. Dadurch werden in den Graphen zwar auch Technikeigenschaften verankert; die produktionstheore-
tischen Spezifika von Dienstleistungen lassen sich hierdurch jedoch nicht hinreichend abbilden, da die Spe-
zifika von Dienstleistungen in anderen Merkmalen begründet liegen.
Defizite aktivitätsanalytischer Produktionsmodelle 83

Die Objektknoten 1, 2 und 3 repräsentieren die Inputobjektarten Mehl, Wasser und Hefe, die
bei der Brotproduktion eingesetzt werden. Die von den Objektknoten zum Prozesskasten
gerichteten Pfeile bilden die Quantitätsflüsse der Faktoren ab und sind mit den Einsatzquanti-
täten der Objektarten gekennzeichnet. Der Objektknoten 4 stellt den Output der Aktivität
(Brot) dar und ist ebenfalls mit dem Prozesskasten verbunden, wobei der Pfeil mit der Out-
putquantität an Brot gekennzeichnet ist.

z4

2,4

1,8

1,2

TB
0,6

z1
-1,25 -1,0 -0,75 -0,5 -0,25

Abb. 2: Beispiel einer linearen Technik [modifiziert nach Dyckhoff 2006, S. 60]

In der Regel gibt es nicht nur eine, sondern meist eine Vielzahl weiterer technisch möglicher
Aktivitäten. Abb. 2 zeigt diesbezüglich die Technik des Brotbackens in der Projektion auf die
z1-z4-Ebene, wobei die in Abb. 1 näher gekennzeichnete (ineffiziente) Aktivität hier exempla-
risch als Punkt angedeutet ist. (Die effizienten Aktivitäten liegen auf dem markierten, nord-
östlichen Rand der Technik.) Die Quantität z1 der (Input-)Objektart 1 ist im negativen Bereich
der Abszisse abgetragen, die Quantität z4 der (Output-)Objektart 4 im positiven Bereich der
Ordinate. Wie die Abbildung andeutet, handelt es sich beim Brotbacken um eine lineare
Technik, d. h. alle Aktivitäten lassen sich proportional erhöhen und verringern und überdies
sind auch Additivkombinationen mehrerer Aktivitäten stets selber wieder Bestandteil der
Technik [vgl. zu verschiedenen Technikeigenschaften Dyckhoff 2006, S. 58 ff.]

2.2 Definitorische und produktionstheoretische Grundlagen von Dienstleistungen


Die langjährige Auseinandersetzung der Betriebswirtschaftslehre mit dem Phänomen Dienst-
leistung brachte eine nahezu unüberschaubare Anzahl sich z. T. stark widersprechender Defi-
nitionsansätze hervor. Während manche Autoren Dienstleistungen als immaterielle Wirt-
schaftsgüter bezeichnen [Maleri/Frietzsche 2008, S. 5], verstehen andere Autoren darunter
menschliche und/oder maschinelle Leistungsfähigkeiten [vgl. hierzu sowie zu anderen Defini-
tionsansätzen Corsten/Gössinger 2007, S. 21 ff.]. Vereinzelt wird gar behauptet, Dienstleis-
tungen seien keine generische Leistungskategorie, da es keine Besonderheiten gäbe, die nur
bei Dienstleistungen auftreten [Haase 2005, S. 48]. Folglich sei es auch nicht möglich,
Dienstleistungen intensional zu definieren. Entgegen dieser letzten Behauptung hat Rück
einen überzeugenden Beitrag zur Definition des Dienstleistungsbegriffs geliefert. Er definiert
84 Magnus Richter, Rainer Souren

Dienstleistungen als Transformationsprozesse „die zu gewerblichen Zwecken an externen


Faktoren … erbracht werden und eine Veränderung der Zustandseigenschaften dieser Fakto-
ren bewirken“ [Rück 2000, S. 277, vgl. zu einer leicht modifizierten Version auch Rich-
ter/Souren 2008, S. 28 und 31 f.]. Demzufolge handelt es sich bei Dienstleistungen um spe-
zielle Arten von Produktionen, die eine Veränderung externer Faktoren bedingen.

x1
1

ym+1
Transformation m+1
xm-1
m-1

xm
m

Abb. 3: Einfacher I/O-Graph der Fertigungsstruktur für Dienstleistungen

Abb. 3 zeigt anhand eines stark vereinfachten I/O-Graphen, wie die Struktur von Dienstleis-
tungen beschaffen ist und auf welche Weise sich der Prozess der Transformation externer
Faktoren vollzieht. Das zentrale Merkmal von Dienstleistungen besteht darin, dass sie eine
Veränderung von Objekten bezwecken, die sich zum Absatzzeitpunkt außerhalb der Sphäre
des Dienstleistungsanbieters befinden und durch ihn zunächst nicht frei disponierbar sind. Vor
der Transformation externer Faktoren ist somit deren Integration in das Produktionssystem
des Dienstleistungsanbieters erforderlich. Der externe Faktor wird in Abb. 3 durch die Ob-
jektart m repräsentiert, die vom Nachfrager bereitgestellt werden muss und bezüglich ihrer
Disponierbarkeit somit eine Sonderstellung unter den Inputobjektarten einnimmt. Der externe
Faktor erfährt durch die Dienstleistung, d. h. während des Transformationsprozesses, er-
wünschte Veränderungen seiner Zustandseigenschaften und verlässt den Produktionsprozess
danach als Objektart m  1 in der Quantität ym 1 .

3 Beispiel: Ein aktivitätsanalytisches Produktionsmodell für eine


Beratungsdienstleistung
Im Folgenden soll anhand der speziellen Dienstleistung Rechtsberatung geprüft werden, ob
die Aktivitätsanalyse zur Abbildung von Dienstleistungen geeignete graphische Elemente
enthält bzw. inwiefern Erweiterungen klassischer I/O-Graphen erforderlich sind.

Sachverhalt: Anna entdeckt in ihrem Briefkasten ein Schreiben ihrer Nachbarin Gudrun, in dem diese
ihr unterstellt, einen Topf beschädigt zu haben, der noch bis vor kurzem den Eingangsbereich von
Gudruns Haus zierte. Da die beiden Frauen seit geraumer Zeit zerstritten sind, ist Gudrun davon
überzeugt, in Anna die Schuldige gefunden zu haben. Gudrun droht Anna mit einer Anzeige, falls
Anna nicht unverzüglich für den Schaden aufkommt. Ihrer Forderung verleiht Gudrun durch den
Hinweis Nachdruck, auf den Scherben des Topfes seien zweifelsfrei Annas Schuhabdrücke zu erken-
nen, von denen sie bereits Beweisfotos gemacht habe. Neben dem Drohbrief der Gudrun findet Anna
in ihrem Briefkasten die Scherben des Topfes. Anna wendet sich daraufhin an einen Anwalt, legt ihm
den Brief sowie die Scherben vor und schildert ihm ihre missliche Lage. Da sie mit dem Vorfall nichts
Defizite aktivitätsanalytischer Produktionsmodelle 85

zu tun habe, wolle sie den Schaden nicht bezahlen. Sie kenne jedoch das unbeherrschte Gemüt ihrer
Nachbarin und befürchte nun, Gudrun könne sich rächen, falls sie nicht umgehend Schadensersatz für
den zertretenen Topf erhält. Anna möchte wissen, ob sie mit einer Anzeige wegen Sachbeschädigung
rechnen muss und wie sie sich gegenüber Gudrun fortan verhalten solle. Annas Anwalt liest den Brief
aufmerksam und nimmt anschließend die Scherben des Topfes in Augenschein. Bei näherer Untersu-
chung der Scherben stellt er fest, dass der darauf zu erkennende Schuhabdruck von einem Bauarbeiter-
stiefel der Größe 46 stammt. Zudem mutmaßt der Jurist, dass ein von Anna ausgeführter Tritt gegen
den Topf aufgrund der zierlichen Statur der Beklagten kaum zum Zerspringen des Topfes geführt
hätte. Dies erscheine aufgrund des robusten Materials, aus dem der Topf besteht, unrealistisch. Nach
Ansicht des Anwalts kommt als Täter nur ein Mann mit kräftiger Statur in Frage. Seiner Ansicht nach
solle sich Anna keine Sorgen machen. Eine Strafanzeige von Seiten der Gudrun sei zwar nicht ausge-
schlossen, bleibe mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch erfolglos, da sich Anna in einer vorteilhaften
Argumentations- und Beweislage befände. Anna solle lediglich versuchen, von nun an jedweden
Kontakt mit Gudrun zu vermeiden und sich keinesfalls auf einen weiteren Disput einlassen. Seine
rechtlichen Hinweise und Verhaltensempfehlungen notiert der Jurist auf Gudruns Brief, den ihm Anna
vorgelegt hat.

Während der Rechtsberatung werden unterschiedliche Faktorarten eingesetzt, die es zu quali-


fizieren und anschließend zu quantifizieren gilt. Die erste Inputobjektart stellt die Mandantin
Anna selbst dar; sie fungiert in ihrer Rolle als Nachfrager einer personenbezogenen Dienst-
leistung zugleich als externer Faktor (Objektart 1) und erhofft sich vom Erhalt der juristischen
Informationen wünschenswerte Veränderungen ihrer informatorischen Zustandseigenschaf-
ten. Als zweite Faktorart ist der Brief der Nachbarin (Objektart 2) zu nennen. Er enthält In-
formationen, die als notwendig für den Prozess der Rechtsberatung einzustufen sind und von
Anna in die Produktion eingebracht werden. Dies gilt ebenso für die Scherben (Objektart 3)
des zerbrochenen Topfes, denen als Beweisstücke eine zentrale Stellung im Beratungsprozess
zukommt. Letztlich sind die Ausführungen Annas zur angespannten Lage zwischen ihr und
ihrer Nachbarin als informatorische Faktorart zu qualifizieren, die hier aggregiert als Prob-
leminformation (Objektart 4) betrachtet werden soll. Auch der Anwalt bringt unterschiedliche
Faktorarten in die Produktion ein. Hierzu zählen sein juristisches Expertenwissen (Objektart
5), seine geistige Arbeit (Objektart 6) sowie die Tinte (Objektart 7), mit der er seine Anmer-
kungen auf Annas Schriftstück notiert. Der Output der Beratung besteht in der veränderten
Mandantin Anna (Objektart 8), die sich nach dem Beratungsgespräch aufgrund ihres Wis-
senszuwachses in einem geänderten Informationszustand befindet, sowie in dem mit Anmer-
kungen des Anwalts versehenen Brief (Objektart 9). Abb. 4 verdeutlicht die Dienstleistung
Rechtsberatung anhand eines einfachen I/O-Graphen.

4 Kritische Reflexion der Abbildungsgüte herkömmlicher I/O-Graphen


4.1 Akteurssphären von Anbieter und Nachfrager
Eine kritische Reflexion des in Abb. 3 dargestellten I/O-Graphen offenbart, dass dieser nicht
alle für eine strukturähnliche Modellierung von Beratungsleistungen relevanten Elemente
bzw. Informationen enthält. Wie bereits erwähnt, setzen Dienstleistungen an externen Fakto-
ren an, die dem Anbieter von Seiten des Nachfragers bereitgestellt und in dessen Einwir-
kungsbereich eingebracht werden müssen. Im produktionswirtschaftlichen Kontext von
Dienstleistungen muss somit grundsätzlich zwischen der Anbietersphäre und der Nachfrager-
sphäre differenziert werden. Die Grenze zwischen diesen Sphären kann prinzipiell rein fakti-
86 Magnus Richter, Rainer Souren

scher Natur sein, d. h. in einer räumlichen Trennung von Anbieter(objekten) und Nachfra-
ger(objekten) bestehen, oder aber in einer abstrakten, z. B. verfügungsrechtlichen Trennung
vorliegen.

1 St.
1

1 St.
2

5 St.
3
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8
1 ME Rechts-
4
beratung
1 St.
9
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5

35 min
6

70 mg
7

Abb. 4: Einfacher I/O-Graph einer Rechtsberatung

In dem aufgezeigten Beispiel entziehen sich dem Anwalt vor Beginn der Beratung sämtliche
externen Faktoren aufgrund faktischer Besitzverhältnisse sowie bestehender Eigentumsrechte
der Mandantin Anna an den bereitzustellenden Objekten. Während der Beratung kommt den
Objektarten 1, 2, 3 und 4, d. h. der Mandantin sowie den von ihr beigestellten Objektarten
Brief, Scherben und Probleminformation, die Rolle von externen Faktoren zu. Die Durchfüh-
rung der Rechtsberatung setzt die Verfügbarkeit der Mandantin sowie ihrer Schrift- bzw.
Beweisstücke voraus, die sich zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch in Annas Verfü-
gungsbereich befinden. Die Objektarten 5, 6 und 7 sind dagegen interne Produktionsfaktoren
des Anwalts. Zwar sind diese internen Faktoren für die Erbringung der Beratungsleistung
ebenso unverzichtbar wie die externen Faktoren; aufgrund der zunächst raum-zeitlichen Ab-
senz externer Faktoren bzw. ihrer eingeschränkten Disponierbarkeit durch den Produzenten
erweisen sie sich für die Produktionsplanung jedoch als weitaus kritischer als interne Fakto-
ren.
Ergebnis: Bei der graphischen Modellierung von Dienstleistungen sollte eine explizite Diffe-
renzierung zwischen Anbieter- und Nachfragersphären vorgenommen werden. Hierdurch
kann bei der Abbildung des Produktionsprozesses deutlich auf die Sonderstellung hingewie-
sen werden, die die externen Faktoren bezüglich ihrer Verfügbarkeit einnehmen.

4.2 Objektfaktoren und Prozessobjekte


Der Zweck von Dienstleistungen besteht in der Veränderung von Zustandseigenschaften
externer Faktoren. Die Ausführungen in Abschnitt 4.1 haben gezeigt, dass die Objektarten 1,
2, 3 und 4 als externe Faktoren fungieren, die oftmals als causa efficiens der Dienstleistung
Defizite aktivitätsanalytischer Produktionsmodelle 87

bezeichnet werden [Maleri 1973, S. 96]; denn schließlich können nur „verfügbare“ Mandan-
ten und Schriftstücke, wie etwa der Drohbrief der Nachbarin, (hier: informationell) transfor-
miert werden. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu berücksichtigen, dass im Rahmen
der Beratungsleistung keineswegs alle externen Faktoren Veränderungen ihrer Zustandseigen-
schaften erfahren. So erfolgen lediglich Eigenschaftsänderungen der Mandantin Anna (Ob-
jektart 1) in Form einer Erweiterung ihres Wissens hinsichtlich juristischer Indizien und
ratsamer Verhaltensweisen sowie des von ihr vorgelegten Drohbriefes (Objektart 2) durch das
Hinzufügen schriftlicher Anmerkungen durch den Anwalt. Die Scherben des Topfes (Objekt-
art 3) sowie die Probleminformation der Mandantin (Objektart 4) haben dagegen allenfalls
„steuernden“ Charakter: Während die externen Faktorarten 1 und 2 transformiert werden,
wirken die externen Faktorarten 3 und 4 lediglich transformierend.
Diese Differenzierung zwischen unmittelbarem stofflichem Eingang von Objekten in die
Produktion (Objektfaktoren) sowie den Prozess der Transformation steuernden Faktoren
(Prozessobjekte) liegt in ähnlicher Weise auch der Systematik der Produktionsfaktoren nach
Gutenberg zugrunde: Während Potenzialfaktoren, wie bspw. Knetmaschinen in einer Bäcke-
rei, den Transformationsprozess in technischer Weise betreiben, und der dispositive Faktor
ihn steuert, gehen Repetierfaktoren, wie z. B. die Rohstoffe Mehl und Wasser, aufgrund der
an ihnen ansetzenden Transformation in das Produkt ein. Bezüglich des aufgezeigten Diffe-
renzierungserfordernisses konstatiert jedoch schon Kilger, dass „in der Aktivitätsanalyse
weder eine Differenzierung in Potenzial- und Verbrauchsfaktoren noch eine Unterscheidung
direkter und indirekter Faktorverbrauchsmengen vorgenommen“ [Kilger 1982, S. 100] wird.
Ergebnis: Die funktionale Verschiedenartigkeit der Objektarten (Objektfaktoren und Prozess-
objekte) sollte in einem graphischen Produktionsmodell explizit berücksichtigt werden, um
dessen Informationsgehalt zu erhöhen.

4.3 Der Einfluss von Kundenwissen und externen Informationen


Zu jenen Faktoren, die den Produktionsprozess steuern, zählen neben den rein technischen
Prozessfaktoren insbesondere die Objektarten Wissen und Information, die zumindest implizit
in jede Produktion eingebracht werden müssen. So liegen selbst den überwiegend technisch-
naturwissenschaftlich geprägten Verrichtungen der Maschinenbauindustrie zahlreiche wissen-
schaftliche Erkenntnisse, praktisches Know-how und Arbeitsanweisungen zugrunde, die die
zielgerichtete Lenkung sowie den systematischen Vollzug der Produktion erst ermöglichen
[Wittmann 1982, S. 13]. Einen noch stärkeren Einfluss auf den Produktionsprozess üben
Wissen und Informationen in der Informationsproduktion aus, zu der ebenfalls Beratungsleis-
tungen zählen. Hierbei erfüllen sie nicht nur die Funktion des dispositiven Faktors, sondern
sie stellen zudem wichtige „Rohstoffe“ für die Produktion dar [Seng 1989, S. 104 f.].
Unter Wissen sollen im Kontext des vorliegenden Beitrags alle konkreten, aber auch abstrak-
ten Vorstellungsinhalte eines Menschen verstanden werden. Wissen beinhaltet sowohl expli-
zite (d. h. leicht explizierbare, verbalisierbare und formalisierbare) als auch implizite (nicht/
kaum explizierbare, verbalisierbare, formalisierbare) Wissensbestandteile. Nach diesem Ver-
ständnis ist Wissen stets an den Menschen gebunden. Der Terminus Information bezeichnet
dagegen in menschlicher Sprache verfasste „Konstrukte“, die über eine Bedeutung verfügen.
Hierzu zählen bspw. Inhalte von Briefen oder CDs. Im Gegensatz zu Wissen können deshalb
88 Magnus Richter, Rainer Souren

Informationen auch losgelöst vom Menschen, d. h. auf einem unbelebten, stofflichen Träger-
medium vorliegen.
Aus dem Einsatz der Faktoren Wissen und Information ergeben sich für die Produktionstheo-
rie jedoch vielfältige methodologische Probleme: Da die Produktionstheorie – zumindest in
ihrem konzeptionellen Kern – ein Mengengerüst erfordert, müssen alle betrachteten Objektar-
ten quantitativ messbar sein [Schweitzer/Küpper 1974, S. 40]. Während die Messung von
Informationen auf der syntaktischen Ebene (Zeichenmenge, belegter Speicherplatz etc.) bzw.
mit Hilfe von Proxy-Attributen (Patentzahl, Gesprächsdauer etc.) möglich ist, scheitert eine
einfache Operationalisierung des menschlichen Wissens bezüglich seiner ökonomisch rele-
vanten Aspekte. So erscheint es nahezu unmöglich, Wissen auf der semantischen Ebene, d. h.
hinsichtlich seiner Bedeutungsinhalte, oder auf der pragmatischen Ebene, d. h. hinsichtlich
der durch das Wissen bewirkten Erhöhung des Zielerreichungsgrades menschlichen Handelns,
zu quantifizieren.
Ergebnis: Das aufgezeigte Erfordernis, Wissen und Informationen als Produktionsfaktoren im
Rahmen von Dienstleistungen einzusetzen, führt in Verbindung mit den dargelegten Mess-
problemen zu einem zentralen methodologischen Defizit produktionstheoretischer Modelle.
Die Integration der Faktoren Wissen und Information in (graphische) Produktionsmodelle
erscheint jedoch derart bedeutsam, dass sie zumindest in rudimentärer Form erfolgen sollte.

4.4 Modellierung von Eigenschaft(sänderung)en


Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Output einer Dienstleistung nicht in gänzlich
neuartigen Objektarten besteht, denen durch die Produktion erstmalig Gestalt gegeben wird
(Urformen). Der Transformationsprozess von Dienstleistungen setzt vielmehr an Objekten an,
die in Folge der betrieblichen Leistungserstellung nutzenstiftende Eigenschaftsänderungen
erfahren sollen. Somit entsprechen Dienstleistungen eher Veränderungsprozessen an Objek-
ten, die entweder stofflich (z. B. Umformen, Trennen, Beschichten etc.) oder auch nicht-
stofflich (z. B. raum-zeitlich) transformiert werden. Der Output von Dienstleistungen besteht
folglich in graduell veränderten Objekten.
Fraglich ist in diesem Zusammenhang, auf welche Weise eine graphisch adäquate Modellie-
rung der Eigenschaftsänderungen gelingen kann. Das in Kapitel 3 vorgestellte einfache Bei-
spiel illustriert diese Problematik: Die externen Faktoren Anna und der Brief werden als
Objektarten 1 und 2 bezeichnet und als Inputknoten visualisiert. Wenn beide Objektarten nach
der Transformation veränderte Zustandseigenschaften aufweisen, dann lässt sich dies dadurch
ausdrücken, dass auf der Outputseite Objektartknoten mit einer neuen Nummerierung (im
Beispiel 8 und 9) dargestellt werden. Durch die Veränderung wichtiger Objekteigenschaften
(beratene Mandantin Anna bzw. mit Notizen versehener Brief) entstehen quasi neue Objektar-
ten, die sich von den eingesetzten Objektarten 1 und 2 wesentlich unterscheiden. Diese Form
der Darstellung genügt zwar der Forderung, verschiedenen Objektarten unterschiedliche
Objektbezeichnungen zuzuteilen. Sie geht allerdings auch mit bedeutsamen Informationsver-
lusten einher und trägt der Tatsache unzureichend Rechnung, dass bei vielen Dienstleistungen
nur eine graduelle Veränderung des externen Faktors vorgenommen wird [Gössinger 2005,
S. 4]. Die Information, dass es sich bspw. bei Objektart 8 – bis auf ihren nunmehr erweiterten
Wissensbestand – um dieselbe Person wie bei Objektart 1 handelt, geht nicht aus dem I/O-
Defizite aktivitätsanalytischer Produktionsmodelle 89

Graphen hervor. Ebenso gilt dies für den Brief, der lediglich hinsichtlich der in ihm enthalte-
nen Informationen bestimmte Veränderungen erfährt, obgleich es sich bei den Objektarten 2
und 9 um dasselbe Trägermedium handelt.
Die mögliche Alternative, die Objektartenbezeichnungen für die Mandantin Anna (1) und
ihren Brief (2) auch auf der Outputseite des Graphen beizubehalten, würde zwar die Informa-
tion bewahren, dass es sich bei Anna und dem Brief auf der Inputseite um dieselben Eigen-
schaftsträger handelt wie auf der Outputseite. Allerdings würde in diesem Fall die Informati-
on über die an ihnen bewirkten Eigenschaftsänderungen verloren gehen.
Ergebnis: Bei Verwendung herkömmlicher I/O-Graphen, bei denen Objektarten lediglich
durch eine einzige Zahl benannt werden, sind Verluste bedeutsamer Informationen hinzuneh-
men, die in einer unbefriedigenden Abbildungsgüte des Produktionsmodells für Dienstleistun-
gen münden.

5 Fazit: Darstellungsdefizite und erste Ideen zu ihrer Behebung


Die Analyse der Abbildungsgüte des exemplarischen Produktionsmodells bringt zutage, dass
die ausschließliche Verwendung herkömmlicher Modellelemente von I/O-Graphen mit be-
deutsamen Informationsverlusten verbunden ist. Im Wesentlichen liegt die als defizitär zu
beurteilende Abbildungsgüte des dargestellten Modells in folgenden Aspekten begründet:
x mangelnde Differenzierung zwischen Anbietersphäre und Nachfragersphäre,
x mangelnde Differenzierung zwischen Objektfaktoren und Prozessobjekten,
x unzureichende Erfassung der Faktorarten Kundenwissen und externe Information,
x unzureichende Erfassung von Eigenschaft(sänderung)en des externen Faktors.
Nachfolgend werden als kurzer Ausblick erste Ideen zur Erweiterung von I/O-Graphen prä-
sentiert, mit deren Hilfe die Abbildungsgüte verbessert werden kann. Dabei werden nicht nur
gänzlich neuartige Überlegungen angestellt, sondern es kommen auch Konzepte zur Anwen-
dung, die sich bereits im Rahmen anderer betriebswirtschaftlicher Planungsaufgaben als
zweckmäßig erwiesen haben. Ein Teil der im Folgenden dargestellten Ideen ist somit ledig-
lich auf seine Anwendbarkeit im Rahmen der graphischen Aktivitätsanalyse für Dienstleis-
tungen hin zu überprüfen und gegebenenfalls genauer auszudifferenzieren. Dies bleibt jedoch
ebenso weiter führenden Arbeiten überlassen wie die Übertragung der konzeptionellen Erwei-
terungen auf formale Modelle der Aktivitätsanalyse.
x Modellierung unterschiedlicher Akteurssphären: Eine rudimentäre Möglichkeit zur gra-
phischen Modellierung verschiedener Verfügungsbereiche von Akteuren besteht in der
Unterteilung des I/O-Graphen in eine Anbieter- und eine Nachfragersphäre. Dies kann
beispielsweise mittels gestrichelter Linien erfolgen [Souren 2002, S. 135], die Anbieter
und Nachfrager voneinander trennen. Eine derartige Kennzeichnung unterschiedlicher
Akteurssphären ähnelt dann dem Service Blue Printing, bei dem unterschiedliche Tren-
nungslinien, insbesondere die Line of Visibility, graphisch veranschaulicht werden
[Shostack 1984, S. 138].
90 Magnus Richter, Rainer Souren

Darüber hinaus ist es möglich, Objektknoten um einen Index zu erweitern, der Aufschluss
über relationale Objekteigenschaften, wie bspw. Eigentumsverhältnisse oder Verfügungs-
bereiche [Gössinger 2005, S. 54], gibt [vgl. für eine konkrete Anwendung dieses Ansatzes
Souren 2002, S. 230]. Auf diese Weise kann grob skizziert werden, inwiefern produkti-
onswirtschaftlich relevante Objekte vom Hersteller autonom disponierbar sind bzw. ob es
zur Transformation jener Objekte einer vorherigen Interaktion mit dem Kunden bedarf.
x Differenzierung zwischen Objektfaktoren und Prozessobjekten: Vereinzelt werden in
graphischen Produktionsmodellen auch Faktoren expliziert, die einen Einfluss auf den
Transformationsprozess ausüben. So wirken sowohl disponible Prozessfaktoren als auch
indisponible Umfeldbedingungen auf die Produktion ein, deren Parameter in aktivitäts-
analytischen Modellen berücksichtigt werden [Dyckhoff 2006, S. 44]. Insbesondere bei
der Anpassung an Beschäftigungsschwankungen ist die Intensität des Prozessfaktors Ma-
schine als solcher Parameter von zentraler Bedeutung [Gutenberg 1983, S. 326 ff., Dyck-
hoff 2006, S. 295 ff.]. Eine explizite Darstellung der Prozessfaktoren bzw. ihrer Parame-
ter in I/O-Graphen ist leicht umsetzbar. Erstes gelingt etwa mithilfe vertikaler an Stelle
horizontaler Verbindungspfeile zwischen den Objektknoten der Prozessfaktoren und den
Prozesskästen [Souren 2002, S. 209]. Letztes ist z. B. durch eine Integration der Parame-
ter in (komplexere) Prozesskästen möglich [Dyckhoff 1994, S. 240 ff.].
x Integration der Faktoren Wissen und Information: Obgleich die qualitative Beschreibung
bestimmter Wissensarten nur ansatzweise gelingen kann und auch Informationen – auf
semantischer Ebene – oftmals nur auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau (z. B. Inhalt,
Gegenstand, Objekt) spezifiziert werden können [Bode 1993, S. 25], sollte dennoch der
Versuch ihrer produktionstheoretischen Erfassung unternommen werden. Denn trotz aller
geäußerten Zweifel ist die Möglichkeit, Wissen und Informationen zu operationalisieren
und zu messen, nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Für diese These sprechen vor allem
zwei Argumente: Zum einen besteht die Möglichkeit, die Faktoreinsatzstruktur mithilfe
detaillierter Objektartbeschreibungen zu atomisieren [Schröder 1973, S. 48], d. h. jede
einzelne Wissenseinheit als eigenständige Faktorart zu qualifizieren, die dann die Faktor-
quantität 1 aufweist [Schröder 1973, S. 60]. Zum anderen wird gelegentlich konstatiert,
„dass produktionstheoretische Aussagen im allgemeinen [auch] ohne die Erfassung sämt-
licher Merkmalsdimensionen möglich sind“ [Bode 1993, S. 143]. Es erscheint als Alter-
native daher zweckmäßig, auf allzu umfassende Wesenskennzeichnungen von Informati-
onen zu verzichten bzw. von geringfügigen Unterschieden zwischen bestimmten
Informationen zu abstrahieren und diese vereinfachend in einer homogenen Faktorart zu-
sammenzufassen.
x Modellierung von Eigenschaft(sänderung)en: Mit der Komponentenmodellierung hat
Souren [1996] ein Konzept entwickelt, das dazu geeignet ist, Eigenschaft(sänderung)en
abzubilden, die sich durch Angabe der Quantitäten bestimmter Bestandteile offenbaren.
Bei geeigneter Erweiterung der Modellierung könnten neben die in Gewichts- oder Vo-
lumeneinheiten messbaren Inhaltsbestandteile auch die Ausprägungen anderer Objektei-
genschaften (z. B. Farbe, Gestalt) treten, die dann geeignet zu operationalisieren sind.
Abb. 5 verdeutlicht, dass die Objektart k – im Fall von Dienstleistungen der externe Fak-
tor – als Träger unterschiedlicher Eigenschaften 1, …, C abgebildet werden kann. Der
Defizite aktivitätsanalytischer Produktionsmodelle 91

Ausdruck qkotc repräsentiert hierbei die Menge der Komponente bzw. Eigenschaft c, die
an einem Ort o zu einem Zeitpunkt t Element der Objektart k ist.

k
o t

1 qkot1

c qkotc

C qkotC

Abb. 5: Komponentenmodellierung eines Objektknotens nach Souren


[modifiziert nach Souren 2002, S. 206]

Diese Art der graphischen Darstellung kann z. B. dazu dienen, Reparaturdienstleistungen


zu modellieren, bei denen ein beschädigtes Fahrzeug (k) dadurch instand gesetzt wird,
dass eine Roststelle mithilfe einer bestimmten Menge an Lack ausgebessert wird. In die-
sem Fall entspräche qkotc der Menge der Komponente Lack (c), die in einer Werkstatt (o)
zu einem bestimmten Reparaturzeitpunkt (t) eine veränderte Eigenschaft des Fahrzeugs
(k) darstellt. Die durch die Dienstleistung hervorgerufene Veränderung der Objektart wird
somit durch die Komponentenquantität abgebildet; die Bezeichnung der Objektart (k) än-
dert sich dagegen nicht, so dass der externe Faktor als Output direkt wieder erkannt wer-
den kann. Mithilfe der separat aufgelisteten Indices o und t sind zudem auch Transport-
oder Lagerdienstleistungen direkt modellierbar.

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Corsten, H./Gössinger, R.: Dienstleistungsmanagement. 5. Aufl., München/Wien 2007.
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92 Magnus Richter, Rainer Souren

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Prozess-Beziehungsmatrizen als Grundlage
für die Modularisierung von Dienstleistungen

Hans Corsten, Kai-Michael Dresch, Ralf Gössinger

1 Problemstellung
Eine grundlegende Vorgehensweise bei der Modularisierung von Dienstleistungen ist es,
Teilprozesse der Leistungserstellung zu definierten Teilleistungen zusammenzuführen, die
dann flexibel miteinander kombiniert werden können, um so ein Spektrum heterogener Kun-
denbedürfnisse zu befriedigen [Stauss 2006, S. 324; Mayer 1993, S. 152 f.]. Da es im Rahmen
der Modularisierung von Dienstleistungen um die Gestaltung der arbeitsteiligen Dienstleis-
tungserstellung seitens des Anbieters unter Einbeziehung des Nachfragers geht, gelangen
Fragen der Koordination der Erstellung dieser Teilleistungen ins Zentrum des Interesses. Aus
dieser koordinationsorientierten Sichtweise ergeben sich die beiden folgenden Problemstel-
lungen: (1) Identifikation der Interdependenzen zwischen den zur Dienstleistungserstellung
ausführbaren Teilprozessen und (2) Bildung einer modularisierten Dienstleistungserstellung
durch Auswahl geeigneter Teilleistungen, Restrukturierung der dabei zugrunde liegenden
Prozesse und Zusammenführung zu Modulen sowie Gestaltung der damit verbundenen Koor-
dination.
In der Literatur existieren nur wenige methodisch ausgerichtete Arbeiten [Göpfert 1998,
S. 10 ff.] zur Modularisierung von Dienstleistungen [Burr 2005, S. 17 ff.; Jiao et al. 2003,
S. 817 ff.]; die Gegebenheiten der Dienstleistungsproduktion kommen dabei aber kaum zum
Tragen. Zur Gestaltung industrieller Produkte liegen hingegen erste grundlegende methodi-
sche Ansätze vor. So greifen Sosa et al. [2003, S. 242 ff.] auf die von Steward [1981a,
S. 71 ff.] vorgestellte Design Structure Matrix zurück, um Modularisierungsprobleme bei der
Gestaltung industrieller Produkte zu lösen. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es,
x diese Idee auf Modularisierungsprobleme von Dienstleistungserstellungsprozessen zu
übertragen,
x den Modifikationsbedarf, der sich aus den im Vergleich zur Design Structure Matrix
veränderten Einsatzbedingungen ergibt, herauszuarbeiten und zu erfüllen sowie
x eine Vorgehensweise zur Anwendung der modifizierten Matrix (Prozess-Beziehungs-
matrix) aufzuzeigen.

2 Grundidee
Die von Steward [1981a, S. 71 ff.] vorgeschlagene Beziehungsmatrix (Design Structure Mat-
rix) ist eine Adjazenzmatrix, die die Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems
96 Hans Corsten, Kai-Michael Dresch, Ralf Gössinger

erfasst. Der Wert einer Zelle wi .ic gibt Auskunft darüber, ob das Element i vom Element ic
abhängig ist ( wi .ic 1 ) oder nicht ( wi.ic 0 ) (vgl. Abb. 1).

i' 1 2 3 4 5 6 7 8 9
i
1 0 1 1
2 0 1
3 0 1 1
4 0 1 1
5 1 1 0 1
6 0
7 0 1
8 1 1 0
9 1 0

Abb. 1: Beispiel einer Beziehungsmatrix

Im Kontext der Produktentwicklung können auf der Grundlage dieser Matrix die Beziehungen
zwischen physischen Produktkomponenten integrativ berücksichtigt werden. Ein Produkt
wird dabei als Graph mit gewichteten Mehrfachkanten interpretiert, bei dem die Kanten zwi-
schen zwei Knoten (Komponenten) Beziehungen unterschiedlicher Art repräsentieren. Der
Graph lässt sich mit Hilfe einer Adjazenzmatrix abbilden, deren Indizes auf die Produktkom-
ponenten bezogen sind. Die Gewichtung der Beziehungen spiegelt dabei die Beurteilung ihrer
Kritizität für die Produktfunktionalität auf der Grundlage einer fünfstufigen Skala (notwendig:
+ 2, erwünscht: + 1, indifferent: 0, unerwünscht:  1, schädlich:  2) wider [Sosa et al. 2003,
S. 242 ff.].
Auf dieser Grundlage können mittelbare und unmittelbare Interdependenzen (Loops) zwi-
schen den Elementen ermittelt werden. In der Beziehungsmatrix von Steward [1981a,
S. 71 ff.] liegen unmittelbare Interdependenzen (direkte Loops) dann vor, wenn für ein Ele-
mentepaar i, ic die Zellen wi .ic und wic.i jeweils den Wert eins aufweisen (z. B. der mit gestri-
chelten Linien gekennzeichnete Loop aus den Elementen 2 und 9 in Abb. 1). Erstreckt sich
ein Loop über mehrere Elemente (z. B. wi .ic 1, wic.icc 1, wicc.i 1 ), dann liegt eine mittelbare
Interdependenz (indirekter Loop) vor (z. B. der mit durchgezogenen Linien gekennzeichnete
Loop aus den Elementen 1, 3, 5, 8 in Abb. 1).
Um derartige Matrizen für Problemstellungen mit einer großen Anzahl von Elementen in
angemessener Zeit auswerten zu können, wurden algorithmische Verfahren zur Partitionie-
rung und Dekomposition entwickelt. Mit Hilfe eines Partitionierungsverfahrens werden
Blöcke (Teilmatrizen) innerhalb einer Matrix durch Gruppierung interdependenter Elemente
so gebildet, dass zwischen den Blöcken nur einseitige Abhängigkeiten (keine Interdependen-
zen) bestehen und ein Block nur eine minimale Anzahl von Elementen umfasst. Die Partitio-
nierung kann in den folgenden Schritten vorgenommen werden [Sosa et al. 2003, S. 243 ff.;
Steward 1981a, S. 72 f.; Steward 1981b, S. 40 ff.]:
x Sortieren des Index: Der Index der Elemente ist so zu sortieren, dass sich die meisten
Beziehungen in der unteren Dreiecksmatrix befinden. Die Indexzahl eines Elements mit
kleinerer Beziehungsanzahl (Zeilensumme) befindet sich somit vor der Indexzahl eines
Prozess-Beziehungsmatrizen als Grundlage für die Modularisierung von Dienstleistungen 97

Elements mit größerer Beziehungsanzahl. Im Beispiel ergibt sich die vorläufige Reihen-
folge 6,2,9,7,1,3,8,4,5. Bestehen Interdependenzen zwischen den Elementen, dann liegt
trotz dieser Sortierung noch ein Teil der Beziehungen in der oberen Dreiecksmatrix. Im
Beispiel sind dies die Beziehungen 2,9; 1,5 und 3,8.
x Bilden von Blöcken: Blöcke werden so gebildet, dass sie möglichst wenige Elemente, aber
alle Beziehungen innerhalb eines Loops umfassen. Ein Block beinhaltet dann alle Ele-
mente, über die simultan entschieden werden müsste, wenn keine Interdependenz zer-
schnitten werden soll. Im Beispiel liegen die Blöcke 6; 2,9; 7; 1,3,8,5 und 4 vor.
x Anordnen der Blöcke: Mit Hilfe der folgenden iterativen Vorgehensweise wird eine Rei-
henfolge zwischen den Blöcken festgelegt:
(1) Auswahl eines noch nicht indizierten Blocks, der möglichst wenige Beziehungen
(Blockzeilensumme) zu einem anderen nicht indizierten Block aufweist.
(2) Zuordnung der nächsten verfügbaren Indexzahl zum ausgewählten Block.
(3) Fortsetzung mit (1) solange, bis alle Blöcke indiziert sind.
Im Beispiel ergibt sich die in Abb. 2 dargestellte partitionierte Matrix, die drei kleine Blöcke
mit jeweils nur einem Element (1,4,5) und zwei große Blöcke mit jeweils mehr als einem
Element (2,3) umfasst, zwischen denen keine Interdependenzen bestehen.

i' 6 2 9 1 3 8 5 7 4
i
Block 1 6 0
2 0 1
Block 2
9 1 0
1 1 0 1
3 1 0 1
Block 3
8 1 1 0
5 1 1 1 0
Block 4 7 1 0
Block 5 4 1 1 0

Abb. 2: Beispiel einer partitionierten Beziehungsmatrix

Bestehen zwischen den meisten Elementen Interdependenzen, dann werden bei der Partitio-
nierung relativ große Blöcke gebildet. Um kleinere Blöcke zu erhalten, ist es erforderlich,
durch eine Analyse der blockinternen Struktur aufzudecken, welche Möglichkeiten zur Auf-
teilung des Blocks bestehen und welche Möglichkeit vorziehenswürdig ist. Im Kontext der
Beziehungsmatrix wird ein Dekompositionsalgorithmus zur Identifikation der Stellen vorge-
schlagen [Steward 1981b, S. 67 ff.], an denen die in einem großen Block enthaltenen Loops in
geeigneter Weise aufgetrennt werden können. Den Kern des Algorithmus bilden die Prinzi-
pien:
x Trenne zuerst Beziehungen in denjenigen Loops auf, die möglichst wenige Elemente
enthalten (z. B. den Loop 2,9 in Block 2 sowie die Loops 1,5 und 3,8 in Block 3)!
98 Hans Corsten, Kai-Michael Dresch, Ralf Gössinger

x Verteile die Auftrennungen über eine möglichst kleine Anzahl von Zeilen und Spalten in
der Matrix (z. B. werden in Block 3 durch Auftrennen der Beziehung 1,5 gleichzeitig die
Loops 1,5 und 1,5,3,8 aufgetrennt)!
Ergebnis ist dann eine geblockte untere Dreiecksmatrix, deren Blöcke genau ein Element
umfassen. Zusätzlich wird in dieser Matrix gekennzeichnet, an welchen Stellen Beziehungen
aufgetrennt wurden, d. h. an welchen Stellen eine Koordination zwischen den Blöcken vorzu-
nehmen ist. Auf dieser Grundlage werden im Beispiel die Beziehungen 2,9 (Block 2) sowie
1,5 und 3,8 (Block 3) identifiziert. Damit würde das System neun kleine Blöcke und drei
Schnittstellen (2,9; 1,5 und 3,8), die einer zusätzlichen Koordination bedürfen, umfassen.
Zur Reduktion des Koordinationsbedarfs können jedoch kleine Blöcke zu überschaubaren
größeren Blöcken so zusammengefasst werden, dass sich die potenziellen Schnittstellen in-
nerhalb eines Blocks befinden. Wird im Beispiel von einer maximalen Blockgröße von drei
Elementen ausgegangen, dann kann ein System mit drei großen Blöcken (6,2,9; 1,3,8; 5,7,4)
und einer Schnittstelle 1,5 gebildet werden (vgl. Abb. 3).

i' 6 2 9 1 3 8 5 7 4
i
6 0
2 0 1
9 1 0
1 1 0 X
1
3 1 0 1
8 1 1 0
5 1 1 1 0
7 1 0
4 1 1 0

Abb. 3: Beispiel für eine partitionierte und dekomponierte Beziehungsmatrix

3 Dienstleistungsspezifische Modifikationen
3.1 Ermittlung des Koordinationsbedarfs
Dienstleistungen lassen sich als eine Folge von Aktionen erfassen. Aktionen sind dabei ele-
mentare Transformationen, die sich an den involvierten Objekten als Zustandsänderung/
-erhaltung niederschlagen. Das Ausmaß der durch eine Aktion bewirkten Zustandsänderung/
-erhaltung ist dabei abhängig von den Rahmenbedingungen der Aktionsausführung (Aus-
gangszustände der Objekte, Kompatibilität der Objektzustände mit den von der Aktion zu
bewirkenden Zustandsänderungen etc.) und den Einflussmöglichkeiten von Nachfrager und
Anbieter als Entscheidungsträger (Entscheidungen über den Objekteinsatz, Festlegung von
Prozessparametern etc.). Um das Zusammenwirken mehrerer Aktionen, die zur Erbringung
der Dienstleistung erforderlich sind, als ein Aktionensystem [Gössinger 2005, S. 65 ff.] erfas-
sen zu können, ist es notwendig, die potenzial-, prozess- und ergebnisbezogenen Abhängig-
keiten zwischen den Aktionen in die Betrachtung aufzunehmen.
Prozess-Beziehungsmatrizen als Grundlage für die Modularisierung von Dienstleistungen 99

Ursächlich für den Koordinationsbedarf sind wechselseitige Abhängigkeiten (Interdependen-


zen) zwischen den Aktionen, die aufgrund der Zuordnung zu unterschiedlichen Entschei-
dungsträgern zerschnitten werden. Für eine aktionenbezogene Analyse ist zwischen den fol-
genden Erscheinungsformen von Interdependenzen zu unterscheiden [Ewert/Wagenhofer
2005, S. 402 ff.]:
x Sachinterdependenzen:
- Restriktionsverbund: Die Parametrisierung und Ausführung einer Aktion schränkt die
Freiheitsgrade der Parameterwahl und Ausführung einer anderen Aktion ein. Dies
lässt sich auf folgende Ursachen zurückführen: (1) Ein Leistungsverbund liegt vor,
wenn eine Dienstleistung, für die ein bestimmtes Leistungsniveau angestrebt wird,
mehrere Teilleistungen umfasst, die durch Aktionen erbracht werden, deren Teilleis-
tungsbeiträge wechselseitig voneinander abhängig sind. So ist etwa bei Umzugs-
dienstleistungen die Reihenfolge des Einpackens von Umzugsgut am alten Wohnort
von der Reihenfolge des Auspackens am neuen Wohnort abhängig et vice versa.
(2) Bei einem Ressourcenverbund greifen mehrere Aktionen auf dieselben, begrenzt
verfügbaren Produktionsfaktoren zurück. Diese Begrenzungen können in zeitlicher,
räumlicher und mengenmäßiger Hinsicht auftreten, wobei die Stärke der Interdepen-
denz von der Knappheit und der Teilbarkeit der Ressource determiniert wird. Bei
gleichem Knappheitsgrad sind teilbare Ressourcen in zeitlicher und räumlicher Hin-
sicht besser verfügbar als unteilbare Ressourcen1. Umzugsdienstleistungen werden
durch eine begrenzte Anzahl von Mitarbeitern erbracht, die i. d. R. eine Qualifikation
für unterschiedliche Teilleistungen besitzen. Die Zuordnung von Mitarbeitern zu ei-
ner bestimmten Teilleistung entzieht einer anderen Teilleistung temporär Mitarbeiter-
kapazität.
- Zielverbund, insb. Erfolgsverbund: Die den einzelnen Aktionen zurechenbaren Bei-
träge zum monetären Erfolg einer Dienstleistung sind wechselseitig von den jeweili-
gen Entscheidungen über die Parameter und die Ausführung der Aktionen abhängig.
Bei Umzugsdienstleistungen können die Demontage von Möbeln am alten und deren
Montage am neuen Wohnort in der Summe am kostengünstigsten vorgenommen
werden, wenn beides vom selben Mitarbeiter übernommen wird. Dieser kann einer-
seits durch die Demontage Erfahrungen für die Montage sammeln und anderseits bei
der Demontage besondere Gegebenheiten der Montage berücksichtigen.
x Verhaltensinterdependenzen: Die Festlegung der Parameter unterschiedlicher Aktionen,
zwischen denen Sachinterdependenzen bestehen, obliegt unterschiedlichen Entschei-
dungsträgern, und die Parameter der einen Aktion werden in Abhängigkeit von den Er-
wartungen über die Parameterwahl der anderen Aktion gewählt et vice versa. Wirkt der
Kunde bei der Erstellung von Umzugsdienstleistungen mit, so kann er beim Einpacken
von Umzugsgut das Ziel verfolgen, möglichst wenige Umzugskartons zu verwenden und
deshalb die Kartons möglichst vollständig füllen. Dieses Ziel kann in Konflikt mit dem
Ziel der Mitarbeiter stehen, den Umschlag der Kartons auf das Umzugsfahrzeug mög-

1
Die Relevanz unteilbarer Ressourcen für die Modularisierung zeigt sich etwa in der Ressource „Wissen“,
das an menschliche Wissensträger gebunden ist und sich teilweise der sprachlichen Kommunikation ent-
zieht, sodass seine Übertragung auf andere Wissensträger mit hohen Kosten einhergeht [Dietl 1995, S. 574].
100 Hans Corsten, Kai-Michael Dresch, Ralf Gössinger

lichst schnell abzuwickeln, wenn die Kartons von den Mitarbeitern nicht mehr getragen
werden können.
Die Relevanz von Sachinterdependenzen kommt dabei in den Opportunitätskosten ihrer
Nichtberücksichtigung bei der arbeitsteiligen Aufgabenerfüllung zum Tragen. Aufgrund der
mangelnden Operationalisierbarkeit dieser Kosten bietet es sich an, auf Indikatoren zurückzu-
greifen, die sich auf die Ressourcennutzung (z. B. Veränderung der Kapazitätsauslastung),
den Leistungsbeitrag (z. B. Veränderung der Qualitätswahrnehmung des Nachfragers) und
den Erfolgsbeitrag (z. B. Veränderung der Zahlungsbereitschaft der Nachfrager) beziehen.
Die besondere Bedeutung von Verhaltensinterdependenzen für Dienstleistungen ergibt sich
aus dem Sachverhalt der Kundenintegration: Aktionen können autonom durch den Anbieter,
autonom durch den Nachfrager oder interaktiv durch Anbieter und Nachfrager ausgeführt
werden, sodass zumindest drei Akteurskonstellationen zu unterscheiden sind. Die Stärke der
Verhaltensinterdependenz wird insbesondere durch den Grad der Informationsasymmetrie
und die Stärke des Zielkonflikts zwischen den Akteuren determiniert. Dabei kann davon
ausgegangen werden, dass die Gefahr einer mangelnden Abstimmung zwischen den Aktionen
um so größer ist, je mehr Akteure über die Aktionenausführung entscheiden, je häufiger der
Akteur im Leistungserstellungsprozess wechselt und je weniger die Aktionenausführung
durch den jeweils anderen Akteur direkt wahrgenommen werden kann. Die Relevanz einer
Verhaltensinterdependenz für die Modularisierung ist jedoch nicht nur von ihrer Stärke ab-
hängig, sondern auch von der potenziellen Höhe des Einflusses der Koordination von Trägern
interdependenter Entscheidungen auf die Ressourcen-, Leistungs- und Erfolgssituation der
betrachteten Dienstleistung. Damit bestimmt auch die Relevanz der der Verhaltensinterde-
pendenz zugrunde liegenden Sachinterdependenz die Relevanz der Verhaltensinterdependenz.
Zur Bestimmung dienstleistungsrelevanter Konstellationen von Verhaltensinterdependenzen
lassen sich durch kombinative Anwendung der Kriterien
x Anzahl der Anbieter-Mitarbeiter mit Entscheidungskompetenz im Leistungserstellungs-
prozess (einer, mehrere),
x Anzahl der Nachfrager(gruppen) mit Entscheidungskompetenz im Leistungserstellungs-
prozess (einer, mehrere),
x Anzahl der Leistungserstellungsprozesse, die sich zeitlich überlappen können (einer,
mehrere),
acht Fälle unterscheiden, die beginnend mit dem Fall „ein Mitarbeiter des Anbieters/ein
Nachfrager pro Endkombinationsprozess/ein Endkombinationsprozess“ bis hin zu dem Fall
„mehrere Mitarbeiter des Anbieters/mehrere Nachfrager pro Endkombinationsprozess/meh-
rere Endkombinationsprozesse“ durch eine steigende Komplexität der Beziehungen gekenn-
zeichnet sind.
Wird der einfachste Fall der Kundenintegration betrachtet, dann können Interdependenzen
zwischen denjenigen auszuführenden Aktionen bestehen, für die unterschiedliche Akteure
verantwortlich sind oder über deren Ausführung unterschiedliche Akteure entscheiden. Unter
Berücksichtigung der Wahrnehmbarkeit der Aktionenausführung lassen sich dabei die fol-
genden Fälle unterscheiden:
Prozess-Beziehungsmatrizen als Grundlage für die Modularisierung von Dienstleistungen 101

x autonome Ausführung durch den Anbieter (j),


x autonome Ausführung durch den Anbieter, wobei der Nachfrager die Aktivität beobach-
ten kann (j (k)),
x interaktive Ausführung durch Anbieter und Nachfrager (jk),
x autonome Ausführung durch den Nachfrager, wobei der Anbieter die Aktivität beobach-
ten kann ((j) k), und
x autonome Ausführung durch den Nachfrager (k).
Unter der Annahme, dass die Verhaltensinterdependenzen bei großer Unterschiedlichkeit und
mangelnder Beobachtbarkeit eine hohe und bei identischen Akteuren eine geringe Relevanz
aufweisen, gibt Abb. 4 beispielhaft die tendenziellen Wirkungen dieser Akteurskonstellatio-
nen für zwei unterschiedliche Prozesse i und ic in der Form einer Verhaltensabhängigkeits-
matrix wieder.

Akteur in i'
j j (k) jk (j) k k
i

j 0,5 0,8 1,1 1,4 1,7

j (k) 0,8 0,5 0,8 1,1 1,4

jk 1,1 0,8 0,5 0,8 1,1

(j) k 1,4 1,1 0,8 0,5 0,8

k 1,7 1,4 1,1 0,8 0,5


Legende: Abschwächung der Relevanz von Sachinterdependenzen: < 1,0
Verstärkung der Relevanz von Sachinterdependenzen: > 1,0

Abb. 4: Verhaltensabhängigkeitsmatrix (Beispiel)

Sind mehrere Nachfrager k , kc oder mehrere Anbieter j, jc in denselben Endkombinations-


prozess involviert und sind diese nicht immer in derselben Zusammensetzung für Aktionen
oder Entscheidungen verantwortlich, dann sind die in Abb. 4 wiedergegebenen Interdepen-
denzkonstellationen um Konstellationen mit der Beteiligung unterschiedlicher Nachfrager-
gruppen ( kkc ) bzw. Anbietergruppen ( jjc ) und um entsprechende drei- und vierelementige
Konstellationen zu ergänzen.
Verhaltensinterdependenzen können auch zwischen Aktionen unterschiedlicher Leistungser-
stellungsprozesse auftreten, sobald ein Ressourcen- oder ein Erfolgsverbund besteht. Um in
diesem Zusammenhang Interdependenzkonstellationen herauszuarbeiten, sind für jedes rele-
vante Aktionensystem die Entscheidungsträgergruppen der zuvor genannten Fälle aktionen-
systembezogen und -übergreifend zu kombinieren.
Wird die Idee der Beziehungsmatrix auf Dienstleistungen übertragen, dann bilden die Aktio-
nen die Elemente, sodass im Folgenden von einer Prozess-Beziehungsmatrix gesprochen
wird. Die in der Matrix erfassten Werte geben dann für die Aktion in der Zeile die Relevanz
der vier in diesem Beitrag herausgearbeiteten Abhängigkeiten von der Aktion in der Spalte
102 Hans Corsten, Kai-Michael Dresch, Ralf Gössinger

wieder (vgl. Abb. 5). Zusätzlich zu den direkten und indirekten Interdependenzen können
damit unidimensionale Interdependenzen, die sich auf genau eine Abhängigkeitsdimension
zurückführen lassen, und multidimensionale Interdependenzen, die sich aus dem Zusammen-
spiel mehrerer Abhängigkeitsdimensionen ergeben, identifiziert werden.

i'
i 1 2 3 4 5 6 7 8 9
0 0 1 0 1 0
1 0 0 0 1 0 1
0 0 1 2
2 0 0 0 2
0 0 2 0 1 0
3 0 0 0 2 1 0,5
0 0 1 1 0 0
4 0 0 0 1 2 0,5
1 0 2 1 0 0 2 0
5 0 0,5 0 1 0 0 0 2 Struktur einer Zelle
0 0
6 0 0
Ressourcen- Leistungs-
0 0 0 2 abhängigkeit abhängigkeit
7 0 0 1 2
1 0 1 0 0 0
8 2 1 1 1,5 0 0 Erfolgs- Verhaltens-
2 2 0 0 abhängigkeit abhängigkeit
9 0 2 0 0

Abb. 5: Beispiel einer Prozess-Beziehungsmatrix

3.2 Erfüllung des Koordinationsbedarfs


Ein modulares Dienstleistungssystem umfasst mehrere definierte Teilleistungen (Module), die
ein Spektrum von Kombinationsmöglichkeiten, die keine Systemveränderung erfordern (d. h.
die Koordinationskosten der Kombination sind gering), bieten und eine Erbringung unter-
schiedlicher Dienstleistungen ermöglichen [Stauss 2006, S. 324; Jiao et al. 2003, S. 811 f. u.
815; Sanchez 1996, S. 126]. Als Formalziel der Gestaltung modularer Dienstleistungssysteme
wird die Minimierung der entscheidungsrelevanten Kosten angestrebt, wobei der Trade-off
zwischen den Kosten der Koordination und den Opportunitätskosten einer mangelnden Ab-
stimmung der Leistungserstellungsprozesse auszubalancieren ist. Aufgrund der mangelnden
Operationalisierbarkeit dieser Kostenarten werden Anforderungen an die Modulbildung for-
muliert, die auf eine Erfüllung des Formalziels hinwirken sollen. Grundlegend für die Koor-
dination eines modularen Systems sind dabei die folgenden Instrumente [Burr 2005, S. 18]:
x Selbstabstimmung zur Koordination innerhalb eines Moduls und
x Programme zur Koordination zwischen den Modulen (z. B. Regeln, die in der Modulari-
sierungsliteratur auch als standarisierte Schnittstellen bezeichnet werden [Burr 2002,
S. 109; Sanchez 1996, S. 125 f.]).
Auf dieser Basis lassen sich die folgenden Anforderungen an die Modulbildung ableiten
[Göpfert 1998, S. 10 ff.; Parnas 1972, S. 1056 f.; Ulrich/Tung 1991, S. 73]:
x Unabhängigkeit: Ein Modul umfasst mehrere Aktionen, die innerhalb des Moduls in
hohem Maße voneinander abhängig sind und zu Aktionen anderer Module möglichst ge-
ringe Interdependenzen aufweisen [Böhmann 2004, S. 15 ff.].
Prozess-Beziehungsmatrizen als Grundlage für die Modularisierung von Dienstleistungen 103

x Abgeschlossenheit: Informationen über die einzelnen im Modul zusammengefassten Ak-


tionen sind bei der Dienstleistungserstellung nur innerhalb des Moduls verfügbar. Außer-
halb des Moduls liegen aggregierte Informationen vor, die sich auf das gesamte Modul
beziehen (Geheimnisprinzip).
x Transparenz: Die maximale Modulgröße wird von der im Modul verfügbaren Kapazität
zur Verarbeitung aktionenbezogener Informationen determiniert. Determinanten der mi-
nimalen Modulgröße (Granularität) sind die für das modulare System verfügbare Kapazi-
tät zur Verarbeitung modulbezogener Informationen und die Bedingung der Klarheit der
Definition von Teilleistungen [Aier/Schönherr 2004, S. 41].
Zur Erfüllung dieser Anforderungen ist es prinzipiell möglich, auf die in Kapitel 2 beschrie-
benen Verfahren zur Partitionierung und Dekomposition zurückzugreifen. Bei ihrer Anwen-
dung ist jedoch zwei abweichenden Ausgangsbedingungen Rechnung zu tragen: Einerseits
liegt anstelle einer eindimensionalen eine mehrdimensionale Betrachtung der Abhängigkeiten
vor und anderseits werden die Abhängigkeiten nicht binär, sondern mit mehreren kardinal
skalierten Abstufungen gemessen. Es ist deshalb eine Überführung der mehrdimensionalen in
eine aggregierte eindimensionale Prozess-Beziehungsmatrix vorzunehmen2, und es ist ein
Relevanzniveau festzulegen, ab dem eine Abhängigkeit zwischen zwei Aktionen bei der
Modulbildung berücksichtigt werden soll.
Da Sach- und Verhaltensabhängigkeiten auf grundsätzlich verschiedene Ursachen zurückzu-
führen sind, bietet sich eine abgestufte Vorgehensweise zur Aggregation der Prozess-Bezie-
hungsmatrix an:
x Aggregation der Relevanz der Sachabhängigkeiten, d. h. der Ressourcen- (R), Leistungs-
(L) und Erfolgsabhängigkeit (E) zu einer Sachabhängigkeitsrelevanz (S): Mögliche Ag-
gregationsvorschriften sind dabei die gewichtete Summe der Abhängigkeitsrelevanzen
und der Abstand des Relevanzvektors (R, L, E) zum Irrelevanzvektor (0, 0, 0).
x Verknüpfung von Sachabhängigkeitsrelevanz (S) und Verhaltensabhängigkeitsrelevanz
(V) zu einer aggregierten Abhängigkeitsrelevanz (A): Unter der Annahme, dass Verhal-
tensabhängigkeiten einen verstärkenden oder abschwächenden Einfluss auf die Wirkun-
gen von Sachabhängigkeiten haben, kann in einer ersten Annäherung eine multiplikative
Verknüpfung der Relevanzzahlen beider Sachverhalte vorgenommen werden.
Wird beispielhaft im ersten Schritt als Abstandsmaß für Sachabhängigkeiten die Berücksich-
tigung des höchsten Relevanzwertes der drei Dimensionen gewählt und werden Sachabhän-
gigkeits- und Verhaltensrelevanz multiplikativ miteinander verknüpft, dann ergibt sich aus
der in Abb. 5 dargestellten Prozess-Beziehungsmatrix die in Abb. 6 dargestellte aggregierte
Prozess-Beziehungsmatrix.
Durch eine Partitionierung der Prozess-Beziehungsmatrix werden Aktionenblöcke so gebil-
det, dass ein Block möglichst nur diejenigen Elementarprozesse umfasst, zwischen denen
Interdependenzen bestehen, und dass zwischen den Aktionenblöcken möglichst nur einseitige
Abhängigkeiten zu berücksichtigen sind. Damit zielt die Partitionierung vor allem auf die

2
Alternativ ist es auch möglich, die beiden Verfahren so anzupassen, dass unterschiedliche Abhängigkeits-
dimensionen gleichzeitig in disaggregierter Form berücksichtigt werden können.
104 Hans Corsten, Kai-Michael Dresch, Ralf Gössinger

Anforderung der Unabhängigkeit von Modulen ab, trägt aber gleichzeitig zur Erfüllung der
Anforderung der Abgeschlossenheit bei, weil für eine Abstimmung der Abhängigkeiten zwi-
schen den Aktionenblöcken die blockinternen Informationen nicht mehr erforderlich sind.

i'
i 1 2 3 4 5 6 7 8 9

1 0 1 1
2 0 4
3 0 4 0,5
4 0 1 1
5 0,5 2 0 4
6 0
7 0 4
8 2 1,5 0
9 2 0

Abb. 6: Beispiel einer aggregierten Prozess-Beziehungsmatrix

Wird von einem Aktionenblock die maximale Modulgröße überschritten, dann ist es erforder-
lich, durch eine Analyse der blockinternen Struktur aufzudecken, welche Möglichkeiten zur
Dekomposition des Blocks bestehen und welche Möglichkeit vorziehenswürdig ist. Da Aktio-
nenblöcke aufgrund der zwischen Aktionen bestehenden Interdependenzen gebildet werden,
kann eine Aufteilung entweder (1) auf einer Aufhebung der Interdependenzen oder (2) auf
einer Zerschneidung der Interdependenzen und entsprechender Koordination der entstehenden
Schnittstelle beruhen. Im Fall (1) erfolgt eine Modifikation der entsprechenden Aktionen, um
die Ursache der Interdependenz zu beseitigen (z. B. Änderung der Beziehung zwischen Teil-
leistungsbeitrag und Gesamtleistung bei Leistungsverbunden, der Ressourcenzuordnung bei
Ressourcenverbunden, der Einbeziehung in die Preisbildung bei Erfolgsverbunden und der
Zuordnung von Entscheidungsträgern bei Verhaltensinterdependenzen) und damit die ent-
sprechenden Relevanzwerte in der Matrix zu reduzieren. Im Fall (2) wird keine Modifikation
der Aktionen, sondern eine Auftrennung der im Aktionenblock enthaltenen Loops an geeigne-
ten Stellen vorgenommen.
Für Aktionensysteme realer Dienstleistungserstellungsprozesse kann davon ausgegangen
werden, dass die Auftrennung einer einzelnen Beziehung nicht ausreicht, um Aktionenblöcke
zu dekomponieren. Damit ist es erforderlich, die Eignung alternativer Mengen aufzutrennen-
der Beziehungen zu beurteilen, wobei die beiden folgenden Kriterien herangezogen werden
können [Steward 1981b, S. 56]:
x Beseitigung möglichst vieler Loops und
x Generierung eines möglichst geringen zusätzlichen Koordinationsbedarfs.
Während das zuerst genannte Kriterium durch die Anwendung des Partitionierungsalgo-
rithmus auf die Beziehungsmatrizen der Aktionenblöcke erfüllt werden kann, basiert die
Beurteilung der Abhängigkeiten hinsichtlich des zuletzt genannten Kriteriums auf der Kennt-
nis der Ursachen für diese Abhängigkeiten. Das heißt, es wird auf das Wissen des Gestalters
Prozess-Beziehungsmatrizen als Grundlage für die Modularisierung von Dienstleistungen 105

von Aktionensystemen zurückgegriffen, der die aus der Auftrennung resultierende Koordina-
tionshäufigkeit, die Wahrscheinlichkeit und die Auswirkungen einer unzureichenden Koordi-
nation und daraus den Koordinationsbedarf zu beurteilen vermag.
Zur Unterstützung der Entscheidungsfindung des Gestalters können die in der Prozess-
Beziehungsmatrix enthaltenen Werte zu einer System-Grid-Darstellung aggregiert werden,
aus der sich Hinweise auf die Reihenfolge einer Analyse des Potenzials von Aktionen zur
Dekomposition großer Aktionenblöcke ableiten lassen. Hierzu sind für einen großen Aktio-
nenblock jeweils die Zeilen- und Spaltensummen zu bilden und diese für die einzelnen Aktio-
nen in ein Diagramm zu übertragen. Die horizontale Dimension erfasst dann das Ausmaß, mit
dem eine Aktion von anderen Aktionen beeinflusst wird, und die vertikale Dimension das
Ausmaß, mit dem eine Aktion die anderen Aktionen beeinflusst. Die horizontale und die
vertikale gestrichelte Linie kennzeichnen dann den Durchschnittswert für die betrachteten
Aktionen. Abb. 7 gibt diese Vorgehensweise beispielhaft für den Block 1,3,8,5 wieder.

beein-
flussend

10

i'
i 1 3 8 5
1 0 1 1,0 5
8
3 0 0,5 0,5
3
8 2 1,5 0 3,5 1

5 0,5 2 4 0 6,5 5
beein-
flusst
2,5 3,5 4,5 1,0 0 5 10

Abb. 7: System-Grid für einen Aktionenblock

Für den Aktionenblock zeigt sich im Beispiel, dass Aktion 8 aufgrund ihrer hohen Werte in
beiden Dimensionen die höchste Relevanz für die Koordination in einem modularen System
aufweist, während die Aktionen 3 und 5 eine mittlere Relevanz und Aktion 1 die niedrigste
Relevanz besitzen. Des Weiteren ist festzustellen, dass die Aktionen 8 und 5 von keiner Akti-
on und die Aktionen 1 und 3 von Aktion 8 dominiert werden. Es bietet sich damit an, die
Aktionen in der Reihenfolge 1, 3, 5, 8 in die Dekomposition einzubeziehen.
Für komplexere Problemstellungen bietet sich bei der Dekomposition eine zweistufige Vorge-
hensweise an, in der zunächst auf der Grundlage des algorithmischen Verfahrens eine Vor-
auswahl aufzutrennender Abhängigkeiten getroffen wird, die das erste Kriterium erfüllen, um
dann in einem zweiten Schritt auf der Grundlage der Sachkenntnis des Gestalters daraus die
Abhängigkeitsmenge auszuwählen, die das zweite Kriterium erfüllt.
Gehen aus der Partitionierung und Dekomposition der Prozess-Beziehungsmatrix zu kleine
Aktionenblöcke hervor, dann erfolgt eine Zusammenführung kleiner Aktionenblöcke unter
Berücksichtigung der durch das Transparenzprinzip vorgegebenen maximalen und minimalen
Anzahl von Aktionen pro Modul. Um den Koordinationsbedarf des modularen Systems mög-
106 Hans Corsten, Kai-Michael Dresch, Ralf Gössinger

lichst gering zu halten, sind zuerst diejenigen kleinen Aktionenblöcke zusammenzufassen,


deren Schnittstelle andernfalls koordiniert werden müsste.
Die beschriebene Vorgehensweise geht jedoch i. d. R. nicht mit einer vollständigen Aufhe-
bung der zwischen den Modulen bestehenden Interdependenzen einher. Vielmehr sind modu-
lare Aktionensysteme lose gekoppelte Systeme [Orton/Weick 1990, S. 204 f. u. S. 208 ff.],
sodass eine Koordination der Schnittstellen zwischen den Modulen notwendig wird (z. B. in
Bezug auf den Transfer von Objekten zwischen Modulen oder auf konkurrierende Ressour-
cenzugriffe der beiden Module [Sanchez 1999, S. 93]). Diese kann in der Form von modul-
spezifischen Regeln [Burr 2002, S. 109; Sanchez 1996, S. 125 f.] erfolgen, die sich auf Input,
Throughput und Output beziehen und damit die Qualität und Quantität von Objekten oder die
Freiheitsgrade der Aktionenausführung innerhalb des Moduls restringieren. Schnittstellenko-
ordinationsregeln definieren dann die zulässigen Wertebereiche der einzelnen Dimensionen.

4 Abschließende Bemerkungen
Im vorliegenden Beitrag wurde gezeigt, dass die Idee der Design Structure Matrix auf das
Problem der Modularisierung von Dienstleistungserstellungsprozessen grundsätzlich über-
tragbar ist. Anstelle der Beziehungen zwischen physischen Produktkomponenten sind dabei
die Beziehungen zwischen Teilprozessen (Aktionen) der Dienstleistungserstellung zu analy-
sieren, die aus koordinationsorientierter Perspektive Sach- und Verhaltensinterdependenzen
induzieren können. Die Besonderheiten der kundenintegrativen Leistungserstellung kommen
vor allem in den Verhaltensinterdependenzen zum Tragen: (1) Bei der Zusammenarbeit von
Kunden und Mitarbeitern des Dienstleistungsanbieters bestehen häufig stärkere Informati-
onsasymmetrien und Zielkonflikte als zwischen zusammenarbeitenden Mitarbeitern. (2) Der
Dienstleistungsanbieter kann aufgrund der Autonomie des Kunden nicht das gesamte Spekt-
rum von Instrumenten zur unternehmungsinternen Koordination anwenden.
Ziel der im Beitrag für die Modularisierung vorgeschlagenen Vorgehensweise ist es deshalb,
den Koordinationsbedarf bei der Ausführung des Dienstleistungsprozesses durch Modulbil-
dung zu minimieren und den verbleibenden Koordinationsbedarf durch die Anwendung von
Regeln zu handhaben. Als informatorische Basis zur Bildung von Dienstleistungsmodulen
wurde die Prozess-Beziehungsmatrix vorgestellt, mit deren Hilfe die Sach- und Verhaltensin-
terdependenzen von Dienstleistungserstellungsprozessen in systematischer Weise identifiziert
werden können und analysiert werden kann, wie Aktionen vorteilhaft zu Modulen zusammen-
zufassen sind. Zur Modulbildung wurde dann eine zweistufige Vorgehensweise vorgeschla-
gen, bei der zunächst auf eine aggregierte Prozess-Beziehungsmatrix algorithmische Verfah-
ren angewendet werden, die eine Vorauswahl von Modularisierungsmöglichkeiten treffen.
Darauf aufbauend kann vom Gestalter des modularen Systems mit Hilfe einer System-grid-
Analyse und einer detaillierten Prozess-Beziehungsmatrix die abschließende Auswahlent-
scheidung getroffen werden.
Weitere Forschungsaktivitäten der Autoren setzen an folgenden Aspekten der Erfüllung des
nach der Modulbildung verbleibenden Koordinationsbedarfs an:
x Wird davon ausgegangen, dass unterschiedliche Integrationsintensitäten mit unterschied-
lichen Koordinationsproblemen einhergehen, dann ist es erforderlich, die Bestimmungs-
Prozess-Beziehungsmatrizen als Grundlage für die Modularisierung von Dienstleistungen 107

faktoren der Integrationsintensität (z. B. Wissensasymmetrien zwischen Nachfrager und


Anbieter) zu identifizieren und die Koordinationsprobleme in Abhängigkeit von der In-
tegrationsintensität zu analysieren.
x Es ist zu prüfen, ob außer Regeln auch andere hierarchische/heterarchische Koordinati-
onsmechanismen sowie Kombinationen beider Formen angewendet werden können.
x Bei der Auswahl der Koordinationsform ist der Autonomie des Nachfragers Rechnung zu
tragen, d. h. einerseits darf die Entscheidungsfreiheit des Nachfragers nicht übermäßig
eingeschränkt werden und anderseits muss die aus dieser Entscheidungsfreiheit resultie-
rende Unsicherheit über den Dienstleistungserstellungsprozess für den Anbieter handhab-
bar sein. Bedingt durch die Dominanz der personellen Komponente bei einer Aktionen-
ausführung mit Nachfragerbeteiligung kann dabei auf Überlegungen zu betrieblichen
Anreizsystemen zurückgegriffen werden, wobei aufgrund der Heterogenität der Nachfra-
gerteilprozesse eine flexible Ausgestaltung des Anreizsystems angezeigt erscheint, wie
sie dem Cafeteria-Ansatz zugrunde liegt.
x Neben dem Koordinationsbedarf zwischen den Modulen besteht zusätzlich ein Koordina-
tionsbedarf an den Schnittstellen zwischen dem modularen Dienstleistungssystem und
seiner Umwelt. Insbesondere die kundenbezogene Schnittstelle ist einer näheren Analyse
zu unterziehen.

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Ralf Gössinger, Florian Lehner

1 Grundlegungen
Als Produktionsanlauf wird die Phase im Prozess der Umsetzung von Innovationen bezeich-
net, in der der Übergang von Entwicklungsaktivitäten zu Produktionsaktivitäten erfolgt
[Pfohl/Gareis 2000, S. 1191]. Dabei werden Änderungen am Produktionssystem vorgenom-
men, um das Zusammenspiel zwischen Produkt, Anlagen, Werkzeugen und Personal so auf-
einander abzustimmen, dass eine reguläre Serienproduktion aufgenommen werden kann.
Produktionsanlaufprozesse werden aus der Produktperspektive in die Phasen Vorserie (Pro-
duktion von Prototypen unter seriennahen Bedingungen), Nullserie (Produktion von Prototy-
pen unter Serienbedingungen) und Hochlauf (Produktion des ersten kundenfähigen Produktes
mit den für die Serienproduktion vorgesehenen Ressourcen und sukzessive Erhöhung der
Produktionsmenge) unterteilt [Wangenheim 1998, S. 24 ff.]. Mit Produktionsanlaufprojekten
wird das Sachziel verfolgt, den Reifegrad eines aus einem Entwicklungsprozess hervorgegan-
genen Produktionssystems an einen Soll-Reifegrad anzugleichen [Wildemann 2005, S. 53].
Der Reifegrad ist dabei ein Maß für den Umfang, in dem das Produktionssystem den Anfor-
derungen an eine geeignete Leistung zu entsprechen vermag. Als Formalziele werden häufig
die Minimierung der time to market oder der time to volume bei Einhaltung eines direkt auf
die Projektaktivitäten bezogenen Kostenbudgets angestrebt [Terwiesch et al. 2001, S. 436 f.].
Kundenintegration als die Einbeziehung von Individuen in betriebliche Prozesse, aus denen
Leistungen hervorgehen, die Beiträge zur Lösung von Problemen dieser Individuen zu erbrin-
gen vermögen, wird in der Literatur intensiv im Dienstleistungsmanagement [Überblick:
Stuhlmann 1999, S. 30 ff.] und im Innovationsmanagement [Überblick: Brockhoff 1998,
S. 8 ff.] diskutiert. Trotz der Unterschiedlichkeit besteht in beiden Bereichen die Kernaussage,
dass für den Anbieter die folgende Ambivalenz der Wirkungen der Kundenintegration vor-
liegt: Der Unsicherheitsreduktion hinsichtlich der Kundenbedürfnisse steht aufgrund der
eingeschränkt autonomen Disponierbarkeit der Kundenhandlungen durch den Anbieter ten-
denziell eine Unsicherheitserhöhung im Hinblick auf den Ablauf des integrativen Prozesses
gegenüber.
Die Ambivalenz lässt sich letztlich auf die zwischen Kunden und Anbieter bestehende Infor-
mationsasymmetrie zurückführen, wobei im Produktionsanlauf die folgende Unterscheidung
vorgenommen werden kann: (1) Produktbezogen bestehen beim Anbieter (Kunden) Informa-
tionsdefizite über die Kundenbedürfnisse (die Fähigkeit des Anbieters, Produkte hervorzu-
bringen). (2) Integrationsprozessbezogen liegen Informationsdefizite beim Anbieter (Kunden)
hinsichtlich des Kundenverhaltens und der -fähigkeiten (des Ablaufes, der Integrationsmög-
lichkeiten und der erforderlichen Fähigkeiten) vor.
110 Ralf Gössinger, Florian Lehner

Eine Möglichkeit, die durch diese Informationsasymmetrie induzierte Unsicherheit zu hand-


haben, besteht in dem Aufbau und der Nutzung von Flexibilität. Da Anlaufprojekte gleichzei-
tig durch ein hohes Maß an Unsicherheit und durch eine hohe Flexibilität gekennzeichnet
sind, ist es möglich, die dem Anlaufprojekt inhärente Flexibilität zu nutzen, um negative
Wirkungen der Unsicherheit zu kompensieren [Thomke 1997, S. 110 ff.]. Als Koordinations-
konzepte, die diesen Anforderungen in spezifischen Informationssituationen Rechnung tra-
gen, sind die Flexible Planung [Hax/Laux 1972, S. 318 ff.] und die Opportunistische Koordi-
nierung [Fox/Kempf 1985, S. 487 ff.] zu nennen. Beide Ansätze sind jedoch nicht
problemspezifisch formuliert. Um sie auf Produktionsanlaufprojekte anwenden zu können, ist
eine Konkretisierung der Flexibilitätsaspekte vorzunehmen.
Ziel des vorliegenden Beitrages ist es deshalb, in differenzierter Weise zu analysieren, mit
welchen flexibilitätsrelevanten Auswirkungen die Integration von Kunden in Produktionsan-
laufprojekte einhergeht. Hierfür ist zunächst zu klären, welche Flexibilitätsarten für die Koor-
dination des Produktionsanlaufes relevant sind (Abschnitt 2.1) und wodurch die Höhe der
Flexibilität bestimmt wird (Abschnitt 2.2). Auf dieser Basis werden dann die Konsequenzen
der Kundenintegration für die Flexibilität von Produktionsanlaufprojekten herausgearbeitet
(Abschnitt 3). Ein kurzer Überblick über weiterführende Forschungsaktivitäten der Autoren
bildet den Abschluss des Beitrages.

2 Flexibilität von Produktionsanlaufprojekten


2.1 Flexibilitätsarten
Flexibilität bezeichnet die Eignung eines Systems, unter wechselnden Bedingungen vorgege-
bene Ziele zu erreichen (Mittelflexibilität). Für die Koordination eines Produktionsanlaufpro-
jektes sind zwei Flexibilitätsarten relevant, die sich wechselseitig restringieren [Jacob 1974,
S. 322 f.]: (1) die Bestandsflexibilität des Anlaufprojekts als Fähigkeit, sich im Rahmen der
gegebenen Projektkapazität in qualitativer und quantitativer Hinsicht an Veränderungen an-
zupassen (Maßnahmenkatalog z. B. [Gössinger/Lehner 2008, S. 11]), und (2) die Entwick-
lungsflexibilität des Anlaufobjekts als Fähigkeit, die quantitative und qualitative Kapazität des
Produktionssystems an Veränderungen anzupassen.
Ein Instrument zur Erfassung und Beurteilung der Entwicklungsflexibilität des Anlaufobjektes
sind die sogenannten Anlaufkurven, mit denen die Entwicklung des Reifegrades eines Produk-
tionssystems in Abhängigkeit vom Ausführungsstand des Projekts dargestellt wird [Risse
2003, S. 186 ff.]. Bei realen Problemstellungen wird die Reifegradentwicklung häufig in
Abhängigkeit von der Projektdauer erfasst, wobei häufig ein rein degressiver, seltener ein
sigmoider Verlauf festzustellen ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Störungen des An-
laufobjekts nicht gleichmäßig über die Projektlaufzeit verteilt sind, sondern mit zunehmen-
dem Projektfortschritt bei positivem Projektverlauf die durchschnittliche Störungsdauer kür-
zer wird, die Störungshäufigkeit sinkt bzw. die Dauer zwischen dem Eintritt zweier Störungen
steigt und die Dauer zwischen der Umsetzung einer Änderungsmaßnahme und dem Eintritt
änderungsbedingter Störungen kürzer wird [Terwiesch et al. 2001, S. 442 ff.].
Kundenintegration im Produktionsanlauf 111

2.2 Flexibilitätsdeterminanten
Als wesentliche Determinanten der Flexibilität werden in der Literatur das Vorhandensein
von ökonomisch akzeptablen Handlungsalternativen, die für die Planung und Durchführung
von Handlungen und für das Eintreten von Wirkungen der Handlungen erforderliche Zeit
sowie die bei der Wahl von Handlungsalternativen und Entscheidungszeitpunkten zugrunde
liegenden Kriterien genannt [Maier 1982, S. 186 ff.; Mahlmann 1976, S. 172 ff.; Rosenhead
et al. 1972, S. 418 f.]. Für eine flexibilitätsorientierte Koordination von Anlaufprojekten ist es
erforderlich, diese Determinanten problemspezifisch zu konkretisieren und aufzuzeigen, wie
sie im Koordinationsprozess berücksichtigt werden können.
Eine wesentliche Grundlage für ein flexibilitätsorientiertes Projektmanagement bilden Infor-
mationen über den Handlungsrahmen des Projektablaufs, der durch technologische und
marktliche Restriktionen abgesteckt wird. Technologische Restriktionen sind vor allem durch
die kapazitative Ausstattung des Projekts und die durch die technische Auslegung des anlau-
fenden Produktionssystems festgelegte Anpassbarkeit, die sich in den möglichen Teilprozes-
sen zur Transformation des Anlaufobjekts und den Beziehungen zwischen den Teilprozessen
zeigt, gegeben. Der zu erreichende Soll-Reifegrad, das durch den für den Soll-Reifegrad
festgelegten Termin vorgegebene Zeitbudget sowie die zur Projektausführung verfügbaren
finanziellen Mittel (Kostenbudget) sind relevante marktliche Restriktionen. Zur Erfassung des
Handlungsrahmens kann auf die Netzplantechnik zurückgegriffen werden, die eine integrative
Termin-, Kapazitäts-, Kosten- und Finanzplanung ermöglicht. Ein geeigneter Netzplantyp, der
den Ablaufbesonderheiten von Anlaufprojekten Rechnung zu tragen vermag, ist in der
Graphical Evaluation and Review Technique (GERT) [Pritsker/Happ 1966, S. 267 ff.] zu
sehen [Erweiterungen: Gössinger/Lehner 2008, S. 16 ff.].
Die Reaktionsschnelligkeit eines Systems wird durch die Dauer der Teilprozesse bestimmt,
die ab dem Eintritt einer Störung bis zum Wirksamwerden der entsprechenden Maßnahme
veranlasst werden, um das System an die geänderten Bedingungen anzupassen [Reichwald/
Behrbohm 1983, S. 838 ff.]. Grob kann dabei zwischen den Teilprozessen Störungserkennung
und Anpassungsentscheidung unterschieden werden, die durch eine Beobachtungsdauer und
eine Entscheidungsdauer gekennzeichnet sind.
Die Beobachtungsdauer wird durch die Geschwindigkeit determiniert, mit der aus Änderun-
gen der Daten des Produktionssystems und seiner Umwelt Signale generiert werden, die den
Anpassungsentscheidungsprozess auslösen. Zusätzlich zu den inhaltlichen und technischen
Fragen der Datenerhebung ist festzulegen, ab welchem Ausmaß von Abweichungen der
Messwerte von erwarteten Werten signalisiert wird, dass das Auslösen von Anpassungsmaß-
nahmen erforderlich ist. Je sensibler aus Abweichungen Signale generiert werden, umso eher
kann auf Änderungen reagiert werden, aber umso öfter wird auch auf Abweichungen reagiert,
die rein stochastischen Charakter besitzen [Nutzen- und Kostenkomponenten: Gössinger/Leh-
ner 2008, S. 21].
Da sich Störungen über Wirkungsketten entfalten, ist es möglich, nach dem Erkennen von
Primärstörungen Sekundärstörungen zu prognostizieren. Für Sekundärstörungen, deren Er-
wartungswert ein vorgegebenes Niveau übersteigt, können dann bereits vor ihrem Eintritt
Anpassungsentscheidungsprozesse gestartet werden. Durch den Zeitgewinn lassen sich quali-
tativ höherwertige Entscheidungsergebnisse hervorbringen, und es ergibt sich ein zusätzlicher
112 Ralf Gössinger, Florian Lehner

Handlungsspielraum im Hinblick auf die Wahl des Entscheidungszeitpunktes, wenn die Ent-
scheidungsdauer kürzer ist als der Zeitraum zwischen Prognosezeitpunkt und erwartetem
Störungseintrittszeitpunkt [Reichwald/Behrbohm 1983, S. 839 u. 845].
Wird Informationsverarbeitung als Produktionsprozess aufgefasst, dann können die Möglich-
keiten zur Verkürzung der Entscheidungsdauer auf der Grundlage der Input-Throughput-
Output-Struktur produktionswirtschaftlicher Modelle aufgezeigt werden. Den Input bilden
drei Klassen von Produktionsfaktoren [Müller 1973, S. 285 ff.]: Input-Informationen (Symbo-
le, mit deren Hilfe die Aspekte und Zusammenhänge der erkannten Umwelt in einem Modell
erfasst werden), Träger der Informationsverarbeitung (TIV), d. h. Personen und Apparate,
sowie sonstige Sachgüter (z. B. Informationsträger, Energie). Grundsätzliche inputseitige
Möglichkeiten zur Entscheidungsdauerverkürzung bestehen einerseits in der Erhöhung der
Informationsverarbeitungskapazität der TIV durch [Bode 1993, S. 153 ff.; Schneider/Otto
2006, S. 64 f.]
x zeitliche, intensitätsmäßige und quantitative Anpassung der menschlichen und maschi-
nellen dispositiven Arbeitsleistung,
x quantitative Anpassung der menschlichen dispositiven Arbeitsleistung mit dem Ziel eines
problemadäquaten Einsatzes von Mitarbeitern unterschiedlicher Qualifikationsgrade,
x Anpassung des Einsatzverhältnisses von menschlicher und maschineller dispositiver Ar-
beitsleistung im Rahmen der gegebenen Substitutionsmöglichkeiten, z. B. durch Automa-
tisierung von Routineaufgaben im Rahmen der Planung, wie etwa Plausibilitätsprüfungen,
und
x Koordination des Zusammenwirkens mehrerer TIV, die zeitlich überlappend an der Lö-
sung interdependenter Teilprobleme arbeiten.
Andererseits lässt sich die Entscheidungsdauer durch eine Verbesserung der Informationssi-
tuation verkürzen, indem die Quantität und/oder die Qualität der Inputinformationen erhöht
wird [Bode 1993, S. 158 f.].
Output sind dann Symbole, die in einer für TIV wahrnehmbaren Form abgegeben werden, um
die erkannte Umwelt gemäß der vom TIV verfolgten Zielsetzungen zu verändern. Die Sym-
bole repräsentieren Bedeutungsinhalte von Informationen, die für den TIV entweder aus
verfügbaren Informationen abgeleitete Neuigkeiten oder Kopien verfügbarer Informationen
darstellen [Müller 1973, S. 289 ff.]. Zur Beschleunigung von Entscheidungsprozessen ist es
grundsätzlich möglich, die Ansprüche an die Quantität (Aggregationsniveau der Information)
und die Qualität (Exaktheit der gefundenen Lösung) des Output und damit den Schwierig-
keitsgrad der Informationsverarbeitungsaufgabe anzupassen [Bode 1993, S. 155 f.].
Der Throughput besteht in Abhängigkeit von der Problemkomplexität und Neuartigkeit des
Problems in der vom TIV ausgeführten Suche nach bzw. Erkennung von Verbindungen zwi-
schen Problem und Lösung (direkte Assoziation), Problem und Lösungsverfahren (Routine-
Assoziation) oder Problem und Lösungsstrategie (komplexe Assoziation) [Müller 1973,
S. 124 ff.]. Damit wird deutlich, dass die Entscheidungsdauer von den Erfahrungen abhängig
ist, auf die der TIV im Hinblick auf häufige Problemsituationen, Standardlösungsverfahren
und generelle Vorgehensweisen zurückgreifen kann. Je besser ein TIV über häufiger auftre-
tende Problemsituationen von Anlaufprojekten und die zu deren Behebung praktizierten
Kundenintegration im Produktionsanlauf 113

Lösungen informiert ist, umso öfter können Maßnahmen auf der Grundlage der direkten
Assoziation eingeleitet werden. Aus diesem Grunde bietet es sich bei wiederholt durchgeführ-
ten Anlaufprojekten an, auf dieselben TIV zurückzugreifen oder deren Wissen zu explizieren
und in Datenbanken und Wissensbasen [Schneider/Otto 2006, S. 64] anderen, in nachfolgen-
den Anlaufprojekten agierenden TIV zur Verfügung zu stellen. Im Hinblick auf Standardlö-
sungsverfahren erscheinen Umplanungskonzepte als relevant, mit denen versucht wird, durch
Modifikation von störungsbeeinträchtigten Teilen eines ungültig gewordenen Plans die ihm
zugrunde liegenden Ziele trotz Störung zu erreichen. Durch diese Vorgehensweise wird eine
kürzere Informationsverarbeitungsdauer als bei einer Neuplanung erreicht, gleichzeitig aber
der Optimalitätsanspruch reduziert.
Die Anwendung flexibilitätsorientierter Entscheidungskalküle zur Koordination von Produk-
tionsanläufen impliziert zwei wesentliche Probleme: Festlegung des flexibelsten Entschei-
dungszeitpunktes und Auswahl der flexibelsten Handlungsalternative. Bei der Festlegung des
Zeitpunktes einer Entscheidung besteht ein Spielraum, wenn der Zeitpunkt, an dem das Erfor-
dernis der Entscheidung bekannt wird, dem Zeitpunkt vorgelagert ist, an dem die Differenz
aus Nutzen und Kosten einer weiteren Entscheidungsverzögerung maximal ist. Damit ist es
notwendig, die mit der Entscheidungsverzögerung einhergehenden Kostenwirkungen (Ein-
schränkung von Handlungsspielräumen) und Nutzenwirkungen (Verbesserung der Entschei-
dungsqualität durch zusätzliche Information) zu analysieren [Mössner 1982, S. 361 ff.]. Un-
abhängig von Kosten- und Nutzenaspekten lässt sich jedoch eine Entscheidungsverzögerung
ermitteln, die nicht mit negativen Wirkungen auf zukünftige Entscheidungsspielräume ein-
hergeht [Zelewski 1998, S. 240 ff.]. Hierfür sind die folgenden Zeitpunkte relevant [Corsten
et al. 2001, S. 316 f.]:
x Zeitpunkt T 1 , zu dem bekannt wird, dass eine Entscheidung über den Projektablauf zu
treffen ist;
x Zeitpunkte Tm2 , zu denen es frühestens möglich ist, die einzelnen Handlungsalternativen
m zu realisieren;
x Zeitpunkt T 3 , bis zu dem aus ökonomischen Gründen spätestens die Entscheidung über
den weiteren Projektablauf zu treffen ist ( T 3 t T 1 ).
Da die Handlungsalternativen durch eine Verzögerung der Auswahlentscheidung bis zu ihrem
frühesten Realisationszeitpunkt nicht beeinflusst werden, gleichzeitig aber zusätzliche Infor-
mationen eintreffen können, ist es rational, den Entscheidungszeitpunkt t in folgender Weise
zu bestimmen:

t min min Tm2 ; T 3 mit T 1 d t d T 3 .


m

Eine radikale Umsetzung dieser Überlegung geht mit einer ausschließlich sukzessiven, pro-
jektbegleitenden Koordination einher, bei der kurz vor dem Projektstart lediglich der erste
Projektschritt festgelegt wird. Dies ist dann ökonomisch gerechtfertigt, wenn die Koordina-
tion auf der Grundlage einer Informationsbasis erfolgen muss, bei der für einen Großteil der
Teilprozesse die möglichen Startzustände und/oder die möglichen Handlungsalternativen
nicht vollständig bekannt sind.
114 Ralf Gössinger, Florian Lehner

Die Auswahl der flexibelsten Alternative erfordert eine Flexibilitätsmessung, wobei für Pro-
duktionsanläufe aufgrund der hohen Unsicherheit Indikatormessungen als geeignet erschei-
nen, mit denen versucht wird, aus den Eigenschaften einer Handlungsalternative ohne Bezug
zu einem konkreten Flexibilitätsbedarf auf der Grundlage von Plausibilitätsüberlegungen
tendenzielle Aussagen über deren Flexibilitätswirkungen abzuleiten. Da dabei nicht darauf
abgezielt wird, die ökonomischen Wirkungen der Auswahl einer Handlungsalternative zu
erfassen, stellen die Indikatoren lediglich Ersatzgrößen mit heuristischer Aussagekraft dar
[Schlüchtermann 1996, S. 122 f.], die nur in Kombination mit monetären Zielgrößen zur
Anwendung gelangen sollten [Mandelbaum/Buzacott 1990, S. 18 ff.].
Um die Flexibilität auf dieser Grundlage möglichst umfassend beurteilen zu können, bietet
sich eine Orientierung an den Leistungsdimensionen Potenzial, Prozess und Ergebnis an. Zur
potenzialorientierten Flexibilitätsmessung kann die durch die Wahl einer Handlungsalternati-
ve i im Planungszeitraum eintretende Veränderung der Kapazitätsauslastung als Indikator
herangezogen werden, weil die Kapazität den Handlungsrahmen als harte Restriktion deter-
miniert, so dass mit zunehmender Kapazitätsauslastung die Handlungsspielräume reduziert
werden [Corsten et al. 2001, S. 319 ff.]. Da die Reihenfolgebeziehungen zwischen den Teil-
prozessen eines Anlaufprojekts eine weitere Gruppe harter Restriktionen bilden, die den
Handlungsrahmen determinieren, stellen die Auswirkungen der Wahl einer Handlungsalterna-
tive auf die alternativ realisierbaren Folgeprozesse den Ansatzpunkt zur prozessorientierten
Flexibilitätsmessung dar. Ein möglicher Indikator ist dabei der Quotient aus der Anzahl der
nach der Wahl der Handlungsalternative i im Planungshorizont verbleibenden Möglichkeiten
des Projektablaufs und der zum Entscheidungszeitpunkt bestehenden Möglichkeiten.
Im Gegensatz zur potenzial- und prozessorientierten Flexibilitätsmessung müssen bei einer
ergebnisorientierten Flexibilitätsmessung aufgrund des Sachzielbezugs Besonderheiten des
Anlaufprojekts zum Tragen kommen. Wird etwa von dem Ziel „Erreichen des Soll-
Reifegrades zu einem definierten Zeitpunkt“ ausgegangen, dann tragen Maßnahmen, die die
Reifegradentwicklung beschleunigen, dazu bei, dass für die anderen geplanten Maßnahmen
ein zusätzlicher zeitlicher Puffer besteht, der den Handlungsrahmen erweitert. Damit kann ein
ergebnisorientierter Flexibilitätsindikator in folgender Weise formuliert werden:
­ 'T ½ 'Ti = Durch die Wahl von i bewirkte Veränderung des Zeit-
) iErgebnis max ®0; i ¾ punkts der Soll-Reifegrad-Erreichung (positiver Wert ˆ
¯ T ¿
früherer Zeitpunkt, negativer Wert ˆ späterer Zeitpunkt)
T = Zum Entscheidungszeitpunkt erwarteter Zeitpunkt der
Soll-Reifegrad-Erreichung
Sind im Verlaufe eines Projekts Entscheidungen über Maßnahmen zu treffen, die Abwei-
chungen vom erwarteten Projektverlauf darstellen, dann ist es erforderlich, deren Konsequen-
zen für die Reifegradentwicklung zu antizipieren. Dabei sind die Dauer di vom Ergreifen bis
zum Wirksamwerden der Maßnahme i und die durch sie bewirkte Reifegradänderung 'Ri
abzuschätzen. Während der erwartete Zeitpunkt T der Erreichung des Soll-Reifegrades R Soll
direkt aus der geplanten Anlaufkurve (ohne Maßnahmendurchführung) bestimmt werden
kann, ist bei der Bestimmung des Zeitpunktes Ti bei der Durchführung der Maßnahme zu
berücksichtigen, dass sich die Reifegradentwicklung bis zum Wirksamwerden der Maßnahme
planmäßig fortsetzt ( Rt  di ) und mit dem Wirksamwerden der Maßnahme ein Wechsel auf
Kundenintegration im Produktionsanlauf 115

eine neue Anlaufkurve erfolgt, die ein höheres Niveau und einen veränderten Reifegrad-
anstieg aufweist (vgl. Abb. 1). Wird für die Anlaufkurve eine Törnquist-Funktion zugrunde
gelegt, dann gilt:
'Ti T  Ti b = Anlaufexponent
Rt  Rt  di  'Ri c = Einfluss des zum Projektstart vorliegenden Reifegrades
'Ti b˜c˜  di
R Soll
R

Reife-
grad

R
RSoll
Ri erwartete Reifegradentwicklung
mit Maßnahme i
Rt+di
erwartete Reifegradentwicklung
ohne Maßnahme i

Rt
Zeit
di Ti
t Ti T
Abb. 1: Ergebnisorientierte Flexibilitätsmessung auf der Grundlage von Anlaufkurven

3 Flexibilitätswirkungen der Kundenintegration


3.1 Flexibilitätsbedarf
Wird Flexibilität als ein Mittel zur Zielerreichung unter Unsicherheit angesehen, dann ist der
Flexibilitätsbedarf vom Grad der Unsicherheit und vom Anspruchsniveau der zu erreichenden
Ziele abhängig. Ziel der Kundenintegration ist es, frühzeitig Informationen über Kundenbe-
dürfnisse durch Interaktion mit ausgewählten Kunden zu gewinnen und bei der Gestaltung des
Produktes zu berücksichtigen, um den Innovationserfolg zu erhöhen [Lüthje 2000, S. 100 ff.;
Walther 2004, S. 76 ff.]. Bei der Entscheidung, ob und in welchem Ausmaß Kunden einbezo-
gen werden sollen, sind die positiven und negativen Wirkungen der Kundenintegration auf
den Erfolg einer Innovation möglichst umfassend abzuwägen [Kirchmann 1996, S. 443 f.].
Von den in der Literatur häufig genannten Wirkungen [Bartl 2006, S. 103 ff.] haben aus
empirischer Sicht (1) die Verringerung der Wahrscheinlichkeit, dass die entwickelten Produk-
te nicht den Anforderungen der Kunden entsprechen, und (2) die Störungen des Innovations-
prozessverlaufs durch Fehler des Kunden, die etwa auf mangelnde Kenntnisse über die Fol-
gen einer von ihm initiierten Maßnahme, seinen Aktionsraum im Entwicklungsprozess und
den zeitlichen Ablauf von Produktionsanlaufprojekten zurückzuführen sind, einen starken
Einfluss auf die Integrationsentscheidung [Lüthje 2000, S. 123]. Diese entgegengesetzten
Wirkungen sind in den einzelnen Innovationsphasen unterschiedlich stark ausgeprägt. Insbe-
sondere in Phasen, bei denen die technische Umsetzung von Produktideen und die Entwick-
lung geeigneter Produktionsverfahren im Vordergrund stehen, können die positiven durch die
116 Ralf Gössinger, Florian Lehner

negativen Wirkungen überkompensiert werden1. Hingegen erscheint eine Kundenintegration


in der frühen Phase der Entwicklung von Ideen und Produktkonzepten und in der späten
Phase des Produktionsanlaufes (inklusive Prototypenentwicklung und Markteinführung) als
tendenziell vorteilhaft.
Für Produktionsanlaufprojekte ist abzuwägen, ob für eine mit der Kundenintegration mögli-
che Reduktion der Marktunsicherheit eine Erhöhung der Unsicherheit über den Projektverlauf
in Kauf genommen werden kann. Diese Substitution zwischen Unsicherheitsarten ist aus
ökonomischer Perspektive dann vorteilhaft, wenn sich die Auswirkungen der Unsicherheit
und die jeweiligen Möglichkeiten zur Unsicherheitshandhabung (z. B. Prognose der Kunden-
bedürfnisse, flexible Koordination kundenintegrativer Produktentwicklungsprozesse) in ihren
Kosten unterscheiden. Da die unsicherheitsbedingten Kosten umso niedriger sind, je größer
die Flexibilität des Anlaufprojektes ist, wird mit dem Anstreben einer vorteilhaften Kundenin-
tegration ein Flexibilitätsbedarf induziert, der maßgeblich vom Bestehen eines produkt-,
kunden- und unternehmungsseitigen Integrationspotenzials beeinflusst wird.
Das erforderliche produktseitige Integrationspotenzial lässt sich aus der Funktion des Produk-
tionsanlaufs als Übergang zwischen Produktentwicklung und regulärer Produktion ableiten.
Aus der Perspektive der Produktentwicklung liegt eine Spätphase vor, in der die Freiheitsgra-
de der Gestaltung am geringsten sind. Wenn jedoch die Kundenintegration in den Produkti-
onsanlauf über das Testen von Prototypen hinausgehen soll, dürfen diese Freiheitsgrade nicht
marginal sein, sondern müssen grundsätzliche Änderungen am Produkt umfassen, die „in
letzter Minute“ realisiert werden können. Das Offenhalten derartiger Optionen und damit das
Generieren einer Produktentwicklungsflexibilität erscheinen aus ökonomischer Sicht als umso
vorteilhafter, je größer das Innovationsrisiko (Marktrisiko, Technologierisiko), je stärker das
Innovationsrisikogefälle im Verlauf des Produktentwicklungsprozesses, je niedriger die Kos-
ten des Aufbaus der Produktentwicklungsflexibilität und je größer die Erfolgswirkungen der
vorgesehenen Änderungsmöglichkeiten sind [Thomke/Reinertsen 1998, S. 8 ff.].
Die Produktentwicklungsflexibilität wird bereits durch die Entscheidung über die dem Pro-
dukt zugrunde liegende Technologie maßgeblich festgelegt, weiterhin durch die Entscheidun-
gen über den Produktaufbau (integral vs. modular) beeinflusst und kann durch eine flexibili-
tätsorientierte Vorgehensweise im Produktentwicklungsprozess aufrechterhalten werden.
Hierzu zählen etwa: schrittweise mit den sichersten Anforderungen beginnende Spezifikation,
parallele Entwicklung alternativer Spezifikationen, Nutzung mehrerer Ebenen der Freigabe
von Entwicklungsarbeiten und Gestaltung schnittstellenarmer Teilprozesse der Produktent-
wicklung [Thomke/Reinertsen 1998, S. 20 ff.].
Das Integrationspotenzial des Kunden ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Motivation
und Fähigkeit [Dabholkar 1990, S. 484], sich in den Anlaufprozess einzubringen. Hinweise
hierauf sind im Kontext der Produktentwicklung vor allem im Lead-User-Konzept [Hippel
1986, S. 796 ff.] und im Konzept des fortschrittlichen Kunden [Lüthje 2000, S. 32 ff.] zu
finden. Die Motivation des Kunden lässt sich auf einen Mix aus intrinsischen und extrinsi-
schen Anreizen zurückführen. Genannt werden vor allem die Möglichkeit zur Realisation

1
Die Relation zwischen positiven und negativen Wirkungen lässt sich jedoch insbesondere in den mittleren
Phasen durch das Konzept der virtuellen Kundenintegration verbessern [Bartl 2006, S. 40 f.].
Kundenintegration im Produktionsanlauf 117

eigener Ideen, die persönliche Herausforderung/Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, die


Unzufriedenheit mit dem existierenden Produkt, ein hohes und stabiles Produktinteresse
sowie als extrinsischer Anreiz die Gewinnmöglichkeit [Hansen/Raabe 1991, S. 187 f.]. Für
die intrinsische Motivation der Kunden zu einer Zusammenarbeit mit der Unternehmung ist es
deshalb förderlich [Fließ 2001, S. 68 ff.; Kirchmann 1996, S. 451],
x ihnen ihre Bedeutung im integrativen Prozess und die Auswirkungen auf die Qualität des
Prozessergebnisses zu verdeutlichen,
x ihnen den bestehenden Informationsbedarf zu verdeutlichen,
x ihre Problemevidenz zu erhöhen und
x ihren Erwartungen im Hinblick auf die Gestaltung des Integrationsprozesses (Integrati-
ons-Script) entgegenzukommen.
Als vorteilhaft für die Kundenintegration werden die Fähigkeiten, (1) neue Produktanforde-
rungen wesentlich früher als die Masse der Kunden wahrzunehmen, (2) über ein vertieftes
Verständnis der Produktfunktionalität und der dem Produkt zugrunde liegenden Technologie
zu verfügen, um ihre Ideen und Verbesserungsvorschläge präzise formulieren zu können,
sowie (3) sich in kooperative Entwicklungsprozesse einbringen zu können (Interaktionsfähig-
keit), angesehen [Bartl 2006, S. 71 ff.; Hippel 1986, S. 796 ff.; Lüthje 2000, S. 32 ff.]. In
diesem Zusammenhang gibt es empirische Hinweise auf eine Vorteilhaftigkeit der Einbin-
dung von Kunden, die bereits seit längerem mit der Unternehmung in Verbindung stehen
[Enkel et al. 2005, S. 210 f.].
Basis des unternehmungsseitigen Integrationspotenzials bildet die Akzeptanz der Zusammen-
arbeit mit Kunden im Produktentwicklungsprozess durch die Mitarbeiter. Grundsätzlich kann
zwischen affektiver (positive Grundeinstellung gegenüber der Kundenintegration), kognitiver
(Erwartung überwiegend positiver Effekte der Kundenintegration) und konativer Akzeptanz
(durch subjektive Normen und wahrgenommene Verhaltenskontrolle determinierte Absicht,
Kunden zu integrieren) unterschieden werden, die aufeinander aufbauen [Bartl 2006,
S. 93 ff.]. Um auf eine Akzeptanz hinzuwirken, bieten sich das Induzieren direkter Erfahrun-
gen (z. B. durch Präsentation von Kundenbeiträgen, Beobachtung von Mitarbeitern, die mit
Kunden zusammenarbeiten, Zusammenarbeit mit Kunden), das Vermitteln von Erfahrungen
(z. B. Kommunikation mit positiv eingestellten Kollegen, frühzeitige und umfassende Infor-
mation) und das Setzen von Anreizen zu einer Zusammenarbeit mit Kunden an [Mehrwald
1999, S. 221 ff.].
Für eine erfolgreiche Kundenintegration bedarf es weiterhin der Integrationsfähigkeit der
Unternehmung, die sich in den Fähigkeiten, Integrationsprozesse zu gestalten und zu koordi-
nieren sowie aus der Kundenintegration Informationen zu gewinnen [Cohen/Levinthal 1990,
S. 128 ff.], zeigt. Als Determinanten dieser Fähigkeiten sind jeweils zu nennen [Jacob 2006,
S. 47 f.]:
x Ausmaß der verfügbaren organisatorischen Ressourcen: organisatorische Regeln und
dokumentierte Abläufe für die Zusammenarbeit mit Kunden sowie Methoden zur Erfül-
lung der jeweiligen Aufgabe (Konfiguration, Koordination, Informationsgewinnung);
118 Ralf Gössinger, Florian Lehner

x Ausbildungsstand der Mitarbeiter im Hinblick auf die dem Produkt und dem anlaufenden
Produktionsprozess zugrunde liegenden Technologien, die Einsatzgebiete des zu ent-
wickelnden Produkts bei den Kunden und das Management von Anlaufprojekten;
x Erfahrung der Mitarbeiter mit Produktionsanlaufprojekten bezüglich der Antizipation
möglichen Kundenverhaltens, der Methoden zur Konfiguration und Koordination kunden-
integrativer Prozesse, der Vorbereitung des Kunden auf seine Aufgabe und der Zusam-
menarbeit mit Kunden (Kommunikation, Motivation, Konflikthandhabung).

3.2 Flexibilitätsangebot
Um die Wirkungen der Kundenintegration auf das Flexibilitätsangebot von Produktionsan-
laufprojekten in systematischer Weise zu erfassen, werden im folgenden die im Abschnitt 2.2
analysierten Flexibilitätsdeterminanten einer Detailbetrachtung unterzogen.
Eine Kundenintegration wirkt auf die Menge der ökonomisch akzeptablen Handlungsalterna-
tiven in dreifacher Hinsicht: (1) Erkennung des Handlungsrahmens: Durch die im Interakti-
onsprozess mit dem Kunden gewonnenen Informationen ist es möglich, die Unsicherheit über
die bestehenden marktlichen Restriktionen zu reduzieren. Im Vordergrund stehen dabei die
Präzisierung des zu erreichenden Soll-Reifegrades sowie die Beurteilung des Erfüllungsgra-
des dieser Anforderung. Des Weiteren kann der Kunde aber auch Marktkenntnisse (z. B. über
Aktivitäten der Konkurrenten) in das Anlaufprojekt einbringen, auf deren Grundlage eine
genauere Spezifikation des zur Erreichung des Soll-Reifegrades anzustrebenden Termins
erfolgt. Im Hinblick auf die technologischen Restriktionen eröffnet die Kundenintegration das
Potenzial, Hinweise auf zusätzliche Möglichkeiten und nicht realisierbare Alternativen der
Anpassung des Produktionssystems zu erhalten und damit den identifizierten Handlungsrah-
men an den tatsächlich verfügbaren Handlungsrahmen anzupassen. (2) Veränderung des
Handlungsrahmens: Mit der Kundenintegration geht unmittelbar eine Erweiterung der Perso-
nalkapazität des Anlaufprojektes einher. Da die für diese quantitative Anpassung bei einge-
schränkter Disponierbarkeit der Handlungen des Kunden (zeitliche Verfügbarkeit, Quantität
und Qualität der gelieferten Informationen etc.) erforderliche Koordinationsleistung Kapazität
der Projektmitarbeiter bindet, kann zwar von veränderten Handlungsoptionen, aber nicht
generell von einer Erweiterung der Freiheitsgrade in der Projektabwicklung ausgegangen
werden. Der Handlungsrahmen wird mittelbar jedoch dadurch erweitert, dass Kundeninfor-
mationen das Risiko von Fehlentscheidungen über Änderungsmaßnahmen und damit die
erwartete Dauer und die erwarteten Kosten der Projektausführung reduzieren. Das zeitliche
Budget und das Kostenbudget werden hierdurch in geringerem Umfang belastet als es ur-
sprünglich erwartet wurde, so dass sich für das noch auszuführende Restprojekt nachträglich
größere Freiheitsgrade ergeben. Für die (3) Erfassung des Handlungsrahmens werden zusätz-
lich zur reinen Ablaufstruktur weitere Aspekte von Anlaufprojekten flexibilitätsrelevant, die
mit folgenden Erweiterungen erfasst werden können:
x Weil der Projektablauf maßgeblich durch das Handeln der Entscheidungsträger beein-
flusst wird, besteht eine erste Erweiterung darin, die Knoten des Netzplanes mit stochasti-
schem Ausgang als Entscheidungsknoten und die von ihnen ausgehenden Kanten als Ent-
scheidungsalternativen zu interpretieren. Durch eine Erweiterung der GERT-Knotentypen
kann dann erreicht werden, dass zusätzlich zu Entweder-oder-Entscheidungen auch Ent-
Kundenintegration im Produktionsanlauf 119

scheidungen mit Oder- sowie Und-Logik abgebildet werden [Kern/Schröder 1977,


S. 282 ff.].
x Da in Ablaufprojekten Entscheidungen von mehreren Entscheidungsträgern (Kunden,
Projektverantwortliche der Unternehmung und der Anlagen- und Werkzeuglieferanten
etc.) getroffen werden, besteht eine entsprechende symbolische Erweiterung in der Kenn-
zeichnung der Entscheidungssituation hinsichtlich der beteiligten Entscheidungs- und
Verantwortungsträger durch unterschiedliche Symbole für Entscheidungsknoten und Kan-
ten [Gössinger 2005, S. 141 f.].
Die Kundenintegration entfaltet bei der für die Maßnahmenauswahl erforderlichen Zeit Fle-
xibilitätswirkungen sowohl im Hinblick auf die Beobachtungsdauer als auch auf die Ent-
scheidungsdauer. Die Beobachtungsdauer wird durch die Kundenintegration aufgrund fol-
gender Zusammenhänge verkürzt: (1) Der Kunde entstammt dem Umsystem der
Unternehmung. Als potenzieller Abnehmer ist er ein Element der vom Absatzmarkt zur Un-
ternehmung hin verlaufenden Wirkungskette von exogenen Primärstörungen. Seine Integra-
tion in den Anlaufprozess bewirkt, dass die Information über eine sich entfaltende Störung
bereits dann vorliegt, wenn sie die für den Kunden relevante Stufe der Wirkungskette erreicht.
(2) Neben produktbezogenen Informationen können Kunden (vor allem im Kontext von In-
vestitionsgütern) Informationen über marktliche Wirkungsketten und Störungsquellen, die
außerhalb des Absatzmarktes der Unternehmung liegen, verfügbar machen. (3) Eine aktive
Einbindung des Kunden in den Beobachtungsprozess bewirkt, dass die Beobachtungskapazi-
tät im Hinblick auf unternehmungsexterne Messpunkte sowie die Signalübertragungswege
erhöht wird und damit Informationen über Änderungen tendenziell eher verfügbar sind.
Im Hinblick auf die Entscheidungsdauer sind die Wirkungen der Kundenintegration nicht
eindeutig. Eine tendenzielle Verkürzung wird inputseitig durch die Erhöhung der Informati-
onsverarbeitungskapazität (der Kunde als zusätzlicher TIV) und der Informationsverfügbar-
keit bewirkt. Aus der Perspektive des Throughput werden durch Kunden (im Investitionsgü-
terbereich) Impulse zur Anwendung neuer Problemlösungsverfahren gegeben. Des Weiteren
wird der Entscheidungsprozess durch zusätzliche Informationsoutputarten verkürzt, wenn
diese als derivative Information den Informationsverarbeitungsprozess erleichtern. Verlänge-
rungstendenzen sind dann relevant, wenn zur Ermöglichung der Kundenintegration qualitative
Anforderungen des Kunden an Inputinformationen erfüllt, Outputinformationen des Kunden
an qualitative Anforderungen des Produktionsanlaufes angepasst und dem Kunden Informati-
onen zu den anzuwendenden Lösungsverfahren übermittelt werden müssen. Letztlich ist eine
Koordination der Mitwirkung des Kunden am Entscheidungsprozess erforderlich, die Infor-
mationsverarbeitungskapazität des Anbieters bindet.
In der zeitlichen Dimension flexibilitätsorientierter Entscheidungskalküle sind die durch die
Kundenintegration zusätzlich verfügbaren Informationen über den Eintritt von Störungen und
über Handlungsalternativen bei der Störungshandhabung relevant. Sie gehen einerseits mit
einer Vorverlagerung des Zeitpunktes einher, zu dem bekannt wird, dass eine Entscheidung
über den Projektablauf zu treffen ist. Die bis zum Eintritt des Änderungsbedarfs und damit die
für die Entscheidung zur Maßnahmenauswahl verfügbare Zeit wird dadurch verlängert. Dies
hat innerhalb der Menge der der Unternehmung bekannten und potenziell möglichen Hand-
lungsalternativen eine Vergrößerung (Verkleinerung) des Anteils der situationsspezifisch
120 Ralf Gössinger, Florian Lehner

realisierbaren (nicht realisierbaren) Handlungsalternativen zur Folge. Andererseits wird durch


die Kundeninformation die Menge der bekannten und potenziell möglichen Handlungsalter-
nativen erweitert, wodurch tendenziell der späteste flexibilitätsneutrale Entscheidungszeit-
punkt vorverlagert wird. Bei der inhaltlichen Dimension flexibilitätsorientierter Entschei-
dungskalküle geht es um die Messung der Auswirkung einer Handlungsalternative auf
zukünftige Entscheidungsspielräume im Produktionsanlaufprojekt. Wird die Integration des
Kunden in Teile des Produktionsanlaufprojektes als grundsätzliche Handlungsalternative
betrachtet, deren Flexibilitätswirkungen zu beurteilen sind,2 dann sind folgende Modifikatio-
nen an den Flexibilitätsindikatoren vorzunehmen:
x Beim potenzialorientierten Indikator ist zu berücksichtigen, dass einerseits der Kunde
zusätzliche Kapazität in das Anlaufprojekt einbringt und andererseits die Koordination
der Kundenintegration zusätzlichen Kapazitätsbedarf des Anbieters induziert.
x Aus prozessorientierter Sicht sind in den Flexibilitätsindikator die bei Kundenintegration
zusätzlich möglichen Ablaufalternativen und die durch Kundenintegration ausgeschlosse-
nen Ablaufalternativen einzubeziehen.
x Die Grundstruktur des ergebnisorientierten Flexibilitätsindikators kann beibehalten wer-
den. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Veränderung des Zeitpunktes der Soll-
Reifegraderreichung bei der Maßnahme „Kundenintegration“ auf eine andere Weise als
bei objektbezogenen Änderungsmaßnahmen bewirkt wird. Kundenintegration wirkt sich
indirekt auf das anlaufende Produktionssystem aus, indem sie die Informationsbasis ver-
bessert und den Ablauf des Anlaufprojekts beeinflusst. Deshalb wird sich die Kundenin-
tegration unmittelbar in den Parametern niederschlagen, die den Verlauf der Anlaufkurve
beschreiben (z. B. Anlaufexponent, Initial-Reifegradeinfluss), mittelbar aber auch die
Dauer und die bewirkte Reifegradänderung aller potenziellen objektbezogenen Maßnah-
men verändern. Um den unmittelbaren Effekt zu erfassen, kann bei Verwendung der
Törnquist-Funktion der folgende Zusammenhang abgeleitet werden:
'TKI T  TKI 'bKI = Veränderung des Anlaufexponenten durch
Kundenintegration
'cKI ˜ Rt  R Soll
'TKI 'bKI ˜
R Soll  R 'cKI = Veränderung des Initial-Reifegradeinflusses
durch Kundenintegration

4 Abschließende Bemerkungen
Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete einerseits die Besonderheit von Anlaufprojek-
ten, dass sie durch das breite Spektrum möglicher Störungen eine hohe Unsicherheit aufwei-
sen, aber gleichzeitig aufgrund ihrer Sonderstellung als Phase des Übergangs von Ent-
wicklungs- zu Produktionsaktivitäten ein hohes Maß an Flexibilität besitzen. Andererseits
wurde herausgearbeitet, dass durch die Kundenintegration eine Substitution zwischen der
Unsicherheit über die Kundenbedürfnisse und der Unsicherheit des Anlaufprojektablaufs

2
Im Hinblick auf objektbezogenen Handlungsalternativen hat die Kundenintegration keinen Einfluss auf die
Struktur des Flexibilitätsindikators. Wie in Abschnitt 2.2.3 herausgearbeitet, sind die Dauer bis zur Wir-
kung der Handlungsalternative und die bewirkte Reifegradänderung die wesentlichen Einflussgrößen.
Kundenintegration im Produktionsanlauf 121

erfolgt. Ziel des vorliegenden Beitrages war es, Ansatzpunkte für ein Koordinationskonzept
herauszuarbeiten, mit dem es möglich ist, die Flexibilität von Anlaufprojekten zu nutzen, um
negative Wirkungen der Unsicherheit zu kompensieren. Hierzu wurden die Flexibilitäts-
determinanten Vorhandensein ökonomisch akzeptabler Handlungsalternativen, erforderliche
Zeit zur Maßnahmenauswahl und -umsetzung sowie Kriterien zur Auswahl von Handlungsal-
ternativen und Entscheidungszeitpunkten einer Analyse unterzogen, um die Auswirkungen
der Kundenintegration und problemspezifische Lösungsansätze zu identifizieren. Es wurde
gezeigt, welche Voraussetzungen für eine vorteilhafte Kundenintegration erfüllt sein müssen,
welche Flexibilitätswirkungen mit der Kundenintegration induziert werden und worin diese
Wirkungen begründet liegen.
Zu den einzelnen Flexibilitätsdeterminanten werden in der Literatur produktionsanlaufspezifi-
sche Konzepte vorgeschlagen, deren Einsatzbereich auf Wiederholungsprojekte begrenzt ist.
Forschungsbedarf besteht also vor allem im Hinblick auf Anlaufprojekte mit höherem Innova-
tionsgrad. Weiterführende Forschungsaktivitäten der Autoren setzen an dieser Problematik an
und haben zum Ziel,
x kundengerichtete Maßnahmen abzuleiten, durch die das Verhalten des Kunden im Integ-
rationsprozess berechenbarer wird, und
x Maßnahmen herauszuarbeiten, mit denen die Flexibilitätsdeterminanten unsicherheitsadä-
quat gestaltet werden können.

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Mass Customization in der Fahrzeugindustrie –
Vergleich der Planungs- und Steuerungsaktivitäten
in Abhängigkeit des Individualisierungszeitpunktes

Antje Krey, Ulrike Meuser, Peter Schentler

1 Problemstellung
Mass Customization oder auch kundenindividuelle Massenproduktion in der Fahrzeugindust-
rie führt zu einer sehr hohen Anzahl möglicher Varianten für einzelne Fahrzeuge [Alicke
2005, S. 135; Gräßler 2004, S. 18]. Die daraus resultierende Komplexität in der Entwicklung,
aber auch der Planung und Steuerung der Produktion und des gesamten Unternehmens, ist
eine besondere Herausforderung für die Unternehmensführung und das Controlling.
Die Festlegung des Zeitpunktes der Individualisierung der Produkte ist eine strategische
Entscheidung, die Einfluss auf sämtliche Prozesse im Unternehmen hat. Derzeit sind dabei
auf dem europäischen Absatzmarkt für Automobile zwei gegenläufige Tendenzen zu be-
obachten [o. V. 2007a]:
x Deutsche und europäische Hersteller individualisieren ihre Fahrzeuge während des Ferti-
gungsprozesses und liefern diese kundenkonfiguriert an die Händler aus.
x Asiatische Anbieter hingegen produzieren in den asiatischen Werken nur gering konfigu-
rierte Fahrzeuge, verschiffen diese nach Europa und lassen sie dort in Aufbereitungs-
werkstätten kundenindividuell adaptieren.
Diese Unterschiede im Individualisierungsprozess haben Auswirkungen auf die Lieferzeiten
und die Kosten der Varianten, aber auch auf die Planungs- und Steuerungsaktivitäten der
Unternehmen.
Nachfolgend werden die Individualisierungskonzepte europäischer und asiatischer Hersteller
unter dem Aspekt der Planungs- und Steuerungsaktivitäten erläutert und verglichen. Während
für die Individualisierung in der Produktion zahlreiche Schriften vorliegen, ist die wissen-
schaftliche Auseinandersetzung mit der Individualisierung im Vertrieb noch nicht sehr weit
voran geschritten. Daher wird dieses Individualisierungskonzept anhand einer Fallstudie
vorgestellt. Die – im vorliegenden Beitrag auf einen einzelnen Fall bezogenen – Ergebnisse
können als Basis für empirische Untersuchungen und Vergleiche herangezogen werden.

2 Mass Customization in der Fahrzeugindustrie


2.1 Ziele der Mass Customization als Wettbewerbsstrategie
Das Hauptziel der Mass Customization liegt in der Herstellung individualisierter Produkte,
die Preise in derselben Größenordnung wie vergleichbare Massenprodukte aufweisen [Pine
126 Antje Krey, Ulrike Meuser, Peter Schentler

1993, S. 44 ff.]. Entwicklungen in der Fertigungs-, Informations- und Kommunikationstech-


nologie wie auch Fortschritte bei der Produktionssteuerung und Logistik bilden die Grundla-
ge, um dies zu ermöglichen [Pine et al. 1995, S. 103]. In diesem Zusammenhang wird häufig
von einer standardisierten Individualisierung gesprochen, d. h. von einem auftragsunabhängi-
gen Design und einer Vorfertigung von Modulen, die auftragsorientiert – entsprechend den
Wünschen einzelner Kunden – kombiniert und endgefertigt werden [Glazer 1999, S. 60].
Mass Customization wird auch als hybride Wettbewerbsstrategie bezeichnet, da sowohl As-
pekte der Preisführerschaft als auch Aspekte der Differenzierung berücksichtigt werden müs-
sen [Gräßler 2000, S. 3].
Das Ziel von vergleichbaren Preisen wie bei einer klassischen Massenproduktion wird in der
Literatur so interpretiert, dass die Preise individualisierter Güter nicht mehr als ca. 10 bis
15 % über den Preisen für nicht individualisierte Güter liegen [Rautenstrauch et al. 2002,
S. 104]. In Bezug auf den Grad der Individualisierung ist dem Kunden eine breite Palette an
Auswahlmöglichkeiten zu gewähren, um ein individuell konfiguriertes Produkt herzustellen,
das der Kunde als individualisiert wahrnimmt. Durch die Möglichkeit der Individualisierung
wird zwischen Kunde und Hersteller eine dauerhafte Beziehung in Form von Kundenintegra-
tion und Kundeninteraktion [Reichwald et al. 2005, S. 10 ff.; Piller 2003, S. 49] angestrebt.
Dies ermöglicht
x die Ermittlung der aktuellen Kundenwünsche zur Produktindividualisierung,
x die Ermittlung zukünftiger Kundenwünsche für Produktneuentwicklungen,
x die Sammlung von Kundeninformationen und
x führt zur Kundeninteraktion als eine Unterstützung der Kundenbindung.
Die kundenindividuelle Massenproduktion stellt spezifische Anforderungen an inner- und
außerbetriebliche Prozesse, die über die Anforderungen bei klassischer Massenproduktion
oder Einzelfertigung hinausgehen. Eine Anpassung aller betrieblichen Prozesse ist notwendig
[Blecker/Abdekafi 2006, S. 6].

2.2 Problemfelder der Mass Customization


Mit der Etablierung der Mass Customization sind für die Fahrzeughersteller besondere Her-
ausforderungen verbunden. Dazu zählen u. a. hohe Investitionen in flexible Fertigungstechno-
logien und vor allem das Variantenmanagement. Sowohl die Anzahl verschiedener Modelle
und Baureihen als auch die Anzahl möglicher Varianten je Modell haben sich im Zuge der
Individualisierungsstrategien deutlich erhöht. Für das Fahrzeugmodell 7er BMW gibt es 1017
potenziell mögliche Ausprägungskombinationen [Alicke 2005, S. 135]. Pro Mercedes-Bau-
reihe werden bis zu 120 Türgriffvarianten und 500 Außenspiegelvarianten verbaut [Zetsche
2006, S. 4]. Die damit einhergehende Komplexität betrifft alle Bereiche der Wertschöpfungs-
kette von der Forschung und Entwicklung über die Beschaffung, die Fertigung, die Logistik
bis hin zum Absatz und Vertrieb [Piller/Stotko 2003, S. 100 f.].
Das Bestreben der Fahrzeugindustrie liegt darin, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den
Potenzialen und zusätzlichen Kosten der kundenindividuellen Produktion zu schaffen
[Schentler 2008, S. 58 ff. und 99 ff.]. Die in diesem Zusammenhang eingesetzten Ansätze
umfassen das Variantenmanagement, die Produktmodularisierung sowie flexible Fertigungs-
Mass Customization in der Fahrzeugindustrie 127

technologien. Einhergehend mit der hohen Anzahl der Varianten steigen die Anforderungen
an die Logistik, zu der neben der Distributionslogistik auch die Beschaffungs-, Produktions-,
Entsorgungs- und Ersatzteillogistik zählen, in besonderem Maße. Zur kundengesteuerten
Produktion wird für zahlreiche Bauteile und Module die fertigungssynchrone Teileanlieferung
eingesetzt, die eine effiziente Abstimmung zwischen Hersteller, Lieferant und Logistik-
dienstleister erfordert [Schentler 2008, S. 62 ff.]. Im Bereich der Distributionslogistik ist bei
kundenindividueller Fertigung dem Wunsch der Kunden nach kurzer Lieferzeit Rechnung zu
tragen, indem die Händler z. T. mehrmals wöchentlich mit Fahrzeugen beliefert werden
[Schenk et al. 2005, S. 64 f.], oder die Kunden ihr individuelles Fahrzeug direkt beim Herstel-
ler – häufig in den in den letzten Jahren verstärkt umgesetzten „Erlebniswelten“ – überneh-
men [BMW 2008].
Die Fertigungsstrukturen und Verzweigungen innerhalb der Wertschöpfungskette bei kunden-
individueller Massenfertigung sind im Gegenzug zur reinen Massenfertigung deutlich kom-
plexer und erfordern daher einen hohen Planungs- und Steuerungsaufwand bei den Fahrzeug-
herstellern. Die Kundenwünsche werden durch die Variantenvielfalt zwar besser befriedigt,
die Verdopplung der Variantenzahl führt jedoch häufig zu einer Steigerung der Stückkosten
um 20-30 % [Eberle 2000, S. 344; Knolmayer 1999, S. 70 ff.]. Eine zusammenfassende Dar-
stellung des durch eine hohe Variantenvielfalt ausgelösten Mehraufwands findet sich in
Abb. 1.

Marketing,
Entwicklung Einkauf Fertigung
Vertrieb, Service

• Komplexere • Erhöhter Aufwand für • Erhöhte Rüstkosten • Steigender Aufwand


Konstruktions- Bedarfsermittlung aufgrund kleinerer in der Produkt- und
aufgaben • Intensivere Losgröße Sortimentspolitik
• Mehr Freigaben Verhandlungs- • Geringe Wieder- • Breitere Ausbildung
• Mehr Dokumentation gespräche holhäufigkeiten und Ausrüstung des
• Steigende • Komplexere Kundendienstes
Einstandspreise Fertigungsplanung • Erhöhter
durch kleinere (z. B. Prognoserisiko) Beratungsaufwand
Stückzahlen • Abnehmende im Kundengespräch
• Zunehmende Anzahl Produktivität
an Sonder-
werkzeugen

Logistik

• Komplexere Logistikkette
• Höhere Bestände an Halbfertig- und Fertigprodukten
zur Bedarfsabfederung

Abb. 1: Vielfaltsinduzierter Mehraufwand in der Wertschöpfungskette [Paul/Harms 2004, S. 326]

Aufbauend auf den angeführten Grundlagen zur Mass Customization wird im nächsten Kapi-
tel auf zwei unterschiedliche Konzepte hinsichtlich des Zeitpunktes der Individualisierung
eingegangen.
128 Antje Krey, Ulrike Meuser, Peter Schentler

3 Individualisierungszeitpunkte im Konzept der Mass Customization


3.1 Individualisierung im Fertigungsprozess
Wesentlich für die Ausgestaltung der kundenindividuellen Fertigung ist die unternehmens-
spezifische Entscheidung, zu welchem Zeitpunkt der Herstellung die individuellen Kompo-
nenten verbaut werden [Piller 2006, S. 225 ff.; Schentler 2008, S. 57 f.]. Zahlreiche Fahr-
zeughersteller, vor allem aus Europa, individualisieren die Fahrzeuge während des Produk-
tionsprozesses.
Ausgangspunkt eines individualisierten Fahrzeuges ist der Kundenauftrag, der beispielsweise
im Verkaufsgespräch zwischen Kunden und Händler konfiguriert wird. Nach der Eintaktung
des Kundenauftrages in den Produktionsprozess beginnt die Fertigung. Die Individualisierung
des Fahrzeuges erfolgt zumeist mit der Lackierung der Karosse. Das vorgelagerte Pressen der
Karosserieteile und der Rohbau der Karosse hingegen laufen kundenanonym ab. Anschlie-
ßend erfolgt, zumeist in Fließfertigung, die Montage der kundenindividuell gewählten Varian-
ten- und Sonderausstattungen. Am Ende des Produktionsprozesses steht das komplett indivi-
dualisierte Fahrzeug, das nach einer Auslieferungsprüfung an die Vertriebsorganisation
übergeben wird. Die Übernahme des Fahrzeuges durch den Kunden erfolgt zum großen Teil
nach der Auslieferung an den regionalen Händler. Ein Teil der Kunden holt das individuell
konfigurierte Fahrzeuge jedoch direkt beim Hersteller in einer so genannten Erlebniswelt
(z. B. Autostadt Wolfsburg, BMW Welt München) ab. Abb. 2 stellt den Auftragsbearbei-
tungsprozess bei einer Individualisierung in der Fertigung schematisch dar.

Kunde konfiguriert Wunschfahrzeug

Eintaktung im Werk

Komplette Fertigung des


individualisierten Fahrzeuges

Auslieferungsvorbereitungen und
Werksauslieferung

Selbstabholung

Lieferung an die Händler

Auslieferungsvorbereitungen und
Auslieferung an den Kunden

Abb. 2: Schematischer Ablauf der Auftragsbearbeitung beim Individualisierungszeitpunkt Fertigung


Mass Customization in der Fahrzeugindustrie 129

3.2 Individualisierung im Vertrieb


Im Gegensatz zu europäischen Herstellern kommen zahlreiche asiatische Hersteller den Indi-
vidualisierungswünschen der Kunden dadurch nach, dass die individuellen Komponenten erst
dann den Fahrzeugen hinzugefügt werden, wenn diese in die Vertriebsregion verbracht wur-
den. Die originäre Produktion im Stammwerk erfolgt weitgehend standardisiert. Dieses Vor-
gehen wird im vorliegenden Beitrag als Individualisierung im Vertrieb bezeichnet.
Die nachfolgende Beschreibung der Wertschöpfung bei einer Individualisierung im Vertrieb
fußt größtenteils auf einem Interview mit Herrn Jens Riepenhusen, Geschäftsführer des Un-
ternehmens E. H. H. Autotec GmbH & Co. KG mit Sitz in Bremerhaven1, Angaben des Un-
ternehmens auf dessen Website sowie Presseberichten über das Unternehmen [Finsterwalder-
Reinecke 2005; o. V. 2007a]. Die E. H. H. Autotec GmbH & Co. KG bietet Automobilher-
stellern zahlreiche Dienstleistungen von der Aufbereitung der Fahrzeuge nach der Seereise bis
zur kundenindividuellen Anpassung der Fahrzeuge.
Nach dem Eingang des Kundenauftrages beim Hersteller wird das Fahrzeug als Standardver-
sion in den asiatischen Werken gefertigt. Die Standardversion umfasst eine rudimentäre Indi-
vidualisierung vor allem in Hinblick auf die Motorisierung und Lackierung des Fahrzeuges.
Das Fahrzeug wird technisch fahrbereit und mit Standardeinbauten beim Ex- und Interieur
ausgestattet. Der Versand in die Vertriebsregion erfolgt per Schiff. Nach dem Entladen des
Schiffes in Europa, z. B. in Bremerhaven, wird das Fahrzeug zum Technikzentrum verbracht.
Das Technikzentrum übernimmt die Aufbereitung der Fahrzeuge nach der Seereise, wie das
Prüfen auf Transportschäden, die Reinigung und die Auslieferungskontrolle. Zusätzlich über-
nimmt das Technikzentrum die Individualisierung des Fahrzeuges in folgenden Bereichen:
x Einbau von Sonnendächern,
x Individualisierung der Sitzbezüge,
x Einbau von Entertainment wie Radio und DVD-Player, Telefonvorrüstungen und
x Anbau anderer Felgen.
Ergänzend dazu bietet das Technikzentrum die komplette Ausrüstung von Sondermodellen
an. Hierbei werden auch an der Karosse und dem Lack Veränderungen vorgenommen.
Das Technikzentrum hat seinen Wertschöpfungsprozess nach dem Werkstattprinzip organi-
siert und plant anhand der gewünschten Individualisierungsmaßnahmen den Werkstattdurch-
lauf. Nach Fertigstellung des Fahrzeuges wird die Auslieferungskontrolle durchgeführt und
die Fahrzeuge für den Versand zum Händler durch eine Spedition vorbereitet. Die Übergabe
der Fahrzeuge an den Endkunden findet beim Händler statt. In Abb. 3 ist der schematische
Ablauf der Auftragsbearbeitung zusammenfassend dargestellt.
Die Teileanlieferung für das Technikzentrum mit den Sonderausstattungsteilen erfolgt teil-
weise per Schiff durch den Hersteller sowie teilweise per Direktanlieferung der Teilelieferan-
ten an das Technikzentrum. Die ausgebauten Teile (z. B. Felgen) werden an den Hersteller
zurückgesandt und erneut in den Werken verbaut, aber mitunter auch entsorgt oder verkauft.

1
Das Interview mit Herrn Jens Riepenhusen wurde am 16. Januar 2008 anhand eines strukturierten Leitfa-
dens geführt. Das Protokoll des Interviews kann bei den Autoren angefordert werden.
130 Antje Krey, Ulrike Meuser, Peter Schentler

Kunde konfiguriert Wunschfahrzeug

Eintaktung im Werk

Fertigung des Fahrzeuges als


Standardversion

Auslieferungsvorbereitung und
Verschiffung in die Vertriebsregion

Individualisierung des Fahrzeuges


im Technikzentrum

Lieferung an die Händler

Auslieferungsvorbereitungen und
Auslieferung an den Kunden

Abb. 3: Schematischer Auftragsbearbeitungsablauf beim Individualisierungszeitpunkt Vertrieb

4 Planung und Steuerung unter den Bedingungen der Mass


Customization
4.1 Überblick über den Planungsprozess
Das hohe Maß an Komplexität, welches mit der Strategie der kundenindividuellen Massen-
produktion einhergeht, erfordert weitreichende Planungs- und Steuerungsaufgaben. Der Un-
ternehmensplanung als systematische, zukunfts- sowie zielbezogene Gestaltung des Unter-
nehmens kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu [Steinmann/Schreyögg, 2005, S. 163].
Den Ausgangspunkt aller planerischen Tätigkeiten in der Automobilindustrie bildet die Jah-
resplanung, welche das Jahresbudget für die einzelnen Unternehmensbereiche festlegt. Abb. 4
stellt die Planung dar und zeigt die Zielbeziehungen zwischen den einzelnen Planungsaufga-
ben auf. Grundlage für die Jahresplanung sind die in den einzelnen Stufen der Budgetplanung
erarbeiteten Produktionspläne für die Werke beziehungsweise die Absatzpläne für die Regio-
nen. Informationsgrundlage der Jahresplanung ist die Prognoseplanung, welche auf histori-
schen Verkaufszahlen oder der Marktkenntnis der regionalen Händler beziehungsweise der
Vertriebsabteilung beruhen. Neben den einzelnen Modell-Stückzahlen sind in der Prognose-
planung auch häufig nachgefragte Ausstattungs-Kombinationen als „Stellvertreter“ zu antizi-
pieren, um Engpässe insbesondere mit der Versorgung von Zulieferer-Bauteilen berücksichti-
gen zu können [Meyr 2002, S. 12 f.].
Darauf aufbauend wird die Programmplanung vorgenommen. Kennzeichnend dabei ist der
höhere Detaillierungsgrad. So wird es möglich, Produktionspläne für bestimmte Werke und
Mass Customization in der Fahrzeugindustrie 131

mittel-
fristig

Jahresbudgetplanung

Stücklistenauflösung Prognoseplanung

Programmplanung

Werkszuordnung Absatzallokation

Linienzuweisung &
Bestelllosgrößenplanung Lieferterminvergabe
Modell-Mix-Planung

Sequenzbildung Auslieferungsplanung
kurz-
fristig

Abb. 4: Planungsaufgaben in der Fahrzeugindustrie im Überblick [in Anlehnung an Meyr 2002, S. 11]

Absatzpläne für die jeweiligen Regionen zu erstellen. Sofern ein Hersteller über mehrere
Produktionsstätten für ein Modell verfügt, ist es erforderlich, Fahrzeugaufträge auf die einzel-
nen Werke zu verteilen. Danach erfolgt die Modell-Mix-Planung. In Abhängigkeit örtlicher
Beschränkungen wird ein Produktionsauftrag einem bestimmten Tag zugeordnet. Sofern ein
Werk über mehrere Montagelinien beziehungsweise Fließbänder verfügt, ist zudem eine
Linienzuweisung vorzunehmen. Letztlich ist taggenau die Reihenfolge der Produktionsaufträ-
ge zu bestimmen; dies geschieht in der Sequenzbildung [Meyr 2002, S. 13 ff.].
Die Programmplanung ist darüber hinaus Basis für die Stücklistenauflösung und die Beschaf-
fung der Materialien. Der Bedarf an Basis-Komponenten für die zu produzierenden Modelle
kann an die Zulieferer übermittelt werden. Für die Planung der Menge und Liefertermine der
Zulieferteile in Form kundenindividueller Sonderausstattungen liegen mit der Programmpla-
nung erste Anhaltspunkte vor, die auch an die Zulieferer übermittelt werden. Hersteller und
Zulieferer planen auf Basis dieser Prognosen die Bestelllosgrößen [Meyr 2002, S. 14 ff.]. Die
Konkretisierung dieser Planungen erfolgt nach und nach, d. h. bei erteiltem Kundenauftrag
und im Zuge der Sequenzbildung.
Parallel zur Planung der Produktions- und Zulieferdaten erfolgt die Planung im Absatzbe-
reich. Im Zuge der Absatzallokation werden die Absatzziele auf die einzelnen Regionen und
Händler in Form von Quoten verteilt. Diese enthalten sowohl die Gesamthöhe der Absatzzie-
le, den Modellmix als auch die Lieferwoche je Region und Händler. Abschließend ist die
Auslieferungsplanung vorzunehmen, in welche die Ergebnisse der Absatzallokation und der
Produktionsplanung einfließen. Dabei ist unter anderem zu entscheiden, mit welchem Ver-
kehrsträger der Transport vom Fahrzeughersteller zum -händler abgewickelt werden soll
[Meyr 2002, S. 15 ff.].
132 Antje Krey, Ulrike Meuser, Peter Schentler

4.2 Planung und Steuerung bei der Individualisierung in der Fertigung


Die Wertschöpfungstiefe der Fahrzeughersteller ist in den letzten Jahren stetig gesunken, der
Anteil zugekaufter Teile und Module hingegen gestiegen [Burt et al. 2003, S. 20; Lang 2004,
S. 313 f.]. Bei der Individualisierung in der Fertigung müssen alle kundenindividuellen Teile
zum Produktionsbeginn bzw. zum Einbauzeitpunkt während des Produktionsprozesses vor-
handen sein, andernfalls verschiebt sich der Liefertermin für den Kunden. Dementsprechend
ist der Planungsprozess zur Eintaktung eines Kundenauftrages in die Produktion komplex und
zeitkritisch. Die Integration der Zulieferer in die Produktionsplanung ist in der Regel uner-
lässlich.
Die zahlreichen Individualisierungsmöglichkeiten erlauben keine wirtschaftliche Vorratshal-
tung aller denkbaren Sonderausstattungsvarianten. Die erforderlichen Materialien werden
daher häufig nach den Prinzipien Just-in-Time und Just-in-Sequence angeliefert. Diese Lie-
ferkonzepte stellen hohe Anforderungen an die Beschaffungs- und Logistikplanung und ber-
gen Risiken für die Sicherstellung der Produktion, da Fehllieferungen nicht kompensiert
werden können und eventuell zum Erliegen der Produktion führen. Durch den Trend, weltweit
nach kostengünstigen Lieferanten zu suchen, ist zudem nicht in jedem Fall davon auszugehen,
dass die Sonderausstattungsteile flexibel und bedarfsgerecht in kurzer Zeit beschafft werden
können. Hier bewegen sich die Hersteller im Spannungsfeld von Kostenreduktion und Sicher-
stellung der Lieferung.
Um diese komplexitätserhöhenden Effekte abzumildern sind die Hersteller bestrebt, anhand
von Vergangenheitsdaten und Tendenzaussagen den möglichen Teilebedarf so genau wie
möglich und rollierend zu prognostizieren. Teile für häufig gewählte Sonderausstattungen
werden dementsprechend möglichst kontinuierlich beschafft, ungewöhnliche Kombinationen
von Sonderausstattungen hingegen brauchen entsprechend längere Zeiten bis zur Eintaktung
in die Produktion [Schentler 2008, S. 94 ff.].
Beim Konzept der Individualisierung in der Fertigung ist weiterhin zu berücksichtigen, dass
nur ein – wenn auch häufig sehr großer – Teil der Produktionskapazitäten durch individuelle
Kundenaufträge belegt ist. Ein weiterer Teil der Produktionsplätze wird durch hersteller-
konfigurierte Fahrzeuge belegt, die z. B. für die Showroom-Ausstattung der Händler oder den
eigenen Fuhrpark bestimmt sind [Stautner 2001, S. 96 f.].
Festzuhalten ist auch, dass die Implementierung der kundenindividuellen Fertigung während
der Produktion mit hohen Anforderungen und Investitionen in die Produktionstechnologie
verbunden ist. Die Maschinen und Werkzeuge entlang der Montagestrecke müssen in der
Lage sein, verschiedene Bauteile und Sonderausstattungen zu verbauen.

4.3 Planung und Steuerung bei Individualisierung im Vertrieb


Bei dem hier vorgestellten Konzept der Individualisierung im Vertrieb fallen die Individuali-
sierungsschritte auseinander, so dass die Beschaffung der kundenindividuellen Sonderausstat-
tung zeitlich entzerrt werden kann. Zur Produktion der Standardversion des Fahrzeuges bedarf
es nach Vorlage des Kundenauftrages zur Eintaktung in die Produktion lediglich der unter-
schiedlichen Motor- und Getriebevarianten sowie der Lacke und Stoffauskleidung des Fahr-
zeuges. Die daraus resultierende Varietät gegenüber der Individualisierung in der Fertigung
ist deutlich geringer, da Sonderausstattungsteile wie Ledersitze, Felgen, Entertainment-
Mass Customization in der Fahrzeugindustrie 133

Ausrüstung oder Navigationssysteme erst zum Zeitpunkt der Individualisierung im Technik-


zentrum bereitgestellt werden müssen. Die Verschiffungszeit von ca. 30 Tagen lässt Freiraum
für die Beschaffung dieser Teile.
Zudem wird es möglich, die Sonderausstattungsteile bei lokalen Lieferanten zu ordern und
damit den regional unterschiedlichen Präferenzen der Kunden besser nachzukommen als bei
einer Individualisierung in der Fertigung. Beispielhaft sei der Einbau von Handyadaptern in
die Fahrzeuge erwähnt. Bei einer Individualisierung in der Fertigung muss beim Hersteller die
gesamte Palette nachgefragter Adapter auftragsbezogen beschafft und bereitgestellt werden.
Bei der Kenntnis regionaler Unterschiede beim Verbreitungsgrad von Handymodellen zwi-
schen Asien und Europa lässt sich bei einer Individualisierung im Vertrieb eine abgestimmte
Palette an Sonderausstattungen für Asien und Europa anbieten, deren Bedarf besser prognos-
tizieren und eine zeitnahe Beschaffung bei lokalen Lieferanten sicherstellen. Der längere
Vorlauf bis zur Individualisierung ermöglicht eine effizientere Beschaffungsplanung und
-durchführung, da im Gegensatz zur auftragsbezogenen Beschaffung größere Bestellvolumina
mit längeren Liefertakten vereinbart werden können.
In Bezug auf die Komplexität der Planung wirkt die Splittung der Individualisierungsschritte
komplexitätsmindernd. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass mit dem Technikzentrum ein
weiterer Akteur in die Unternehmensplanung einzubeziehen ist. Das Technikzentrum muss
fristgerecht über ankommende Fahrzeuge und darin zu individualisierende Teile informiert
werden, um die eigene Planung der Produktionsabläufe sicherzustellen. Beim Unternehmen
E. H. H. Autotec GmbH Co. & KG Bremerhaven werden fahrzeugbezogene Daten ca. ein bis
zwei Wochen vor Schiffsankunft bzw. Lagerabruf elektronisch vom Hersteller übermittelt.
Die Sonderausstattungsteile werden teilweise vom Hersteller den Fahrzeugen unverbaut
beigefügt oder durch das Technikzentrum bei den vom Hersteller vorgegebenen Lieferanten
beschafft. Dabei verzichtet das Technikzentrum auf eine Just-in-Time-Anlieferung und unter-
hält ein eigenes Lager für Sonderausstattungsteile. Mit den Herstellern werden Durchlaufzei-
ten für Fahrzeuge vertraglich fixiert; diese müssen entsprechend bei der Produktionsplanung
im Technikzentrum berücksichtigt werden. Die Lagerhaltung der Sonderausstattungen ermög-
licht zudem eine flexible Anpassung der Produktionsreihenfolge, wenn unvorhergesehene
Ereignisse (z. B. Verspätung eines Schiffes) eintreten.
Mit der Individualisierung im Vertrieb ergeben sich zudem geringere Anforderungen an die
Produktionstechnologie im Herstellerwerk. Die geringere Anzahl verschiedener Varianten
lässt sich mit einfacheren und kostengünstigeren Maschinen und Werkzeugen umsetzen und
sollte eine hohe Produktivität im Werk ermöglichen.
Neben diesen Vorteilen existieren jedoch auch Nachteile der Individualisierung im Vertrieb.
Neben dem schon erwähnten Aspekt, dass mit dem Technikzentrum ein weiterer Akteur in die
Unternehmensplanung eingebunden werden muss, handelt es sich dabei um folgende Aspek-
te:
x Zusätzlich zur Fertigung muss noch ein weiterer Ort vorhanden sein, an dem die Indivi-
dualisierung durchgeführt wird. Geschultes Personal sowie entsprechende Maschinen und
Räumlichkeiten müssen am Individualisierungsort bereitgestellt werden.
134 Antje Krey, Ulrike Meuser, Peter Schentler

x Die Individualisierung im Technikzentrum, also das nachträgliche Einbauen bestimmter


Teile, ist mitunter aufwendiger als ein Einbau während der Produktion. Teilweise muss
sogar vorhandenes Interieur für die Individualisierung demontiert werden.
x Nachfrageschwankungen in der Vertriebsregion führen ggf. zu einer Über- oder Unteraus-
lastung des Personals und der Maschinen im Technikzentrum. Überregionale Produkti-
onsstätten können solche Schwankungen einfacher ausgleichen, da häufig auch Vertriebs-
regionen mit gegenläufiger Entwicklung vorhanden sind.

4.4 Vergleich der Individualisierungszeitpunkte


Aufbauend auf die vorherigen Ausführungen werden wesentliche Merkmale der unterschied-
lichen Individualisierungszeitpunkte zusammengefasst dargestellt (siehe Tab. 1).

Individualisierungszeit- Individualisierungszeitpunkt
punkt Fertigung Vertrieb
Individualisierungsschritte vollständig in der Fertigung gesplittet in Basisindividualisierung
während der Fertigung und Zusatz-
individualisierung im Vertrieb
Dominierende Produktions- Linienfertigung am Fließ- Werkstattfertigung
organisationsform der band
Individualisierungsschritte
Flexibilität der Produktions- wenig flexibel nach relativ flexibel bei der Reihenfolge-
reihenfolge Sequenzbildung im Werk planung im Technikzentrum
Komplexität der Fertigung hoch geringere Komplexität in der Ferti-
gung, da hier keine Variantisierung
vorgenommen wird; jedoch zusätzli-
che Komplexität im Vertrieb
Planungs- und Steuerungs- hohe Komplexität der geringere Komplexität von Planung
aufwand Planung und Steuerung der und Steuerung der Produktion und
Beschaffung und Produkti- Beschaffung in der Fertigung;
on; starker Zeitdruck bei zusätzliche Planung und Steuerung
der Beschaffung der im Vertriebsbereich; weniger Zeit-
Sonderausstattung druck für Beschaffung der Sonder-
ausstattung

Tab. 1: Vergleich der unterschiedlichen Individualisierungszeitpunkte

Hinsichtlich des Planungs- und Steuerungsaufwandes in Abhängigkeit des Individualisie-


rungszeitpunktes kann festgestellt werden, dass dem Konzept der Mass Customization ten-
denziell ein hoher Planungs- und Steuerungsaufwand innewohnt. Bei der Individualisierung
in der Fertigung wirkt die unbedingte Notwendigkeit, alle Individualisierungsteile fristgerecht
zur Produktion einzuplanen und zu beschaffen, komplexitätserhöhend im Vergleich zur Indi-
vidualisierung im Vertrieb.
Bei der Individualisierung im Vertrieb verbleiben ca. zwei bis drei Wochen zusätzliche Be-
schaffungszeit während des Seetransportes gegenüber einer Individualisierung in der Ferti-
gung. Um Liegezeiten weitestgehend zu vermeiden, sollen die benötigten Teile jedoch auch
bei einer Individualisierung im Vertrieb möglichst zeitnah zur Montage angeliefert werden,
Mass Customization in der Fahrzeugindustrie 135

wobei – wie bei der beschriebenen Fallstudie dargestellt – Zwischenläger möglich sind. Da
jedoch schon bekannt ist, welche Teile für die Individualisierung benötigt werden, ist hier die
Lagerhaltung einfacher und die Lagerbestände niedriger, als wenn Lager während der Ferti-
gung angelegt und Sonderausstattungen antizipiert werden müssen. Die Fertigung der Stan-
dardversion im Stammwerk ist mit deutlich geringerem Planungsaufwand zu bewerkstelligen,
sodass die Eintaktung des Kundenauftrages in die Produktion tendenziell schneller gelingt, als
bei einer Individualisierung in der Fertigung. Anzumerken ist jedoch, dass die „gewonnene“
Zeitspanne nur dann auftritt, wenn zwischen Produktions- und Vertriebsregion ein längerer
Transportweg, beispielsweise wie erwähnt der Schiffstransport zwischen Asien und Europa,
vorliegt.
Ein direkter Vergleich der Lieferzeiten bei beiden Fertigungskonzepten ist nur bedingt mög-
lich, da die europäischen Hersteller nur punktuell dazu Angaben veröffentlichen. Anhand der
im Dezember 2007 auf der Website von Audi angegebenen Lieferzeit [o. V. 2007b] von
durchschnittlich zehn Wochen und den Lieferzeiten asiatischer Hersteller von sieben bis zehn
Wochen [Finsterwalde-Reinecke 2005] kann ein grober Vergleich angestellt werden. Die
Gegenüberstellung in Abb. 5 zeigt, dass der lange Transportweg der Fahrzeuge aus Asien
nach Europa durch eine schnellere Eintaktung der Aufträge in die Produktion kompensiert
werden kann. Europäische Hersteller hingegen können die Lieferzeit durch die Selbstabho-
lung der Fahrzeuge in den Erlebniswelten um ca. eine Woche reduzieren und mit dem Event-
Charakter der Fahrzeugübergabe zusätzlichen Nutzen für die Kunden stiften.

Individualisierung in der Fertigung Individualisierung im Vertrieb

Kunde konfiguriert Kunde konfiguriert


Wunschfahrzeug Wunschfahrzeug

Eintaktung im Werk 55-64 Eintaktung im Werk 8-29

Komplette Fertigung des Fertigung des Fahrzeuges als


4 4
individualisierten Fahrzeuges Standardversion

Auslieferungsvorbereitungen und Auslieferungsvorbereitung und


1-3 30
Werksauslieferung Verschiffung in die Vertriebsregion

Individualisierung des Fahrzeuges


Selbstabholung 2-3
im Technikzentrum

Lieferung an die Händler 3-5 Lieferung an die Händler 3-5

Auslieferungsvorbereitungen und Auslieferungsvorbereitungen und


1-3 1-3
Auslieferung an den Kunden Auslieferung an den Kunden

ca. 10 Wochen ca. 7 - 10 Wochen


= 64 - 79 Tage = 48 - 74 Tage

Abb. 5: Schematischer Vergleich der Auftragsbearbeitung und Lieferzeiten in Abhängigkeit des


Individualisierungszeitpunktes
136 Antje Krey, Ulrike Meuser, Peter Schentler

5 Zusammenfassung und Ausblick


Die Ergebnisse des Beitrages lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Lieferzeiten der
Mass-Customization-Konzepte Individualisierung in der Fertigung und Individualisierung im
Vertrieb – entsprechend dem dargestellten Fallbeispiel – sind bei normaler Auslastung nahezu
identisch. Bei einer Individualisierung im Vertrieb
x ergeben sich ein geringerer Planungsumfang und ein längerer Planungshorizont für die
Beschaffung der Individualisierungsteile und
x können spezifische Bedürfnisse verschiedener Absatzregionen leichter berücksichtigt
werden.
Dem gegenüber stehen jedoch auch Nachteile:
x Es gibt mit dem Technikzentrum, welches die Individualisierung in der Vertriebsregion
vornimmt, einen weiteren Partner in der Supply Chain, der in die Planungs- und Steue-
rungsprozesse einzubinden ist und für den Personal wie auch Räume verfügbar sein müs-
sen.
x Nachfrageschwankungen in einzelnen Vertriebsregionen und daraus resultierende Kapazi-
tätsauslastungen in den Technikzentren können schwieriger ausgeglichen werden als im
Produktionswerk, wo diese ggf. durch andere Regionen kompensiert werden können.
x Die Anzahl der Individualisierungsoptionen nimmt ab. Auch ist das nachträgliche Ein-
bauen mancher Individualteile aufwendiger als eine Berücksichtigung direkt in der Pro-
duktion.
Das Konzept der Individualisierung im Vertrieb konnte in diesem Beitrag lediglich anhand
eines Unternehmensbeispiels dargestellt werden. Die daraus resultierenden Aussagen können
als Basis für weitere Forschungen, beispielsweise zur Generierung von Hypothesen für empi-
rische Untersuchungen, herangezogen werden. Aufgrund der eingeschränkten allgemeinen
Aussagefähigkeit des durchgeführten Vergleiches ist eine breiter angelegte empirische Unter-
suchung der Individualisierung im Vertrieb anzustreben, die u. a. auch einen Vergleich der
Herstellungskosten mit der Individualisierung in der Fertigung beinhalten sollte.

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Teil C

Kundenbindung
und CRM
Integriertes Marken- und Kundenwertmanagement

Tina Kießling, Cornelia Zanger

1 Einleitung
Bereits seit mehreren Jahren wird die Aufforderung nach einer integrativen Betrachtung des
Marken- und Kundenwertmanagements in Wissenschaft und Praxis vernommen. Dabei ist vor
allem von Interesse, in welchem Ausmaß die Marke im Vergleich zu anderen Werttreibern
das Verhalten von (potenziellen) Kunden bestimmt und damit deren Wertbeitrag für das
Unternehmen beeinflusst [Leone et al. 2006; Verhoef et al. 2007]. Aus der Perspektive des
Unternehmens ist die gemeinsame Betrachtung der Wertkonzepte vor allem für die Allokation
der zur Verfügung stehenden Ressourcen bedeutsam. Das heißt, soll ein Unternehmen zur
Steigerung des Unternehmenserfolgs vorrangig in Maßnahmen zur Erhöhung des Marken-
werts oder in andere Aktivitäten zur Verbesserung der individuellen Kundenwerte investie-
ren? In welchem Grad ein integriertes Marken- und Kundenwertmanagement notwendig und
erfolgversprechend ist, hängt jedoch zusätzlich stark von der Branche, dem Produkt, dem
Stadium der Geschäftsbeziehung oder dem spezifischen Kundensegment ab. Ausgehend von
theoretischen Betrachtungen zur Verknüpfung der beiden Wertkonzepte wird in diesem Bei-
trag anhand einer Kundenbefragung im Automobilbereich gezeigt, wie der Stellenwert der
Marke im Vergleich zu anderen Werttreibern in zwei verschiedenen Kundensegmenten ein-
zuordnen ist.

2 Integriertes Kunden- und Markenmanagement


2.1 Kundenwert
Kundenbewertungen haben vor allem in den letzten Jahren, im Rahmen der Kundenorientie-
rung, stark an Zuspruch gewonnen und entwickeln sich zum wichtigen Bestandteil der wert-
orientierten Unternehmensführung. Im Bereich der Kundenwertforschung ist zunächst zu
beachten, dass der Begriff Kundenwert aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wer-
den kann [Eggert 2006, S. 43].
Unter Kundenwert (Customer Equity) aus Unternehmenssicht versteht man das Ausmaß, in
dem ein Kunde durch sein Verhalten dazu beiträgt, die monetären bzw. nicht-monetären Ziele
eines Anbieters zu erfüllen [Cornelsen 2000, S. 39]. Wertvoll für das Unternehmen kann
dabei nicht nur der Kauf der Produkte und Dienstleistungen sein, sondern beispielsweise auch
das Referenz- und Informationsverhalten von Kunden und Nicht-Kunden [Tomczak/Rudolph-
Sipötz 2006, S. 129 f.; Cornelsen 2000, S. 29 f.]. Der Wert eines Kunden aus Unternehmens-
sicht wird demnach umso höher, je mehr die positiven Wertbeiträge des Kunden seine ihm
zurechenbaren Kosten (Herstellungs-, Akquise-, Betreuungskosten, …) übersteigen. Im Rah-
men der Erstarkung des Relationship Marketings entwickelten sich zahlreiche Bewertungsan-
142 Tina Kießling, Cornelia Zanger

sätze, um diese Wertbeiträge darzustellen. Sie unterscheiden sich hauptsächlich hinsichtlich


der Bewertungseinheit (z. B. Kundenstamm, Kundensegmente oder kundenindividuelle Be-
trachtungen), des Zeithorizonts (z. B. statische Einperiodenbetrachtungen oder dynamische
Lebenszyklusbetrachtungen) oder der berücksichtigten Größen des Kundenwerts (z. B. Erfas-
sung rein monetärer und/oder nicht-monetäre Wertbeiträge) [Helm/Günter 2006, S. 8 f.].
Während sich auf definitorischer Ebene ein umfassendes Verständnis des Kundenwerts etab-
liert hat, werden Wissenschaft und Praxis mit der Abbildung der Wertbeiträge allerdings
immer noch vor große Herausforderungen gestellt. Vor allem kundenindividuelle, dynami-
sche Betrachtungen und die Abbildung nicht-monetärer Beiträge scheitern oftmals an der
Komplexität der Datenerhebung, der subjektiven Dateninterpretation oder an der Prognose
über zukünftiges Kundenverhalten. Nichtsdestotrotz wird der Kundenwert als ein wichtiges
Element der Unternehmensführung immer bedeutsamer. Der Kundenwert kann dabei ver-
schiedene Steuerungsfunktionen einnehmen. Zum einen dient er als Informationsgrundlage
für Entscheidungen darüber, ob Neukunden akquiriert werden sollten oder bei welchen Kun-
den sich zusätzliche Investitionen lohnen (z. B. konkrete Ausgestaltung der Marktbearbei-
tungsinvestitionen in bestehende Kundenbeziehungen). Zum anderen kann der Kundenwert
als Kennzahl zur Bestimmung der Effizienz von eingesetzten Marktbearbeitungsinstrumenten
sowie als Größe der Unternehmensbewertung eingesetzt werden [Burmann 2003, S. 115].
Zur Bestimmung des Stellenwerts der Marke für das Kundenwertmanagement wird neben der
Anbieterperspektive ebenso der Kundenwert aus Nachfragersicht (Customer Value)1 interes-
sant. Der Kundenwert aus Nachfragersicht ist der vom Kunden subjektiv wahrgenommene
und beigemessene Wert der Unternehmensleistungen und beschreibt die Eignung eines Pro-
dukts bzw. einer Dienstleistung zur Bedürfnisbefriedigung der Kunden unter Einbezug der
dafür zu investierenden Kosten [Wille 2005, S. 34; Cornelsen 2000, S. 37].2 Bei der Entschei-
dung über den Wert der Leistung können verschiedene Faktoren eine Rolle spielen. Nicht nur
der Preis und die funktionalen Produkteigenschaften bilden wichtige Bewertungskriterien,
sondern auch Faktoren wie der symbolische Nutzen eines Produkts, der Beschaffungsaufwand
oder der wahrgenommene Beziehungsnutzen [Sweeney/Soutar 2001, S. 211; Hundacker
2005, S. 77 ff.; Gwinner et al. 1998]. Während der symbolische Wert einer Leistung meist
durch die Markierung und emotionale Aufladung der Leistung geschaffen werden kann, fallen
unter den Beziehungsnutzen vorrangig der Nutzen aus der Interaktion mit Mitarbeitern des
Unternehmens (z. B. entstehende Bekanntschaften, soziale Kontakte/Vertrautheit), die wahr-
genommene Bevorzugung von (Stamm-)Kunden durch ökonomische oder immaterielle Vor-
teile (z. B. Preisnachlässe, Spezialbehandlung) sowie eine hohe Beziehungsqualität (z. B.
Fairness, Freundlichkeit, Wertschätzung) [Gwinner et al. 1998; Hundacker 2005]. Ökonomi-
sche und funktionale Nutzenaspekte sind somit um emotionale und soziale Nutzen- bzw.
Kostenposten zu ergänzen [Sweeney/Soutar 2001, S. 211; Hundacker 2005].
Demnach kann mit Hilfe des Kundenwerts aus Nachfragersicht beschrieben werden, welchen
Stellenwert die Marke oder andere Nutzentreiber für den Konsumenten einnehmen. Beide

1
Synonym werden im deutschsprachigen Raum die Begriffe wahrgenommener Wert, Kundenvorteil, Kun-
dennettonutzen sowie im englischsprachigen Raum „perceived value“ verwendet.
2
Laut Matzler [2000, S. 290] stellt der Customer Value die „vom Kunden wahrgenommene Diskrepanz
zwischen dem (mehrdimensionalen) wahrgenommenen Nutzen und den (mehrdimensional) wahrgenom-
menen Kosten im Vergleich zur Konkurrenz“ dar.
Integriertes Marken- und Kundenwertmanagement 143

Perspektiven des Kundenwerts sind eng miteinander verbunden. Das Unternehmen ist be-
strebt, mit Hilfe seines Unternehmensangebotes Nutzen für den Kunden zu generieren (z. B.
über Produkteigenschaften, die Beziehungsgestaltung und das Markenimage). Die vom Kun-
den wahrgenommene Güte des Unternehmensangebots steuert danach maßgeblich das Ver-
halten des Kunden und damit seinen Wertbeitrag für das Unternehmen (z. B. Umsatz, Refe-
renzverhalten). Zur Optimierung des Kundenwerts aus Anbietersicht bedarf es somit eines
Managementmodells, welches konkrete Unternehmensaktivitäten zur Beeinflussung des
Kundenwerts aus Nachfragersicht mit den Kundenwertbetrachtungen aus Anbietersicht in
Verbindung bringt.

2.2 Markenwert
Die große Bedeutung von Marken als ein Wertstifter für den Kunden ist in Wissenschaft und
Praxis unumstritten und wird eindrucksvoll durch die Masse an Veröffentlichungen zur The-
matik sowie durch die zahlreichen Ansätze zur Bewertung der Marke belegt. Der Markenwert
stellt seit langer Zeit eine wichtige Größe für die Unternehmensbewertung und die Unterneh-
menssteuerung dar [Esch/Geus 2005, S. 1265]. Auch dem Konzept des Markenwerts kann
sich aus verschiedener Perspektive genähert werden. Während finanzorientierte Bewertungs-
ansätze zur Unternehmensbewertung den Markenwert eher als „Kapitalwert abgezinster zu-
künftiger markenspezifischer Einzahlungsüberschüsse“ definieren [Sattler 2005, S. 35], unter-
suchen verhaltenswissenschaftliche Bewertungsansätze den Markenwert als Ursache des
Konsumentenverhaltens. Unter Markenwert wird in diesem Falle derjenige Wert verstanden,
der mit dem Namen oder dem Symbol einer Marke aus Sicht einer bestimmten Nutzergruppe
verbunden ist [Sattler 2005, S. 34]. Wenn es einer Marke durch Kommunikation und Markt-
auftreten gelingt, in den Köpfen der Konsumenten werthaltige, Nutzen stiftende Vorstellun-
gen zu etablieren, welche über die physischen Eigenschaften des Produktes hinausgehen,
kann für das Unternehmen eine zusätzliche Rendite erwirtschaftet werden. Aus diesem Grund
wird der Markenwert oft als inkrementaler Wert aufgefasst [Aaker 1991]. Die Erfassung des
Markenwertes erfolgt hier meist über nicht-monetäre Konstrukte wie Markenvertrauen, Mar-
kenimage oder Markensympathie, welche allerdings nicht allein durch die symbolische Kraft
der Marke beeinflusst werden [Sattler 2005, S. 35; Esch/Geus 2005, S. 1270]. Die verhal-
tenswissenschaftliche Sicht auf den Markenwert kann leicht mit dem Konzept des Kunden-
werts verknüpft werden, da die Marke zum einen für den Kunden einen zusätzlichen Nutzen
darstellt (Kundenwert aus Nachfragersicht) und somit zum anderen als Erklärungsgröße für
sein Kauf- und Referenzverhalten angesehen werden kann (Kundenwert aus Anbietersicht).

2.3 Verbindung von Markenwert und Kundenwert


Zur Beantwortung der Frage, in welchem Ausmaß Markenaktivitäten im Vergleich zu ande-
ren Unternehmensmaßnahmen das Verhalten von (potenziellen) Kunden bestimmen, wird ein
Managementmodell erforderlich, welches konkrete Unternehmensaktivitäten mit Kunden-
wertbetrachtungen in Verbindung bringt. Obwohl zahlreiche Modelle zur Bestimmung des
Kundenwerts existieren (vgl. zur Kategorisierung von Kundenwertmodellen [Burmann 2003,
S. 116 ff.; Hundacker 2005, S. 114]), erfolgt bei den wenigsten eine Verknüpfung zu konkre-
ten Marktbearbeitungsinstrumenten oder Kundenwerttreibern. Als eins der wichtigsten Ver-
treter in diesem Kontext kann das Management-Modell von Rust et al. [2000] angesehen
144 Tina Kießling, Cornelia Zanger

werden. In Anlehnung an den Kundenwert aus Nachfragersicht liegt hier der Ausgangspunkt
bei der Annahme, dass der vom Kunden wahrgenommene Nutzen eines Produktes bzw. einer
Dienstleistung sich aus drei wesentlichen Kernelementen zusammensetzt: dem „value equity“,
dem „brand equity“ sowie dem „relationship equity“ [Rust et al. 2000, S. 56 f.; Rust et al.
2005, S. 23; Kaplan/Norton 1997, S. 71 ff.]. Alle drei Elemente beeinflussen den Wertbeitrag
des einzelnen Kunden am Unternehmenserfolg, d. h. zur Maximierung der Kundenwerte
sollte das Unternehmen bestrebt sein, die Planung seiner Marketingmaßnahmen auf diese
Elemente auszurichten (vgl. Abb. 1).
Unternehmens-
Output

Kundenwert
(Customer Equity)

Nettonutzen der
Unternehmensleistung
Kundensicht

Leistungswert Markenwert Beziehungswert


(Value Equity) (Brand Equity) (Relationship Equity)

Nutzen durch: Nutzen durch: Nutzen durch:

• Preis • Markenimage • Wertschätzung


• Qualität • Markenassoziationen • Convenience
• Funktionalität • Symbolik • Interaktion

Festlegung der Markenauftritt Direktes Verhalten


Unternehmens-

funktionalen gegenüber dem Kunden


Aktivitäten

Produkteigenschaften (z.B. Unternehmensethik,


Markenkommunikation, (z.B. Interaktionsqualität,
(z.B. Design, gesellschaftliches Affinitäts-, Loyalitäts-,
Funktionalitäten, Engagement) Community- und
Preis) Knowledge-building
Programme

Abb. 1: Customer Equity Model [in Anlehnung an Burmann 2003, S. 123; Rust et al. 2005, S. 24 f.]

Der Leistungswert (value equity) im Model von Rust et al. [2000] repräsentiert den Nutzen
aus den objektiven Produkteigenschaften eines Unternehmens. Das heißt, der Kunde betrach-
tet den funktionalen Nettonutzen sowie das dafür zu entrichtende „Opfer“ in Form des Preises
und darüber hinaus nicht-monetäre Kosten wie Zeit und Anstrengungen [Rust et al. 2000,
S. 68]. Durch die Gestaltung und Entwicklung von einzigartigen Produkten und Dienstleis-
tungen kann das Unternehmen den vom Kunden wahrgenommenen Leistungswert des eige-
nen Angebots beeinflussen. Der Markenwert (brand equity) im Model von Rust et al. [2000]
hingegen spiegelt die subjektiven und intangiblen Eindrücke der Kunden über das Unterneh-
Integriertes Marken- und Kundenwertmanagement 145

men und seine Angebote wider. Der empfundene Nutzen resultiert aus dem Zusatznutzen, der
durch die Markierung des Produkts für den Kunden entsteht (z. B. soziale Anerkennung,
Prestigegewinn oder Identitätsausdruck). Von Unternehmensseite kann vor allem durch Mar-
kenkommunikation und gesellschaftliches Engagement Einfluss auf diese subjektiven Eindrü-
cke beim Kunden genommen werden. Der Beziehungswert (relationship equity) bezieht sich
schließlich auf die Güte und Stärke der Beziehung zwischen Kunde und Unternehmen. Dieser
Wert wird maßgeblich durch die Interaktion mit dem Unternehmen geprägt. Im Rahmen des
Relationship Marketings zielen viele Direktmarketingmaßnahmen, Loyalitätsprogramme, aber
auch Vertriebs- und Mitarbeiterschulungen auf eine Verbesserung des wahrgenommenen
Beziehungsnutzens beim Kunden ab.
Generell beeinflussen alle drei dargestellten Leistungselemente das Verhalten des Kunden
und begründen damit den Wert des Kunden für das Unternehmen [Rust et al. 2000]. Während
Produkt- und Markenaktivitäten schon seit jeher im Fokus des Marketings stehen, gewannen
Maßnahmen zur Stärkung der Kunden-Unternehmensbeziehung vor allem angesichts verän-
derter Marktbedingungen im Rahmen des Relationship Marketings an Bedeutung. Aus der
Perspektive des Unternehmens ist die gemeinsame Betrachtung von Werttreibern und Kun-
denwert für eine effiziente und effektive Allokation der zur Verfügung stehenden Ressourcen
essenziell. Hinsichtlich der Bedeutung der Marke und des Stellenwerts der anderen Werttrei-
ber für den Erfolg des Unternehmens ergeben sich dabei mehrere Fragestellungen:
x Wie hoch ist der Einfluss der Marke im Vergleich zu anderen Werttreibern auf den Kun-
denwert in bestimmten Bereichen oder Branchen?
x Welche Bedeutung kommt der Marke im Vergleich zu anderen Werttreibern über die
Dauer der Geschäftsbeziehung als Determinante des Kundenverhaltens zu (Vergleich
Nichtkunden, Neukunden, Stammkunden)?
x In welchem Grad trägt die Marke im Vergleich zu anderen Werttreibern zur Bindung
bestimmter Kundensegmente und damit zur Sicherstellung hoher Kundenwerte bei?
Empirische Untersuchungen zur Beantwortung dieser Fragestellungen bietet die Literatur nur
spärlich. Bezüglich der Bedeutung des Werttreibers Marke für den Unternehmenserfolg zeigt
eine von Sattler und PriceWaterhouseCoopers [1999] durchgeführte Studie im Wesentlichen,
dass nach Einschätzung von Experten die Bedeutung der Marke stark über Branche und Gut
variieren kann. Während gute Kundenbeziehungen oder spezifische Produkteigenschaften im
Dienstleistungs- und Industriegütersektor Hauptgründe für den Kauf bzw. die Zahlungsbereit-
schaft der Kunden sein können, leben Branchen wie die Konsumgüterindustrie – in denen
meist kaum persönliche Kundenkontakte auftreten – stark von der Markierung und der sym-
bolischen Aufladung ihres Produktes. Allerdings können trotzdem zahlreiche Szenarien denk-
bar sein, aus denen Handlungsbedarf für Unternehmen resultieren kann. „Bei Branchen bei
denen die Marke noch eine geringe Rolle spielt, kann dies daran liegen, dass man bislang das
Markenmanagement vernachlässigt hat.“ [Esch/Möll 2006, S. 231]. Darüber hinaus kann auch
bei Gütern, bei denen bisher die Marke die dominante Rolle spielte, das Beziehungsmanage-
ment als Differenzierungspotenzial zum Wettbewerber vernachlässigt worden sein.
Darüber hinaus muss auch der Einfluss der Werttreiber zu verschiedenen Zeitpunkten der
Geschäftsbeziehung nicht notwendigerweise stabil sein. Vor allem bei Gütern mit Produkt-
nutzungs- und Beziehungserfahrung kann die Marke als Hauptanreiz in den Hintergrund
146 Tina Kießling, Cornelia Zanger

rücken, sobald diese Erfahrungen das Bild der Marke ergänzen. Interessant für die strategi-
sche und operative Markenführung ist hier demnach die Frage, wie Neu-, Stamm- und Nicht-
kunden die einzelnen Wertbeiträge bewerten und wie gewichtig diese für ihre (Wieder-)
Kaufentscheidung sind. Johnson et. al. [2006, S. 129] weisen auf eine Veränderung der Kun-
denintentionen hin. Bei einer Untersuchung im Telekommunikationsbereich zeigen die Auto-
ren, dass im frühen Technikdiffusionsprozess Kundenintentionen vor allem „value based“,
später hingegen eher „brand based“ und „relationship based“ sind [Johnson et al. 2006,
S. 129].
Die Bedeutung der Marke für die Realisierung hoher Kundenwerte kann jedoch nicht nur von
Branche zu Branche oder über die Zeit der Geschäftsbeziehung variieren, sondern auch zwi-
schen Kundensegmenten. Innerhalb der Käuferschicht einer Marke ist nicht immer von ho-
mogenem Kaufverhalten auszugehen. Die Betrachtung verschiedener Kundensegmente hin-
sichtlich ihrer Bedürfnisse und Einschätzung der Unternehmensleistung kann Rückschlüsse
auf den Stellenwert der Marke im Vergleich zu anderen Werttreibern geben. So kann für
einen Teil der Kunden die Marke der entscheidende Kauffaktor sein und selbst Mängel in
Produkt, Service oder Betreuung keine Auswirkungen auf das Verhalten der Kunden haben
müssen, für ein anderes Kundensegment hingegen kann die Marke eine wichtige, aber nicht
unbedingt hinreichende Bedingung für loyales Kundenverhalten darstellen.3 Vor allem im
Hinblick auf wertvolle Kundensegmente muss überlegt werden, wie die Bedeutung der Marke
einzuschätzen ist. Im Folgenden soll anhand einer Kundenbefragung im Automobilbereich
untersucht werden, ob der Stellenwert der Marke im Vergleich zu anderen Werttreibern in
zwei verschiedenen Kundensegmenten ähnlich zu bewerten ist oder ob Unterschiede existie-
ren.

3 Empirische Untersuchung
3.1 Methodik und Untersuchungsmodell
Die empirische Untersuchung beruht auf einer 2005 in Deutschland durchgeführten Befra-
gung von 450 Kunden aus der Automobilindustrie. Dabei wurden sowohl Privat- als auch
Geschäftskunden eines großen deutschen Automobilherstellers im Premiumsegment telefo-
nisch mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens interviewt. Unter dem Begriff Geschäfts-
kunden sind dabei keine Flottenkunden zu verstehen, sondern kleine bis mittlere Handwerks-
betriebe, Selbständige und Nutzer von Firmenfahrzeugen. Diese beiden Gruppen können
sowohl aufgrund ihrer Bedürfnisstruktur als auch aufgrund ihrer soziodemographischen Cha-
rakteristika und ihrer Wertbeiträge für das Unternehmen zwei unterschiedliche Kundenseg-
mente darstellen. Alle Probanden sind Neuwagenkäufer und wurden ca. zwei Jahre nach dem
Kauf ihres letzten Pkws interviewt.
Die Operationalisierung innerhalb der empirischen Untersuchung folgt der dreidimensionalen
Struktur von Rust et al. [2000, 2005]. Die vom Unternehmen angebotenen Nutzen stiftenden

3
Auch bei der Entscheidung über die Eroberung potenzieller Kundensegmente stellt sich die Frage, ob es zur
Akquirierung der Segmente allein der Ausstrahlungskraft der Marke oder anderer strategischer Optionen
bedarf, d. h. ob eine Segmentierung bei der Bearbeitung von potenziellen Kunden Erfolg versprechend sein
kann.
Integriertes Marken- und Kundenwertmanagement 147

Leistungsbündel bzw. Aktivitäten müssen als solche vom Abnehmer wahrgenommen und
bewertet werden. Die Messung des Markennutzens erfolgt über vier Indikatoren zur Bewer-
tung von wichtigen Imagedimensionen des Automobilherstellers (z. B. „Markenname ist eine
repräsentative, begehrenswerte Marke“). Der funktionelle Produktnutzen wird mehrdimensio-
nal mit Hilfe von drei Produktdimensionen abgebildet.4 Dazu zählen die technische Ausstat-
tung (z. B. „Markenname weist einen sehr hohen technischen Standard auf“), die Fahreigen-
schaften (z. B. „Markenname verfügt über eine meinen Bedürfnissen angepasste Leistung“)
und der wahrgenommene Komfort und Luxus (z. B. „Markenname verfügt über eine sehr
luxuriöse Innenausstattung“).

Produkt:
Fahreigenschaften
Leistung

Produkt:
Techn. Ausstattung

Produkt:
Comfort/Luxus

Kundenwert
Marke

Marke

Beziehung:
Beziehung

Empathie

Beziehung:
Kooperation

Abb. 2: Untersuchungsmodell

Der Beziehungsnutzen wird mit Hilfe von zwei Dimensionen abgebildet. Die erste Dimension
misst die Empathie bzw. Kompetenz des Anbieters beim Umgang mit dem Kunden (z. B.
„Markenname ist grundsätzlich sehr freundlich und zuvorkommend“), Dimension zwei die
Kooperationsbereitschaft des Anbieters über die Dauer der Geschäftsbeziehung (z. B. „Ich
empfinde die Anzahl der Besuche und Anrufe beim Händler als anstrengend“). Die Messung
des Kundenwerts erfolgt nicht anhand monetärer Umsatz- und Kostendaten, sondern wird
anhand von 3 Indikatoren zur Loyalität und zum Kaufverhalten der Kunden erhoben (z. B.
„Ich werde mir wieder einen Markenname kaufen“). Alle Probanden mussten die eingesetzten
Items anhand einer 5-stufigen Ratingskala (von 1 = „trifft voll und ganz zu“ bis 5 = „trifft
überhaupt nicht zu“) bewerten. Zur Überprüfung der Auswirkung der einzelnen Werttreiber
bleibt somit das in Abb. 2 dargestellte Strukturmodell.

4
Diese wurden anhand von Kundenbefragungen im Vorfeld der Studie als wichtigste Produkteigenschaften
der Anbieterfahrzeuge ermittelt.
148 Tina Kießling, Cornelia Zanger

3.2 Ergebnisse
Die Datenauswertung erfolgt mit Hilfe der Statistikprogramme SPSS und LISREL. Von den
450 Befragten nutzen 205 Personen (45,6 %) ihren Wagen vorwiegend privat, während 245
Personen (54,4 %) ihr Fahrzeug überwiegend für geschäftliche Zwecke verwenden. Die bei-
den Segmente unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Pkw-Nutzung, sondern auch
bezüglich ihrer Soziodemografika. Während das Geschäftskundensegment vorwiegend zwi-
schen 40 und 60 Jahre alt ist, sind die Personen des privaten Segments größtenteils über 60
Jahre. Darüber hinaus verdienen die geschäftlichen Nutzer mehr, tendieren zu teureren Pkw-
Modellen ((obere) Mittelklasse, Oberklasse) und sind zu 70 % Gewerbetreibende, Selbständi-
ge bzw. leitende Angestellte. Das private Kundensegment setzt sich zu knapp der Hälfte aus
Rentnern zusammen mit einer Vorliebe für Kompaktklasse- und Mittelklassewagen.
Zur Überprüfung des Einflusses der Werttreiber auf den Kundenwert wurde zunächst die Güte
des Messmodells überprüft. Sowohl die Werte für das Cronbachs Alpha (von 0,779 bis 0,941)
als auch die Faktorladungen (von 0,66 bis 0,92), die durchschnittlich erfasste Varianz (AVE
von 0,63 bis 0,84) und die Konstruktreliabilität (von 0,770 bis 0,939) liegen im Allgemeinen
über den geforderten Grenzen [Fornell/Larcker 1981, S. 45; Hair et al. 2006]. In Bezug auf
die Diskriminanzvalidität zeigt das Fornell & Larcker [1981]-Kriterium ebenfalls positive
Ergebnisse für alle sieben Konstrukte. Das verwendete Messmodell kann somit als reliabel
und valide angesehen werden. Im Anschluss an die Überprüfung des Messmodells erfolgte
die Anwendung der LISREL-Multigruppenanalyse zur Identifizierung von Gruppenunter-
schieden. Zur Überprüfung ob Gruppenunterschiede vorliegen, wird in einem ersten Schritt
zunächst ein völlig unrestringiertes Modell (Baseline Modell mit freien Faktorladungen,
freien Varianzen, freien Fehlern, freien Pfaden) berechnet. In einem zweiten Schritt erfolgt
die Berechnung eines Modells mit fixierten Faktorladungen entsprechend der Annahme, dass
für beide Gruppen das gleiche Messmodell Anwendung finden kann. Der Vergleich der bei-
den Modelle führt zu keiner Verschlechterung der Fitwerte und bestätigt somit die Nullhypo-
these (gleiche Faktorladungen) des zweiten Modells (vgl. Tab. 1).

Multigroup-Vergleich
Modell 1: unrestringiertes Baseline Modell d.f. 261
² 584,90
Modell 2: gleiches Messmodell d.f. 272
² 590,10
²(11) 5,10*
Modell 3: gleiche Pfadstärken d.f. 278
² 609,86
²(6) 19,76*
*p < 0,10 d.f. = degrees of freedom

Tab. 1: Überprüfung der Gruppenmodelle auf Messmodell- und Pfadgleichheit

Das verwendete Messmodell kann demnach für beide Gruppen eingesetzt werden. In einem
nächsten Schritt erfolgt die Berechnung eines dritten Modells, welches die Gleichheit der
Integriertes Marken- und Kundenwertmanagement 149

Pfadstärken für beide Gruppen unterstellt. Das Ergebnis des Vergleichs zwischen diesem
Modell und Modell 2 führt zu einer Ablehnung der Nullhypothese (vgl. Tab. 1), d. h. es exis-
tieren Unterschiede zwischen dem privaten Segment und dem Segment der Geschäftskunden
hinsichtlich der Stärke des Einflusses von Marken-, Leistungs- und Beziehungswert auf den
Kundenwert.
Tab. 2 zeigt die Wirkungsstärken der einzelnen Werttreiber auf den Kundenwert pro Kunden-
segment. Als dominierender Faktor kann bei beiden Kundengruppen die Marke identifiziert
werden, d. h. der Stellenwert der Marke variiert nicht über die Kundensegmente des unter-
suchten Premiumanbieters. Allerdings wirkt sich die Qualität anderer Werttreiber unterschied-
lich auf den Kundenwert und das Kundenwertmanagement aus. Die Ergebnisse weisen auf
Gruppenunterschiede hinsichtlich wichtiger Leistungs- und Beziehungsdimensionen hin.
Während beispielsweise für das private Segment vor allem Wertschätzung und Empathie in
der Beziehung als Kundenwerttreiber identifiziert werden, wirkt sich bei Geschäftskunden vor
allem die Kooperationsbereitschaft des Anbieters auf den Kundenwert aus. Viele Probanden
dieses Segments bewerteten die Interaktion mit der Marke als anstrengend, die Informations-
beschaffung belastend und wenig bedürfnisgerecht.

Nutzergruppe Privat Geschäft


Pfad
Prod.: Techn.Ausstattung  Kundenwert -0,01 0,29*
Prod.: Comfort/Luxus  Kundenwert 0,08 0,09
Prod.: Fahreigenschaften  Kundenwert 0,14* 0,02
Marke  Kundenwert 0,41* 0,55*
Bez.: Empathie  Kundenwert 0,15* 0,09
Bez.: Kooperation  Kundenwert -0,04 0,20*
² (272) = 568,46; RMSEA = 0,070; CFI = 0,96; NNFI = 0,95 ; * signifikante Pfadkoeffizienten

Tab. 2: Standardisierte Pfadkoeffizienten pro Kundensegment (Strukturmodel)

Möchte man sowohl die Kundenwerte des Privatsegments als auch des Geschäftssegments
erhöhen, ist demnach zum einen die Güte des Markenimages sicher zu stellen, zum anderen
führen die Erkenntnisse der Untersuchung zu einer segmentierten Kundenbearbeitung. Wäh-
rend beispielsweise zur Verstärkung der wahrgenommenen Wertschätzung im privaten Seg-
ment Mitarbeiterschulungen oder Loyalitätsprogramme eingesetzt werden können, müssten
zur Verbesserung der wahrgenommenen Kooperationsbereitschaft Unternehmensprozesse
optimiert bzw. an Kundenbedürfnisse angepasst werden. Die Gewährleistung von Qualität in
diesen Bereichen kann zu Wettbewerbsvorteilen gegenüber starken Konkurrenzmarken füh-
ren. Vor allem bei lukrativen Segmenten mit hohem Kundenwert und sensiblem Kaufverhal-
ten (z. B. Geschäftskundensegment) sollte das Unternehmen die wesentlichen Werttreiber zur
Maximierung der Kundenwerte nutzen.
150 Tina Kießling, Cornelia Zanger

4 Fazit und Ausblick


Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass ein integriertes Marken- und Kundenwertma-
nagement besonders wichtig ist. Die Marke wurde in dieser Untersuchung als Haupttreiber
des Kundenwerts für beide Kundensegmente identifiziert. Eine segmentierte Kundenbearbei-
tung (d. h. Verteilung der Unternehmensressourcen auf unterschiedliche Aktivitäten zur Er-
höhung der Kundenwerte pro Segment) kann in dem Fall dann sinnvoll werden, wenn neben
der Marke weitere Kundenwerttreiber zur Erreichung wichtiger Wettbewerbsvorteile opti-
miert werden sollen. Dadurch wird deutlich, dass nicht nur ein integriertes Marken- und Kun-
denwertmanagement, sondern eine Integration aller Werttreiber mit dem Kundenwertmana-
gement anzustreben ist. Die Verteilung von Budgets sollte sich dabei an dem Beitrag der
einzelnen Werttreiber zu Kundenwerterhöhungen orientieren.
Obwohl in dieser Studie die Marke für beide Kundensegmente als der zentrale Werttreiber
identifiziert wurde, kann es dennoch Szenarien geben, in denen die Bedeutung der Marke
zwischen verschiedenen Kundensegmenten variiert. Die Identifizierung solcher Szenarien
beispielsweise in Abhängigkeit der Branche oder Art des Produktes kann den Inhalt zukünfti-
ger Forschungsarbeiten beschreiben. Die Untersuchung von Kundensegmenten, welche sich
hinsichtlich ihres Geschäftsbeziehungsalters unterscheiden (z. B. potenzielle Kunden, Neu-
kunden, Stammkunden), kann zusätzliche Erkenntnisse über den Stellenwert der Marke im
Laufe der Kunden-Unternehmens-Beziehung liefern. Darüber hinaus wären Studien zur Effi-
zienzmessung konkreter Markenaktivitäten sinnvoll, um eine gezielte Steuerung der Kunden-
werte zu ermöglichen.

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Beschwerdestimulierung – Status quo und Potenziale
am Beispiel der Schweizer Versicherungsbranche

Osman Bayraktar, Volker Nissen

1 Grundlagen
1.1 Gestiegene Bedeutung der Kundenorientierung auf dem Versicherungsmarkt
Die Versicherungsbranche ist nach jahrzehntelanger Marktregulierung derzeit mit einer hohen
Veränderungsgeschwindigkeit ihrer Rahmenbedingungen konfrontiert, wodurch sich die
Unsicherheit bezüglich zukünftiger Entwicklungen vergrößert. Aufgrund der Deregulierung
des Versicherungsmarktes, sinkender Renditen und fehlendem Wachstum hat sich der Wett-
bewerb in der Versicherungsbranche verschärft. Hinzu kommt die Sensibilisierung der Kun-
den für das Preis-Leistungsverhältnis und die Entwicklung vom Verkäufer- zum Käufermarkt
[GDV 1998, S. 73 ff.]. Eine Neukundenakquisition ist aufgrund des gesättigten Versiche-
rungsmarktes schwierig und im Allgemeinen sind die Kosten für die Akquisition eines Neu-
kunden um ein Vielfaches höher als die Kosten für die erfolgreiche Bindung eines bestehen-
den Kunden.
Vor diesem Hintergrund sollten Anstrengungen zur Kundenbindung bei Versicherern hohe
Priorität genießen. Die Versicherungsunternehmen müssen um ihre bestehenden Kunden
„kämpfen“ und das gesamte Kundenpotenzial möglichst ausschöpfen. Der „Kampf“ um
Marktanteile bzw. um Kunden in der Versicherungsbranche wird sich in Zukunft weiter ver-
schärfen. Damit wird Kundenorientierung auch in der Versicherungsbranche zum zentralen
Erfolgsfaktor für ein nachhaltiges Bestehen im Wettbewerb.

1.2 Beschwerdemanagement als Instrument der Kundenorientierung


Der Erfolg eines Unternehmens baut nicht mehr auf objektiver, sondern vom Kunden subjek-
tiv wahrgenommener Qualität auf [Simon 1988, S. 474; Harbrücker 1995, S. 314]. Stimmen
die wahrgenommenen Leistungsmerkmale nicht mit den Erwartungen des Kunden überein,
kann der Kunde die Qualitätsdefizite mittels einer Beschwerde zum Ausdruck bringen. Dabei
wird unter einer Beschwerde „eine schriftliche, telefonische oder persönliche Unzufrieden-
heitsäußerung potenzieller oder tatsächlicher Kunden gegenüber Herstellern oder Absatzmitt-
lern verstanden, die sich auf negativ wahrgenommene Erfahrungen vor, während oder nach
dem Kauf eines Produkts beziehen“ [Homburg/Fürst 2006, S. 3]. Beschwerden sind wichtige
Informationsquellen für die Beantwortung der zentralen Frage, ob und inwieweit Kunden mit
Produkten und Dienstleistungen zufrieden sind. Mit den in Beschwerden enthaltenen Informa-
tionen kann ein Unternehmen die Kundenunzufriedenheit frühzeitig wahrnehmen, aktiv bear-
beiten und die entsprechenden Maßnahmen einleiten, um eine zukünftige Unzufriedenheit zu
vermeiden [Jeschke 2005, S. 15 f.]. Kundenbeschwerden sind daher kein lästiges Übel, son-
154 Osman Bayraktar, Volker Nissen

dern stellen eine Chance dar, den Erfolg eines Unternehmens in Zeiten der Globalisierung und
gesättigter Märkte zu sichern [Stauss/Seidel 2002].
Kunden, die nicht zufrieden mit der Beschwerdereaktion sind, wandern zu 54 % zu einem
Konkurrenzunternehmen ab [Graf 1990, S. 25]. Konsumenten hingegen, die sich beschwert
haben und durch das Unternehmen zufrieden gestellt wurden, zeigen eine doppelt so große
Markentreue (70 %), wie jene Konsumenten, die sich überhaupt nicht beschweren [Good-
man/Malech 1987, S. 173]. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass Beschwerden ernst genom-
men werden müssen und man die Bedeutung eines funktionierenden Beschwerdemanage-
ments nicht unterschätzen darf.
Beschwerdemanagement ist die Gesamtheit aller systematischen Maßnahmen, die ein Unter-
nehmen bei Unzufriedenheitsartikulationen von Kunden ergreift, um die Zufriedenheit des
Beschwerdeführers wiederherzustellen, die gefährdeten Kundenbeziehungen zu stabilisieren
und die Unternehmensleistung zu verbessern [Stauss 1999, S. 221]. Zwei Typen des Be-
schwerdemanagements lassen sich unterscheiden: Beim passiven Beschwerdemanagement
geht das Unternehmen nur reaktiv auf die Beschwerden ein und behandelt diese einzelfallbe-
zogen. Hierbei möchte das Unternehmen das aktuelle Problem beheben, verfolgt aber keine
strategischen Ziele mit dem Beschwerdemanagement. Das aktive Beschwerdemanagement
nutzt hingegen alle zur Verfügung stehenden Instrumente aus und setzt sie zielgerecht ein, um
nicht nur das Problem zu lösen, sondern auch den Kunden wieder zufrieden zu stellen und
eine langfristige Kundenbindung einzurichten [Fuchs 2000, S. 193 f.].
Die eingangs geschilderten marktlichen Veränderungen legen den aktiven Umgang mit dem
Thema „Kundenbeschwerden“ nahe. Mit einem aktiven Beschwerdemanagement können die
Qualitätsdefizite der unternehmerischen Leistungsmerkmale aufgezeigt und verbessert wer-
den. Ein gut strukturiertes und aktives Beschwerdemanagement kann somit Versicherungen
wirksam unterstützen, die strategischen Ziele der Kundenorientierung und eines möglichst
kundenindividuell optimierten Service umzusetzen. Dem Beschwerdemanagement kommt bei
komplexen Dienstleistungen generell eine hohe Bedeutung zu, da bei einer Dienstleistung
deren Qualität nur schwer vor dem Kaufentscheid geprüft werden kann. Ob die versprochene
Versicherungsleistung den Kundenerwartungen entspricht, stellt sich erst mit der Zeit bzw.
spätestens im Leistungsfall heraus. Zudem ist die Fehlerquote bei der Erstellung und Erbrin-
gung von Dienstleistungen in der Versicherungsbranche stark personenbezogen und im Ver-
gleich zur Sachgüterindustrie höher.

1.3 Strukturierung des Beschwerdemanagementprozesses


Im Kern besteht das Beschwerdemanagement aus Beschwerdestimulierung, -behandlung und
-analyse. Diese grobe Sicht kann man, wie in Abb. 1 dargestellt, weiter detaillieren. Der
Beschwerdestimulierung kommt große Bedeutung für ein aktives Beschwerdemanagement zu,
denn fehlende Beschwerden sind nicht automatisch mit Kundenzufriedenheit gleichzusetzen.
Die Erfahrung zeigt, dass sich ein Großteil der unzufriedenen Kunden nicht beschwert, wohl
aber seine negative Meinung verbreitet, nicht wieder kauft oder zu einem anderen Dienst-
leister wechselt [Stauss/Seidel 2002]. Aus diesem Grund ist die Förderung der Beschwerdebe-
reitschaft der Kunden durch leicht zugängliche Beschwerdewege essenziell.
Beschwerdestimulierung – Status quo und Potenziale am Beispiel der Schweizer Versicherungsbranche 155

Management- Informations-
Stimulierung Annahme Bearbeitung Reaktion Auswertung
Berichte nutzung

Abb. 1: Schritte im Beschwerdemanagementprozess

Die Beschwerdeannahme bietet für das Unternehmen bereits die Möglichkeit, die Unzufrie-
denheit des Kunden abzubauen, indem das Problem möglichst umgehend bearbeitet und
behoben wird [Eickenberg 2002]. Hierbei kommt der Interaktion zwischen Kunde und Mitar-
beiter große Bedeutung zu. Die Beschwerdeannahme erfordert, neben der angemessenen
Reaktion, die Erfassung von relevanten Daten für die Weiterverarbeitung der Beschwerde.
Die bei der Beschwerdeannahme zu erfassenden Daten können in inhalts- und abwicklungs-
bezogene Daten eingeteilt werden [Stauss/Seidel 2002]. Die Beschwerden sollen eindeutig
und konkret bestimmten Kategorien zugeordnet werden.
Unter Beschwerdebearbeitung werden alle internen Bearbeitungsschritte verstanden, die zur
Behandlung einer Beschwerde notwendig sind. Beschwerden im Umfeld der Schadensregulie-
rung von Versicherern können auch die Einschaltung des Rechtsdienstes der Versicherung
beinhalten, der die rechtlichen Forderungen von Kunden überprüft. Die Beschwerdebearbei-
tung lässt sich grundsätzlich in einfache und komplexe Fälle unterteilen. Bei den komplexen
Fällen handelt es sich um schwerwiegende Probleme, die detaillierte Nachforschungen not-
wendig machen. Im Beschwerdemanagementsystem sollen typische Standardprozesse im
Rahmen von Workflows abgebildet sein, um eine effiziente Bearbeitung ähnlicher Beschwer-
den zu ermöglichen. Wichtig ist außerdem eine möglichst zeitnahe Reaktion auf Beschwer-
den. Probleme müssen rasch gelöst und der Kontakt mit dem Kunden gesucht werden. Dies
setzt voraus, dass interne Standards für Bearbeitungszeiten und Kundenkommunikation fest-
gelegt wurden. Nach dem Eingehen der Beschwerde soll z. B. zunächst eine schnelle Ein-
gangsbestätigung automatisch aus dem System generiert und dem Kunden zugeschickt wer-
den. Nachdem die Probleme gelöst wurden, soll der Beschwerdeführer einen Bescheid
erhalten, der insbesondere das Ergebnis der Problemanalyse, den Lösungsvorschlag sowie
einen Ausdruck des Bedauerns enthält [Stauss/Seidel 2002].
Daten sammeln reicht jedoch für ein professionelles Beschwerdemanagement nicht aus. Eine
systematische und konsequente Auswertung und Interpretation von Beschwerden muss lang-
fristig im Hinblick auf betriebliche Schwächen in Abläufen sowie mit dem Fokus auf Markt-
chancen und der Vorbeugung von Kundenunzufriedenheit geschehen [Stauss 2005]. Die
Auswertungen können neben Beschwerdeinhalten auch prozessbezogene Elemente des Be-
schwerdemanagements betrachten. Um auch den langfristigen Nutzen der Beschwerdeinfor-
mationen sicherzustellen, sind diese im Sinne eines Beschwerdeberichtswesens an das ver-
antwortliche Management weiterzuleiten. Dazu müssen die relevanten Daten durch das
Beschwerdemanagementsystem in der gewünschten Form und zum richtigen Zeitpunkt feh-
lerfrei über ein benutzerfreundliches Frontend zur Verfügung gestellt werden. Das Manage-
ment sollte diese Informationen dann nutzen, um Prozesse und Produkte zu verbessern, die
Kundenorientierung zu steigern und damit die strategische Position des Unternehmens im
Wettbewerb zu stärken.
156 Osman Bayraktar, Volker Nissen

2 Studie zum Stand des Beschwerdemanagements


2.1 Vorgängerarbeiten
Obwohl dem Instrument Beschwerdemanagement ein hoher Stellenwert eingeräumt wird,
zeigt sich, „dass die Versicherungsbranche erhebliche Schwierigkeiten hat, eines der wich-
tigsten Instrumente, nämlich Beschwerdemanagement, einzuführen und umzusetzen." [Ba-
mert 2004, S. 2]. Offensichtlich gibt es Implementierungsprobleme nicht nur bei Versiche-
rungen. In einer groß angelegten empirischen Erhebung zum Reifegrad des Beschwer-
demanagements in Deutschland, an der 149 Unternehmen über alle Branchen hinweg
teilnahmen, kommen Stauss/Schöler [2003] zu dem Ergebnis, dass eine konsequente Umset-
zung des Beschwerdemanagements trotz der strategischen Relevanz fehlt. Die Umfrage wurde
mittels standardisierter Fragebögen durchgeführt und enthielt 80 Fragenblöcke und insgesamt
667 Variablen. Die negativen Befunde sind daher nicht spezifisch für Versicherungen.
Goodman [1999, S. 5] stellt in seiner Untersuchung fest, dass nur ein Bruchteil (1 % - 5 %)
der eigentlich vorhandenen Beschwerden im Unternehmen bekannt ist und bezeichnet dieses
Phänomen auch als das „The Tip Of The Iceberg Phenomenon“ [siehe auch Heskett et al.
1997, S. 179]. Zwei weitere relevante Arbeiten in diesem Kontext, die sich speziell auf die
Versicherungsbranche konzentrieren, stammen von Heckelmann [1997] und Lohse [2001].
Während sich Heckelmann mit der Frage der organisatorischen Verankerung von Beschwer-
demanagement beschäftigt, konzentriert sich Lohse auf einzelne Aufgabenbereiche des Be-
schwerdemanagements und gibt Hinweise zur Umsetzung in Versicherungsunternehmen.
Beide Arbeiten sind primär konzeptionell angelegt.

2.2 Ziele der aktuellen Studie


Da es sich beim Beschwerdemanagement im Versicherungssektor um einen empirisch noch
wenig erforschten Untersuchungsgegenstand handelt, war ein Ziel der vorliegenden, im ersten
Halbjahr 2008 durchgeführten Untersuchung, den Stand der Umsetzung von Beschwerdema-
nagement in der Schweizer Versicherungsbranche zu erheben. Gleichzeitig sollten durch
ausführliche Interviews im Rahmen der qualitativen Vorgehensweise Ursachen für mögliche
Defizite und kritische Erfolgsfaktoren im Hinblick auf eine vollumfängliche Implementierung
von Beschwerdemanagement bei Versicherern ermittelt werden. Ein weiteres, längerfristiges
Ziel ist die Erarbeitung von Gestaltungsempfehlungen für die Praxis, die eine optimierte
Einführung und Verankerung eines aktiven Beschwerdemanagements in der Versicherungs-
branche ermöglichen. Die nachfolgenden Darstellungen konzentrieren sich vor dem Hinter-
grund der gebotenen Kürze auf Stand und Potenziale bei der Beschwerdestimulierung als
Startpunkt eines aktiven Beschwerdemanagements am Beispiel von Schweizer Versicherun-
gen.1

1
Die Studie deckt den gesamten Beschwerdemanagementprozess und organisatorische ebenso wie personel-
le und IT-technische Aspekte ab, doch würde eine umfassendere Darstellung an dieser Stelle den Rahmen
sprengen.
Beschwerdestimulierung – Status quo und Potenziale am Beispiel der Schweizer Versicherungsbranche 157

2.3 Methodik der aktuellen Studie


Die Einführung von Beschwerdemanagement ist ein relativ langfristiger Prozess. Die Erfas-
sung der Situation und Erfahrungen von Unternehmen zu diesem Prozess kann nicht (nur)
über Sekundärdaten und nur unzureichend über eine Rekapitulation mit standardisierten
Fragebögen erfolgen. Stattdessen sollte die Forschungsmethodik dem Forscher die Möglich-
keit einräumen, solche Prozesse in der Praxis von Innen heraus zu beobachten, zu analysieren
und auch aktiv mitzugestalten. Darüber hinaus sollte hinreichende Flexibilität und Offenheit
im Vorgehen bestehen, sodass neue Erkenntnisse, die sich während der laufenden Forschung
aufgrund der empirischen Datenlage abzeichnen, in den weiteren Forschungsprozess einbezo-
gen und ggf. gezielt hinterfragt und vertieft werden können. Dies sind typische Merkmale der
Aktionsforschung (action research, vgl. [Probst/Raub 1995]), die daher unserer Forschungs-
methodik zugrunde liegt.
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine explorative qualitative Fallstudienanalyse
auf Basis eigener Daten. Diese ermöglicht in wenig erforschten Gegenstandsbereichen, wie
dem hier vorliegenden, zu fundierten, gegenstandsbezogenen Erkenntnissen zu gelangen [Yin
2003]. Stauss und Schöler [2003] lassen in ihrer breiter angelegten quantitativen Studie zum
Beschwerdemanagement die Frage unbeantwortet, warum Anspruch und Wirklichkeit im
Beschwerdemanagement so weit auseinander fallen. Mit dem gewählten, strikt geschlossenen
und standardisierten Verfahren wäre die Eruierung der vielfältigen Gründe auch gar nicht
möglich. So schließt das postalische Versenden einer schriftlichen Umfrage von vornherein
aus, dass Teilnehmer und Befrager sich über mögliche Probleme beim Verständnis von Ein-
zelfragen verständigen oder Hintergründe von Antworten geklärt werden können. Eingehende
Analysen sollten sich daher auf der Mikroebene bewegen und am Einzelfall durch process-
tracing den möglichen Ursachen für Defizite im Beschwerdemanagement auf den Grund
gehen. Process-tracing versucht nach George und Bennett [2005, S. 206 f.] „to identify the
intervening causal processes – the causal chain and causal mechanism – between an inde-
pendent variable (or variables) and the outcomes of the dependent variable.“ Es geht darum,
die Verbindung und Zusammenhänge zwischen den Variablen möglichst detailliert nachzu-
vollziehen, und nicht die Anzahl der Beobachtungen zu einzelnen Variablen zu erhöhen [Blat-
ter et al. 2007, S. 158].
Gerade die Kontraintuitivität der generelleren Ergebnisse von Stauss und Schöler legt eine
qualitative Vorgehensweise für den Schweizer Versicherungsmarkt nahe. Sie ermöglicht zum
einen die fallspezifischen Gründe für eine geringe Umsetzung von Beschwerdemanagement
mindestens teilweise zu klären. Die fallspezifischen Erkenntnisse machen zum anderen aber
auch vorsichtig verallgemeinernde Schlussfolgerungen auf Kausalmechanismen möglich, da
mehrere Einzelfälle analysiert und verglichen werden (small-N case study). Dieses Vorgehen
ist einem quantitativen Vorgehen dahingehend überlegen, dass auf der Basis von Korrelati-
onsanalysen lediglich die kausalen Effekte von Erklärungsfaktoren (unabhängige Variablen),
nicht aber die kausalen Mechanismen, wie es zu den beobachteten Effekten (abhängige Vari-
ablen) kommt, offenbar werden [Blatter et al. 2007].
158 Osman Bayraktar, Volker Nissen

2.4 Datenerhebung und Datengrundlage


Für die Studie wurden zwölf Versicherungsunternehmen (VU) angeschrieben. Neben der
Unternehmensgröße war ein wichtiges Kriterium bei der Fallauswahl, dass die Mutterkonzer-
ne in der Schweiz ansässig sind, denn dort werden die strategischen Entscheidungen getrof-
fen. Von den angefragten zwölf Versicherungen haben acht auf die Anfrage geantwortet.
Während sechs Unternehmen bereit waren, an der Untersuchung teilzunehmen, sagten zwei
Unternehmen ab. Ein Unternehmen gab an, kein Beschwerdemanagement eingeführt zu ha-
ben. Das zweite Unternehmen lehnte aus Ressourcenknappheitsgründen ab. Damit stützt sich
die Untersuchung auf insgesamt sechs ausführliche Einzelfallstudien. Die Ergebnisse der
Untersuchung repräsentieren umsatzseitig mehr als 50 % der Schweizer Versicherungsbran-
che.
Zur Datenerhebung wurde ein Fragebogen entwickelt, der gleichzeitig als Grundlage für
Tiefeninterviews mit Vertretern der beteiligten Versicherungen diente. Die inhaltliche Gestal-
tung des Fragebogens orientierte sich am Fragenkatalog von Stauss/Schöler [2003]. Mit Un-
terstützung eines Versicherungsunternehmens wurden in einem Pre-Test die Reliabilität,
Validität und die Verständlichkeit der Fragen geprüft. In der Folge wurden diese dann überar-
beitet und an die Versicherungsbranche angepasst.
Auf die methodischen Schwächen der Studie von Stauss und Schöler nimmt die vorliegende
Untersuchung insofern Bezug, als bei der Datenerhebung ein Mittelweg gegangen wurde. Der
den Interviews zugrunde gelegte Leitfaden ist weitgehend standardisiert und garantiert somit
die Vergleichbarkeit der Daten zwischen verschiedenen Versicherern. Die Durchführung von
Tiefeninterviews auf dieser Basis stellte gleichzeitig sicher, dass Verständnisschwierigkeiten
beseitigt und Hintergründe geklärt werden konnten. Dieses Vorgehen erwies sich auch als
sehr geeignet, um ein besseres Verständnis für Ursachen zu entwickeln. Bei den befragten
Personen handelte es sich um die Verantwortlichen für die Beschwerdemanagementsysteme
in den jeweiligen Unternehmen, so dass umfassende Kenntnisse zu den Erhebungsbereichen
vorlagen. Um die Antworten durch Berücksichtigung verschiedenartiger Informationsquellen
abzusichern, wurden zum Teil weitere Mitarbeiter aus dem Beschwerdemanagement befragt.
Zusätzlich wurden alle Angaben jedes Befragten von den anderen Teilnehmern in einer ge-
meinsamen Sitzung auf Plausibilität und Vollständigkeit geprüft, was nicht nur die Datenqua-
lität und Vergleichbarkeit der Ergebnisse verbessern half, sondern auch für Akzeptanz und ein
einheitliches Verständnis der Fragen im Sinne der Schaffung von Intersubjektivismus sorgte.
Die Antworten, unterteilt in Themenbereiche, wurden von den Studienteilnehmern jeweils für
ihr eigenes Unternehmen bzw. Beschwerdemanagement nach einem Punktesystem bewertet,
was einen direkten Vergleich zwischen den einzelnen Teilnehmern der Untersuchung erleich-
tert. Bei der Gestaltung des Punktesystems wurden die Teilnehmer der Studie zunächst gebe-
ten, die Fragen bezüglich ihrer Bedeutung zu bewerten. Im Rahmen einer gemeinsamen Dis-
kussion mit allen Teilnehmern wurde Einzelfragen dann eine maximale Punktezahl von
entweder 1 oder 0,5 Punkten zugewiesen und die Fragen somit nach ihrer Bedeutung für den
betreffenden Erhebungsbereich gewichtet. Die eigentliche Bewertung für jeden einzelnen Fall
eines Versicherungsunternehmens hatten die Befragten später anhand einer fünfstufigen Skala
(Abb. 2) im Sinne unterschiedlicher Grade der Zustimmung zu vorformulierten Aussagen
Beschwerdestimulierung – Status quo und Potenziale am Beispiel der Schweizer Versicherungsbranche 159

vorzunehmen. Durch Aggregation ergeben sich daraus die Gesamtpunktzahlen je Erhebungs-


bereich und Versicherungsunternehmen.

Max. zu
erreichende trifft voll und trifft mehr- trifft nur trifft eher trifft überhaupt
Punktzahl ganz zu heitlich zu teilweise zu nicht zu nicht zu
(Gewicht)

1 1 0.75 0.50 0.25 0

0.5 1 0.75 0.50 0.25 0

Abb. 2: Gewichtung von Fragen (links) und fünfstufiges Antwortschema

Im April und Mai 2008 wurde die Befragung der Studienteilnehmer in Form von jeweils
ganztägigen Sitzungen durchgeführt. Dabei wurde besonders darauf geachtet, dass die Teil-
nehmer auf der Basis desselben Wissens und Verständnisses antworteten, um die Vergleich-
barkeit der Ergebnisse sicherzustellen. Anschließend wurden die Abfragedaten ausgewertet
und die Ergebnisse an die Befragten zurückgesandt, die dazu Stellung nehmen, Nachfragen
formulieren und Ergänzungen einbringen konnten. Nachdem die Auswertungsergebnisse auf
diese Weise endgültig mit den jeweiligen Befragten abgestimmt waren, erhielten alle Teil-
nehmer die Ergebnisse der „Konkurrenten“ in nicht-anonymisierter Form. Diese Atmosphäre
der Offenheit war möglich, da die Teilnehmer sich als „Arbeitskreis Beschwerdemanage-
ment“ verstanden und ein gemeinsames Interesse an der Aufdeckung und Verbesserung des
status quo in diesem Bereich vorlag. So konnten und wurden die erreichten Ergebnisse der
Teilnehmer auf einem Konsensmeeting gegenseitig kritisch hinterfragt und diskutiert. In
dieser Phase der Studie wurde darüber hinaus deutlich, wer die best-practice im jeweiligen
Erhebungsbereich des Beschwerdemanagements hatte.

2.5 Ergebnisse und Diskussion zum Bereich Beschwerdestimulierung


2.5.1 Ergebnisse der Erhebung
Für den Teilprozess „Beschwerdestimulierung“ wurden Daten anhand von vier Kategorien
erhoben, die jeweils aus weiteren Unterfragen bestanden. Insgesamt konnten bei dem Teilpro-
zess Beschwerdestimulierung maximal 11 Punkte erreicht werden (Tab. 1).
Mit der ersten Fragenkategorie im Bereich Beschwerdestimulierung wurde versucht, die
Kunden- und Zielgruppen aus Sicht der Unternehmen zu identifizieren („Für welche Kunden
bzw. Zielgruppe ist das Beschwerdemanagement konzipiert“). Hier gab es drei alternative
Antwortmöglichkeiten und die Unternehmen konnten maximal 1 Punkt erreichen.
Die zweite Fragenkategorie betrachtet die Möglichkeiten, die in den Unternehmen bei der
Beschwerdestimulierung bereits umgesetzt wurden („Die folgenden Möglichkeiten der Be-
schwerdestimulierung sind ihrem Unternehmen vollständig umgesetzt“). Hier konnten die
Versicherungsunternehmen anhand von drei Unterfragen bis zu 2,5 Punkte erreichen.
160 Osman Bayraktar, Volker Nissen

Beschwerdestimulierung Max. Pkt. VU 1 VU 2 VU 3 VU 4 VU 5 VU 6 Ø erreicht

Für welche Kunden bzw. Zielgruppe ist das BM konzipiert? (eine


Antwort unten auswählen!) 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00
Für alle Kunden, die eine Leistung von uns beziehen 0.50 0.00 0.00 0.00 0.00 0.00 0.00 0.00
Für alle, die sich über unser Unternehmen beschwert haben 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00
Nur für spezielle Zielgruppen (z.B. Privatkunden) 0.50 0.00 0.00 0.00 0.00 0.00 0.00 0.00

Die folgenden Möglichkeiten der Beschwerdestimulierung sind in ihrem


Unternehmen vollständig umgesetzt. 2.50 0.50 0.63 0.63 0.65 0.50 0.65 0.59
Systematische Kommunikation der Beschwerdenkanäle/ -möglichkeit
gegenüber gerade neu gewonnenen Kunden 1.00 0.25 0.25 0.25 0.15 0.25 0.25 0.23
Systematische Kommunikation der Beschwerdekanäle/-möglichkeit
gegenüber Bestandskunden 1.00 0.25 0.25 0.25 0.50 0.25 0.40 0.32
Stimulierung der Artikulation von Beschwerden durch Incentives (z.B.
Preisausschreiben, Telefonkarten, etc.) 0.50 0.00 0.13 0.13 0.00 0.00 0.00 0.04

Die folgenden Medien werden für die Bekanntmachung der


Beschwerdekanäle intensiv eingesetzt. 3.50 0.25 0.51 1.00 1.65 0.25 0.75 0.74
Hinweis durch Kundenkontaktpersonen 0.50 0.25 0.25 0.25 0.25 0.00 0.25 0.21
Hinweis beim Briefwechsel (z.B. Beilage) 1.00 0.00 0.01 0.25 0.40 0.00 0.00 0.11
Kundenveranstaltungen 1.00 0.00 0.25 0.25 0.00 0.00 0.00 0.08
Andere (z.B. Hauszeitschrift) 1.00 0.00 0.00 0.25 1.00 0.25 0.50 0.33

Die folgenden Beschwerdekanäle sind in ihrem Unternehmen


vollständig implementiert und den Kunden bekannt. 4.00 2.00 1.25 1.75 1.50 1.75 2.00 1.71
Persönliche Ansprechpartner (Kundenberater) am POS 1.00 0.50 0.50 0.50 0.50 0.50 0.50 0.50
Speziell eingerichtete Kanäle (Adresse, Tel/Fax/SMS-Nummern >
gebührenfrei) oder bereits bekannte allgemeine Kanäle (Telefon, Fax, E.Mail,
Postadresse, etc.) 1.00 0.50 0.50 0.50 0.00 0.50 0.50 0.42
Internet Formular (E-Mail) 1.00 0.75 0.25 0.75 1.00 0.75 1.00 0.75
Comment Card/Meinungskarten am POS 1.00 0.25 0.00 0.00 0.00 0.00 0.00 0.04

Maximale Punktzahl 11.00 11.00 11.00 11.00 11.00 11.00 11.00


erreichte Punktzahl 3.75 3.39 4.38 4.80 3.50 4.40 4.04
erreicht in % 34% 31% 40% 44% 32% 40% 36.8%

Tabelle 1: Ergebnisse zur Beschwerdestimulierung

Mit der dritten Fragenkategorie wurde versucht, die Medien, die für die Bekanntmachung der
bereits existierenden Beschwerdekanäle in den Versicherungsunternehmen eingesetzt werden,
zu identifizieren („Die folgenden Medien sind in ihrem Unternehmen vollständig umge-
setzt“). Hierfür dienten vier Unterfragen, mit denen insgesamt 3,5 Punkte erreicht werden
konnten. Die vierte und letzte Kategorie im Teilprozess Beschwerdestimulierung fragte nach
den „Beschwerdekanälen“, die in dem „Unternehmen vollständig implementiert und den
Kunden bekannt“ sind. Anhand von vier Fragen konnten in dieser Kategorie 4 Punkte erzielt
werden.
Das Resultat für den im Rahmen eines aktiven Beschwerdemanagements besonders wichtigen
Teilprozess Beschwerdestimulierung fiel insgesamt schlecht aus. Keines der befragten Unter-
nehmen erreichte mehr als 4,8 Punkte, die lediglich 44 % der insgesamt möglichen 11 Punkte
entsprechen. Der schlechteste erreichte Wert lag bei 3,39 Punkten, was gerade einmal 31 %
der Maximalpunktzahl entspricht. Die niedrigen Ergebnisse verdeutlichen, dass sich die Um-
setzung dieses Teilprozesses auf einem noch geringen Niveau bewegt und von einer vollum-
fänglichen Ausschöpfung des Prozesspotenzials nicht gesprochen werden kann.
Beschwerdestimulierung – Status quo und Potenziale am Beispiel der Schweizer Versicherungsbranche 161

2.5.2 Analyse der Ergebnisse


Alle untersuchten Versicherungsunternehmen weisen ein passives Beschwerdemanagement-
system auf. Dies wird vor allem in dem hier untersuchten Teilprozess Beschwerdestimulie-
rung deutlich. In keinem Fall lag ein systematisches Konzept vor, das Maßnahmen für eine
aktive Stimulierung von Beschwerden vorsah. Vielmehr wurden sporadische oder einge-
schränkte Aktionen bzw. Maßnahmen aufgeführt, wie die folgenden Aussagen aus den Inter-
views exemplarisch verdeutlichen:
x „Die KundenberaterInnen wie auch die Call Center AgentInnen sind grundsätzlich auch
zuständig für die Erledigung der bei ihnen eingehenden Beschwerden. Wenn der Kunde
mit der angebotenen Lösung oder Auskunft nicht einverstanden ist, wird auf die Abteilung
Beschwerdemanagement hingewiesen.“ (VU 6)
x „In einem Brief unseres Unternehmens wird immer versucht, individuell auf das Kunden-
anliegen einzugehen. Hingegen ist ja beabsichtigt, dass diese Antwort möglichst ab-
schließend ist. Eine Beschwerde möchte man nicht provozieren. In einem Brief durch das
Beschwerdemanagement wird höchstens die Möglichkeit des Ombudsmannes oder die
Beschreitung des Rechtsweges aufgezeigt.“ (VU 6)
x „Wir haben einmal in der Hauszeitschrift einen Artikel über unser Beschwerdemanage-
mentsystem verfasst. Unsere Hauszeitschrift ist auch für die Kunden zugänglich.“ (VU 4)
x „Wir haben im Jahr 2005 einen Wellness-Wettbewerb für die Kunden organisiert und
somit versucht, Kundenbeschwerden durch Incentives zu stimulieren.“ (VU 2)
Zudem führten einige VU ihre Homepage im Internet als Kommunikationskanal auf, wo sich
die Kunden z. B. unter Ihre Anliegen oder Kundenfeedback direkt an die Unternehmen wen-
den. Hier können zwar auch Beschwerden durch die Kunden artikuliert werden, doch diese
Kanäle der Kommunikation sind nicht mit aktiver Beschwerdestimulierung gleichzusetzen.
Ein gesondertes Beschwerdeformular oder eine explizite Beschwerdeseite im Internet hinge-
gen kämen einer aktiven Beschwerdestimulierung gleich. Es gibt Hinweise darauf, dass VU
nicht an einem aktiven Beschwerdemanagementsystem interessiert sind, ja sogar Angst davor
haben. In diesem Kontext ist folgende Begründung von exemplarischer Bedeutung: „Wegen
der gefürchteten „Überflutung“ mit Beschwerden wurde die Homepage bislang nicht ange-
passt“. (VU 6)2
Die sporadischen bzw. einmaligen Aktivitäten für die Einführung eines aktiven Beschwerde-
managementsystems, d. h. also der niedrige derzeitige Reifegrad, lassen sich auf eine zu
geringe Priorisierung des Teilprozesses Beschwerdestimulierung in den VU zurückführen. So
wurden beispielsweise von VU 6 bereits während der Einführung eines Beschwerdemanage-
mentsystems jegliche Aktivitäten im Teilprozess Beschwerdestimulierung ausgeklammert.
Selbst nach der Einführung wurden, wie auch bei den übrigen VU, keine Maßnahmen zur
Beschwerdestimulierung definiert. Die Anstrengungen in den Projekten zur Einführung von
Beschwerdemanagementsystemen beschränkten sich bei den meisten Unternehmen auf die

2
Im Rahmen dieser Untersuchung wurden Maßnahmen in den genannten VU für die Optimierung des
Internetauftritts als Beschwerdekanal definiert.
162 Osman Bayraktar, Volker Nissen

Entwicklung und Implementierung eines IT-Systems zur Beschwerdeerfassung und (teilwei-


se) -auswertung.
Dieses Verhalten korrespondiert mit einem rein passiven Beschwerdemanagement, das auf
der Annahme beruht, zusätzliche Kommunikationskanäle für Kundenbeschwerden seien nicht
notwendig, da sich die Kunden schon beschweren würden. Die Erkenntnisse der wissen-
schaftlichen Diskussion werden dabei außer Acht gelassen. In mehreren Untersuchungen
wurde festgestellt, dass sich nur ein geringer Prozentsatz der unzufriedenen Kunden über-
haupt beschwert [z. B. Goodman 1999]. Somit können die Versicherungsunternehmen auf die
Unzufriedenheit der meisten Kunden nicht reagieren. Zudem fehlen ihnen wichtige Informati-
onen aus Sicht der Kunden, um die Unternehmensleistungen besser auf die Kundenbedürfnis-
se auszurichten.
Insgesamt herrschte unter den befragten VU die Vorstellung, dass Kunden zahlreiche Kun-
denkontaktmöglichkeiten zur Verfügung stehen, ihren Unmut zu artikulieren und dies zur
Beschwerdestimulierung im Großen und Ganzen ausreichend sei. Als Kommunikationskanäle
wurden hier vor allem die Mailadressen, Telefon- und Faxnummern der Call-Center3, Agentu-
ren oder der zuständigen Kundenberater aufgeführt. Auf zahlreichen Produkten (z. B. Policen,
Rechnungen usw.) sind Telefonnummern oder Adressen aufgeführt, die die Kunden für Be-
schwerden nutzen können.
Nur zwei Unternehmen haben im Zeitraum 2006 bis 2008 neue Maßnahmen zur Beschwerde-
stimulierung definiert und umgesetzt. Während VU 3 eine Verbesserung, wenn auch noch
unsystematisch, bei der Kommunikation der Beschwerdestimulierung und die Einführung
eines Internetformulars für Kundenbeschwerden nachweisen konnte, hat VU 4 beim Rech-
nungsversand mittels einer Beilage nach Kundenbeschwerden gefragt (Abb. 3).

Beschweren leicht Direkt beim Beim Leiter der


gemacht – diese Ansprechpartner Generalagentur
Möglichkeiten haben Selbstverständlich können sich Kunden Kunden können jederzeit den Leiter
die Kunden jederzeit direkt bei Ihrer Ansprechper- Generalagentur kontaktieren – er hat
Wir bieten unseren Kunden drei son beschweren, sei es telefonisch wie alle seine Mitarbeitenden stets ein
Möglichkeiten zur Platzierung Ihres oder per Brief, Fax oder E-Mail. offenes Ohr für die Anliegen seiner
Anliegens: Kunden.

Im Internet
(siehe Rückseite)

Abb. 3: Beschwerdekanalkommunikation. Ausschnitt aus dem Flyer von VU 4

Abgesehen von diesen beiden Ausnahmen zeichnet sich die Versicherungsbranche der
Schweiz durch eine fehlende aktive Beschwerdestimulierung während der Untersuchungspe-
riode aus. Stellungnahmen wie „schlafende Hunde soll man nicht wecken“ oder „es gibt
Sachen, die die Versicherungsunternehmen wissen und nicht in der Lage sind zu beseitigen“
unterstützen diesen Befund.4 Vor diesem Hintergrund ist auch in naher Zukunft keine Umset-

3
Alle VU haben heute eine kostenlose Call-Center-Telefonnummer eingerichtet.
4
Diese und ähnliche Statements wurden im Rahmen einer moderierten Sitzung im Frühjahr 2008 artikuliert,
wo die Vertreter der Versicherungsunternehmen über die Entwicklung ihres Beschwerdemanagements im
Zeitraum 2006 bis 2008 intensiv diskutierten.
Beschwerdestimulierung – Status quo und Potenziale am Beispiel der Schweizer Versicherungsbranche 163

zung eines aktiven Beschwerdemanagementsystems zu erwarten. Die gegenwärtige Untätig-


keit im Bereich Beschwerdestimulierung hat zur Folge, dass das Potenzial und der Nutzen
von aktivem Beschwerdemanagement nicht annähernd ausgeschöpft werden kann. Denn nur
ein Bruchteil der Kundenbeschwerden wird in der Branche erfasst und bearbeitet.

2.5.3 Verbesserungsvorschläge zur Beschwerdestimulierung


Versicherungsunternehmen haben viele Möglichkeiten, Beschwerdekanäle einzurichten, ohne
die Kunden mit einem zusätzlichen Kommunikationskanal zu verwirren. Denn bereits beste-
hende Kanäle können auf verschiedene Arten genutzt werden:
x Kundenevents: Alle Versicherungsunternehmen veranstalten jährlich zahlreiche Kunden-
events, wo z. B. ein „Beschwerdekasten“ eingerichtet werden könnte.
x Briefverkehr: Beilagen oder Flyer, in denen Kunden direkt nach ihren Beschwerden ge-
fragt werden, könnten zusammen mit frankierten Antwortcouverts dem regulären Brief-
verkehr hinzugefügt werden. Während der Untersuchungsperiode hat zum Beispiel VU 4
positive Erfahrungen mit einem solchen Vorgehen gesammelt.
x Kundenbesuche könnten ebenfalls als Gelegenheit genutzt werden, Kunden aktiv nach
ihren Beschwerden zu fragen. Hierfür könnten eigens give aways geschaffen werden, die
den Kunden an die Möglichkeit der Beschwerde erinnern. Beispielsweise könnten „Anti-
Aggressionsbälle“ oder Schokolade mit der Aufschrift „Lassen Sie Ihrem Ärger freien
Lauf: beschweren Sie sich“ auf Kundenbesuchen geschenkt werden. Für eine erfolgreiche
Umsetzung muss jedoch zunächst ein Anreizsystem für die Kundenberater entwickelt
werden. Hier liegt ein deutlicher Schwachpunkt aktueller Beschwerdemanagement-
implementierungen. In der gegenwärtigen Praxis fehlt es den Kundenberatern an konkre-
ten Anreizen, Kunden auf die Beschwerdekanäle/-möglichkeiten aufmerksam zu machen.
x In den Agenturen und Verkaufsbüros könnten Kunden routinemäßig und aktiv auf Be-
schwerdeformulare bzw. -karten hingewiesen werden.
Auch und gerade die IT-gestützten Möglichkeiten zur Beschwerdestimulierung sollten we-
sentlich intensiver genutzt werden. Hier einige Varianten:
x Internetauftritt: Beim Verlassen bestimmter Seiten könnte etwa ein Pop-up, mit der Frage
„Haben Sie sich geärgert? Hier geht es zum Beschwerdeformular.“ erscheinen.
x SMS: Kunden könnten SMS mit der Kurzmitteilung erhalten, „Waren Sie zufrieden mit
der Abwicklung Ihres Schadens? Wenn nein, melden Sie sich doch bei uns! Telefon-
nummer: …“
x Elektronische Newsletter, welche die Kunden regelmäßig über aktuelle Produkte und
Entwicklungen des VU informieren, könnten einen Link auf ein Web-gestütztes Be-
schwerdeerfassungsformular enthalten.
x Web 2.0-Technologien: In vielen Branchen versuchen derzeit Firmen, ihre Kunden über
informelle Netzwerke und Communities (Kundenforen, social networks, blogs, Wikis)
stärker an das Unternehmen zu binden und gleichzeitig Wissen über diese Kunden aus der
Analyse von Webinhalten solcher Netzwerke zu generieren. Auch hierfür bietet sich das
164 Osman Bayraktar, Volker Nissen

Thema Kundenbeschwerden in hervorragender Weise an, da diese so über einen zusätzli-


chen Kanal für das Unternehmen transparent werden.5
Diese und ähnliche Aktivitäten zur Kommunikation und Stimulierung von Beschwerden
könnten jeweils zusätzlich mit einem Wettbewerb beziehungsweise einem vergleichbaren
Anreizsystem gekoppelt werden, um die Rücklaufquoten zu erhöhen.

3 Zusammenfassung
Eine empirische Erhebung unter 48 Versicherungsunternehmen kam 2003 zu dem Schluss,
dass die veränderten Marktbedingungen als Chance begriffen werden sollten, Geschäftspro-
zesse im Versicherungsvertrieb kritisch zu überdenken [HAS 2003, S. 1 f.]. Vor dem Hinter-
grund dieser Empfehlung wurde hier die Situation im Teilprozess der Beschwerdestimulie-
rung anhand einer detaillierten Studie bei sechs großen Schweizer Versicherungen untersucht
und bewertet.
Die vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite
einen durchweg noch geringen Reifegrad der Studienteilnehmer im Hinblick auf die hier
untersuchten Fragestellungen. Das Beschwerdemanagement ist im Kern passiv ausgerichtet,
spezielle Beschwerdekanäle sind in der Regel nicht eingerichtet und Kunden werden kaum
ermutigt, Beschwerden einzureichen. Als Folge machen sich nur relativ wenige Kunden die
Mühe, sich zu beschweren. Etwa die Hälfte dieser Beschwerden wird außerdem nicht im
Beschwerdemanagementsystem erfasst. Daher liegen je Beschwerdegrund später zu wenige
konkrete Beschwerden vor, um die richtigen Verbesserungsmaßnahmen daraus ableiten zu
können. Die vielfältigen Möglichkeiten aktiver Beschwerdestimulierung bleiben heute ganz
überwiegend ungenutzt, weshalb das Ziel einer Stabilisierung der Beziehung zu unzufriede-
nen Kunden nicht erreicht werden kann. Dies muss langfristig zum Verlust von Kunden füh-
ren.
Die Situation ist umso unverständlicher, als die in unserem Beitrag genannten Maßnahmen
zur Verbesserung der Beschwerdestimulierung häufig keine großen Investitionen erfordern.
Die Ergebnisse deuten an, dass es aber am Willen zur Veränderung fehlt, wohl auch weil
mancherorts keine Konzepte zur Beseitigung eigentlich bekannter Missstände existieren.
Grundsätzlich stellt sich bei den hier gewonnenen Erkenntnissen die Frage des Geltungsberei-
ches. Während das Studiendesign absichert, dass die Ergebnisse als repräsentativ für den
Schweizer Versicherungsmarkt gelten können, hängt die Übertragbarkeit auf andere Versiche-
rungsmärkte oder Branchen von der Ähnlichkeit der Rahmenbedingungen dort ab. Doch sind
Deregulierung, gesättigte Käufermärkte und anbieterseitige Konzentrationsprozesse keine
spezifisch schweizerischen Marktkennzeichen, so dass von einer grundsätzlichen Übertrag-
barkeit in manchen Fällen, beispielsweise auf den deutschen Versicherungsmarkt, wohl aus-
gegangen werden kann. Hierzu wären aber noch weitere Untersuchungen erforderlich, die das
Ausmaß der Vergleichbarkeit näher beleuchten.

5
Gleichzeitig ließe sich die „Weisheit der Vielen“ in solchen Communities sogar nutzen, um Konzepte für
die Beseitigung erkannter Mängel oder die Entwicklung neuer Produkte zu unterstützen oder vor deren
Umsetzung zu evaluieren und priorisieren.
Beschwerdestimulierung – Status quo und Potenziale am Beispiel der Schweizer Versicherungsbranche 165

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Beschwerdestimulierung nur den ersten Schritt im
Rahmen des Gesamtprozesses „Aktives Beschwerdemanagement“ darstellt (siehe Abb. 1).
Auch die übrigen Prozessschritte müssen so weiterentwickelt und aufeinander abgestimmt
werden, dass das letztendliche Ziel, möglichst viele Kunden aufgrund hervorragender Leis-
tungen langfristig an das eigene Unternehmen zu binden, bestmöglich erreicht wird.

Literatur
Bamert, T.: Beschwerdemanagement in ausgewählten Branchen. Arbeitsbericht, Zürich 2004.
Blatter, J./Janning, F./Wagemann, C.: Qualitative Politikanalyse – Eine Einführung in For-
schungsansätze und Methoden. Wiesbaden 2007.
Eickenberg, V.: Marketing für Versicherungsvermittler. Karlsruhe 2002.
Fuchs, W. A.: Handbuch After Sales Communication. Berlin 2000.
George, A. L./Bennett, A.: Case Studies and Theory Development in the Social Sciences.
Cambridge/MA 2005.
Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) e.V. (Hrsg.): Langfristtrends
und Perspektiven der Versicherungswirtschaft. Schriftenreihe Ausschuss Volkswirtschaft
22, Karlsruhe 1998.
Goodman, J. A./Malech, A. R.: Beschwerdepolitik unter Kosten/Nutzen-Gesichtspunkten. In:
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Web 2.0 als Instrument des Kundenbeziehungsmanagements –
Sachstand, Potenziale und Risiken
im Kontext der Versicherungswirtschaft

Peter Rausch, Jens Westerheide

1 Ausgangssituation
Die Wachstumsmöglichkeiten der Versicherungsbranche sind zumindest national gesehen und
auf gewisse Sparten, wie z. B. Kfz-Versicherungen, bezogen limitiert. In den entsprechenden
Marktsegmenten spricht man bereits von einem Verdrängungswettbewerb [Forthmann 2007].
Einer von Steria Mummert Consulting in Kooperation mit der Fachzeitschrift „Versiche-
rungsmagazin“ durchgeführten aktuellen Studie zufolge haben die Versicherer im Kfz-
Bereich bereits erkannt, dass der Kampf um Marktanteile nicht ausschließlich über den Para-
meter Preis entschieden wird. Versicherungsunternehmen müssen sich daher verstärkt darum
bemühen, ihre Kunden zu binden. Sie reagieren mit neuen Tarifmodellen und besonderen
Serviceleistungen [Forthmann 2007]. Neue gesetzliche Bestimmungen, beispielsweise im
Bereich der Lebens- und Krankenversicherung, machen dies notwendig, da harte bzw. öko-
nomische Bindungsfaktoren immer wieder auf dem Prüfstand gestellt werden und wegfallen.
Beispielsweise sei hier die – wenn auch an Bedingungen geknüpfte – Übertragbarkeit der
Altersrückstellungen im Bereich der Privaten Krankenversicherung genannt, wodurch wesent-
liche ökonomische Wechselbarrieren für Kunden entfallen. Konnten sich Versicherungsun-
ternehmen auf Basis dieser Wechselbarrieren lange Zeit auf Kundengebundenheit beschrän-
ken, so müssen sie nun stärker die Kundenverbundenheit in den Vordergrund rücken.
Zur Realisierung von Kundenverbundenheit sind Kundennähe, individualisierte Leistungen,
ein hohes Maß an Angebotstransparenz und Vertrauen in Bezug auf die Geschäftsbeziehung
unabdingbar. Dabei stellt sich der Versicherungswirtschaft zunehmend die Frage, inwieweit
internetbezogene Anwendungen hier Unterstützung bieten können.
Webgestützte Marketing- und Vertriebsaktivitäten offerieren Versicherern mittlerweile An-
satzpunkte für das Kundenbeziehungsmanagement. Zahlreiche Branchenexperten der Versi-
cherungswirtschaft sehen insbesondere in Verbindung mit dem Instrumentarium des Web 2.0
Potenzial zur Steigerung der Kundenverbundenheit [Knappe/Kracklauer 2007, S. 40 ff.; AMC
2008, S. 3 ff.].
Kann man dieser Auffassung uneingeschränkt folgen oder bedarf es einer differenzierteren
Betrachtung? Es fällt zumindest auf, dass sich die Versicherungsbranche im Bereich der
aktiven Mitgestaltung des Web 2.0 in starker Zurückhaltung übt [Fischer/Bahlinger 2007,
S. 3]. Diese Zurückhaltung könnte Ausdruck einer fehlenden Aufgeschlossenheit gegenüber
webbezogenen Instrumenten im Bereich des Marketings und Vertriebs sein, sodass Potenziale
im Bereich des Kundenbeziehungsmanagements ungenutzt bleiben. Auf der anderen Seite ist
168 Peter Rausch, Jens Westerheide

aber auch denkbar, dass Versicherungsunternehmen nach eingehender Prüfung die entspre-
chenden Potenziale des Web 2.0 als zu gering betrachten.
Ziel dieses Beitrags ist es daher herauszuarbeiten, welche Bedeutung Web 2.0-Aktivitäten für
das Kundenbeziehungsmanagement in der Versicherungswirtschaft grundsätzlich besitzen
und welche Rolle die Versicherungsbranche Web 2.0-Aktivitäten in diesem Zusammenhang
beimisst. Hierzu wird zunächst untersucht, inwieweit Versicherungsunternehmen aufgrund
der konstitutiven Eigenschaften des Versicherungsproduktes und der Umfeldfaktoren der
Versicherungswirtschaft von den Chancen und Risiken des Web 2.0 beeinflusst werden. Den
Chancen in Bezug auf Kundenbindung durch (virtuelle) Nähe, Interaktivität und öffentliche
Weiterempfehlung stehen z. B. hohe Risiken des Reputationsverlustes durch öffentlich ver-
breitete Kritik am Unternehmen gegenüber. Diesen Untersuchungsaspekten werden die Resul-
tate einer Primärbefragung unter Marketing- und Vertriebsverantwortlichen zur Einschätzung
der strategischen Bedeutung des Web 2.0 für das Kundenbeziehungsmanagement gegenüber-
gestellt, sodass Rückschlüsse auf generelle strategische Handlungsdefizite in Bezug auf Web
2.0-Aktivitäten in der Versicherungsbranche gezogen werden können.

2 Web 2.0 und die Auswirkungen auf die Versicherungswirtschaft


Das Internet setzt die einstmals für die Versicherungsbranche gültigen ökonomischen und
psychologischen Wechselbarrieren in ihrer Wirkung herab [Benölken et al. 2005, S. 19 ff.].
Durch die vielfältigen Informations-, Vergleichs- und „Verlinkungsmöglichkeiten“ des Inter-
nets fällt es den Versicherern immer schwerer, die eigenen (Bestands-)Kunden vor Konkur-
renzangeboten abzuschirmen. Wettbewerbsangebote können von den Versicherungsnehmern
bequem am heimischen PC abgerufen werden [Pecheim et al. 2003, S. 551]. Diese Angebote
sind zum Teil direkt mit Bewertungsportalen verlinkt. Kundenseitige Transaktionskosten
fallen bei der Suche und Überprüfung von Angebotsalternativen kaum mehr ins Gewicht,
wodurch sich die potenzielle Wechselfähigkeit bzw. -willigkeit der Kunden verstärkt. D. h.
das klassische marketing- und vertriebspolitische Gestaltungsspektrum der Versicherungsun-
ternehmen reduziert sich. Ein wesentlicher psychologischer Bindungsfaktor und damit ein
jahrelang gültiger Erfolgsfaktor der Branche wird aufgeweicht: Das akquisitorische Potenzial
aufgrund psychologischer Bindung, das auf räumlicher Nähe bzw. persönlicher Beziehung
von Versicherungsvertreter und Kunde basiert, entfällt zum Teil. Diese persönlichen Bezie-
hungen sind oftmals sogar durch nachbarschaftliche oder sogar verwandtschaftliche Bezie-
hungen geprägt. Den empfundenen persönlichen Verpflichtungen einem Versicherungsvertre-
ter gegenüber kann sich der Kunde nunmehr durch das Internetgeschäft vollständig entziehen.
Um einen Anbieter zu wechseln, entfällt die moralische Verpflichtung des Kunden, Gründe
für den Wechsel darzulegen [Bahlinger/Fischer 2006, S. 15]. Der Kunde erhält damit neue
Machtpotenziale durch „hidden information“ und „hidden action“, die er gegenüber dem
Anbieter zu seinem Vorteil im Rahmen der Transaktion ausnutzen kann [Meffert et al. 2008,
S. 41 f.]. Der höhere Informations- und Wissensstand sowie der größere Gestaltungsspielraum
des Kunden machen sich auch beim konventionellen Verkauf bzw. beim Verkaufsgespräch
bemerkbar. Sachliche Aspekte wie Kosten-Nutzen-Betrachtungen gehen immer stärker von
der Kundenseite aus und beschränken damit die fachliche Überlegenheit der Versicherungs-
verkäufer. Zugleich kommen aber auch die emotional-beziehungsorientierten Verkaufsansätze
Web 2.0 als Instrument des Kundenbeziehungsmanagements 169

der Vertriebsseite weniger zur Entfaltung. Das Web 2.0 gibt dieser Entwicklung einen zusätz-
lichen Schub.
Da der Begriff „Web 2.0“ unterschiedlich ausgelegt wird und es keine einheitliche Definition
gibt, soll der Begriff im Folgenden kurz anhand einschlägiger Merkmale charakterisiert wer-
den. Die Charakterisierung lehnt sich an [O'Reilly 2005] an, der den Begriff des Web 2.0
maßgeblich geprägt hat. So wird bei Web 2.0-Anwendungen das Internet als Kommunikati-
onsmedium oder Plattform für Gleichgesinnte aufgefasst. Die Inhalte werden i. d. R. von den
Nutzern selbst gestaltet. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von User Generated
Content. Diese Nutzer sind zu virtuellen Gemeinschaften (sog. Communities) vernetzt, wel-
che weitestgehend mittels Selbstorganisation funktionieren. Bei den Web 2.0-Nutzern steht
im Regelfall der Austausch von Inhalten und Wissen im Vordergrund. Beispiele für Web 2.0-
Anwendungen, die im Hinblick auf den Aspekt der Kundenbindung interessant für Versiche-
rungsunternehmen sein könnten, sind u. a. Wikis, Foren und Videoplattformen. Sogenannte
Wikis beinhalten themenspezifische Seitensammlungen, die über ein Netzwerk verfügbar
sind. Bekannt geworden sind Wikis durch Wikipedia. Im Gegensatz zu herkömmlichen Web-
seiten können Wiki-Seiten von den Benutzern nicht nur gelesen, sondern auch online editiert
werden [Rausch/Schäfer 2006, S. 1564]. Bei Foren handelt es sich um Diskussionsforen mit
einem bestimmten thematischen Schwerpunkt auf einer Webseite. Dort können Diskussions-
beiträge, auch Postings genannt, hinterlassen, gelesen und beantwortet werden. Weitere Ver-
treter der Web 2.0-Anwendungen sind Videoplattformen. Charakteristisches Web 2.0-
Merkmal der Videoplattformen ist die Möglichkeit, selbst erstellte Inhalte anderen verfügbar
zu machen. Die Videos sind über eine Suchmaschine auffindbar. Des Weiteren können die
Videos von Benutzern bewertet und kommentiert werden [Rausch 2006, S. 1517].
Mit der zunehmenden Verbreitung von Web 2.0-Angeboten beziehen die Kunden von Versi-
cherungsunternehmen somit ihre Informationen nicht mehr nur aus den vertriebsorientierten
Informationsangeboten der Versicherungsunternehmen bzw. von deren angeschlossenen
Akteuren wie Maklern. Sie kreieren ihre Informationen mittels der im Internet verfügbaren
Plattformen immer häufiger selbst, indem sie Angebote bzw. Prämien bewerten und anderen
Kunden Ratschläge in Bezug auf neue Abschlüsse geben. Versicherer müssen sich daher mit
den Chancen und Risiken des Web 2.0 auseinandersetzen. Bevor diese genauer beleuchtet
werden, sollen zunächst die konstitutiven Eigenschaften der Versicherungsleistung und we-
sentliche Umfeldfaktoren untersucht werden.

3 Konstitutive Eigenschaften der Versicherungsdienstleistung


3.1 Produktbezogene Faktoren
Die Möglichkeiten der Kundenbindung in der Versicherungswirtschaft durch Web 2.0-Aktivi-
täten werden maßgeblich von den konstitutiven Eigenschaften der Versicherungsdienstleis-
tung beeinflusst. Die Besonderheiten von Versicherungsdienstleistungen führen sowohl zu
marketing- und vertriebsrelevanten Restriktionen als auch zu zusätzlichen Potenzialen. Die
Leistung des Versicherers ist das abstrakte Schutzversprechen bzw. die ständige Bereitschaft,
beim Eintritt des Versicherungsfalls eine Versicherungsleistung zu gewähren [Farny 2000,
S. 22]. Dies impliziert einige Besonderheiten. So ist z. B. vielen Verbrauchern ihr Versiche-
rungsbedarf meist nicht bekannt. D. h. viele Versicherungsprodukte, wie z. B. Berufsunfähig-
170 Peter Rausch, Jens Westerheide

keitsversicherungen, werden von den meisten Verbrauchern nicht automatisch nachgefragt,


sondern erfordern eine Bedarfsweckung. Oft müssen potenzielle Kunden erst vom Nutzen
bzw. der Relevanz überzeugt werden, was u. a. auf den im Vergleich zu anderen Produktarten,
wie z. B. Autos, fehlenden Prestigenutzen von Versicherungen zurückgeführt werden kann.
Das Marketing muss daher den Versicherungsbedarf erst wecken, die Nachfrage nach Leis-
tungen des Versicherers generieren und den Versicherungsnehmer an das Versicherungsun-
ternehmen binden.
Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die Immaterialität [Farny 2000, S. 22]. Versicherungs-
dienstleistungen weisen keine direkten Inspektionseigenschaften auf, da sie ein „Leistungs-
versprechen für den Fall des Eintritts eines bestimmten Ereignisses“ darstellen [Koch/Weiss
1994, S. 914]. Sie können im Vorfeld des Kaufs, anders als materielle Produkte, in ihren
Eigenschaften nur bedingt begutachtet werden. Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften
dominieren daher im Kaufprozess. Eigene Erfahrungen mit einem Versicherer oder einem
bestimmten Versicherungsprodukt sind somit kaufrelevante Ersatzkriterien. Erst beim Vorlie-
gen eines Versicherungsfalles konkretisiert sich für viele Versicherungsnehmer das abstrakte
Leistungsversprechen. Da ein Versicherungsfall erst nach Vertragsabschluss oder eventuell
sogar niemals eintritt, lässt sich ohne eine gewisse Vertrauensbasis des Versicherungsnehmers
i. d. R. kein Kaufabschluss realisieren. Fehlt der eigene Erfahrungshintergrund, wie dies z. B.
bei Risikolebens- und Berufsunfähigkeitsversicherungen der Fall ist, verstärkt sich dann der
„Vertrauensgutcharakter“ der Versicherungsdienstleistung und Ersatzkriterien wie Marken-
name oder Empfehlungen gewinnen an Bedeutung. So sind vor allem Markenbildung, Refe-
renzmarketing und die Pflege von Kundenbeziehungen in der Versicherungswirtschaft von
großer Wichtigkeit. Das Vertrauen des Verbrauchers wird bereits durch die Art der Abwick-
lung bestimmter Geschäftsprozesse verstärkt oder vermindert. Die Kunden bewerten die
Wahrscheinlichkeit der Einhaltung des Schutzversprechens, indem sie auf der einen Seite
Markenbekanntheit, Markenimage und auf der anderen Seite vor allem externe Referenzen ins
Kalkül ziehen.
Somit ist es nicht verwunderlich, dass man in webbasierten Foren Fragen bezüglich der Erset-
zung von Schäden durch Versicherungsunternehmen bzw. Fragen bezüglich möglicher Prob-
leme bei der Schadenregulierung findet. Der externe Bezug ist dabei insbesondere für solche
Produkte relevant, die ein sehr hohes Involvement (bspw. eine hohe „Ich-Beteiligung“ bei
Lebensversicherungen, Berufsunfähigkeits- und Unfallversicherungen) auf Kundenseite
auslösen. Das heißt, dort wo Kunden eine hohe Komplexität empfinden, die mit einem per-
sönlichen Risiko bzgl. des Nutzens verbunden ist, reicht ein gutes Markenimage allein nicht
mehr aus, um sie langfristig an das Unternehmen zu binden oder sie zum einem Abschluss zu
bewegen. Kunden wollen sich – wie Abb. 1 zeigt – zusätzlich durch Informationen und au-
thentische Beratung absichern. Dies deutet darauf hin, dass Web 2.0-Formate für einen Teil
der Versicherungskunden relevante Informationsquellen darstellen. Dieser Teil dürfte sich vor
allem aus solchen Kunden rekrutieren, die gemäß einer aktuellen Studie der Universität St.
Gallen aus dem Jahr 2008 den Geschäftspraktiken von Versicherungsunternehmen misstrau-
en. Gemäß dieser Studie ist das Thema „Versicherung“ bei der Mehrheit der europäischen
Konsumenten negativ belegt und nur zwei Fünftel der europäischen Verbraucher vertrauen
den Geschäftspraktiken von Versicherern [Maas et al. 2008, S. 2 ff.].
Web 2.0 als Instrument des Kundenbeziehungsmanagements 171

Abb. 1: Beispiel einer kundenseitigen Informationsbeschaffung mittels Internetforen [Versicherung.net 2008]

Weitere wichtige Aspekte des Kundenbeziehungsmanagements ergeben sich aus der Komple-
xität der Kundenberatung. Diese hängt vom angebotenen Versicherungsprodukt ab. So ist
eine Beratung im Bereich der Altersvorsorge im Normalfall deutlich komplexer als die Bera-
tung bezüglich einer Hausratversicherung. Generell handelt es sich bei der Gewährung von
Versicherungsschutz um ein erklärungsbedürftiges Wirtschaftsgut. Eine hohe Komplexität
induziert im Regelfall eine intensive Einbindung des Kunden durch eine persönliche Außen-
dienstbetreuung. Einfache Produkte eignen sich dagegen gut für einen Direktvertrieb. Gene-
rell erfolgt der Vertrieb von Versicherungsprodukten überwiegend durch eigenständige Ver-
mittlerorganisationen.
Aus Sicht der Kunden kann man unterstellen, dass das Interesse, sich kritisch mit dem Unter-
nehmen und dessen Produkten im Netz zu beschäftigen, umso größer wird, je weniger durch-
schaubar sie sind bzw. je weniger Transparenz sie aufweisen. Die interaktive öffentliche
Bewertung von Unternehmensangeboten im Internet ist mittlerweile ein generelles Phänomen,
das alle Anbieter öffentlich zugänglicher Leistungen betrifft. Ein zunehmender Bekanntheits-
grad eines Anbieters sowie eine größere Abstraktion und Komplexität des Leistungsverspre-
chens induzieren in vielen Fällen die Auseinandersetzung mit den Leistungsangeboten im
Internet. So verwundert es nicht, dass insbesondere Dienstleistungsanbieter, deren Angebote
im Vorfeld der Leistungserbringung schwer zu inspizieren sind, wie z. B. Unternehmen der
Touristik, Gastronomie, Bildung, Telekommunikation und nicht zuletzt der Finanzdienstleis-
tungsbranche, besonders von diesem Phänomen betroffen sind. Hier spielen vor allem Bewer-
tungsplattformen bzw. Foren eine bedeutende Rolle. Gibt man z. B. in eine der bekannten
Suchmaschinen den Namen von Versicherern in Kombination mit den Stichworten „Problem“
oder „Bewertung“ ein, so findet man, wie in Abb. 2 dargestellt, Treffer aus Foren oder Be-
wertungsportalen, in denen über das betreffende Unternehmen kritisch berichtet wird.
172 Peter Rausch, Jens Westerheide

Abb. 2: Beispiel für die Seite eines Suchmaschinentreffers [Ciao GmbH 2009]

3.2 Faktoren des technologischen Umfeldes


Aufgrund der immer besseren Möglichkeiten, Text- sowie Audio- und Videoformate zu gene-
rieren, zu bearbeiten, zu verknüpfen und letztlich zu distribuieren, finden immer mehr Kunden
von Versicherern Zugang zu den erwähnten Inhalten. Dabei trägt die weiter voranschreitende
Medienkonvergenz dazu bei, dass Web 2.0-Inhalte in allen Medien und über eine Vielzahl
von Medienträgern ohne räumliche und zeitliche Beschränkung verfügbar sind. So findet man
beispielsweise, wie in Abb. 3 dargestellt, in der Videoplattform YouTube Werbespots von
großen Versicherungsunternehmen. Die Links zu den Spots können ohne großen Aufwand
weitergeleitet und die Spots selbst bewertet werden. Zudem werden bereits Informationen zur
Altersvorsorge über Web 2.0-Angebote, wie z. B. Wikis, an Kunden weitergegeben.

3.3 Faktoren des Kundenverhaltens


Das Verhalten von Kunden unterliegt einem ständigen Wandel. Das Internet trägt auch in der
Versicherungsbranche zu einem sich verändernden Interaktionsverhalten zwischen Anbieter
und Kunde bei. Zwar interagieren nicht alle Kundengruppen in größerem Umfang direkt mit
Versicherern über das Netz, und wenn, dann eher in Bezug auf so genannte Low-
Involvement-Produkte, wie z. B. Hausratversicherungen, bei denen eine geringe Komplexität
besteht. Dennoch wird gerade der Interaktionsprozess bezüglich so genannter High-
Involvement-Produkte, die i. d. R. von komplexerer Natur sind, fast immer durch eine gezielte
Informationsbeschaffungssuche im Netz begleitet – unabhängig davon, ob der Kunde eine
externe Beratung durch den Anbieter erfährt. Einer branchenneutralen Studie von Consline
aus dem Jahr 2008 zufolge verzichten bei größeren Anschaffungen nur noch 5 % aller Käufer
auf eine vorherige Websuche, was darauf hindeutet, dass auch für die Versicherungswirtschaft
in vielen Fällen (z. B. beim Abschluss privater Krankenversicherungen und Lebensversiche-
rungen) eine intensive kundenseitige Internetrecherche einem Beratungsgespräch vorgeschal-
Web 2.0 als Instrument des Kundenbeziehungsmanagements 173

Abb. 3: Werbespot eines Versicherers bei YouTube [YouTube LLC 2009]

tet ist [Consline 2008]. Kunden erwarten daher qualitativ hochwertige Transaktions- und vor
allem Informations- bzw. Beratungsformate, und der Anspruch an diese steigt. Web-
Angebote, die vor zwei Jahren noch als vorbildlich galten, würden von den Kunden heute
zum Teil als vollkommen inakzeptabel betrachtet. Das Anspruchsniveau der Kunden bildet
sich dabei nicht mehr unmittelbar auf Grundlage der Branchenangebote heraus, sondern ergibt
sich aus den Benchmarks, die von den jeweils besten „Web-Performern“ etabliert werden.
Entsprechende Untersuchungen zu Benchmarks finden sich in [Fischer/Bahlinger 2007].
Durch Web 2.0-Angebote, z. B. Foren zur Beantwortung von Fragen zur privaten Altersvor-
sorge, können sich Versicherer in diesem Kontext entsprechend positiv abheben. Allerdings
erhärten sich die Hinweise darauf, dass sich Kunden bei der Informations- und Beratungssu-
che statt an den Anbieterwebsites immer stärker an (mehr oder weniger) unabhängigen Web
2.0-Quellen orientieren, wobei vor allem die institutionalisierten Produktbewertungsportale
wie Ciao, Qype etc. eine besondere Bedeutung erfahren [GfK 2008].
Durch kostengünstige und dennoch hoch effektive Möglichkeiten, Meinungen und Erfahrun-
gen produkt- und anbieterübergreifend zu ergänzen, zu systematisieren und zu vernetzen,
entsteht Kundenmacht. Diesem Aspekt können Anbieter von Versicherungsdienstleistungen
Rechnung tragen, in dem sie selbst Web 2.0-Angebote schaffen oder zumindest bei bestehen-
den Angeboten mitwirken. Dies eröffnet ihnen die Möglichkeit, Einfluss auf die frei zugäng-
lichen Informationen zu nehmen bzw. die Angebote mitzugestalten oder gar zu kontrollieren.
Auch wenn noch keine umfassenden Kenntnisse zum Einfluss des Web 2.0 auf das Verbrau-
cherverhalten vorliegen, so stützen doch viele aktuelle Daten von Marktforschungsunterneh-
men die hohe Bedeutung der Meinungsführerschaft aktiver Web 2.0-Nutzer und damit deren
Einfluss auf die Kaufentscheidung von Kunden. Gemäß einer weltweiten Studie von ACNiel-
sen schenken bspw. in Deutschland 70 % persönlichen Kaufempfehlungen ihr Vertrauen.
Immerhin 56 % lassen sich aber auch von anonymen Kaufempfehlungen im Internet vertrau-
ensvoll beeinflussen [ACNielsen 2007]. In der Nachkaufphase suchen immerhin 29 % der
174 Peter Rausch, Jens Westerheide

amerikanischen Internetnutzer in Communities und Produktbewertungsportalen gezielt nach


solchen Informationen, die ihre Kaufentscheidung nachträglich unterstützen. Dies geht aus
einer Studie von Jupiter Research hervor [Fösken 2007, S. 115 f.].

3.4 Faktoren der Angebots- und Konkurrenzseite


Generell lässt sich konstatieren, dass die meisten Unternehmen der Finanzdienstleistungs-
branche über umfangreiche Informations- und Transaktionsangebote auf ihren Websites
verfügen. Interaktive Anwendungen finden sich allerdings seltener. Insbesondere die Versi-
cherungswirtschaft ist hier sehr zurückhaltend [Fischer/Bahlinger 2007, S. 3]. Proaktive An-
sätze mit Web 2.0-Inhalten und -Formaten, wie Foren, Blogs etc. bzw. einer webbezogenen
Koordinierung von Beschwerden und Anregungen sind eher die Ausnahme. Das Gleiche gilt
für die Verlinkung zu fremdem Content mit Kundenforen, einschlägigen Bewertungsplattfor-
men etc. Andere Branchen, wie z. B. die Konsumgüterindustrien, sind schon einen Schritt
weiter. Diese pflegen aktiv und offen die zum Teil kritische Auseinandersetzung mit ihren
Kunden. Sie kanalisieren so die Beschwerden und Anregungen ihrer Kunden im Netz. Dies
weckt wiederum die Erwartungen der im Netz „surfenden“ potenziellen Versicherungskunden
nach umfassender Information und Betreuung.

4 Einschätzung der Bedeutung des Web 2.0 durch Vertreter der


Versicherungsbranche
Indizien für einen eher zurückhaltend anmutenden Einsatz von Web 2.0-Anwendungen in der
Branche finden sich in einer von [Raake/Hilker 2008] durchgeführten Studie zum Thema
„Web 2.0 in der Assekuranz“. Die Autoren kommen zum Ergebnis, dass Web 2.0-Anwen-
dungen die Versicherungswirtschaft noch nicht in größerem Umfang durchdrungen haben.
Raake/Hilker haben Projektleiter von Web 2.0-Vorhaben befragt. Da diese das Thema mögli-
cherweise aus einem anderen Blickwinkel betrachten als Verantwortliche aus dem Marketing-
und Vertriebsbereich, haben die Hochschulen Coburg und Nürnberg eine separate qualitative
Befragung durchgeführt. Hierbei wurden gezielt Marketing- und Vertriebsleiter der Versiche-
rungsbranche zu den Einsatzmöglichkeiten des Web 2.0 im Rahmen des Kundenbeziehungs-
managements befragt. Im Zuge der Erhebung wurden 78 Versicherungsunternehmen aus dem
Bereich der Erstversicherer mit dem Fokus Privatkundengeschäft kontaktiert. Davon waren
21 bereit, an der Befragung teilzunehmen. Daher muss einschränkend konstatiert werden, dass
eine Folgeuntersuchung, die auf einer größeren Fallzahl basiert, anzuraten ist. Die telefoni-
sche Befragung erfolgte im Zeitraum von August 2008 bis September 2008 mittels eines
einheitlichen Fragenkatalogs. Um die Teilnahmebereitschaft zu erhöhen, wurden die Inter-
views auf 15 Minuten Zeitaufwand beschränkt. Es wurde zunächst in einem Vorgespräch
abgeklärt, was im Interview unter Web 2.0 verstanden werden soll und anschließend gefragt,
ob das jeweilige Unternehmen bereits Web 2.0-Anwendungen einsetzt. In Abhängigkeit der
jeweiligen Antworten erfolgte eine differenzierte Fortsetzung der Befragung. Die entspre-
chenden Ergebnisse werden im weiteren Verlauf des Abschnitts dargelegt und analysiert.
Die Befragung der Hochschulen Coburg und Nürnberg zeigt, dass die Mehrheit der befragten
Unternehmen über keine Angebote zur Sammlung von „User Generated Content“ verfügen.
Lediglich knapp 29 % der befragten Manager gaben an, Web 2.0-Anwendungen im Unter-
Web 2.0 als Instrument des Kundenbeziehungsmanagements 175

nehmen einzusetzen. Die Anwendungsbereiche erstrecken sich von Foren für verschiedene
Zielgruppen, wie Ärzte und Studenten, bis hin zu Videowettbewerben, wie in Abb. 4 darge-
stellt. Auch der interne Einsatz von Wikis wird genannt.

Abb. 4: Beispiel Gewinnspiel eines Versicherers mittels Videoplattform und Voting


[AOK-Bundesverband 2009]

Konkrete Aktivitäten sind im Hinblick auf das Kundenbeziehungsmanagement von der über-
wiegenden Mehrzahl der Versicherer, die bislang auf einen Web 2.0-Einsatz verzichten, auch
nicht geplant (ca. 86 %). Lediglich eine Minderheit plant den zukünftigen Einsatz von Forma-
ten, wie Videowettbewerben, interaktiven Gewinnspielen etc., mit denen Kunden im Sinne
des Web 2.0 in die Gestaltung der Onlineauftritte integriert werden können. Die Unternehmen
versprechen sich davon, die Attraktivität ihres Web-Auftritts zu erhöhen und zugleich eine
kommunikative Wirkung beim Kunden zu erzeugen.
Die Mehrzahl der Versicherer, die an der Befragung teilnahmen, sehen allerdings das Poten-
zial von Web 2.0-Anwendungen eher im Bereich der webbasierten Beratungstools für Kun-
denanfragen und Problemstellungen. Nach ca. 57 % der Befragten ist in diesem Zusammen-
hang das häufigste Ziel, die weitgehend standardisierten Online-Beratungsansätze stärker zu
flexibilisieren. Dazu planen sie, registrierte Online-Kunden mit besonderen versicherungs-
bzw. finanzdienstleistungsspezifischen Tools wie Börsentipps, Terminkalendern, individuel-
len Newslettern auszustatten, um diese stärker in ihre Webpräsenz integrieren zu können.
Fast 95 % der befragten Unternehmen haben sich bereits mit Web 2.0-Formaten zumindest im
Sinne einer Marktbeobachtung beschäftigt – wenn auch nicht immer durch eine systematische
Vorgehensweise geprägt. Die Vorteile eines „Intra-Web 2.0“ werden mehrheitlich genannt
und positiv bewertet. Mitarbeiter sollen stärker durch Foren und vor allem Wikis mit aktuel-
len Informationen, Trends, Themen etc. aus den verschiedenen Wissensgebieten, aber auch
Funktionsbereichen und/oder Sparten der Versicherungswirtschaft versorgt werden. In diesem
Kontext wird eine konstruktiv kritische Atmosphäre des interaktiven Online-Austausches als
176 Peter Rausch, Jens Westerheide

sinnvoll für die Unternehmenskultur erachtet. Demgegenüber steht der Einsatz des Web 2.0
im Kundenbeziehungsmanagement bei den Befragten nicht im Fokus.
Die Ressourcenfrage zur Aufrechterhaltung und Pflege von Web 2.0-Anwendungen wird
mehrheitlich als problematisch beurteilt. Dies geben 71 % aller Interviewpartner, d. h. 100 %
aller Unternehmen, die auf den Einsatz von Web 2.0 verzichten, an. Als weiterer Grund für
die noch geringe Verbreitung von „externen“ Web 2.0-Angeboten für Kunden wird – wie
auch in Abb. 5 ersichtlich – die Kernstrategie des persönlichen Verkaufs mit persönlicher
Beratung über Außendienstmitarbeiter in der Versicherungswirtschaft angeführt. Dies geben
zwei Drittel der Versicherer, die Web 2.0 noch nicht einsetzen, an. Eine direkte Einbindung
von Web 2.0-Inhalten ist nach Ansicht der Mehrzahl der Befragten – anders als in den Mas-
senmärkten der Konsumgüterindustrie – auch zukünftig nicht zwingend erforderlich. An
dieser Stelle verweisen die meisten Versicherer auf die hohe Komplexität ihrer Versiche-
rungsleistungen, die auch zukünftig fast ausschließlich eine persönliche Beratung erforderlich
machen würde. Der Verzicht auf Web 2.0-Formate, wie bspw. Kundenforen, oder die fehlen-
de Anbindung an fremde Formate wird damit begründet, dass diese i. d. R. die hohe Komple-
xität von Versicherungsprodukten nicht richtig erfassen und abbilden können. Die Unterneh-
men gehen im Zuge des Angebotsprozesses von einer schädigenden Wirkung durch Fehler
und Verbreitung von Falschinformationen, die nur schwer zu kontrollieren sind, aus.

16

14

12
Anzahl
der Nennungen 10

0
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Abb. 5: Umfrageergebnis: Warum setzen Versicherer Web 2.0 nicht ein? (Mehrfachnennungen möglich)

Bei sonstigen Antworten geben z. B. Versicherer aus dem Bereich der Direktversicherungen
mit weniger komplexen, einfachen Standardprodukten an, dass bei ihren Produkten weniger
kundenseitiger Bedarf an Web 2.0-Angeboten gesehen wird. Allerdings ist diesbezüglich das
Meinungsbild konträr, da bei einigen Direktversicherungen mit standardisierten Produkten
Chancen gesehen werden, eine noch stärker kostenoptimierte Kundenbearbeitung zu etablie-
ren, indem Kunden stärker in die Selbstberatungsprozesse integriert werden und entsprechend
Beratungskapazitäten auf Seiten der Anbieter wegfallen könnten.
Web 2.0 als Instrument des Kundenbeziehungsmanagements 177

Aus der Befragung ergeben sich weitere Ansatzpunkte, die zumindest bei einigen Versiche-
rern auf eine künftig stärkere Beschäftigung mit Web 2.0-Angeboten hindeuten könnten. So
wird angeführt, dass diese dabei helfen könnten, Kunden in ihrer „Lebensumwelt“ zu errei-
chen, die Versicherungsmarke und die Produkte stärker als bisher zu emotionalisieren und
damit Kundenbindung erzeugen zu können. Das Meinungsbild ist jedoch uneinheitlich. Die
Verantwortlichen im Bereich des Marketing und Vertrieb anderer Versicherer messen diesem
Aspekt kaum Bedeutung zu. Sie sehen die Chancen des Web 2.0 eher in der Generierung
einer größeren Wissensbasis, von der insbesondere die Mitarbeiter profitieren sollen. Generell
werden – wie Abb. 6 zeigt – Chancen und Risiken gleichermaßen gesehen.

eher Chancen
24 %

eher Risiken
neutral 19 %
57 %

Abb. 6: Umfrageergebnisse: Überwiegen bei Web 2.0 für Versicherer eher Chancen oder Risiken?

5 Konklusion
Wesentliche Einflussfaktoren im Umfeld der Versicherungswirtschaft und die charakteristi-
schen Besonderheiten von Versicherungsdienstleistungen sprechen dafür, dass das Web 2.0
den zukünftigen Umgang mit Versicherungskunden verändern wird und nicht nur ein tempo-
räres Phänomen ist. Das bedeutet, dass sich die Marketing- und Vertriebsprozesse der Bran-
che diesem Thema dauerhaft annehmen sollten, um vor dem Hintergrund steigender Kunden-
erwartungen davon zu profitieren.
Die ausgewerteten Studien sowie die von den Hochschulen Coburg und Nürnberg durchge-
führte Befragung deuten darauf hin, dass die Versicherungsbranche zum Thema Web 2.0 als
Instrument des Kundenbeziehungsmanagements ein ambivalentes Verhältnis hat. Auf der
einen Seite sehen die Versicherer ein gewisses Potenzial, durch Web 2.0-Aktivitäten ihre
Leistungsangebote zu verbessern und in die Lebensumwelt der Kunden „vorzudringen“. Auf
der anderen Seite scheint die Branche sowohl den hohen Ressourcenaufwand zur Steuerung
eigener oder vernetzter Formate zu fürchten bzw. sieht sich im Web 2.0 überwiegend ge-
schäftsschädigender Wirkungen durch Falschinformationen und Fehlbewertungen ausgesetzt,
denen sie keinen zusätzlichen Vorschub leisten möchte.
Die konstitutiven Eigenschaften der Versicherungen, das Verhalten der Kunden, die techno-
logischen Weiterentwicklungen und auch die Geschäftsmodelle anderer Branchen führen
jedoch zu einer insgesamt hohen Bedeutung des Web 2.0 für Versicherungskunden. Diesem
Aspekt sollte sich die Versicherungsbranche im Rahmen des Kundenbeziehungsmanagements
178 Peter Rausch, Jens Westerheide

nicht entziehen. Insbesondere im Bereich der erklärungsbedürftigen Produkte, wo die befrag-


ten Versicherungen den geringsten Bedarf für eigene Web 2.0-Anwendungen sehen und
Vertriebskanalkonflikte mit dem Außendienst vermeiden möchten, greifen Kunden in der
Vor- und Nachkaufphase verstärkt auf Informationsangebote aus dem Web 2.0 zurück. So
überlässt ein großer Teil der Branche in seinem Segment fremden Informationsanbietern die
Ausgestaltung von Web 2.0-Formaten. Die Versicherungsbranche gibt damit den Anspruch
auf eine stärkere Gesamtsteuerung des Absatzprozesses auf, der heute nicht mehr nur die
Transaktionsphase betrifft. Versicherungsunternehmen können somit weder Primärinformati-
onen wie bspw. Beschwerden kanalisieren noch können sie Einfluss auf die Nutzung und
Weiterverbreitung von Informationen im Internet nehmen. Zudem beschränken sie so die
Anzahl ihrer Kundenkontaktpunkte und verzichten dabei auf Interaktivität und (virtuelle)
Nähe und entsprechend auf Kundenbindungspotenziale. So gibt es in der Branche zur Zeit
einen offensichtlichen „Missfit“ zwischen den Anforderungen von Kunden, technologischen
und medialen Möglichkeiten, des Verhaltens branchenfremder Konkurrenten und den Ange-
boten bzw. Aktivitäten der Versicherer im Bereich des Web 2.0. Vielfach werden die Res-
sourcenfrage und die Nicht-Kontrollierbarkeit von Web 2.0-Formaten als Gründe für die
bisherige Nichtberücksichtigung von den Branchenvertretern angeführt.
Dabei ist es jedoch wichtig zu beachten, dass sich die „klassischen“ Gesetzmäßigkeiten und
Regeln des Marketing und Vertriebs durch das Web 2.0 nicht grundsätzlich verändern. Kun-
den werden trotz vielfältiger Möglichkeiten des Web 2.0 weiterhin in ihrer Informationsauf-
nahmefähigkeit beschränkt bleiben und nur selektiv Angebote bzw. Informationen wahrneh-
men. Vertrauenswürdig anmutende Quellen werden wie beim klassischen Vertriebsprozess im
Web 2.0 eher bevorzugt. Dies könnten z. B. die eigenen Internetpräsenzen mit Web 2.0-
Angeboten oder verlinkte bzw. kontrollierte Bereiche sein. Insbesondere für den Vertrieb
komplexer Produkte, wo sich Kunden gezielt nach qualitativen „authentischen“ Informationen
anderer Kunden bemühen und über den Verkaufsakt hinausgehende Beratung einfordern,
wäre dies zu berücksichtigen. Hier könnten z. B. Bewertungssysteme aus dem Handel, wie
die Rezensionen bei Amazon, einen Weg aufzeigen. Zudem werden Kunden nach dem Kauf
weiterhin nach so genannten konsonanten (bestätigenden) Informationen suchen, um den
bereits vollzogenen Abschluss bestätigen zu können. Positive Bewertungen von zufriedenen
Kunden auf den eigenen „Seiten“ werden daher generell zu mehr Kundenverbundenheit füh-
ren.
Für Versicherer sollte dies bedeuten, sich stärker mit den Angeboten des Web 2.0 auseinander
zu setzen und diese aktiv mitzugestalten bzw. in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dies ist im
Regelfall nicht ressourcenneutral zu realisieren. Entsprechend qualifiziertes Personal muss
bereitgestellt werden, um den Herausforderungen des Internets und des Web 2.0 in Zukunft
begegnen zu können. Die produktive Vernetzung von Marketing- und IT-Wissen ist hierbei
von hoher Bedeutung. Will man Web 2.0 als zukunftsorientiertes Instrument des Kundenbe-
ziehungsmanagements nutzen, sollte daher der organisatorischen Schnittstelle von Absatz-
und IT-Prozessen verstärkt Beachtung geschenkt werden. An dieser Stelle scheinen in der
Versicherungswirtschaft noch weitere Anstrengungen erforderlich zu sein. Man könnte bei
begrenzt verfügbaren Ressourcen die Befragungsergebnisse in diesem Kontext dahingehend
interpretieren, dass die meisten Versicherungsunternehmen webbezogene Aktivitäten des
Kundenbeziehungsmanagements gegenüber anderen Aktivitäten, insbesondere denen des
Web 2.0 als Instrument des Kundenbeziehungsmanagements 179

persönlichen Verkaufs im Neukundengeschäft, zurückstellen. Die vorliegenden Ergebnisse


dieser Arbeit belegen, dass Web 2.0-Formate für die Unternehmen der Versicherungsbranche
keine strategische Priorität genießen, die weiteren Entwicklungen des Markt- und Wettbe-
werbsumfeldes hier jedoch zu einem strategischen Umdenken führen dürften.

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Markenkommunikation bei Energieversorgern – Entwicklung
und Erfolgsmessung einer Imagekampagne am Beispiel der WVV

Cornelia Zanger, Kerstin Klaus, Tina Kießling, Norbert Menke

1 Bedeutung von Marken für Energieversorger


Der Aufbau starker Marken gilt allgemein als wesentliches Element erfolgreicher Unterneh-
mensführung. Vor dem Hintergrund des liberalisierten Strommarktes sowie aktueller Fragen
der Energiepolitik (z. B. steigende Energiepreise) werden markenpolitische Entscheidungen
auch für Versorgungsunternehmen zu einem wichtigen Erfolgsfaktor der Kundenbindung.
Insbesondere die stetig steigenden Energiepreise rücken Energieversorger immer häufiger in
das Zentrum öffentlicher Diskussionen. Diese haben besonders im letzten Jahr zum einen
dazu geführt, dass Kunden immer öfter das Angebot sowie die Preisentwicklung ihres Ver-
sorgers hinterfragen, zum anderen aber auch Fragen der Versorgungssicherheit immer wichti-
ger werden. In diesem Zusammenhang müssen Energieversorger darüber nachdenken, wie
Kunden beim Unternehmen gehalten werden können. Eine stärkere, emotionale Positionie-
rung von Energieversorgern kann dabei eine Möglichkeit sein, die Wahrnehmung der Marke
beim Konsumenten zu beeinflussen, eine Differenzierung vom Wettbewerb zu erreichen und
eine Abkoppelung von ausschließlich preispolitischen Entscheidungen zu bewirken. Dass
diese Überlegungen in der Praxis bereits einbezogen werden, zeigen die stark gestiegenen
Aufwendungen für Kommunikationsmaßnahmen sowie die zunehmende Etablierung von
Markenstrategien bei Versorgungsunternehmen. Ein theoriegeleitetes Vorgehen bei der Ent-
wicklung von Markenstrategien sowie eine wissenschaftlich fundierte Analyse der Wirkungen
markenpolitischer Maßnahmen sind bisher allerdings kaum erkennbar.
Für den Kunden ist der Markt der Versorgungsdienstleister trotz weit reichender Kommunika-
tionsmaßnahmen der Anbieter oftmals undurchsichtig. Starke Marken bedürfen jedoch einer
klaren und für den Kunden relevanten Positionierung am Markt. Um Neukunden zu akquirie-
ren oder Bestandskunden zu halten, benötigt die Versorgungsmarke demnach ein eigenständi-
ges und unverwechselbares Profil. Allerdings liegen bisher nur wenige Studien vor, die sich
mit kaufverhaltensrelevanten Aspekten von Versorgungsmarken beschäftigen [Bakay 2003;
Henseler 2006]. Den Ausgangspunkt der Entwicklung einer Markenstrategie sollte auch im
Bereich der Energiewirtschaft eine umfassende, theoretisch begründete Markenanalyse bil-
den. Sie gilt als erster Schritt auf dem Weg zur Entwicklung einer Markenpositionierung und
kann zugleich die Auswahlentscheidung hinsichtlich der Kommunikationsplanung fundieren.
Im Zusammenhang mit der Entwicklung einer umfassenden Markenstrategie spielen vor
allem Aspekte des Markenimages von Energieversorgern eine entscheidende Rolle. Dabei ist
davon auszugehen, dass Verbesserungen des Markenimages eine höhere Bindung der Kunden
an den Versorger bewirken können. Besonders das Argument der Kundenbindung liefert vor
dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen auf dem Energiemarkt ein zentrales Argument
182 Cornelia Zanger, Kerstin Klaus, Tina Kießling, Norbert Menke

dafür, starke Versorgungsmarken zu etablieren. Am Beispiel des Energieversorgungsunter-


nehmens WVV soll gezeigt werden, wie theorie- und empiriegeleitet durch ein zielgerichtetes
Vorgehen bei der Entwicklung einer umfassenden Markenstrategie eine Imageverbesserung
sowie eine höhere Bindung an das Unternehmen erreicht werden kann.

2 Markenimage und Markenkern als Erfolgsfaktoren der


Kundenbindung
Für die Entwicklung einer umfassenden Markenstrategie ist eine sorgfältige und theoriegelei-
tete Markenanalyse (IST-Situation) entscheidend. Ziel ist es, für die Marke ein eigenständiges
und unverwechselbares Profil zu entwickeln. Wichtig ist es deshalb, zunächst für den Kunden
relevante Eigenschaften (Imagedimensionen) der Marke zu identifizieren. Das Instrument der
Markenkernanalyse eignet sich dabei besonders, das Image der Marke herauszuarbeiten und
strukturiert abzubilden. Dabei kann das Markenimage als subjektive Wahrnehmung einer
Marke definiert werden. Diese stützt sich auf zentrale Assoziationen, die im Gedächtnis der
Konsumenten verankert sind [Keller 1993, S. 3; Hoeffler/Keller 2003, S. 422]. Das Marken-
image basiert damit auf verbalen und bildlichen Assoziationen und zeigt ein auf Gefühlen
basierendes Urteil bezüglich der Marke anhand von Einstellungen. Starke Marken sind damit
wesentlich über Gefühle, Emotionen und innere Bilder repräsentiert [Meffert et al. 2005,
S. 53; Esch 2004, S. 23 f.]. Der Markenkern definiert als Teil des Markenimages das innerste
Wesen der Marke, das fest mit der Marke verankert und zeitlich stabil ist. Den Markenkern
bilden damit zentrale Assoziationen, die spontan mit der Marke in Verbindung gebracht wer-
den. Assoziationen entstehen dabei nicht nur über die Kommunikationspolitik eines Anbie-
ters, sondern gleichsam durch direkte oder indirekte Erfahrungen mit der jeweiligen Marke.
Der Markenkern umfasst demnach aus Sicht der Kunden zentrale Eigenschaften der Marke
und kann häufig in einem Satz formuliert werden [Esch 2004, S. 91; Aaker/Joachimsthaler
2000, S. 46]. Die Ermittlung des Markenkerns, d. h. die Ermittlung der zentralen Assoziatio-
nen mit der Marke, liefert dem Unternehmen einen wichtigen Ausgangspunkt für die Ent-
wicklung einer Markenstrategie. Auf Basis des Markenkerns ist zu entscheiden, ob die Marke
in den Köpfen der Nachfrager bereits richtig positioniert ist oder ob eine Angleichung an die
Soll-Positionierung erfolgen muss.
Zur Erfassung des Markenkerns wird nach Markenschemata in Form so genannter semanti-
scher Netzwerke in den Wissensstrukturen der Konsumenten gesucht. Die Entstehung assozi-
ativer Wissensstrukturen über Marken lässt sich über Lerntheorien erklären. Den Ausgangs-
punkt bilden dabei Überlegungen, dass Konsumenten beispielsweise Einstellungen gegenüber
einem Meinungsgegenstand (in diesem Fall die Marke) oder ihr Wissen in Bezug auf be-
stimmte Objekte als semantische Netzwerke (Schemata) speichern [Drengner 2008, S. 90;
Kroeber-Riel/Weinberg 2003, S. 231]. Schemata enthalten Informationen über typische Ei-
genschaften von Objekten oder Situationen [Rumelhart 1980]. Sie repräsentieren dabei nicht
nur kognitive Wissensstrukturen bzw. sind auf sachlich oder verbale Inhalte beschränkt,
vielmehr können sie gleichermaßen visuelle Reize [Marcus/Zajonc, 1985, S. 142] oder Emo-
tionen [Bower/Cohen 1982; Bower 1981] umfassen. Diese Strukturen semantischer Netzwer-
ke können insbesondere durch qualitative Befragungsinstrumente offen gelegt werden.
Markenkommunikation bei Energieversorgern 183

Basierend auf den Ergebnissen der Identifizierung des IST-Markenkerns folgt die Entschei-
dung, in welcher Art der Markenkern im Sinne der Ideal- oder Soll-Positionierung des Unter-
nehmens gestärkt, ergänzt oder verändert werden soll. Vor allem die Dimensionen des Mar-
kenkerns, die für eine Abgrenzung zum Wettbewerb, das Kaufverhalten und die Verbunden-
heit zum Unternehmen verantwortlich sind, sollten dabei mit Hilfe von Kommunikations-
oder Positionierungsaktivitäten betont und gestärkt werden. Im Folgenden soll am Fallbeispiel
des Energieversorgers WVV gezeigt werden, wie eine Markenkernanalyse zur Bestimmung
der Positionierung sowie zur Entwicklung geeigneter Kommunikationsmaßnahmen eingesetzt
werden kann und wie diese eine Stärkung des Markenimages und der Unternehmensverbun-
denheit bewirken können.

3 Entwicklung einer Markenstrategie am Beispiel WVV


3.1 Untersuchungsgegenstand und Ausgangssituation bei der WVV
Der WVV Konzern bietet in der Region Würzburg ein umfassendes Portfolio von Energie-,
Mobilitäts- und Umweltdienstleistungen. Mit Blick auf die Entwicklung einer geschlossenen
Markenstrategie spiegelt sich beim WVV Konzern eine besondere Marktkonstellation wider,
welche sich ganz überwiegend aus der internen Struktur des Konzerns ableitet. Zentral sind
dabei vor allem die zahlreichen Tochtergesellschaften, welche das umfangreiche Produkt- und
Leistungsspektrum abbilden. Zudem begründen vor allem die dienstleistungsspezifischen
Besonderheiten im Leistungsportfolio des Konzerns die Notwendigkeit eines modernen stra-
tegischen Markenmanagements.
Das breite Angebotsspektrum bietet zunächst aus Sicht des Marketing beste Voraussetzungen
zum Aufbau einer starken regional agierenden Marke im Bereich der Versorgungs-
dienstleister. Insbesondere durch die Einbindung von Mobilitäts- und Umweltleistungen (z. B.
Nahverkehr, Parkhäuser, Recycling) lassen sich klare Differenzierungspotenziale gegenüber
anderen Energieversorgern identifizieren. Dennoch stellte sich bisher das Bild, d. h. die Wahr-
nehmung der Marke nach außen, aufgrund der internen Verflechtungen der Tochtergesell-
schaften für Kunden insgesamt schwierig und undurchsichtig dar. Dieser Effekt wurde da-
durch verstärkt, dass einzelne Tochtergesellschaften zunächst als eigenständige Unternehmen
(Marken) in der Außenkommunikation auftraten. Aus Sicht der Entwicklung und Positionie-
rung einer starken Marke WVV muss dies jedoch als problematisch angesehen werden, da
dadurch die Bildung klarer Markenbilder eingeschränkt werden kann. Der Vorteil, alle Leis-
tungen aus einer Hand bieten zu können, kann aufgrund unklarer Wahrnehmung verloren
gehen. Die Problematik dieser Situation wurde im Unternehmen erkannt. Oberstes Ziel war es
deshalb, eine geschlossene Markenstrategie mit einigen zentralen Imageattributen zu entwi-
ckeln. Die Positionierung der Marke WVV erfolgte dabei zunächst auf Basis einer wissen-
schaftlich fundierten Analyse des Markenkerns, mit deren Hilfe zentrale Imagedimensionen
identifiziert werden konnten. Als nächster Schritt schloss sich die Planung und Umsetzung
einer Imagekampagne zur Neupositionierung der Marke WVV an. Zur Überprüfung der
Kampagnenwirkung folgte als letzter Schritt die Erfolgsmessung.
184 Cornelia Zanger, Kerstin Klaus, Tina Kießling, Norbert Menke

3.2 Untersuchungsdesign zur Markenkernanalyse


Für die Markenkernanalyse kam ein qualitatives Vorgehen in Form von Einzelinterviews zum
Einsatz. Dies vor allem deshalb, weil bei diesem Instrument umfangreiche Freiheitsgrade zur
Erfassung problemrelevanter Inhalte zur Verfügung stehen [Kepper 1996, S. 34]. Dabei wur-
de auf eine leitfadengestützte Interviewform zurückgegriffen. Durch die offene Fragestellung
kann der interessierende Problembereich effektiv eingegrenzt und dem Interviewten als er-
zählgenerierender Stimulus angeboten werden. Zentrales Prinzip dieser Technik ist im Ge-
gensatz zu freieren Interviewformen das aktive gezielte Nachfragen, um Einstellungen und
Zusammenhänge nachvollziehbar zu machen [Lamnek 1995, S. 76]. Der Leitfaden kann
während des Interviews das Gespräch lenken, hat aber vor allem die Funktion einer Checklis-
te [Witzel 1982, S. 236; Lamnek 1995, S. 77]. Insofern sind situations- bzw. personenspezifi-
sche Anpassungen möglich und sinnvoll. Auf dieses Weise war es möglich, eine offene und
freundliche Gesprächsatmosphäre während der Interviews aufzubauen. Insgesamt wurden im
Juni 2006 36 Interviews mit Kunden des Energieversorgers WVV geführt. Diese nahmen eine
Zeit zwischen 30 und 90 Minuten ein. Die Auswahl der Kunden erfolgte insbesondere nach
soziodemographischen Merkmalen (z. B. Alter, Bildungsstand, Wohnort: Stadt/Umland),
entsprechend der tatsächlichen Kundenstruktur der WVV. Der Interviewleitfaden umfasste
verschiedene Themenschwerpunkte. Der erste Abschnitt beinhaltete zunächst Aspekte wie das
Nutzungsverhalten einzelner Leistungen der WVV, Konsumentenbedürfnisse sowie relevante
Produkteigenschaften bezogen auf Versorgungsdienstleistungen. Der zweite Abschnitt nahm
speziell die Marke WVV in den Fokus. Neben der Erfassung von Stärken und Schwächen der
Marke war es für die Identifikation des Markenkerns vor allem relevant, welche zentralen
Assoziationen (Markenimage) spontan mit der Marke verbunden werden. Aus diesem Blick-
winkel lassen sich zentrale Schwerpunkte der subjektiven Markenwahrnehmung identifizie-
ren, die wesentliche Elemente des Markenkerns definieren.
Die zunächst über qualitative Methoden identifizierten Imagedimensionen wurden im weite-
ren Forschungsprozess stärker präzisiert. In einer breit angelegten quantitativen Untersuchung
erfolgten die Überprüfung der tatsächlichen Ausprägungen der Imagedimensionen sowie die
Ermittlung der Relevanz der Imagedimensionen für die Loyalität und Verbundenheit gegen-
über dem Anbieter. Die Untersuchung erfolgte im Oktober 2006 über eine Bevölkerungsbe-
fragung im Versorgungsgebiet der WVV. Insgesamt wurden 544 Personen telefonisch be-
fragt. Dabei erfolgte die Abfrage der Imagedimensionen mit Hilfe einer vierstufigen
Ratingskala (von 1 = „stimme voll und ganz zu“ bis 4 = „lehne voll und ganz ab“). Die zwei
zusätzlich erhobenen Variablen zur Messung der Stimmung gegenüber bzw. der Verbunden-
heit mit dem Unternehmen wurden ebenfalls auf vierstufigen Ratingskalen erfasst. Zur Erfas-
sung der Stimmung gegenüber der WVV bewerteten die Probanden die Aussage: „Wenn ich
an die WVV denke, habe ich überwiegend positive Gefühle und Stimmungen“. Die Verbun-
denheit zur WVV beurteilten die Befragten anhand des Items: „Ich empfinde gegenüber der
WVV eine gewisse Verbundenheit“.
Markenkommunikation bei Energieversorgern 185

3.3 Ergebnisse der Markenkern- und Korrelationsanalyse


Auf Basis der qualitativen Markenkernanalyse sowie der anschließenden quantitativen Unter-
suchung konnten die in Abb. 1 dargestellten zentralen Imagedimensionen identifiziert werden.
Die Abbildung verdeutlicht darüber hinaus die Bewertung der Imagedimensionen durch die
Probanden in der quantitativen Untersuchung.
Die Ergebnisse zeigen, dass die WVV und ihre Tochterunternehmen stark mit der Region
Würzburg in Verbindung gebracht werden. Die WVV wird nicht nur als Würzburger Unter-
nehmen gesehen, sondern als wichtiger Wirtschaftsfaktor mit sozialer Verantwortung. Dar-
über hinaus assoziieren die Befragten vorrangig Leistungsparameter wie Zuverlässigkeit,
umfangreiches Leistungsspektrum, Umweltfreundlichkeit und Innovation mit der WVV. Die
Untersuchungen zeigten dabei, dass die Marke stärker von rationalen als von emotionalen
Leistungsaspekten geprägt war. Emotionale Merkmale wie Vertrauen, Freundlichkeit, Sympa-
thie sowie Geborgenheit und Lebensqualität wurden insgesamt weniger wahrgenommen.
Sowohl die qualitativen Analysen als auch die Bewertung der Imageitems in der quantitativen
Untersuchung deuten allerdings auch auf einige Schwächen in der Wahrnehmung der WVV
hin. Ein Großteil der Interviewten assoziierte mit der WVV eine undurchsichtige Unterneh-
mensstruktur, was auch im Rahmen der quantitativen Studie bestätigt werden konnte. Der in
diesem Fall beobachtete Mittelwert von 1,96 ist negativ zu bewerten, da er eine Zustimmung
zu dem Item „Undurchsichtige Strukturen“ ausdrückt. Auch wenn diese Assoziation mit der
WVV laut qualitativen Interviews einen zentralen Imagebestandteil darstellt, sollte sie kein
Element des Markenkerns sein. Das Unternehmen sollte bestrebt sein, mit Hilfe zukünftiger
Markenkommunikation diese Wahrnehmung bei den Nachfragern so schnell wie möglich
aufzulösen, sodass keine negative Imagedimension Bestandteil des Markenimages bleibt.

1
(= stimme voll
und ganz zu)

4
Leistungsspektrum
Unternehmen

Unternehmen
zuverlässig

undurchsichtige

Kundennähe
leistungsfähig

(= lehne voll
sympatisch
Würzburger

innovativ
umweltfreundlich
aus einer Hand
umfangreiches

Strukturen

solides

und ganz ab)

Abb. 1: Ausprägung der identifizierten Imagedimensionen (Mittelwerte auf Basis der quantitativen Befragung)
186 Cornelia Zanger, Kerstin Klaus, Tina Kießling, Norbert Menke

Neben der Beschreibung der identifizierten Imagebestandteile wurde zusätzlich deren Korre-
lation mit zentralen Variablen der Kundenbindung (positive Gefühle und Verbundenheit
gegenüber der WVV) ermittelt. Die Ergebnisse der Analyse verdeutlichen, dass alle identifi-
zierten Items signifikant mit der Einstellung gegenüber der WVV korrelieren (vgl. Tab. 1).
Das bedeutet auch, dass eine Verbesserung der Einschätzung der Imagedimensionen eng mit
einer Verbesserung der Verbundenheit mit dem Unternehmen zusammenhängt.

Positive Gefühle/ Verbundenheit


Imagedimension Stimmung gegen- gegenüber der
über der WVV WVV
Würzburger Unternehmen 0,117** 0,119**
umfangreiches Leistungsspektrum aus einer Hand 0,293** 0,287**
undurchsichtige Strukturen -0,318** -0,319**
solides Unternehmen 0,362** 0,299**
Kundennähe 0,465** 0,473**
zuverlässig 0,338** 0,263**
leistungsfähig 0,350** 0,318**
umweltfreundlich 0,316** 0,272**
innovativ 0,446** 0,416**
sympathisch 0,442** 0,362**
** Korrelation ist signifikant auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig)

Tab. 1: Korrelationskoeffizienten

Aufbauend auf den Resultaten der qualitativen und quantitativen Studien sowie anhand inter-
ner Vorstellungen zur Wunschpositionierung der WVV konnten auf drei Ebenen wesentliche
Positionierungseigenschaften abgeleitet werden (vgl. Abb. 2). Zum Ersten soll als zentrales
Differenzierungsmerkmal gegenüber Konkurrenzanbietern das bereits vorhandene Image der
WVV als regionaler Anbieter eine noch stärkere Förderung erfahren. Zum Zweiten sollen die
wesentlichen Struktur- und Leistungsparameter der WVV klarer in den Köpfen der Nachfra-
ger Eingang finden. Dabei soll den Nachfragern vor allem vermittelt werden, dass bei der
WVV alle Versorgungsleistungen aus einer Hand angeboten und somit alle Versorgungsthe-
men zuverlässig und kompetent betreut werden können. Als Drittes wird, nicht zuletzt auf-
grund der eher verhaltenen emotionalen Assoziationen im Ergebnis der qualitativen Inter-
views, eine stärkere Emotionalisierung des Images der WVV angestrebt. Dies kann durchaus
mit Hilfe der beiden anderen Imageschwerpunkte erfolgen, langfristig aber auch durch die
Gewährleistung einer guten Kunden- und Serviceorientierung.
Die resultierende Soll-Positionierung der WVV kann wie folgt zusammengefasst werden. Die
WVV soll als regional starkes Unternehmen wahrgenommen werden, das ein umfassendes
Portfolio von Produkten und Dienstleistungen aus einer Hand bereitstellt und sich zukunfts-
orientiert und aufgeschlossen wachsenden Herausforderungen stellt. Sie steht für Kundennä-
he, Kompetenz, Vertrauen und Sicherheit. Die WVV ist Partner der Region. Sie ist offen,
modern und freundlich. Zur Erreichung der Soll-Positionierung müssen die identifizierten
Elemente des WVV Markenkerns in die Markenkommunikation des Unternehmens aufge-
nommen werden.
Markenkommunikation bei Energieversorgern 187

WVV Imageschwerpunkte

Region
• Würzburger Identität (wichtiger Wirtschaftsfaktor)
• Engagement für die Region (soziale Verantwortung)
• Regionales Sponsoring (Sport und Kultur)

Struktur/Leistung
• Versorgungsleistungen aus einer Hand
• Kompetenz, Zuverlässigkeit, Vielseitigkeit, Leistungsstärke
• Zielstrebigkeit, Flexibilität

Emotionalität
• Kunden- und Serviceorientierung (Fairness, Freundlichkeit, Sympathie)
• Vertrauen, Geborgenheit und regionale Identität
• Lebensqualität in der Region Würzburg

Abb. 2: Imageschwerpunkte der WVV

3.4 Entwicklung einer Positionierungskampagne


Die Ergebnisse der qualitativen und quantitativen Marktforschung bestärkten das Unterneh-
men, neue Wege zu gehen und das Profil der Marke zu schärfen, um insbesondere den geän-
derten Rahmenbedingungen im Markt der Versorgungsdienstleister künftig noch besser ge-
wachsen zu sein. Auf der Basis der Ergebnisse der Markenkernanalyse sowie der
quantitativen Analyse wurde 2007 eine umfassende Positionierungs- und Imagekampagne der
Marke WVV entwickelt. Da den Faktoren „Region“, „Struktur und Leistung“ sowie „Emotio-
nalität“ in Bezug auf die Loyalitätswirkung gegenüber der Marke besondere Bedeutung bei-
gemessen werden kann, stellten diese Faktoren wesentliche Schwerpunkte der Kampagne dar.
Zentrales Element der Kampagne muss aufgrund der besonderen Situation der Marke (kom-
plexe undurchsichtige Struktur durch viele Tochtergesellschaften) zunächst auf die Kommu-
nikation des gesamten Leistungsspektrums aus einer Hand gerichtet sein. Bisher wurde die
Marke lediglich auf zwei Leistungsbereiche (Nahverkehr und Stadtwerke) reduziert. Zusätz-
lich traten einige Tochtergesellschaften der WVV mit eigenständiger Außenkommunikation
auf. Darüber hinaus blieben wesentliche Produktbereiche, die gleichfalls den Kundennutzen
des Unternehmens determinieren, weitgehend unberücksichtigt. Zu empfehlen war deshalb
eine kommunikative Bündelung aller Leistungen des Konzerns unter der Marke WVV. Ziel
musste es sein, die bisher kaum wahrgenommenen Leistungsbestandteile einzelner Tochterge-
sellschaften in die Marke zu integrieren und damit die für den Kunden unübersichtliche Struk-
tur der Marke aufzulösen. Damit kann ein zentrales Differenzierungskriterium – alle Versor-
gungsdienstleistungen aus einer Hand bieten zu können – gegenüber Wettbewerbern gefördert
werden. Das bedeutete für die WVV, die Zusammenführung der bisher zwölf verschiedenen
Einzelmarken der Tochtergesellschaften in der Außenwirkung zu einem gemeinsamen Mar-
kenauftritt. Zukünftig sollte ausschließlich die Marke WVV in der Kommunikation mit dem
Kunden in Erscheinung treten. Damit wird insbesondere die Integration aller Leistungsmerk-
male des Konzerns unter der neuen Marke erreicht. Die bisher einseitige Wahrnehmung der
Bereiche Energieversorgung und Nahverkehr kann aufgebrochen werden. Im Mittelpunkt der
Marke WVV stehen nun die drei Geschäftsfelder Energie, Verkehr und Umwelt. Über diese
Bereiche gelingt es in besonderer Weise, die Produkte und Services des Konzerns auf die
188 Cornelia Zanger, Kerstin Klaus, Tina Kießling, Norbert Menke

Marke zu fokussieren und das umfassende Leistungsspektrum als inhaltliche und optische
Einheit am Markt zu etablieren. Dem Kunden kann damit einfach, klar und direkt vermittelt
werden, dass alle Versorgungsleistungen, die zu einer hohen Lebensqualität in der Region
Würzburg beitragen, aus einer Hand – von der WVV, einem kommunal agierenden Konzern –
kommen.

Abb. 3: Beispiel WVV Imagekampagne

Bei der Umsetzung der definierten Ebenen des Kommunikationskonzeptes sollten insbeson-
dere emotional aktivierende Elemente im Vordergrund stehen. Gerade emotionale Positionie-
rungsstrategien berücksichtigen die abnehmende Bedeutung von funktional sachlichen
Merkmalen und richten sich konsequent an den emotionalen Bedürfnissen von Kunden aus.
Damit können die Produkt- und Serviceleistungen der Marke WVV eine Attraktivitätssteige-
rung erfahren – der emotionale Zusatznutzen kann damit zu einem ganz wesentlichen Pro-
duktbestandteil werden und eine Differenzierung zu vergleichbaren Versorgungsdienstleis-
tungen ermöglichen. Über eine emotionale Positionierung wird dabei zugleich angestrebt,
eine Leistungsbeurteilung vor allem auf dieser (emotionalen) Ebene zu erreichen. Ziel ist es,
die Kognitionen (Bewertung des Angebotes) der Konsumenten über deren Emotionen anzu-
sprechen. Für das Kommunikationskonzept der WVV sollten solche emotionalen Elemente
genutzt werden, die es erlauben, die Produkte der Marke mit der hohen Lebensqualität in der
Region Würzburg zu verknüpfen. Dabei wird zugleich angestrebt, dass die Kunden mit allen
Produkten das verbinden, wofür die WVV in Würzburg stehen möchte: Zuverlässigkeit und
Engagement für die Region. Die neue Marke soll dieses Ziel unterstützen. Mit einer breit
angelegten Kommunikationskampagne soll die Marke WVV in der Region fest verankert
werden. Die besondere regionale Identität des Unternehmens wird dabei dadurch vermittelt,
Markenkommunikation bei Energieversorgern 189

dass gerade Mitarbeiter der WVV die Botschaft nach außen tragen. Dieser Anspruch kommt
verstärkend durch einen in diesem Rahmen neu entwickelten Slogan „Wir machen das für
Sie!“ zum Ausdruck. Dies zeigt, wie stark die Mitarbeiter mit der Marke und der Region
verbunden sind, unterstützt aber auch eine emotionale, auf Zuverlässigkeit, Vertrauen und
persönlichen Kundenbeziehungen basierende Positionierung. Zugleich wird mit der Kampag-
ne das Ziel verfolgt, alle Leistungsbereiche der neuen Dachmarke zu verankern. Abb. 3 stellt
einen Auszug aus der Positionierungskampagne der WVV dar.

3.5 Erfolgsmessung
Zur Messung des Erfolgs der in 2007 implementierten Positionierungskampagne der WVV
wurde im weiteren Forschungsprozess erneut eine breit angelegte quantitative Untersuchung
durchgeführt. Mittelpunkt der Studie war die Überprüfung der Ausprägungen der Imagedi-
mensionen nach der Kampagne sowie die Auswirkung der Kampagne auf die Loyalität und
Verbundenheit der Nachfrager gegenüber der WVV. Die Untersuchung erfolgte im März
2008 über eine Bevölkerungsbefragung im Versorgungsgebiet der WVV. Insgesamt wurden
548 Personen telefonisch befragt. Die Abfrage der Imagedimensionen erfolgte wiederum mit
Hilfe einer vierstufigen Ratingskala (von 1 = „stimme voll und ganz zu“ bis 4 = „lehne voll
und ganz ab“). Auch die Variablen zur Messung der Stimmung gegenüber bzw. der Verbun-
denheit mit dem Unternehmen wurden zur Erfolgsmessung in den Fragebogen integriert
(vierstufige Ratingskala).

1
(= stimme voll
und ganz zu)
*

*
2

* *

4
Leistungsspektrum
Unternehmen

Unternehmen
zuverlässig

undurchsichtige

Kundennähe
leistungsfähig

(= lehne voll
sympatisch
Würzburger

innovativ
umweltfreundlich
aus einer Hand
umfangreiches

Strukturen

solides

und ganz ab)

2006 2008 * signifikant zum 0.05 Niveau

Abb. 4: Ausprägung der Imagedimensionen im Vergleich vor und nach der Kampagne (Mittelwerte)

Abb. 4 zeigt die Veränderung der Bewertung der Imageitems im Vergleich der Zeitpunkte vor
der Kampagne und nach der Positionierungskampagne. Vor allem in den Dimensionen „um-
fangreiches Leistungsangebot aus einer Hand“, „undurchsichtige Strukturen“ und „Regionali-
tät“ konnte eine signifikante Verbesserung realisiert werden (T-Test unabhängiger Stichpro-
190 Cornelia Zanger, Kerstin Klaus, Tina Kießling, Norbert Menke

ben). Diese drei Imagedimensionen umfassten den Schwerpunkt der Kampagne und scheinen
so in den Köpfen der Nachfrager auch wahrgenommen zu werden. Die anderen Imageitems
erfuhren weitestgehend keine signifikanten Veränderungen.
Auch hinsichtlich der Einstellung der Nachfrager gegenüber der WVV konnte eine Verände-
rung festgestellt werden. Sowohl die positiven Gefühle bzw. Stimmung gegenüber der WVV
als auch die Verbundenheit mit der WVV fallen nach der Kampagne höher aus als noch vor
der Kampagne (vgl. Abb. 5). Da kein experimentelles Untersuchungsdesign mit Kontroll-
gruppe für die Erfolgsmessung gewählt wurde, kann diese Verbesserung auch auf dem Ein-
fluss anderer Umweltfaktoren basieren. Allerdings ist anzunehmen, dass eine Aufklärung über
die Leistungen und die Struktur der WVV bei den Konsumenten durchaus positive Reaktio-
nen hervorruft. Auch die Betonung der Regionalität der WVV und ihr Stellenwert als Arbeit-
geber und Wirtschaftsfaktor der Region kann ebenso eine Erhöhung der Verbundenheit mit
dem Unternehmen bewirkt haben.

1
(= st imme voll
Vor der Kampagne
und ganz zu)
Nach der Kampagne

4
(= lehne voll Positive Gefühle/Stimmung gegenüber der Verbundenheit gegenüber der WVV *
und ganz ab)
WVV *
* signifikant zum 0.05 Niveau

Abb. 5: Mittelwerte für die Variablen Verbundenheit und positive Gefühle


gegenüber der WVV im Vergleich vor und nach der Kampagne

Zusammenfassend ist anzumerken, dass im Sinne einer langfristigen Markenetablierung die


im Laufe des Forschungsprozesses abgeleiteten, zentralen Imagedimensionen auch in zukünf-
tigen Kommunikationsmaßnahmen der WVV eine dominierende Rolle einnehmen sollten. Da
sich die erste Positionierungskampagne vornehmlich auf das Thema Regionalität und die
Vermittlung des „alles-aus-einer-Hand“-Gedankens fokussierte, kann in folgenden Aktivitä-
ten stärker der Zuverlässigkeits- und Kompetenzgedanke berücksichtigt werden. Darüber
hinaus können mittel- bis langfristig schrittweise weitere zentrale Imagedimensionen, wie
z. B. die Umweltorientierung der WVV, in den Außenauftritt integriert werden.

4 Fazit
Vor dem Hintergrund des liberalisierten Strommarktes sowie aktueller Fragen der Energiepo-
litik sind markenpolitische Entscheidungen auch für Versorgungsunternehmen zu einem
wichtigen Erfolgsfaktor der Kundenbindung geworden. Eine klare Markenstrategie mit einer
Markenkommunikation bei Energieversorgern 191

stärkeren, emotionalen Positionierung kann dabei eine Möglichkeit sein, die Wahrnehmung
der Konsumenten im Sinne der Marke zu beeinflussen. Am Fallbeispiel der WVV konnte
gezeigt werden, wie mit Hilfe einer klaren Markenstrategie das Bild eines Unternehmens
geschärft und die Einstellung gegenüber dem Unternehmen positiv beeinflusst werden kann.
Im weiteren Verlauf der Markenführung bleibt es Aufgabe der WVV, die wesentlichen
Imagebestandteile wie Regionalität, Emotionalität und Leistung weiter zu betonen sowie
zukünftig relevante Positionierungsaspekte wie Umweltfreundlichkeit schon frühzeitig in
weitere Kommunikationsmaßnahmen einzubinden.

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Wechselverhalten von Stromkunden

Kerstin Pezoldt, Katja Gelbrich, Alexander Wesselmann

1 Wechselparadoxon auf dem Strommarkt


Nach der Marktliberalisierung 1998 war es Stromkunden in Deutschland erstmals möglich,
ihren Anbieter frei zu wählen. Diese Situation wurde sowohl von neuen als auch von etablier-
ten Stromversorgern genutzt, Kunden von Konkurrenten abzuwerben und langfristig an sich
zu binden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Kunden ihre alte Versorgungsbezie-
hung unterbrechen und eine neue eingehen. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht daher der
Versorgerwechsel als erste Phase des Kundenbindungsprozesses. Er bildet die Voraussetzung
zur Bindung von Stromkunden an einen alternativen Anbieter.
Stromkunden zum Wechsel zu bewegen ist schwer. Denn die Anbieter unterscheiden sich in
ihrer Kernleistung praktisch nicht: Strom ist ein durch technische Homogenität genormtes
Endprodukt. Da er weder sichtbar noch ertastbar ist, fehlen ihm wichtige Beurteilungs- und
Begutachtungsmerkmale. Auch die Herkunft des Stroms (regenerative Stromerzeugung ge-
genüber fossilen Brennstoffen und Atomstrom) hat für den Kunden als Differenzierungs-
merkmal nur eine beschränkte Aussagekraft [Kuhlmann 2000, S. 39]. Da er leitungsgebunden
übertragen wird, können sich die Anbieter nicht über spezifische Distributionswege oder
besondere Logistikleistungen hervorheben [Laker 2000, S. 69]. Strom ist daher ein weitge-
hend anonymes Produkt. Den Abnehmern stiftet er nur einen abgeleiteten Nutzen: Sie können
mit ihm elektrische Geräte betreiben [Schikarski 2005, S. 8].
Doch Strom bietet nicht nur wenig Differenzierungspotenzial, sondern die lange Zeit beste-
hende monopolitische Marktstruktur hat auch die Grundhaltung der Verbraucher zur Strom-
versorgung geprägt. Sie erwarten, dass Strom überall und jederzeit verfügbar ist [Bakay 2003,
S. 7]. Infolgedessen gilt Strom als Low-Interest-Produkt. Da er zudem nicht in Einzeltransak-
tionen vermarktet wird, sondern die Stromversorgung eine Beziehung darstellt, haben es
alternative Anbieter schwer, bestehende Geschäftsbeziehungen aufzulösen. Wechselhemmend
wirkt sich außerdem aus, dass herkömmliche Stromversorger ihre Kunden zuverlässig mit
Strom versorgen [Keller/Matzke 2001, S. 47]. Gleichzeitig haben die Kunden wenig Wech-
selerfahrung und wissen nicht viel über die neuen Anbieter. Ein Anbieterwechsel ist daher mit
Unsicherheit behaftet.
Um neue Stromkunden zu gewinnen, argumentierten Stromanbieter anfänglich mit niedrigen
Preisen. Den Impuls zum Preiswettbewerb gab Energie Baden-Württemberg mit der Marke
YelloStrom („gelb, gut, günstig“). Weil diese Niedrigpreisstrategie nur bedingt Erfolg hatte,
begannen die Anbieter, ihre Marken zu emotionalisieren. Dabei kreierten sie oft auch neue
Marken, wie beispielsweise E.ON (Ergebnis der Fusion der Preussenelektra/Veba und Bay-
ernwerk/Viag) oder veränderten ihren Markenauftritt mithilfe bekannter Comicfiguren oder
194 Kerstin Pezoldt, Katja Gelbrich, Alexander Wesselmann

Testimonials, welche die Vorzüge der Marke priesen. Aber obwohl diese Marken bald hohe
Bekanntheitswerte erreichten, stiegen die Wechselquoten nicht [Schikarski 2005, S. 11 ff.].
Daher konzentrieren sich viele Energieversorger darauf, Wechselbarrieren mithilfe von Wer-
bung anzusprechen und abzubauen. So startete YelloStrom Ende 2005 eine Kampagne, in der
die vermutete Trägheit und die Ängste der Kunden in Bezug auf einen Anbieterwechsel in der
Figur des „Inneren Schweinehundes“ personifiziert wurden. E.ON führte beispielsweise 2007
den Vertriebskanal „E wie Einfach“ ein und versprach damit, dass der Versorgerwechsel ein
„Kinderspiel“ ist.
Dennoch blieben noch viele Stromkunden in ihrer alten Geschäftsbeziehung. Weder niedrige
Preise noch emotionale Werbestrategien konnten sie dazu bewegen, den ehemaligen Monopo-
listen den Rücken zu kehren: Bis zum Jahr 2005 hatte die Wechselrate der Stromkunden die
Fünf-Prozent-Hürde nicht überschritten [Lang 2006, S. 60]. Das zögerliche Wechselverhalten
ist erstaunlich, denn verschiedene Studien belegen, dass die Kunden grundsätzlich eine hohe
Wechselbereitschaft haben [Meyer/Dornach 2000, S. 135].
Dieses Paradoxon müssen die neuen Stromanbieter verstehen, wenn sie eine kritische Masse
an Neukunden gewinnen möchten. Warum nutzen noch immer nicht alle privaten Stromkun-
den die Möglichkeit, den Stromanbieter zu wechseln, obwohl sie dadurch oft Geld sparen
können? Und wie können sie die grundsätzlich Wechselbereiten zum Handeln bewegen?
Dieser Beitrag soll beide Fragen beantworten. Hierfür wird in Kap. 2 die Wechselentschei-
dung als besondere Form der Kaufentscheidung dargestellt. Es wird gezeigt, dass Stromkun-
den ihre Nutzenerwartung mit dem wahrgenommenen Nutzen eines alternativen Anbieters
vergleichen. Es werden die wesentlichen Nutzenkriterien für diese Abgleiche herausgearbei-
tet. Kap. 3 spezifiziert, welche Abgleiche eher zu positiven und welche eher zu negativen
Ergebnissen führen und warum Kunden nach Durchführung der Abgleiche oft in ihrer alten
Versorgerbeziehung bleiben. Hierfür wird mithilfe der Prospect-Theorie erklärt, wie die
Kunden ihre Nutzenerwartungen bilden und sodann als Basis für die Abgleiche heranziehen.
Es wird auch gezeigt, wie es zu wahrgenommenen Gewinnen (positives Ergebnis) oder Ver-
lusten (negatives Ergebnis) kommen kann. Kap. 4 gibt Handlungsempfehlungen für Stroman-
bieter, die bestehende Versorgungsbeziehungen aufbrechen, neue Kunden akquirieren und an
sich binden möchten. Kap. 5 fasst die Erkenntnisse des Beitrags zusammen.

2 Wechselentscheidung im Strommarkt
2.1 Entscheidungsfindung von Stromkunden
Nach den neobehavioristischen Modellen des Konsumentenverhaltens stellt eine Kaufent-
scheidung die Reaktion eines Individuums auf bestimmte Reize dar. Konkret lässt sich dies
anhand eines Dreiphasenmodells nach P. W. Meyer erklären [Meyer 1973, S. 101 ff.]. Da es
den möglichen Kaufverzicht als Entscheidungsergebnis einbezieht, eignet es sich besonders
gut, die Entscheidungssituation im Strommarkt abzubilden. Das Modell besteht aus drei Pha-
sen. Die Anbahnungsphase ist dem Kaufprozess vorgelagert und beschreibt das Zustande-
kommen eines Kaufprozesses. Dabei werden sowohl der Anbieter als auch der Nachfrager als
mögliche Auslöser einer Kommunikation identifiziert. Die Kaufprozessphase beschreibt jene
kognitiven Prozesse, die einer Produktauswahl vorangehen. Die Abschlussphase zeigt Aktivi-
Wechselverhalten von Stromkunden 195

täten, die sich an die Kaufentscheidung anschließen. Im Strommarkt zählen dazu der Ver-
tragsabschluss und der Austausch der Leistungen.
Abb. 1 spezifiziert die Kaufprozessphase, welche als die eigentliche Kaufentscheidung das
Kernstück des Modells darstellt. In dieser Phase finden verschiedene Abgleiche statt, bei
denen jeweils die Nutzenerwartung (geforderte Bedürfnisbefriedigung) mit einem wahrge-
nommenen Nutzen in Beziehung gesetzt wird [Tostmann 1982, S. 50]. Allerdings sind im
Strommarkt nicht alle dieser Abgleiche relevant (vgl. Kap. 2.2). Jeder Abgleich führt zu einer
Teilentscheidung. Fällt die Mehrheit der Teilentscheidungen positiv aus, kommt es zum Kauf;
wenn negative Teilentscheidungen überwiegen, verzichtet der Kunde auf den Kauf und sucht
ggf. nach Substitutionsmöglichkeiten.

Art des Abgleich der Nutzenerwartung mit … Beurteilung Ergebnis


Abgleichs
(allgemein) (Strommarkt)

… dem … dem
Nutzenversprechen Nutzenversprechen
Nicht
programmiert
… dem Preis … dem Preis
Kauf

… der Menge
Teil-
+ –
programmiert
… den Konditionen … den Konditionen
Kaufverzicht
… der … den Substitution
Beschaffungsmühe Wechselkosten
Voll-
programmiert
… der
Nutzungsmühe

obligatorisch
ausgewählt

Abb. 1: Vereinfachte Kaufprozessphase als Kernstück des Dreiphasenmodells


[auf Basis von Kloubert 2001, S. 125, ergänzt]

Die Entscheidungsprozesse verlaufen nicht in jedem Falle gleich. Vielmehr unterscheiden sie
sich in der Auswahl und Intensität der Abgleiche. Dem trägt das Modell in Form verschiede-
ner Programmierungsstufen der Entscheidung Rechnung. Ein nichtprogrammierter Entschei-
dungsablauf findet bei allen erstmaligen Kaufentscheidungen bei unbekannten Anbietern und
bei erklärungsbedürftigen Produkten statt. Der Kunde durchläuft alle Abgleiche und steuert
seine Entscheidung vollständig kognitiv [Meyer 1973, S. 101 ff.]. Dieser Ablauf ist mit einer
extensiven Kaufentscheidung vergleichbar, die sich durch eine starke kognitive Kontrolle
auszeichnet [Kroeber-Riel/Weinberg 2003, S. 369 f.].
Ein vollprogrammierter Entscheidungsablauf findet statt, wenn der Konsument unmittelbar
auf einen Stimulus reagiert, ohne Abgleiche zu durchlaufen. Dies ist bspw. bei sich wiederho-
lenden Kaufentscheidungen der Fall. Dann treten Lern- und Gewöhnungseffekte ein und der
196 Kerstin Pezoldt, Katja Gelbrich, Alexander Wesselmann

Konsument verzichtet auf Abgleiche [Kloubert 2001, S. 127]. Vollprogrammierte Entschei-


dungen laufen schnell ab, und der kognitive Entscheidungsaufwand ist vergleichsweise gering
[Kroeber-Riel/Weinberg 2003, S. 225].
Teilprogrammierte Entscheidungsabläufe finden bei nicht erklärungsbedürftigen Produkten
statt, deren Erwerb bzw. Nutzung aber problematisch ist. Dabei kann jede einzelne Entschei-
dungsphase programmiert oder nicht programmiert sein.
Bei Anwendung des Modells auf eine bestehende Versorgungsbeziehung wird deutlich, dass
der loyale Stromkunde kaum noch Abgleiche tätigt, d. h. er entscheidet sich vollprogrammiert
immer wieder für seinen Stromversorger. Die Stromversorgungsbeziehung stellt eine habitua-
lisierte Kaufentscheidung dar, deren Ursprung im jahrzehntelangen Monopol auf dem
Strommarkt und im mangelnden Interesse aufgrund reibungsloser Pflichtversorgung liegt. Das
Bedürfnis nach Stromversorgung wird vom bestehenden Versorger praktisch immer erfüllt.
Da jeder Haushalt seinen Strom immer nur von einem Anbieter beziehen kann, bedeutet eine
Entscheidung über den Strombezug immer entweder den Verbleib beim aktuellen Versorger
oder den Abbruch der Beziehung und den Abschluss eines neuen Vertrages. Eine teil- oder
nichtprogrammierte Entscheidung und die damit einhergehenden Abgleiche können allenfalls
hervorgerufen werden, wenn der Kunde neben dem Bedürfnis nach Strom (welches bereits
vom bisherigen Anbieter befriedigt wird) weitere Bedürfnisse hat, die sich in Form von Nut-
zenerwartungen (bspw. Zuverlässigkeit der Versorgung, regionale Nähe, ökologischer Strom,
niedriger Preis) ausdrücken. Eine Entscheidung, bei der diese zusätzlichen Nutzenerwartun-
gen angesprochen werden, kann zu einem Wechsel führen.

2.2 Abgleiche in der Kaufprozessphase


In der Kaufprozessphase werden normalerweise die in Abb. 1 dargestellten sechs Abgleiche
durchlaufen. Bei Kaufentscheidungen im Strommarkt sind nicht alle gleichermaßen relevant.
Nicht entscheidend ist der Abgleich der Nutzenerwartung mit der Menge, weil diese vom
Kunden bestimmt wird. Auch bezieht der Stromkunde in der Regel die Nutzungsmühe nicht
in seine Abgleiche ein, weil diese für das Produkt Strom marginal ist. Es verbleiben vier
Abgleiche, nämlich der der Nutzenerwartung mit dem Nutzenversprechen, dem Preis, den
Konditionen und der Beschaffungsmühe. Diese werden im Folgenden näher beschrieben.
Generell bildet, wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt, die Nutzenerwartung der Kun-
den den Ausgangspunkt für sämtliche Abgleiche. Die Nutzenerwartung an die Beziehung zu
einem Stromversorger liegt in erster Linie im Verlangen nach Sicherheit, da Elektrizität exi-
stenzielle Grundbedürfnisse deckt [Schikarski 2005, S. 88 f.]. Nachfrager erwarten, dass ihr
Anbieter sie zuverlässig mit elektrischer Energie versorgt. Die Zuverlässigkeit der Versor-
gung wird somit als zentraler Nutzen einer Versorgungsbeziehung angesehen. Strom(-bezug)
soll jedoch auch die Bedürfnisse nach Lebensqualität und Convenience erfüllen. Der Kunde
möchte sich dadurch anwendungsbezogen und kognitiv entlastet fühlen. Anwendungsbezoge-
ne Entlastung tritt dadurch ein, dass Strom die Lebensqualität erhöht (z. B. Wäsche waschen
mit der Maschine statt mit der Hand). Kognitive Entlastung entsteht, wenn der Kunde nach
Vertragsabschluss regelmäßig und problemlos mit Strom versorgt wird, ohne dass er sich
weiter mit diesem Thema beschäftigen muss [Schikarski 2005, S. 87 f.].
Wechselverhalten von Stromkunden 197

Die genannten Nutzenerwartungen werden nun im ersten Abgleich mit dem Nutzenverspre-
chen des Anbieters verglichen. Anwendungsbezogene Entlastung als Nutzenversprechen
eignet sich kaum als Differenzierungsmerkmal, da praktisch alle Anbieter ihre Kunden glei-
chermaßen zuverlässig mit Strom versorgen und so ihre Lebensqualität erhöhen. Kognitive
Entlastung besitzt Differenzierungspotenzial, da sie von den Interaktionen zwischen Kunden
und Anbieter abhängt.
Der zweite Abgleich umfasst den Preis bzw. Tarif, der mit dem Vertragsabschluss verknüpft
ist. Er stellt eines der wenigen quantitativen Merkmale für die Beurteilung einer Stromversor-
gungsbeziehung dar. Ein günstiger Tarif ist nach wie vor das wichtigste Kaufkriterium [Schi-
karski 2005, S. 23]. Er ist der dominierende Grund für eine Wechselentscheidung [Zinnbau-
er/Bakay 2004, S. 503].
Im Mittelpunkt des dritten Abgleichs stehen Konditionen. Relevante Konditionen auf dem
Strommarkt sind z. B. Kündigungsfristen, Vertragslaufzeiten, Zahlungsmodalitäten, Garantien
und andere Serviceleistungen. Dieser Abgleich lässt sich inhaltlich nur schwer von demjeni-
gen zwischen Nutzenerwartung und Nutzenversprechen trennen. So können unterschiedliche
Vereinbarungen über Zahlungsmodalitäten zu unterschiedlich empfundenen Belastungen des
Kunden führen und somit den Nutzen aus der Versorgungsbeziehung schmälern. Serviceleis-
tungen oder Garantien könnten diesen Nutzen erhöhen. Für einen wechselbereiten Anbieter
kann die Ausgestaltung dieser Konditionen also mit Nutzenversprechen verbunden sein.
Während es beim Abgleich von Nutzenerwartung mit dem Nutzenversprechen jedoch um die
Kernleistung (= Lieferung von Strom) geht, bezieht sich der Konditionsabgleich auf mögliche
Zusatzleistungen. Nutzendimensionen, die mit solchen Zusatzleistungen angesprochen wer-
den können, sind in erster Linie Versorgungsgarantien und Ausgleichszahlungen bei einem
Stromausfall sowie die kognitive Entlastung durch einfachere Abrechnungsverfahren.
Die Beschaffungsmühe ist Inhalt des vierten Abgleichs. Sie umfasst alle Aktivitäten, die
notwendig sind, um in den Besitz eines bestimmten Marktobjektes zu kommen. Beim Wech-
sel des Stromversorgers zählen dazu nach Kloubert [2001, S. 134 ff.] Anfahrtszeiten, die je
nach Vertriebskanal (z. B. Filial-, Internet- oder Telefonvertrieb) variieren können (Wechsel-
kosten), administrative Vorgänge bei Auflösung und Abschluss der Verträge (Wechselkos-
ten), Such- und Informationsmühen durch die Wechselentscheidung (Such- und Informati-
onskosten) sowie psychischer Aufwand, der aus der Verarbeitung der Informationen – also
dem Vergleich verschiedener Anbieter – entsteht (wahrgenommenes Risiko).
Beschaffungsmühe kann dem Konstrukt der Wechselkosten gleichgesetzt werden. Eindeutig
sind die Anfahrtszeit und die administrativen Vorgänge beim Wechsel diesen Kosten zuzu-
rechnen. Auch die Such- und Informationsmühe ist mit den Such- und Informationskosten
deckungsgleich. Untersuchungen zeigen, dass der erwartete Aufwand eines Wechsels in der
Wahrnehmung der Kunden das größte Wechselhemmnis darstellt [Schwaiger/Zinnbauer
2004, S. 503]. Die Bezeichnung des Abgleichs soll daher in „Abgleich von Nutzenerwartun-
gen mit Wechselkosten“ umgewandelt werden (vgl. Abb. 1).
198 Kerstin Pezoldt, Katja Gelbrich, Alexander Wesselmann

3 Erklärung der Abgleiche mithilfe der Prospect-Theorie


Die Ursache für das geringe Wechselaufkommen ist darin zu sehen, dass die Summe der vier
beschriebenen Abgleiche nicht positiv ist und somit eine Entscheidung über den Anbieter-
wechsel nicht eintritt. Um zu erklären, wie Menschen ihre Nutzenerwartungen und den wahr-
genommenen Nutzen miteinander vergleichen, eignet sich die Prospect-Theorie. Mit ihrer
Hilfe lässt sich zeigen, wie Menschen Nutzenerwartungen bilden und sodann als Basis für
ihre Abgleiche verwenden, deren Ergebnisse jeweils positiv (Gewinn) oder negativ (Verlust)
sein können. Weiterhin wird gezeigt, dass der Abgleich zwischen der Nutzenerwartung und
dem Nutzenversprechen aufgrund von Unsicherheiten häufig negativ ausfällt.

3.1 Bildung der Nutzenerwartung und Entstehung von Gewinnen und Verlusten
Zur Erklärung der Bildung von Nutzenerwartungen von Stromkunden kann die Prospect-
Theorie [Kahneman/Tversky 1979] genutzt werden (vgl. Abb. 2). Demnach vergleicht der
Kunde den Nutzen, den ihm alternative Anbieter stiften würden, mit einem Referenzpunkt.
Der Referenzpunkt ist im vorliegenden Fall der Nutzen, den die bisherige Stromversorgungs-
beziehung bietet. Er stellt den Vergleichsstandard dar, an dem sich die alternativen Anbieter
messen müssen. Negative Abweichungen werden als Verluste (losses) und positive Abwei-
chungen als Gewinne (gains) kodiert.
Generell neigen alle Menschen dazu, drohende Verluste stärker zu gewichten als mögliche
Gewinne in gleicher Höhe, weshalb nach Aussage der Prospect-Theorie die Kurve auf der
Verlustseite steiler verläuft als auf der Gewinnseite. In einer Stromversorgungsbeziehung ist
das Bedürfnis nach Sicherheit besonders stark ausgeprägt. Die Vermeidung einer mangelnden
Grundversorgung steht für viele Nachfrager im Vordergrund, da sie einem existenziellen
Defizitzustand entspricht [Schikarski 2005, S. 100]. Die Verlust-Aversion unter Stromkunden
ist daher besonders stark.

Bewertung der Gewinne und Verluste

Verlust Gewinn

Abb. 2: Wertfunktion mit Verlust-Aversion [nach Chernev 2004, S. 558]

Da das Produktinvolvement für Strom gering ist [Bakay 2003, S. 57; Schwaiger/Zinnbauer
2003, S. 275], werden mögliche Gewinne und Verluste aus dem Wechsel der Beziehung
vermutlich eher aus einem direkten Vergleich mit dem aktuellen Stand der Nutzenerfüllung
Wechselverhalten von Stromkunden 199

(dem Status quo) gewonnen als aus einem Vergleich mit darüber hinaus gehenden Nutzener-
wartungen, wie z. B. Energieberatung und weitere Serviceleistungen. Die Wechselentschei-
dung als Summe aller positiv verlaufenen Abgleiche stellt daher eine Entscheidung über eine
Abkehr vom Status quo dar, und die Nutzenerwartungen, die an alternative Anbieter formu-
liert werden, stimmen mit dem Nutzen überein, der vom aktuellen Anbieter geboten wird. Da
die aktuelle Beziehung zum Referenzpunkt der Bewertung wird, werden potenzielle Verluste
eines Wechsels höher eingeschätzt als potenzielle Gewinne, was zu einer Neigung führt, den
Status quo beizubehalten, d. h. nicht zu wechseln [Chernev 2004, S. 557]. Dieses Phänomen
wird als Status quo bias bezeichnet.
Die aus der aktuellen Beziehung generierte Nutzenerwartung wird nun im Rahmen der Ab-
gleiche mit dem Nutzenversprechen, dem Preis, den Konditionen und den Wechselkosten
verglichen. Dabei ist der Abgleich mit dem Preis meistens der wichtigste, denn preiswertere
Angebote von Wettbewerbern lösen oft die Entscheidung über einen Anbieterwechsel aus.
Wenn ein Anbieter dem möglichen Wechselkandidaten einen Preisvorteil gegenüber seiner
aktuellen Beziehung in Aussicht stellt, dann nimmt der Konsument diesen als Gewinn wahr
und bewertet ihn auf der Wertfunktion positiv. Im Rahmen der anderen Abgleiche (Nutzen-
versprechen, Konditionen, Wechselkosten) kann es jedoch zur Wahrnehmung von Verlusten
kommen, die er aufgrund der Verlust-Aversion höher bewertet als den Gewinn aus dem Preis-
abgleich. Verluste sind insbesondere beim Abgleich der Nutzenerwartung mit dem Nutzen-
versprechen zu erwarten, da dieses mit erheblichen Unsicherheiten einhergeht, während sich
Konditionen und Wechselkosten relativ einfach beurteilen lassen. Kap. 3.2 widmet sich daher
dem Nutzenversprechen, den damit verbunden Risiken sowie den daraus resultierenden wahr-
genommenen Verlusten, die oft zu einem negativen Ergebnis dieses Abgleichs führen.

3.2 Unsicherheiten und Verluste beim Abgleich „Nutzenversprechen“


Die noch immer relativ geringe Erfahrung mit einem Wechsel und mit anderen Anbietern
lassen die Bewertung der Nutzenversprechen alternativer Anbieter zu einer wichtigen Quelle
von Unsicherheit werden, was zu empfundenen Nutzendefiziten führt [Schikarski 2005,
S. 105; Zinnbauer/Bakay 2004, S. 503]. Diese Unsicherheit hat ihre Ursache in den Informa-
tionsdefiziten der Verbraucher. Denn einige Nutzenversprechen alternativer Stromversor-
gungsangebote, die sich aus der Zuverlässigkeit und der kognitiven Entlastung ergeben, stel-
len Erfahrungseigenschaften im Sinne der Informationsökonomik dar: Sie lassen sich erst
durch Inanspruchnahme der Leistung beurteilen [Akerlof 1970].
Die damit einhergehende Unsicherheit kann als eine Ausprägung des wahrgenommenen
Risikos des Wechsels angesehen werden. Dieses Risiko wird empfunden, wenn Abweichun-
gen zwischen dem Vergleichsstandard (in diesem Fall also der aktuellen Beziehung) und den
antizipierten Folgen des Wechsels auftreten [Kroeber-Riel/Weinberg 2003, S. 251]. Tab. 1
illustriert, dass die verschiedenen Erfahrungseigenschaften des Stroms mit bestimmten wahr-
genommenen Risiken einhergehen, die sich wiederum den beiden identifizierten Nutzenver-
sprechen (Zuverlässigkeit der Versorgung, kognitive Entlastung) zuordnen lassen. Dabei
treten Probleme bei der Umstellung zweimal auf: Zum einen als Probleme bei der Rechnungs-
legung und zum anderen als das Risiko, nach einem Wechsel möglicherweise mit einer strom-
losen Übergangszeit rechnen zu müssen.
200 Kerstin Pezoldt, Katja Gelbrich, Alexander Wesselmann

Neben den Eigenschaften, die dem Produkt Strom direkt zuzuordnen sind, lassen sich auch
die Eigenschaften eines Wechsels in das Schema einordnen. So können der direkte Aufwand
des Wechsels, der oft als komplex und intransparent angesehen wird, genau wie die Such- und
Informationskosten dem Wunsch nach kognitiver Entlastung zugeordnet werden, da beide den
Kunden dazu zwingen, sich aktiv mit dem Strombezug auseinander zu setzen.
Sogar der Preis könnte, obwohl er traditionell nicht als Erfahrungseigenschaft von Strom gilt,
als solche angesehen werden, denn im Juli 2007 fiel die Bundestarifordnung für Elektrizität
weg und damit auch die Preiskontrolle durch die Bundesnetzagentur. Infolgedessen haben
viele Stromversorger ihre Grundversorgungstarife angehoben. Kunden, die zu einem neuen
Anbieter wechseln möchten, empfinden daher das Risiko, dass der Preisvorteil nicht von
Dauer sein könnte, was das Nutzenversprechen „Zuverlässigkeit der Versorgung“ mindert.

Nutzenversprechen Wahrgenommenes Risiko Erfahrungseigenschaften des


(Verlust) Stroms
[Zinnbauer/Bakay 2004, S. 504] [Schikarski 2005, S. 112]
Zuverlässigkeit der Mangelnde Versorgungs- Lieferstabilität
Versorgung sicherheit
Störungsbeseitigung
Spannungsschwankungen
Kognitive Entlastung Mangelnder Service Serviceumfang
Probleme bei der Umstellung Rechnungslegung beim Wechsel
Probleme bei der Abrechnung Rechnungsübersichtlichkeit

Tab. 1: Zusammenhang zwischen Erfahrungseigenschaften des Stroms,


wahrgenommenem Risiko und Nutzenversprechen

Zusammenfassend sind die Nutzenversprechen des Anbieters aus Sicht des Kunden mit un-
kalkulierbaren Risiken verbunden, sodass der Abgleich zwischen Nutzenerwartung und Nut-
zenversprechen mit einer Verlustwahrnehmung endet. Dies kann dazu führen, dass ein Nach-
frager, obwohl er einen Preisvorteil wahrnimmt, den Anbieter nicht wechselt. Dies geschieht
immer dann, wenn er diese Verluste – und das dadurch geminderte Nutzenversprechen einer
zuverlässigen Versorgung und einer kognitiven Entlastung – höher bewertet als den Gewinn
aus dem Preisvorteil. Somit entsteht ein Trade-off zwischen Preis und Zuverlässigkeit sowie
zwischen Preis und kognitiver Entlastung.
Solche Trade-offs nehmen Menschen als unangenehm wahr. Auch führen sie generell dazu,
dass Menschen aufmerksamer für die Verluste werden, die sich aus der Entscheidung ergeben
können [Bettman et al. 1998, S. 197]. Hinzu kommt, dass gemäß der Verlust-Aversion Nut-
zenverluste stärker wahrgenommen werden als mögliche Gewinne. Infolgedessen sind die
Konflikte, die durch die Entscheidung ausgelöst werden, durch einen Preisvorteil schwieriger
zu kompensieren. Ist der Preisvorteil im Vergleich mit den wahrgenommen Verlusten hoch
genug, sind die Konflikte gering und der Kunde wechselt den Anbieter. Sind die Konflikte
jedoch stärker ausgeprägt, kann sich ein Stromkunde von der Entscheidung für die betrachtete
Alternative distanzieren. Wenn er bei seinem derzeitigen Versorger bleibt, so weicht er dem
Konflikt aus. Er kann den Konflikt auch verdrängen, indem er die Bedeutung des Preisvorteils
Wechselverhalten von Stromkunden 201

abwertet und die Entscheidung abbricht. Zusammenfassend verhindern die beschriebenen


Trade-offs zwischen Preis und Zuverlässigkeit sowie zwischen Preis und kognitiver Entlas-
tung einen Anbieterwechsel.

4 Handlungsempfehlungen für neue Stromanbieter


Um neue Kunden zu gewinnen, müssen Stromanbieter das wahrgenommene Risiko einer
Wechselentscheidung reduzieren. Dafür können sie einerseits den wahrgenommenen Preis-
vorteil erhöhen und andererseits die Verluste bezüglich der zwei zentralen Nutzenversprechen
(Versorgungszuverlässigkeit, kognitive Entlastung) vermindern. Das Phänomen der Verlust-
Aversion legt es jedoch nahe, dass eine Reduktion der Verluste die effektivere Methode zur
Vermeidung der Trade-offs der Wechselentscheidung ist. Notwendige Voraussetzung für die
Entstehung einer Wechselabsicht und somit einer Wechselentscheidung bleibt jedoch ein
wahrnehmbarer Gewinn, i. d. R. ein Preisvorteil aus dem Wechsel. Tab. 2 stellt mögliche
Maßnahmen dar, mit denen sich verschiedene Risiken abbauen und daraus resultierende
Verluste mindern lassen.

Nutzendimension Ausgewählte Risiken (Verluste) Mögliche Maßnahmen zur


Reduzierung
Zuverlässigkeit der Mangelnde Versorgungs- Reputation
Versorgung sicherheit
Aufklärung über Versorgungspflicht,
Stromausfallversicherung
Versorgungsausfall in der Über- Aufklärung über Versorgungspflicht,
gangszeit Stromausfallversicherung
Preisvorteil nicht von Dauer Preisgarantien
Kognitive Entlastung Direkter Aufwand des Wechsels Übernahme des Wechselprozesses
Such- und Informationskosten Ergebnisse von Anbietertests,
Freundschaftswerbung
Mangelnder Service Reputation

Tab. 2: Maßnahmen zur Reduzierung der Verlustkomponenten von Trade-offs

Das Risiko der mangelnden Zuverlässigkeit der Stromversorgung kann der Anbieter mindern,
indem er eine positive Unternehmensreputation aufbaut und dem Kunden seine Leistungsfä-
higkeit signalisiert. Reputation lässt sich vor allem durch regionales Engagement und Sponso-
ring erzeugen [Ebert/Schwaiger 2006, S. 53].
Der Umstand, dass der gesetzlichen Versorgungspflicht zum Trotz die mangelnde Versor-
gungssicherheit eine tragende Rolle bei der Wechselentscheidung spielt, lässt vermuten, dass
diese Regelung den meisten Bürgern nicht bekannt ist. Eine Aufklärung über diese Regelung
könnte helfen, einen großen Teil der bestehenden Unsicherheiten abzubauen. Vor dem Hin-
tergrund der jüngsten Preiserhöhungen scheint außerdem eine Preisgarantie, wie sie bereits
von einigen Versorgern angeboten wird, als probates Mittel zur Kommunikation der Zuver-
lässigkeit.
202 Kerstin Pezoldt, Katja Gelbrich, Alexander Wesselmann

Denkbar sind auch Versorgungsgarantien, wie z. B. Stromausfallversicherungen oder die


Gewährung von Preisnachlässen nach einem Stromausfall. Solche vertraglichen Regelungen
könnten, im Vorfeld einer Wechselentscheidung kommuniziert, großen Einfluss auf das Risi-
koempfinden ausüben. Maßnahmen, die auf die Entlastung der Stromkunden abzielen, sind
bspw. das Angebot von Multi-Utility-Verträgen (der gleichzeitige Bezug verschiedener Pro-
dukte wie Strom, Gas und Wasser) oder Beratungsangebote zu Einsparpotenzialen im Ener-
gieverbrauch.
Den kognitiven Aufwand des Wechsels können alternative Stromanbieter vor allem durch
ausgezeichneten Service, problemlose Wechselabwicklung und zusätzliche Informations- und
Beratungsangebote minimieren.

5 Fazit
Da der deutsche Strommarkt weder in punkto Verbrauch noch im Hinblick auf die Anzahl der
Kunden signifikant wächst, rücken seit der Liberalisierung die profitablen Kunden etablierter
Stromanbieter in den Fokus der Marketingbemühungen neuer bzw. expansionswilliger Unter-
nehmen. Die Versorgung mit Strom, die in der Vergangenheit aufgrund der Gebietsmonopole
nur durch einen Anbieter möglich war, ist auch heute nur aus der Hand eines Anbieters zu den
mit ihm vertraglich eingegangenen Konditionen möglich. Eine neue Stromversorgungsbezie-
hung kann nur durch einen Anbieterwechsel mittels Kündigung eingegangen werden.
Das zurückhaltende Wechselverhalten privater Stromnachfrager ist zum einen auf die Beson-
derheiten des Gutes Strom und zum anderen auf die speziellen Eigenschaften des Strommark-
tes zurückzuführen. Die Analyse des Kaufprozesses hat gezeigt, dass eine Wechselentschei-
dung ein langwieriger Abgleichsprozess ist, bei dem Kunden ihre Nutzenerwartungen dem
wahrgenommenen Nutzen aus einem Anbieterwechsel gegenüberstellen.
Mithilfe der Prospect-Theorie konnte gezeigt werden, wie Nutzenerwartungen an alternative
Stromanbieter gebildet und mit der derzeitigen Versorgungsbeziehung verglichen werden.
Dabei kommt es zu Trade-offs. Einerseits wird der von alternativen Anbietern als Wechselar-
gument verwendete niedrige Preis als Gewinn wahrgenommen (positiver Abgleich). Anderer-
seits sind die Nutzenversprechen der alternativen Anbieter (Zuverlässigkeit, kognitive Entlas-
tung) mit Unsicherheit behaftet, sodass ein Verlust empfunden wird (negativer Abgleich).
Aufgrund der Verlust-Aversion werden die Verluste jedoch zumeist als höher wahrgenommen
als der Preisgewinn, sodass es nicht zu einem Wechsel kommt. Stromkunden gehen den „Weg
des geringsten Widerstandes“ und bleiben in ihrer alten Stromversorgungsbeziehung. Anbie-
ter können dieses Wechselparadoxon allenfalls durchbrechen, indem sie die Unsicherheit der
Verbraucher bezüglich der beiden zentralen Nutzenversprechen, Zuverlässigkeit der Versor-
gung und kognitive Entlastung, durch die genannten Maßnahmen mindern.
Wechselverhalten von Stromkunden 203

Literatur
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In: Quarterly Journal of Economics, 3 (84) 1970, S. 488-500.
Bakay, Z.: Kundenbindung von Haushaltsstromkunden – Ermittlung zentraler Determinanten.
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mittelständischen EVUs – Ergebnisse einer innovativen Studie der WVV. In: Zeitschrift
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Tostmann, T. M.: Konsument und Kaufentscheidung – Untersuchung zur praktischen Brauch-
barkeit von Kaufprozessmodellen. Bielefeld 1982.
204 Kerstin Pezoldt, Katja Gelbrich, Alexander Wesselmann

Zinnbauer, M./Bakay, Z.: Entwicklung von Wechseltreibern und -barrieren auf dem Privat-
kunden-Strommarkt. In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 8 (54) 2004, S. 501- 504.
Autorenverzeichnis

Bayraktar, Osman
Dipl.-Inf.-Wiss. Osman Bayraktar ist Vice President im Bereich Operations bei der Swiss
Reinsurance Company. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte umfassen Qualitäts-,
Change-, Projekt-, Vertriebs- und Customer Relationship Management.
Kontakt: osman@bayraktar.ch

Büttgen, Marion
Prof. Dr. Marion Büttgen ist Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbeson-
dere Unternehmensführung, an der Universität Hohenheim. Sie promovierte und habilitierte
sich an der Universität zu Köln und hatte im Anschluss eine Professur für Dienstleistungsma-
nagement an der Hochschule der Medien, Stuttgart. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kun-
denintegration und Kundenmanagement, Dienstleistungsmanagement, Web 2.0-Anwen-
dungen sowie Corporate Social Responsibility.
Kontakt: buettgen@uni-hohenheim.de

Corsten, Hans
Prof. Dr. Hans Corsten ist Inhaber des Lehrstuhls für Produktionswirtschaft an der Universität
Kaiserslautern. Seine Forschungsschwerpunkte sind Dienstleistungsproduktion, Produktions-
theorie sowie Produktionsplanung und -steuerung.
Kontakt: corsten@wiwi.uni-kl.de

Dresch, Kai-Michael
Dipl.-Kfm. Kai-Michael Dresch studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mann-
heim und ist seit 2003 Mitarbeiter am Lehrstuhl für Produktionswirtschaft an der Universität
Kaiserslautern. Seine Forschungsinteressen sind Dienstleistungsmanagement, Dienstleis-
tungsstrategien und Modularisierung von Dienstleistungen.
Kontakt: dresch@wiwi.uni-kl.de

Gelbrich, Katja
Prof. Dr. Katja Gelbrich leitet das Fachgebiet Marketing der Technischen Universität Ilme-
nau. Zuvor war sie Doktorandin bei der Daimler AG, Geschäftsführerin der MfM GmbH und
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Marketing der TU Dresden. Sie promovierte
und habilitierte sich an der Universität Stuttgart. Ihre Forschungsgebiete sind Emotionen in
Kauf- und Dienstleistungsprozessen, Beschwerdemanagement, Akzeptanz von Innovationen
und Technologien und interkulturelles Marketing.
Kontakt: mar-ww@tu-ilmenau.de
206 Autorenverzeichnis

Gössinger, Ralf
Prof. Dr. Ralf Gössinger ist Inhaber des Lehrstuhls für Produktion und Logistik an der Tech-
nischen Universität Dortmund. Er wurde an der Universität Kaiserslautern promoviert und
habilitierte sich an der Technischen Universität Kaiserslautern. Seine Forschungsschwerpunk-
te sind: Supply Chain Management, Management von Produktions- und Logistiknetzwerken,
Materiallogistik, Produktionsplanung und -steuerung, Dienstleistungsmanagement.
Kontakt: ralf.goessinger@udo.edu

Hoffmann, Stefan
Dr. Stefan Hoffmann ist Post-Doc am Lehrstuhl für Marketing der Technischen Universität
Dresden. Er studierte in Mannheim Diplom-Psychologie und promovierte in Dresden. Seine
Forschungsschwerpunkte sind Konsumenteninnovativität und politisch motiviertes Konsu-
mentenverhalten.
Kontakt: stefan.hoffmann@tu-dresden.de

Jöckel, Sven
Dr. Sven Jöckel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Journalistik und Kommuni-
kationsforschung der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Er hat an der Techni-
schen Universität Ilmenau im Fach Kommunikationswissenschaft promoviert. Seine For-
schungsschwerpunkte sind Nutzung und Ökonomie von digitalen Spielen, Kinder- und Ju-
gendmedien sowie neue Formen von Online-Kommunikation.
Kontakt: sven.joeckel@ijk.hmt-hannover.de

Kießling, Tina
Dipl.-Vw. Tina Kießling ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lehrstuhls für Marketing und
Handelsbetriebslehre an der TU Chemnitz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kundenbezie-
hungsmanagement, Konsumentenverhaltensforschung, Markenpositionierung/Markenstrate-
gien.
Kontakt: tina.kiessling@wirtschaft.tu-chemnitz.de

Klaus, Kerstin
Dr. Kerstin Klaus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lehrstuhls für Marketing und Han-
delsbetriebslehre an der TU Chemnitz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Dienstleistungs-
marketing, Erlebnismarketing und Markenpositionierung/Markenstrategien.
Kontakt: kerstin.klaus@wirtschaft.tu-chemnitz.de

Krey, Antje
Prof. Dr. Antje Krey ist Juniorprofessorin für Funktionalcontrolling am Institut für Betriebs-
wirtschaftslehre der Universität Rostock. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind kundenindi-
viduelle Massenfertigung, Handels- und Dienstleistungscontrolling sowie Controlling in
KMU.
Kontakt: antje.krey@uni-rostock.de
Autorenverzeichnis 207

Lehner, Florian
Dipl.-Kfm. Florian Lehner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Produktion und
Logistik an der Technischen Universität Dortmund. Seine Forschungsschwerpunkte sind:
Projektmanagement, Produktionsanlaufmanagement, Kundenintegration.
Kontakt: florian.lehner@tu-dortmund.de

Menke, Norbert
Prof. Dr. Norbert Menke ist Geschäftsführer und Vorstandsmitglied der Würzburger Versor-
gungs- und Verkehrs-GmbH. Er studierte und promovierte an der Universität Paderborn und
ist Honorarprofessor für Elektroenergiewirtschaft an der Fakultät für Elektrotechnik und
Informationstechnik der TU Chemnitz.
Kontakt: norbert.menke@wvv.de

Meuser, Ulrike
Dipl.-Kffr. Ulrike Meuser arbeitet als Human Resources Administrator in der Warner Bros.
Entertainment GmbH, Hamburg. Sie absolvierte ihr Studium an der Universität Rostock.
Kontakt: UlrikeMeuser@web.de

Möslein, Kathrin
Prof. Dr. Kathrin Möslein ist Inhaberin des Lehrstuhls für Informationssysteme mit den
Schwerpunkten Innovation & Value Creation an der Friedrich-Alexander-Universität Erlan-
gen-Nürnberg. Ihre derzeitigen Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Innovation,
Kooperation und Führungssysteme.
Kontakt: kathrin.moeslein@wiso.uni-erlangen.de

Niemand, Thomas
Dipl.-Kfm. Thomas Niemand ist Doktorand am Lehrstuhl für Marketing der Technischen
Universität Dresden. Er studierte Betriebswirtschaftslehre in Dresden. Zurzeit betreut er ein
Projekt zur marktorientierten Umsetzung eines Fertigungsprozesses von HGTT-Bauteilen im
Rahmen des Programms ForMaT. Seine Forschungsschwerpunkte sind Online-Marketing und
Innovationsforschung.
Kontakt: thomas.niemand@tu-dresden.de

Nissen, Volker
Prof. Dr. Volker Nissen ist Fachgebietsleiter Wirtschaftsinformatik für Dienstleistungen an
der TU Ilmenau. Zuvor war er sieben Jahre in verschiedenen Funktionen der IT-orientierten
Unternehmensberatung tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind IT-gestütztes Service Life-
cycle Management, Geschäftsprozess- und Wissensmanagement, Consulting Research sowie
betriebswirtschaftliche Anwendungen des Soft Computing.
Kontakt: volker.nissen@tu-ilmenau.de
208 Autorenverzeichnis

Ott, Gritt
Dipl.-Ing. Gritt Ott ist Koordinatorin des CIMTT Zentrums für Produktionstechnik und Orga-
nisation der Technischen Universität Dresden. Sie studierte in Dresden Arbeitsgestaltung. Ihre
Forschungsschwerpunkte sind Technologietransfer, Arbeitsorganisation, Netzwerkmanage-
ment und Qualitätsmanagement.
Kontakt: gritt.ott@tu-dresden.de

Pezoldt, Kerstin
PD Dr. Kerstin Pezoldt ist Akademische Rätin am Fachgebiet Marketing der TU Ilmenau. Sie
habilitierte sich zum Thema Internationales Marketing im Osten Europas. Ihre Arbeits- und
Forschungsgebiete sind Internationales Marketingmanagement, Marketing von Medienunter-
nehmen sowie Betriebswirtschaftslehre für kleine und mittlere Unternehmen.
Kontakt: kerstin.pezoldt@tu-ilmenau.de

Piller, Frank
Prof. Dr. Frank Piller ist Inhaber des Lehrstuhls für Technologie- und Innovationsmanage-
ment an der RWTH Aachen. Er habilitierte sich an der Universität Würzburg zum Thema
Mass Customization und an der TU München im Themenfeld Open Innovation. Seine For-
schungsinteressen liegen im Bereich Technologie- und Innovationsmanagement und kunden-
zentrierter Wertschöpfungsstrategien.
Kontakt: piller@tim.rwth-aachen.de

Rausch, Peter
Prof. Dr. Peter Rausch ist Professor für Wirtschaftsinformatik an der Ohm-Hochschule in
Nürnberg. Nach seiner Promotion an der Universität in Frankfurt a. M. war er mehrere Jahre
im Bereich der Softwareentwicklung, der Prozessgestaltung und in der Beratung tätig. U. a.
war er bei einem auf die Versicherungswirtschaft spezialisierten Software- und Beratungshaus
für das Fachgebiet Systemintegration/Systemanbindung verantwortlich. Zu seinen aktuellen
Forschungsschwerpunkten gehören Prozessgestaltung, Projektmanagement, Wissensmanage-
ment und ERP-Systeme.
Kontakt: peter.rausch@ohm-hochschule.de

Reichwald, Ralf
Prof. Dr. Prof. h. c. Dr. h. c. Ralf Reichwald ist Leiter des Institute for Information, Organiza-
tion and Management an der TU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. empiri-
sche Grundlagenforschung, anwendungsorientierte Technikentwicklung und –implementie-
rung in Organisationen von Wirtschaft und Verwaltung sowie die Anwendung neuer Informa-
tions- und Kommunikationstechniken. Prof. Reichwald ist Gutachter und Berater in
zahlreichen Gremien und Fachausschüssen auf Bundes-, Landes- und Verbandsebene.
Kontakt: reichwald@ws.tum.de
Autorenverzeichnis 209

Richter, Magnus
Dipl.-Kfm. Magnus Richter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für Produkti-
onswirtschaft/Industriebetriebslehre der TU Ilmenau. Er studierte BWL an der RWTH Aa-
chen mit den Schwerpunkten Technologie- und Innovationsmanagement und Produktions-
technik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen aktivitätsanalytische Produktionsmodel-
le für Dienstleistungen.
Kontakt: magnus.richter@tu-ilmenau.de

Schentler, Peter
Dr. Peter Schentler ist Post-Doc am Strascheg Institute for Innovation and Entrepreneurship
an der European Business School (EBS) in Oestrich-Winkel. Er studierte Wirtschaftsingeni-
eurwesen in Kapfenberg/Österreich und promovierte an der Universität Rostock. Seine For-
schungsschwerpunkte sind Controlling und Innovationsmanagement, insbesondere Budgetie-
rung und Innovationscontrolling.
Kontakt: peter.schentler@ebs.edu

Schröder, Annika
Dipl.-Kffr. Annika Schröder studierte BWL mit den Schwerpunkten Marketing und Innovati-
onsmanagement an der Universität Hamburg, der TU Berlin und an der Wirtschaftsuniversität
Wien. Im Anschluss an ihr Studium nahm sie eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin
im Projektfeld „User Driven Innovation“ der Deutschen Telekom Laboratories (An-Institut
der Technischen Universität) an und verfolgt derzeit ihre Promotion in diesem Bereich. Ihre
Forschungsschwerpunkte sind Kundenintegration, Kundencharakteristika, Kundenauswahl
und Methoden der Kundenintegration in den Neuproduktentwicklungsprozess.
Kontakt: annika.schroeder@telekom.de

Schwarzer, Florian
Florian Schwarzer studiert Angewandte Medien- und Kommunikationswissenschaft an der
TU Ilmenau und ist Manager einer Games Master Class am Fraunhofer Institut für Digitale
Medientechnologie IDMT. Seine Forschungsschwerpunkte sind Struktur der digitalen Spiel-
industrie sowie die Rezeption interaktiver Medien.
Kontakt: florian.schwarzer@tu-ilmenau.de

Souren, Rainer
Prof. Dr. Rainer Souren ist Fachgebietsleiter für Produktionswirtschaft/Industriebetriebslehre
der TU Ilmenau. Er promovierte und habilitierte sich an der RWTH Aachen. Seine For-
schungsschwerpunkte sind Kundenindividuelle Variantenfertigung, Dienstleistungsprodukti-
on, Nachhaltigkeitsmanagement und Produktionstheorie.
Kontakt: rainer.souren@tu-ilmenau.de
210 Autorenverzeichnis

Steinhoff, Fee
Dr. Fee Steinhoff ist Leiterin des Projektfeldes „User Driven Innovation“ bei den Deutschen
Telekom Laboratories (An-Institut der Technischen Universität Berlin). Im Anschluss an ihr
Studium (Betriebswirtschaftslehre und Master of Business & Engineering) promovierte sie
am Lehrstuhl Marketing von Prof. Dr. Volker Trommsdorff zum Thema Kundenorientierung
bei hochgradigen Innovationen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kundenorientierung,
Kundenintegration, Radikale Innovationen sowie Neue Methoden des Innovationsmanage-
ment.
Kontakt: fee.steinhoff@telekom.de

Walcher, Dominik
Prof. Dr. Dominik Walcher ist Fachbereichsleiter für Marketing und Innovationsmanagement
im Studiengang Design und Produktmanagement an der FH Salzburg. Prof. Walcher promo-
vierte an der TU München im Bereich Integration von Kunden in den Innovationsprozess.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Open Innovation, Mass Customizati-
on sowie Brand Management.
Kontakt: dominik.walcher@fh-salzburg.ac.at

Wesselmann, Alexander
Dipl.-Kfm. Alexander Wesselmann studierte Medienwirtschaft an der wirtschaftswissen-
schaftlichen Fakultät der TU Ilmenau und diplomierte mit einer Arbeit zum Thema „Konsu-
mentenverhalten auf dem Privatkundenmarkt für Strom“.
Kontakt: alexander.wesselmann@gmail.com

Westerheide, Jens
Prof. Dr. Jens Westerheide ist Professor für Marketing und Vertrieb an der Hochschule Co-
burg. Er promovierte an der Universität Bremen und war einige Jahre in der Konsumgüterin-
dustrie als Vertriebs- und Marketingmanager tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ver-
triebssteuerung, E-Commerce, Handelsmanagement und Geomarketing.
Kontakt: westerheide@hs-coburg.de

Will, Andreas
Prof. Dr. Andreas Will ist Fachgebietsleiter für Medienmanagement der TU Ilmenau. Er
promovierte und habilitierte sich an der Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunk-
te sind Analyse von Medien- und Netzmärkten, Geschäftsmodelle für Medieninnovationen
sowie Kommunikationsmanagement.
Kontakt: andreas.will@tu-ilmenau.de

Zanger, Cornelia
Prof. Dr. Cornelia Zanger ist Inhaberin des Lehrstuhls für Marketing und Handelsbetriebsleh-
re sowie Prorektorin für Marketing und Internationale Beziehungen an der TU Chemnitz. Sie
promovierte und habilitierte sich an der TU Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind
Innovative Kommunikationstrategien (z. B. Event Marketing, Ambush Marketing), Konsu-
mentenverhaltensforschung sowie Relationship Marketing.
Kontakt: c.zanger@wirtschaft.tu-chemnitz.de

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