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Die kürzeste Geschichte Europas John

Hirst
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John Hirst nimmt das Fernglas zur Hand und Europa ins Visier. Er bringt
Fakten und Ereignisse in unerwartete Zusammenhänge und bietet einen
einzigartigen Überblick über die europäische Kulturgeschichte. Mit Humor
und Sachverstand erzählt er vom Ende des römischen Schmierentheaters
durch die Germanen, die unbeabsichtigt das Weströmische Reich
übernehmen, oder wie 1066 die Normannen England erobern und ihnen
damit bis heute als Letzte ein Einfall in das Inselland gelingt. Spannende,
überraschende und witzige Einblicke in die Entwicklung der europäischen
Kultur!

John Hirst (1942 – 2016), war einer der bekanntesten Historiker Australiens.
Er unterrichtete an der La Trobe University und war maßgeblich an der
Erneuerung des Geschichtsverständnisses an australischen Schulen beteiligt.
EINFÜHRUNG

Wenn Sie gern ans Ende eines Buches springen, um zu sehen, was passiert,
wird Ihnen dieses Buch gefallen. Das Ende der Geschichten beginnt bald
nach ihrem Anfang. Das Buch erzählt die Geschichte Europas sechsmal,
jeweils aus einem anderen Blickwinkel.
Es handelt sich hier ursprünglich um Vorlesungen, die australische
Studenten in die europäische Geschichte einführen sollten. Ich habe nicht am
Anfang begonnen und bin bis zum Ende fortgeschritten. Ich habe den
Studenten vielmehr rasch einen Überblick gegeben, um anschließend näher
auf Einzelheiten einzugehen.
Die beiden ersten Vorlesungen umreißen die gesamte europäische
Geschichte. Das ist wirklich die kürzeste Geschichte. Die sechs folgenden
Vorlesungen nehmen sich ein bestimmtes Thema vor. Durch den Rückgriff
auf einzelne Punkte und eine genauere Betrachtung soll das Verständnis
vertieft werden.
Eine Geschichte hat einen Handlungsablauf: einen Anfang, eine Mitte und
ein Ende. Eine Zivilisation hat in diesem Sinne keine Geschichte. Wir stehen
im Bann des gewöhnlichen Aufbaus einer Geschichte, wenn wir glauben,
eine Zivilisation müsse dem Muster von Aufstieg und Fall gehorchen; gewiss
ist nur, dass sie ein Ende haben wird. Mein Ziel ist, die Grundelemente der
europäischen Zivilisation zu erfassen und ihre Umgestaltung im Lauf der Zeit
zu betrachten, zu zeigen, wie neue Dinge ihre Form von Altem übernehmen,
wie das Alte sich behauptet und wiederkehrt.
Geschichtsbücher handeln von vielen Ereignissen und Menschen. Das ist
eine der Stärken von Geschichte, und es bringt uns nah an das Leben heran.
Aber was bedeutet das Ganze? Welche Dinge sind wirklich wichtig? Das sind
die Fragen, die ich ständig im Sinn habe. Viele Menschen und Ereignisse, die
in anderen Geschichtsbüchern vorkommen, bleiben hier unberührt.
Die ausführlicheren Vorlesungen im zweiten Teil des Buches enden um
das Jahr 1800. Hier wird also eine ganze Menge Geschichte ausgelassen!
Gelegentlich habe ich einen Blick in die Zukunft geworfen, aber wenn meine
Methode funktioniert, werden Sie die Welt, in der wir heute leben, erkennen,
denn ihre Grundzüge wurden vor langer Zeit festgelegt.
Nach dem Ende des Altertums befasst sich das Buch hauptsächlich mit
Westeuropa. Für die Entstehung der europäischen Zivilisation sind nicht alle
Teile Europas gleichermaßen bedeutsam. Die Renaissance in Italien, die
Reformation in Deutschland, die parlamentarische Regierungsform in
England und die revolutionäre Demokratie in Frankreich sind von größerer
Bedeutung als die Teilungen Polens.
Ich habe mich in hohem Maße auf die Arbeit der historischen Soziologen
gestützt, insbesondere Michael Mann und Patricia Crone. Professor Crone ist
keine Spezialistin für europäische Geschichte; ihr Fachgebiet ist der Islam.
Doch in einem kleinen Buch mit dem Titel Pre-Industrial Societies hat sie
sich in einem Kapitel mit dem »Sonderfall Europa« befasst. Es ist eine Tour
de Force, eine Gesamtgeschichte auf dreißig Seiten, fast so kurz wie meine
kürzeste Geschichte. Ihr entnahm ich das Konzept der Herausbildung und
Veränderung der europäischen Mischung, wie es in meinen beiden ersten
Vorlesungen dargelegt wird. Ich bin Professor Crone zu größtem Dank
verpflichtet.
An der La Trobe University in Melbourne hatte ich das Glück, Professor
Eric Jones als Kollegen zu haben, der sich sehr dafür ausgesprochen hat, das
große Ganze der Geschichte in den Blick zu nehmen; auf sein Buch Das
Wunder Europa habe ich mich stark gestützt.
Ich erhebe für das Buch keinen Anspruch auf Originalität, wohl aber auf
seine Methode. Ich habe diese Vorlesungen erstmals Studenten in Australien
vorgetragen, die allzu viel australische Geschichte gehabt hatten und kaum
etwas über die Zivilisation wussten, von der sie ein Teil sind.

John Hirst
KAPITEL 1
Europas Altertum und Mittelalter
ie europäische Zivilisation ist ohnegleichen, denn sie ist die einzige, die
D sich dem Rest der Welt aufgezwungen hat. Das gelang ihr durch
Eroberung und Besiedlung, durch ihre wirtschaftliche Macht, die Macht ihrer
Ideen – und weil sie Dinge hatte, die alle anderen haben wollten. Heute
benutzt jedes Land der Erde die Entdeckungen der Wissenschaft und die
daraus entwickelten Technologien, und die Wissenschaft war eine
europäische Erfindung.
Die europäische Zivilisation bildete sich zu Beginn aus drei Elementen
heraus:
1. der Kultur des antiken Griechenlands und Roms;
2. dem Christentum, das ein eigentümlicher Ableger der Religion der
Juden, des Judaismus, ist;
3. der Kultur der germanischen Krieger, die in das Römische Reich
eindrangen.
Die europäische Zivilisation war eine Mischung, und wie wichtig das ist,
wird im Folgenden deutlich werden.

Gleichgültig, welchen geistigen Bereich wir nehmen – sei es unsere


Philosophie, Kunst, Literatur, Mathematik, Wissen-schaft, Medizin oder
unsere Politikauffassung –, bei der Suche nach seinen Ursprüngen landen wir
im alten Griechenland.
Alte griechische Städte und Kolonien. Die griechische Zivilisation blühte in Handels- und
Landwirtschaftskolonien rings um das Mittelmeer und das Schwarze Meer.

In seiner Glanzzeit war Griechenland kein einheitlicher Staat, sondern


bestand aus einer Reihe von kleinen Staaten, Stadtstaaten, wie wir heute
sagen. Um eine Stadt erstreckte sich ein Gebiet bewohntes Land, aber jeder
konnte zu Fuß innerhalb eines Tages in die Stadt gelangen. Die Griechen
wollten einem Staat angehören, so wie wir einem Verein angehören: Es war
eine freiwillige Mitgliedschaft. In diesen kleinen Stadtstaaten entstanden die
ersten Demokratien. Es waren keine repräsentativen Demokratien; man
wählte keine Abgeordneten. Alle männlichen Bürger versammelten sich an
einem Ort, um über öffentliche Angelegenheiten zu reden und über die
Gesetze und die Politik abzustimmen.
Die Ausdehnung des Römischen Reiches um das 2. Jahrhundert n. Chr.

Als die Bevölkerung der griechischen Stadtstaaten zunahm, wurden


Menschen in andere Teile des Mittelmeers entsandt, um dort Kolonien zu
gründen. Es gab griechische Siedlungen im Gebiet der heutigen Türkei, an
den Küsten Nordafrikas, ja sogar weit westwärts in Spanien, Südfrankreich
und Süditalien. Und dort, in Italien, geschah es, dass die Römer, die damals
ein sehr rückständiges Volk waren, ein kleiner Stadtstaat bestehend aus Rom
und Umgebung, erstmals den Griechen begegneten und begannen, von ihnen
zu lernen.
Mit der Zeit errichteten die Römer ein riesiges Imperium, das
Griechenland und sämtliche griechische Kolonien umfasste. Im Norden
bildeten zwei große Flüsse die Grenze, der Rhein und die Donau, die aber
gelegentlich überschritten wurden. Im Westen war der Atlantische Ozean die
Grenze. England gehörte zum Römischen Reich, nicht aber Schottland und
Irland. Im Süden waren die Wüsten Nordafrikas die Grenze. Im Osten war
der Grenzverlauf unsicher, weil es hier konkurrierende Imperien gab. Das
Imperium umschloss das Mittelmeer, aber das heutige Europa gehörte nur
teilweise dazu, während weite Teile dazugehörten, die nicht Europa sind: die
Türkei, der Nahe Osten und Nordafrika.
Die Römer waren im Kämpfen besser als die Griechen. Besser waren sie
auch auf dem Gebiet des Rechts, mit dessen Hilfe sie ihr Imperium regierten.
Sie waren besser als die Griechen in der Technik, die sowohl für das
Kämpfen als auch für das Aufrechterhalten eines Imperiums nützlich war.
Doch in allen anderen Dingen erkannten sie die Überlegenheit der Griechen
an, die sie sklavisch kopierten. Ein Angehöriger der römischen Elite sprach
sowohl Griechisch als auch Lateinisch, die Sprache der Römer; er schickte
seinen Sohn auf die Universität nach Athen oder er engagierte für die
Unterrichtung seiner Kinder daheim einen griechischen Sklaven. Wenn wir
davon sprechen, dass das Römische Reich griechisch-römisch war, dann
deshalb, weil die Römer es so wollten.
An der Geometrie lässt sich am schnellsten zeigen, wie klug die Griechen
waren. Die Geometrie, die in unseren Schulen unterrichtet wird, ist
griechisch. Viele werden sie schon vergessen haben, deshalb wollen wir mit
den Grundlagen beginnen. Denn die Geometrie funktioniert so, dass sie mit
einigen elementaren Definitionen beginnt und auf ihnen aufbaut. Der
Ausgangspunkt ist ein Punkt, den die Griechen so definierten, dass er einen
Ort, aber keine Ausdehnung hat. Natürlich besitzt er eine Ausdehnung,
nämlich die Breite des Punktes auf dem Blatt Papier, aber die Geometrie ist
eine Art Scheinwelt, eine reine Welt. Zweitens: Eine Linie hat eine Länge,
aber keine Breite. Zudem wird eine gerade Linie definiert als die kürzeste
Linie zwischen zwei Punkten. Aus diesen drei Definitionen kann man eine
Definition des Kreises ableiten: Er ist zunächst einmal eine Linie, die eine
geschlossene Figur bildet. Doch wie definiert man Rundheit? Wenn Sie es
sich recht überlegen, ist Rundheit sehr schwer zu definieren. Man definiert
sie in der Weise, dass man sagt, es gebe innerhalb dieser Figur einen Punkt,
einen einzigen, von dem aus gerade Linien, die bis zu der Figur gezogen
werden, immer die gleiche Länge haben.

Außer Kreisen gibt es parallele Linien, die sich ins Unendliche erstrecken,
ohne sich jemals zu schneiden, und Dreiecke in all ihren Variationen und
Quadrate und Rechtecke und andere regelmäßige Formen. Alle diese von
Linien gebildeten Objekte werden definiert, ihre Merkmale werden
aufgezeigt, und die Möglichkeiten, die sich aus ihrer Überschneidung und
Überlappung ergeben, werden untersucht. Alles wird anhand dessen
bewiesen, was schon zuvor erwiesen wurde. So kann man eine Eigenschaft
von parallelen Linien nutzen, um zu beweisen, dass die Summe der Winkel
eines Dreiecks 180 Grad beträgt (siehe Kasten unten).
Die Geometrie ist ein einfaches, elegantes, logisches System, sehr
befriedigend und schön. Schön? Die Griechen fanden sie schön, und dass sie
es taten, gibt uns einen Hinweis auf das griechische Denken. Die Griechen
betrieben Geometrie nicht nur als Übung, der Grund, weshalb wir sie in der
Schule durchnehmen, und sie betrieben sie auch nicht wegen ihres
praktischen Nutzens in der Vermessung oder der Navigation. Für sie war die
Geometrie ein Führer zu der fundamentalen Natur des Universums. Wenn wir
uns umschauen, beeindruckt uns die Vielfalt dessen, was wir sehen:
unterschiedliche Formen, unterschiedliche Farben. Etliche Dinge vollziehen
sich gleichzeitig – zufällig, chaotisch. Die Griechen glaubten, für all das gebe
es eine einfache Erklärung. Hinter all dieser Vielfalt müsse es etwas
Einfaches, Regelmäßiges, Logisches geben, das alles erklärt. So etwas wie
die Geometrie.

GEOMETRIE IN AKTION

Parallele Geraden treffen sich nicht. Dieses Merkmal können wir so


definieren, dass eine durch sie gezogene Gerade Wechselwinkel erzeugt,
die gleich sind. Wären sie nicht gleich, würden die Parallelen
zusammenkommen oder auseinandergehen – sie wären nicht parallel.
Zur Bezeichnung eines Winkels benutzen wir griechische Buchstaben –
und in der linken Zeichnung bezeichnet α zwei Winkel, die gleich sind.
Die Verwendung von Buchstaben des griechischen Alphabets für die
Benennung in der Geometrie erinnert uns an ihre Ursprünge. Hier
benutzen wir die ersten drei Buchstaben: alpha, beta und gamma.
Nach dieser Definition können wir die Summe der Winkel in einem
Dreieck bestimmen. Wir setzen das Dreieck ABC rechts zwischen zwei
Parallelen. Das Kunststück der Geometrie besteht schließlich darin,
bekannte Größen ins Spiel zu bringen, um unbekannte Größen zu
ermitteln. Der Winkel α bei Punkt A hat einen ihm gleichen Winkel bei
Punkt B, da sie Wechselwinkel an geschnittenen Parallelen sind. Auch
der Winkel γ bei C hat einen ihm gleichen Winkel bei Punkt B. An der
oberen Parallele bei B kommen jetzt drei Winkel zusammen: α + β + γ.
Zusammen bilden sie eine Gerade, und wir wissen, dass Geraden einen
Winkel von 180 Grad ergeben.

Es gilt also: α + β + γ = 180 Grad. Und wir haben anhand der


Parallelen gezeigt, dass die Summe der Innenwinkel des Dreiecks
ebenfalls α + β + γ ist. Die Summe der Innenwinkel eines Dreiecks
beträgt also 180 Grad.

Mit Parallelen haben wir etwas über Dreiecke bewiesen.

Die Griechen betrieben Wissenschaft nicht so wie wir, mit Hypothesen und
deren Überprüfung durch Experimente. Sie glaubten, man müsse nur
gründlich genug nachdenken, um die richtige Lösung zu erhalten. Deshalb
verfuhren sie nach einem System der inspirierten Vermutungen. Ein
griechischer Philosoph sagte, jegliche Materie bestehe aus Wasser; was zeigt,
wie verzweifelt sie nach einer einfachen Antwort suchten. Ein anderer
Philosoph sagte, jegliche Materie bestehe aus vier Dingen: Erde, Feuer, Luft
und Wasser. Ein anderer Philosoph sagte, jegliche Materie bestehe letztlich
aus winzigen Dingen, die er Atome nannte – und damit hatte er den
Hauptgewinn gezogen. Er stellte eine inspirierte Vermutung auf, auf die wir
im 20. Jahrhundert zurückkamen.
Als vor vierhundert Jahren, zweitausend Jahre nach den Griechen, die
Wissenschaft, wie wir sie kennen, begann, fing sie an mit dem Umsturz der
zentralen Lehren der griechischen Wissenschaft, die bis dahin maßgebend
geblieben waren. Aber sie folgte, als sie die Griechen stürzte, der Vermutung
der Griechen, dass die Lösungen einfach und logisch und mathematisch sein
würden. Newton, der große Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts, und
Einstein, der große Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, meinten
übereinstimmend, dass man einer korrekten Lösung nur dann näher kommt,
wenn die eigene Lösung einfach ist. Sie waren beide in der Lage, ihre
Antworten in mathematischen Gleichungen ausdrücken, die die
Zusammensetzung der Materie und ihre Bewegung beschrieben.
Die Griechen hatten sich mit ihren Vermutungen oft geirrt, sehr geirrt. Ihre
grundlegende Vermutung, dass die Lösungen einfach, mathematisch und
logisch sein würden, hätte auch falsch sein können, aber sie erwies sich als
richtig. Dies ist das größte Vermächtnis, das die europäische Zivilisation den
Griechen bis heute verdankt.
Können wir erklären, warum die Griechen so schlau waren? Wir können es
meines Erachtens nicht. Historiker sollen in der Lage sein, Dinge zu erklären,
aber wenn sie auf die großen Dinge stoßen, zum Beispiel die Frage, warum es
in diesen kleinen Stadtstaaten so logisch denkende, wendige und
scharfsinnige Geister gab, dann haben sie keine überzeugende Erklärung. Da
können Historiker genau wie alle anderen nur staunen.
Hier noch ein Wunder. Wir kommen zum zweiten Element in der
europäischen Mischung. Die Juden gelangten zu der Ansicht, dass es nur
einen Gott gibt. Das war eine sehr ungewöhnliche Ansicht. Die Griechen und
Römer waren der stärker verbreiteten Überzeugung, dass es viele Götter gibt.
Die Juden waren sogar der noch ausgefalleneren Ansicht, dass dieser eine
Gott sich besonders um sie kümmert, dass sie Gottes auserwähltes Volk sind.
Dafür mussten sich die Juden an Gottes Gesetz halten. Die Grundlage des
Gesetzes waren die Zehn Gebote, die den Juden von Moses gegeben wurden,
der sie aus der ägyptischen Gefangenschaft geführt hatte. Die Christen hielten
an den Zehn Geboten fest, die im Westen bis in die jüngste Zeit hinein die
zentrale moralische Lehre sind. Die Gebote waren den Menschen so vertraut,
dass man nur ihre Nummer zu erwähnen brauchte. So konnte man von
jemandem sagen, dass er niemals gegen das achte Gebot verstoßen würde,
aber gelegentlich brach er das siebte. Hier sind die Zehn Gebote, wie sie im
zweiten Buch der Bibel, Exodus, Kapitel 20, verzeichnet sind.
Dann gab Gott dem Volk seine Gebote. Er sagte:

»Ich bin der Herr, dein Gott! Ich habe dich aus Ägypten
herausgeführt, ich habe dich aus der Sklaverei befreit. Neben mir gibt es
für dich keine anderen Götter.

Fertige dir kein Gottesbild an. Mach dir auch kein Abbild von irgend
etwas im Himmel, auf der Erde oder im Meer.

Wirf dich nicht vor fremden Göttern nieder und diene ihnen nicht.
Denn ich, der Herr, dein Gott, verlange von dir ungeteilte Liebe. Wenn
sich jemand von mir abwendet, dann bestrafe ich dafür auch seine
Kinder, sogar noch seine Enkel und Urenkel. Wenn mich aber jemand
liebt und meine Gebote befolgt, dann werde ich ihm und seinen
Nachkommen Liebe und Treue erweisen über Tausende von
Generationen hin.

Missbrauche nicht den Namen des Herrn, deines Gottes; denn der
Herr wird jeden bestrafen, der das tut.

Vergiss nicht den Tag der Ruhe; er ist ein besonderer Tag, der dem
Herrn gehört. Sechs Tage in der Woche hast du Zeit, um deine Arbeit zu
tun. Der siebte Tag aber soll ein Ruhetag sein. An diesem Tag sollst du
nicht arbeiten, auch nicht deine Kinder, deine Sklaven, dein Vieh oder
der Fremde, der bei dir lebt. In sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde
und Meer mit allem, was lebt, geschaffen. Am siebten Tag aber ruhte er.
Deshalb hat er den siebten Tag der Woche gesegnet und zu seinem Tag
erklärt.

Ehre Vater und Mutter! Dann wirst du lange in dem Land leben, das
dir der Herr, dein Gott, gibt.

Morde nicht!

Zerstöre keine Ehe!

Beraube niemand seiner Freiheit und seines Eigentums!


Sage nichts Unwahres über deine Mitmenschen!

Suche nichts an dich zu bringen, was einem anderen gehört, weder


seine Frau noch seine Sklaven, Rinder oder Esel noch irgend etwas
anderes, das ihm gehört.«

Die Zehn Gebote waren nur der Anfang des Sittengesetzes. Die Juden hatten
ein sehr komplexes, detailliertes Gesetzessystem, das die Dinge regelte, die
vom Gesetz normalerweise geregelt werden – Verbrechen, Eigentum,
Erbschaften, Ehe –, darüber hinaus aber auch die Ernährung, die Reinlichkeit,
die Führung eines Haushalts und wie man Gott im Tempel Opfer darbringt.
Die Juden glaubten zwar, das auserwählte Volk zu sein, aber rosig erging
es ihnen nicht. Häufig wurden sie gedemütigt; sie wurden besiegt und in die
Verbannung geschickt; aber dennoch zweifelten sie nicht daran, dass Gott
existiert und sich um sie kümmert. Wenn sie ein Unglück traf, folgerten sie
daraus, dass sie das Gesetz nicht entsprechend befolgt und Gott beleidigt
hatten. In der Religion der Juden wie im Christentum waren Religion und
Moral also eng miteinander verknüpft, was nicht in allen Religionen der Fall
ist. Die Römer und Griechen hatten Götter, die unmoralisch handelten, die
Affären hatten und sich gegenseitig schikanierten. In der römischen Religion
straften die Götter, aber gewöhnlich nicht wegen eines moralischen
Verstoßes; ein Grund konnte sein, dass man nicht korrekt oder nicht oft
genug geopfert hatte.
Jesus, der Begründer des Christentums, war ein Jude, und seine ersten
Anhänger waren ebenso Juden. Als Jesus lehrte, waren die Juden nicht
Herren in ihrem eigenen Land; Palästina war eine entlegene Provinz des
Römischen Reiches. Etliche der Anhänger von Jesus erwarteten von ihm,
eine Revolte gegen Rom anzuführen. Seine Gegner versuchten, ihm eine
entsprechende Erklärung abzulisten. Sollen wir dem Kaiser Steuern zahlen,
fragten sie ihn. Gebt mir eine Münze, sagte er – wessen Bild ist darauf? Das
des Kaisers, erwiderten sie. Jesus sagte: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers
ist, und Gott, was Gott gehört!«
Jesus kannte das Gesetz und die Lehren der Juden ganz genau, und seine
eigene Lehre fußte darauf. Ein Teil seiner Lehre bestand darin, das Wesen
des Gesetzes zusammenzufassen. Eine seiner Zusammenfassungen lautete so:
Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele,
von ganzem Gemüte, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Unklar ist, ob Jesus damit sagte, du kannst die Vereinfachungen nehmen
und all die Details vergessen, oder ob er sagte, dass das Detail – über
Reinlichkeit, Opfer und den ganzen Rest – zwar wichtig, die
Zusammenfassung aber eine Anleitung für die wichtigsten Dinge ist. Unter
Gelehrten ist strittig, wie weit Jesus innerhalb des Judentums blieb oder ob er
aus dem Judentum ausbrach. Eines aber ist klar: Er erweiterte die alte
Morallehre in einer Weise, die sehr anspruchsvoll war und von der man
meinen kann, sie zu befolgen sei unmöglich. Man betrachte einmal, was er in
der Bergpredigt über die Feindesliebe sagte, nachzulesen im Matthäus-
Evangelium, Kapitel 5:

Ihr wisst, dass es heißt: »Liebe alle, die dir nahestehen, und hasse alle,
die dir als Feinde gegenüberstehen.« Ich aber sage euch: Liebt eure
Feinde und betet für die, die euch verfolgen. So erweist ihr euch als
Kinder eures Vaters im Himmel. Denn er lässt die Sonne scheinen auf
böse wie auf gute Menschen, und er lässt es regnen auf alle, ob sie ihn
ehren oder verachten. Wie könnt ihr von Gott eine Belohnung erwarten,
wenn ihr nur die liebt, die euch auch lieben? Sogar Betrüger lieben
ihresgleichen! Was ist denn schon Besonderes daran, wenn ihr nur zu
euren Brüdern freundlich seid? Das tun auch die, die Gott nicht kennen!
Nein, ihr sollt vollkommen sein, weil euer Vater im Himmel
vollkommen ist.

Hier verwandelte Jesus das jüdische Gesetz in ein System allumfassender


Liebe.
Jesus war nur einer von vielen Lehrern und Propheten zu jener Zeit. Sie
erregten den Argwohn der Anführer des jüdischen Glaubens, und im Falle
Jesu arbeiteten die Führer der Juden mit den Römern zusammen, um Jesus
hinrichten zu lassen. Doch von diesen anderen Lehrern unterschied sich
Jesus, denn nach seinem Tod wurde er wieder lebendig – das glaubten
jedenfalls seine Jünger. Er war also nicht nur ein Lehrer, ein Prophet oder ein
guter Mensch, was vermutlich viele Kirchgänger heute denken. Seine Jünger
glaubten, er sei Gottes Sohn und mit seiner Kreuzigung sei etwas von
kosmischer Bedeutung geschehen. Gott hatte sich selbst geopfert, um die
Menschheit von der Verdammnis zu erlösen, eine Folge der Erbsünde des
Menschen, die das Böse in die Welt gebracht hat. Wer an Christus glaubte,
konnte sich selbst erlösen und würde nach dem Tode nicht zum Höllenfeuer
verdammt, sondern für immer bei Gott im Himmel sein.
War diese Religion nur für die Juden gedacht, oder war sie für jedermann
bestimmt? In dieser Frage waren die Anhänger Jesu nach seinem Tod
geteilter Meinung. Die Traditionalisten sagten, man könne nur Christ werden,
wenn man zuvor Jude geworden sei und entsprechend all die strengen Regeln
befolge, die für die Juden im Alten Testament festgelegt waren. Das hätte
auch die Beschneidung beinhaltet, die für erwachsene Männer eine ziemlich
schmerzhafte Operation ist. Hätte man diesen Weg eingeschlagen, wäre das
Christentum eine sehr kleine Sekte des Judentums geblieben und vermutlich
ausgestorben; jedenfalls hätte es keine größere Bedeutung erlangt. Es setzte
sich jedoch die andere Ansicht durch, die behauptete, es handele sich um eine
völlig neue Religion. Man muss nicht zuerst Jude werden; all die
Beschränkungen des Gesetzes können entfallen; Christus hat uns von alldem
befreit; seine Lehre von der Liebe übertrifft alles, was das Gesetz bieten
könnte. Dies ist die Auffassung von Paulus, dem großen frühen Missionar der
Kirche und nach Auffassung einiger der Begründer des Christentums, denn
als Jesus starb, war dieser Glaube eine rein innerjüdische Angelegenheit.
Jesus war ein Jude, seine Anhänger waren Juden, und dabei wollten einige
von ihnen es belassen. Es war Paulus, der ganz eindeutig sagte, dies sei eine
Religion für jedermann, und von da an wurde das Christentum zumindest
potenziell eine Weltreligion. Innerhalb von dreihundert Jahren verbreitete es
sich im gesamten Römischen Reich.
Die dritte Gruppe in der Mischung sind die germanischen Krieger, die in
das Römische Reich eindrangen. Sie lebten an dessen nördlicher Grenze, und
im 5. Jahrhundert überfluteten sie es. Im Jahr 476 hatten sie das Reich im
Westen zerstört. Hier, in Frankreich, Spanien und Italien, nahm die Mischung
der europäischen Zivilisation erstmals Gestalt an.
Die Germanen waren Analphabeten und hinterließen keine schriftlichen
Zeugnisse, und so haben wir sehr wenige Informationen über sie aus der Zeit
vor ihrem Einmarsch. Die beste Darstellung – wahrscheinlich nicht aus erster
Hand – stammt von einem römischen Historiker, Tacitus, im 1. Jahrhundert.
Er beschreibt die Anführer und ihr Gefolge, die zusammen lebten und
kämpften und für den Kampf lebten:
Kommt es zur Schlacht, ist es schimpflich für den Gefolgsherrn, an
Tapferkeit zurückzustehen und schimpflich für das Gefolge, es dem
Herrn an Tapferkeit nicht gleichzutun. Doch für das ganze Leben lädt
Schmach und Schande auf sich, wer seinen Herrn überlebend aus der
Schlacht zurückkehrt: Ihn zu schirmen und zu schützen, auch die
eigenen Heldentaten ihm zum Ruhme anzurechnen, ist des Dienstes
heiligste Pflicht. Die Herren kämpfen für den Sieg, die Gefolgsleute für
den Herrn. Wenn der Heimatstamm in langer Friedensruhe erstarrt,
suchen viele der jungen Adligen auf eigene Faust Völkerschaften auf,
die gerade irgendeinen Krieg führen; denn Ruhe behagt diesem Volke
nicht, und inmitten von Gefahren wird man leichter berühmt. Auch lässt
sich ein großes Gefolge nur durch Gewalttat und Krieg unterhalten. Die
Gefolgsleute erwarten von ihrem Herrn ihr Streitross, ihre blutige und
siegbringende Frame. Denn die Mahlzeiten und die wenn auch
einfachen, so doch reichlichen Schmausereien gelten als Sold. Die
Mittel zu diesem Aufwand bieten Kriege und Raub. Und nicht so leicht
könnte man einen Germanen dazu bringen, das Feld zu bestellen und die
Ernte abzuwarten, als den Feind herauszufordern und sich Wunden zu
holen. Es gilt sogar als träge und schlaff, sich mit Schweiß zu erarbeiten,
was man mit Blut erringen kann.

Dies sind die Menschen, die dreihundert Jahre später das Römische Reich
übernahmen.
Wir haben uns jetzt einen Eindruck von den drei Elementen verschafft.
Fassen wir sie zusammen. Nach Ansicht der Griechen ist die Welt einfach,
logisch und mathematisch. Nach Ansicht der Christen ist die Welt böse, und
nur Christus errettet uns. Nach Ansicht der germanischen Krieger macht
Kämpfen Spaß. Es ist diese ungwöhnliche Mischung, die die europäische
Zivilisation ausmacht.
Die Welt ist einfach, logisch und mathematisch

Die Welt ist böse; nur Christus kann uns retten

Kämpfen macht Spaß

Wie kamen die drei Elemente zusammen? Betrachten wir zunächst die
Verbindung des Christentums mit der griechisch-römischen Welt. Die
römischen Behörden versuchten von Zeit zu Zeit, das Christentum
auszumerzen. Sie beschlagnahmten die heiligen Bücher, sie konfiszierten
Kirchenbesitz, sie verhafteten und folterten Christen, und wer sich nicht von
Christus lossagen wollte, der wurde hingerichtet.
Normalerweise waren die Römer sehr tolerant. Sie regierten ein Reich, das
aus den verschiedensten Rassen und Religionen zusammengesetzt war; wenn
man Frieden hielt, ließen die Römer einen unbehelligt den eigenen Weg
gehen. Man durfte über sich selbst bestimmen. Man durfte seine eigene
Religion ausüben, mit der einen Ausnahme: Man musste dem Kaiser opfern.
Die Römer sahen im Kaiser so etwas wie einen Gott. Das Opfer, das einem
abverlangt wurde, war geringfügig. Beispielsweise brannte vor einem Porträt
oder einer Statue des Kaisers stets eine Flamme, und man musste eine Prise
Salz nehmen und in die Flamme streuen. Dann loderte die Flamme auf. Das
genügte. Es war, wie wenn man die Flagge grüßt oder die Nationalhymne
singt. Dazu waren die Christen nicht bereit, weil sie wie die Juden der
Meinung waren, sie dürften nur einen Gott anbeten, und den Kaiser wollten
sie nicht wie einen Gott behandeln. Bei den Juden machten die Römer für
gewöhnlich eine Ausnahme von der Pflicht, den Kaiser zu ehren; sie hielten
sie für verschroben und launenhaft. Sie waren ersichtlich ein altes Volk mit
einem eigenen Tempel und einem eigenen Gott und bewohnten einen
bestimmten Landstrich. Anders dagegen die Christen, die einer neuen
Religion folgten – Christ konnte ein jeder sein, überall. In den Augen der
Römer waren die Christen Staatsfeinde, die es zu beseitigen galt. Das wäre
ihnen vielleicht gelungen, wenn sie die Verfolgung konsequent betrieben
hätten.
Dann geschah ein Wunder. Kaiser Konstantin wurde im Jahr 313 Christ
bzw. gewährte er den christlichen Kirchen zumindest offizielle
Unterstützung. Er meinte, ihr Gott könne besser als ein anderer für ihn und
das Reich sorgen. Das Christentum war noch längst nicht Mehrheitsreligion,
als der Herrscher des Staates diese Religion annahm; er gab den Kirchen
Geld und stärkte die Herrschaft der Bischöfe. Fünfzig Jahre später wurden
alle anderen Religionen von einem anderen christlichen Kaiser verboten.
Vierhundert Jahre nachdem Jesus in einer fernen Unruheprovinz des
Römischen Reiches gelehrt hatte, wurde das Christentum zur offiziellen und
einzigen Religion des Imperiums. Die Bischöfe und Priester stolzierten jetzt
in den Städten umher und marschierten aufs Land, um die heidnischen
Tempel zu zerstören. Dies ist die erste Verbindung zwischen den drei
Elementen: Das Römische Reich wird christlich.

Konstantin (272–337), der römische Kaiser, der dem Christentum im Jahr 313 n. Chr. offizielle
Unterstützung gewährte.

Die Kirche war mittlerweile eine ganz andere als in ihren Anfängen. Zuerst
hatten sich Gruppen von Christen in Privathäusern getroffen. Jetzt, drei bis
vier Jahrhunderte später, gab es eine komplette Hierarchie von bezahlten
Vollzeitbeamten: Priester, Bischöfe und Erzbischöfe. Einer der Bischöfe, der
Bischof von Rom, hatte es geschafft, sich zum Papst zu ernennen und die
Kirche zu beherrschen. Die Kirche hatte ihr eigenes Rechtssystem und ihre
eigenen Gerichte und Kerker, um ihrem Recht Geltung zu verschaffen. Die
Kirche regelte nicht nur kirchliche Angelegenheiten, sondern ebenso
bedeutsame Dinge wie Ehe und Erbschaft. Die Kirche betrieb – auch mit
Zwangsmitteln – ihr eigenes Besteuerungswesen, denn jeder war verpflichtet,
Geld für ihren Unterhalt zu zahlen.
Als das Römische Reich zusammenbrach, überlebte die Kirche – sie war
wie eine Regierung für sich. Der Papst war eine dem römischen Kaiser
ebenbürtige Gestalt, hatte er doch eine Hierarchie von Beamten unter sich.
Hier sehen wir die zweite Verbindung beim Aufbau der europäischen
Mischung: Die Kirche wird römisch.
Die Kirche bewahrte nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches
die Gelehrsamkeit Griechenlands und Roms (womit sie schon vorher
begonnen hatte). Das ist eine erstaunliche Entwicklung, weil alle
Schriftsteller, Philosophen und Wissenschaftler des antiken Griechenlands
und Roms Heiden waren, keine Christen. Warum sollte sich die christliche
Kirche mit solchen Leuten abgeben? Es existierte innerhalb der christlichen
Kirche eine Gruppe, die davon abriet, weil sie der Meinung war, deren
Schriften seien Lügen und die einzige Wahrheit sei in Christus. »Was hat
Athen mit Jerusalem zu tun?«, fragte Tertullian. Aber diese Ansicht setzte
sich nicht durch.
Die Christen schufen sich kein eigenes Bildungssystem, und als das
Christentum daranging, seine Glaubensanschauungen zu ordnen und zu
systematisieren, stützte es sich auf gebildete Leute, die von der griechisch-
römischen Tradition durchdrungen waren. Sie bedienten sich zur Erklärung
und Verteidigung des Christentums der griechischen Philosophie und Logik.
Die großen Philosophen und Moralisten Griechenlands und Roms besaßen
nach Ansicht dieser christlichen Gelehrten einen Teil der Wahrheit,
wenngleich das Christentum natürlich die volle Wahrheit war. Als
Wegweiser zur Wahrheit und zur Diskussion über die Wahrheit taugten die
griechischen Philosophen durchaus. Deshalb bewahrte und benutzte die
Kirche ihre Schriften, obwohl sie Heiden waren. Dies ist die dritte
Verbindung: Die Kirche bewahrt die griechische und römische
Gelehrsamkeit.
Als die Germanen in das Römische Reich einfielen, hatten sie nicht die
Absicht, es zu zerstören. Sie kamen, um zu plündern, die besten Ländereien
an sich zu reißen und sich niederzulassen, um die guten Dinge des Lebens zu
genießen. Die Herrschaft des Kaisers anzuerkennen waren sie gern bereit.
Das Problem war nur, dass im Laufe des 5. Jahrhunderts so viele Germanen
kamen und so viel Land an sich rissen, dass für den Kaiser nichts zum
Regieren übrig blieb. Faktisch ging das Römische Reich zu Ende, weil nichts
mehr übrig war zum Regieren.
Die germanischen Krieger sahen sich nun genötigt, die Gesellschaften, in
die sie eingedrungen waren, zu regieren, was sie eigentlich nicht vorgehabt
hatten, und sie mussten sich unter sehr schwierigen Umständen darauf
einlassen. Sie selbst waren ungebildet; in dem von ihnen angerichteten Chaos
brachen die Reste der römischen Verwaltung zusammen; der Handel und die
Städte schrumpften. Die Kriegerhäuptlinge schwangen sich zu Königen auf
und schufen kleine Königreiche; sie bekämpften sich gegenseitig;
Königreiche entstanden und verschwanden in rascher Folge. Es sollten viele
Jahrhunderte vergehen, bis sich die Umrisse der modernen Staaten
Westeuropas – Frankreich, Spanien, England – abzeichneten.
Regierungen waren unter diesen Umständen extrem schwach. Sie waren so
schwach, dass sie nicht einmal Steuern eintreiben konnten. (Uns erscheint das
als ein Widerspruch in sich: Eine Regierung, die keine Steuern erhebt!)
Anstatt zum Häuptling machte sich der germanische Krieger zum König und
verteilte Land an seine Gefährten – die sich wiederum in den Adel
verwandelten – unter der Bedingung, dass die Adligen, sollte der König eine
Armee benötigen, diese bereitstellen würden. In diesem Falle sollten sie
soundso viele Soldaten entsenden. Doch bald behandelten die Adligen das
zugeteilte Land so, als sei es ihr eigenes, und sie hatten ihre eigene Meinung,
wie viele Soldaten welcher Qualität und für welchen Zweck sie zu entsenden
gedachten.
Heuten pflegen Staatsoberhäupter auf Auslandsreisen eine Ehrenformation
zu inspizieren. Sie schreiten die Reihe ab, tun so, als prüften sie die Soldaten,
und murmeln ein paar Worte. Das ist eine Übernahme aus dem frühen
Mittelalter, als der König tatsächlich die Soldaten, die man ihm geschickt
hatte, prüfte und vor sich hin sagte: Was für einen Mist haben sie mir diesmal
geschickt!
Könige haben lange darum gekämpft, mehr Macht zu erhalten – um beim
Regieren nicht vom Adel abhängig zu sein, um ein eigenes Steuersystem, ein
ihnen allein unterstehendes Heer und eine eigene Bürokratie zu bekommen.
Aber wegen ihrer schwachen Ausgangsposition konnten sie einige Dinge
nicht mehr ändern. Das Privateigentum wurde unantastbar, und der Adel
verwandelte Land, das er nur als Lehen erhalten hatte, in Privateigentum. Das
war eine dauerhafte Beschränkung der Regierungsgewalt, und wenngleich die
europäischen Könige zusätzliche Befugnisse erlangten, so waren sie doch
niemals mit orientalischen Despoten zu vergleichen, denen alles in ihrem
Reich gehörte. Brauchte ein Despot einmal Geld, konfiszierte er einfach
jemandes Eigentum, oder er schickte seine Soldaten zum Basar und ließ sie
die Händler ausrauben. Ein solches Verhalten war europäischen Regierungen,
auch in Zeiten des Absolutismus, strikt verwehrt. Grundlage des
europäischen Staatsdenkens war die Maxime Nicht alles gehört dem König.
Von dem Recht auf Privateigentum leitet sich die Vorstellung von
individuellen Rechten her, die in der westlichen Tradition von zentraler
Bedeutung ist. Die Idee, dass die Regierung begrenzt werden müsse, erwuchs
daraus, dass die Befugnisse des Staates anfangs tatsächlich extrem beschränkt
waren.
Diese Beschränkung des Staates kam auch der Entwicklung der Wirtschaft
zugute. In Europa beschleunigte sich das Wirtschaftswachstum wie auf
keinem anderen Kontinent, nicht zuletzt wegen der Sicherheit, die die
Kaufleute hier genossen.
Nach dem, was wir über diese Krieger und ihre Einstellung wissen, wird es
uns nicht überraschen, dass die Germanen bald nach dem Einfall in das Reich
Christen wurden. Die Kirche war die einzige Institution, die den
Zusammenbruch des Römischen Reiches überstand. Oft war es der Bischof,
der hinausging und mit dem beutegierigen Kriegerhaufen verhandelte. Es war
der Bischof, der sagte: »Das Land auf der anderen Seite des Flusses könnt ihr
haben, doch lasst den Rest bitte uns.« Vielleicht deutete er auch auf den
Palast des ehemaligen römischen Statthalters, den der Häuptling zweifellos
für sich beanspruchen würde, und schlug vor, ihn dort bald zu besuchen, um
ihm bei der Verwaltung des Ortes behilflich zu sein. Ziemlich schnell
konnten sie die Krieger davon überzeugen, dass sie mehr Feinde töten
würden, wenn sie den christlichen Gott akzeptierten. Die Germanen waren
Eroberer der ganz besonderen Art: Sie übernahmen die Religion derer, die sie
besiegt hatten. Die Kirche machte diesen neuen Herrschern, Königen und
Adligen recht deutlich, dass es zu ihren Pflichten gehörte, den christlichen
Glauben hochzuhalten. Dies ist unsere letzte Verbindung: Germanische
Krieger unterstützen das Christentum.
Wenn wir nun all diese Verbindungen zusammenfassen:

gelangen wir zu dem folgenden Schluss:

Es ist schon eine ungewöhnliche Mischung, nicht wahr? Es sind keine


natürlichen Verbindungen. Die Mischung ist nicht stabil. Am Ende wird sie
zerbrechen, aber sie hat immerhin rund tausend Jahre gehalten – von etwa
476, dem Datum des Falls des Römischen Reiches, bis ungefähr 1400. Dies
ist der Zeitraum, den die Historiker Mittelalter nennen. Historiker, die das
große Ganze sehen, lassen die Neuzeit im Jahr 1400 beginnen. Damit habe
wir die drei großen Epochen der europäischen Geschichte: Altertum,
Mittelalter und Neuzeit.
Während des gesamten Mittelalters hält das seltsame Trio zusammen, aber
die Elemente verändern sich. Nehmen wir das Christentum. Was immer es
sonst noch darstellte, eine kriegerische Religion war es nicht. Jesus sagte:
»Liebe deine Feinde.« Die Urchristen verweigerten den Militärdienst, ein
Grund, warum die Römer ihnen misstrauten. Aber nun haben die Christen
eine Partnerschaft mit germanischen Kriegern. Diese Religion des Auch-die-
andere-Wange-Hinhaltens wird von stahlharten Kriegsmännern unterstützt.
Was ist das für ein Widerspruch? Er ist nicht so groß, wie es scheint, denn
seit Konstantin das Christentum übernommen und zur offiziellen
Staatsreligion gemacht hatte, musste das Christentum seine Ansichten über
die Gewalt ändern. Staaten müssen Kriege führen, und wenn die Kirche die
Unterstützung der Regierungen wünschte, musste sie den Staaten zugestehen,
dass sie zuweilen einen gerechten Krieg führen können.

Doch als die Kirche sich mit diesen Kriegern verbündete, akzeptierte sie
nicht restlos deren Wertvorstellungen. Aus dem Krieger wurde im Laufe der
Jahrhunderte ein Ritter. Ein Ritter liebte den Kampf, er war stolz auf seine
Fähigkeit zu kämpfen, die er aber nur für eine gute Sache einsetzte. Die
Kirche spornte ihn an, gegen Nichtchristen zu kämpfen – das war für ihn
tatsächlich eine sehr gute Sache. Die Kirche förderte die Kreuzzüge in das
Heilige Land, das in die Hände von Muslimen gefallen war. Wer dorthin ging
und kämpfte, bekam spezielle Dispense versprochen.
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