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Klappentext

Jede und jeder aufrichtig Suchende nach einem Leben frei von emotionalem Leid, einem Leben, das
wirklich mit Freude, Weisheit und Liebe erfüllt ist, muss den eigenen, reichen, jedem Menschen
innewohnenden Schatz von Erkenntnis freilegen. Niemand anders kann einem dieses Geschenk
übergeben. Wenn wir jedoch wissen, wie dieser Zugang entdeckt werden kann, beschenken wir uns
selber. Wir entdecken eine Qualität unveränderlicher Vollkommenheit, die in unserem eigenen
Wesen und Bewusstsein existiert. Wir bemerken diese Qualität nicht ohne Weiteres, weil wir zu sehr
mit unseren Gedanken und Geschichten beschäftigt sind. Der Autor verfasste dieses Buch so, dass
ein transformativer Prozess der Selbstoffenbarung für jede und jeden möglich ist, die oder der
aufrichtig den Wunsch hat, die eigene innere Vollkommenheit zu erkennen.

Der Autor hat über fünfundvierzig Jahre seines Lebens damit verbracht, verschiedene Methoden
zum Erkennen der Erleuchtung zu erforschen, zu studieren und zu praktizieren. Zen, tibetisch-
buddhistisches Dzogchen, Vedanta, Sufismus, Kabbala und östlich-orthodoxes Christentum sind
einige von vielen Traditionen, die er studierte. Seine Forschungen führten ihn nach China, Japan,
Nepal, Indien und in den Nahen Osten, um von den Meistern der verschiedenen spirituellen
Traditionen Lehren aus erster Hand zu erhalten. Als Ergebnis stellte er fest, dass sich in vielen der
ihm mitgeteilten Lehren mehrere Gemeinsamkeiten offenbarten, denen ein erstaunlich allgemeines
Thema zugrunde lag. Es wurde deutlich, dass sich aus diesen Gemeinsamkeiten ein allgemeinerer
und eklektischerer Ansatz erkennen ließ; ein Ansatz, der freier von dem üblichen begrenzenden
kulturellen und religiösen Ballast war. Infolgedessen hat Jackson seine Einsichten, Methoden und
seine einzigartige Herangehensweise an die Themen Selbsterkenntnis oder Erleuchtung im Laufe
der Jahre mit vielen Suchenden durch seine Retreats, Gruppensitzungen und persönlichen
Interviews geteilt. In diesem Buch öffnet Jackson seine Einsichten und Methoden und bietet
spezifische Anleitungen, die jede und jeder erfolgreich anwenden kann, auch wenn keine
Vorkenntnisse über die verschiedenen spirituellen Traditionen vorhanden sind.
Das natürliche

Glück des Seins


( - in tibetoiden Lettern - )
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel


„The Natural Bliss of Being“ im Amazon-Verlag in Groß Britannien, 2014

Für die deutsche Ausgabe


c 2024 …
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
(Printed in Germany)
ISBN ...

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Das natürliche Glück des Seins


Von Jackson Peterson

übersetzt von OStR. Dirk Frensing, lektoriert von Dr. med. Ortwin Lüers

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Widmung

Dieses Buch ist meiner Tochter Kia gewidmet.


Auch wenn ihr Leben viel zu kurz war, ließ sie mich durch ihr sanftes
und vollkommen offenes Herz das natürliche Glück des Seins
als Schatz entdecken, den wir alle in uns miteinander teilen.

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Danksagung

Tashi Mannox: Titelgestaltung der Schrift im tibetischen Stil


Connor Fitzgerald: Illustrator und Umschlaggestaltung

Ich möchte meiner Frau Matthia für ihre redaktionellen Kommentare und die spirituelle
Unterstützung danken.

Ebenso möchte ich meinen Kindern danken: Rishi, Jack und Nicki sowohl für ihre spirituelle und
emotionale Unterstützung als auch für ihre Vorschläge zu diesem Buch. Und Danke an meine zwei
Enkel Lily und Mia für ihre Inspiration dafür, dieses Buch einfach genug zu halten, damit es jede
und jeder „leicht zu lesen“ findet.

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Inhaltsangabe

Einleitung

Kapitel 1: Offenbarungen aus dem nicht Sichtbaren . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 2: Den Geist und das Wesen der Erleuchtung verstehen . . . . . . . . .

Kapitel 3: Identität, Ego und wahrhaftes Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 4: Das Wesen des Gewahrseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 5: Drei grundlegende Ansätze zur Erkenntnis . . . . . . . . . . . .

Kapitel 6: Nichtdualität und Quantenphysik . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 7: Integration: Das Verschmelzen von Weisheit, Liebe und Leben . . . . . .

Anhang : Zusammenfassung der Methoden und Übungen . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

„Ich bin der festen Überzeugung, dass wir alle zusammen eine neue Spiritualität finden müssen.
Dieses neue Konzept sollte neben den Religionen so ausgearbeitet werden, dass alle Menschen gu-
ten Willens sich ihm anschließen können.“
S.H. Tenzin Gyatso,
der 14. Dalai Lama

Heute scheint es ein starkes Interesse daran zu geben, mehr darüber zu erfahren, wer und was wir
sind und wie wir unser Wohlbefinden erweitern können. Für viele führen Tempo und Oberflächlich-
keit unserer täglichen Arbeits- und Lebensroutinen oft zu einem Gefühl von Unzufriedenheit mit
uns selbst und mit dem Sinn unseres Lebens. Vieles davon lässt sich auf die gesellschaftlichen
Bedingungen und die wirtschaftlichen Anforderungen zurückführen, die an uns gestellt werden. Wir
scheinen mehr zu arbeiten, aber unser Leben weniger zu genießen. Stress ist sicherlich ein Aspekt
im Leben vieler Menschen. Es scheint, dass sich in den heutigen unsicheren wirtschaftlichen Zeiten
ein großer Teil dieses Stresses um die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die Bewältigung unserer finan-
ziellen Verpflichtungen, die Finanzierung einer höheren Ausbildung und die Versorgung unserer
Familien dreht. Dies scheinen ursächliche Faktoren für unsere Angst und existenzielle Unzufrieden-
heit zu sein. Aber die wahren Ursachen liegen in unseren Denkprozessen und in der Art und Weise,
wie wir unser Leben und unseren Stress innerlich bewältigen. Äußere Umstände haben jedoch kei-
nen Einfluss darauf, wie wir auf sie reagieren. Unsere Fähigkeit, ein gewisses Maß an Glück auf-
rechtzuerhalten, hängt direkt davon ab, wie gut wir unser Innenleben verstehen und handhaben. Un-
ser Innenleben ist der einzige Aspekt unseres Lebens, den wir direkt kontrollieren können, wenn wir
über die richtigen Mittel und das richtige Wissen verfügen.

Glück entsteht jedoch nicht in einem Vakuum. Glück ergibt sich aus einer Erfahrungsqualität, die
auf einem übergeordneten Gefühl für Harmonie und einer grundlegenden Bedeutung im Zusam-
menhang mit dem eigenen Leben beruht. Leben ist Beziehung und Verbundensein. Leben bedeutet
Austausch. Leben ist Erfahrung. Das Gefühl tiefer Zufriedenheit und erfahrbarer Freude steht im
Verhältnis zu der Intensität, in der die vielen verschiedenen Ebenen des Leben durchlebt werden.
Für manche ist es die Liebe und das Gründen einer Familie. Aber selbst dann neigen wir dazu, über
die oberflächlichen Aspekte unserer Existenz hinauszudenken und sehnen uns nach einem tieferen
Einblick in das Geheimnis, das wir Leben nennen. Für manche kann eine religiöse oder spirituelle
Verbindung diesen tieferen Sinn und das ästhetische Gleichgewicht des Lebens vermitteln. Das
Gefühl, dass unser Leben eine tiefere Bedeutung hat, die durch den Glauben an eine spirituelle Di-
mension ausgedrückt und erfahren wird, scheint seit frühester Zeit Teil des menschlichen Wesens
zu sein. Eine spirituelle Verbindung oder ein spiritueller Glaube kann auch das Gefühl für einen tie-
feren Sinn unterstützen, eines Sinns, der mit einem großen oder göttlichen Plan übereinstimmt, der
letztlich dem ganzen scheinbaren Chaos des Lebens einen Sinn gibt.

Buchstäblich alle Kulturen hatten und haben irgendeine Form eines spirituellen oder religiösen
Glaubenssystems. Innerhalb dieser religiösen oder spirituellen Traditionen gab es diejenigen, die
entweder behaupteten oder tatsächlich Verbindungen zu den geheimnisvollen Kräften entwickelten,
die die geistige Welt bestimmen und ihnen innewohnen. In den ältesten Kulturen vor dem Anbruch
der Zivilisation gab es die Schamanen, die Vermittler zwischen dieser Welt und den unsichtbaren
Welten im Jenseits. Mit der zivilisatorischen Entwicklung wuchs auch die Komplexität des religiö-
sen und spirituellen Lebens. Es entstand eine ganze Klasse von Berufspriestern und deren organi-
sierte Bürokratie. Dennoch gab es immer einige wenige, die die einzigartige Fähigkeit und Neigung
hatten, jene tiefsten Ebenen des spirituellen Bewusstseins und des Erkennens zu verstehen und zu
erfahren. Allgemein wurden diese spirituell begabten Menschen als Mystiker und Seher bezeichnet.
Einige waren authentisch, andere waren Scharlatane. Die authentischen unter ihnen zeichneten sich
dadurch aus, dass sie sowohl in ihrer persönlichen Präsenz als auch in ihren Lehren wirklich einzig-
artig waren. Die Weltreligionen haben alle ihren Ursprung in einer Person, die in der Lage war ihre
Erfahrungen und Visionen von einer spirituellen Dimension jenseits unserer gewöhnlichen materiel-
len Welt mitzuteilen. Die meisten von ihnen hinterließen nicht nur eine Botschaft, sondern auch ei-
nen Pfad oder Weg, dem andere folgen konnten.

In den meisten Fällen scheinen sich zwei Arten von Lehren entwickelt zu haben: Die exoterischen
und die esoterischen Lehren. Die exoterischen waren für die Massen gedacht, die sich damit be-
gnügten, zu glauben und die Regeln zu befolgen, die schließlich zur Erlösung oder Erkenntnis nach
dem Tod führen würden. Eine viel kleinere Gruppe von Anhängern war an einer direkten spirituel-
len Erfahrung interessiert. Dies waren die Anhänger und Praktizierenden des esoterischen Pfades
der mystischen Gnosis, der Suche nach Erleuchtung und der Praxis. In allen großen religiösen Tra-
ditionen gab es diese Art der Unterteilung, die nicht so sehr auf Absicht, sondern vielmehr auf die
natürlichen Neigungen der Bevölkerung zurückzuführen war. Die Anhänger der esoterischen oder
mystischen Schulen waren immer in der Minderheit und waren im Allgemeinen eine viel sensiblere
und intuitivere Gruppe. Sie grübelten über die Geheimnisse und den Sinn des Lebens nach, anstatt
einfach nur brave „Arbeitsbienen“ in der sozialen Struktur zu sein. Aus dieser einzigartigen und spi-
rituell begabten Gruppe stammt der größte Teil des Reichtums einer Kultur an mystischer Poesie,
Prosa, Kunst und Lehr-Traditionen. Das Vermächtnis der spirituellen Lehren hatte eine zeitlose
Qualität. Nachfolgende Generationen wussten das zu schätzen und stellten diese Lehren über alle
anderen Ergebnisse sozialer Bestrebungen. Diese Lehren und die aus ihnen hervorgegangenen
Kunstformen verkörperten die lebendige Seele einer Kultur, wie sie in ihrer Literatur, Kunst, Archi-
tektur und Religion zum Ausdruck kam.

Schon als Teenager fühlte ich mich von den Zen-inspirierten Kunstformen Japans und Chinas ange-
zogen, aber auch von der mystischen Poesie der Sufis, der islamischen Mystiker. Als ich zwölf Jah-
re alt war, verliebte ich mich in die Rubaiyat-Schriften von Omar Khayyam aus dem elften Jahrhun-
dert. Ich begann Persisch zu lernen, um die Verse in ihrer Muttersprache lesen zu können. All dies
führte schließlich dazu, dass ich den Kern der spirituellen Lehren östlicher Religionen weiter er-
forschte. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr habe ich mehr als fünfundvierzig Jahre meines Le-
bens damit verbracht, verschiedene Wege und Methoden zu erforschen, die es einem Menschen er-
möglichen, seinen eigenen inneren Schatz an Wohlbefinden, Glück und spiritueller Erleuchtung zu
entdecken. Ich studierte den Zen-Buddhismus in China, Japan, Korea und den Vereinigten Staaten
bei verschiedenen Zen-Meistern. Ich habe den tibetischen Buddhismus studiert und praktiziert, zu-
nächst in Nepal und später bei mehreren Meistern oder Lehrern verschiedener Traditionen, insbe-
sondere des tibetischen Dzogchen und Mahamudra. Ich studierte und praktizierte den Sufismus in
Kaschmir, Indien und Saudi-Arabien bei Sufi-Meistern verschiedener Traditionen. Ich studierte und
verbrachte Zeit in Israel, um die wesentlichen Lehren der Kabbala bei orthodoxen Rabbinern dieser
Tradition zu lernen. Ich studierte und praktizierte die Meditationsmethoden des orthodoxen oder
östlichen Christentums mit griechischen Priestern und einem ägyptischen koptischen Priester in Je-
rusalem. Ich lernte und praktizierte taoistische Methoden der inneren Energiearbeit und taoistisches
Yoga. Sehr früh schon erhielt ich Meditationsanweisungen in Indien, die sich auf Methoden bezie-
hen, die Kundalini-Yoga genannt werden.

Es gab noch viele andere Lehren, die ich erforschte und praktizierte, aber die oben genannten hatten
den größten Einfluss auf mein spirituelles, psychologisches und emotionales Leben. Da ich das
Glück hatte, mit so vielen authentischen Lehren und Lehrern in Kontakt zu kommen, war ich in der
Lage, gemeinsame Themenkreise und ähnliche Praktiken in den verschiedenen Traditionen zu be-
trachen und zu unterscheiden. Ich erkannte, dass der kulturelle Kontext und die Sprache dieser Leh-
ren oft ein Hindernis für angehende Schüler darstellten. Außerdem schienen fast alle Traditionen
eine ethnozentrische Voreingenommenheit zu haben, was ein wenig beunruhigend war. Jede Tradi-
tion schien das Gefühl zu haben, dass ihre Tradition aus verschiedenen Gründen, die oft in dem kos-
mischen oder religiösen Mythos der Tradition selbst eingebettet war, allen anderen eindeutig über-
legen wäre. Ich fand das in diesem Zusammenhang eher belustigend, also etwas, dem ich nie folgen
konnte.

Was ich jedoch in allen Fällen entdeckte, war ein in diesen Traditionen vorhandenes riesiges Reser-
voir an spirituellem Wissen, Weisheit und Erleuchtung. Meine Absicht in diesem Buch ist es, einige
meiner Einsichten zu teilen und praktische Methoden anzubieten, die ich in den vielen Jahren der
Forschung, des Studiums und der Praxis sowohl innerhalb dieser verschiedenen Traditionen und
auch selbständig gelernt habe. Ich habe einen Ansatz entwickelt, der völlig allgemein, nicht-religiös
und kulturell neutral ist.

Was ich lehre, ist für die meisten Suchenden nicht allgemein zugänglich. Das liegt daran, dass die
fortgeschrittensten Lehren der Traditionen in der Regel „Insidern“ vorbehalten sind, die erst einmal
alle erforderlichen Schritte und „Einweihungen“ durchlaufen haben müssen. Leider sind es genau
diese fortgeschrittenen Lehren, welche die mächtigsten und effektivsten Methoden darstellen, die in
der gesamten jeweiligen Tradition gelehrt werden. Viele der heute lebenden wahren Weisheitsträger
gehören zu einer Generation von Lehrern, die bald nicht mehr leben werden. Sie kamen aus einer
Zeit, in der echte Anstrengung und Praxis in einer Weise ausgeübt wurden, die das heutige moderne
Leben nur selten zulässt. Aus der großen Erfahrung in ihrer Praxis erwuchs ein tiefes Erkennen.
Teil dieser Erkenntnis war die Einsicht, dass viele der kraftvollsten, transformativen und erleuchten-
den Lehren, die traditionell als geheim galten und nur wenigen hochqualifizierten Meisterschülern
vorbehalten waren, offener gelehrt und für alle Schüler zugänglich gemacht werden mussten. An-
dernfalls, so meinten viele Meister der alten Traditionen, würden die höchsten Lehren, die eigentli-
chen Kronjuwelen der Weisheitslinie ihrer jeweiligen Tradition, für immer aussterben. Zu meinem
großen Glück waren die meisten Meister, mit denen ich zusammentraf, bereit jene „Kronjuwelen“
ihrer höchsten und am meisten verehrten Lehren zusammen mit den Anweisungen für die Umset-
zung und Praxis zu teilen. Viele jüngere und konservativere Lehrer und Schüler der gleichen Tradi-
tionen waren schockiert, als sie erfuhren, was ihre Lehrer mich gelehrt hatten. Ich teile all diese Me-
thoden offen und präsentiere sie in einer völlig allgemein zugänglichen Weise.

Ich habe festgestellt, dass es innerhalb dieser Lehren einen Wissensbestand gibt, der isoliert und in
einer völlig neutralen Sprache dargestellt werden kann und dadurch eher einem Wissenschaftszweig
wie der Physik oder Biologie ähnelt. Die religiösen Traditionen waren lediglich ein Vehikel für eine
viel universellere Lehre über die Natur des Menschen bezüglich einer spirituellen Welt und ihrem
Ursprung. Aldous Huxley bezeichnete diese universelle Lehre als die immerwährende Philosophie.
Die Einleitung zu seinem Buch „The Perennial Philosophy” beginnt damit:

„Überbleibsel der immerwährenden Philosophie können in der traditionellen Weisheit der Naturvöl-
ker in allen Regionen der Welt gefunden werden und in ihrer voll entwickelten Form hat sie einen
Platz in jeder der höheren Religionen. Eine Version dieses höchsten gemeinsamen Nenners aller
vorangegangenen und nachfolgenden Theologien wurde erstmals vor mehr als fünfundzwanzig
Jahrhunderten niedergeschrieben. Seit dieser Zeit ist das unerschöpfliche Thema immer wieder vom
Standpunkt einer jeden religiösen Tradition und in allen Hauptsprachen Asiens und Europas behan-
delt worden.“

Viele Jahre lang haben mich Menschen immer wieder gefragt, ob ich ein geeignetes Buch empfeh-
len könnte, das sich nicht zu sehr in spezifischen kulturellen oder traditionellen Lehren verliert, son-
dern eine Methodik der Selbsterkenntnis oder Erleuchtung beschreibt und anleitet, die jeder lesen,
verstehen und anwenden kann. Normalerweise schlug ich meistens vor, mit Eckhart Tolles hervor-
ragendem Buch Jetzt, die Kraft der Gegenwart zu beginnen. Aber dann wollte ich noch viel weiter
gehen und den großen Reichtum an Einsichten und Methoden aus den östlichen Philosophien in ei-
ner völlig allgemeinen Weise weitergeben. So beschloss ich schließlich, dieses Buch selbst zu
schreiben. Der erste Schritt bestand darin, das Material kulturell zu übersetzen und es eben auf eine
ganz allgemeine Art und Weise zu präsentieren.

Wenn das kulturelle und konfessionelle Gewand sowie die Ausschmückung dieser Traditionen ab-
gestreift werden, kommt ein Bestand von unglaublicher Schönheit, Einfachheit, Direktheit und An-
wendbarkeit für jeden aus jeder Kultur zum Vorschein. Dabei ist es so, als ob sich mit einem Wis-
senschaftszweig beschäftigt würde, der keine vorherige Auseinandersetzung mit religiösen oder
kulturellen Mythologien voraussetzt. Das soll nicht heißen, dass ich gegen die traditionellen Linien-
ansätze für ein spirituell transformatives Studium mit entsprechender Praxis bin. Es gibt einen wun-
derbaren Kontext reicher Symbolik, den Rituale, Liturgie und religiöser Glaube in die eigene Erfah-
rung einbringen können. Ich will damit nur sagen, dass dieser jeweils kulturspezifische Kontext
nicht notwendig ist, um die wesentlichen Aspekte einer spirituell transformativen Praxis zu erfas-
sen. Je geschickter die Suchenden in ihrer gewählten Weisheitstradition werden, desto weniger ste-
hen die Rituale und Liturgien im Mittelpunkt. Das in diesem Buch angebotene „abgespeckte Mo-
dell“ hat auch folgenden Vorteil. Es ist viel einfacher, Parallelen zwischen verwandten Traditionen
zu finden und es ist auch einfacher, dieses Modell mit einer eher säkularen und wissenschaftlichen
Sichtweise zu vergleichen.

Statt mit „bösen Dämonen“ haben wir es beispielsweise mit problematischen Gefühlszuständen,
festgefahrenen Ideen und einem Mangel an kognitiver Klarheit zu tun. Wir können uns auch leich-
ter in der Welt der Psychotherapie und im Umgang mit verschiedenen Modellen der Geistes- und
Hirnforschung verständigen. Was das betrifft, so habe ich auch die Neurowissenschaften, die Ge-
hirn- und Bewusstseinsforschung, die Psychotherapie und vor allem die Quantenphysik in mein
Studium integriert. Sie haben mich gelehrt, tief in die Prozesse und Muster menschlicher Erfahrung
hineinzuschauen, um eine vollständig integrative und ganzheitliche Weltsicht zu gewinnen. Ich sehe
überhaupt keinen Konflikt zwischen Wissenschaft und spirituellem Wissen und spiritueller Praxis.
Ich sehe sie vielmehr als durchaus kompatibel und sich gegenseitig erhellend an. Der Dalai Lama ist
dabei sehr unterstützend und nimmt an verschiedenen neurowissenschaftlichen Konferenzen über
das Gehirn und das Bewusstsein teil. Seiner Meinung nach kann die Wissenschaft sehr nützlich
sein, um die inneren Abläufe des Geistes aufzudecken und auch zu verstehen, wie das Gehirn mit
Bewusstsein und Bewusstheit zusammenhängt.

Zu Beginn von Kapitel VI schreibe ich:

„Ein eventuell recht ungewöhnlicher Blick darauf, wer und was wir im Universum sind, wird in
bestimmten Randgebieten der sich beständig weiterentwickelnden wissenschaftlichen Forschung
angeboten. Schon seit längerem bin ich generell besonders an den philosophischen und spirituellen
Auslegungen der Quantenphysik interessiert. Viele Quantenphysiker vertreten seit den 1930er
Jahren die Auffassung, dass das Bewusstsein oder das Gewahrsein an sich nicht unbedingt ein
Ergebnis von reiner Gehirntätigkeit sind. Eher könnten sie – und das von Anbeginn – Teil der
grundlegenden inneren Vernetzung des Universums selbst sein. Mein Interesse an den engen
Überschneidungen östlichem Gedankenguts und der Quantenphysik haben mich zu einer
langjährigen Recherche zu diesem Thema geführt. Diese Nachforschungen führten zu meiner
Überzeugung, dass eine Art „Quantenintelligenz“ universell in Form grundlegender Information
alle Erscheinungen auf allen Ebenen durchdringt, sei es auf der subatomaren – oder auf der
feststofflichen Ebene. Dabei geht es auch darum, diese Quantenaspekte des Bewusstseins bezüglich
sogenannter übersinnlicher Wahrnehmungen zu verstehen, wie Telepathie, Hellsichtigkeit und dem
gleichzeitigen Auftreten verschiedener scheinbar unabhängiger Ereignisse mit überraschend
gleichem Informationsgehalt, kurz Synchronizität. Hierdurch sollten ein besseres und klares,
wissenschaftlicheres Verständnis dieser Phänomene ermöglicht werden. Ich glaube, dass Mystiker
und andere Suchende sich seit Jahrtausenden immer wieder in diese Quantenintelligenz
hineinbegeben haben und ihre Erfahrungen schließlich entsprechend ihres jeweiligen kulturellen,
religiösen und gesellschaftlichen Umfeldes beschrieben haben.“

Manche nennen es Quantenintelligenz, Gott oder Allah, andere Buddha-Geist oder das Tao, wieder
andere nennen es Selbst oder Brahman. Wie auch immer der Name lautet, ich glaube, dass diese
Namen auf ein und dieselbe Wirklichkeit hinweisen. Diese Wirklichkeit hat eine enge Beziehung zu
unseren eigenen Geistes- und Bewusstseinszuständen. Es ist nicht irgendeine äußere göttliche
Macht, die uns von außen kontrolliert oder beobachtet, sondern es ist unsere eigene Göttlichkeit, die
uns von innen heraus inspiriert. Einer der Wüstenväter des alten östlichen orthodoxen Christentums
sagte: „Sich selbst zu kennen, heißt, Gott zu kennen.“

Wir können einen spirituellen Kern des Gewahrseins in unserem Bewusstsein entdecken, der von
Natur aus rein, unveränderlich, unkonditioniert und frei ist. Es ist unsere eigene Gegenwärtigkeit
des Bewusstseins, die als Standardeinstellung des steten Gewahrseins existiert. Sie kann nicht be-
schädigt oder verbessert werden. Ob der Körper lebendig oder tot ist, stetes Gewahrsein bleibt im
Zentrum der Erfahrung. Es ist nicht etwas, das besessen wird, sondern es ist das, was man tatsäch-
lich ist. Es ist dieses unveränderliche und zeitlose bewusste Gewahrsein, das in Momenten der Er-
leuchtung erkannt wird. Es ist dieses ursprünglich vollkommene Bewusstsein, das erleuchtete Meis-
ter versuchen, ihren Schülern „aufzuzeigen“. Wenn dies gelingt, wird sich die Sichtweise der Schü-
ler auf das Leben plötzlich und für immer völlig verändern. Es ist diese Erkenntnis, auf die alle
Lehrer und Meister der esoterischen Traditionen hinweisen. Ich nenne dieses allgegenwärtige Be-
wusstsein Quantenintelligenz oder Gewahrsein, so wie es alle Ebenen und Aspekte der Realität
durchdringt.

Was ich unterrichte und seit mehreren Jahren in Retreats, Gruppenmeditationskursen und privaten
Sitzungen lehre, sind die wesentlichsten und fortgeschrittensten Methoden, die diese plötzliche
Selbstoffenbarung erleichtern. Dieses Buch bietet „aufzeigende“ Anleitungen und Ansätze, die jede
und jeder ohne vorherige Erfahrung leicht und mit großem Erfolg anwenden können sollte. Norma-
lerweise bieten die meisten Pfade und Lehrer einen Ansatz an, der auf einem allmählichen Prozess
der Transformation und Reinigung basiert. Es wird viel Zeit darauf verwendet, bestehende Geistes-
zustände zu reparieren, zu verbessern und zu verändern. Man versucht, die Persönlichkeit und das
Selbst in einem Prozess des Erleuchtet-“werdens“ zu verbessern. Der Ansatz, über den ich spreche,
ist viel radikaler. Er basiert darauf, den inneren Kern unseres Bewusstseins zu erkennen, der schon
perfekt und erleuchtet ist und keiner Korrektur oder Verbesserung bedarf. Er ist seit Anbeginn der
Zeit unkonditioniert und „fehlerfrei“, nur bemerken wir das nicht. Stattdessen ist unser Geist stän-
dig mit einer anderen Bewusstseinsebene beschäftigt, die sich um das Gefühl des Geistes für
„mich“, meine Geschichte und das, was mir gehört dreht. Genau diese Ich-Fixierung ist die Ursache
für 100 Prozent unseres emotionalen Leidens. Es ist, als würden wir die meiste Zeit in einem Tag-
traum herumlaufen, so sehr sind wir in unsere persönlichen Geschichten vertieft. Die hier vermittel-
ten Methoden ermöglichen die Fähigkeit, plötzlich aus unserem tranceähnlichen Zustand herauszu-
kommen und den offenen Raum der vollkommenen Freiheit, Freude und bedingungslosen Liebe zu
entdecken. Es ist ein Zustand, der schon immer vorhanden war, aber unbemerkt blieb.

Ich persönlich habe festgestellt, dass alle von uns gesuchten Antworten in unserem eigenen Be-
wusstsein und unserer inneren Weisheit liegen. Das, was wir suchen, ist bereits vollständig in uns
vorhanden. Wir müssen nur wissen, wie wir Zugang zu dieser reichen Schatzkammer der Weisheit,
des Glücks und der Erleuchtung für uns selbst finden können. Die Methoden des direkten Zugangs
sind das, was dieses Buch anbietet zu teilen. Die Anwendung der hier erörterten Methoden führt un-
beschwert zur Erkenntnis des uns innewohnenden natürlichen Glück des des Seins. Die Methoden,
die ich hier allgemein vorstelle, nenne ich aus Gründen, die du in den folgenden Kapiteln entdecken
wirst, den Weg des Lichtes. Indem wir unser „wahres Wesen“ entdecken, öffnen wir für uns einen
inneren Bereich gegründet in Freude, Weisheit und bedingungsloser Liebe. Indem wir unser „wah-
res Leben“ verwirklichen und ermächtigen, sind wir schließlich in der Lage, allen Nutzen bringen.

Ich möchte nun über einige merkwürdige Erfahrungen berichten, die ich in Saudi-Arabien und in
den Ausläufern des Himalayas in Nordindien gemacht habe, in einem Land, das als das Tal von
Kaschmir bekannt ist. An diesen alten und mystischen Orten begegnete ich zum ersten Mal be-
stimmten Offenbarungen aus einer Dimension, von der mir vorher nichts bekannt war. Ich erlebte
aus erster Hand das, was andere in Geschichten lesen und deshalb eher aus zweiter oder dritter
Hand erfahren. Diese eigenen und weitere andere Erfahrungen, von denen ich berichten werde, ha-
ben die Dynamik meiner weiteren Nachforschungen beflügelt, die schließlich in der Abfassung die-
ses Buches gipfelten.
Kapitel Eins

Offenbarungen aus dem nicht Sichtbaren

Wir fuhren durch die Wüste zurück zur Stadt Riad in Saudi-Arabien. Etwa 190 Kilometer flach
verlaufende Autobahn, umgeben von Wüstensand und Dünen, sollten uns in den nächsten zwei
Stunden begleiten. Das war im Herbst 1977. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn die
Landschaft nicht so eintönig gewesen wäre und die Temperatur außerhalb des Autos nicht etwa 50
Grad Celsius betragen hätte. Selbst mit der Klimaanlage auf Hochtouren in einem Buick der
neuesten Generation lag die Innentemperatur bei etwa 35 Grad. Wir hatten gerade ein Mittagessen
auf dem Anwesen eines wohlhabenden saudischen Landbesitzers hinter uns, der an einer
Geschäftsbeziehung mit unserem Unternehmen interessiert war. Zu jener Zeit boten wir unser
Fachwissen über Bewässerungssysteme und Hydrokulturen für die dortige Landwirtschaft an. Es
war gegen drei Uhr nachmittags an einem sehr heißen Tag, aber bei typischen Temperaturen für jene
Jahreszeit.

Mein saudischer Geschäftspartner Omar saß am Steuer. Ich saß auf dem Beifahrersitz, und auf dem
Rücksitz saß der Präsident und Eigentümer des US-Unternehmens, mit dem ich zusammenarbeitete.
Er hatte seinen Cowboyhut über die Augen gezogen. Mit meinem dreiteiligen Anzug und der
Krawatte war ich definitiv zu fein angezogen. Obwohl die Klimaanlage mit voller Leistung blies,
fühlte ich mich wie in einer tragbaren Trockensauna. Ich lehnte meinen Kopf an die Kopfstütze und
hoffte, dass ich einschlafen würde um meinem zunehmenden Unbehagen entfliehen zu können.
Ohne Erfolg. Ich fühlte mich einfach zu unwohl um wegzudämmern. Also saß ich einfach still mit
geschlossenen Augen da.

Plötzlich tauchte eine traumähnliche Vision auf, als würde ich einen Film sehen, der in meine Stirn
projiziert wurde und in dem Bereich zwischen meinen Augen und leicht darüber erschien. Meine
Augen waren geschlossen. Die Beleuchtung in der Vision unterschied sich merklich von der der
normalen Wahrnehmung. Es war, als ob die gesamte Umgebung sehr klar mit scharfen Details aus
sich selbst und von innen heraus leuchtete.

Ich sah ein langes schwarzes Band, das sich unter mir bis zum fernen Horizont entrollte, als würde
ich auf diesem Band reiten während es sich vor mir in die Ferne hinaus erstreckte. Bald erkannte
ich, dass es sich um eine schwarze Asphaltstraße handelte, die durch eine Wüste führte. Ich
bemerkte einen weißen Gegenstand, der sich aus der Gegenrichtung kommend direkt auf mich zu
bewegte. Je näher diese Erscheinung kam, desto mehr Details konnte ich an dem herannahenden
weißen Objekt erkennen. Es war offensichtlich ein kleiner Pickup, der sich schnell in meine
Richtung bewegte. Als dieser Wagen bis auf fünfzig Meter herankam, konnte ich den Fahrer
erkennen. Er schien ein dunkelhäutiger Araber zu sein, der einen rotkarierten Kopfschmuck oder ein
Kopftuch trug. Sein Fahrzeug kam offensichtlich mit hoher Geschwindigkeit immer näher.

Plötzlich sackte der Kopf des Fahrers über das Lenkrad und sein Fahrzeug schlingerte wild über die
Mittellinie auf unsere Seite herüber, direkt vor meine Sichtlinie. Das Fahrzeug wich dann auf die
andere Seite der Autobahn aus und verfehlte glücklicherweise nur knapp die Front unseres
Fahrzeugs. Dann überschlug sich der Wagen dreimal rechts von mir und kam aufrecht an einem
Maschendrahtzaun zum Stehen. Der Fahrer stolperte aus seinem Fahrzeug, sein linker Ellbogen
blutete stark auf seinen weißen Baumwollmantel. Er stützte sich ab, indem er sich mit den Händen
am Maschendrahtzaun festhielt. Er drehte sich um und sah direkt zu mir, bis sich dann unsere
Blicke für einen kurzen Moment trafen.

In diesem Moment zuckte mein Körper plötzlich zusammen, so wie es manchmal geschah, wenn
ich im Traum ins Nichts fiel. Ich öffnete die Augen und schaute zu Omar, der mich neugierig ansah.
Ich erzählte ihm, was ich gerade in meiner Vision gesehen hatte und dass ich nicht geschlafen hatte,
sondern völlig gebannt von dem war, was eine Art von visionärer Wahrnehmung gewesen zu sein
schien. Noch während ich davon sprach, wie ich das weiße Fahrzeug in meinem Erlebnis immer
näher kommen sah, bemerkte ich ein Fahrzeug, was nun in Realität direkt auf uns zukam. Ich hielt
in der Beschreibung meiner „Vision“ inne und sah, dass es sich bei dem rasch nähernden Fahrzeug
anscheinend um einen kleinen weißen Lastwagen mit einem arabischen Fahrer handelte, der eine
Art rotes Kopftuch trug. Er war über das Lenkrad gebeugt, als wäre er gerade eingeschlafen. Sein
Fahrzeug wich direkt vor uns aus, nur um einen Frontalzusammenstoß bei hoher Geschwindigkeit
zu vermeiden. Omar trat auf die Bremse und erstarrte. Der weiße Lkw überschlug sich dreimal und
kam neben einem Maschendrahtzaun zum Stehen. Der Fahrer taumelte heraus, hielt sich am Zaun
fest, wobei er den linken blutenden Ellbogen entblößte. Er drehte sich um und schaute über seine
Schulter direkt zu mir, in meine Augen.

Da wir mitten auf einer Autobahn anhielten, auf der alle Fahrzeuge mit sehr hoher Geschwindigkeit
fuhren, war klar, dass wir schnellstens von der Fahrbahn herunter mussten. Omar war völlig erstarrt,
nachdem er gerade von einem nahezu sicheren Rendezvous mit dem Tod verschont worden war. Ich
riss Omar das Lenkrad aus der Hand und befahl ihm, Gas zu geben, so dass wir es schafften sofort
von der Straße abzufahren. Andernfalls wäre uns mit Sicherheit jemand von hinten aufgefahren.
Mein Chef auf dem Rücksitz schreckte aus seinem Nickerchen auf und rief in seinem Colorado-
Western-Dialekt: „Was zum Teufel ist denn hier los?“ Ich erklärte den beiden daraufhin, dass ich
vor zwei Minuten „gesehen“ hatte, was jetzt gerade geschehen war und dass es genau so eingetreten
war, wie ich es zuvor in meiner Vision gesehen hatte.

Außerdem erklärte ich aufgeregt, dass wir nur knapp dem Tod durch einen Frontalzusammenstoß
entgangen waren. Wir drei saßen eine Weile fassungslos da und sagten kein Wort. Andere Autos
hielten dann und die Leute begannen dem verletzten Fahrer Hilfe anzubieten. Wir hielten es
schließlich für besser weiterzufahren, ohne Rücksicht auf eventuell resultierende rechtliche
Komplikationen.

Ich war gelinde gesagt völlig fassungslos über diese Erfahrung. Was sind die Schlussfolgerungen
aus dieser Erfahrung? Gibt es eine Zukunft, in die wir hineinrutschen können? Ist bereits alles
„geschehen“? Oder ist unser begrenzter Verstand in einer dreidimensionalen Raum-Zeit so
gefangen, dass wir die Realität eben nur erleben, als würde sie sich in einer linear ablaufenden
Chronologie bewegen? Nehmen wir nur Schnipsel oder Bruchstücke einer zeitlosen Realität wahr,
die wir als „Jetzt“ bezeichnen? Stephen Hawking schlug in seinem Buch „Eine kurze Geschichte
der Zeit“ vor, dass die gesamte Realität - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - in einer riesigen
kugelförmigen Hyper-Sphäre enthalten ist. Alles in ihr ist bereits vollständig. Alles ist bereits
geschehen und wir könnten theoretisch jeden Punkt innerhalb dieser Hyper-Sphäre einer
vollständigen Realität erforschen und erleben.

Louis de Broglie, einer der ersten Quantenphysiker, schlug vor, dass wir uns die gesamte Realität
als eine riesige Torte vorstellen könnten und unser begrenztes, endliches Bewusstsein wie ein
Messer, das die Torte durchschneidet. Unsere bewusste Erfahrung „schneidet“ durch die Torte. Wir
sehen dabei alles aus dem Blickwinkel der Klinge unseres Bewusstseins während wir nur durch
einen bestimmten Teil der Torte oder der jeweiligen Realität gehen, der uns dann als unsere
„Lebens“-Erfahrung erscheint. Es mag diesbezüglich noch viele andere Erklärungen geben, aber
wie auch immer eine Erklärung für authentische hellseherische Erfahrungen aussehen mag, wir
müssen uns der Möglichkeit öffnen, dass diese Phänomene tatsächlich auftreten. Für mich gab es an
dieser Erfahrung überhaupt keinen Zweifel, denn ich war ja gerade dabei, meine hellseherische
Vision zu beschreiben, als sich das eigentliche Ereignis innerhalb von nur zwei Minuten nach der
Vision ereignete. Dieses Erlebnis wurde von mir unmittelbar, roh und unverfälscht erfahren, so dass
nicht viel Zeit für den Verstand blieb, sich die Geschichte so zurechtzubiegen, dass sie zu einer
imaginären, einfach nur „geglaubten“ hellseherischen Erfahrung passte.

Später hatte ich das Glück, im internationalen Immobiliengeschäft tätig zu sein, was mir
ermöglichte ausgiebig durch die Welt zu reisen. Wenn ich an einem günstigen Ort wie Indien,
Nepal, Japan, China oder dem Nahen Osten war, fand ich oft die Zeit Meister oder Lehrer
verschiedener spiritueller Traditionen aufzusuchen, von denen ich glaubte, dass sie mir
weitergehende Anleitung und Einsicht bei meiner spirituelle Suche bieten könnten. Die wirklichen
Fragen, die nach weiterer Einsicht verlangten, waren für mich folgende: Gibt es einen Gott oder
eine „höhere Macht“, welche die Intelligenz hinter der gesamten scheinbaren Schöpfung ist? Ist es
möglich, diese höhere Macht in uns selbst zu erfahren oder zu erkennen? Wie kann ich mein
grundlegendes wahres spirituelles Wesen am besten erfahren und nutzen? Natürlich hatte ich noch
viele weitere Fragen, die in den einzelnen Gesprächen mit den verschiedenen Meistern und Lehrern,
denen ich begegnete, ihren Ausdruck fanden. Aber letztlich war die Botschaft in allen Fällen
dieselbe: Die Antworten, nach denen ich suchte, waren nur in meiner eigenen inneren
Schatzkammer von Gnosis und Weisheit zu finden. Diese Botschaft war an sich schon ein Hinweis
von großer Bedeutung, denn sie machte klar, dass wir alle ein Reservoir großer Weisheit und
Erleuchtung in unserem eigenen Wesen haben. Die Lehrer können uns nur zeigen, wie wir in
unseren eigenen Quellen suchen müssen, um das zu entdecken, wonach wir suchen.

Vor dem hellseherischen Ereignis, das ich oben beschrieben habe, befand ich mich Anfang 1977 auf
einer Geschäftsreise in Saudi-Arabien. Zwischen den Geschäftsterminen in Riad hatte ich zwei
Wochen Pause. Ich beschloss Kaschmir in Indien zu besuchen. Ich war noch nie dort gewesen, hatte
aber Bilder eines Ortes gesehen, der das „Tal von Kaschmir“ genannt wurde und als einer der
schönsten und geheimnisvollsten Orte der Welt galt. Über ein Reisebüro besorgte ich mir ein
Flugticket über Neu-Delhi nach Srinagar in Kaschmir. Am nächsten Tag bestieg ich einen Flug von
Riad nach Neu-Delhi mit Anschlussflug nach Srinagar. Ich hatte kein Hotel gebucht, da ich einfach
nur ankommen und die Dinge sich spontan auf ihre eigene Weise entwickeln lassen wollte. Mein
Stil zu Reisen gewährte immer reichlich Gelegenheit zu unerwarteten Abenteuern auf Kosten von
Bequemlichkeit und Vorhersehbarkeit, und so war es auch bei meiner Ankunft auf dem Flughafen in
Srinagar. Es herrschte ein totales Chaos, als ich mit aufgegebenem Gepäck im Ankunftsbereich
erschien. Verschiedene Personen boten auf handgeschriebenen Schildern, die sie über ihre Köpfe
hielten, eine Unterkunft an, um die Aufmerksamkeit der neu ankommenden Besucher auf sich zu
ziehen. Es war üblich, dass Besucher, die nicht in regulären Hotels untergebracht waren, auf
schwimmenden Hausbooten übernachteten, die bis zu sechs Schlafkabinen haben konnten. Ein
junger Mann fiel mir mit seinem enthusiastisch winkenden Schild für ein Hausboot namens
Kashmir Paradise auf. Er kam sofort auf mich zu und bot mir an, meine Tasche zu nehmen, da seine
Familie eines der schönsten Hausboote auf dem Dal-See besitze. Sein Name war Ali Baktoo und
seinem Vater gehörte das Kashmir Paradies-Hausboot. Er sprach ausgezeichnet Englisch und war
freundlich und kenntnisreich in Bezug auf die Gegend und ihre Angebote. Ich stimmte zu auf dem
Hausboot seiner Familie zu übernachten und wir fuhren mit seinem Auto vom Flughafen los.

Als wir an der Anlegestelle ankamen, nahm er meine Tasche und brachte uns zu einem sehr langen,
dünnen Kanu, einem Shikara. Wir bestiegen das Shikara für eine kurze Fahrt zu unserem Hausboot.
Dieses Kanu war das schmalste Boot, in dem ich je gesessen hatte, und ich war erstaunt, dass wir
das Gleichgewicht halten konnten. Ich hatte praktisch keine Seitenwände neben mir und war fast
auf einer Höhe mit dem Wasserspiegel. Wie durch ein Wunder erreichten wir nach etwa zehn
Minuten völlig trocken das Hotel auf dem Wasser, das von Alis Familie stolz das Kaschmir Paradies
genannt wurde. Wir betraten den Hauptwohnraum des Hausbootes, wo ich einen bequemen Sessel
fand, um mich zu entspannen. Die Ausstattung war eine Kombination aus britisch-viktorianischem
und traditionellem indischen Stil. Es kam mir vor, als säße ich in einem britischen Salon und
erwartete den traditionellen Nachmittagstee zur Zeit des britischen Raj. Nichtsdestotrotz fühlte ich
mich in jener Umgebung wohl, zumal ich von den offenen Fenstern aus den See und die
umliegenden Berge des Himalaya gut sehen konnte.

Ali teilte mir mit, dass es eine Weile dauern würde, bis mein Zimmer fertig sei, und dass er
zwischenzeitlich ins Dorf gehen würde um Lebensmittel zu besorgen. Er fragte, ob ich
irgendwelche besonderen Wünsche hätte. Ich erinnere mich, dass ich ihn fragte, ob es wahr sei, dass
es in den Bergen heilige Männer gäbe, die spirituell erleuchtet seien, und ob er jemanden in den
nahe gelegenen Dörfern kenne, mit dem er ein Treffen arrangieren könne. Er sagte mir, dass in der
Tat Sufis in der Gegend lebten, die für ihre spirituellen Wunderkräfte bekannt waren. Sufis sind
islamische Mystiker, die durch die speziellen yogischen Übungen und Meditationspraktiken ihrer
Tradition ein hohes Maß an spiritueller Erleuchtung erlangt haben. Die Beziehung des Sufismus
zum Islam ist sehr ähnlich wie die Beziehung der Kabbala zum orthodoxen Judentum. Beide
Traditionen sind die inneren esoterischen Kronjuwelen ihrer jeweiligen exoterischen Religionen.
Die Mystiker beider Traditionen, Sufismus und Kabbala, sind seit Jahrhunderten dafür bekannt,
dass sie sich mit den höchsten spirituellen Realitäten verbunden und diese erfahren haben. Im
Sufismus wurden diese Erfahrungen von so großen Sufi-Mystikern wie Rumi, Omar Khayyam,
Hafez, Shabistari, Ibn Al Arabi und Al Ghazali als Poesie und Prosa festgehalten, um nur einige der
berühmtesten zu nennen.

Ich machte es mir in der Stube bequem, bis Ali mit den Besorgungen zurückkam. Nach etwa zwei
Stunden erschien er mit mehreren Säcken voller Proviant und hinter ihm stand ein älterer Herr,
spärlich bekleidet mit Shorts, die eher einem Lendenschurz ähnlich sahen und einem zerschlissenen
blauen Hemd. Er hatte einen langen weißen Bart, der im Kontrast zu seiner sonst gebräunten Haut
stand. Auf seinem Kopf trug er einen ziemlich schäbigen weißen Turban. Ich erinnere mich jedoch
deutlich an seine durchdringenden tief in seinen Augenhöhlen sitzenden hellblauen Augen, mit
denen er mich anzustarren schien. Ich saß auf der anderen Seite des Raumes. Er schritt mit der
Autorität eines Arztes durch den Raum, der einen Patienten untersuchen wollte. Er spähte über
meine Schultern und meinen Kopf, als er meinen Kragen zurückzog und mit seinem Blick meinen
Hals und oberen Rücken inspizierte. Er schaute auf die Rückseite meines Hemdes und betrachtete
meinen Rücken etwa zwanzig Sekunden lang. Dann ließ er mein Hemd los und setzte sich etwa
anderthalb Meter vor meinem Stuhl auf den Boden. Er saß kniend vor mir auf dem Boden, die Füße
nach hinten gerichtet. Er begann zu sprechen, ohne mir irgendwelche Fragen zu meiner Person oder
meiner Geschichte gestellt zu haben. Ali begann zu übersetzen, da der Mann kein Englisch sprach.
Er redete in einem persischen Dialekt, der als Urdu bekannt ist, jene typische Sprache der
muslimischen Bevölkerung in der Region.

Er beugte sich vor, rieb seine Knie kreisförmig und begann zu sprechen. Er sagte, dass eine Frau,
mit der ich in den Vereinigten Staaten lebte, große Schmerzen in beiden Knien hätte und dies eine
sehr unglückliche Situation wäre. Mir sträubten sich die Nackenhaare, als mir die Bedeutung seiner
Worte bewusst wurde. Meine Freundin, mit der ich in Los Angeles lebte, hatte sich kurz vor meiner
Abreise nach Europa und Saudi-Arabien einer doppelten Knieoperation unterzogen. Sie wurde
wegen einer angeborenen Kniescheibenverformung an beiden Knien operiert. Laienhaft
ausgedrückt: Ihre Knie kugelten sich manchmal aus und verursachten ihr entsetzliche Schmerzen.
Mehrere Wochen lang trug sie Gipsverbände an beiden Beinen von den Knöcheln bis fast zur Hüfte.
Glücklicherweise hatten wir Freunde, die sich um sie kümmerten und sie unterstützten, so dass ich
zu dieser lange geplanten Geschäftsreise aufbrechen konnte. Dieser Sufi, der da vor mir saß, konnte
nichts von alledem wissen; ich hatte seit meiner Ankunft mit niemandem, auch nicht mit Ali über
mein Privatleben geredet. Wie groß waren die Chancen, dass er eine solche Situation einfach erraten
konnte? Wie viele Menschen kennst du, die gleichzeitig erhebliche Schmerzen in beiden Knien
haben und dabei jung und vital sind? Ich war damals siebenundzwanzig und meine Freundin war
fünfundzwanzig. Wenn dies nur eine Vermutung von ihm war, hatte er hier einen Volltreffer
gelandet!
In den nächsten Minuten, noch auf dem Boden sitzend, sprach er weiter. Ali übersetzte. Während er
sich den Unterbauch rieb, sagte er: „Dieselbe arme Frau hatte vor einigen Monaten große
Schmerzen im Unterbauch. Das bereitete ihr großen Kummer und es war insgesamt eine sehr ernste
Situation.“ Als ich diese Worte hörte, wusste ich, dass dieser Mann zweifellos über eine besondere
Gabe und Einsichtsfähigkeit verfügte. Einige Monate zuvor hatte mir Linda eines Abends erzählt,
dass sie unter starken Schmerzen im Bereich ihrer Gebärmutter litt. Da sie schwanger war, waren
wir sehr besorgt. Es wurde so schlimm, dass wir beschlossen sofort ins Krankenhaus zu fahren. Ich
fuhr sie zum Queen of Angels Krankenhaus, das in der Nähe unseres Wohnorts in Los Angeles lag.
Dort wurde sie sofort in die Notaufnahme gebracht, wo man feststellte, dass sie eine Fehlgeburt
hatte und innerlich blutete. Sie führten einen Eingriff durch, um die Blutung zu stoppen, und
informierten uns, dass das Baby nicht überlebt hatte. Es war für uns beide eine ziemlich
traumatische Zeit, aber zumindest ging es Linda anschließend gut und sie war frei von den
quälenden Schmerzen.

Zweifellos hatte dieser Sufi-Seher Zugang zu Informationen, die jenseits des menschlichen Wissens
lagen. Er hatte Zugang zu einer anderen Ebene der Realität, die ihm erlaubte, Dinge zu wissen, die
andere unmöglich wissen konnten. Ich war so erschüttert von seinen wenigen gesprochenen Worten,
die so tiefgründig Ereignisse und Gefühle beschrieben, die er unmöglich wissen konnte.

Ich gewann meine Fassung wieder und fragte ihn sofort, ob er bereit wäre, mich als Schüler in
seiner Sufi-Tradition zu akzeptieren. Er stellte klar, dass er keine Schüler haben würde, weil er
Nichts hätte, was er irgendjemandem lehren könnte. Er sagte, seine Kraft wäre ein Geschenk Allahs,
und er könnte dieses Geschenk nicht an andere weitergeben. Es gäbe aber einen Sufi-Meister in der
Region mit eigenen Schülern und ich solle ein Treffen mit ihm vereinbaren. Er sagte, ich solle mich
mit Pir Qassim Qadria treffen. Ali teilte mir schließlich mit, dass er hierfür die nötigen
Vorkehrungen treffen würde.

Als der Mann dann aufbrechen wollte, bot ich ihm etwas Geld an für die mit mir verbrachte Zeit. Er
sagte mit Nachdruck, dass er kein Geld für seine Gaben annehmen könne. Seine Gaben kämen von
Allah und wenn er Geld nähme, würde er mit Sicherheit seine Verbindung zu Allah verlieren. Er
wünschte mir alles Gute und machte sich auf den Heimweg zu seinem Dorf.

Aus diesen beiden Begegnungen, die mit dem Sufi-Hellseher in Kaschmir einerseits und meiner
eigenen hellseherischen Erfahrung in der arabischen Wüste andererseits wurde mir klar, dass uns
noch eine ganz andere Bewusstseinsebene zur Verfügung steht. Diese Begegnungen mit der
Hellsichtigkeit veränderten nachhaltig meine Sicht auf die Realität und unsere Möglichkeiten mit
derartigen Erfahrungen im Universum.

Am folgenden Tag arrangierte Ali für mich ein Treffen mit dem in der Region bekannten Sufi-
Lehrer Qassim. Wir fuhren mit einemTaxi etwa zwei Stunden lang zu Qassim nach Anantanag und
statteten ihm einen Besuch ab. Er erschien sehr liebenswürdig und beantwortete bereitwillig alle
meine Fragen. Er erklärte mir die Methoden der Sufi-Praxis und gab mir schriftliche Anweisungen
für die Meditationen. Er erklärte das Sufi-System der inneren Meditation auf die Energiezentren im
Körper, im Herzen und im Geist. Durch diese Meditationspraktiken wird das eigene Bewusstsein
schließlich in einen erhabenen, spirituellen Zustand transformiert, in dem man die Geheimnisse des
Seins sowie das Wesen und den Sinn der menschlichen Existenz selbständig ergründen kann. Diese
Lehren stimmten perfekt mit dem Ansinnen meiner eigenen spirituellen Suche überein.

Nachdem ich einige Tage mit Qassim verbracht hatte, beschloss er, mich zu dem Ort mitzunehmen,
an dem sein Sufi-Meister begraben war. Der Ort war weit draußen in der Natur in den Bergen des
Hindukusch, in der Nähe eines Baches. Nachdem wir einige Minuten ehrfürchtig an dem kleinen
Grab verbracht hatten, gingen wir den Hang eines sehr steilen Berges zwischen sehr hohen und
dichten Kiefern hinauf. Wir waren mit einer kleinen Gruppe von insgesamt zehn seiner Schüler
unterwegs. Es fiel mir schwer zu glauben, dass der übergewichtige Qassim in der Lage sein würde,
den steilen Pfad hinauf zu seiner Berghütte zu bewältigen. Aber er schaffte den mehrere hundert
Meter zählenden Aufstieg zur Hütte erfolgreich.

Diese befand sich mitten in einem Kiefernwald. Keine Straße führte dorthin. Als wir in der Hütte
angekommen waren, suchte sich jeder einen Platz zum Sitzen, während Qassim durch meinen
Übersetzer fragen ließ, was ich denn nun genau wissen wollte. Ich sagte ihm, dass ich gerne eine
direkte Erfahrung mit Gott machen würde. Er wies mich daraufhin an, zu einem seiner Schüler auf
der gegenüber liegenden Seite des Raumes zu gehen. Er sagte mir, ich solle ihm in die Augen
schauen und ihm berichten, was ich gesehen habe. Ich sagte ihm, dass ich nur sein Gesicht und
seine Augen gesehen hätte. Daraufhin sagte er ganz sachlich: „Du siehst Gott an, du schaust Gott.“
Ein plötzliches Erkennen trat ein, zusammen mit einem Moment völliger Geistesstille - einfach nur
Stille. Aus der Stille heraus entwickelte sich erkennendes Verstehen dafür, dass jegliche gefühlte
Dualität, wie etwa Gott „da draußen“ und ich „hier drinnen“, wegschmelzen ließ. Gott wurde hier
unmittelbar vertrauter als meine eigene Vorstellung von mir selbst.

„Was wir suchen, ist das, was sucht.“


heiliger Franz von Assisi

Bereits in meinen früheren Jahren im Zen-Buddhismus und auf anderen spirituellen Pfaden war
meine Vorstellung von Gott nicht die eines „Schöpfergottes“, der sich abseits von uns und der
Schöpfung befindet, sondern vielmehr die, dass Gott der Kern unseres eigenen inneren Wesens ist.
Die Sufis teilen die gleiche Vorstellung, sind aber durch die Sprache und Theologie des jüdisch-
christlich geprägten Islam gebunden. Für einen Sufi drückt sich die vollkommene spirituelle
Erleuchtung oft in Worten wie „Ich bin Gott“ oder „Ich bin Er“ aus, wobei sich die Persönlichkeit
des Sufis in die Gegenwart des unmittelbaren göttlichen Seins aufgelöst hat. Die Sufis mussten
diese mystischen Erfahrungen für sich behalten. Sie lernten auf tragische Weise was geschehen
konnte, wenn andere Sufis ihre Offenbarungen öffentlich machten. In der Regel wurden diese vom
konservativen muslimischen Klerus wegen Ketzerei hingerichtet. Einer der Wüstenväter des frühen
Christentums sagte, wie ich in der Einleitung erwähnte: „Sich selbst zu kennen heißt Gott zu
kennen.“ Dieses mystische Erleben war also nicht nur dem Erfahrungsbereich der Sufis
vorbehalten.

Als ich nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten mit den Sufi-Meditationspraktiken begann
wusste ich nicht, dass dies nur ein Vorspiel zu viel tieferen Einsichten und erleuchtenden
Erkenntnissen war, die sich dadurch ergeben würden. Doch bevor ich in die Vereinigten Staaten
zurückkehrte, verbrachten Qassim und ich noch etwas Zeit miteinander. Das gab mir die
Gelegenheit, weitere Fragen zu stellen und zu klären, was ich bis dahin gelernt hatte. Er gab mir
einen Sufi-Namen, Latif Qadria. Latif bedeutet „die subtilste Qualität der Gegenwart Gottes“, einer
der neunundneunzig Namen Gottes. Für Sufis bezieht sich der Name Latif auf den subtilen inneren
Energiekörper, der die aktive göttliche Energie in unserer Seele ist. Er sagte mir, dass wann immer
ich mit ihm zu sprechen wünschte oder er mit mir Kontakt aufnehmen wollte, er dann während
meiner Meditation in Träumen oder Visionen erscheinen würde. Das Gesagte sollte sich als eine
ziemlich verheißungsvolle und vorausschauende Botschaft erweisen.

Einige Tage nach meiner Rückkehr in die USA hatte ich während einer Nacht im Schlaf einen sehr
ungewöhnlichen Traum. Darin war ich in Indien, vielleicht in Kaschmir, und ging einen staubigen
Feldweg entlang, der zu einem kleinen Dorf führte. In der Mitte der Straße befand sich ein großer
runder Brunnen, der offensichtlich von Menschen benutzt wurde, die Wasser holen wollten. Hinter
dem Brunnen sah ich aus der Ferne eine Gestalt in meine Richtung gehen. Es war Qassim. Als er
näher kam, übermittelte er mir telepathisch eine beunruhigende Botschaft.

Er sagte: „Latif, ich bringe dir eine Botschaft vom Tod. Aber sei nicht beunruhigt oder besorgt, denn
es betrifft weder dich noch jemanden, der dir sehr nahe steht.“

Als er diese Worte sagte, hörte ich ein Klingeln, das nicht in die Traumumgebung passte. Ich
erwachte sofort und hörte das Klingeln meines Haustelefons. Das Telefon befand sich im
Küchenraum unter unserem Schlafzimmer. Es war sechs Uhr morgens. Ich sprang aus dem Bett, um
den Hörer abzunehmen, denn ich dachte, dass es sich zu dieser Uhrzeit um einen wichtigen Anruf
handeln könnte. Es war die Mutter meiner Freundin. Sie war in Chicago am Flughafen O'Hare und
wartete darauf, an Bord eines Fluges nach London zu gehen. Zu dieser Zeit lebten wir in Colorado.
Sie erzählte, sie habe gerade von ihrer im Sterben liegenden Mutter erfahren und dass sie nun so
schnell wie möglich ins Krankenhaus müsste. Sie sagte mir, ich solle ihrer Tochter Carolyn
ausrichten, dass sie abreisen würde und wir uns keine Sorgen machen sollten. Carolyn schlief noch
im Obergeschoss. Als ich nach oben zurückkehrte, fragte mich Carolyn, wer angerufen hatte. Ich
erklärte ihr dann die Situation mit ihrer Mutter und Großmutter und dass dabei das Erstaunlichste
war, dass ich gerade einen Traum hatte, in dem Qassim mir sagte, er würde mir eine
„Todesnachricht“ bringen, worauf hin das Telefon klingelte. Sie war ebenfalls verblüfft, aber nicht
sicher, was sie von der ganzen Sache halten sollte.

Diese Ereignisse gaben mir die Gewissheit, dass es eine „unsichtbare“ Welt geistiger Wirklichkeiten
gibt, die jenseits unserer wildesten Vorstellungen liegt, aber durchaus nicht jenseits unserer
wildesten Träume. Ich wurde erneut tiefer in diese fundamentale Wahrnehmung hineingezogen, von
der ich glaubte, dass die meisten von uns sie erst nach dem Tod erfahren würden. Wie kommt es
denn, dass manche Menschen in der Lage sind, sich in beiden Welten zurechtzufinden, also in
unserer materiellen Welt der Begrenzung und in einer anderen, die außerhalb der Konventionen von
Raum und Zeit zu existieren scheint?

Ich wurde danach immer weiter ermutigt, diese neue spirituelle Sichtweise zu erforschen, die sich
im Laufe der Jahre vor dem Auge meines Herzens mehr und mehr klärte. Es sind nun mehr als
fünfunddreißig Jahre vergangen, dass ich die beschriebenen Erfahrungen in Saudi-Arabien und im
Tal von Kaschmir gemacht hatte. Seitdem hatte ich viele Gelegenheiten, mit tibetischen Lamas in
Nepal und Zen-Meistern in China, Korea und Japan zu studieren. Ich habe unter der Anleitung von
Lehrern anderer Linien weitere entsprechende Traditionen studiert. Aber am wichtigsten war immer,
dass ich ihre Lehren und Anweisungen in meiner eigenen Meditationspraxis praktisch angewendet
habe. Das tiefe Verständnis und die grundlegende Einsicht, die durch diese Lehren vermittelt
werden, erlauben es mir einen Weg mitzuteilen, von dem ich glaube, dass ihn jede und jeder gehen
kann. Die wesentlichen Erkenntnisse sind überhaupt nicht kompliziert, aber es ist notwendig die
Landkarte zu verstehen, die das Gebiet beschreibt, welches die Grundlage unserer Reise ist. Ich bin
überzeugt, der Pfad beginnt mit dem Verständnis dafür, wie unser Geist arbeitet und wie sich jeder
Gedanke in allen Ebenen auf unser Wohlbefinden auswirkt - körperlich, emotional, sozial und
spirituell.
Kapitel Zwei

Den Geist und das Wesen der Erleuchtung verstehen

Wir sind, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht mit unseren Gedanken. Mit unseren
Gedanken erschaffen wir unsere Welt. - Der Buddha, aus dem Dhammapada

Weil sich dieses Buch dem Thema der Erleuchtung widmet, ist es wohl am besten, wenn wir mit
einer Klärung des Begriffes Erleuchtung anfangen. Je nach Tradition oder Kultur stehen viele
Definitionen zur Auswahl. Für unsere Zwecke werden wir die Definitionen benutzen, die allgemein
mehr mit dem Buddhismus, Hinduismus und der östlichen Philosophie in Verbindung stehen.
Erleuchtung als Begriff wird am besten durch seine Wortbedeutung selbst beschrieben: Eine
Situation, bei der Licht auf ein Thema oder einen Geisteszustand fällt. In diesem Fall bezieht sich
der Begriff Licht auf Verständnis, Einsicht oder Weisheit. Für unser Verständnis beschreibt das Wort
Erleuchtung eine tiefgründige Einsicht, die strahlend klar unser Empfinden erhellt, wer wir im
Ganzen, also spirituell, moralisch und gesellschaftlich wirklich sind. Gleichzeitig befreit diese
Erleuchtung von dem oft als dunkel empfundenen Nichtwissen darüber, wer oder was wir sind.
Dieses Nichtwissen wird dabei als der Grund für unser Leiden entdeckt, als ein Gefühl persönlicher
Entfremdung und allgemeinen Unwohlseins. Ein anderer angemessener Begriff für Erleuchtung ist
auch Selbst-Erkennen. Was genau wir hier erkennen wird das grundlegende Verständnis dafür, wer
und was wir tatsächlich sind.

Die meisten von uns suchen Glück und Erfüllung in Beziehungen, durch das Anstreben von Zielen
und Anhäufen von materiellen Dingen. Dennoch scheinen wir bei unserer Suche nie eine dauerhafte
Stabilität zu finden. Es ist eine Suche ohne Ende, welche die östlichen Traditionen mit dem Wort
Samsara ausdrücken. Es erinnert an das Bild des „im-Kreise-Laufens“, vergleichbar einem
Hamster, dessen Rad sich schneller und schneller dreht ohne irgendwo hinzuführen. Letztendlich
verursacht die damit verbundene Anstrengung nur noch weiteres Leid und mehr Unzufriedenheit.
Auf dieser Jagd nach Glück und Erfüllung laufen wir ziellos herum, sind blind für die Möglichkeit,
dass all das, nachdem wir suchen, bereits vollständig in uns präsent ist. Dabei geht es nicht um eine
egoistische Denkweise von: „Mensch, wie cool! Alles was ich brauche habe ich !“ Sondern eher um
ein plötzliches, direktes Erleben von: „Oh, was ich dachte, das ich bin, umfasst ja alles und jeden!“
Dieser Vorgang entwickelt sich durch eine Veränderung innerhalb der persönlichen Identität. In
dieser Identität verwandelt sich das begrenzte, festgefügte Selbsterleben eines Individuums hinein
in die Erfahrung zu einer offenen, lebendigen und sich in gegenseitiger Abhängigkeit erfahrenden,
allem verbundenen Ganzheit. Diese ganzheitliche Erkenntnis geht mit einem Gefühl des Einsseins
mit allen Erscheinungen unserer Welt sowie natürlicher Freude einher und mündet in einen sich
selbst verstärkenden inspirierenden Zustand unmittelbaren Erlebens.

Wir entdecken, dass unser Leid und unsere Unzufriedenheit nicht in dem Versagen gründete, jenes
zu erreichen was wir uns gewünscht hatten, sondern darin, dieses „Suchende in uns“ nicht wirklich
von Grund auf verstanden zu haben. Wenn wir bezüglich des Lebens generell nicht verstehen, wer
oder was wir sind, versuchen wir ständig, die hierdurch bedingte existenzielle Angst oder dieses
fundamentale Gefühl des Getrenntseins zu besänftigen. Um uns von dem grundlegenden Dilemma
dieser Erfahrung abzulenken tauchen wir in einen steten Strom von egozentrischen Befriedigungen
ein. Wir versuchen unsere Überzeugung von einer „unabhängigen Existenz“ erfolgreich zu
untermauern. Bis zu einem gewissen Grad mögen einige Individuen von diesem Spiel der „Selbst“-
Befriedigung dauerhaft überzeugt sein, aber tatsächlich bietet dieses Spiel irgendwann keine
zufriedenstellende Ablenkung mehr. Das geschieht meist dann, wenn die Person irgendwann das
Gefühl beschleicht, bereits „Alles” bekommen oder geschafft zu haben. Im Endeffekt empfindet
diese Person dann eine existenzielle Leere bei allem, was sie oder er „erreicht“ zu haben scheint.
Noch einmal: Der Grund für unser Leiden ist nicht ein generelles Versagen bei den
Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt, sondern dass uns das grundlegende Verständnis
dafür fehlt, wer wir wirklich sind und in welcher Beziehung wir zum Leben stehen. Ohne Frage
sind wir in irgendeiner Art und Weise existent, aber es bestehen viele Zweifel darüber wer oder was
wir wirklich sind.

Gleich in den ersten Jahren unseres Lebens entwerfen wir viele unterschiedliche Beschreibungen
für unser Selbst. Oft werden wir von diesen bruchstückhaften Selbst-Bildern für den Rest unseres
Lebens beeinflusst. Jenes Selbst, das wir annehmen zu sein, ist vollständig von unseren Gedanken
erschaffen. In unserem Leben durchleiden wir die Auswirkungen unterschiedlichster Prägungen und
Einflüsse. Dennoch bestimmen unsere Gedanken bezüglich dieser Erfahrungen den Kurs darüber,
wie diese Erfahrungswerte uns beeinflussen. Trotzdem besteht die Möglichkeit wahrhaft spiritueller
Erfahrungen. Das spirituelle Sein hat eine tiefgreifende Bedeutung für unser Leben. Gleichzeitig
dazu besteht jedoch auch jenes erzeugte Selbst-Bild von uns, welches auf unsere Erziehung und
genannte sonstige Prägungen zurückgreift. Letzteres wird im herkömmlichen Sprachgebrauch und
der Psychologie als „Ego“ bezeichnet. Das spirituelle Sein hingegen wird durch die Erleuchtung
sebst offenbart.

Um es klarzustellen: Unser Gefühl für ein Selbst ist das Ergebnis unserer Gedanken. Wenn also
unser Leiden und allgemeines Unwohlsein im Leben durch unsere falschen und eingebildeten
Gedanken bezüglich eines Selbstgefühls verursacht werden, dann wäre es doch weise, umfassender
die Gesetzmäßigkeiten der Gedanken sowie deren Macht zu verstehen. Wir könnten herausfinden,
wie Gedanken unserem allgemeinen Wohlbefinden Gutes tun oder ihm schaden. Vor mehr als 3000
Jahren kamen die östlichen Traditionen tatsächlich zum gleichen Schluss. Die Meister der großen
Traditionen lehren, dass sich das Tor zur Erleuchtung öffnet, wenn wir die Gesetzmäßigkeiten der
Gedanken verstehen. Durch dasselbe Tor müssen wir schreiten, wenn wir als Ziel die Erleuchtung
und persönliche Freiheit vom Leiden erreichen wollen.

Heutzutage verweisen viele herausragende Lehrer auf die Wichtigkeit unsere Gedanken und ihre
Botschaften zu hinterfragen und insbesondere negativen Gedanken eher misstrauisch zu begegnen.
Andere sprechen davon, uns selbst von den endlos erscheinenden emotiongetriebenen, Angst und
Leid verursachenden Geschichten zu befreien, die in unserem Geist durch Gedanken, innere Bilder
und Glaubensvorstellungen gesponnen werden. Oft wird gelehrt, nicht zu glauben, was die
Gedanken vermitteln. Insbesondere wird diese Empfehlung bei negativen Gedanken gegeben, die
Angst, Sorgen und deprimierende Gefühlszustände vermitteln. Dies ist sicherlich ein guter Rat und
wir sollten uns alle bewusster sein, auf welche Art und Weise wir uns durch unsere flüchtigen
Gedankenabläufe selber schlecht machen oder in uns Angst erzeugen. Möglicherweise halten wir
uns einfach zu viel mit Bedauern oder Scham in Projektionen einer negativen Zukunft oder über
nicht mehr gut zu machende Ereignisse in der Vergangenheit auf. Es ist einfach unbezahlbar,
schlicht durch das Erkennen unserer negativen Gedankenmuster zu lernen, uns von diesen
unangenehmen Gefühlszuständen befreien zu können. Bevor wir aber über unsere Befreiung von
diesen negativen Gefühlszuständen nachdenken können, müssen wir deren Herkunft genauer
verstehen.

Vor 2500 Jahren wies Buddha zurecht darauf hin, dass wir das Resultat unserer Gedanken sind.
Andere sagen auch, wir wären das Produkt unserer Erfahrungen. Ich würde hinzufügen, dass wir
das Ergebnis dessen sind, was wir über unsere Erfahrungen denken. Das bedeutet wiederum, dass
so wie wir uns fühlen – also unser gegenwärtiger Gefühlszustand – in erster Linie von unseren
Gedanken diktiert wird. Wenn das zutrifft, ist es nötig diesen Umstand für uns selbst
herauszufinden. Der beste Weg dies zu tun, ist die Gesetzmäßigkeiten unserer Gedanken einer
genaueren Untersuchung zu unterziehen.
Um sicher zu gehen, dass wir ab hier von „der gleichen Sache” bezüglich des Gedankenthemas
sprechen, schlage ich vor uns auf folgende kurze Übung einzulassen. Bitte gehe an die folgende
Übung nicht nur durch bloßes Lesen, sondern aktiv-spielerisch heran. Ich versuche hier nicht ein
trockenes, theoretisches Verständnis des Geistes zu vermitteln, sondern vielmehr zu einer
gründlichen, wahrhaften Untersuchung dieses Themas einzuladen. Durch diese zielgerichtete
Untersuchung werden die hier gewonnenen Einsichten zu einer notwendigen Grundlage für ein auf
Erfahrung beruhendes Verstehen. Dies ist für eine Bewertung der Inhalte in später folgenden
Kapiteln schlicht notwendig.

Nimm Dir einen Moment und bemerke deine im Geiste vorüberziehenden Gedanken. Ähnlich
dem, als wenn du von deinem Standpunkt aus in den Himmel schaust und wahrnimmst, wie die
Wolken vorüberziehen. Die vorbeiziehenden Wolken repräsentieren deine Gedanken, die durch
den Gewahrseinsraum gleiten. Bewerte die Gedanken nicht und verstricke dich nicht in deren
Geschichten. Beobachte einfach, was im Geist auftaucht und wieder verschwindet.

Vielleicht bemerkst du dabei in der gegenwärtigen Erfahrung zwei bezeichnende Aspekte: (1) die
beobachteten Gedanken und (2) das bewusst Beobachtende dieser Gedanken. Das Beobachtende
erkennt die vorüberziehenden Wolken. Gedanken kommen und gehen, aber die erkennende Qualität
innerhalb des beobachtenden Gewahrseins scheint weiter präsent zu sein. Wir können hier auch die
Analogie eines Spiegels und seiner Spiegelungen verwenden: Als teilnehmendes Beobachtende
deiner Gedanken bist du wie der Spiegel und die Gedanken sind wie die in ihm erscheinenden
Spiegelungen.

Nimm Dir noch einmal ein paar Minuten und beobachte jetzt einfach deine Gedanken wie sie
auftauchen, als ob du der Spiegel wärest, ohne jedwedes Interesse an dem Was-auch-immer als
Spiegelung auftaucht.

Im folgenden nun werde dir selbst als Beobachtendes gewahr, anstatt deine Gedanken zu
beobachten. Hier scheinen die im Geist auftauchenden Ereignisse und deren Beobachtendes
gleichzeitig wahrgenommen werden zu können. Nimm dir ein paar Augenblicke und bemerke
diese erkennende Qualität in deinem Geist. Wenn du im Kopf merkst, dass sich deine Innen-
wahrnehmung dabei so verändert, dass sich der innere Blick etwas hinter die Position der Augen
verschiebt, kann das hilfreich sein. Dein Gewahrsein ist jetzt das Schauen, welches deine
Sehwahrnehmung annimmt. Bei Tageslicht oder in einem hellen Raum schließe deine Augen und
lenke deine Aufmerksamkeit auf die Innenseite deiner Augenlieder. Bemerke, wie das äußere Licht
auf – und durch deine Lieder scheint und so den inneren Anblick eines diffusen orange-roten
Lichtes ermöglicht. Versuche ein Gefühl dafür zu entwickeln, wo Du dich bezüglich des Lichtes
im Inneren deines Kopfes befindest. Vielleicht empfindest Du dich gerade einige Zentimeter hinter
deinen Augen und schaust von dort nach vorne zum Licht. Oder Du könntest dich mit der
Wahrnehmung eher weiter oben direkt im Licht befinden. Du könntest dich in deiner
Wahrnehmung aber auch weiter hinten innerhalb deines Kopfes befinden und von dort mit einem
gewissen Abstand nach vorne in das Licht schauen.

Befindet sich zwischen Dir als Beobachtendes und der Licht-Erfahrung ein Abstand?

Was auch immer deine Erfahrung ist, zumindest hast du einen klares Gefühl dafür, einerseits
wahrnehmend, erkennend und andererseits das Wahrgenommene selbst, das Erkannte,
beziehungsweise das Licht zu sein. Als nächstes lass uns das Objekt austauschen und jetzt einen
einzelnen Gedanken betrachten.

Lasse nun mit geschlossenen Augen das geistige Bild eines Hundes entstehen. Betrachte den Hund
und auch dein Gefühl dabei, das Beobachtende des vorgestellten Bildes zu sein. Verschiebe nun
deine Aufmerksamkeit hin zu dir selbst als Beobachtendes. Bemerke jetzt, was mit dem geistigen
Bild des Hundes geschieht.

Wenn sich deine Aufmerksamkeit zu dem subjektiven Beobachter oder Zeugen-Blickwinkel des
Wahrnehmenden verschiebt, verschwimmt entweder das geistige Hundebild oder es verschwindet
völlig. Umgekehrt verschwindet dein Gefühl dafür, das Beobachtende zu sein, je mehr du auf
spezifische Einzelheiten deines Hundebildes achtest. Du kannst diese Gesetzmäßigkeit für
Entspannung und Erleichterung nutzen, wenn Dich besondere Gedanken oder Sorgen bedrücken.

Beobachte den beunruhigenden Gedanken und kehre dann die Aufmerksamkeit zu dir selbst als
Beobachtendes – das Bezeugende – des Gedanken um. Verschiebe deine Aufmerksamkeit
mehreremale vom Zeuge-betrachtet-den-Zeugen-Blickwinkel hin zum Zeuge-beobachtet-den-
Gedanken-Blickwinkel. Das sollte die Intensität der mit den Gedanken verbundenen
Unannehmlichkeiten deutlich verringern.

Diese Methode ist auch bei unterschiedlichen emotionalen Zuständen wirksam.

Hoffentlich hast Du unmittelbar die „beobachtende, erkennende“ Qualität bemerkt, die deine
Gedanken und sonstigen Beobachtungen wahrnimmt. Das ist sehr genau von der jeweiligen
Position aus möglich, von der aus Du schaust und wahrnimmst. Die verbleibenden Teile dieses
Buches erforschen jene beobachtende, erkennende Qualität des Geistes, seine „wissende” Natur
(also Gesetzmäßigkeiten) und wie sie mit spiritueller Erleuchtung verbunden sind. Du wirst lernen,
dass das beobachtende Bewusstsein nicht von Gedanken, Gemütszuständen, Gefühlen,
Sinneseindrücken oder gar einem Gefühl für die Identität seines Seins abhängt. Es erscheint als
andere Dimension und ist dein wahres und unwandelbares spirituelles Wesen. Als solches bist du
selbst immer und ständig nichts anderes als das unwandelbare beobachtende Wissen innerhalb
jeglicher Erfahrung.

Lass uns einen weiteren Blick in unseren Geist werfen:

Suche dir für diese Übung einen ruhigen Ort zum Sitzen, der frei von Ablenkungen ist. Bemerke
wiederum deinen Geisteszustand, die Gedanken und inneren Bilder, wie sie in deinem Gewahrsein
auftauchen und sich wieder auflösen. Schaue, ob du eine gelegentliche Lücke zwischen dem
Vergehen eines Gedankens und dem Auftauchen des nächsten bemerkst, die frei von Gedanken ist.
Diese Lücke dauert vielleicht so um die ein oder zwei Sekunden, aber sie kann unmittelbar erkannt
werden. Wenn dir das einmal gelungen ist, wiederhole es und beobachte diesmal, wie das pure
Erkennen bleibt, egal ob da ein Gedanke gegenwärtig ist oder nicht. Wenn nötig, arbeite für einige
Minuten daran bis deutlich wird, dass du als unwandelbar erkennendes Beobachten gegenwärtig
bist, gleichgültig ob Gedanken auftauchen oder abwesend sind.

Alles Streben spiritueller Traditionen, die den Zustand von Erleuchtung im Blick haben, trachten
nach der Klärung dessen, was es mit dem Beobachter oder der direkt wahrnehmenden, erkennenden
Qualität des Geistes auf sich hat. Ein paar Fragen sind hier zu erwägen: Ist diejenige Person, welche
die Gedanken beobachtet oder erkennt, selbst ein Gedanke? Ist dieses beobachtende Gewahrsein
eine Funktion des Gehirns oder ist es eine unabhängige Instanz, die von Körper und Hirn getrennt
ist? Diese wahrnehmende und erkennende Qualität erscheint ja unabhängig und getrennt von
Gedanken, weil sie eben Gedanken beobachten kann. Bedeutet das dann, dass sie keiner
Gewöhnung oder Erziehung durch gedankliche Aktivitäten unterliegt?
Im Rückblick und aus den Erfahrungen der oben beschriebenen und wiederholt durchgeführten
Übungen und mit den gerade gestellten Fragen im Hinterkopf könnte es möglich sein,
weiterführende Erfahrungen zu machen und eine intuitive Einsicht in das Wesen des Gewahrseins
und Seins zu bekommen. Wir müssen hier begreifen, dass wir nicht die beobachteten Gedanken
oder Bilder sind, sondern das Erkennen unseres Gewahrseins selbst.

Wenn wir die Gesetzmäßigkeiten dieses Gewahrseins untersuchen, finden wir keine anderen festen
Qualitäten als jenes Vermögen zu beobachten. Die Qualität des Beobachtens erscheint andauernd
aktiv, im Jetzt gewahr zu sein. Auch wenn wir in Erinnerungen schwelgen, ist jenes Betrachten der
Gedanken von „damals“ im stets fließenden Augenblick nur und ausschließlich JETZT. Manchmal
sagen wir, dass unser Geist von der Vergangenheit eingeholt wird, wenn Erinnerungen an die
Oberfläche kommen,. Aber die Erinnerung selbst geschieht in erster Linie jetzt, wie ein neu und
frisch geschaffenes geistiges Bild auf der Grundlage einer vergangenen Erfahrung. Das Beobachten
dieser Erinnerung findet immer in der Gegenwart statt. Wir können diese Qualität des
unwandelbaren Schauens ebenso bei Gedanken an die Zukunft beobachten. Gewahrsein findet stets
in der fließenden Gegenwart statt. Eine andere Möglichkeit besteht nicht.

Das unveränderliche und beobachtende Gewahrsein ist nicht nur als Betrachter von Gedanken und
geistigen Erscheinungen gegenwärtig, sondern auch als natürlich betrachtendes Gewahrsein der
Sinne und sinnlichen Erfahrungen der „äußeren Welt“. Im Rahmen unserer Erfahrungen verfügen
wir über unsere fünf Sinne. Das eigentliche Wesen, die ursprüngliche Natur dieser fünf
Sinneswahrnehmungen erfassen wir jedoch nicht. Das Erleben unserer fünf Sinne ist generell frei
von Gewohnheiten, Gedanken und diversen unterschiedlichen Geschichten. Die bloße
Sinneserfahrung geht unseren Gedanken und Benennungen eben dieser Sinneserfahrungen ständig
voraus. Diese „nackte“ Sinneserfahrung ist rein und frei von jeglicher Beschreibung oder
Bewertung. In der folgenden Mikrosekunde beginnt dann jedoch sofort ein Einordnen von
Bedeutung und eine kognitive Festschreibung. Registriere während des Betrachtens dessen, was du
gerade siehst: Deine Gedanken haben keine Auswirkung auf Farben und Beschaffenheiten des
rohen, wahrgenommenen Seh-Eindruckes. Als nächstes bemerke die selbe Sache mit dem Hören.
Das gleiche trifft für alle körperlichen Sinne inklusive Geschmack und Geruch zu. Was also in
deinem Geist geschieht hat keine Auswirkungen auf das grundlegende Funktionieren der fünf
Sinne. Die fünf Sinne sind ohne Verzug unmittelbar präsent, ohne erst um Erlaubnis des Geistes zu
fragen, vergleichbar mit deiner Haut.

Ein weiterer Bestandteil des Gewahrseins, der in der sinneswahrnehmenden Erfahrung gegenwärtig
ist, ist der direkte Beobachter der Erfahrung, die wir bereits besprochen haben. Jemand oder Etwas
ist sich der rohen Wahrnehmungserfahrung der fünf Sinne bewusst. Lass es uns „das Gewahrsein“
nennen. Es ist unser Beobachter aus den vorangegangenen Betrachtungen, nämlich jenes
unmittelbar erkennende Wissen, das du tatsächlich bist. Dieses Gewahsein ereignet sich nicht nach
einer Sinneswahrnehmung, wie der denkende Geist, sondern es ist im allerersten wahrnehmenden
Augenblick der Erfahrung direkt gegenwärtig. Es ist also nicht der Geist oder sind nicht die
Gedanken selbst, von sich aus, sondern diese Qualität ist sogar bereits vor-gedanklich vorhanden.
Was wir hingegen unter dem Begriff Geist verstehen, meint hier die bloßen Funktionen des
Denkens, der Erinnerung und unserer bildlichen Vorstellungskraft. Dieses bezeugende Gewahrsein
ist auch da, wenn der Geist sich ereignende Sinneseindrücke auswertet und deutet. Es bleibt auch
gegenwärtig, nachdem Denken und Sinneseindrücke erloschen sind. Das Gewahrsein ist auch in
völliger Geistesruhe weiterhin da – es nimmt eben jenen „Ruhezustand“ wahr. Wir können also
sicher rückschließen, dass das Gewahrsein vom Geist, den Gedanken oder bildlichen Vorstellungen
unabhängig ist. Wie die fünf Sinneswahrnehmungen ist das Gewahrsein selbst, ähnlich dem Mark
im Inneren der Knochen, unmittelbar präsent und ständig gegenwärtig.
Je länger wir im Gewahrseinszustand des Beobachtens innerer und äußerer Ereignisse verweilen,
desto mehr verstärkt sich ein sicheres Gefühl für diese Gegenwart in unserem Sein. Die
unwandelbare Natur des Gewahrseins hat die Qualität einer steten unmittelbaren Gegenwärtigkeit.
Es ist unsere stille und ruhige Ecke im steten Jetzt. Es ist unser wahrhaft unwandelbares Sein im
Jetzt des steten Wandels. Es ist das gleiche ursprüngliche Gefühl für das Eins-Sein mit dem Jetzt,
welches wir schon als kleine Kinder hatten, als Jugendliche, junge Erwachsene und werauchimmer
wir heute sind. Wenn wir auf unsere frühesten Jahre zurückschauen, so scheint es, als ob wir
niemals nicht wir selbst gewesen wären. Wer sonst könnten wir sein? Wir mögen in Bezug auf die-
oder denjenigen, die oder der wir glauben zu sein, allerlei Selbst-Definitionen entwickelt haben.
Wie eine beständige, bewusste Gegenwart, besteht dennoch ein grundlegenderes Gefühl dafür
schlicht ein jemand zu sein, der sich im Laufe der Zeit nicht wirklich verändert hat. Viele ältere
Menschen haben immer wieder erzählt, dass sie sich als die gleiche Person empfinden, wie zu der
Zeit, als sie jünger waren. Unsere Rollen mögen sich ändern, aber jenes diese unterschiedlichen
Rollen im Leben erfahrende Gewahrsein selbst ändert sich nicht. Undefiniertes Sein hat eine
durchtragende, kontinuierliche Qualität von direktem Gewahrsein. Wenn wir vollständig erkennen
würden, was dieses Sein in all seinen spirituellen Verzweigungen ist und es aus ebendiesem
Blickwinkel betrachten würden, wären wir erleuchtet.

Am grundlegensten ist unser Gefühl dafür, ein existierendes Wesen zu sein. Diese Qualität von Sein
oder bloßem Existieren scheint nicht von irgendetwas Materiellem abhängig zu sein, weder davon
wie wir aussehen, noch wie wir uns fühlen, noch wie wir handeln. Diese Qualität wird ebensowenig
von unserem Geist beeinflusst, noch wie wir über uns selber denken. Der Satz, „Ich denke, also bin
ich“, erklärt nicht was dem Denken vorausgeht. Wir wissen nicht, dass wir existieren, nur weil wir
denken: Wir wissen, dass wir existieren, weil wir gewahr sind. Das Denken selbst stellt genauso
wenig wie unsere fünf Sinne eine Bestätigung unserer Existenz dar. Das Denken ist nicht der
Beweis dafür. Das Gewahrsein des Denkens als Vorgang, das Gewahrsein unseres Fühlens oder der
Sinneseindrücke allein ist unser Beweis für das Sein. Das Gewahrsein selbst ist grundlegender. Sein
bedeutet gewahr zu sein. Gewahrsein ist Sein. Gewahrsein wohnt unserem Sein inne, ist untrennbar
mit dem Sein verbunden.

Wenn wir hin und wieder Zeit in Kontemplation verbringen oder schlicht unsere mentalen Vorgänge
betrachten, können wir in Momenten der Ruhe, frei von Gedanken bemerken, dass da ein nacktes
und klares Gefühl von gewahrnehmendem Sein ist. Von diesem grundlegenden Seinsgefühl aus
können wir leicht bemerken, dass es kontinuierlich und unmittelbar gewahr ist. Ebenso bemerken
wir, dass da eine Kraft der Aufmerksamkeit zu sein scheint, durch die wir die Art erschaffen, wie
unsere Erfahrung schließlich in Erscheinung tritt. Wir können beispielsweise unsere
Aufmerksamkeit auf negative Gedanken richten und durch weitergehende Fokussierung auf
negative Gedanken negative Stimmungen und Gefühle entwickeln. Genauso können wir unsere
Aufmerksamkeit auf positive Gedanken richten und nachfolgend positive Stimmungen und Gefühle
erleben. Unsere Aufmerksamkeit ist eine innewohnende Kraft des Gewahrseins. Die Kraft der
Aufmerksamkeit zeigt sich unmittelbar in unserer körperlichen, materiellen Erfahrungswelt. Durch
das Fokussieren unserer Aufmerksamkeit auf das Erreichen eines Lebenszieles verwirklichen wir
von jenem ersten Gedanken ausgehend unsere jeweilige Realität. Alles, was wir durch Anstrengung
im Leben erreichen können, wird wortwörtlich durch die Kraft der Aufmerksamkeit erzielt.

Das heißt also, Sein beinhaltet die Qualität von Gewahrsein. Gewahrsein enthält die Kraft der
Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit wirkt schließlich wie ein direkter Verbindungskanal für die
Absicht, die wiederum selber den schöpferischen Impuls darstellt, welcher aus dem bloßen Sein
heraus die erschaffenden Vorgänge des Lebens in der Welt ermöglicht. Absicht entsteht zuerst als
Gedanke, als die beabsichtigte Idee. Das Handeln selbst entwickelt sich aus der Absicht, ohne
Zögern zur Tat zu schreiten.
Es ist wichtig einen Zugriff auf das Verständnis für das Wesen dieser unserer Absichten zu erhalten.
Oft wird unser Leid durch die Absicht verursacht, einem Teil der Realitäten unserer Lebenssituation
zu widerstehen. Wir erschaffen unser eigenes Leiden durch die Absicht, Dinge anders haben zu
wollen als sie sind. Unsere fruchtlosen Absichten führen hierdurch zu zunehmender Frustration. Wir
fühlen uns entäuscht oder depressiv durch Ereignisse, die nicht so laufen wie beabsichtigt.
Absichten halten uns den ganzen Tag „am Laufen“. Ein lohnenswerter Versuch könnte vielleicht
sein, dich selbst über den ganzen Tag bezüglich deiner Absichten zu hinterfragen. Bemerke
beispielsweise, wie viele Gefühlszustände direkt mit den selbst geschaffenen Absichten verbunden
sind. Hier, auf diesem Feld Klarheit zu gewinnen kann eine große Erleichterung verschaffen, wenn
wir erkennen, was genau wir durch unsere Absichten für uns erschaffen. Unsere individuelle
Weltsicht insgesamt, sei sie positiv oder negativ, beruht grundlegend auf unseren Gedanken und
Absichten. Behalten wir dies im Hinterkopf, während wir darauf schauen, was hier genau diese
Absichten und Gedanken erkennt und bemerkt.

Nimm dir etwas Zeit und betrachte deine Gedanken und Absichten, wie sie kommen und wieder
gehen. In dem Augenblick des Gewahr werdens eines Gedankens verschiebe deine
Aufmerksamkeit abrupt hin zu dir selbst als beobachtendes Gewahrsein. Was geschieht mit jenem
Gedanken oder jener Absicht, wenn du dich plötzlich auf dich selber als Beobachterin oder
Beobachter eingestellt hast?

Wenn Du ein wenig mit diesem „Verschieben” übst, wirst Du merken, dass der benannte Gedanke
schwindet, sobald sich deine Aufmerksamkeit erfolgreich auf dich selbst als beobachtendes
Gewahrsein gerichet hat. Es ist wie mit dem inneren Bild des Hundes in einer der vorherigen
Übungen. Das Umkehren des Gewahrseins auf das gewahr Seiende ist der eigentliche Schlüssel. In
einigen tibetisch buddhistischen Meditationstraditionen wird dieses Vorgehen als sich von selbst
befreiende Gedanken. bezeichnet. Durch diese Methodik befreien wir uns von emotionalem und
psychischem Leid. Der allerwichtigste Bestandteil bei diesem Herangehen ist die Kraft der
Aufmerksamkeit. Wir verschieben unsere Aufmerksamkeit hin zu dieser rein beobachtenden
Qualität des Gewahrseins, welche das Beobachte oder Wissende unserer Gedanken selbst ist.
Unsere Aufmerksamkeit hält unsere Gedankenkonstrukte, Geschichten und Gefühlszustände
aufrecht und verfestigt sie. Durch die Umkehr der Aufmerksamkeit weg aus dem Gedachten heraus
wird dieses konzeptuelle Konstrukt nicht erneut aktiviert und hierdurch nicht mehr weiter
aufrechterhalten.

Lass uns weiter klären, wie dies praktisch angewendet werden kann.

Sitze beispielsweise bequem auf einem Stuhl oder Kissen. Schließe deine Augen und erinnere ein
Gefühl von Ärger. Während du diese Empfindung von Ärger erfährst, beobachte das Gefühl und
wie sich dein Körper anfühlt. Dann, nach einer kurzen Weile, wende deine Aufmerksamkeit
deinem Gewahrsein zu, welches das Gefühl von Ärger beobachtet. Der Ärger ist das Objekt der
Beobachtung und dein Gewahrsein ist das schauende Subjekt. Du schaltest nun deine
Aufmerksamkeit vom Objekt zum Subjekt um. Bemerke, was sich hierbei verändert, während du
so vorgehst.

In den meisten Fällen wird der Ärger schwächer oder verschwindet ganz. Wenn du geübter im
Umgang damit wirst, versuche es öfter, dann beispielsweise mit dem Gefühl von Traurigkeit.
Danach probiere es weiter mit dem Gefühl von Angst und anschließend mit diversen
Sorgengedanken. Überlege, welche Gefühlszustände die herausfordernsten in deinem Leben zu sein
scheinen. Anschließend führe die Übung mit jedem einzelnen dieser speziellen Zustände durch.
Indem du diese Übung wieder und wieder praktizierst schaffst du es hoffentlich, aktuelle
Erfahrungen von negativen Gefühlszuständen im Augenblick ihres Entstehens zu erkennen und
loszulassen. Das schlichte Verweilen im Zustand eines entspannten und gelösten Beobachtens
gegenüber negativen Gefühlszuständen ist das, was hier letztendlich zu lernen ist. Mit zunehmender
Übung werden negative Gefühlszustände gleich im ersten Augenblick ihres Entstehens bemerkt,
ohne dann deren Opfer zu werden,

Ich fasse den hier besprochenen umfassenden Vorgang zusammen.

Am Anfang ist das Sein. Wir bemerken, dass das Sein gewahr ist und aufgrund der
Geistesfunktionen die Kraft der Aufmerksamkeit und der Absicht enthält. Durch die Absicht,
Begriffe und Vorstellungen zu bilden, entstehen Gedanken. Dann befeuern wir diese
Gedankentätigkeit weiter, indem wir die Aufmerksamkeit auf sie richten. Damit erschaffen wir
Geschichten und Abläufe in unserem Geist und lassen daraus Handlungen in unserem Leben
entstehen. Dies ist der gleiche allgemeine Mechanismus, der dafür sorgt, dass Leid immer wieder
neu entsteht. Dieser Mechanismus bedeutet im Kern, dass negative Gedanken überhaupt nur
dadurch aufrechterhalten werden, dass sie Aufmerksamkeit erhalten. Ohne die beständige geistige
Aufmerksamkeit für Gedanken lösen sich diese einfach auf. Dies gilt auch für jene besonderen
Gedanken, die allgemein als “Probleme” bezeichnet werden. Probleme existieren alleine in unseren
Köpfen. Im Universum sind keine Probleme zu finden. Selbst wenn du überall herumschaust und
suchst wirst du nirgendwo ein Problem „da draußen“ finden, weil alle Probleme nur „hier drinnen“
existieren. Zweifelsohne gibt es Situationen in unserem Alltag, die jemandes verstärkte
Aufmerksamkeit erfordern. Aber diese Situationen werden nur dann zu einem Problem, wenn sie
besonders bemerkt und dann darüber verstärkt nachgedacht wird. Es ist das darüber nachdenken,
welches das eigentliche Problem darstellt und den Stress verursacht, aber nicht die betreffende
Situation selbst.

Was wäre, wenn wir unsere Aufmerksamkeit einfach passiv inmitten allen Gewahrseins als
aufmerksame Betrachtung oder leeres Gegenwärtigsein ruhen ließen, so wie ein Kleinkind ein
faszinierendes Ereignis betrachtet? Anstatt unsere Aufmerksamkeit auf Gedanken zu richten,
bleiben wir schlicht in der völligen Offenheit und Gegenwart des beobachtenden Gewahrseins.
Wenn der Hang zum zwanghaften Wiedereinstieg in den Denk-Modus nachlässt, musst du deine
Aufmerksamkeit nicht mehr auf irgendetwas ausrichten, um in gedankenfreiem Gewahrsein zu
verweilen. Die gerichtete Aufmerksamkeit wird schließlich so ähnlich wie ein gut erzogener Hund,
der gehorsam an des Halters Seite sitzt und brav auf den nächsten Wink für eine folgende Aktion
wartet. In den meisten buddhistischen Schulungen, wie im Zen oder in bestimmten tibetischen
Traditionen, ist genau dieses lebendig wache „Ruhen und Entspannen des Gewahrseins inmitten
aller Wahrnehmung“ die zentrale Praxis. Dies nun ist nicht die Erleuchtung. Allerdings beschreibt
genau dieses Vorgehen den Rahmen, in dem sich wesentlich tiefere Verwirklichung und Einsicht
entwickeln kann. Aus diesem Kontext heraus erfährt sich unmittelbares Erkennen auf spontane
Weise. Wenn du mit dieser Praxis vertrauter wirst, fährst du einfach darin fort in diesem und als
dieses natürliche Beobachten zu verweilen. Wenn der Geist in diesem entspannten Zustand klar
aufmerksam und offen ist, spürst du eine geräumige und durchscheinende Qualität von Sein. Diese
Qualität ist gleichzeitig sowohl gelassen, als auch hellwach und gleichermaßen den Bedürfnissen
deiner Beziehungen zur Umwelt und den Menschen zugewandt.

Frage: Was ist ein Gedanke?

Antwort: Ein Gedanke ist geistige Energie mit einer Botschaft, wie eine plötzlich entdeckte Wolke,
auf der etwas geschrieben steht. Ihrem Wesen nach ist ein Gedanke eine halbtransparente,
durchscheinende Information. Diese Information könnte auf etwas Wichtiges hinweisen, aber
genauso gut eine Form sinnloser Ablenkung sein. In beiden Fällen verfügt der Gedanke über keine
tatsächliche Substanz. Durch das Lenken unserer Aufmerksamkeit auf den Gedanken verfestigt er
sich zunehmend. Wenn unbeachtet, klingt er ab und verschwindet von alleine.
Frage: Was kann ich tun, wenn mein Geist so dermaßen voller Gedanken ist, dass ich gar kein
Beobachtendes bemerke, was getrennt davon den Gedanken gegenüber steht?

Antwort: So geht es bisweilen allen. Wenn du voller Gedanken bist, ist es manchmal besser die
Aufmerksamkeit auf den Körper oder sinnliche Erfahrungen auszurichten, anstatt auf den Geist
selbst. Ich empfehle den Fokus auf das Atmen zu legen.

Während du sitzt oder liegst richte deine Aufmerksamkeit schlicht auf die Erfahrung des Atmens.
Empfinde, wie der Atem durch deine Nasenlöcher strömt und verfolge, wie er deine Lungen füllt.
Wenn das Einatmen seine natürliche Fülle erreicht, bemerke das beginnende Ausatmen durch die
Nasenlöcher und fühle das beginnende Sich-leeren und Entspannen der Brust. Sowie du ausatmest,
verlangsame dein Atmen und verlängere das Ausatmen hinein in vollständige Entspannung. Warte
kurz bevor du wieder einatmest. Spüre die Erfahrung des Entspannens für den kurzen Augenblick
dieser kleinen Atempause. Fahre dann mit dem nächsten Atemzyklus fort. Fahre damit gut 5
Minuten oder so lange fort, bis du dich entspannter fühlst. Kehre anschließend wieder zu der
Übung des „Gedanken-Beobachtens“ zurück.

Frage: Ist das Ziel dieser Übungen sich aller Gedanken und des Denkens zu entledigen?

Antwort: Nein, überhaupt nicht. Gedanken sind die natürliche Ausdrucksweise des Geistes. Aber
viele von uns merken einfach nicht, wie wir unsere eigenen unangenehmen Geisteszustände selbst
erschaffen. Und wir tun dies durch unsere offensichtlich willentlich hervorgerufenen Denkprozesse.
Wir geben unseren Mitmenschen oder unserer Umwelt die Schuld dafür. Unser eigenes Dazu-tun
wird von uns völlig übersehen. Diese Einmischung geschieht eben genau durch unser Denken, dem
Beurteilen und unsere Versuche die Welt so zu beeinflussen, wie wir sie haben wollen. Wenn wir
uns jedoch immer mehr unseres natürlichen Zustandes des beobachtendes Gewahrsein-Seins
bewusster werden, identifizieren wir uns hierdurch von alleine weniger mit unseren Gedanken. In
uns entwickelt sich zunehmend jener Modus, mehr das Beobachtende unserer inneren und äußeren
Erfahrungen zu sein. Daher erscheinen unsere Gedanken schließlich weniger zusammengezogen
und verfestigt zu sein. Wir können beginnen, durch den Dunst unserer Gedanken und Geschichten
hindurchzuschauen. Wir erfahren unsere Sinneswahrnehmungen als lebendiger und belebender.
Farben und Klänge erscheinen intensiver und klarer. Unsere Sinne funktionieren hierdurch nicht
etwa besser, unsere Aufmerksamkeit hingegen entspannt sich hinein in einen Zustand nicht-fixierter
Offenheit. Sowie wir uns immer weiter in diese neue Offenheit hinein entspannen, verlangsamen
sich die umtriebigen geistigen Aktivitäten und eine natürliche Gelassenheit des Geistes breitet sich
aus. Eine schöpferische und spielerische Intuition entfaltet sich. Sie scheint viel von dem
zwanghaften Denk-und-mache-dir-Sorgen-Modus zu ersetzen, den wir so oft erleben. Es ist dieser
sorgenfreie Zustand des Geistes, der das Leben mit mehr Freude erfahren lässt und es als weniger
„anstrengend“ erleben lässt. Das Leben scheint zu fließen, ohne in die eine oder andere Richtung
gezwungen werden zu müssen.

Frage: Gibt es eine Methode oder Anwendung bezüglich dessen, was du uns hier mitgeteilt hast, die
dabei helfen kann ein allgemeines Gefühl von Rastlosigkeit und Unwohlsein zu verringern?

Antwort: All die verschiedenen Ursachen von Unwohlsein und Ruhelosigkeit werden durch unsere
Überzeugungen hervorgerufen. Diese sind in unseren Gedanken verankert. Stelle dir in just diesem
Moment vor, dass plötzlich alle deine Überzeugungen und Bewertungen zu allem verschwinden und
dein Geist gedankenfrei wird. Weil dein Geist frei von Gedanken wäre, gäbe es in deinem Geist
keine Sorgen oder Probleme. Du hättest keine Theorie von Verhältnismäßigkeiten oder irgendetwas
Absolutem. Du hättest kein Gedankenkonstrukt von Selbst oder anderen. Du hättest kein Konzept
von Bindung oder Befreiung. Du hättest kein Gefühl dafür, etwas zu „suchen“ und auch kein
Empfinden für „Einssein“ oder getrennt sein. Du hättest kein Konzept von Leiden oder Loslassen.
Solange du in diesem Augenblick vollkommener Gegenwart verweilst, jenseits des denkenden
Geistes, könnte nichts dein Gefühl von Frieden und Ruhe stören. Dennoch bist du vollkommen
lebendig und wachsam in allem, was geschieht und handelst instinktiv wie beim Tanzen. Dein
privater Meditationsort ist einerseits vollkommen beweglich und andererseits deine beständige
Zuflucht in allen Lebenslagen.
Bemerke, wie das Ausmaß deines Eingebundenseins in deine diversen Überzeugungen und
Selbsterzählungen die Stimmung des Augenblickes verändert, weg von Gelassenheit und hin zu
Rastlosigkeit oder Abwehr oder Verlangen. Besteht hier wirklich eine Notwendigkeit verschiedene
Methoden oder Praktiken zu studieren, wenn du klar erkannt hast, wie das alles läuft?
Gedankenfreies Gewahrsein ist kein flüchtiges Ziel, was erreicht wird nachdem du die Kunst des
Gedankenunterdrückens oder -ignorierens gemeistert hast. Gedankenfreies Wahrnehmen geschieht
den ganzen Tag hindurch, aber wir sind uns dieses leeren Raumes von Klarheit nicht bewusst, weil
unser Geist daran gewöhnt ist ständig Gedanken und deren Inhalte zu registrieren.

Versuche, dich selbst in jenen natürlich geschehenden Momenten gedankenfreien Gewahrseins zu


erwischen, wenn sie auftauchen. Sie geschehen, wenn du den Fuß in die Dusche setzt und das
Wasser fühlst, wenn du zu Beginn des Zähneputzens die Zahnbürste an den Zähnen bemerkst,
wenn du den ersten Bissen deines Frühstückes zu dir nimmst, wenn du das erste lautere Geräusch
hörst. Fange an bewusst dieser leeren Augenblicke in voller Klarheit gewahr zu sein, die zwischen
den Momenten des Denkens und Tagträumens bestehen.

Die einzige „Rastlosigkeit“, das einzige „Unwohlsein“, welches du als solches erkennst, ergibt sich
aus deinem eigenen Denken. Nur deine eigenen Gedanken und inneren Bilder können deinen
natürlichen Zustand der Gelassenheit verdunkeln.

Frage: Die Art und Weise, wie du die Beziehung zwischen Gedanken und Gewahrsein beschreibst,
erscheint dualistisch. Du scheinst zu meinen, dass Gewahrsein und Gedanken zwei voneinander
getrennte unabhängige Wirklichkeiten sind. Stimmt das?

Antwort: Vielleicht erscheint es so, dass Gewahrsein getrennt und losgelöst von Gedanken oder ein
von Erscheinungen und Erfahrungen unabhängiger Beobachter ist. Das wäre tatsächlich eine
dualistische Sicht, also eine Sicht, die dem entgegensteht, was alle erleuchteten Lehrer gelehrt
haben. Bevor wir jedoch die Nicht-Dualität des Gewahrseins erkennen und erfahren können, ist es
erforderlich zuerst unser unmittelbares Erfahren dahingehend zu untersuchen, wie es aus unserer
dualistischen Perspektive erscheint. Zunächst einmal müssen wir unser beobachtendes Gewahrsein
von dualistischen Aktivitäten des Geistes unterscheiden, wie sie sich beispielsweise in Gedanken
ausdrücken. Dieses Vorgehen führt von einer „Ent-Identifizierung“ mit geistigen Vorstellungen hin
zur wesentlichen Erfahrung des Wesen des Geistes als das unwandelbare Gewahrsein selbst. Es ist
als ob der Geist glauben würde, unsere Identität wäre unser physischer Körper oder ein gedanklich
erschaffenes Selbstbild. Wir entdecken mit der Zeit, dass wir nicht der Körper oder das
psychologische Selbstbild sind. Wenn wir hier fortfahren, verschwindet nach und nach dieses
dualistische Gefühl des Getrenntseins. Es enthüllt sich ein Einssein von allem und jedem.

Frage: Was hat das mit dem Erkennen unseres spirituellen Wesens zu tun? Was ist die Verbindung?

Antwort: Wenn unser Geist weniger in zwanghafte Gedanken und Sorgen hineingezogen wird, fühlt
sich der Raum des Gewahrseins offener und freier an. Unsere engen Grenzen der
Selbstbeschreibung fangen an sich zu öffnen und nachzugeben. Dies geht einher mit einem Gefühl
von Verbundensein mit unserer Welt der Erfahrungen und mit allem, was Leben ist. Indem wir uns
unseres eigenen, nicht festgelegten und nicht materiellen Seinszustandes bewusst werden, werden
wir vertrauter mit jenem Bereich in uns selbst, der unwandelbar ist, perfekt, ewig während und frei.
Der Rest dieses Buches widmet sich dem Überführen dieses Wissens in unsere direkte unmittelbare
Erfahrung.
Kapitel Drei

Identität, Ego und wahrhaftes Sein

Erst wenn wir auf die Beschäftigung mit „ich“, „mir“ und „meinem“ verzichtet haben, können wir
die Welt, in der wir leben, wahrhaftig begreifen ... vorausgesetzt, wir betrachten nichts als
Eigentum. Und nicht nur, dass alles uns gehört, es gehört auch allen anderen.
-Aldous Huxley, Die immerwährende Philosophie-

Alles emotionale Leid entsteht aus einem grundlegenden Missverständnis bezüglich unserer eigenen
Identität. Dieses Missverständnis drückt sich durch fehlerhafte Gedanken aus, an die sich der Geist
über die Dauer gewöhnt. Aus diesen Denkgewohnheiten entwickelt sich dann so etwas wie ein
Glaubenssystem. Erleuchtung bedeutet die Abwesenheit jeglicher Verwirrung aufgrund unserer
wahren Identität. Die Gedanken in unserem Geist dagegen bieten uns ständig neue Vorschläge und
Definitionen dafür an, wer wir sein könnten. Diese Vorschläge aber sind im Geist entstehende
Selbst-Bilder und Gedanken, die auf der Grundlage von beständiger Gewöhnung und unserer
Vorstellungskraft entstehen. Studien zur Kindheitsentwicklung weisen darauf hin, dass sich etwa
zwischen dem fünfzehnten und vierundzwanzigsten Lebensmonat das Gefühl für eine Selbst-
Identität entwickelt. Davor besitzt das Kind keinerlei Selbst-Definition oder einen feststehenden
Ich-Begriff. Es verfügt in dieser Lebensphase noch nicht über einen Denkprozess, der die Welt in
Begriffen wie „ich“, „mein“ und „andere“ definiert. Das Leben ist bis dahin ein offenes Spiel von
Sinneserfahrungen, die hinsichtlich eines Selbstgefühls ohne weitere Bewertung bleiben. Auch
verfügt das Kind über keinen Sinn für persönliches Eigentum. Erst allmählich beginnt das Kind auf
eine persönliche Identität zu schließen, die sich von anderen Menschen und Dingen unterscheidet.
Dies geschieht dann zum Beispiel zusammen mit anderen verbalen Hinweisen und sozialen
Interaktionen, wenn die Eltern oder Betreuungspersonen das Kind beim Namen nennen. Durch Lob
oder negative Verstärkung entwickelt das Kind nach und nach ein zusammenhängendes, aber
einseitiges Selbst-Bild. Wir müssen jedoch bedenken, dass dieses Gefühl von Selbst-Identität, wie
oben erläutert, vollständig aus Gedanken und mentalen Bildern besteht. Es gibt keine feste Substanz
namens „Selbst“, die plötzlich im Gehirn des Kindes auftaucht. Es ist nur eine lose Ansammlung
von Gedanken vorhanden, welche durch kontinuierliche Gewöhnung verstärkt werden und diese
scheinbare Selbst-Identität ausmachen.

Diese Selbst-Identität ist in Wirklichkeit nur eine Geschichte, die aber auf zwei Ebenen existiert,
nämlich dem Unterbewusstsein und dem Bewusstsein.Wenn sich in der frühen Kindheit
schwerwiegende emotionale Defizite entwickelt haben, kann das heranwachsende Kind daraus
schließen, dass es in sich selbst verschiedene Unzulänglichkeiten trägt. Das Kind könnte ein Gefühl
entwickeln, dass es nicht Wert ist geliebt zu werden, dass es nicht gut genug ist oder dass es ein
unnützes Kind ist. Dies sind nur ein paar der häufigen und schädlichen negativen Selbstbildthemen,
mit denen viele von uns aufwachsen. Wenn diese Beschreibungen schon in frühen Jahren in den
kindlichen Geist eingepflanzt werden, können sie leider das ganze Leben lang bestehen bleiben. Sie
bleiben dann als aktive Persönlichkeitsmuster erhalten, oder sie schlummern und warten auf einen
passenden äußeren Reiz, der die tief sitzenden persönlichen negativen Grundüberzeugungen und
Unsicherheiten plötzlich wieder auslöst. Unser empfundenes Selbst kann im alltäglichen Leben von
diesen Gefühlen und Gedanken der Selbstunzulänglichkeit so stark eingefärbt sein, dass wir ihnen
nachgeben, wodurch unsere Beziehungen zu anderen scheitern und unsere Lebenswünsche unerfüllt
bleiben.

Die gute Nachricht ist, dass diese negativen Selbst-Gedanken wirklich nur Gedanken sind. Sie
treten zwar im bewussten Verstand auf, haben ihren Ursprung aber im Unterbewusstsein. Im
Gegensatz dazu können wir zum Beispiel, wenn wir eine neue Rolle in unserer Arbeit oder in
unserem Privatleben übernehmen, auch auf einer rein bewussten Ebene unsere Selbst-Bilder
erschaffen und mit ihnen spielen. Wir können uns hierbei eine Realität vorstellen, diese oder jene
Rolle zu spielen, so wie es uns gefällt. Ein Gefühl der Selbst-Identität muss also nicht immer in
einer tiefen psychologischen Gewöhnung verwurzelt sein. Der gemeinsame Nenner beider Arten
einer Selbst-Identität, also der bewussten und der unbewussten ist, dass es sich bei beiden lediglich
um Gedanken handelt, die im Raum unseres unveränderlichen, beobachtenden Gewahrseins
auftreten.

Wenn Du den von alleine ablaufenden Denkprozess wach und entspannt beobachtest, wirst Du
bemerken, dass begleitend ein Gefühl vorhanden ist, als ob diese Gedanken „meine Gedanken“
wären. Das Selbst ist der Denkprozess, der sich selbst definiert. Das Ich-Selbst denkt nicht, sondern
ist vielmehr selbst ein Gedanke. Das Ich-Selbst ist das Denken im Geist, das sich selbst in
Beziehung zu sich und seiner Umwelt immer wieder neu durch Gedanken erfindet. Das Gefühl der
persönlichen Identität entsteht nebenbei während das Denken stattfindet, weil das Denken fast
immer polarisierend in ein Subjekt als „Ich“ und in ein Objekt als „Bedeutungsinhalt meines
Denkens“ unterteilt. Das bedeutet, dass sich das Denken ständig um ein eigenes Anliegen oder
Thema dreht. Einer der stärksten Katalysatoren für die Entstehung des Gefühls der persönlichen
Identität ist die Erinnerung. Erinnerung bedeutet, dass ich an „meine“ vergangenen Erfahrungen
denke und diese dazu bei tragen, das Gefühl einer kontinuierlichen Identität zu formen und zu
erhalten. Auch die Vorstellung von mir selbst in einer zukünftigen Situation stabilisiert sowohl ein
Gefühl von persönlicher Identität als auch ihrer Kontinuität.

Bei dem Versuch sich von einer bedrückenden emotionalen Erfahrung zu erholen, ist es schwierig
jenes entspannte Gefühl zu finden, nur ein losgelöster Zeuge dieses emotionalen Zustandes und
seiner äußerst einflussreichen psychologischen Botschaften zu sein. Diese Erfahrung ist sehr
bindend und man kommt kaum von ihr los. Der Grund für die Schwierigkeiten, dieses emotionale
Ereignis nicht objektiv beobachten zu können, liegt darin, dass allein das emotionale Ereignis und
der dabei subjektiv erschaffene gedankliche Inhalt bestimmen, wer oder welche Identität wir in
diesem Moment sind. Mein Ich-Gefühl ist dabei untrennbar mit meiner Reaktion einer emotionalen
Kontraktion verbunden. Mit diesem zentralisierenden Sich-Zusammenziehen im Raum der
Gedanken und des Geistes entsteht ein als fest empfundenes Selbstgefühl. Wenn wir beispielsweise
in emotionalem Aufruhr sind, spannen wir uns unwillkürlich auch körperlich an. Das Wesen dieser
Kontraktion ist so beschaffen, dass sie unser Gefühl für Weite und Offenheit unmittelbar einstürzen
lässt. Durch die emotionale Reaktion und ihrer subjektiven Bewertung der Gefühle während der
Erfahrung wird jenes Empfinden noch verstärkt, eine ortsgebundene und abgetrennte Einheit zu
sein.

Ein Leben im emotionalen Drama gibt manchen Personen ein stärkeres Gefühl von Identität, weil es
in diesen Momenten so beeindruckend und lebendig gegenwärtig ist. Sogar wenn es eine
unangenehme Erfahrung ist, wirkt sie doch selbstverstärkend. In manchen Fällen ist aber eben das
gestärkte Identitätsgefühl für den Geist wertvoller, als die eigentliche Befreiung vom Leiden.
Deshalb blühen manche Menschen in Aufruhr und Krisen besonders auf. Sie haben dann eine
größere Gewissheit oder überhaupt die emotionale Bestätigung darin zu existieren. Das gilt auch für
chronisches Selbstmitleid, bei dem sogar die Dynamik des „armen Ichs“ ein Vergnügen zu sein
scheint. Oft lösen ahnungslose Kunden eine Eintrittskarte für die „Mitleidsparty“ und finden sich in
dem Sog der Bedürfnisse eines anderen Menschen nach Aufmerksamkeit und Bestätigung wieder.
Es wird zu einer echten Mitleidsparty, wenn beide anfangen sich gegenseitig von den ungesunden
emotionalen Bedürfnissen des anderen zu ernähren. Es gibt viele Möglichkeiten, wie sich die Ego-
Struktur von negativen emotionalen Zuständen und ungesunden Beziehungen ernähren kann. Ich
empfehle jeder und jedem eine Bestandsaufnahme der eigenen Verhaltenstendenzen in diesem
Bereich durchzuführen. Keiner von uns ist immun gegen diese Art von selbstverstärkender
Dynamik. Zumindest solange nicht, bis unser Bewusstsein den Fokus auf die Ego-Identität
aufgegeben und jenes zeitlose Sein entdeckt hat, das keine emotionale Verstärkung oder Bestätigung
benötigt.

Für diese Situation ist es eine gute Übung, mit objektivem Gewahrsein das emotionale Empfinden
zusammen mit dem damit einhergehenden Selbstgefühl zu beobachten. Das ist so, als würde
während der Erfahrung ein Schritt hinter das subjektive Selbst getreten werden. Was ist es, das
dieses Gefühl einer persönlichen Selbstheit in Bedrängnis wahrnimmt? Die Betrachtung der
gesamten „Gestalt“ oder des ganzen Szenarios ist der Schlüssel.
Es zeigt sich, dass das unpersönliche und beobachtende Gewahrsein nicht in dem Ereignis
gefangen ist. Das Gefühl von einem Selbst ist dagegen in dem Ereignis gefangen. Mit dieser Übung
können wir eine Erfahrung von Erleichterung und Freiheit entdecken, die uns ansonsten verborgen
bliebe.

Die meisten von uns erleben emotionale Inhalte in starken Wellen, die als Grundlage für unser
persönliches Leiden entstehen. Anstatt zu versuchen all die verschiedenen Ursachen des Leidens zu
beseitigen, ist es viel einfacher das eine Allheilmittel für das gesamte Leiden zu finden: Es ist die
Auflösung der Illusion einer eingebildeten Selbstheit. Es geht nicht darum anzuzweifeln, dass wir
eine Person sind, die negative emotionale Erfahrungen machen kann. Vielmehr ist das Gefühl, eine
bestimmte Person zu sein, auch nur eine Erfahrung, die im erkennenden Gewahrsein als ein
geistiges Ereignis auftaucht.

Wenn wir nachts träumen, sind wir als Traum-Person nicht von der gesamten Traumszenerie
getrennt. Löst sich der Traum dann beim Aufwachen auf, so hört die Traum-Person, die wir waren,
ebenso auf zu existieren. Auch hören all ihre begleitenden Themen, Probleme und Frustrationen auf,
die Bestandteile des Traums waren. Jetzt, also in unserem sogenannten Wachzustand im normalen
Alltagsleben, besteht auch die Möglichkeit in einen anderen, noch wacheren Bewusstseinszustand
zu wechseln. Wenn diese „Quanten“-Verschiebung stattfindet, löst sich das persönliche Selbst oder
die Identität genauso auf wie unser Traumselbst. Unsere Identität war dann auch nur eine
vorübergehende Projektion unterbewusster Triebe, Gedanken und Konditionierungen. In unserem
Geist erschien unsere Identität nur als zentraler, organisierender Bezugspunkt der täglichen
Erfahrung. Genauso, als wenn wir nachts aus unserem Traum erwachen, verschwinden alle unsere
Probleme augenblicklich und so lange, wie ohne Unterbrechung der höhere Wachzustand des
Gewahrseins anhält. Indem wir uns darin üben ein objektiv Beobachtendes der ständig im
Gewahrsein auftauchenden Ereignisse zu sein, entsteht eine neue Dynamik in Bezug auf die
Identifikation mit diesem rein vom Verstand erzeugten Selbstgefühl. Mit der Zeit zeigt sich eine
Abnahme der kontinuierlichen Selbstprojektion als ein neues Merkmal im Fluss des gewöhnlichen
Bewusstseins. Das Selbstgefühl erscheint nicht mehr ganz so überzeugend und seine Probleme sind
nicht mehr so zwingend und ernst. Es ist nicht so, dass das eingebildete Selbst Stufen der
Verbesserung durchläuft, sondern es handelt sich eher um eine vollkommene Auflösung des
eingebildeten Selbst. In der Auflösung des sich vorgestellten Selbst offenbart sich das wahre Wesen
unseres inneren Seins, die eigentliche Quelle unseres inneren tiefen Friedens, unserer Freude und
unserer bedingungslosen Liebe. Das wahre Wesen unseres Seins ist dieses unbestimmte und
objektive Beobachten, das keinen Namen, keine Identität oder Geschichte hat. Dieses wahre Wesen
unseres Seins ist in jeder Erfahrung ständig und unmittelbar gegenwärtig.

„Das Ego könnte als das definiert werden, was unsere grundlegende Güte verdeckt. Und was
verdeckt das Ego vom direkten Standpunkt unserer Erfahrung ? Es verdeckt unsere Erfahrung,
einfach nur hier zu sein, einfach nur voll und ganz präsent zu sein, dort wo wir sind, so dass wir uns
mit der Unmittelbarkeit unserer direkten Erfahrung verbinden können. Egolosigkeit ist ein Zustand
des Geistes, der volles Vertrauen in die Heiligkeit der Welt hat. Es ist bedingungsloses
Wohlbefinden, bedingungslose Freude, die all die verschiedenen Qualitäten unserer Erfahrung
einschließt.“ (Die tibetisch-buddhistische Lehrerin Pema Chödrön)
Im vorigen Kapitel haben wir die zwei wesentliche Aspekte des Geistes entdeckt, nämlich die
Gedanken und das Gewahrsein, welches diese erfährt. Dieses Gewahrsein, das unsere Gedanken
und Gefühle erlebt, bleibt von allen negativen Konditionierungen in der Kindheit und im späteren
Leben unberührt. Das ist wie bei einem Spiegel, der unbeeinflusst von jeglichen in ihm
erscheinenden Bildern ist. Damit wir jedoch von diesem Verständnis des Geistes profitieren können,
müssen wir dieses unkonditionierte Wesen des Geistes, unser beobachtendes Gewahrseins klar
erkennen. Allzu oft hemmt oder blockiert die Intensität der geistigen Projektionen unsere Fähigkeit,
in der objektiven Rolle des bloßen Beobachtendes-Seins zu bleiben, also wie ein Zuschauendes
unserer geistigen Aktivitäten zu sein. Die Anfangsphase des Übens, in der wir einfach nur die
Aktivitäten unseres Geistes beobachten, erfordert viel Arbeit und Mühe. Es besteht eine enorme
gewohnheitsmäßige Dynamik, die keinen Raum für Selbstreflexion und losgelöstes Beobachten der
geistigen Ereignisse zulässt. Wir verfangen uns immer und immer wieder in den mentalen
Geschichten und Dramen, die unser Geist beständig spinnt und hervorbringt.

In vielerlei Hinsicht gleicht unser täglicher Geisteszustand hierdurch eher einer Trance als einem
bewusst wahr genommenen Leben. Das liegt daran, dass diejenige Seite unseres Geistes, die im
Schlaf unsere Träume projiziert, auch im Wachzustand mit der Projektion endloser, mentaler
Szenarien beschäftigt ist, zwischen Hoffnung und Furcht hin und her pendelnd. Ein gutes Beispiel
dafür ist gerade unser projiziertes Empfinden, dass es da so ein wirkliches Selbst gibt. Wenn wir
träumen, erleben wir uns in einer Rolle und Identität in dem Szenario, das wir gerade erleben. Wir
erschaffen diese Traumidentität nicht bewusst, sie entsteht einfach im Unterbewusstsein. Dennoch
scheint diese Traumidentität so beschaffen zu sein, wie wir sie im Traum eindrücklich erleben. Die
im Traum durchlebten emotionalen Zustände und Gedanken werden nicht auf ihre Angemessenheit
und Gültigkeit hin hinterfragt. Sobald wir erwachen, verschwindet diese Traumidentität, aber wir
bemerken nicht, dass in unserem Geist weiterhin beständig unser Selbstbild mit dem dazugehörigen
Selbstgefühl projiziert wird. Nicht einmal während wir wach sind, hinterfragen wir die
Angemessenheit unserer emotionalen Zustände, Gedanken oder unseres Selbst-Gefühls. Jetzt wird
leichter verständlich, warum viele spirituelle Meister verschiedener religiöser Traditionen die
Ansicht vertreten haben, dass die Menschen auch im Wachzustand schlafen. Dieser Umstand führt
zu einem Großteil des unnötigen Leidens im Leben. Wir verlieren uns im Wachen träumend in
unseren Geschichten, die oft auf gewohnheitsmäßigen Reaktionen und Vorstellungen beruhen und
nicht auf der Klarheit eines lebendigen und aufmerksamen Gegenwärtig-Seins im fortlaufenden
Moment. Der Unterschied zwischen den beiden Zuständen ist immens. Wir streben nach dem
letzteren während wir aus dem erstgenannten erwachen.

Es ist sehr wichtig zwischen einerseits dem Wissen darüber, wer wir wirklich sind und andererseits
dem Glauben an eine Geschichte dazu, wer wir uns einbilden zu sein, zu unterscheiden. In einem
Traum können wir aufgrund der Dramaturgie der Geschichte in vielerlei Hinsicht Leiden erfahren.
Dasjenige aber, was hier leidet, ist unser „Ich“-Gefühl im Traum. Wenn wir allerdings wüssten, dass
die gesamte Geschichte nur ein imaginäres mentales Theater ist, wäre es garnicht möglich unter
dem Inhalt des Traums zu leiden. Ein notwendiger Hauptaspekt für das Leiden im Traum, ist die
Überzeugung, dass die Person real ist, die im Traum als eigenständige Identität geglaubt wird zu
sein. Der träumende Geist erschafft nicht nur die Szenerie und die Menschen im Traum, sondern
auch ein Gefühl der persönlichen Subjektivität. Es gibt dort keine reale Person oder ein reales
Selbst, weil das Selbst nur eine Projektion des Geistes ist. Auch die Person, für die wir uns im
Wachleben halten, ist eine Projektion des Geistes und nicht wirklich vorhanden. Sie ist genauso
wenig real wie der Weihnachtsmann oder der Osterhase. Diese beiden erfundenen Figuren werden
in den Köpfen der Kinder allerdings sehr wahrhaftig und lebendig. Aber ganz gleich, wie tief und
aufrichtig ein Kind an den Weihnachtsmann glaubt, es wird diese fiktive Figur niemals in der
Wirklichkeit erleben. Dennoch kann das Kind durch den Glauben an diese erfundene Figur zu
bestimmten Handlungen motiviert werden. So kann das Kind beispielsweise versuchen sich besser
zu benehmen oder gehorsamer zu sein, um schließlich „Geschenke vom Weihnachtsmann zu
bekommen“.

Beachtenswert sind auch all die Verhaltensweisen, die wir aufgrund unseres Gefühls einer Selbst-
Identität an den Tag legen. Diese Selbst-Identität schreibt uns eine endlose Liste von Sollte, Müssen,
Sollte-Nicht und Nicht-Dürfen vor. Wie bereits erwähnt, befinden wir uns immer in der einen oder
anderen Phase des Austobens unserer polarisierten Dramen, die zwischen dem Streben nach
Hoffnung und Befürchtungen schwanken. Erwachen wir jemals wirklich aus diesem Traum von
zwanghaft zu nennender Sorge? Wer ist es, die oder der sich immer wieder in die Rolle des
Sorgenmachenden begibt? Denken wir daran, dass dieses beunruhigte oder leidende Selbst ein
bloßes Anhängsel ist; es wurde nicht mit der ursprünglichen Hard- und Software mitgeliefert. Wir
haben es ergriffen, als wir noch viel zu jung waren, um es besser zu wissen. Jetzt wissen wir es
besser. Oder doch nicht? Wir müssen uns daran erinnern, dass all unser psychologisches und
emotionales Leiden aus diesem Glauben an eine eingebildete Selbst-Identität resultiert. Wie wachen
wir aus diesem Wachtraum der falschen und auf Gewohnheiten beruhenden Selbst-Identität auf?
Lass uns hier zu Beginn zunächst noch etwas tiefer in das Wesen dieser Selbst-Täuschung
eintauchen.

So wie wir im zweiten Kapitel unsere Gedanken beobachtet haben, müssen wir jetzt unser Selbst-
Gefühl beobachten, wenn es in unserem Geist auftaucht. Es unterscheidet sich nicht sonderlich von
jedem anderen Gedanken, dennoch scheint gerade dieser Gedanke viel näher und vertrauter zu sein,
nicht wahr?
Setze dich ruhig in eine ungestörte Umgebung und nimm dieses Gefühl von Selbst wahr. Es ist
dieses Gefühl deiner „Ichheit“. Wenn du dich an ein Ereignis erinnerst, während dessen du
öffentlich in Verlegenheit gebracht oder lächerlich gemacht wurdest, kannst du ein tiefgehend
deutlicheres Gefühl für dein Ego oder Selbst bekommen. Wenn jemand schlecht über dich geredet
hat, hast du vielleicht gedacht: „Wie können die nur so mit mir reden! Was für eine Frechheit!“
Spiele ein wenig damit herum, bis du das selbst-bewusste Gefühl persönlicher Ichheit erwischt.
Wenn du das hinbekommen hast, beobachte sofort dieses Gefühl des Ichs. Wo in deinem Körper
scheint es zu sein? Hat es eine Form oder Farbe? Hat es irgendeine Substanz? Unterscheidet es
sich von allen anderen Gedanken? Ist es doch nur ein Gedanke? Ist es nur der Ich-Gedanke? Gibt
es eine Empfindung von Ich bin? Wem gehört diese Empfindung? Was ist diese Empfindung?

Als du ein Säugling warst, gab es eine Zeit, in der du dieses Gefühl für Ich noch nicht entwickelt
hattest. Was war das für ein Geisteszustand?
Stelle dir einen Moment lang vor, wie sich das anfühlen würde? Es gab keine innere Empfindung
und keine Selbstdefinition des Ich bin. Im Gegensatz dazu hast du heute eine vollständige
Geschichte darüber, wer du zu sein glaubst. Wie würde es sich anfühlen, ohne deine Geschichte
von „Ich“ zu sein?

Unser ganzer Stress und unser Leiden beruhen auf dieser Ich-Geschichte. Verbunden mit diesem
Gefühl von Selbst ist auch das Gefühl von „meins“. All die Dinge und Beziehungen, die wir als
Besitz betrachten, können nicht existieren ohne zuerst ein Gefühl für persönliche Selbstheit als
Besitzer zu haben. Ein Großteil unserer Sorgen und unseres Stresses dreht sich um unsere
Besitztümer, sowohl die materiellen als auch die zwischenmenschlichen. Wären wir plötzlich frei
von diesem eingebildeten Gefühl des Ichs, würden unsere Besitztümer sofort in das befreit werden,
was sie schon immer waren – nämlich einfach beliebige Energien des Universums ohne einen
Besitzer. Wenn wir unsere Stress auslösenden Gedanken in Bezug auf unsere Besitztümer und unser
Selbt-Gefühl untersuchen, erkennen wir die Bedeutungslosigkeit unserer Gedanken auch als
Gedanken. Ein Gedanke ist nur eine mentale Energiebotschaft, die von Zeit zu Zeit auftaucht und
wieder verschwindet. Das gilt auch für unser Selbstgefühl. Das Problem besteht darin, dass wir uns
auf diese Botschaft einlassen, konzentrieren und aus einem anfänglichen kurzen Gedankenblitz eine
ganze Geschichte erschaffen. Wenn wir stattdessen den Gedanken als ein mentales Energieereignis
betrachten und uns nicht in den Inhalt seiner Botschaft verwickeln lassen, erleben wir eine völlig
andere Perspektive.
Wenn wir beispielsweise zwei Minuten lang alle die Gedanken nur zählen würden, die unser
Bewusstsein durchlaufen, würden wir einen viel offeneren und entspannteren Geisteszustand
entdecken. Was für ein Kontrast zu dem Zustand, in dem wir sofort in die Botschaft eines
Gedanken verstrickt werden. Durch diese einfache Übung können wir die Fähigkeit entwickeln,
uns von dem tranceartigen Zustand zu befreien, in dem wir uns im Laufe des Tages so oft
wiederfinden.

Wir müssen diesen offenen Geisteszustand entwickeln, um das Auftauchen und die ständige
Gegenwart des Ich-Gedankens effektiv wahrzunehmen. Mit der Zeit entdecken wir, dass sich der
Ich-Gedanke in jedem Augenblick im Zentrum unserer psychologischen und emotionalen
Erfahrungen befindet. Es dreht sich alles um mich und meine Geschichte. Die gesamte persönliche
Geschichte dreht sich um mich. Aus diesem Grund haben wir das Gefühl ein separates Individuum
zu sein, das in einer Welt von von „mir“ getrennten Menschen als „den anderen“ lebt, die „dort
draußen“ existieren. Diese grundlegende Aufspaltung der Lebenserfahrung in getrennte Subjekte
und Objekte erschafft ein allgemeines Gefühl existenzieller Entfremdung von der Ganzheit des
Lebens. Wir fühlen uns oft allein und abgesondert, auch wenn wir in einem reichhaltigen sozialen
Umfeld mit Familie und Freunden leben. Dies ergibt sich aus der besagten persönlichen Geschichte,
die sich um die eingebildete Vorstellung eines separaten Ich-Wesens dreht. Mit der Zeit wird diese
Illusion zu einer Standardeinstellung, wie wir uns auf uns selbst und auf unsere Erfahrungswelt
beziehen. Wir können uns psychologisch immer weiter isolieren, was schließlich zu Depressionen
und Selbstmord führen kann. Wenn wir uns jedoch als ein sinnvoller Teil des Ganzen verbunden
fühlen, blühen wir in unserem Gefühlsleben auf.

In ursprünglicheren Gesellschaften steht die starke kulturelle Verankerung des Lebens als
zusammenhängendes Netz natürlicher und ökologischer Beziehungen in direktem Zusammenhang
mit den wenigen vorhandenen, psychologischen und emotionalen Befindlichkeiten. Jede einzelne
Person betrachtet sich als integraler Bestandteil eines kosmischen Ganzen und hat kaum ein
gedankliches Konstrukt von einer getrennten Individualität. Diese ganzheitliche Sicht auf das Leben
durchzieht alle sozialen und ökologischen Verhaltensweisen, die die Überlebensmöglichkeiten und
das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft weiter verbessern. In unserer ich-bezogenen westlichen
Kultur beobachten wir die heimtückischen Auswirkungen dieser Zweiteilung in ein Ich und eine
von mir getrennte Welt. In hohem Ausmaß sind überall auf dem Planeten ökologische Katastrophen,
darunter die globale Erwärmung, die Abholzung der Wälder, das rasche Aussterben verschiedener
Arten, die Luft- und Wasserverschmutzung und der verschwenderische Umgang mit den natürlichen
Ressourcen vorhanden. Ich glaube, dass diese sozialen und planetarischen Themen direkt von der
Art und Weise herrühren, wie unsere gegenwärtige Lebenskultur definiert, wer und was wir als
Individuen darstellen . Diese Definition des Selbst wird dann von Eltern an ihre Kinder
weitergegeben und verstärkt.

Unsere gesamte Gesellschaft ist ich-gesteuert, wie all die Werbung zeigt, die unser Bewusstsein
täglich überflutet. Die Botschaft, man müsse unendlich viele Produkte konsumieren, wird auf vielen
Ebenen verstärkt. Falls du allerdings nicht die richtigen Produkte konsumierst, befindest du dich
irgendwie nicht in der besten sozialen und persönlichen Position. Also brauchst du ein größeres
Auto, ein besseres Haus, schicke Kleidung und allerlei Zubehör, Schönheitsoperationen, Botox,
Erfolgsseminare und vieles mehr ..., alles natürlich für die Aufwertung des Ichs. Gleichzeitig mit
dem Aufstieg und der Etablierung der heutigen Ich-Kultur haben wir eine Zunahme von
psychischen Erkrankungen, Selbstmord, Kriminalität, dem Zusammenbruch von
Familienstrukturen, Vernachlässigung und Missbrauch der Umwelt. Entsprechend dazu wächst eine
Generation junger Menschen heran, die kein wirkliches Gefühl für eine Verbindung mit ihrer
natürlichen Umwelt hat. Sie sehen die Welt hauptsächlich durch das Internet, Computerspiele und
soziale Netzwerke.

Sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene kann es also von großem Nutzen
sein, diese Ich-Fixierung zu durchbrechen. Der erste Schritt besteht darin jenes Ich-Gefühl zu
beobachten, wenn es in unserer Wahrnehmung auftaucht. Im Laufe eines jeden Tages begegnen wir
zahlreichen Gelegenheiten etwas Nützliches, Höfliches oder Freundliches anzubieten und verpassen
diese dann oft. Wir versäumen das Selbstlosere oder Ego-losere zu tun, weil wir einfach in der
Eigendynamik und Trance des „es geht nur um mich“ gefangen sind.
Genau hier haben wir die Gelegenheit unser eingebildetes Selbstgefühl bei der Arbeit direkt zu
erwischen. Diese Selbst-Zentriertheit in dem Augenblick zu bemerken, in dem sie in unserem
Bewusstsein auftaucht, ist die Praxis. Beachte, wie unerbittlich die Ich-Geschichte unsere
Gedanken und unser Verhalten den ganzen Tag über bestimmt. Sie ist genauso unerbittlich eine
Quelle ständiger Besorgnis über ihr Durchhaltevermögen oder ihre Stellung in sozialen
Lebensszenarien.

Und nimm dir auch immer wieder Zeit dafür, die Qualität des bewussten Beobachtens zu
bemerken, die dieses Ich-Gefühl wahrnimmt, wenn es im Bewusstsein auftaucht.
Dieses beobachtende und erkennende Gewahrsein ist die Seite unseres Bewusstseins, die in
unserem kognitiven Leben im Vordergrund stehen soll, nicht aber unser Ich-Gefühl und seine
gewohnheitsmäßigen Reflexe. Wenn wir in unserem authentischen Gefühl des unbestimmten Seins
als dieses beobachtende Gewahrsein verweilen, sind wir frei darin alles zu sein im Sinne eines alles
in sich aufnehmenden Panoramas. Unser Selbstgefühl ist nicht länger von seiner Erfahrungswelt
getrennt; im Gegenteil dazu kann der Geist keine markierte Linie mehr finden, die ihn von seinen
Wahrnehmungen und Beziehungen trennt. Hierin liegt eine mögliche Methode zur Rückkehr zu
einem Gefühl von Ganzheit und Integriertsein in unsere Welt. Es ist nicht so, dass wir als offenes
Gewahrsein nicht bereits vollständig in unsere Welt integriert wären; vielmehr wird die Ganzheit zu
einer wahrgenommenen Realität, wie sie es schon immer war. Es ist nur unser denkender Verstand,
der sich gegenüber unserem offenen Gewahrsein eine Trennung vorstellt.

Um es noch deutlicher zu machen: Dieses schlichte offene Gewahrsein ist unser Standardzustand
des Bemerkens und Erkennens von Erfahrungen, sobald sie auftauchen, ganz gleich ob sie als
Gedanken, Emotionen, Gefühle oder Sinneswahrnehmungen erscheinen. Das beobachtende
Gewahrsein ist immer da, bevor der Verstand überhaupt Zeit hat, die wahrgenommene Erfahrung zu
bedenken. Wenn wir beispielsweise das Läuten einer Kirchenglocke hören, so ist da zunächst nur
ein bloßer Klang, den unser Sinnessystem wahrnimmt. Gleich im nächsten Moment beginnt der
Verstand zu arbeiten und identifiziert den Klang als Kirchenglocke. Mit dem inneren Bild einer
Kirche beginnen sich dann allerlei andere assoziative Gedanken einzureihen. Und dann fährt das
einfache Wahrnehmen unaufhörlich fort, genau diese Gedanken im Anschluss an den Klang zu
bemerken. Das Erkennen dieser Standardqualität des unveränderlichen Gewahrseins in der
bewussten Erfahrung ist das Herzstück unserer Methode. Dieses helle und lebendige, nicht durch
Gewohnheiten getrübte Wahrnehmen ist unsere grundlegende mentale Gesundheit. Wenn wir uns
auf diese einfache Praxis einlassen, beginnen wir unsere eigene Heilung in Bezug auf die
persönliche, soziale und planetarische Gesundheit. Nicht ständig aus unseren Gewohnheiten heraus
zu reagieren und grundlegend geistig gesund leben zu lernen entwickelt dann weitere Einsichten in
unser wahres Wesen. Erleuchtung ist ein Erstrahlen, das unser beobachtendes Gewahrsein als das
Licht und das Leben in allem offenbart. Du wirst ohne jeglichen Zweifel entdecken, dass du dieses
nicht endende Licht des Gewahrseins bist.
Frage: Aber ist unser Ego-Gefühl als Ich nicht im alltäglichen Leben notwendig? Ist es angesichts
der Anforderungen, die unser geschäftiges Leben an uns stellt, wirklich durchführbar zu versuchen
ein ego-loses Leben zu führen?

Antwort: Tatsächlich ist es aufgrund der Anforderungen und des Stresses, den wir ständig erleben,
weitaus besser wach und voll bewusst im Moment zu sein, als im Gegensatz dazu in der imaginären
Welt des Ichs und meiner Probleme gefangen zu sein. Im Hochleistungssport sind sich alle sehr
bewusst, dass der ultimative Erfolg nur dann möglich ist, wenn völlig in das Jetzt eingetaucht wird,
frei von jeglichem Selbstbewusstsein. Dies wird manchmal als „being in the zone“ oder „im Fluss
sein“ bezeichnet. Wie oft warst du bei der Arbeit oder anderweitig schon so sehr mit einer Aufgabe
beschäftigt, dass jegliches Zeitgefühl und persönliches Selbst-Bewusstsein schlicht nicht da waren?
Bei einem plötzlichen Blick auf die Uhr konntest du dann kaum glauben, dass zwei Stunden einfach
verschwunden waren. Ohne ein kognitiv gegenwärtiges Selbst-Bewusstsein wird die Zeit einfach
nicht wahrgenommen. Zusammen mit dem fehlenden Selbst-Bewusstsein sind dann auch unsere
persönlichen Probleme und psychologischen Themen nirgends zu finden. Es scheint also so zu sein,
dass wir in einem Zustand des völligen Aufgehens in den Aktivitäten unseres Lebens, bis hin zu
dem Punkt des sich in unserer Aufgabe Verlierens, unsere Leistung steigern und unsere Stimmung
verbessern würde. Anstatt auf unsere Gedanken über unsere Aktivitäten zu achten, setzen wir
unsere fünf Sinne und körperlichen Handlungen direkt mit der Umwelt und ihren physischen
Komponenten in Verbindung.

Unsere Sinne funktionieren gut ohne die Anwesenheit des Denkens oder eines Selbstbewusstseins,
und dass in Übereinstimmung mit dem intuitiven Fluss von Absichten, die jeden Moment auf´s
Neue in schöpferischer Weise auftauchen. Es ist möglich, sich schlicht in die beobachtende
Gegenwart der fünf Sinne hinein entspannen zu lassen. Du siehst, hörst, schmeckst, riechst und
fühlst ohne die Wahrnehmungserfahrung selbst-bewusst zu bewerten. Genau das ist das Sein im
Jetzt. In diesem völlig gegenwärtigen Zustand leitet eine Art intuitives Wissen die eigenen
Handlungen in einem makellosen Fluss, der mühelos in die erlebte Welt integriert ist. Selbst-
Bewusstsein ist ein gedankenbasierter Vorgang, wobei der Ich-Gedanke in der mentalen Mischung
bezüglich einer Aktivität enthalten ist. Es ist ein subtiles Doppel-Pack, in dem du gleichzeitig
sowohl in dem Geschehen, als auch dich selbst in einem Spiegel betrachtend steckst. Dieser
Zustand kann so stark sein, dass beispielsweise Schauspieler unter dem so genannten Lampenfieber
leiden. Die Sorge darüber, wie die eigene Leistung wahrgenommen wird, ist überwältigend.
Natürlich ist diese Art der Beeinträchtigung nicht auf Schauspieler beschränkt; sie tritt bei jedem
von uns immer wieder auf. Ich selbst erlebe es regelmäßig im Straßenverkehr, wenn ich ein
Polizeiauto direkt hinter mir bemerke. Ich verliere mein Gefühl für ein sorgloses und entspanntes
Fahren und bin in den Gedanken vertieft, wie meine Fahrweise wohl wahrgenommen wird. Genau
das ist Selbst-Bewusstsein bei der Arbeit. Interessant daran ist, dass wir in diesem selbst-bewussten
Zustand mit größerer Wahrscheinlichkeit Fehler machen! Das ist die Botschaft: Je weniger selbst-
bewusst wir sind, desto besser machen wir alles. Je weniger selbst-bewusst wir sind, desto weniger
leiden wir. Das liegt daran, dass wir nur durch das Nachdenken über uns selbst leiden. Je weniger
selbst-bewusst wir sind, desto vollkommener nehmen wir an den Beziehungen und am Leben im
Allgemeinen teil. Selbst-Bewusstsein ist Egozentrik in einem etwas anderen Gewand. Je weniger
selbst-bewusst wir sind, desto mehr können wir Liebe und Freude empfinden. Also ja, es ist
realistisch und lebensverbessernd zu lernen, im alltäglichen Leben frei von den Befehlen unseres
gewohnheitsmäßig vorgestellten Selbsts zu funktionieren.

Hier ist eine Auflistung von fortschreitenden Selbst-Bewusstseins-Zuständen:

Unbewusst selbst-bewusst: Kein Bewusstsein für das eigene zwanghafte Auf-Sich-Selbst-Beziehen.


Das Bewusstsein identifiziert sich vollständig mit dem gewohnheitsmäßigen Selbst-Gefühl.
Bewusst selbst-bewusst: Sich der eigenen ständigen Selbst-Bezogenheit bewusst sein. Beobachten
mit dem Gefühl, ein persönlicher Beobachter zu sein.

Abwesenheit von Selbst-Bewusstsein: Bewusstsein ohne Selbst-Bezogenheit.

Nacktes Gewahrsein. Beobachten ohne einen Beobachter. Tun ohne einen Handelnden.

Das Leben fließt einfach als ein nahtloser Strom von Ereignissen, die niemandem gehören.

Frage: Was bestimmt denn, wer die Person eigentlich ist? Wir haben scheinbar bewusste und
unbewusste Definitionen, die zusammengezählt das eigene Identitäts-Gefühl ausmachen. Wer ist
jetzt das wirkliche Ich?

Antwort: In sehr jungen Jahren haben wir kein Gefühl von Identität. Durch unser soziales
Miteinander beginnen wir dann ein Selbst-Gefühl zu entwickeln, das auf Erziehung und
Gewöhnung beruht sowie auf unseren inneren Reaktionen auf diese Konditionierung. Unser
biologischer Organismus hat jedoch ohne irgendwelche Zweifel sein eigenes Programm, das
definiert, wer wir auf der grundlegendsten Ebene sind. Die DNS weist den Organismus zum
Überleben und sich Fortpflanzen an. Sie treibt den Organismus auch dazu an, ein bestimmtes Maß
an Raum in seiner unmittelbaren Umgebung zu kontrollieren, sowohl zum Selbstschutz als auch als
Raum für die sichere Aufzucht der Nachkommen. Dieser natürliche Überlebenstrieb gerät oft in
Konflikt mit sozialen, kulturellen und religiösen Verhaltensregeln für ein gedeihliches Miteinander.
Das Ego ist also oft gefangen zwischen unbewussten Trieben einerseits und den durch kulturelle
Normen auferlegten Beschränkungen andererseits. Du kannst also nicht einfach tun, was der
biologische Antrieb verlangt, ohne dass dies irgendwelche sozialen Konsequenzen hat.
Infolgedessen scheint das Ich zwischen zwei antreibenden Kräften aufgespalten zu sein.
Das wiederum führt zu inneren Konflikten und Ängsten. Irgendwann in der frühen Kindheit
entwickeln wir auch einen „inneren Elternteil“, der uns sagt, was richtiges und was falsches
Verhalten ist. Dieser innere Elternteil wird in der Psychoanalyse als Über-Ich bezeichnet. Seine
Aufgabe ist es, für das Erfüllen von sozialen und familiären Verhaltensregeln zu sorgen, um nicht
von der Familie oder der Gruppe ausgegrenzt zu werden. Der Organismus verbindet Ausschluss und
Ächtung als überlebensgefährdend.

In unserer frühen Primatenevolution war es für die Affen sehr vorteilhaft in engen Gruppen
zusammenzuhalten. Wurde ein Mitglied aus der Gruppe ausgestoßen, sank die Wahrscheinlichkeit
des langfristigen Überlebens erheblich. Infolgedessen verfügen wir über einen starken
psychologischen Mechanismus, der uns vor Ausgrenzung bewahren soll. Er erscheint in Form
dessen, was wir unser Gewissen nennen. Selbst wenn beispielsweise ein Nazi nach dem
Verhaltenskodex der Nazis kein „guter Nazi“ war, ließ sein Gewissen ihn innere Scham und
Schuldgefühle empfinden, weil er von den Gruppensitten abwich. Wenn er sich nicht einer anderen
Gruppe mit größeren oder gleichwertigen Überlebenschancen hat anschließen können, hätte er sich
angesichts der Gefahr geächtet zu werden unwohl gefühlt. Allein an diesem Beispiel können wir
sehen, dass das Gewissen im konditionierten Verstand einfach nur auf dieser Konditionierung des
Vermeidens von Ausstoßung beruht und nicht auf einer inneren Führung, die unser Verhalten durch
ein tief verwurzeltes Gefühl für richtiges Handeln oder Tugend lenkt. Natürlich haben wir auch ein
spirituell intuitives Gefühl für grundlegend Gutes, welches unter all der sozialen Konditionierung
verborgen ist. All das trägt zu dieser grundlegenden Spaltung in der persönlichen Identität bei. Bin
ich meine natürlichen Triebe? Oder bin ich meine gesellschaftlich anerkannte Identität? Oder bin
ich insgesamt etwas jenseits der definierten Identität? Diese Art innerer Konflikt, auch wenn er
nicht klar als solcher erkannt wird, zehrt oft an der geistigen und emotionalen Energie. Dies auch,
weil der Verstand versucht mit gegensätzlichen Impulsen zu jonglieren. Die Folgen können
chronischer Stress und Ängste sein.
Aber treten wir nun einen Schritt zurück und wagen einen umfassenderen Blick. Sind wir wirklich
einer dieser Impulse oder eine dieser gedanklich konstruierten Identitäten? Diese existieren
zweifelsohne in unserem Geist zusammen mit all diesen das Überleben fördernden Dynamiken.
Aber was erlebt diese innere Komplexität von Bestrebungen, Trieben und Hemmungen? Indem all
diese Phänomene schlicht beobachtet werden, so wie sie auftauchen, ohne sie dann in irgendeiner
Weise wie oben weiterzuspinnen, entdecken wir, dass dieses nackte und beobachtende Gewahrsein
tatsächlich durch keine dieser Gedankenkonstrukte definiert ist. Hierin liegt die Entdeckung der
wahren Identität: Es ist jene Identität, die in keiner Weise über dieses reine „Beobachtend-Sein“
hinaus weiter definiert werden kann. Darin finden wir die Abwesenheit aller und jeglicher innerer
Konflikte. Dies ist die Entdeckung eines wahren und dauerhaften Geistesfriedens.

Frage: Sollte nicht zuerst ein gesundes und ausgeglichenes Selbstgefühl vorhanden sein, bevor
jemand dieses imaginäre Selbst transzendieren kann?

Antwort: In gewissem Sinne stimmt das. Aber wir transzendieren das imaginäre Selbst tatsächlich
nicht; wir lernen durch es durchzuschauen, während es immer transparenter wird. Wenn eine Person
jedoch schwer neurotisch oder psychotisch ist, ist deren Verstand viel zu sehr von unterbewussten
Dynamiken aufgewühlt, um diese gesunde Qualität des schlicht wahrnehmenden Seins zu erkennen,
die in allen Bewusstseinszuständen vorhanden ist. Das Gewahrsein als Zeuge aller Ereignisse,
welches unsere Gedanken, Emotionen, unser Selbstgefühl und unsere Sinneswahrnehmungen
wahrnimmt, ist ein unveränderliches, spiegelgleiches Bewusstsein. Es spiegelt einfach, was in der
Erfahrung auftaucht und erscheint. Je weniger Reflexion in Form mentaler Ereignisse stattfindet,
desto wahrscheinlicher wird der Spiegel die eigene reine und unveränderliche Klarheit erleben. Je
überwältigender diese mentale Projektion eines Ich-Gefühls sind, desto weniger wird die dem
Spiegel innewohnende Klarheit wahrgenommen. Daher kann es zunächst nötig sein, die starke
Dynamik und Intensität der Reflexion zu verringern, bevor jemand in das beobachtende Wesen des
Spiegels selbst eingeführt wird. Das beste Mittel zur Verringerung der Reflexion im Sinne von
Gedanken, Geschichten und negativen emotionalen Zuständen, besteht jedoch darin Zeuge der
mentalen Ereignisse zu sein, wenn sie auftauchen. Somit wird ein gewisser psychologischer Raum
zwischen den Gedanken und dem beobachtenden Gewahrsein geschaffen.

Letztlich gilt zu erkennen, dass das eingebildete Selbst nicht existiert. Dieses Selbstgefühl ist nur
ein Etikett und eine Empfindung, die unser Verstand in Bezug auf unseren Körper und unsere
Erfahrungen erzeugt. Es ist so, als ob du in einem dunklen Raum unvermittelt ein Seil auf dem
Boden liegen siehst. Diese optisch wahrgenommene Form wird im Geist so verarbeitet, dass ein
erinnertes Bild dazu passt. Dieses gedachte Bild passt zu dem Wort „Schlange“ und der Gedanke
„Schlange“ erscheint. Daraufhin wird Adrenalin ausgeschüttet … . Der Verstand hat also dem Seil
das Etikett „Schlange“ verpasst. Es gibt keine Schlange, aber der gesamte Körper und der Verstand
reagieren so, als gäbe es eine. Ebenso erschafft der Verstand die Vorstellung eines Selbst, eines
„Ich“, in Bezug auf den Körper und den Verstand. Das geschieht genauso, wie das Etikett
„Schlange“ auf das Seil angewendet wurde. Aber wenn wir den Ich-Gedanken und die Ich-
Empfindung wirklich genau untersuchen, werden wir nichts Konkretes finden, das dieser Ich-
Vorstellung als etwas Wirklichem entspricht.

„Wichtig ist sich immer daran zu erinnern, dass das Prinzip der Egolosigkeit nicht bedeutet, es hätte
irgendwann ein Ego zu Beginn gegeben ... Im Gegenteil. Es bedeutet, dass es bereits von Anfang an
nie ein Ego gegeben hat. Dies zu erkennen, wird Egolosigkeit genannt.“ (Sogyal Rinpoche,
tibetisch-buddhistischer Lehrer)

Wir erleben ein dreidimensionales Bild dessen, was der Verstand für „da draußen“ hält. Es ist ein
Bild in unserem Kopf. Unsere Augen können jedoch nicht besser sehen als unsere Zehen. Augen
sind passive Empfänger von Lichtphotonen. Sie sehen rein gar nichts. All diese elektrochemischen
Signale werden im Gehirn verarbeitet, wo ein dreidimensionales Bild zusammen mit einem
Betrachter des Bildes konstruiert wird. Dieser „Betrachter von allem“ ist ebenfalls die Projektion
des Verstandes. Er projiziert ein implizites Selbst im Zentrum der Erfahrung. Ohne den Verstand,
der dieses Gefühl eines zentralisierten Selbst erzeugt, gäbe es hier aber kein Gefühl von einem
Selbst, welches diese Erfahrungen macht. Es gäbe einfach nur Erfahrungen, die niemandem
entgegentreten. Dennoch wäre das lebendige Wissen um alle Erfahrungen ein reines Vergnügen, da
es eine direkte Wahrnehmungserfahrung ohne jegliche Filter gäbe. Das wäre dasselbe wie in unserer
frühen Kindheit.

Frage: Wenn es kein persönliches Selbst gibt, wie wir es uns vorstellen, wem gehören dann unsere
Gedanken und Erinnerungen? Was geschieht mit der Vorstellung von Eigentum?

Antwort: Das genau ist es, was wir nach und nach zu entdecken beginnen. Es gibt keinen
Eigentümer unserer Gedanken und Erinnerungen. Sie geschehen einfach. Wem gehört der Regen
oder die Wolken am Himmel? Diese ganze Vorstellung von Eigentum ist eine schöpferische
Anstrengung des Geistes, um dieses imaginäre Ich mit verschiedenen Wahrnehmungen und
Aktivitäten des Geistes zu verbinden. Das ist ganz normal, weil ja das Ich mit allen Gedanken und
Erinnerungen eng verbunden ist. Alles bezieht sich in der einen oder anderen Weise auf dieses Ich.

Frage: Gibt es irgendwelche einfachen und praktischen Mittel, um dieses Gewahr-Sein, dass es
„kein Ich“ gibt, zu entdecken?

Antwort: David Bohm gibt dafür in seinem Buch „Die implizite Ordnung“ ein großartiges Beispiel.
Er schreibt, dass der Genuss beim Hören von Musik, den wir für das ganze Stück empfinden, durch
den Fluss der Unmittelbarkeit von einer Note nach der anderen entsteht. Wenn wir nun die Zeit so
weit verlangsamen würden, dass zwischen den einzelnen Noten mehrere Minuten vergingen, hätten
wir kein Gefühl mehr für die Musik. Wir könnten weder die Richtung noch den Rhythmus des
Musikstückes empfinden und hätten definitiv nicht dieselbe emotionale Reaktion wie bei normaler
Spielgeschwindigkeit. Die Gesamtwirkung der Musik würde verloren gehen und sich unserem
Bewusstsein entziehen.

Was wäre, wenn wir das auf die Meditation oder bloß das Beobachten unseres Gedankenstroms
anwenden würden? Wenn wir in offenem Gegenwärtigsein sitzen und einfach nur kommentarlos
beobachten, was auftaucht, also ohne aufkommenden Gedanken in ihre verlockenden Geschichten
hinein zu folgen. Dann würde sich die Reflexion im Geist schließlich verlangsamen. Es würde kein
Selbst-Gefühl mehr erlebbar sein, das durch die ständige Schnelligkeit der Gedanken aufrecht
erhalten wird. Das Selbstgefühl ist nur eine durchgehend fortlaufende Reihe von Gedanken und
Empfindungen, die mit dem Ich-Gedanken verbunden und um ihn herum zentriert sind. Ohne diese
scheinbar unaufhörliche Kontinuität des Denkens würden wir die Stimmung und die Bedeutung des
Selbst-Erfahrens verlieren. Diese Stimmung oder dieses Gefühl muss durch die konstante und
unaufhörliche Schnelligkeit der Gedanken aufrechterhalten werden, die die Illusion eines Ichs
schaffen und bedingen.

Es ist so als wenn eine schlammige und trübe Wasserpfütze zur Ruhe kommt und das Wasser klar
wird, wenn sich der Schlamm am Boden absetzt. Mit dem Geist verhält es sich genauso. Wenn wir
ihn ungestört lassen, verlangsamen sich die Gedanken und die Geschichten. Dann fallen die
Strukturen des Geistes in sich zusammen. Dies gilt daraus folgend auch für die Illusion, dass es ein
Ich gibt. Je länger du in der Stille sitzt, desto besser, bis das Ich nicht mehr erkennbar ist. Dann
wirst du eine völlig neue Melodie pfeifen.
Frage: Du sagst: „Ohne Zweifel bist du das nicht endende Licht des Gewahrseins.“ Ich habe
Zweifel. Wie kann ich erkennen, dass ich dieses Licht bin?

Antwort: Das ist der Zweck dieses Buches: Anweisungen für diese Erkenntnis zu geben. Zu Beginn
ist sehr wichtig jenes Gewahrsein zu erkennen, das deine Gedanken, Gefühle,
Sinneswahrnehmungen und alle Erfahrungen kennt. Bemerke, wie dein Gewahrsein unveränderlich
bleibt, aber alldas, was es beobachtet, ständiger Veränderung unterworfen ist. Die Szenerie ist
immer neu, aber das Beobachten ist immer dasselbe. Je mehr du einfach auf dein bloßes
Gewahrsein achtest ohne dem irgendwelche geistigen Inhalte hinzuzufügen, desto vertrauter wirst
du mit diesem nackten Wahrnehmen oder Beobachten. Wenn du sitzt, nimm ruhig einfach deine
Umgebung wahr, ohne zu urteilen oder geistige Kommentare abzugeben.

Mache das Gleiche bei einem Spaziergang, besonders in der Natur, und beobachte einfach still.
Nimm ab und zu diese Qualität des gedankenfreien Beobachtens in deinem Geist wahr. Wenn du
eine subtile Fähigkeit darin erlangst dein eigenes beobachtendes Gewahrsein zu erkennen, kann
offensichtlich werden, dass du wie eine Kugel aus wahrnehmendem, klarem Licht bist, die aus
deinen Augen schaut. Du bist diese Kugel aus klarem Licht, die bewusst und gewahr ist. Du
scheinst in deinem Schädel zentriert zu sein und aus deinen Augen zu schauen und durch deine
Ohren zu hören. Wenn dein Geist immer klarer und stiller wird, wird die Tatsache offensichtlich,
dass du bewusstes Gegenwärtigsein bist. Das, was aus deinen Augen auf diese gedruckten Worte
hier schaut, ist jenes unveränderliche wahrnehmende Gegenwärtigsein. Schau zurück auf das, was
schaut. So wie dein Bewusstsein und deine Aufmerksamkeit in diesem Zustand des nackten
Beobachtens immer mehr zur Ruhe kommen, entstehen spontan Einsichten in das Wesen deines
Gewahrseins. Dies ist der Anfang des im Bewusstsein aufleuchtenden Lichts, dem Klaren Licht des
Gewahrseins, dein wahres Wesen.
Kapitel Vier

Das Wesen des Gewahrseins

Kontemplative Traditionen wie Zen, der tibetische Buddhismus, Yoga und der Taoismus legen einen
großen Wert auf das Erkennen des Wesens unseres eigenen Gewahrseins. Gewahrsein ist das einzig
empfindende oder bewusste Element innerhalb von Gedanken, Gefühlen und
Sinneswahrnehmungen. Wenn sich der Geist durch Meditation oder auf welche Weise auch immer,
klärt und zur Ruhe kommt, wird das natürliche Gewahrsein offensichtlicher. Das vollkommene
Verstehen dieses beobachtenden Gewahrseins wird in dem offenbart, was wir Erleuchtung nennen.
Es ist unsere wahre Identität, ein spiritueller Seinszustand, der in keiner Weise durch anderweitige
inhaltliche Erfahrungen konditioniert wurde. Nichts kann ihn verbessern und nichts kann ihm
Schaden zufügen oder ihn vermindern. Dieses bewusste Sein ist natürlich, wahrnehmend und
reaktionsfähig. Es braucht keine Gedanken oder ein Wissen, um zu wissen. Es weiß durch
unmittelbares, direktes Gewahrsein im „Jetzt“. Es hat erstaunliche intuitive Fähigkeiten, die es ihm
ermöglichen eine Situation zu erspüren. Es hat auch die Fähigkeit, Phänomene wie Telepathie und
Hellsichtigkeit hervorzubringen. Es hängt für seine Existenz nicht vom Körper ab und dennoch
betritt es diese Dimension materieller Erfahrungen durch einen Prozess des sich Verkörperns.

Wenn der physische Körper seine Arbeit beendet, trennt sich dein beobachtendes Gewahrsein vom
Körper. Es ist dabei vergleichbar mit einer transparenten Kristallkugel aus klarem, lichtem
Bewusstsein. Wesentlich ist das Erkennen dieser grenzenlosen Sphäre reinen Bewusstseins als das,
was du selber zeitlos immer warst und bist. Viele Menschen haben bereits Nahtoderfahrungen
oder bewusst miterlebte „außerkörperliche“ Erfahrungen gemacht. Die in allen Kulturen zu
findenden Berichte beschreiben stets ähnliche Themen und Erlebnisse. Ich selber erlebte eine solche
Erfahrung im Jahre 1970 während meiner Zeit in Kopenhagen. Mein Selbstgefühl und meine
Selbstidentität veränderten sich hierdurch für immer. Ich verwandelte mich von einem Agnostiker in
einen „Gläubigen“ mit einem Glauben an eine spirituelle Dimension, von der wir alle ein Teil sind.

Ich hatte eines Tages gerade eine Meditationssitzung beendet und ging zurück in mein Büro im
selben Gebäude, in dem ich arbeitete. Es war um die Mittagszeit und die meisten Leute waren beim
Essen. Ich war in einem sehr entspannten Zustand und hatte einen klaren Geist während ich den
Flur zu meinem Büro hinunterging. Zwischen dem Korridor und meinem Büro befand sich ein
großer Empfangsbereich. Als ich durch den Empfangsbereich zu gehen begann, bemerkte ich
plötzlich, dass mein Bewusstsein aus meinem Körper herausgetreten war und eine vollständige
außerkörperliche Erfahrung machte. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Es war so wie eine
Kugel wissenden Wahrnehmens zu sein, die durch den Raum schwebte. Ich konnte alles außerhalb
des Körpers klar und mit einer 360-Grad-Umsicht aus meiner Perspektive sehen. Ich schien ein
körperloser Geist zu sein. Ich konnte alles über mir, unter mir, hinter mir und vor mir gleichzeitig
sehen. Ich befand mich ungefähr fünf Meter vor meinem Körper und dieser ging weiter auf mein
Büro auf der anderen Seite des Empfangsbereichs zu. Als ich auf mein Büro zu schwebte, hatte ich
plötzlich das Gefühl in einem Metallkäfig zu sitzen und durch Gitterstäbe zu schauen, als wäre ich
in einer Gefängniszelle. Ich spürte die Temperatur des Metalls und nahm so etwas wie einen
metallischen Geschmack wahr, obwohl ich ja keinen Mund hatte. Ich war verwirrt und wusste
plötzlich nicht mehr wo ich war. Während ich mich orientierte fand ich mich über dem
Empfangstresen schwebend wieder. Dort standen drei Gitterkörbe aus Metall übereinander, die für
die Postablage gedacht waren. Ich war in den Mittleren der Körbe geschwebt und nahm dessen
metallische Substanz wahr. Es war eine überwältigende Erfahrung so etwas dermaßen direkt und
körperlos zu spüren.

Ich bemerkte meinen Körper hinter mir, der weiterhin in Richtung meines Büros ging. Spontan
schwebte ich zurück in meinen Kopf und blickte nun wieder aus den Augen meines Körpers. Ich
öffnete die Tür zu meinem Büro und trat hinein, bückte mich dann und stellte meine Aktentasche
auf den Boden. Während sich mein Körper wieder aufrichtete, verweilte mein Bewusstsein auf
Höhe meiner Hüfte oder etwas darunter, nahe meiner Aktentasche. Ich spürte eine riesige Gestalt
über mir schwanken. Als ich meine Wahrnehmung nach oben richtete, bemerkte ich, dass diese
riesig wirkende Gestalt mein eigener Körper war. Ich befand mich wieder außerhalb meines
Körpers. Ich schwebte langsam zurück in meinen Kopf und setzte mich an meinen Schreibtisch. Für
den Rest des Tages blieb ich in meinem Körper. Das Erstaunlichste an diesem Erlebnis war jedoch
die neu gewonnene vollkommene Gewissheit darüber, dass ich als bewusstes Gewahrsein nicht mit
meinem Körper gleichzusetzen war. Es war als ob mein Körper wie ein Auto gewesen wäre, aus
dem ich einfach nur für ein paar Augenblicke ausgestiegen wäre. An diesem Punkt erkannte ich,
dass ich kein bloßer Körper war, sondern wahrhaftig ein dem Tod nicht unterworfenes, geistiges
Wesen. Es schien, als wäre ich ein Ball oder eine Kugel aus klarem und durchscheinendem
Wahrnehmen oder Bewusstsein gewesen ohne jegliche Masse, Festigkeit oder Grenze. Ich war
vollständig eins mit meinem Geist und dem Gefühl, noch ich selbst zu sein, aber eben körperlos.

Später erfuhr ich von spezielle Praktiken im tibetischen Buddhismus, die sich mit der so genannten
Bewusstseinsübertragung befassen, die im Tibetischen als Pho-wa bekannt ist. Dabei wird die
Fähigkeit trainiert seinen Körper bewusst zu verlassen, um sich auf den Moment des Todes
vorzubereiten. Auch im Taoismus ist eines der Ergebnisse der taoistischen Praxis, dass diese Kugel
des bewussten Gewahrseins, Shen oder der Geist genannt, in der Lage ist den Körper zu verlassen.
Bei wachem und vollem Bewusstsein können dann verschiedene Bereiche und Orte im Universum
aufgesucht werden. Später habe ich dann gelernt, dass es nicht so wichtig ist eine außerkörperliche
Erfahrung zu machen. Entscheidender ist es zu verstehen, dass das Bewusstsein oder das
Gewahrsein völlig leer von jeglichen materiellen Bestandteilen ist, wie beispielsweise schlichter
Raum an sich aber lebendig wahrnehmend und unabhängig vom Körper. Es ist dasselbe
Bewusstsein oder Gewahrsein, über das wir bereits gesprochen haben – jenes Gewahrsein, das
unsere Gedanken und Sinneseindrücke erlebt und kennt.

Dieses außerkörperliche Ereignis in Dänemark war eine starke Triebkraft für eine tiefer gehende
Suche nach einem Verständnis für meine Identität in einem spirituellen Zusammenhang. Allerdings
war ich nicht in der Lage, die Frage nach der Identität allein durch diese außerkörperliche Erfahrung
zu klären. Weiterhin war da das Gefühl einer individuellen Existenz, die sich als getrennt erfuhr von
anderen und von der Welt, in der ich lebte. Ich hatte jedoch eine tiefere, ganzheitlichere Intuition
bezüglich der Natur der Realität. Es wurde offensichtlicher, dass unser Gefühl des Getrenntseins
auch nach dem Tod des Körpers oder außerhalb des Körpers fortbestehen kann. Das Erkennen des
Einsseins war noch einmal etwas anderes. In vielen spirituellen Traditionen wird davon
ausgegangen, dass wir sowohl einen geistigen, als auch einen physischen Körper haben und dass
beim Tod des physischen Körpers das Bewusstsein in einem mentalen Körper weiterbesteht. Dieser
Mentalkörper ist eine Energieform, die aus den subtilsten Energien unserer Lebenskraft besteht. Sie
wird im chinesischen System der spirituellen Praxis Chi (Qi) und im indischen Prana genannt. Im
Westen verbinden wir diesen subtilen Mentalkörper mit der Erscheinung eines Geistes. Sobald wir
erst einmal in der Lage sind unsere Identifikation mit dem physischen Leib als eine
Fehlwahrnehmung aufgrund diverser Annahmen unseres Geistes zu sehen, sind wir besser in der
Lage uns selbst als ein wahrnehmendes Bewusstsein unabhängig vom Körper und seinen Prozessen
zu erkennen. Diese Feststellung ändert aber immer noch nichts an unserem grundlegenden Gefühl
des Getrenntseins vom Ganzen. Wir haben nur den Zustand von etwas erreicht, das ähnlich wie ein
Geist zu sein scheint, der körperlos im Raum umherschwebt. Das löst sicherlich unsere Angst vor
dem Tod als eine Art Endzustand permanenter Auslöschung, aber es eignet sich nicht als Erklärung
für das, was ich Erleuchtung nennen würde.
Alle Traditionen sprechen von Erleuchtung im Sinne eines Erkennens und Spürens von „Einssein“
mit der Gesamtheit des Lebens und des Universums. Die Erleuchtung wird von einem Gefühl des
Friedens, der Freude und der Liebe gegenüber allen Wesen begleitet. Ich konnte nicht wirklich
sagen, dass dies meine damalige Erfahrung ausmachte, aber sie war sicherlich in vielerlei Hinsicht
beglückend und befreiend. Ich erinnere mich an eine Zeit nach dieser außerkörperlichen Erfahrung,
als ich später in Colorado lebte. Meine Freundin holte mich vom Flughafen in Colorado Springs ab
und wir fuhren zu meinem Haus in den Ausläufern der Rocky Mountains. Als wir das letzte Stück
der Straße hinauffuhren, schaute ich aus dem Fenster und bemerkte die Kiefern, die den
Straßenrand säumten. Meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf eine bestimmte Kiefer und ihre
dunkelbraune Rinde. Einen Moment lang schien ich die Beschaffenheit der Rinde mit meinen
Augen zu spüren und mein Wahrnehmungsraum dehnte sich so weit aus, dass er den Baum mit
einschloss. In jenem kurzen Augenblick konnte ich die Lebenskraft des Baumes spüren, als die
Sonnenwärme auf den oberen Ästen den Saft aus den Wurzeln hoch zog. Es fühlte sich an, als
würde der Saft durch mich hindurchfließen und vermittelte mir das Gefühl, für diesen einen kurzen
Moment der Baum zu sein.

Es war keine Einbildung, es war eine übersinnliche Erfahrung. Der Baum schien über eine Art von
Bewusstsein zu verfügen, welches das gesamte organische Leben durchdrang. Es war eindeutig eine
Erfahrung von Einssein mit der Gesamtheit der Natur, so wie sie auch von vielen Dichtern
überzeugend beschrieben wurde. Diese spezielle Erfahrung schien sehr eng mit meinen
außerkörperlichen Erfahrungen der vorangegangenen Jahre verbunden zu sein. Sie war allerdings
mehr auf das Eins-Sein im Sinne der grundlegenden Ungetrenntheit von Phänomenen als Ganzes
ausgerichtet. In der früheren, oben beschriebenen „außerkörperlichen“ Erfahrung besaß ich die
Fähigkeit Oberflächenbeschaffenheit und Temperatur zu „fühlen“, wie es mit den bereits
beschriebenen metallischen Ablage-Körben geschah. Später erfuhr ich, dass diese spirituellen
Wahrnehmungen tief in den Bereich des Bewusstseins hineinreichen und darüber hinaus auch als
Telepathie, Hellsichtigkeit und Synchronizität erlebt werden können. Ich werde in den folgenden
Kapiteln noch mehr darüber berichten und hoffentlich tiefere Einblicke in unsere spirituellen
Fähigkeiten und deren natürliche Entfaltung ermöglichen.

Der Psychiater und Begründer der transpersonalen Psychologie, Stanislav Grof, erzählte eine
ähnliche Geschichte. Einer seiner Patienten erlebte einen meditationsähnlichen Zustand, den er als
transpersonales Bewusstsein bezeichnete. Transpersonal bezieht sich auf eine Erfahrung jenseits
unseres räumlich begrenzten Selbst. Sie offenbart die Ganzheit und eine tiefe natürliche
Verbundenheit mit allem uns Bekannten. Nachdem ich diesen Bericht gerade gestern zum ersten
Mal gelesen habe, musste ich ihn hier mit hineinnehmen, weil er meiner oben beschriebenen
Erfahrung verblüffend ähnlich ist.

„Ich hätte niemals ernsthaft die Möglichkeit erwogen, dass es so etwas wie ein Pflanzenbewusstsein
geben könnte. Ich habe einige Berichte über Experimente gelesen, die auf das „geheime Leben der
Pflanzen“ hinweisen und behaupten, dass das Bewusstsein des Gärtners die Ernte beeinflussen
kann. Ich habe so etwas immer für unbegründetes und fadenscheiniges New-Age-Geschwätz
gehalten. Aber da war ich nun, völlig verwandelt in einen riesigen Sequoia-Baum, und mir war
völlig klar, dass dieses Erlebnis tatsächlich in der Natur vorkommt. Ich entdeckte nun Dimensionen
des Kosmos, die unseren Sinnen und unserem Intellekt normalerweise verborgen bleiben. Die
oberflächlichste Ebene meiner Erfahrung schien nun sehr körperlich zu sein und Dinge zu
beinhalten, die westliche Wissenschaftler zwar beschrieben haben, ich nun aus einem völlig neuen
Blickwinkel betrachtete - als Bewusstseinsvorgänge, die eher von kosmischer Intelligenz geleitet
werden, als mechanische Vorgänge in organischer oder unbewusster Materie. Mein Körper hatte
tatsächlich die Form des Sequoia-Baumes, er war der Sequoia. Ich konnte die Zirkulation des Saftes
durch ein komplexes System von Kapillaren unter meiner Rinde spüren. Mein Bewusstsein folgte
dem Fluss bis in die feinsten Äste und Nadeln und wurde Zeuge der geheimnisvollen Gemeinschaft
des Lebens mit der Sonne - der Photosynthese. Mein Bewusstsein reichte bis in das Wurzelsystem.
Selbst der Austausch von Wasser und Nährstoffen aus der Erde war kein mechanischer, sondern ein
bewusster und intelligenter Prozess.

Die Erfahrung hatte jedoch tiefere Ebenen, die mythisch und mystisch waren, und diese
Dimensionen waren mit den physischen Aspekten der Natur verwoben. So war die Photosynthese
nicht nur ein erstaunlicher alchemistischer Prozess, sondern auch ein direkter Kontakt mit Gott, der
sich in den Strahlen der Sonne zeigte.

Die tiefste Ebene der Erfahrung war rein spirituell. Das Bewusstsein des Sequoia war ein Zustand
tiefgehender Meditation. Ich empfand eine erstaunliche Ruhe und Gelassenheit, wie ein stiller,
unbeirrter Zeuge der Jahrhunderte. An einem Punkt verschmolz mein Bild des Mammutbaums mit
dem einer riesigen Buddha-Figur, die in tiefer Meditation versunken war, während die Torheit der
Welt an mir vorbeizog. Ich dachte an die Querschnitte durch riesige Baumstämme, die ich im
Sequoia-Nationalpark gesehen hatte. Auf dem Mandala bestehend aus fast viertausend Jahresringen
befanden sich in verschiedenen Abständen nahe der Oberfläche Markierungen wie „Französische
Revolution“ oder „Kolumbus entdeckt Amerika“. Ein weiteres Schildchen auf halbem Weg zur
Mitte markiert das Jahr der Kreuzigung Christi. Für ein Wesen, das diesen Bewusstseinszustand
erreicht hat, bedeutet die ganze Aufregung der Weltgeschichte sehr wenig.“
Stanislav Grof, Der holotrope Geist

Als ich dies las, war ich geradezu erschrocken über die Genauigkeit des tieferen Inhalts meiner
eigenen transpersonalen Begegnung mit der Natur, die sich vor sechsunddreißig Jahren in Colorado
ereignete. Der Unterschied zwischen den beiden war, dass ich in meinem Fall in sensorischem
Kontakt mit einer echten, lebenden Kiefer stand.

Was ich bei meiner außerkörperlichen Erfahrung entdeckte, war die Tatsache unseres fein-
stofflichen Körpers als spiritueller Energiekomplex, der auch als Fahrzeug und Hülle des Geistes
weiter existiert, wenn der Körper stirbt. Dieser Komplex aus bewussten Energien wird in fast allen
religiösen Traditionen als Seele bezeichnet. Einige religiöse Traditionen sehen das Ziel des
religiösen Lebens und der religiösen Praxis darin, eins mit Gott zu werden. In den östlichen
Traditionen kommt dies am deutlichsten im Hinduismus zum Ausdruck, wo es das Ziel des Yoga ist.
Yoga bedeutet „Vereinigung“. Gemeint ist die Vereinigung der persönlichen Seele oder des Selbst
mit Gott, Brahman oder dem göttlichen Selbst. Im Buddhismus wird sich auf dieses Selbst mit
einem Begriff bezogen, der weniger an die menschliche Gestalt angelehnt ist. Hier wird es als
Nirvana bezeichnet. Im Verlaufe der buddhistischen Praxis wird erkannt, dass das ortsgebundene
Selbst eine Täuschung war, eine Projektion des Geistes. Praktizierende erkennen, dass ihre wahre
Natur das Nirvana ist, also ein selbst-loser Zustand reinen Seins. Dieses Sein manifestiert sich als
ein sichtbar lokalisiertes Selbst, welches aber seinen eigenen Ursprungs nicht erkennt. Dies ist
vergleichbar mit der subjektiven Identität, die auch im Traum scheinbar als real angenommen wird
und nicht erkennt, dass sie selbst nur eine Projektion aus einer tieferen Quelle ist.

Es ist jederzeit möglich, unsere bewusste Gegenwärtigkeit als reines, unbeeinflusstes Gewahrsein
innerhalb unseres unmittelbaren Bewusstsein zu erkennen. Wir müssen uns nur auf unsere bewusste
Gegenwart als das ausrichten, was wir sind. Das Problem besteht darin, dass unsere
Aufmerksamkeit auf unsere Gedanken, unser Selbstgefühl, unsere Sinneswahrnehmungen und
unsere Vorstellungen gerichtet ist, anstatt den allgegenwärtigen Grundzustand des Gewahrseins im
Jetzt oder im Bewusstsein zu bemerken. Es ist möglich, sich unseres eigenen spirituellen Zustands
voll bewusst zu sein auch ohne an einen solchen Zustand zu glauben.

Wenn wir unseren Fokus für die ortsgebundene, wahrnehmende Gegenwart in den Bereich der
Augen oder direkt dahinter legen, ist es beim Schauen durch unsere Augen dann so, als ob wir
durch ein Fenster in den Raum vor uns blicken würden. Wir sind eine Kugel durchscheinenden
Gewahrseins ohne Abgrenzung, die bezüglich ihrer Lage vorläufig etwas hinter und über den
Augen verortet ist. In dieser Sphäre erleben wir uns als transparent, klar und ohne Inhalt. Wir sind
ein Feld durchscheinender, lebendiger Offenheit, welches sich mit dem Körper beim Gehirn in
Augennähe überlappt. Wir haben kein eigentliches Zentrum, aber wir erleben eine mit den Augen
verbundene Orientierung. Unser Sein entspricht einer durchscheinenden, bewussten, kristallklaren
Kugel, die einfach im Kopf schwebt.

Die Reflexionen oder Phänomene erscheinen in unserer Klarheit, wie in dem Glas eines Spiegels.
Keines der Phänomene beeinflusst jemals unser klares und unveränderliches Schauen. Nimm
während du aus deinen Augen schaust dein unmittelbares Gewahrsein genau jetzt wahr und spüre,
wie du dieses reine, raumähnliche Sehen bist. Es kann schwierig sein zu erkennen, ob du hierbei
im Kopf bist oder ob der Kopf eher in dir ist. Nimm wahr, wie du selbst nicht stofflich erscheinst,
sondern einfach nur dieses reine Sehen bist, welches keine Grenzen kennt. Du bist vollkommen
durchscheinend und lebendig gegenwärtig. Bemerke, dass du diese Sphäre des klaren
Gewahrseins, des reinen Sehens bist. Mit anderen Worten: Nimm dein Gewahrsein wahr. Nimm
wahr, dass du als Gewahrsein immer genau hier bist. Gedanken können das Gewahrsein nicht
blockieren; Gedanken sind nur Erscheinungen in dir als Gewahrsein. Das Ich und die
Persönlichkeit sind nur Erscheinungen in deinem leeren bewussten Schauen. Du bist immer du,
immer genau hier, klar und leer, in ausgezeichneter Klarheit und exquisitem Sein.

Bemerke in diesem Augenblick dasjenige, was auf diese Worte blickt. Dieses reine Schauen hat
keinen Namen, keine Identität oder Geschichte. Es ist dein unveränderliches Wesen.

Betrachte den natürlichen Zustand unseres Seins als einen riesigen Spiegel, um noch einmal die
Analogie des Spiegels zu verwenden. Alle Phänomene erscheinen in ihm als Reflexionen. Unsere
allgemeine mentale oder spezielle kognitive Erfahrung besteht darin, dass wir eher nur die
Spiegelungen sehen, fühlen oder mit Hilfe der anderen Sinne bemerken. Wie können wir aber den
Spiegel, also unser grundlegendes Wesen sehen oder erkennen? Es ist genauso, als ob du vor dem
Spiegel stehst und dein Spiegelbild betrachtest. Normalerweise siehst du nur das gespiegelte Bild.
Aber wenn du den Spiegel putzt, verlagerst du dein Sehen so, dass du das klare Glas des Spiegels
betrachtest und nicht mehr die Spiegelungen. Etwas Ähnliches können wir in der Meditation tun
oder auch indem wir einfach unseren jeweils aktuellen Zustand wahrnehmen. Wir verschieben
unsere Aufmerksamkeit weg vom Absorbiertsein in unsere Gedanken und Bilder, hin auf das
Loslassen und Entspannen dieses aufmerksamen Absorbiertseins. Dadurch sind wir in der Lage,
die Lebendigkeit unseres stets gegenwärtigen nackten Gewahrseins zu bemerken. Auf diese Weise
bemerkst du den klaren Spiegel des Gewahrseins. Fahre dann in der Praxis damit fort, dieses
lebendige, bewusste Gewahrsein wieder und wieder loszulassen, zu entspannen und erneut zu
registrieren. Erinnere dich daran, die Aufmerksamkeit und das Gewahrsein auf die Augen zu
lenken und bemerke das transparente Wesen dieses klaren Sehens. Vielleicht bemerkst du im Laufe
der Übung, wie das Loslassen und Entspannen spontan geschieht. Die Gedanken und Bilder
entstehen und verschwinden von selbst. Schließlich löst sich sogar die leichte Anstrengung auf, die
für das Bemerken des natürlichen Gewahrseins erforderlich ist. Dann enthüllt sich das lebendige
Gewahrsein als unsere wahre Natur, die spontan jede Erfahrung durchdringt.

Auf jeden Fall sollten meine Beschreibungen oder die von anderen nicht einfach so akzeptiert
werden, wie dieses Gewahrsein aussehen mag oder nicht. Es ist unersetzlich, selber nachzuforschen
und herauszufinden, was genau das eigene wahre Wesen ist. Schaue dafür rückwärts in dein
Gewahrsein, als ob es direkt hinter den Augen wäre, jenem Ort, von dem aus du schaust. Es ist ein
Schauen hinein in den Mittelpunkt deines Bewusstseins. Du wirst feststellen, dass dort absolut
nichts ist, nur dieses Gewahrsein. Bemerke dann wieder, während du aus deinen Augen schaust,
dass du derjenige bist, der schaut. Dieses Schauen ist reines Gewahrsein, das unveränderliche
wahrnehmende Wesen des reinen Seins. Es ist unsere Grundeinstellung und nichts weiter ist nötig
um es zu unterstützen.

Über viele Jahre hinweg habe ich Methoden entdeckt, die das Eintreten in einen inneren Zustand
des Erforschens des Wesens unseres Bewusstseins ermöglichen. Wir können unsere Gedanken,
unser Selbstgefühl und jenes Gewahrsein untersuchen, das in all unseren Erfahrungen das
Beobachtende ist. Wenn wir fragen: „Wer oder was ist bewusst?“ oder „Wer oder was kennt diese
Erfahrung?“, können wir entdecken, dass wir kein festes Gebilde finden können. Wir können nur
einen unpersönlichen Zustand bewussten Wissens finden. Wenn wir antworten: „Ich bin die- oder
derjenige, die oder der bewusst ist“, dann müssen wir einfach nur fragen: „Wer oder was ist dieser
Ich-Empfindung gewahr?“

Wenn diese Ich-Empfindung auftaucht, sollten wir ebenso bemerken, dass sie von den
Bezeichnungen Ich oder mir begleitet wird. Dieses Ich ist nur ein Gedanke, wie jeder andere
Gedanke auch. Weil das der Fall ist, können wir erkennen, dass jener Ich-Gedanke genauso
transparent ist wie jeder andere Gedanke. Weil er unser Identitätsgefühl definiert, ist er
gewohnheitsmäßig so stark wirksam. Unser wahres Wesen ist jedoch dasjenige, innerhalb dessen
dieser Ich-Gedanke auftaucht. Wir sind dagegen niemals dieses Etikett oder das, was es andeutet.
Wir sollten einige Zeit damit verbringen, diesen Ich-Gedanken zu beobachten und seine flüchtig-
durchscheinende Natur für uns selbst zu entdecken.
Frei von dem Glauben an die Gültigkeit dieses Ich-Gedankens zu sein ist bereits die Freiheit von
persönlichem Leiden. Es ist nichts weiter als nur dieser imaginäre Ich-Gedanke, der als leidendes
Ich aus dem Unterbewusstsein auftaucht.

Indem wir mit der Erforschung des Wesens unseres Gewahrseins fortfahren, werden wir schließlich
die Gegenwart eines unbestimmten Sich-vertraut-fühlens mit Erfahrungen entdecken. Es hat keinen
Namen und keine Vorlieben. Es hat keine Geschichte oder Erzählung. Sein genauer Standort ist
nicht bestimmbar außer dem groben Bereich direkt hinter den Augen. Irgendeine Form oder Gestalt
ist nicht zu entdecken. Es ist schlicht nicht zu beobachten, weil es sich genau an dem Ort befindet,
von dem aus beobachtet wird. Wie viel näher könntest du dem Ort kommen, an dem du bereits bist?

Völliges Erkennen zu erlangen bedeutet, das Wesen deines eigenen Seins als reines Gewahrsein zu
erkennen. Wenn wir unser Gewahrsein als ein nicht persönliches Bewusstsein entdecken, das
schlicht als Sein gegenwärtig ist, können wir dieses Gewahrsein als ein universelles Bewusstsein,
den Urgrund des Seins erkennen. Manche mögen es den Geist Gottes nennen, den Buddha-Geist
oder einfach nur das Selbst. Wenn im weiteren Verlauf des Buches dieser nicht personalisierte
Aspekt des Bewusstseins gemeint ist, wird er in diesem Zusammenhang auch einfach als
„Gewahrsein“ bezeichnet. Das universelle Gewahrsein zu verwirklichen ist so einfach wie das
Bemerken der unmittelbaren klaren Gegenwart, die diese Worte liest und jene Gedanken erkennt,
die darauf hin entstehen.

Bemerke, dass dein Gewahrsein keine Form oder Gestalt hat. Es ist leer wie der Raum, aber
bewusst und es beobachtet durch deine Augen und mit den anderen Sinnen.

Bemerke jeden gegenwärtigen unangenehmen Zustand, wie beispielsweise einen verkrampften


Ego-Zustand, einen Gedanken, eine Emotion, einen Energiezustand, eine Sinneserfahrung oder ein
Gefühl. Beobachte den Zustand. Nimm das Gefühl im Körper wahr. Beobachte einfach das Gefühl.
Bemerke das Gewahrsein, welches das Gefühl beobachtet. Schau, ob du einen Teil dieses Gefühls
finden kannst, dessen Du dir nicht bewusst bist.
Achte darauf, ob dein Gewahrsein irgend einen Abstand zu dem beobachteten Gefühl hat oder in
direktem Kontakt mit ihm steht. Wie nahe ist dein Gewahrsein an dem Gefühl? Wo befindet sich
das beobachtete Gefühl im Verhältnis zu deinem Wahrnehmen dieses Gefühls? Achte nun auf die
leere bewusste Qualität deines Beobachtens. Bemerke, dass das beobachtete Gefühl nicht von
deinem Wahrnehmen desselben getrennt werden kann. Erkenne, dass das beobachtete Gefühl
identisch mit dem unmittelbaren Gewahrsein eben dieses Gefühls ist, so wie die Wellen untrennbar
vom Ozean sind.

Wenn dabei Unwohlsein auftritt, bemerke wie dein Verstand diese Empfindung zu leugnen
versucht, indem er ein Gefühl des Getrenntseins von der Empfindung erzeugt, um diese zu
vermeiden. Er kann die Empfindung zwar nicht vermeiden, aber er kann durch Widerstand
versuchen, sie zu unterdrücken oder ins Unbewusste zu ziehen. Wir tun dies mit allen Erfahrungen,
die der Verstand als unangenehm empfindet. Das gilt sowohl für Gedanken als auch für
Sinneswahrnehmungen und Gefühle. Bestimmte Erfahrungen zu unterdrücken oder zu verdrängen
ist die Quelle für den ganzen Stoff im Freudschen Unbewussten. Allerlei Zeug im Unbewussten ist
auf unterdrückte emotionale Reaktionen und die damit verbundenen negativen Gedankenkonstrukte
oder Überzeugungen zurückzuführen. Aufgrund von Widerstand und Verleugnung werden
Erinnerungsspuren hinterlassen, die wie Samen aus eingekapselter Energie wirken. Diese Samen
können sich in der Zukunft ganz oder teilweise öffnen, wenn ein ähnlicher innerer oder äußerer
Anstoß die verdrängte Erinnerung und ihre Energie auslöst. Indem wir uns nicht gegen unsere
inneren und äußeren Erfahrungen wehren, können wir ein weiteres Anwachsen dieser Ansammlung
verdrängter Erinnerungen vermeiden. Wenn dann diese Erinnerungen und emotionalen Energien
wieder „ausgelöst“ werden, sollten wir sie einfach genau so auftauchen lassen, wie sie sind und sie
beobachten ohne zu beurteilen oder Widerstand zu leisten. Mit der Zeit entwickeln wir eine neue
Art und Weise uns mit unserer Erfahrungswelt zu verbinden. Es entwickelt sich daraus ein
Lebensweg, der viel entspannter und befreiender ist.

Das polare Gegenteil von Bewusstsein ist, nicht bewusst zu sein, also eine Art von Unwissenheit. Je
dichter oder zusammengezogener unsere geistige Energie durch Widerstand-leisten wird, desto
weniger offen und beweglich wird unsere Intelligenz. Der Ego-Zustand ist selbst eine Kontraktion
geistiger Energie aufgrund einer nach innen wirkenden oder selbst-zentrierende Kraft. Diese Kraft
begrenzt ihren eigenen Erfahrungsbereich. Der Ego-Zustand oder das Gefühl des persönlichen
Selbstseins besteht insofern aufgrund der Gegenwart des Ich-Gedankens. Im Ich-Bewusstsein wird
der Geist durch seine eigene Selbstbezogenheit unbewusst mit einbezogen, ähnlich einem
innewohnenden Narzissmus. Unser Selbstgefühl ist ein mit Energie geladener Gedanke innerhalb
des Geistes. Es ähnelt einer Figur in unseren Träumen. In unseren Träumen erkennen wir auch
nicht, dass unsere Individualität nur eine vorübergehende Projektion des Geistes ist. Das findet
genauso auch in unserem Wachzustand statt. Aber hier erfahren wir unser waches Selbstgefühl
direkt als eine Projektion des Unterbewusstseins und wissen instinktiv, dass unsere Selbstidentität
schlicht eine Illusion ist. Dies ist das unmittelbare, direkte Erkennen des Nicht-Selbst. Nach dieser
Erkenntnis läuft alles leichter als bisher, weil der Geist nicht mehr mit den komplexen Handlungen
zur Verwaltung dieses illusorischen Selbst belastet ist. Das Wahrnehmen findet nun direkt statt,
ohne die vermittelnde Einmischung eines Egos und ohne durch ein von Gewohnheiten geformtes
Selbst.

Das Erkennen aller Gedanken als spontane Spielarten von Gewahrseins-Energie ist eine
grundlegende Einsicht. All diese Gedanken entstehen im Geist und lösen sich von Augenblick zu
Augenblick wieder auf. Ein Gedanke ist eine wellenartige Schwingung bewusster Energie mit
informationsgeladener Bedeutung. Gedanken ereignen sich im Gewahrsein wie Reflexionen in
einem Spiegel. Der Geist ist selbst die schöpferische Gewahrseins-Energie. Der Geist erscheint in
verschiedensten Energieformen von Wort-Gedanken, Bild-Gedanken, Gefühls-Gedanken und oft
aus einem unterschiedlichen Zusammenspiel dieser Varianten. Jenes Energiefeld des Geistes umgibt
diesen dimensionslosen Punkt wachen Gewahrseins wie eine Aura, oder falls es zusammengezogen
ist, wie einen Kokon. Dies ist der feinstoffliche Geistkörper. Die subjektive Erfahrung von
Selbstbewusstheit ist ihr eigenes Energiefeld, das um den Ich-Gedanken zentriert ist. Mit anderen
Worten: Wenn der Himmel mit Wolken bedeckt oder der Geist mit Gedanken gefüllt ist, erleben wir
einen wolkenverhangenen Tag oder einen geistig absorbierten Moment. Weder hat sich der Himmel
durch die Anwesenheit der Wolken – , noch hat sich das Gewahrsein durch die Anwesenheit von
Gedanken oder geistigen Inhalten verändert. Aber was den Geist betrifft ist der geistige Inhalt eben
unsere direkte Erfahrung in genau diesem Augenblick. Das Gewahrsein ändert sich also nicht, nur
sein in das Erfahren eingebetteter Inhalt. Das Erkennen dieser nicht veränderlichen Seite des
Gewahrseins ist ein bedeutender Durchbruch im Sinne der persönlichen Befreiung.

Wie bereits erwähnt, bestimmt der Geist den Inhalt und die Qualität der Erfahrung in erster Linie
durch die Kraft der Aufmerksamkeit. Dies geschieht, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf das
richten, worauf wir uns gerade konzentrieren wollen. Es gibt zwei Möglichkeiten unsere
Aufmerksamkeit zu platzieren: Wir können in den Inhalten des in Gedanken versunkenen Geistes
verweilen, oder wir können als nacktes Gewahrsein verweilen, in dem alle Gedankeninhalte
erscheinen. Beide Dynamiken verlaufen parallel entlang derselben Zeitlinie. Die nackte Gegenwart
des wahrnehmenden Bewusstseins koexistiert mit dem Geist, der mit diversen Gedankeninhalten
gefüllt ist. Wäre dies nicht der Fall, gäbe es kein unmittelbares Wahrnehmen von Erfahrung. Wir
können unsere Aufmerksamkeit auf den offenen, beobachtenden Aspekt des Gewahrseins richten,
oder die Inhalte und Aktivitäten des Geistes in den Blick nehmen. Die Freiheit findet sich in diesem
lebendigen leeren Raum des beobachtenden Gewahrseins. In diesem Zustand sind weder Leiden
noch Verwirrung möglich. All unsere Probleme und Leiden rühren vom Versunkensein in die
Geschichten und Tagträume her, die den Inhalt unseres Geistes ausmachen. Wichtig zu beachten ist,
dass das Selbstgefühl die zentrale Säule ist, die das Absorbiertsein des Geistes in seinen jeweiligen
Inhalt aufrecht erhält. Alle Geschichten in meinem Kopf drehen sich um mich und darum, wie ich
meine Situationen bewerte. Aus diesem Grund müssen wir noch einmal auf dieses Ich-Gefühl
schauen, das im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Geistes steht.

Beachte, dass dein Gewahrsein wahrnehmend und leer ist. Dennoch scheint es die Form einer
subjektiven persönlichen Identität anzunehmen. Das wäre wie eine einzelne Wolke, die den
offenen Himmel beherrscht, wobei die Wolke der Ich-Gedanke und der offene Himmel unser
Gewahrsein ist. Wir bemerken, dass eine Wolke am Himmel auftaucht und wieder verschwindet.
In gewissem Sinne sind die Wolke und der Himmel also gar nicht voneinander getrennt. Wenn sich
die Wolke in der Atmosphäre auflöst, bleibt die Leere des Himmels. Wir könnten also sagen, dass
die Leere des Himmels auch die Leere ist, die der Wolke innewohnt. Die Form der Wolke ist
immer vorläufig; sie wird in ihre Leere im Einssein mit dem Himmel zurückkehren. Gedanken
entstehen aus der Leerheit des Geistes und lösen sich wieder in diese Leerheit auf. Sie nehmen
niemals eine vom wahrnehmenden Geist getrennte Existenz an, unabhängig von dem Bewusstsein,
in dem sie erscheinen. Wir könnten also sagen, dass Gedanken im Wesentlichen leer von jeder
inhärent existierenden Form sind, weil sie immer wieder verschwinden, wie die Wolken am
Himmel. Für den Verstand jedoch nehmen die Geschichten, die diese vorübergehenden Gedanken
erzählen, in dem Maße eine gewisse Realität an, indem der Verstand sie durch seine
Aufmerksamkeit mit Energie versorgt. Aber genau wie die verschiedenen Formen, die die Wolken
am Himmel annehmen können, lösen sich die Geschichten des Geistes, also die Formen unserer
Gedanken, alle in Leere auf.
Wenn wir doch nur die vollständige Leerheit all dieser Geschichten unseres Geistes von Anfang an
erkennen könnten, so ließen sich viel Leid und Sorgen vermeiden. Nun, es ist möglich, genau das zu
tun.
Die raumgleiche Leere unseres beobachtenden Geistes und seine Erscheinungen in Form von
Gedanken bestehen beide im selben Moment und am gleichen Ort, wie die Reflexionen im Glas
eines Spiegels erscheinen. Das denkende Erkennen von Erfahrung ist eine Qualität der
wahrnehmenden Leere oder des bewusstseinserfüllten Raums. Begriffliche Bedeutung und
Energieintensität sind die bestimmenden Aspekte der Gedankenform. Das leere Gewahrsein
durchdringt die Form des Gedankens auf nicht-dualistische Weise, wie Wasser eine Welle
durchdringt. Der Gedanke ist eine Welle des Gewahrseins. Das Erkennen des leeren Gewahrseins in
allen erlebten geistigen Phänomenen, wie Sinneswahrnehmungen, Gefühlen oder Gedanken,
enthüllt die Form an ihrer Wurzel als leeres Gewahrsein. Dadurch löst sich die Form auf und
verwandelt sich zurück in ihre nackte Essenz als Gewahrsein. Dies ist die Methode der Selbst-
Befreiung. Es ist nicht so, dass wir etwas „tun“ müssen, um die Gedanken sich „selbst-befreien“ zu
lassen; sie offenbaren von alleine ihre ihnen innewohnende Vergänglichkeit von Augenblick zu
Augenblick.
Wir nehmen einfach die Position ein, alle wahrgenommenen Phänomene frei von Bewertung zu
erfahren. Bemerke, wie dein nackt-bewusstes Wahrnehmen unveränderlich ist, egal ob Gedanken,
Selbstfixierung, Leiden oder Schmerz auftauchen. Sein Modus ist das Einssein mit allem. Sein
Weg ist immer, alles so zu lassen, wie es ist. Welche Anstrengung liegt darin, die Dinge genau so
wahrzunehmen, wie du sie erlebst?

Wenn das Belassen von allem, wie es ist, voll ausreift, lösen sich der Geist und das Denken in ihren
transparenten Ursprung hinein auf. Plötzlich entsteht eine erleuchtende Einsicht, eine Seite der
Gnosis oder der nicht-begrifflichen mystischen Weisheit. Nur diese Gnosis kann die Unwissenheit
verwandeln, die im Bewusstsein existiert. Durch diese Transformation enthüllen alle Phänomene im
Bewusstsein ihr vergängliches Wesen als Leerheit - das leere Wesen des Bewusstseins selbst. Auch
dies ist Befreiung und Erkennen.

Wenn wir beispielsweise einen Gedanken beobachten, verändert er sich im nächsten Augenblick.
Genau diese Gedankenerfahrung kann durch etwas Ähnliches ersetzt werden, aber der
ursprüngliche Gedanke ist für immer vergangen. Das gilt auch, wenn wir beispielsweise einen
Baum beobachten. Wir erleben nie den Baum an sich, sondern einzig den Eindruck, der im
Bewusstsein durch das Zusammenspiel der fünf Sinne entsteht. Wir erleben nie denselben Baum
zweimal; die Wahrnehmungserfahrung des Baumes ist immer ein neuer frischer Eindruck durch die
Sinne. Was wir erleben, ist ein vom Gehirn erzeugtes, farbiges Bild dessen, wie es sich den Baum
aufgrund von Sinneseindrücken und ähnlichen früheren Eindrücken vorstellt. Dieses
dreidimensionale Bild des Baumes ist aus demselben Stoff wie Gedanken und Träume. Daher ist
das vergängliche, leere Wesen der Gedanken das gleiche unbeständige, leere Wesen unserer
Erfahrung der „Außenwelt“. Wir erleben niemals eine Außenwelt, sondern nur die verarbeiteten
Sinneseindrücke, die in unserer inneren Welt erscheinen. Zudem sagt uns die aktuelle
Quantenphysik, dass die von uns als fest bezeichnete Materie überhaupt nicht solide ist. Nichts ist
in irgendeiner Weise fest oder beständig. Aber unser Gehirn versucht ständig die Welt so solide wie
möglich erscheinen zu lassen. Ein Stuhl ist beispielsweise eigentlich eine brodelnde Masse aus
Bewegung, die mehr leerer Raum als Energie ist. Der unveränderliche Stuhl als festes, solides
Objekt in Raum und Zeit ist eine vom Verstand erschaffene Täuschung. Wissenschaftlich betrachtet
gibt es daran keinen Zweifel.

Leider besteht diese Tendenz des Verstandes, Dingen eine Qualität dauerhafter Festigkeit zu
verleihen, auch für das Selbst-Gefühl. Wir werden in unseren Meinungen über uns selbst und unsere
Erfahrungswelt zunehmend festgefahren. Das wird für den Geist äußerst frustrierend, weil sich
schließlich alles vom Geist für fest und beständig Gehaltene als vergänglich und leer von jeglicher
beständigen Festigkeit entpuppt, einschließlich seiner selbst. Daher kommen seine vergeblichen
Bemühungen durch den Erwerb von immer mehr Geld, Macht und Einfluss ein Gefühl der
persönlichen Sicherheit um sich herum zu konstruieren. Diese Dynamik zur Aufrechterhaltung der
Festigkeit des Selbst und seiner Welt ist die Wurzel des menschlichen Leidens. Diese völlig
unnötige Tragödie, die allein in unserem Geist stattfindet, ist auf das Nicht-Erkennen des wahren
Wesens zurückzuführen. Das wahre Wesen ist das unwandelbare stete Gewahrsein.

Der Begriff Buddha bedeutet die oder der „Erwachte“. Aus was wurde dabei erwacht? Es wurde
aus der Traumprojektion des Geistes und seines sich vorgestellten Selbst oder Egos erwacht. Der
Traum ist die Geschichte unseres Geistes, die sich aus Gedanken, Identitäten, vorgestellten Bildern
und Gewohnheiten zusammensetzt. Alles Leiden existiert nur in dieser Geschichte. Tatsächlich bist
nicht du deprimiert, es ist nur dein Ego oder falsches Selbst, was deprimiert ist. Es bist nicht du, die
oder der wütend ist, es ist nur dein Ego, das wütend ist, und so weiter. Das bedeutet, dass nur dein
Ego leidet. Wenn der Traum vom Ich und seiner Geschichte aufhört, hört das Leiden auf und du
erkennst dich selbst als unbestimmtes und unveränderliches Gewahrsein. Unmittelbar gewahres
Sein schläft nie. Es nimmt während des Schlafes, des Träumens, des Denkens, im Leben und im
Tod wahr. Es wird nur normalerweise nicht bemerkt. Sich selbst erkennendes Gewahrsein ist
Erleuchtung. Unser wahres Wesen hat keine Vorlieben, Ziele, Pläne oder Probleme. Es ist nicht in
irgendeine Geschichte verstrickt. Es hat keine Wünsche oder Gedanken. Es wird niemals verwirrt.
Es hat kein Gefühl für ein persönliches Selbst. Es hat kein Gefühl von Besitzgier. Dennoch gibt es
allem Bestehenden eine offensichtliche Existenz auf völlig spontane Art und Weise. Die einzig
wirklich auffindbare Freiheit besteht darin, völlig wach für das zu sein, was du bist.

Frage: Könntest Du genauer erklären, wie durch das Erkennen der Leerheit des sinnlichen
Wahrnehmens, der Gedanken oder der Gefühle es sich wieder in das Gewahrsein hinein entspannt,
aus dem sie entstanden sind?

Antwort: Wenn wir während der Erfahrung eines Gedankens oder einer geistigen Erscheinung
jeglicher Art die leere Qualität unseres beobachtenden Gewahrseins bemerken, das den Gedanken
wahrnimmt, wird die Erscheinung abgeschwächt oder sich auflösen. Indem wir dies tun, erkennen
wir tatsächlich die leere oder vergängliche Natur der Erscheinung.

Erinnere dich daran, dass die Erscheinung in unserem Bewusstsein existiert. Die einzigen Objekte,
die im Bewusstsein vorkommen, sind Gedanken oder mentale Wahrnehmungen, weil der Geist oder
das Gehirn aus dem „externen“ sinnlichen Eindruck eine dreidimensionale Darstellung erschafft,
derer wir uns dann „bewusst“ werden. Mit anderen Worten, externe Objekte tauchen in unserem
Bewusstsein nie auf, sondern nur der geistige Abdruck von ihnen. Für unsere Zwecke könnten wir
alle Objekte, die im Bewusstsein erscheinen, als Wellen des Bewusstseins betrachten. Dieser
Vergleich passt, weil es keine vom Bewusstsein getrennte Substanz gibt, die in unserem Geist
auftaucht, außer dem Bewusstsein selbst, das als die erlebten Formen erscheint. Dies ist
vergleichbar mit der Aussage, dass in einem Traum alle Dinge und Personen, die in dem Traum
erscheinen, aus Traum-„Stoff“ oder mentalen Bildern bestehen. Das bedeutet, dass alles im
Bewusstsein Erlebte schlicht eine Seite des Bewusstseins selbst - und dass Bewusstseins als
Gewahrsein im Grunde genommen klare Leere ist. Das bedeutet, dass die essentielle Natur unserer
Gedanken, Gefühle oder Sinneswahrnehmungen ebenfalls leer ist, wie der Inhalt unserer Träume.
Wenn wir morgens aufwachen, erkennen wir die völlige Leere unserer Traumwelt. Sie hatte nie
irgendeine Art von Festigkeit, aber während des Traums schien sie fest und real zu sein. Sie war nur
eine Projektion des Geistes. Auf ähnliche Weise haben auch unsere geistigen Erfahrungen, die im
Wachbewusstsein auftauchen, keine wirkliche Substanz. Es ist diese Erkenntnis der Leerheit unserer
Gedanken, unserer geistigen Ereignisse und unseres Selbstgefühls, die uns von unserer
traumgleichen Welt des Leidens und der Angst befreit.

Frage: Was genau ist dieser Zustand des Einsseins, den du beschreibst?
Antwort: Wenn sich das Bewusstsein in eine höhere Art des Betriebs des bewussten Wahrnehmens
verschiebt, löst sich das Selbstgefühl als fester Punkt in Raum und Zeit auf. Wir könnten uns das
Konzept der Quantenphysik zu eigen machen, in der Licht entweder als ein lokalisiertes Teilchen,
also ein Photon betrachtet werden kann oder als eine nicht räumlich festschreibbare Welle. Mit dem
Bewusstsein verhält es sich genauso. Wir können den Anschein erwecken, als seien wir individuelle
Seelen, wie einzelne lokale Gewahrseins-Sphären, oder wir können als nicht ortsgebundenes
Bewusstsein erscheinen, ähnlich einem unbegrenzten Ozean des Gewahrseins. Wenn diese
Auflösung des Ich-Glaubens stattfindet, erfährt sich das Bewusstsein jenseits jeglicher Grenzen
oder spezifischer Identifikation als ein „Ding“ oder eine Person. Es gibt eine universelle Intelligenz,
die alles Bestehende ohne jegliche Grenzen durchdringt. Wir sind diese Intelligenz und als solche
sind wir in der Lage, unsere grenzenlose Gegenwärtigkeit zu spüren, die in allem und als alles ist.
Es ist eine tatsächlich gedankliche Erfahrung, die in dem Augenblick entsteht, in dem der Geist frei
von allen Fixierungen, Gedankenkonstrukten und dem Ich-Gefühl oder dem Gefühl des
persönlichen Selbstseins ist.

In den auf Meditation beruhenden Traditionen wird dieser Zustand des nicht lokalisierten Seins im
so genannten Samadhi erfahren. Dies meint einen nicht-dualistischen Bewusstseinszustand, in dem
das Einssein der Wirklichkeit direkt erkannt wird. In den meisten kontemplativen Traditionen wird
dieser Zustand im Laufe der Vervollkommnung der Meditationspraxis erlebt. Bei der Meditation
wird der Geist durch Konzentrations- und Atemübungen dazu ermutigt, vollkommen still zu
werden. Irgendwann kann der Geist vollkommen ruhig werden, was bedeutet, dass keine Gedanken
mehr da sind und das Gefühl verschwindet, ein separates Selbst zu sein, das ja nur aus Gedanken
bestand. Wenn es uns gelingt den Geist zur Ruhe zu bringen, bleibt immer noch ein Gewahrsein,
was diese Stille bemerkt. Dieser Zustand des Gewahrseins ist derselbe, der auch Gedanken und
Sinneseindrücke wahrnimmt. Es befindet sich niemals in einem dualistischen Zustand bezüglich
seiner Erfahrungen. Es hat kein persönliches Selbst-Gefühl. Es denkt nicht und stellt sich nichts
bildlich vor. Dennoch ist es unser immer gegenwärtiges, nicht definiertes, bewusstes gewahres Sein.
Es gibt auch einen weniger bekannten Weg, Samadhi ohne Meditationspraktiken und jene
Bemühungen zu erreichen, den Geist ruhig werden zu lassen.
Indem der denkende Verstand einfach entspannt und zu einer nicht wertenden, beobachtenden
Gegenwart wird, fällt der Verstand ganz natürlich hinein in die Stille, die die grundlegende
Eigenschaft dieses beobachtenden Gewahrseins ist. An diesem Punkt befindet sich die Energie des
Geistes im bloßen Zustand aufmerksamer Wachsamkeit und nicht im aktiven Denken. Wenn dieses
bloße Wahrnehmen beibehalten wird, zeigt das Gewahrsein selbst seine eigene innere Dynamik
und ein natürlicher nicht-dualer Zustand von Samadhi wird enthüllt, nicht erschaffen.
Dies ist die Methode, die ich in diesem Buch als wesentliches Mittel zum Erkennen der bereits
erleuchteten Natur des Geistes vorstelle. Diese bereits erleuchtete Eigenschaft des Geistes wohnt in
uns und durchströmt unser bestehendes Bewusstsein ohne Grenzen.

Seit der außerkörperlichen Erfahrung in Dänemark wusste ich, dass dieses beobachtende
Gewahrsein unabhängig von Körper und Gehirn ist. Ich nahm auch wahr, dass es keine materielle
Substanz besitzt, sondern klar, durchscheinend und dennoch lebhaft wach und bewusst ist. Vor
allem erkannte ich, dass dieses Gewahrsein das grundlegende Wesen meiner eigenen existenziellen
Gegenwart ist. Durch verschiedene Methoden ist es möglich, das vollständige Potenzial und die
Wesenszüge unseres immer gegenwärtigen Gewahrseins weiter zu erkennen. Wir entdecken dann
auch, dass wir nicht nur passive Zeugen der Erfahrung und des Lebens sind, sondern Teil eines sich
gegenseitig durchdringenden Netzes von Beziehungen, die uns alle auf ansonsten unvorstellbare
Weise miteinander verbinden.

Frage: Du meintest, dass unsere Erfahrungen der „äußeren Welt“ nur in unserem Gehirn oder Geist
stattfinden. Aber es scheint, dass wir verschiedene Ereignisse um uns herum die ganze Zeit über
ablaufen sehen. Würdest du dieses Thema bitte etwas näher erläutern. Und was ist dann die
Substanz unseres Geistes?

Antwort: Die Eindrücke der fünf Sinne werden als bewusste Erfahrung im Gehirn registriert.
Niemand hat jemals etwas außerhalb seiner eigenen bewussten Erfahrung in seinem Geist erlebt.
Das Gehirn empfängt Sinneseindrücke, verarbeitet die Informationen und erzeugt ein
dreidimensionales Bild. Es stellt das dar, von dem es glaubt, dass es „da draußen“ ist. Das muss so
sein, weil die Augen selber nichts sehen können. Die Augen registrieren lediglich den Aufprall von
Photonen auf die Zapfen in der Netzhaut. Das Gehirn nimmt dann diese Einschläge oder Reize auf
und macht daraus ein sinnvolles Konstrukt, indem es sie als ein gefühlt dreidimensionales Bild oder
einen entsprechenden Film darstellt, den unser Bewusstsein erlebt. Wir nennen diese innere geistige
3-D-Erfahrung „Alltagsleben“. Weil unsere Welt auf unsere Wahrnehmungen beschränkt ist, wie
diese ausgehend von den fünf Sinnen verarbeitet werden, und diese Informationen eben nur in
unserem Geist existieren, erkennen wir, dass alle Erfahrungen ausschließlich in unserem Geist
stattfinden.

Was ist der Stoff unseres Geistes? Er besteht nur aus Gedanken und Bildern, also der gleichen
Substanz wie unsere Träume. Weil Gedanken im Wesentlichen leer von jeglicher Beständigkeit
sind, gibt es auch in unserer gedanklich erlebten Erfahrungswelt nichts dauerhaft Wirkliches. Von
Augenblick zu Augenblick entsteht unsere Welt in unserem Geist, so wie sie von unserem
Wahrnehmen erfasst wird und löst sich im nächsten Augenblick schon wieder auf. Jeder Moment ist
frisch und vollständig und dennoch leer und ohne jede Beständigkeit. Das ist das Dilemma des
Egos: Wie kann der Moment genossen werden, ohne dass er sich im nächsten Augenblick auflöst?
Das Ich spürt auch, dass seine eigene Existenz dem gleichen Schicksal geweiht ist. Das kann ein
Gefühl der Panik hervorrufen, wenn es zum ersten Mal erkannt wird. Die Lösung des Egos besteht
also in dem Versuch, jegliche Erfahrung so weit wie möglich zu verfestigen in der Hoffnung, dass
die Dinge ein wenig länger Bestand haben einschließlich seiner selbst. Das ist natürlich eine
vergebliche Anstrengung und erzeugt daher großes Leid und Frustration für das Ego-Selbst. Jenes
das ganze mentale Ego-Drama beobachtende Gewahrsein ist immer voll gegenwärtig, allerdings
von der Publikumsposition her beobachtend, während sich die Egogeschichte auf der Bühne unter
dem hellen Scheinwerferlicht des geistigen Aufmerksamkeitsfokus abspielt.
Indem wir das Rampenlicht vom Ego auf der Bühne weg und hin auf das Beobachtende im
Publikum verschieben, werden wir unmittelbar befreit. Wir erreichen dies, indem „wir in uns nach
hinten auf das zurückschauen, was aus unseren Augen schaut.“
Kapitel Fünf

Drei grundlegende Ansätze zur Erkenntnis

Im Grunde gibt es drei Wege zur Erkenntnis innerhalb des Rahmens oder der jeweiligen
Paradigmen, in denen ich unterrichtet wurde. Für eine Unterweisung gilt allgemein, dass die jeweils
passendste Form der Vermittlung durch die vorhandenen Fähigkeiten der Schülerin oder des
Schülers bestimmt wird. Beim Ansatz des direkten Gewahrseins, der auch als unmittelbares
Erkennen bezeichnet wird, wird nicht von der Vorstellung ausgegangen, dass bei einer Schülerin
oder einem Schüler etwas fehlerhaft wäre, was korrigiert oder verbessert werden müsste. Die
Sichtweise dieser Lehre ist es das Ziel als Weg zu sehen. Das Ziel ist das Erkennen der Kernseite
des Bewusstseins, die schon immer perfekt war und nie einer Verbesserung bedurfte. Wir müssen
diesen Kernaspekt des Bewusstseins als unser gegenwärtig wahrnehmendes Bewusstsein erkennen,
so wie es ist. Der Pfad der Praxis besteht einfach darin, im Erkennen des bestehenden nackten
Gewahrseins zu verweilen, das wir unmittelbar erkannt haben. Es ist das Wissen und Kennen
innerhalb aller Erfahrung. Es ist das unveränderliche Gewahrsein in allen sich verändernden
Phänomenen, seien es Sinneswahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Emotionen oder Gedanken.
Dieses beobachtende Gewahrsein als Grundeinstellung ist immer ein nicht wertendes Beobachten.
Es ist ein Beobachten ohne eine definierte Beobachterin oder einen definierten Beobachter. Es ist
ein Gewahrsein ohne Gedanken über die verschiedenen beobachteten Erfahrungen. Das
Nachdenken darüber kommt später, wenn der Gedankenkonstrukte entwerfende Geist aktiv wird.

Beim Öffnen unserer Augen beispielsweise geschieht das Sehen einfach. Niemand ist da, der das
Sehen geschehen lässt. Das Sehen ereignet sich von selbst. Es ist völlig unpersönlich, es bleibt also
dieselbe Sinnesfunktion, ganz gleich ob da ein persönliches Identitätsgefühl ist oder nicht. Das
Gleiche gilt für Geräusche. Wir müssen nichts Besonderes tun um das Hören zu bewirken. Genau
das gilt für alle fünf Sinne. Aber die meisten von uns bemerken nicht, dass wir auch eine nicht
personifizierte, standardmäßige Qualität des Bewusstseins oder der Aufmerksamkeit haben, die
jederzeit präsent ist. Es ist jenes Gewahrsein, das die Eindrücke aller fünf Sinne registriert und dazu
auch alle Gedanken und mentalen Phänomene bemerkt. Es ist möglich, dass diese standardmäßig
unpersönliche Qualität des beobachtenden Gewahrseins als das erkannt wird, wer und was wir
tatsächlich sind. Das steht im Gegensatz zu einem Verstand, der an eine gedanklich erschaffene
Identität glaubt. Dieses neu erkannte beobachtende Gewahrsein ist zeitlose und unveränderliche
Gegenwärtigkeit, unser Wahres Wesen. Es ist diese plötzliche Verschiebung in der Selbsterkenntnis,
auf die die Methoden des Ansatzes des direkten Gewahrseins oder der unmittelbaren
Verwirklichung zielen. Diejenigen, die bei ihrem ersten Kontakt mit diesem Ansatz eine
unmittelbare Selbsterkenntnis erfahren, scheinen zu Beginn viel weniger mit psychologischen
Problemen und intellektuellem Begreifen belastet zu sein. Sie sind offener und reifer für diese Art
des geschickten Eingriffes. Man könnte sagen, dass diese Menschen die höchste Kapazität im
Verständnis aufweisen.

Der zweite Ansatz eignet sich eher für durchschnittliche Suchende. Dieser Ansatz leitet Schüler
dazu an, schrittweise Meditationsübungen durchzuführen, damit deren Geist zu einem gewissen
Grad Stille, Ruhe und Transparenz erfährt. Der größte Teil des heutigen Zen wird durch den
schrittweisen Ansatz zur Erkenntnis gelehrt. Dieser Ansatz erfordert Zeiten der Meditation im
Sitzen und eine Praxis der Achtsamkeit während der täglichen Aktivitäten. Achtsamkeitstraining
besteht einfach im achtsamen Umgang mit und in allem, was getan wird, während es getan wird.
Mit anderen Worten, es wird bei allen Handlungen, Gefühlen, Gedanken und Wahrnehmungen in
der unmittelbaren Erfahrung gegenwärtig geblieben. Das steht im Gegensatz zu einem Zustand, bei
dem durch einen geistigen Nebel oder in einem Zustand tranceartiger Tagträumerei durch den Tag
gestolpert wird. Durch viele Monate dieser Art von Training kann jede und jeder einen bemerkbaren
Zustand von Klarheit erlangen, um in die erste Kategorie der oben erwähnten Ansätze zu wechseln.
Weil der Geist dann in einen fortgeschritteneren Zustand der Stille und Transparenz gebracht wurde,
entwickelt sich eine reifere Bedingung, die dementsprechend als „Reife“ bezeichnet werden könnte.
Die Schüler wären dann eine „leichte Beute“ für Lehrer des Ansatzes durch direktes Aufzeigens des
reinen Gewahrseins. Meiner Erfahrung nach passt der Großteil aller Suchenden in diese Kategorie
der schrittweisen Annäherung, zumindest anfangs.

Der dritte Ansatz befasst sich mit Yoga-Praktiken, die zusammen mit Meditation mit den inneren
Energien des Körpers arbeiten. Diese Praktiken können spezifische, von Yogis praktizierte
Meditationsstellungen einschließen, die Blockaden im inneren subtilen Energiekörper bereinigen
und darauf ausgerichtet sind, unseren gewöhnlichen Geisteszustand in den eines erleuchteten
höheren Bewusstseins zu verwandeln. Es spielt dabei keine Rolle, welche philosophischen oder
religiösen Überzeugungen bereits vorhanden sind, weil sie alle zusammen inklusive des Ego-
Bewusstseins durch die Anwendung der Energiepraktiken aufgelöst werden. Was dann bleibt, ist das
ursprüngliche, klare Gewahrsein im Wissen um sein eigenes unverfälschtes spirituelles Sein. Dieser
Weg ist zwar der anstrengendste, aber in der Tiefe der Erkenntnis auch der weitestgehende. Alle
Zweifel an der wahren spirituellen Identität werden weggefegt.

Als Lehrer verwende ich alle drei Ansätze und diese oft in Kombination, je nach den Fähigkeiten
der Schülerin oder des Schülers. Die Erkenntnis ist letztlich die gleiche bei allen drei Ansätzen mit
leicht unterschiedlichen Nuancen, die auf den Unterschieden in der Konstitution der verschiedenen
Schüler beruhen. Lasst uns diese drei Ansätze nun genauer untersuchen.

Ich bezeichne den Ansatz des unmittelbaren Erkennens gerne als den Ansatz des direkten
Gewahrseins, weil die gesamte Verfahrensweise der Methoden auf die innere Dynamik des
Gewahrseins selbst ausgerichtet ist. Dieser Ansatz besteht einfach darin, den bereits bestehenden
vollkommenen Aspekt des Bewusstseins zu erkennen. Gemeint ist, das Gewahrsein innerhalb des
Stromes aller Erfahrungen in Form von Gedanken und Sinneswahrnehmungen zu bemerken.
Nachdem das authentische Erkennen stattgefunden hat, wird einfach als dieses unveränderliche
Gewahrsein und darin verweilt. Es wird ihm erlaubt, sich voll zu entfalten während es andere
Geisteszustände auf natürliche und organische Weise spontan in sich verwandelt. Kein anderes
Handeln ist erforderlich. Es wird davon ausgegangen, dass wir in unserem eigenen Bewusstsein die
volle Fähigkeit haben, unser eigenes wahres Wesen zu erkennen, ohne jegliches Wissen oder
spezielle Übertragungen von außen erhalten zu müssen. Lasst uns nun fortfahren, indem wir ein
tieferes Verständnis für die grundlegendsten Konzepte des direkten-Gewahrseins-Ansatzes
erlangen.

Am wichtigsten ist das Verständnis für das Wesen von Geist und Bewusstsein. Innerhalb unserer
gesamten bewussten Erfahrung finden sich zwei grundlegende Bestandteile. Der eine ist unser
denkender, Gedankenkonstrukte bauender und bildlich vorstellender Geist; der andere ist das
Gewahrsein, welches sich aller mentalen und sinnlich erfassten Ereignisse bewusst ist. Die zentrale
Säule dieses Ansatzes ist das beobachtende oder wissende Gewahrsein, das bereits in allen
Erfahrungen enthalten ist. Es ist dieses wissende Gewahrsein, das eine Lehrerin oder ein Lehrer
versucht, der Schülerin oder dem Schüler schlüssig und zweifelsfrei aufzuzeigen. Die Schüler
erkennen sich hierdurch selbst als das unveränderliche, vollkommen wissende Gewahrsein. Dieses
wissende Gewahrsein ist ein sehr nacktes, bezeugendes oder wahrnehmendes Gewahrsein. Es ist
nackt von der Kleidung der Gedanken, besitzt kein persönliches Identitäts-Gefühl oder ein
persönliches Narrativ bezüglich seiner Geschichte. Es ist wie bei unseren fünf Sinnen: Unsere
Augen sehen einfach ohne irgendein Gefühl dafür, ein bestimmter „Seher“ zu sein. Mit dem Hören
verhält es sich genauso, indem wir einfach nur Klänge hören, ohne dass die Fähigkeit zu hören als
eine bestimmte „Zuhörerin“ definiert ist. Gleichermaßen ist unser nacktes Gewahrsein nur das
Bemerken oder Beobachten innerhalb der „inneren“ mentalen Ereignisse sowie in den „äußeren“
Wahrnehmungsereignissen der Erfahrung. Wir bemerken auch, dass dieses Beobachten ohne ein
persönliches Identitäts-Gefühl als eine „Beobachterin“ oder ein „Beobachter“ geschieht. Dies wäre
vergleichbar mit einem neugeborenen Baby, das einfach seine Umgebung beobachtet ohne ein
Gefühl dafür zu haben, eine bestimmte Identität zu besitzen.

Nach einer stattgefundenen Sinneswahrnehmung beginnt der Verstand sofort den empfangenen
Eindruck zu benennen, zu beurteilen und anderweitig zu kategorisieren. Dies ist bei allen fünf
Sinnen der Fall. Zunächst wird der sensorische Reiz unmittelbar nackt gesehen oder gehört, wie er
eben ist, als schlichtes, rohes Wahrnehmen, als unmittelbares Gewahrsein. Doch einen
Sekundenbruchteil später schaltet sich bereits der Verstand ein und beginnt mit der Verarbeitung des
Sinneseindruckes. In dieser Hinsicht ist unser Gewahrsein also genau wie unsere fünf Sinne. Das
Gewahrsein verarbeitet die Eindrücke nicht; es erlebt sie einfach so, wie sie sind. Genauso wie die
fünf Sinne standardmäßig vorhanden sind, unabhängig von den Aktivitäten des Geistes, ist auch
unser Gewahrsein eine standardmäßige Gegenwart. Es stellt sich heraus, dass wir ständig bewusst
sind, das Gewahrsein ist dauerhaft eingeschaltet. Es ist sogar präsent, wenn wir träumen, denn es ist
jenes Gewahrsein, das den Traum und seinen Inhalt wahrnimmt und ermöglicht.

Im Kontrast zu diesem unveränderlichen Gewahrsein sind auch die sich ständig verändernden
Aktivitäten des Geistes vorhanden. Es ist dieses unveränderliche Gewahrsein, das alle Aktivitäten
des Verstandes erlebt und ermöglicht. Es ist der denkende Geist, der ein persönliches Identitäts-
Gefühl schafft oder gedanklich konstruiert. Es ist wiederum das unveränderliche Gewahrsein, das
diese Gedanken zu der persönliche Identität erfährt und überhaupt erst ermöglicht. Das nackte
Gewahrsein hat schlicht kein Gedankenkonstrukt von Identität, daher gibt es auch kein Ego zu
beseitigen oder zu verringern.

An diesem Punkt kann der Lehrer das Beispiel eines Spiegels und seiner Reflexionen verwenden.
Der Spiegel wäre wie das unveränderliche und wahrnehmende Gewahrsein, alle Gedanken und
geistigen Aktivitäten wären wie die in ihm erscheinenden Spiegelungen. Zu keinem Zeitpunkt
bedingen die Reflexionen das Glas des Spiegels. Auf die Spiegelungen würde hingewiesen werden
und auch darauf, dass sie Aktivitäten wie Gedanken, Identität, Emotionen, Gefühle, Empfindungen
und Sinneswahrnehmungen umfassen. Es ist möglich, dass eine Schülerin oder ein Schüler allein
aufgrund dieser Erklärung eine plötzliche Einsicht hat und das grundlegendste wahre Wesen als
Sein des unveränderlichen Gewahrseins innerhalb des Geistes erkennt, was dessen Inhalten
gegenüber steht. Wenn diese Einsicht nicht spontan im Geistesstrom der Schülerin oder des
Schülers auftaucht, würde der Lehrer oder die Lehrerin mit verschiedenen Beispielen und
Erklärungen fortfahren, bis die allen innewohnende Gewahrseins-Weisheit plötzlich in einem
Moment der Erkenntnis bemerkt wird.

Sobald die anfängliche Erkenntnis seines oder ihres wahren Wesens eintritt, werden die Schüler
angewiesen, einfach in dieser erleuchteten Selbsterkenntnis fortzufahren, die von
Augenblick zu Augenblick auftaucht. Die erleuchtete Einsicht entsteht tatsächlich in jedem Moment
unserer Erfahrung. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich jedoch stattdessen auf die Inhalte und
Aktivitäten des Geistes und verwandelt sich in diese. Deshalb wird uns beigebracht, uns ohne eine
gedankliche Aufgabenliste oder irgendein Thema auf lebhafte und aufmerksame Weise zu
entspannen. Das ermöglicht schließlich ein Erkennen der immer wieder auftauchenden erleuchteten
Weisheitseinsicht von Moment zu Moment. Aufgrund der mentalen Selbstablenkung wird das
Energiepotential der Weisheitserkenntnis selbst oft erneut in Gedanken und Vorstellungen
umgewandelt. Deshalb schließen sich Erkennen (Weisheitserkenntnis-Energiepotential des Geistes)
und Ego-Bewusstsein (Gedanken- und Vorstellungsenergie im Verstand) gegenseitig aus.

Wir verbleiben dann einfach in diesem grundlegenden Zustand des Erkennens, ohne uns weiter in
den verschiedenen Ausarbeitungen des Denkens und der Konzeptualisierung zu verlieren. Der
Verstand wird sich von Zeit zu Zeit mit introvertierten Geschichten über „mich“ und „meine
Probleme“ einschalten. Aber diese Erscheinungen werden sich auflösen sobald sie auftauchen,
während wir in diesem erkennenden Zustand verweilen. Mit der Zeit werden unsere
Gedankenprozesse immer transparenter, wenn unser natürlicher Zustand des Gewahrseins die
Aktivitäten des Geistes überstrahlt.

Im Zen gibt es die Schule der Plötzlichen Erleuchtung. Sie ist eine einzigartige Tradition aus dem
siebten Jahrhundert, die auf Huineng zurückgeht, den sechsten Patriarchen des Zen in China. Eine
der wichtigsten Lehren dieser Tradition ist die Vorstellung von „Nicht-Geist“ oder der
Nichtaktivierung des Denkprozesses. Es wird davon ausgegangen, dass alle unsere Probleme aus
dem Denkprozess herrühren und dem Glauben an das, was uns die Gedanken mitteilen. In diesem
Fall besteht das Ziel der Schülerin oder des Schülers nicht darin, die Gedanken und das Denken zu
unterdrücken. Das Ziel ist vielmehr das Erkennen des allgegenwärtigen Gewahrseins, was diese
mentalen Ereignisse erfährt und zwar innerhalb dieser mentalen Ereignisse und als untrennbar von
diesen mentalen Ereignissen. Im Kontext des Zen würde man dies als das Erkennen des eigenen
Buddha-Geistes oder des Selbst-Wesens bezeichnen. Im Augenblick dieser Erkenntnis wird der
Geist ruhig. In dieser Stille finden wir ein spontan mögliches Öffnen für das Erkennen dessen, was
immer gegenwärtig ist, aber während des mentalen und konzeptuellen Engagements nicht
wahrgenommen wird.

Diese plötzliche Erkenntnis zeigt sich oft, wenn ein Ereignis eine unmittelbare und vollständige
Einsicht in das Wesen des Selbst und in die Realität ausgelöst hat. Oft kann es sich dabei um ein
Gespräch mit einem Zen-Meister handeln, in dem der Lehrer genau das Hindernis sieht, das der
vollständigen Verwirklichung im Geiste der Schülerin oder des Schülers im Wege steht und sie oder
ihn plötzlich und oft auf ungewöhnlich schräge Weise darauf aufmerksam macht.

Im Jahr 1978 besuchte ich Hongkong und hoffte in China einen Zen-Lehrer zu finden. Ich war auf
der Suche nach den ursprünglichen Lehren der alten Schule der „Plötzlichen Erleuchtung“, also der
Linie von Huineng, dem Sechsten Patriarchen des Zen oder Chan. Chan ist das chinesische Wort für
Zen. Ich wurde an einen älteren Herrn verwiesen, der der Chan-Meister von drei verschiedenen
Tempelklöstern war. Sein Name war Yen Wai Shih, ein Schüler des ehrwürdigen Meisters Hsu Yun,
dem Halter aller fünf alten Zen-Linien in China. Yen Wai Shih war 84 Jahre alt, als ich ihn traf. Sein
Lehrer, Hsu Yun, starb 1959 im Alter von 119 Jahren! Einer der drei Tempel befand sich auf der
Insel Lun Tao, zwei weitere auf dem chinesischen Festland in Shatin, einem Teil der „New
Territories“. Ich traf diesen Lehrer zuerst auf dem chinesischen Festland in einem seiner Tempel in
Shatin. Wir verbrachten den ganzen Tag miteinander und diskutierten alles über „plötzliche
Erleuchtung“ und wie sie in kürzester Zeit erlangt werden kann. Während dieser Diskussion erlebte
ich zum ersten Mal einen wahren Erleuchtungsblitz, der auf Japanisch Satori oder Kensho und auf
Chinesisch Wu genannt wird. Ich berichte hier ein wenig über das Gespräch und die Begegnung:

Von Hongkong aus nahm ich eine Fähre zum chinesischen Festland und musste meinen Weg nach
Shatin finden, jenem Ort von Yen Wai Shihs Tempel und Klosterkomplex. Er begrüßte mich im
Dorf, und wir spazierten hinauf in die üppigen Ausläufer von Shatin. Wir sahen mehrere ältere
Dorfbewohner in einem unteren Tempelraum, die eifrig und wahllos sangen und in großer Zahl
Räucherstäbchen anzündeten; der Duft war berauschend. Weil ich dachte, dies sei ein Zen-Tempel,
verstand ich nicht, was es mit all dem anderen Zeug auf sich hatte. In der Hoffnung meinen Lehrer
nicht zu beleidigen oder meine Unwissenheit voreilig preiszugeben, wagte ich ihn zu fragen, was
diese Leute da taten. Daraufhin sagte er: „Das weiß alleine Gott“, worauf wir beide herzlich
lachten!

Das Bild, welches dieser ehrwürdige 84-jährige Zen-Meister in seiner schlichten und funktionalen
Zen-Mönchsrobe abgab, stand so im Gegensatz zu seiner beiläufigen Bemerkung über seine
eigenen Schüler. Es war vollkommen entwaffnend! Das war unser erster menschlicher Kontakt –
unmittelbar von Herz zu Herz.

Wir gingen weiter nach oben die Treppen hoch, stiegen immer höher hinauf zu den Tempelanlagen
und Gebäuden. Schließlich kamen wir zu einem Haus, in dem Yen Wai wohnte. Ich wurde seiner
Enkelin und seiner Familie vorgestellt und war beeindruckt von der Ehrfurcht, die sie diesem
älteren Familienpatriarchen entgegenbrachten. Es war spürbar, dass sie wussten, dass er mehr als
nur ein netter und freundlicher Großvater war und dass sie intuitiv wussten, welchen Wert er für
diejenigen darstellte, die das Glück hatten mit ihm in Kontakt zu kommen. Und nun war ich an der
Reihe und versuchte zu verstehen, was sie bereits wussten.

Wir sprachen über viele Dinge bezüglich der buddhistischen Lehren und darüber, wie die wahre
Erleuchtung verstanden werden konnte. Ich sagte ihm, dass ich vor allem mein erleuchtetes Wesen
verstehen und direkt erfahren wollte. Ich teilte ihm viele meiner intellektuellen Gedanken über die
wahre Bedeutung der Praxis und den erleuchteten Zustand des Geistes mit. Er beherrschte die
englische Sprache erstaunlich gut. Er sprach mit einem tiefen Basston und einwandfreiem britischen
Akzent. In seinen früheren Jahren hatte er die Schriften von Shakespeare studiert und sich in sie
verliebt. Er bestand darauf, dass Shakespeare ein erleuchtetes Wesen war. Noch erstaunlicher war
die Tatsache, dass er bei Fragen nach Punkten zur Zen-Lehre oft Sätze aus Shakespeare zitierte, um
seine Antworten anschaulich klar zu machen! Unfassbar: Die ganze Szenerie unseres Gespräches
spielte sich wie in einem surrealistischen Raum irgendwo zwischen dem alten China und dem
mittelalterlichen England ab. Wahrhaft irritierend für mich.

Wir gingen weiter über das Gelände und kamen schließlich zu einem Kloster mit seinen Schülern,
sowohl Männer als auch Frauen in verschiedenen Abteilungen. Die meisten der buddhistischen
Nonnen waren schon weit über das mittlere Alter hinaus. Sie wirkten auf ihre Weise einfach
wundervoll uns so herzlich zu begrüßen. Sie boten uns etwas Besonderes an - einen Eintopf aus
frisch gesammelten und unter Rühren gebratenen riesigen shiitake-ähnlichen schwarzen Pilzen. Bis
heute kann ich mich an keine Mahlzeit erinnern, die ich jemals so genossen hatte, so einfach und
doch so delikat in der Vielfalt der subtilen Aromen. Es war, als ob ich die Essenz des gesamten
nebelumhüllten Waldes aß, aus dem diese Pilze gesammelt worden waren. Ich weiß auch aus der
Beobachtung des Verhaltens dieser älteren Frauen, dass jeder Pilz beim Pflücken als kostbare Gabe
des Waldes genossen wurde, die Nahrung und Chi (chinesisch für „Lebenskraft“") lieferte, um die
Vitalität all dieser „Diener des Weges“ wiederherzustellen.

Schließlich erreichten wir unser Ziel, eine Residenz zur Unterbringung einiger der älteren Mönche
und auch für Gäste. Wir gingen nach oben in Yen Wais Arbeitszimmer, wo wir mit Tee und Keksen
empfangen wurden. Der Tee war für meinen Geschmack etwas zu stark, aber er sorgte für eine
nüchterne, klare Stimmung. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, weitere meiner brennenden Fragen zu
stellen, auf die ich im Vorfeld hingearbeitet hatte. Um mein oberflächliches Wissen nicht auf einmal
preiszugeben stellte ich diese Fragen sehr umständlich. Vielleicht hatte ich die Befürchtung zu sehr
als Novize zu erscheinen, so dass er sich die besten seiner aufschlussreichen Weisheitshäppchen für
einen späteren Zeitpunkt aufheben würde, wenn ich reifer wäre. Mehr zu reifen bedeutete für mich
aber mich noch länger am Rebstock meines eigenen Nichterleuchtetseins windend hinauf zu quälen.
Diesen Zustand kannte ich nur zu gut. Verdammt, das war doch der Grund, warum ich mir die Mühe
gemacht hatte so weit zu kommen, oder nicht? Jetzt bloß nicht stürzen, dachte ich, wohl wissend,
dass ich ohne Seile und Sicherheitsausrüstung an einem völlig unberechenbaren Berg hochkletterte.
Es könnte meine letzte Rettung sein, wenn ich ihn geschickt erklimme, oder auch mein spiritueller
Untergang. Wen könnte ich sonst noch besuchen und über die endgültige Bedeutung der Lehre
Buddhas befragen? Meine Liste der in Frage kommenden Kandidaten leerte sich zusehends.
Schließlich interessierte ich mich doch für den kürzesten Weg zur Erleuchtung, die Lehren der
Plötzlichen Schule der Erleuchtung des Sechsten Patriarchen. Diese Lehren waren bekannt als
Quelle derjenigen Unterweisungen, die zahlenmäßig die größte Blüte von Zen-Meistern aller Zeiten
hervorbrachte! Wenn nicht Yen Wai Shih, ein echter Meister dieser Linie, wer dann?

Wir saßen beim Tee und diskutierten über die wahre Bedeutung von Wu oder Erleuchtung. Wu hat
im Chinesischen eine besondere Bedeutung; es ist eine besondere Art, jemanden nach seinem
eigenen Buddha-Wesen zu fragen. Durch seine präzisen und direkten Erklärungen glaubte ich
endlich die wahre Essenz der Lehre verstanden zu haben. Stolz auf meine Erkenntnis stellte ich ihm
diese Frage:

„Meister, ich verstehe es so, dass der Zweck der Praxis im völligen Vereinfachen des eigenen
Denkens besteht. Ist es nicht so?"

Ich wartete auf sein zustimmendes Nicken und seine Bestätigung meines Verständnisses.
Unvermittelt, wie ein Samurai-Meister sein Katana, sein Schwert, zieht und einen einzigen
tödlichen Schlag ausführt, stürzte er mit der Autorität eines Granitbergs auf mich zu.

„Du hast „es“ bereits hoffnungslos kompliziert gemacht!!!“, rief er.

Mein Verstand wurde völlig leer. BLANK, LEER … WU Da war es … HA!!! Wir sahen uns an,
und seine Augen blieben auf meinen haften. Es gab keine Bewegung, und plötzlich, als ob der Berg
Fuji ausbrechen würde, brachen wir beide in Gelächter aus. Ich konnte nicht aufhören zu lachen. Ich
stand auf und tanzte in hysterischem Gelächter herum.

„Ich verstehe … ich verstehe … ja“, sagte ich. „Vereinfachen bedeutet, es hoffnungslos komplex zu
machen!“

Ha, ha, ha … Lachen; wir müssen mindestens fünf Minuten lang gelacht haben! Er lächelte breit,
seine Augen füllten sich mit Heiterkeit, als wir beide erkannten, dass sein geschickter, durch und
durch spontaner Schlag bis ins Mark ging und den Raum meines Geistes in Wu verwandelte. So
lernte ich den Weg kennen, wie ihn die Schule der Plötzlichen Erleuchtung des Sechsten Patriarchen
des Chan lehrt, des berühmten und zutiefst mitfühlenden Huineng. Später gab mir Meister Yen Wai
die Erlaubnis, andere nach diesem Stil des „plötzlichen“ Zen zu unterrichten.

„Eine alte Zen-Geschichte erzählt, wie eines Tages ein Mönchsschüler zu seinem Zen-Lehrer kam
und fragte:
„Wie, Meister, kann ich mein Buddha-Wesen wahrnehmen?“
Der Meister antwortete: „Du kannst dein Buddha-Wesen nicht wahrnehmen, denn das, was
wahrnimmt, ist dein Buddha-Wesen.“ “

Diese Art der Annäherung an ein plötzliches Erwachen tiefer, erleuchteter Einsicht ist auf Zen, zwei
Traditionen innerhalb des tibetischen Buddhismus und Advaita Vedanta beschränkt. Eine der
tibetischen Traditionen heißt Dzogchen, was so ausgesprochen wie es gelesen wird. Im Deutschen
wird sie Große Vollkommenheit genannt. Dzog bedeutet „Vollkommenheit“ und chen bedeutet
„groß“ auf Tibetisch. Die Lehren der Großen Vollkommenheit erörtern diese ursprüngliche
Vollkommenheit, die unser eigenes nacktes Gewahrsein ist, jenes Bewusstsein, durch das wir alles
im Leben geschehende erfahren, das aber selbst in aller Erfahrung unverändert bleibt. Die Methode
der Großen Vollkommenheit besteht darin, dass die Lehrerin oder der Lehrer den Schüler oder die
Schülerin direkt in das eigene Gewahrsein einführt. Das geschieht durch ein anschauliches
„Aufzeigen“, was den Geist direkt und unvermittelt auf sein grundlegenstes Wesen fokussiert. Wenn
diese Methode richtig ausgeführt wird, hat die Schülerin oder der Schüler zumindest einen
flüchtigen Blick auf den erleuchteten Zustand. Sie oder er wird dann angewiesen diese Einsicht
lebendig zu halten, indem einfach weiter in diesem neu entdeckten Zustand des Seins geruht und
sich entspannt wird, ohne den Geist mit Konzepten über das zu beschäftigen, was gerade „passiert“
ist. Eine wichtige Anweisung ist es, jederzeit völlig entspannt zu bleiben, dennoch lebhaft wach und
frei von jedem geistigen Thema oder Fokus. Dies ist ein Markenzeichen aller Dzogchen-Lehren.

In Tibet genießen die Lehren der Großen Vollkommenheit bei allen vier Schulen des tibetischen
Buddhismus den höchsten Respekt. Bis vor kurzem wurden die Lehren der Großen Vollkommenheit
geheim gehalten und es war für Besucher aus dem Westen fast unmöglich, die Lehren der Großen
Vollkommenheit tatsächlich von einem tibetischen Lama zu erhalten. Doch vor etwa vierzig Jahren
beschlossen die höchsten Lamas, die Lehren der Großen Vollkommenheit für Menschen aus dem
Westen zu öffnen. Ich habe die Lehren der Großen Vollkommenheit als die kraftvollsten aller
Ansätze zum unmittelbaren Erkennen oder zum direkten Gewahrsein empfunden.

Hier ist ein uraltes Zitat aus einem grundlegenden Tantra-Text der Großen Vollkommenheit, der
„Die angehäuften Juwelen“ genannt wird. Es fasst die einzigartige Methode der Dzogchen-Praxis
vollständig zusammen.

„Wenn irgendjemand im natürlichen Zustand ohne Konzentration ruht, zeigt sich spontanes
Verstehen im Geiste dieser Person, ohne dass jemand anders all die Worte vermitteln muss, mit
denen der Geist diese Bedeutungen begreift. Wenn dieses Verstehen im Geist aufdämmert, werden
alle geistigen und alle Sinneserscheinungen, die in sich keine Gedankenkonstrukte beinhalten, als
natürlich rein erkannt.“ (Aus Longchenpas Kostbarer Schatzkammer, Padma Publications).

Was bedeutet „im natürlichen Zustand ruhen“? Es bedeutet schlicht im unmittelbaren Jetzt, in der
nackten Gegenwart unseres grundlegenden Gewahrseins gegenwärtig zu sein, in reinem Beobachten
und einfachem Gewahrsein des Augenblicks, ohne Programm, Thema oder Agenda. Dieses
anstrengungslose, urteilsfreie Beobachten, vollkommen lebendig und wach, ist unser natürlicher
Zustand. Durch den Verstand fügen wir diesem grundlegenden Gewahrsein eine Schicht von
Gedanken, ein Selbstgefühl als Beobachtendes und eine Bewertung dessen hinzu, was wir
beobachten. Diese zusätzlichen Schichten können als Kleidung des Bewusstseins betrachtet werden.
Was wir stattdessen wollen, ist einfach als nacktes Gewahrsein zu verweilen. Wenn sich diese
Praxis vertieft, beginnt spontan eine tiefe erkennende Weisheit oder Gnosis zu entstehen. Dies ist
die nicht-duale Weisheit des selbst-gewahren Seins. Nicht-dual bedeutet in diesem Fall die
Abwesenheit einer Subjekt-Objekt-Zweiteilung. Diese empfundene Spaltung wird durch die
Einsicht des Einsseins ersetzt, ein Erfahrungswissen, dass die Realität ein einziges vernetztes
Ganzes ist. Diese Weisheitseinsicht wird von vielen als „Erkennen“, „Verwirklichung“ oder
„Erleuchtung“ bezeichnet. Sie liegt völlig jenseits des Verstandes und des begrifflichen
Verständnisses und wird dennoch selbst-gewusst, selbst-erkannt.

Hier sind einige Beispiele von Hinweisen, die in der Tradition der Großen Vollkommenheit im Stil
der Lehre des direkten Gewahrseins verwendet werden. Das erste Zitat stammt aus dem berühmten
Zyklus von Lehren, die als Tibetisches Totenbuch bekannt sind. Der Text wurde von Karma Lingpa
entdeckt, der um 1329 in Tibet geboren wurde. Es wurde seitdem angenommen, dass diese Lehren
ursprünglich von Meister Padmasambhava aus dem achten Jahrhundert niedergeschrieben wurden,
der den Text für nachfolgende Generationen an einem speziellen Ort versteckte, bevor er Tibet
verließ. Dieser Text wurde später von Karma Lingpa entdeckt. Er ist Teil der sogenannten „Direkten
Einführung in das Gewahrsein“ der Dzogchen-Lehre und soll diejenigen „erwecken“, die den Text
einfach lesen und verstehen, ohne dass eine vorherige oder nachfolgende Praxis erforderlich ist:

„Im gegenwärtigen Moment, wenn dein Geist in seinem ursprünglichen Zustand verweilt ohne
irgendetwas gedanklich zu erschaffen, wirkt das Gewahrsein im Augenblick an sich völlig
gewöhnlich.
Und wenn du auf diese Weise nackt in dich hineinschaust, ohne irgendwelche diskursiven
Gedanken und es nur dieses reine Beobachten gibt, ist da eine lichtartige Klarheit ohne
irgendjemand anwesend, die oder der beobachtet, nur ein nacktes, gegenwärtig vorhandenes
Gewahrsein.

Dieses Gewahrsein ist leer und makellos rein, es ist durch nichts was auch immer geschaffen. Es ist
authentisch und unverfälscht, ohne jede Dualität von Klarheit und Leere.“ (Aus der Übersetzung
von John Reynolds, Self-Liberation Through Seeing With Naked Awareness).

Dies ist die erste Einführung in das Wesen des Geistes, unser wahres Wesen. Dies ist die wichtigste
erfahrungsmäßige Einsicht, die zur Grundlage aller weiteren Entwicklung von tiefer Weisheit und
Erkenntnis wird.

Als Nächstes wird eine Methode beschrieben, mit der unsere Energien in dieses reine Gewahrsein
integriert werden, damit wir das nicht-duale Wesen in all unseren Erfahrungen erkennen können.

Der Dzogchen-Meister Longchenpa aus dem vierzehnten Jahrhundert war einer der fähigsten
Dzogchen-Lehrer aller Zeiten. Er nahm jede Anstrengung auf sich um diese Lehren für jeden
Menschen zugänglich und entsprechend ihrer oder seiner jeweils gegenwärtigen Fähigkeiten
verständlich zu machen. Das bedeutete, dass er viele verschiedene Arten von Methoden benutzte,
diese Unterweisungen zu vermitteln.

„In diesem Fall ist das, was allein im Ati (Dzogchen)-Ansatz vollkommenen Sinn ergibt, die
überlegene Erkenntnis. Hierbei wird der ursprüngliche Zustand direkt in seiner puren Nacktheit
erlebt, ohne sich auf irgendetwas anderes zu verlassen. Weil nicht einmal für einen Augenblick ein
Getrenntsein von der Essenz des Gewahrseins erfahren wird, ist die Aussage, dass es erkannt oder
wahrgenommen wird, lediglich eine eher gewöhnliche Beschreibung ...

Gewahrsein selbst verbleibt als die Seite, die unter allen Umständen gewahr ist. Daher geschieht es
ganz natürlich, ohne Übergang oder Veränderung ...“

Longchenpa teilt auch mit, wie diese Lehren angewendet werden:

„Die Methode besteht darin, die Aufmerksamkeit direkt auf das Beobachtete selbst
beziehungsweise direkt auf das Gewahrsein zu lenken. Wenn erlebt wird, dass irgendetwas
auftaucht, insbesondere Gedanken, Stimmungen, Emotionen oder Gefühle der persönlichen
Selbstidentität, wird einfach das eigene gegenwärtige nackte Gewahrsein dessen bemerkt. Indem so
die Aufmerksamkeit auf das Gewahrsein zurück gelenkt wird, löst sich das Aufgetauchte wieder in
seinen Ursprung und sein grundlegendes Wesen, in das Gewahrsein hinein auf. Indem es dies tut,
geben die auftauchenden Inhalte ihre formbildende Energie in dem Moment frei, indem sie
sich auflösen. Zugleich wird hierdurch eine Welle weiterer Klarheit des Klaren Lichts ausgelöst.
Dabei ist es die Kraft und Potenz des Gewahrseins selbst, die das Aufgetauchte ursprünglich erst
befeuerte. Deshalb wird das Gegenwärtigsein im Gewahrsein durch den Zusammenbruch der
formgebenden Inhalte verstärkt. Daher beschreibt ein Dzogchen-Kommentar es so, dass „die
Verstärkung der Klarheit im Gegenwärtigsein um so kräftiger ist, je stärker sich die leidvolle
Emotion bei der Auflösung befreit“.“ (Aus A Treasure Trove of Scriptural Transmission, Padma
Publications)

Longchenpa weist auf unser grundlegendes Gewahrsein als Geist hin, dem eine Energie oder Kraft
der Aufmerksamkeit innewohnt. Diese kann augenblicklich Gedanken, Emotionen, innere
Empfindungen, Selbstgefühl und Geschichten hervorbringen. Anstatt nun unsere Aufmerksamkeit
auf die Gedanken oder Sinneserfahrungen zu lenken, richten wir unsere Aufmerksamkeit zurück
auf diejenige Qualität unseres Geistes, die schlicht aller Erfahrungen gewahr ist. Wenn wir dies
inmitten eines Gedankens oder irgendeines inneren geistigen Ereignisses tun, wie beispielsweise
während unangenehmer Emotionen oder Gefühle, bewirkt die Rückführung unserer
Aufmerksamkeit zu unserem bezeugenden Gewahrsein das Einstürzen des geistigen Ereignisses
oder ein sich Auflösen hinein in seinen Ursprung. Während dieses Auflösen stattfindet, erleben wir
eine weitere Zunahme unseres eigenen Gefühls einer quicklebendigen Gegenwart. Wir können
dies auch während eines „selbstverliebten“ Zustandes tun, wenn ein Gefühl von persönlicher
Getrenntheit des Selbst unsere kognitive Erfahrung dominiert. In diesem Augenblick „geht es nur
um mich“. Dann bemerken wir unmittelbar das zugrundeliegende Gewahrsein, welches dieses
besondere Ich-Gefühl erfährt, während es im Bewusstsein erscheint. Wenn wir auf diese Weise
praktizieren, werden wir vielleicht bemerken, dass unser Gewahrsein beständig, unveränderlich
gegenwärtig und bewusst ist. Zu erkennen, dass wir dieses unveränderliche, wissende Gewahrsein
sind, ist die Grundlage der erfahrungsgesättigten Erkenntnis. Hier haben wir also eine vollständige
Methodik dafür, wie im Kontext der Lehren des direkten Gewahrseins und der Großen
Vollkommenheit gearbeitet wird.

Dzogchen-Meister Jamgon Kongtrul Rinpoche schrieb:

„Warum sollte Gedanken nachgejagt werden, die nur oberflächliche Wellen des gegenwärtigen
Gewahrseins sind? Schau lieber direkt in das nackte, leere Wesen der Gedanken; dann gibt es keine
Dualität, kein Beobachtendes und nichts Beobachtetes.
Ruhe einfach in diesem durchscheinenden, nicht-dualen gegenwärtigen Gewahrsein. Richte dich
behaglich ein im natürlichen Zustand reiner Gegenwärtigkeit, sei einfach nur, ohne etwas
Bestimmtes zu tun.“

Aus dem Dzogchen-Wurzel-Tantra (Schrifttext), Kunje Gyalpo:

„Das Wesen der Erleuchtung ist das des Raumes.

Im Raum gibt es keine Anstrengung oder Leistung.

Die Erleuchtung, die wie der Raum ist, wird nicht für diejenigen entstehen, die sich in Anstrengung
und Leistung ergehen.“

„Frei und leicht“ vom tibetischen Mahamudra und Dzogchen-Meister Lama Gendun
Rinpoche:

„Glück kann nicht durch große Anstrengung und Willenskraft gefunden werden, sondern ist bereits
im offenen Entspannen und im Loslassen gegenwärtig.

Strenge dich nicht an - es gibt nichts zu tun oder rückgängig zu machen. Was auch immer gerade im
Körper-Geist auftaucht, wie auch immer, hat überhaupt keine tatsächliche Bedeutung, ist nicht
wirklich real. Warum sollten wir uns damit identifizieren und beginnen daran zu hängen, indem wir
es und uns selbst sonderlich bewerten?

Weitaus besser ist es das ganze Spiel einfach von selbst geschehen zu lassen, wie auf- und
ablaufende Wellen - ohne etwas zu verändern oder irgendwie einzugreifen - und wahrzunehmen,
wie alles auf magische Weise vergeht und wieder auftaucht, wieder und wieder, endlos vergehende
Zeit.
Nur unsere Suche nach Glück hindert uns daran, es zu sehen. Es ist wie die Jagd nach einem
leuchtenden Regenbogen, der nicht zu fangen ist, oder wie ein Hund, der seinen eigenen Schwanz
jagt.

Obwohl Frieden und Glück nicht als fassbare Dinge oder Orte existieren, sind sie immer verfügbar
und begleiten dich jeden Augenblick.

Glaube nicht an die Realität guter und schlechter Erfahrungen; sie sind wie das flüchtige Wetter von
heute, wie Regenbögen am Himmel.

Wenn du das nicht Fassbare ergreifen willst, erschöpfst du dich vergeblich. Sobald du die
geschlossene Faust des Festhaltens öffnest und entspannst, ist der unendliche Raum da - offen,
einladend und angenehm.

Nutze die Weite, diese Freiheit und natürliche Leichtigkeit. Suche nicht weiter. Begib dich nicht in
den verworrenen Dschungel auf der Suche nach dem großen erwachten Elefanten, der bereits still
zu Hause vor dem eigenen Herd ruht.

Es gibt nichts zu tun oder rückgängig zu machen,

nichts zu erzwingen,

nichts haben zu wollen und:

Nichts fehlt.

Emaho! Wunderbar!

Alles geschieht von selbst.“

Die zweite Schule des tibetischen Buddhismus, die einen Lehrstil im Sinne des direkten
Bewusstseins anbietet, wird Mahamudra genannt. Sie arbeitet ebenfalls auf der Grundlage einer
Lehrerin oder eines Lehrers, die oder der einzelne Schüler im Rahmen einer persönlichen
Begegnung direkt auf das Wesen des erleuchteten Geistes „hinweist“. Der alte Stil der Übermittlung
der aufzeigenden Unterweisung bestand tatsächlich darin, dass der Meister oder die Meisterin ein
Lied mit verschiedenen Strophen sang, die Dohas genannt wurden und in der Lage waren direkt im
Geist der Schüler die Erleuchtung zu erwecken. Diese Lehren wurden völlig geheim gehalten.
Heute sind sie für Suchende auf der ganzen Welt recht gut zugänglich. Allerdings wird das System
des Mahamudra heute fast immer im Rahmen eines zweistufigen Ablaufes der schrittweisen
Meditation gelehrt. Das Ziel ist zunächst den Geist in einen Zustand der Stille zu bringen, der als
ruhiges Verweilen bezeichnet wird. In dieser Phase der Praxis wird das Wesen der Gedanken als
durchscheinende Wolken entdeckt, die am Himmel des eigenen Gewahrseins entlang treiben. Es
wird sichtbar, dass die Gedanken aus der Leere heraus entstehen und sich wieder in die Leere hinein
auflösen. Die eigene Konzentration entwickelt sich dann in der Art, dass die Ablenkung durch die
verschiedenen, von Augenblick zu Augenblick auftauchenden Gedanken abnimmt und sie sich
einfach wieder auflösen. Es ist nicht unbedingt so, dass alles Denken aufhört, aber die Gedanken
verlieren ihre Macht jenes klare Gewahrsein in ihre verlockenden Geschichten hinein zu ziehen.
Wir können einfach entspannt und vollkommen aufmerksam in der Hier-und-Jetzt-Gegenwart des
Gewahrseins verbleiben.

In der zweiten Phase der Mahamudra-Meditation wird unsere Klarheit des Gewahrseins genutzt, um
die Ursprünge der Gedanken, die Gesetzmäßigkeiten der Gedanken und das Wesen der persönlichen
Identität, die durch unsere Gedanken definiert wird, zu beobachten. In dieser Phase des nicht-
begrifflichen Beobachtens kann die vergängliche Natur unseres Selbst- oder Identitätsgefühls
entdeckt werden. Wenn in diesem Zusammenhang eine tiefe Einsicht entsteht, kann sie genau dieses
erleuchtete Gewahrsein offenbaren, das sonst immer unbemerkt geblieben ist. Diese Einsicht
erblüht dann zu der Erkenntnis, dass die gesamte Realität der ursprüngliche Ausdruck des Seins ist.
Diese Erkenntnis ist als Mahamudra bekannt, was „großes Symbol oder Geste“ bedeutet. Das
Symbol ist unsere gesamte Welt, und die Geste verweist auf ihre untrennbare Quelle als Wissendes
und Erkennendes Sein. Dies wäre dann das Erkennen der Frucht der Mahamudra-Praxis. Wenn sich
diese Erkenntnis nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der eigenen Meditationspraxis der
Schüler ergibt, würde die Lehrerin oder der Lehrer spezifischer geführte Meditationen anleiten.
Dabei wird die Aufmerksamkeit der Schüler auf verschiedene Seiten ihrer Gedankenprozesse, ihres
Bewusstseins und ihrer wahrnehmenden Gegenwart gelenkt. Dies wird zwischen Lehrerin/ Lehrer
und Schülerin/ Schüler fortgesetzt, bis sie oder er eine „durchstechende“ Einsicht hat. Wenn klar ist,
dass die Schülerin oder der Schüler eine authentische Einsicht in Bezug auf das Erkennen des
erleuchteten Wesens hat, wird er oder sie auf die gleiche Weise wie im Dzogchen angeleitet,
nämlich einfach in diesem neu bloßgelegten Zustand des nackten Beobachtens fortzufahren.

Es ist wesentlich zu erkennen, dass in den Lehren des Zen, Dzogchen, Mahamudra und Advaita das
Gedankenkonstrukt fehlt, jemand könne Erleuchtung oder einen erleuchteten Zustand „erreichen“.
Vielmehr geht es einfach darum zu erkennen, dass das eigene Gewahrsein schon immer vollständig
erleuchtet war und dann als das reine Gewahrsein zu leben, das er oder sie schon immer war, nur
eben nicht erkannt hatte. Im Mahamudra wird dieser Zustand auch als der natürliche Zustand
bezeichnet. Es ist unser ursprünglicher Zustand, der sich nie verändert, so wie sich der Himmel nie
verändert, während all die wandernden Wolken und das Wetter kommen und gehen.

Ich sollte erwähnen, dass es auch eine ältere Lehrlinie des Mahamudra gibt, die Essenz-Mahamudra
genannt wird. Sie sieht keinen Sinn für schrittweise Verwirklichung oder Erlangung durch
Praktiken. Die berühmtesten Meister dieser einzigartigen Tradition waren Saraha, Maitripa und
Tilopa. Sie alle stammten aus Indien und lebten vor mehr als tausend Jahren. Im Laufe der Zeit
wurden ihre Lehren in einen stufenweisen Ansatz integriert, der sowohl yogische Energiepraktiken
als auch einfache Meditationsmethoden verwendet, die sich mit verschiedenen Seiten des Geistes
befassen. Hier sind einige Zitate von Meistern der Essenz-Mahamudra-Linie:

Kalu Rinpoche:

„Der Geist ist im Zustand des bloßen Gewahrseins ausgeglichen, es gibt kein Lenken des Geistes.
Es wird nicht im Inneren nach irgendetwas gesucht; außerhalb wird nicht nach irgendetwas gesucht.
Der Geist wird einfach in seinem eigenen natürlichen Zustand ruhend gelassen. Das leere, klare und
ungehinderte Wesen des Geistes kann erfahren werden, wenn wir in einem ungezwungenen Zustand
des bloßen Gewahrseins ruhen können, ohne Ablenkung und ohne dass der Funke des Gewahrseins
verloren geht.“

Von Niguma, der großartigen Mahamudra-Meisterin:

„Trage nichts hinein in den Geist,

sei es real oder eingebildet.

Ruhe ungezwungen im angeborenen Zustand.

Dein eigener Geist, ungekünstelt, ist der Körper der höchsten Erleuchtung.
Darin unabgelenkt zu verbleiben, ist der wesentliche Punkt der Meditation.

Erkenne den großen, grenzenlosen, sich weitenden Zustand.“

Von Maitripa:

„Klarheit ohne Gedanken ist wie Raum.

Erscheinungen ohne Substanz sind wie der Mond auf dem Wasser.

Klarheit ohne Festhalten ist wie ein Regenbogen.

Wie die Freude junger Liebender ist sie unbeschreiblich. Sie hat keinen Ort und überschreitet alle
Grenzen.“

Von Tilopa:

„Erinnere dich nicht.

Stelle dir bildlich nichts vor.

Denke nicht.

Untersuche nicht.

Überprüfe nicht.

Ruh dich aus.“

Es gibt auch eine nicht-buddhistische Tradition, die ebenfalls einen Ansatz der „plötzlichen
Einsicht“ anbietet und Advaita genannt wird. Ihre Lehren lassen sich bis zu den alten indischen
Veden und Upanishaden zurückverfolgen. Die Advaita-Erleuchtung, die als Selbst-Erkennen
bekannt ist, kann von einer Lehrerin oder einem Lehrer direkt vermittelt werden, so wie es im Zen
und Dzogchen der Fall ist. Die Schüler führen einen Dialog mit der Lehrerin oder dem Lehrer,
entweder in einem Einzelgespräch oder in einem Gruppentreffen, das Satsang genannt wird. Das
reine Advaita an sich bietet allerdings keine besonderen Meditationsmethoden oder -praktiken an,
die über die Selbst-Untersuchung hinausgehen. In dieser Hinsicht ähnelt seine philosophische
Position der des Dzogchen, weil in beiden Traditionen von dem vollständig vorhandenen
erleuchteten Bewusstsein ausgegangen wird. Es ist nur das suchende Ego, das unser Wissen darüber
blockiert, was bereits der natürliche Zustand unseres Seins ist. Wir müssen uns sozusagen selbst aus
dem Weg gehen und dafür ist keine Praxis oder Meditation erforderlich, sondern nur eine klare
Einsicht in das, was vor sich geht. Diese Einsicht wird durch die direkte Diskussion mit einer
Advaita-Lehrerin, einem Advaita-Lehrer oder auch durch das Lesen und Studieren einiger
prägnanter Anweisungen verschiedener Advaita-Meister gefördert. In jüngster Zeit haben zwei
große Advaita-Lehrer ausgiebig über dieses Thema geschrieben und gelehrt. Der eine heißt
Nisargadatta und der andere Ramana Maharshi. Beide stammen aus Indien und sind inzwischen
verstorben. Studierende können wunderbare und tiefe Einsichten gewinnen, wenn sie ihre
prägnanten Zitate und Texte lesen.

Sowohl Advaita als auch Dzogchen verlassen sich in diesem Sinne auf die innewohnende Weisheit,
die in unserem eigenen Bewusstsein bereits vollständig vorhanden ist. Übungen oder Praktiken sind
nicht erforderlich um diese Weisheit zu erkennen, denn Praktiken und Methoden sind nur weitere
Überlagerungen des direkten Wahrnehmens, das sich selbst erkennt. Um eine Praxis auszuüben,
wird ein Ausführendes der Praxis benötigt. Im Advaita ist dies eine der wichtigsten Lehren. Sich auf
eine Praxis einzulassen ermächtigt das Ego, jenes sich vorgestellt Ausführende, in seinen
verschiedenen Aktivitäten des Greifens und Strebens nach einem ultimativen Zustand der
Glückseligkeit oder der Erleuchtung nur immer weiter. Wenn das Ego als persönliches
Identitätsgefühl des Geistes wegfällt, bleibt nur noch das erleuchtete Gewahrsein übrig, also unser
tatsächliches Sein, was die ganze Zeit da war. Wir haben als Gewahrsein nur einen Moment lang die
Ego-Erfahrung als eine andere Art von Erfahrung ausgedrückt. Nebenbei bemerkt, gibt es einen
westlichen Satz, den ich in letzter Zeit gehört habe: „Es ist nicht so, dass wir Menschen wären, die
spirituelle Erfahrungen machen, sondern wir sind spirituelle Wesen, die menschliche Erfahrungen
machen.“

Hier folgen Zitate von zwei Advaita-Meistern des zwanzigsten Jahrhunderts:

„Gewahrsein ist stets da. Es muss nicht erkannt werden. Öffne den Vorhang des Geistes und er wird
mit Licht durchflutet werden.

Zuerst müssen wir uns selbst nur als Zeugen erkennen, als dimensionslose und zeitlose Zentren des
Beobachtens und dann jenen unermesslichen Ozean reinen Gewahrseins erkennen, der sowohl Geist
als auch Materie ist und auch jenseits von beiden.

Die Persönlichkeit macht dem Zeugen Platz, danach geht der Zeuge und das reine Gewahrsein
bleibt.

Es gibt keine Schritte zum Selbs-Erkennen. Es hat nichts stufenweises an sich. Es geschieht
plötzlich und ist unumkehrbar. So wie du beim Sonnenaufgang die Dinge siehst wie sie sind, siehst
du beim Selbst-Erkennen alles wie es ist. Die Welt der Illusionen vergeht.

Setze dein Gewahrsein ein, nicht deinen Verstand. Der Verstand ist nicht das richtige Instrument für
diese Aufgabe. Das Zeitlose kann nur durch das Zeitlose erreicht werden. Dein Körper und dein
Verstand sind der Zeit unterworfen; nur das Gewahrsein ist zeitlos, sogar im Jetzt.“
(Aus: I Am That, von Sri Nisargadatta Maharaj. Veröffentlicht von Chetana, Bombay, 1992)

Ramana Maharshi:

„Du bist Gewahrsein. Gewahrsein ist ein anderer Name für dich.

Weil du Gewahrsein bist, ist es nicht nötig es zu erlangen oder zu kultivieren.

Fragender: Wie kann ich feststellen, ob ich mit meiner Untersuchung Fortschritte mache?

Der Grad der Abwesenheit von Gedanken ist das Maß für deinen Fortschritt auf dem Weg zur
Selbst-Erkenntnis. Das Selbst-Erkennen selber lässt jedoch keinen Fortschritt zu, es ist immer
dasselbe. Das Selbst verbleibt immer im Erkennen. Gedanken sind die Hindernisse. Der Fortschritt
wird an dem Grad der Beseitigung der Hindernisse gemessen, die dem Verständnis im Weg stehen,
dass das Selbst immer erkennt. Die Gedanken müssen also überprüft werden, indem nach
demjenigen gesucht wird, wem gegenüber sie entstehen. Du gehst also an deren Quelle, wo sie nicht
entstehen.“

Es folgen einige Zitate aus der Zen-Tradition, die sich auf den Ansatz des direkten Gewahrseins
beziehen.
Fukanzazengi von Eihei Dogen, der Soto-Zen-Sekte aus Japan im dreizehnten Jahrhundert:

„Der Weg ist in seinem Wesen vollkommen und durchdringt alles. Wie könnte er davon abhängig
sein, was jemand tut, um ihn zu praktizieren oder zu verwirklichen? Die Bewegung der Wirklichkeit
braucht uns für den Anstoß nicht. Muss ich sagen, dass sie frei von Verblendung ist? Die
unermessliche Weite der Wirklichkeit kann niemals durch den Staub von Vermutungen verdeckt
werden. Wer könnte also glauben, dass sie von solchem Staub gereinigt werden müsste, um zu sein,
was sie ist? Sie ist niemals getrennt von dort, wo du bist, warum also auf der Suche nach ihr
herumkrabbeln?

Ihr solltet daher die auf intellektuellem Verstehen basierende Praxis, das Verfolgen von Worten und
das Nachgehen von Reden aufgeben und den Schritt zurück lernen, der euer Licht nach innen
richtet, um euer Selbst zu erleuchten. Körper und Geist werden von selbst abfallen und dein
ursprüngliches Gesicht wird zum Vorschein kommen. Wenn du So-heit (Wahres Wesen) erlangen
willst, solltest du So-heit (Sein des Wahren Wesens) ohne Verzögerung praktizieren.“

Mein Kommentar:

Die Wirklichkeit atmet uns bereits, denkt uns und lebt uns. Es gibt nichts Besonderes für uns zu tun,
außer dem, was wir gerade tun. Wohin auch immer du dich ausrichtest, du schaust immer in die
richtige Richtung. Alles ist genau da, wo es sein soll. Wer sonst könntest du sein, wenn nicht du
selbst?

Im koreanischen Zen, wie es in den Werken von Chinul aus dem zwölften Jahrhundert beschrieben
wird, kommt eine Methode zur Anwendung um direkt in den erwachten Zustand zu gelangen. Es ist
die achte Methode, die in den zehn tiefgründigsten Methoden des direkten Eintritts aufgeführt ist.

Zen-Meister Chinul schreibt:

„Inneres und Äußeres sind alle dieselbe Funktion. Beim Üben nehmen wir also alle Phänomene des
physischen Universums an, innere, äußere, mentale oder physische, sowie Bewegung und Aktivität
und betrachten sie alle als die erhabene Aktivität des Wahren Geistes (Gewahrseins). Sobald
irgendein Gedanke oder ein geistiger Zustand auftaucht, handelt es sich um die Erscheinung dieser
erhabenen Funktion. Weil alle Dinge dieses erhabene Funktionieren sind, wo befindet sich da der
verblendete Geist? Dies ist die Methode um Täuschung auszulöschen, indem erkannt wird, dass alle
äußeren und inneren Dinge die gleiche Funktion des Wahren Geistes (Gewahrseins) sind.“
(Aus The Collected Works of Chinul, The Korean Approach to Zen, ins Englische übersetzt von
Robert E. Buswell Jr.)

Oft sind Lehrer zu hören, die das Problem darin bestehend beschreiben, dass „wir uns mit diesem
Körper oder dieser Persönlichkeit identifiziert haben.“ Irgendwie wird davon ausgegangen, dass
dasjenige, was wir sind, die Fähigkeit hat sich zu irren und in diesen falschen Prozess der
Identifikation hinein zu stolpern. Das Wir, auf das sich hier bezogen wird, ist unser ursprünglicher
reiner Seinszustand. Aber wenn wir tatsächlich tief in diesen ursprünglichen Zustand hineinschauen,
werden wir dort nichts finden, das sich mit irgendetwas „identifiziert“.

Wir könnten das Beispiel des unveränderlichen Raums verwenden. Vögel, Wolken, Planeten und
Sterne erscheinen alle im Raum und sind doch in keinster Weise von diesem Raum getrennt. Wir
können uns nicht vorstellen, dass ein Vogel außerhalb des Raumes fliegt, in dem er erscheint. Aber
wir können uns den leeren Raum vorstellen ohne die Erscheinung eines Vogels. Der Raum ist
nicht zu einem Vogel geworden, sondern bleibt immer in seiner eigenen Dimension der Leere.
Ebenso ist unser wahrer ursprünglicher reiner Seinszustand, der sich als wissendes Gewahrsein
ausdrückt, nie zu einem „Etwas“ geworden, sondern bleibt immer in seiner Dimension der Leerheit.
Aber wie im Raum können alle möglichen Dinge in diesem leeren Raum des „wissenden
Gewahrseins“ erscheinen. Stelle dir das Glas eines Spiegels vor, das von den Reflexionen
durchdrungen zu sein scheint und dennoch bleibt das Glas unverändert. Die Reflexionen existieren
nicht außerhalb des Spiegels, aber das klare Glas des Spiegels ist in keiner Weise von den
Reflexionen abhängig.

Betrachte das Gefühl der Identifikation und auch den Gedanken und das Gefühl, „Ich bin dieser
Körper“. Dies ist eine vollständige Erfahrung für sich. Anders ausgedrückt ist dieser Gedanke und
dieses Gefühl ein ganzes Paket von Informationen, das wie eine Reflexion im Spiegel des
Gewahrseins erscheint. Es gibt dort aber kein so unveränderliches Ich, das dann mit dem
Gedanken „dieser Körper zu sein“ identifiziert wird, sondern vielmehr sind der Gedanke „Ich“ und
der Gedanke „bin dieser Körper“ nur ein vollständiger Satz oder ein Bild, das im Gewahrsein
erscheint. Das Gewahrsein hat sich selbst nie als ein „Ich“ oder als „dieser Körper sein“ begriffen.
Genauso wird das Glas eines Spiegels sich niemals in sein Spiegelbild verwandeln, dennoch
erscheinen alle möglichen Spiegelbilder. Auf einer subtileren Ebene gilt das Gleiche für die
Identifikation als Persönlichkeit. Der Verstand entwirft ein Selbstbild, unser Gefühl für Charakter
und Persönlichkeit. Auch diese begriffliche Konstruktion ist nur eine Erscheinung im stets leeren
Raum des Gewahrseins.

Welche Gedanken, welches Konzept oder welches Bild auch immer du dir bezüglich der
persönlichen Identität ausdenken magst, es wirkt sich niemals auf den leeren Raum des wissenden
Gewahrseins aus, in dem es erscheint. Dennoch können wir bezüglich dieser Vorstellungen keinen
Abstand oder keine Trennung von diesem leeren Raum des unmittelbar erkennenden Gewahrseins
finden. In ähnlicher Weise gibt es keine Trennung zwischen den Wellen und dem Wasser, in dem sie
Gestalt annehmen. Aber auch das Wesen des Wassers wird durch die Formen, die die Wellen
annehmen, nicht verändert.

Wir erkennen also hoffentlich, nachdem wir dies in einem Moment stiller Kontemplation persönlich
betrachtet haben, dass unser leeres, wissendes Gewahrsein sich selbst niemals mit irgendetwas
identifiziert. Dennoch tauchen jene Gedanken, dieses oder jenes zu sein, ständig in diesem
unveränderlichen Raum des ursprünglichen Seins auf und lösen sich wieder auf. Weil das so ist,
welchen Nutzen könnte dann eine Philosophie oder spirituelle Praxis bezüglich der Erkenntnis
anbieten? Welche Gedanken oder spirituellen Erfahrungen auch immer auftauchen, sie sind nie
mehr als leere Erscheinungen, die im leeren und unveränderlichen Raum des Gewahrseins
entstehen. Wir haben diesen ursprünglichen Zustand des Seins als leerer Raum des wissenden
Gewahrseins, in dem alle Erscheinungen auftreten, nie verlassen. Dein gegenwärtiges leeres
wissendes Gewahrsein ist es, wo die Erfahrung eine Person zu sein, die diese Worte liest, erscheint.
Erfahrungen, Glaubensvorstellungen, Verwirrungen, Identitäten und Erscheinungen sind als Inhalt
niemals problematisch für den Zusammenhang, in dem sie erscheinen.

In der jeweils aktuellen Praxis sind jedoch viele Menschen eher unvorbereitet und zu dieser
unmittelbaren und zutiefst transformierenden Erkenntnis nicht in der Lage. Sie mögen große
Eingebungen und mystische Einsichten haben, aber sie neigen schließlich dazu, sich bis zu einem
gewissen Grad zurückzuentwickeln. Daher scheint eine solide Grundlage der Meditationspraxis und
eine allmähliche Entwicklung der Einsicht empfehlenswert zu sein, um das Reifen beim Betreten
jenes Pfade des direkten Gewahrseins zu unterstützen. Der ausschlaggebende Punkt für einen
wahrscheinlichen oder unwahrscheinlichen Erfolg scheint davon abzuhängen, ob das falsche Gefühl
der Selbstidentifikation der Schülerin oder des Schülers zuvor gelöst oder dekonstruiert wurde.

Für manche ist der Ansatz des direkten Aufzeigen des reinen Gewahrseins jedoch genau die richtige
Information zur richtigen Zeit. In jedem Fall muss ein Dialog zwischen Schülerin oder Schüler und
Lehrerin oder Lehrer stattfinden, damit die Lehrperson einschätzen kann, wie am besten
vorgegangen werden soll. Als Lehrer beginne ich bei Schülern immer mit dem Ansatz des direkten
Gewahrseins. Anhand ihrer Reaktion auf diesen Versuch, eine grundlegende
Bewusstseinsveränderung zu eröffnen, kann ich einschätzen, was genau als Nächstes getan werden
muss. Das kann ein sehr kurzes Programm von Übungen oder Meditationen sein um den Geist
besser vorzubereiten. Dann setzen wir die Bemühungen fort, eine plötzliche
Bewusstseinsveränderung herbeizuführen, die stabiler sein kann und dann wahrscheinlich zu immer
tieferen Einsichten führen wird.

Der zweite Weg zur Selbsterkenntnis ist der schrittweise Weg der Meditation. Er nimmt den Körper,
die innere Energie, den Geist und die Aktivitäten des Geistes in den Blick. Das Ziel ist zunächst,
den Geist darin zu unterstützen einen ruhigeren und klareren Zustand zu entdecken. Das bedeutet
eine Verringerung der Lautstärke der Gedanken und jener Tendenz, unsere Gedanken zu den
verschiedenen Geschichten weiterzuspinnen, die durch die Aufmerksamkeit auf die diversen
Botschaften und Bilder unseres Geistes entstehen. Es gibt buchstäblich Hunderte von
Meditationsmethoden und -praktiken, aus denen man wählen kann. Aber sie alle lassen sich auf
zwei grundlegende Bestandteile zurückführen: Beruhigung des Geistes und Steigerung der Einsicht.

Um einen allgemeinen Überblick über eine Basis-Praxis zu geben, untersuchen wir nun eine
grundlegende Beschreibung der Meditation. Die Grundmeditation besteht aus dem Sitzen auf
einem Kissen auf dem Boden oder auf einem Stuhl, aber in beiden Fällen soll die Wirbelsäule
gerade und nicht angespannt gehalten sein. Die Hände können bequem auf den Oberschenkeln
oder Knien liegen. Zu Beginn können die Augen geschlossen sein und der ein- und ausströmende
Atem wird wahrgenommen. Nach ein paar Minuten werden die Augen geöffnet und es wird ein
Punkt am Boden fokussiert, der etwa einen bis anderthalb Meter vor einem liegt. Versuche, deine
Augen ruhig zu halten, aber es ist in Ordnung zu blinzeln. Bemerke dein Atmen wie zuvor. Dein
Fokus ist auf dem Punkt am Boden und du achtest insbesondere auf das Gefühl der durch die
Nasenlöcher ein- und ausströmenden Luft und auf das Füllen und Entleeren der Lungen beim
natürlichen Atmen. Wenn du ein wenig verträumt und voller Gedanken bist, konzentriere dich
etwas mehr auf die genannten Punkte. Wenn du dich unruhig fühlst, dunkele den Raum ab oder
schließe die Augen und versuche, die Atmung mit viel tieferen und langsameren Ausatmungen zu
verlangsamen. Finde mit der Zeit ein angenehmes Gleichgewicht zwischen dem richtigen Maß an
Konzentration und dem richtigen Maß an Lockersein.

Werden die Augen auf einen Punkt oder ein kleines Objekt vor ihnen gerichtet, so verlangsamt sich
der Gedankenfluss. Dies wurde von Neurowissenschaftlern festgestellt, die die Wirkungen von
Meditation untersucht haben. Langsame und tiefe Atemzüge sowie das Ausdehnen der Lunge bis
zum vollen Fassungsvermögen ein paar Minuten lang regt bestimmte Zellen an, die sogenannten
Baro-Rezeptoren im Lungengewebe. Dadurch wird das parasympathische Nervensystem zum
Ausschütten von chemischen Stoffen veranlasst, die die Auswirkungen des Adrenalins
neutralisieren und eine messbare Entspannung auf biologischer Ebene bewirken. Langsames, tiefes
Atmen für etwa zehn Minuten beendet oder lindert auch Panikattacken. Ein Schlüsselelement der
Atemübungen ist, dass das Ausatmen deutlich langsamer ist als das Einatmen.

Beim Meditieren verfolgst du keine geistigen Ziele, hast keine Liste abzuarbeiten. Denke nicht
daran das Denken zu verringern. Du beobachtest einfach, wie ein Spiegel oder eine Videokamera.
Ein Spiegel hat nicht die Fähigkeit dasjenige zu beurteilen oder zu analysieren, was er spiegelt.
Bleibe einfach im reinen Beobachten sitzen. Falls es irgendeine Anstrengung geben sollte, dann
lass es die subtile Vorliebe für das Verweilen im „Jetzt“ der unmittelbaren Sinneserfahrung sein.
Das steht im Gegensatz zum Abdriften in Gedanken und Tagträumen. Wenn du zu müde bist um in
einem Zustand natürlicher und entspannter geistiger Klarheit zu sein, mach ein Nickerchen und
versuche es erneut. Kämpfe nicht gegen die Schläfrigkeit an; das ist meistens Zeitverschwendung.
Wenn du zu unruhig bist um still sitzen zu können, gehe spazieren und versuche es später noch
einmal. Falls dein Geist zu beschäftigt ist, kann es hilfreich sein die Aufmerksamkeit auf das
Atmen zu richten und im Geiste immer wieder die Atemzüge von eins bis zehn zu zählen, bis du
dich beruhigt hast. Lass dann das Zählen sein und achte nur noch auf deine Atmung. Wenn der
Geist ruhig und fast still wird, kannst du den Fokus auf die Atmung sein lassen und einfach im
lebendigen und wachen „Jetzt“ verweilen. Dieser Zustand wird nacktes Gewahrsein genannt; das
Gewahrsein ist nicht in Gedanken, mentale Bilder oder emotionale Zustände gekleidet. Wir
verweilen einfach in diesem nackten Gewahrsein und setzen diesen Zustand nach unserem
Stillsitzen so lange wie möglich fort. Unser Ziel ist es, dieses nackte Gewahrsein zu unserer
normalen Basis des Alltags sowohl tagsüber wie auch nachts werden zu lassen. Gedanken, mentale
Bilder und emotionale Zustände werden auftauchen, aber sie werden aus der Perspektive des
nackten Gewahrseins erlebt anstatt subjektiv in unseren Geschichten zentriert zu sein.

Wenn du feststellst, dass ein bestimmter Gedanke oder eine bestimmte Gruppe von Themen immer
wieder störend im Geist auftaucht, gibt es eine Möglichkeit diese Ablenkung aufzulösen.
Während du dein Atmen wahrnimmst, stelle dir beim Einatmen vor, dass der Gedanke in deinem
Geist sich wie eine kleine Wolke von Gedankenenergie im Kopf mit dem Atem an der Nase
vereinigt und dann beim Ausatmen austritt und sich im Raum vor dir auflöst. Achte dann beim
nächsten Einatmen darauf, ob du einen anderen Gedanken im Kopf hast und wiederhole den
Vorgang so lange, bis die störenden Gedanken verschwunden sind.

Eine Meditation im Sitzen sollte zwanzig bis vierzig Minuten dauern. Wenn dir diese Art der hier
beschriebenen Meditation schwer fällt, kannst du dich mit fünfminütigen Sitzungen und einer
kurzen Pause dazwischen auf zwanzig Minuten hocharbeiten, wenn es passt. Ich empfehle täglich
zu meditieren, wenn du diese Praxisform ausprobieren möchtest.

Der Advaita-Meister Nisargadatta empfiehlt:

„Solange du Anfängerin oder Anfänger bist, können bestimmte ritualisierte Meditationen oder
Gebete gut für dich sein. Aber für die nach der Wirklichkeit Suchenden gibt es nur eine einzige
Meditation; die strikte Weigerung sich in Gedanken zu ergehen. Frei von Gedanken zu sein ist
Meditation an sich.
Du fängst damit an Gedanken fließen zu lassen und sie zu beobachten. Alleine durch Beobachten
verlangsamt sich der Geist bis er ganz zur Ruhe kommt. Ist der Geist erst einmal ruhig, halte ihn
ruhig. Langweile dich nicht in dem Frieden, sei in ihm, gehe tiefer hinein.... Beobachte deine
Gedanken und beobachte dich selbst, wie du die Gedanken beobachtest. Der Zustand des Freiseins
von allen Gedanken wird plötzlich eintreten, und an der entstehenden Glückseligkeit wirst du ihn
erkennen.“
(Aus: I Am That, von Sri Nisargadatta Maharaj. Veröffentlicht von Chetana, Bombay, 1992).

Was sind die Vorteile der schrittweisen Annäherung an das Erkennen? Erstens wird tendenziell
mehr Stabilität erlangt und die daraus resultierende positive Wirkung hält länger an. Dies ist auf die
Neuroplastizität des Gehirns zurückzuführen. Das Gehirn ist demzufolge formbar. In der
Neurowissenschaft wurde früher angenommen, dass unser Gehirn von Kindheit an festgelegt und
grundsätzlich unveränderlich sei. Heute wissen wir es genauer. Das Gehirn passt sich an
unterschiedliche Reize und Erfahrungen an. Die MRT- und Gehirnscan-Forschung fand heraus, dass
das Gehirn bereits nach acht Wochen täglicher Meditation von je fünfundvierzig Minuten pro
Sitzung körperliche Veränderungen zeigt. Die Bereiche des Gehirns, die mit der Erzeugung von
Ruhe und Klarheit in Verbindung stehen, entwickeln messbar mehr Aktivität. Bereiche, die mit
Angst, Depression und Stress in Verbindung gebracht werden, zeigen dagegen eine Verringerung
der neuronalen Aktivität. Indem wir über einen längeren Zeitraum hinweg beruhigende
Meditationen durchführen, nimmt die neuronale Verschaltung allmählich zu, die entsprechende
Muster kognitiver Erfahrungen hervorbringt. Dies geschieht in den Bereichen des Gehirns, die wir
entwickeln möchten, während sie in den Bereichen abnimmt, die wir deaktivieren möchten. Die
„graue Substanz“ nimmt in den Hirnbereichen messbar zu, die für einen positiven Geisteszustand
förderlich sind, wie beispielsweise im Hippocampus. Langzeit-Meditierende weisen deutlich andere
Gehirn-Scans auf als Nicht-Meditierende. Bereiche des Gehirns, die mit positiven Geisteszuständen
in Verbindung gebracht werden, zeigen eine volle und tiefe Aktivierung. Die Veränderungen bleiben
auch dann bestehen, wenn nicht gerade kürzlich meditiert wurde. Die Grundlinie normaler
Gehirnaktivität liegt bald in einem positiven Bereich gemeinsam mit nachweisbaren langfristigen
positiven Veränderungen im Gehirngewebe. Wir können die Schaltkreise unseres Gehirns
buchstäblich neu verdrahten. Wenn du also dein derzeitiges Angst- und Stressniveau verringern
möchtest, ist Meditation eine bewährte Methode. Auch wenn du dir positivere Geisteszustände und
Stimmungen wünschst, ist Meditation die beste mir bekannte Lösung.

Durchbrüche in der MRT- oder Gehirnscan-Technologie haben es ermöglicht, die Hauptbereiche des
Gehirns zu lokalisieren, die mit selbstfokussierter Aktivität verbunden sind, was man auch als
„Selbst-Erschaffen“ oder „Verselbstung“ bezeichnen könnte. Das Selbst zu erschaffen bedeutet,
dass wir nicht nur irgendeine geistige oder körperliche Tätigkeit ausüben, sondern dass gemeinsam
mit der ausgeübten geistigen oder körperlichen Tätigkeit ein übergeordnetes Gefühl für mich als
selbstbezogenes Selbstbewusstsein einhergeht. Sind diese Bereiche des Gehirns jedoch nicht aktiv,
so ist unsere Erfahrung eine ganz andere. Das Leben und alle Erfahrung fließt einfach auf natürliche
und spontane Weise, fast mühelos. Manche bezeichnen diesen Zustand als „in the zone“ oder „im
Fluss“ sein. Hochleistungssportler beschreiben diesen Zustand als in solchen Momenten auftretend,
die totale Konzentration und Klarheit erfordern. Sie berichten, dass das Selbstbewusstsein in diesen
Augenblicken völlig abwesend ist, weil der Körper einfach seiner eigenen angeborenen Intelligenz
zu folgen scheint.

Stress, Depressionen und Ängste werden mit diesen verschiedenen Ich-Zentren des Gehirns in
Verbindung gebracht. Wenn dieses Gefühl des Ich unsere gesamte Erfahrung stark durchdringt,
vergiftet es sozusagen das Wasser. Das Gehirn erzeugt dieses Ich-Gefühl, also das Gefühl ein von
der Umgebung getrenntes Selbst zu sein, durch das Zusammenspiel verschiedener Gehirnbereiche.
Diese sind an dem Mechanismus des „Selbst-Erschaffens“ beteiligt und ermöglichen ihn.
Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine Art Rückkopplungsschleife, die sich innerhalb unserer
Spezies entwickelt hat, um eine stärkere Selbstbezogenheit bezüglich des Überlebens und der
sozialen Auswirkungen verschiedener Handlungen zu ermöglichen. Sie steht wahrscheinlich auch in
direktem Zusammenhang mit unserer Angst und unserem Zögern, bevor wir uns auf neue und
abenteuerliche Aktivitäten einlassen. Vielleicht hat diese Selbstbezogenheit in unserer Spezies ihren
Wert bereits verloren, ihre Vorherrschaft jedoch noch lange nicht. Sie scheint direkt vom
Überlebenstrieb eines Organismus angetrieben zu sein als Selbst zu überleben. Dieser Drang wird
nicht einfach oder leise verschwinden, außer wir programmieren die Soft- und Hardware des
Gehirns um. Meditation kann helfen genau das zu tun.

Wenn andererseits einzelne Menschen transformierende Bewusstseinszustände tiefgreifend


erfahren, wie es eben beim Erkennen des Gewahrseins der Fall ist, wird ein Großteil der Software
des Gehirns bezüglich des Selbst und die damit verbundenen Mechanismen umprogrammiert. Es ist
so als ob das Gehirn und der Geist einen Reset-Knopf haben, der nicht nur die gesamten kognitiven
Systeme des Individuums neu ausrichten kann, sondern tendenziell das gesamte System auf eine
neue Art der Informations- und Erfahrungsverarbeitung umstellt.

Es scheint zwei Ebenen des kognitiven Bewusstseins zu geben. Die eine scheint wie ein Computer
zu funktionieren, der den Gesetzen der klassischen Newtonschen Physik folgt. Sie verarbeitet und
bewertet Informationen auf einer rein biologischen Reiz-Reaktions-Basis. Die andere Ebene
funktioniert viel mehr wie ein „Quantencomputer“, der nach anderen Regeln des
Informationszugangs, der Informationsverarbeitung und -verteilung arbeitet. In Kapitel Sechs wird
dieses neue Thema des „Quantenbewusstseins“ erörtert und wie das Gehirn sowohl eine
Verarbeitungsfähigkeit nach Quantenprinzipien als auch nach klassischen Rechenprinzipien zu
besitzen scheint. Fortgeschrittenere Meditation scheint die Quantenseite des Gehirns und des
Geistes zu aktivieren. Deshalb ist das Interesse groß dieses faszinierende neue Gebiet zu verstehen,
in dem sich Neurowissenschaft, Spiritualität und Quantenphysik treffen. Durch diese Quantenseite
des Bewusstseins verbindet sich unser nicht-materielles, spirituelle Wesen mit dem Körper und dem
Gehirn.

Im Anhang finden sich eine Reihe von Meditationsübungen für Anfänger und Fortgeschrittene mit
vollständigen Anleitungen für die Praxis.

Der dritte Ansatz zur Selbst-Erkenntnis umfasst eine Reihe von Methoden, die als Energiepraktiken
bezeichnet werden und die dem Yoga mit seinen Atemübungen und inneren Visualisierungen
ähneln. Bei diesem Ansatz arbeiten wir mit sehr subtilen Energien, die durch unseren Körper und
unser Gehirn fließen und unsere Bewusstseinszustände beeinflussen. Diese subtile Energie wird als
Lebenskraft, Prana oder Chi bezeichnet, je nachdem, aus welcher Tradition wir kommen. Die
Akupunktur basiert vollständig auf der Wiederherstellung und Harmonisierung des Flusses dieser
Lebensenergie durch subtile Kanäle, die oft den Hauptnervenbahnen und Nervenkomplexen im
Körper folgen. Diese Lebensenergie wird im Chinesischen Chi genannt. Die Energiepraktiken
können sehr erdend sein und subtile Energieblockaden auflösen, die mit vielen unerwünschten
mentalen und emotionalen Zuständen verbunden - und die die Hauptursache für unser Leiden sind.

Meiner Erfahrung nach versuchen westliche Suchende allzu oft ihren Weg zur Erleuchtung zu
„denken“. Oft sind die kognitiven Hindernisse, die dem Erkennen im Wege stehen, in Blockaden
und Ungleichgewichten innerhalb des energetischen, feinstofflichen Körpers begründet. Diese
Suchenden mögen brillante intellektuelle Einsichten haben, die recht überzeugend sein mögen, aber
oft nur von kurzer Dauer sind. Der Geist kehrt dann in ein Muster zurück, das tief in den inneren
Energiekörper eingebettet ist, bis diese Muster losgelassen und verwandelt werden. Für diejenigen,
die sehr einfache Energieübungen praktizieren wollen, enthält der Anhang eine Reihe von Übungen,
die für jede und jeden nützlich sein können.

Wenn du dich dem erleuchteten Zustand über den Ansatz des direkten Gewahrseins näherst, erlebst
du auch immer jene Sinneserfahrungen, die sich typischerweise aus den Energiepraktiken ergeben,
nur ist ihre Wirkung vielleicht weniger beeindruckend. Wenn nur die Energiepraktiken durchführt
werden, treten ebenso alle intuitiven Einsichten auf, die beim Ansatz des direkten Bewusstseins
erfahren werden. Als ich 1978 in Kaschmir Sufismus studierte, fragte ich meinen Lehrer, ob es
notwendig sei yoga-ähnliche Energiekörperpraktiken anzuwenden, oder ob es ausreiche nur die
Meditationen zum direkten Bewusstsein durchzuführen, ohne sich um Körperhaltungen und
dazugehöriges zu kümmern. Er sagte, dass beides in Ordnung sei und dass beide Ansätze zum
gleichen Ergebnis führten. Ich zog den Ansatz des reinen Verstehens vor und verschwendete viele
Jahre damit, mich in meinen Konzepten und vorübergehenden Einsichten zu verlieren. Jahre später,
als ich ernsthaft mit den Praktiken des subtilen Energiekörpers begann, kam alles ziemlich schnell
zur Vollendung. Daraus können andere vielleicht ihre Lehre ziehen.

Um die Energiepraktiken vollständig zu verstehen, soll das Thema hier in seinem Kontext
dargestellt werden. In den meisten Kulturen leben religiöse Traditionen mit der Überzeugung, dass
Menschen nicht nur aus physischen Körpern bestehen, sondern auch aus einem spirituellen Wesen,
das den Tod überlebt. Was den physischen Tod überlebt, wird am häufigsten als Seele bezeichnet.
Jede spirituelle Tradition hat ihre eigene Beschreibung der Seele und ihres Lebens nach dem Tod.
Einzelheiten der Geschichte einer bestimmten Tradition im Umgang mit der Nachwelt werden hier
nicht vorgestellt. Im Fokus steht die Untersuchung der Lehren über das Wesen der Seele selbst. In
den östlichen Traditionen, insbesondere in den Lehren des hinduistischen Yogas und des tibetischen
Buddhismus´, gibt es eine reichhaltige und detaillierte Erklärung des feinstofflichen inneren
Körpers, also der Energiestruktur dessen, was oft als Seele bezeichnet wird. Es wird gelehrt, dass
dieser Energiekörper den Tod überlebt und sich immer wieder reinkarniert. Dieser feinstoffliche
Energiekörper ist das Vehikel für das eigene Bewusstsein nach dem Tod. Er wird als Lebenskraft,
élan vital, des physischen Körpers betrachtet. Einige Traditionen betrachten die Seele als eine
Wesenheit, die dauerhaft, unabhängig und autonom ist. Im Buddhismus geht es um ein sich stets
wandelndes Kontinuum des Bewusstseins, nicht um ein festes Etwas oder ein Selbst. Aber
Befreiung oder Erkenntnis liegt jenseits beider gedanklichen Konstrukte einer festen Entität oder
eines Bewusstseinskontinuums. Die innerste Essenz des Bewusstseins als reines Gewahrsein ist
ohne jedes Gefühl für eine feste Entität oder ein Kontinuum. Sie liegt jenseits aller Einordnungen
des Denkens und der Beschreibung und wird im Gewahrsein in einem Moment der Selbsterkenntnis
direkt erkannt.

Wenn die Energien des subtilen Körpers nach und nach verstanden werden und gelernt wird mit
ihnen zu arbeiten, ist es recht einfach einen Zustand tiefer spiritueller Einsicht herbeizuführen.
Einer der größten Vorteile der inneren Energiearbeit mit dem feinstofflichen Körper besteht darin,
dass wir den Geist recht einfach und schnell völlig ruhig werden lassen können. In diesem Zustand
ist es wahrscheinlicher, jenes grundlegende Wesen des Gewahrseins zu erkennen, also das bereits
erleuchtete Bewusstsein, was wir zu enthüllen suchen. Ich möchte jedoch unmissverständlich
klarstellen, dass es für die meisten Menschen nicht notwendig ist yoga-ähnliche
Meditationspraktiken oder Methoden bezüglich des inneren feinstofflichen Körpers auszuüben. Ich
stelle dies als eine wählbare und zusätzliche Methode für diejenigen vor, die darauf ansprechen.

Viele Suchende ziehen die Arbeit mit dem subtilen Energiekörper der bloßen Beschäftigung mit den
kognitiven Aspekten des Geistes vor. Andererseits haben viele eher intellektuell orientierte
Menschen kein Interesse an den Energiepraktiken. Soweit es hier erläutert wird denke ich, dass es
hilfreiche Informationen für alle an Selbsterkenntnis und spiritueller Entwicklung interessierte
Menschen sind. Die Erfahrungen, die mit dem Ausüben dieser grundlegenden Energiepraktiken
einhergehen, bringen ein Verständnis völlig jenseits intellektueller Konzepte und Wunschdenken
mit sich. Das ist insofern wichtig, weil viele Menschen im Westen die intellektuellen Seiten der
Suche nach spiritueller Weisheit und Erleuchtung überbetonen. Allerdings kann sich der Ego-Geist
auch ziemlich aufblähen, wenn versucht wird die mit diesen Methoden gewonnenen Erfahrungen zu
begreifen. Manche Menschen klammern sich an beeindruckende Erfahrungen von Glückseligkeit,
großer Klarheit oder einem leeren Geisteszustand, die sich dann in fortdauernden Bemühungen
äußern solche Erfahrungen wieder zu erleben. Dabei sind solche Erlebnisse lediglich Wegweiser
oder vorübergehende Meilensteine auf dem Weg. Je nach Neigung ist es gut ein Gleichgewicht
zwischen den Ansätzen zu finden, also entweder schlicht in der wachen Gegenwart des
Gewahrseins zu ruhen oder durch yogische Praktiken größere Klarheit zu entwickeln. In Tibet
haben die respektiertesten Meister empfohlen beide Ansätze in der täglichen Praxis zu kombinieren,
zumindest im Anfangsstadium.

Betrachten wir nun die Anatomie des feinstofflichen inneren Körpers, die für unsere Praxis von
Bedeutung sein wird. Das zu erörternde Schema ist in Traditionen wie dem tibetischen Buddhismus,
dem Yoga, dem Zen, dem Taoismus, dem Sufismus, der Kabbala und denen der amerikanischen
Ureinwohner im Wesentlichen dasselbe. Zunächst einmal lehren diese Traditionen, dass wir eine
durch subtile Kanäle im Körper fließende innere Energie haben. Diese innere Energie hat je nach
Tradition viele verschiedene Namen. Im Yoga wird diese Energie Prana genannt. Im tibetischen
Buddhismus wird sie Lung oder „Energiewind“ genannt. Im Taoismus und der traditionellen
chinesischen Medizin wird sie Chi genannt und steht im Mittelpunkt der Akupunktur, wie ich
bereits erwähnt habe. Im japanischen Zen und den Kampfkünsten wird sie Ki genannt. Der am
häufigsten verwendete Begriff ist wahrscheinlich Prana, der aus der hinduistischen Yogatradition
stammt. Ich werde allerdings ein Strukturmodell des inneren Körpers verwenden, wie es vor allem
in den tibetischen Traditionen beschrieben wird.

Wie bereits erwähnt fließt Prana oder Chi als eine Art Energie in subtilen Kanälen, den Nadis, durch
unseren Körper. Es gibt drei Hauptkanäle oder Nadis im feinstofflichen Körper, die wir in der
yogischen Meditationspraxis nutzen. Der wichtigste in allen Traditionen ist der zentrale Kanal. Er
verläuft entlang der Wirbelsäule, manche sagen innerhalb der Wirbelsäule, von der Basis der
Wirbelsäule bis zum Scheitel oder der Fontanelle am oberen Ende des Schädels. Wir bezeichnen
diesen Energiepfad als Zentralkanal. Auf beiden Seiten des Zentralkanals befindet sich je ein
Seitenkanal, der parallel zur Wirbelsäule verläuft. Diese Seitenkanäle entspringen an einer Stelle
direkt über der Basis der Wirbelsäule. Entlang des Zentralkanals befinden sich mehrere
Energiezentren, die wie Brennpunkte aller feinstofflichen Körperfunktionen sind und in etwa mit
den inneren Organen des physischen Körpers vergleichbar sind.

In der Yoga-Tradition nennen wir diese Energiezentren Chakren. Am unteren Ende der Wirbelsäule
befindet sich das Wurzelchakra. Weiter oben in die Nähe des Nabels befindet sich das Nabelchakra.
Noch weiter oben befindet sich das Herzchakra. Oberhalb des Herzchakras befindet sich das
Kehlchakra. Im oberen Bereich des Scheitels und direkt unterhalb der Fontanelle befindet sich das
Kronenchakra. Im Stirnbereich zwischen und kurz über den Augen befindet sich ein weiteres
Chakra, das so genannte Dritte-Auge-Chakra. An dieser Stelle setzen sich Hindus oft einen roten
Punkt auf ihre Stirn, der Bindu genannt wird. Hindus nennen ihn Ajna-Chakra. Andere Traditionen
erwähnen vielleicht noch weitere Chakren, aber die hier genannten sind für unsere Praxis
ausreichend. Wenn diese Chakren vollständig aktiviert sind, erfährt das Individuum entsprechende
Veränderungen im Bewusstsein. Wir sprechen deshalb über den feinstofflichen Körper, weil wir an
den Bewusstseinszuständen interessiert sind, die aus spezifischen Chakra-Aktivierungen resultieren.

Wenn beispielsweise das Kronenchakra vollständig aktiviert und „geöffnet“ ist, wird dein Geist
absolut frei von jeglicher Gedankenaktivität und irgendeinem persönlichen Ego- oder Selbst-
Gefühl. Du erlebst dein Bewusstsein als einen kristallklaren Zustand lebendigen Gewahrseins. Dein
Bewusstsein scheint nicht mehr durch deinen Körper begrenzt zu sein. Er fühlt sich unbegrenzt an,
ohne Grenzen oder ein bestimmtes Zentrum. Das wird begleitet von einem Gefühl wahrhaften und
unzerstörbaren Seins, das nicht durch irgendwelche Erfahrungen geformt werden kann. Als dieses
Gewahrsein bist du von der reinen Freude vollkommener Freiheit und des Einsseins mit allem
Bestehendem durchdrungen. Dies ist die Erfahrung der Nicht-Dualität und das wahre Wesen unserer
Existenz. Diese Erfahrung kann nicht geleugnet werden, weil die ihr innewohnende Gewissheit und
lebendige Klarheit alle begrenzenden Rahmen überstrahlt, die der Gedankenkonstrukte erschaffende
Verstand gebaut hat. Nach dieser Gnosis oder diesem essentiellen Erkennen streben wir in unserer
Praxis. Unser authentischer oder natürlicher Zustand des erkannten Gewahrseins wird spontan
auftauchen; zunächst gelegentlich, bis völlige Stabilität eintritt.

Über die Jahre des Unterrichtens dieser subtilen Energiekörperpraktiken habe ich festgestellt, dass
die meisten Menschen leicht in die Anfangsphasen der Kronenchakra-Aktivierung hineinkommen.
Viele werden während der ersten Übungseinheit deutliche Veränderungen in ihrem Bewusstsein
erfahren. Ich stelle im folgenden Methoden vor, die leicht angewendet werden können. Zunächst
vervollständige ich noch unsere Landkarte des feinstofflichen Körpers und seiner
Energiekomponenten und Prozesse. Auch denjenigen, die bereits viel Erfahrung mit der
Beschäftigung und den Praktiken zum inneren Energiekörper haben, empfehle ich einen weiteren
und vielleicht neuen Blick auf diese Darstellung. Es gibt leider viele falsche und verwirrende
Informationen auf dem Marktplatz des angeblichen spirituellen Wissens, was dort gelehrt und
verkauft wird.

Die in diesem Buch vermittelten Methoden zeigen die erwünschten Wirkungen, wenn sie genau wie
beschrieben befolgt werden. Um dem hier vermittelten Stoff gegenüber offen zu sein empfehle ich,
dir bereits bekannte Informationen und Lehren über den feinstofflichen Körper einen Moment lang
auszublenden. Andernfalls könnten unnötige Komplikationen auftauchen, wenn versucht wird
Verbindungen zwischen deinem bisherigen Vorwissen und dem herzustellen, was ich hier mitteile.
Dies könnte die Wirksamkeit der besprochenen Methoden mindern. In diesem Sinne lass uns nun
mit der Betrachtung des feinstofflichen Körpers und seiner Energieprozesse fortfahren.

Wir haben die fünf Hauptchakren bereits angesprochen: das Wurzelchakra an der Basis der
Wirbelsäule, das Nabelchakra, das Herzchakra, das Kehlchakra, das Kronenchakra und das Dritte-
Auge-Chakra. Sie sind um den Zentralkanal herum als ihre Achse zentriert. Der Mittelpunkt jedes
Chakras liegt innerhalb des Zentralkanals, einschließlich des Dritten-Auge-Chakras. Der
Zentralkanal erstreckt sich entlang der Wirbelsäule von der Basis bis zur Fontanelle und biegt dann
nach vorne und unten ab, mit einer Öffnung am Dritten-Auge-Chakra.

Der rechte und der linke Kanal verlaufen parallel zum zentralen Kanal von knapp unterhalb des
Nabelchakras aufwärts bis zum Scheitel. Von dort aus biegen sie nach vorne und enden an den
Nasenlöchern, der rechte Kanal am rechten Nasenloch und der linke Kanal am linken Nasenloch.
Beachte, dass die beiden Seitenkanäle miteinander verbunden sind und an einer Stelle knapp
unterhalb des Nabelchakras in den Zentralkanal münden. Die Seitenkanäle spielen in unserer
Energiepraxis fast keine Rolle. Dennoch es ist gut über sie Bescheid zu wissen, weil sie für
bestimmte Erfahrungen mit der Energie verantwortlich sind, die während der Praxis festgestellt
werden können.

Die subtilste aller inneren Energien besteht innerhalb des zentralen Kanals als reines Gewahrsein.
Wenn also der Geist sein eigenes grundlegendes Wesen erfährt, wirst du in Abwesenheit aller
mentalen Aktivitäten völlig klar und gegenwärtig sein. Es ist dieser Zustand des klar-und-
gegenwärtigen Gewahrseins, den wir zu enthüllen versuchen. In den tibetischen Traditionen wird er
auch als das klare Licht bezeichnet. Die in den beiden Seitenkanälen zirkulierende subtile Energie
ist eine durch Gewöhnung geformte mentale Energie. Sie umgarnt den Geist indem sie ich-
bezogene Gedankenmuster und Konzepte belebt. Die Praxis besteht darin, die Energien der
Seitenkanäle in den Zentralkanal am Eintrittspunkt direkt unterhalb des Nabelchakras zu
verschmelzen. Wenn diese „unreinen“ Energien in den Zentralkanal eintreten, werden sie sofort
gereinigt und in reines Gewahrsein umgewandelt.
Als Übung kannst du visualisieren, wie sich die Seitenkanäle mit dem Zentralkanal verbinden und
dann versuchen ihre inneren Energien in den Zentralkanal zu ziehen. Oder du kannst dich einfach
auf den Mittelpunkt eines beliebigen der fünf Chakren konzentrieren. Die Konzentration auf den
Mittelpunkt eines beliebigen Chakras bewirkt den Eintritt der Energie aus den Seitenkanälen wie
von selbst in den Zentralkanal an diesem Chakra.
Diese spezielle Praxis ist die Hauptstütze der hinduistischen und buddhistischen tantrischen
Praktiken, die den Schülerinnen und Schülern seit mehr als 1.500 Jahren beigebracht werden. Ich
habe diese Lehren sowohl von hinduistischen als auch von tibetisch-buddhistischen Meistern
erhalten.

Bei der weiteren Betrachtung unseres Bildes des subtilen Energiekörpers soll klar werden, warum
wir überhaupt so sehr daran interessiert sind diese innere Energie zu entwickeln. Es gibt eine sehr
konzentrierte feinstoffliche Energie, die sich hauptsächlich an der Basis der Wirbelsäule befindet
und als Kundalini bekannt ist. Im Tibetischen wird sie Thigle genannt. Sie ist eine sehr reine Form
von Chi oder Prana. Kundalini befindet sich auch im Zentrum aller Chakren und in besonderer Fülle
im Zentrum des Kronenchakras. Das umfassende Ziel der Übungen des subtilen Energiekörpers
besteht darin, die Kundalini-Energie an der Basis der Wirbelsäule zu aktivieren und sie durch den
zentralen Kanal zum Kronenchakra zu bringen. Wenn man sich das Kronenchakra als die Blüte
einer Lotusblume und den Zentralkanal als den Stamm des Lotus vorstellt, könnte man die
Kundalini als den Saft betrachten, der von den Wurzeln des Lotus an der Basis der Wirbelsäule zur
Blüte an der Spitze aufsteigt. Normalerweise ist die Lotosblüte geschlossen und der Saft fließt nicht
nach oben. Aber in diesen Übungen regen wir das Aufwärtsfließen des Saftes in die Lotusblüte an,
was zu einer vollständigen Öffnung der Blüte führt. Im hinduistischen Yoga wird das Kronenchakra
als mit tausend Blütenblättern geschmückt angesehen. Wenn sich das Kronenchakra vollständig
öffnet, wird zugleich die vollkommene Erleuchtung erfahren.

Ich möchte hier von einer meiner ersten Erfahrungen berichten, die ich vor vielen Jahren mit den
Praktiken der feinstofflichen Körperenergie und der Kundalini-Aktivierung hatte. Sie wirkte
dauerhaft nach auf mein Erleben des Universums um mich herum. In meinen Notizen aus jener Zeit
steht Folgendes.

„Aufgrund aktueller Studien und Praktiken des taoistischen Yogas, welche das „Kronen“-Chakra im
Fokus haben, trat die Kundalini heute zum ersten Mal, soweit ich mich erinnern kann, in das
Kronenchakra ein. Die Erfahrung unterschied sich von jedem anderen Geisteszustand, den ich je
erlebt hatte … Es war so, als ob ich in früheren Praktiken nur einen Hauch oder den Geruch der
Wirklichkeit erfahren hätte. In diesem Fall war ich dermaßen in das Wesen der Wirklichkeit
eingetaucht, dass sich das Wissen über das Sein und unser wahres Wesen augenblicklich offenbarte.
Es war als ob mein Kopf durchsichtig und leer von jeglicher Masse geworden wäre … es war ein
Gefühl von grenzenloser Weite. Aber diese Weite war Gewahrsein, vollkommen gegenwärtig wie
ein Zeuge und zudem existierend als alles. Ein Zeuge als alles bezeugend. Es schien, als wäre das
Universum durchscheinend klar wie ein Hologramm, das in diesem Raum des Klaren Lichtes des
Gewahrseins schwebte. Dabei war eindeutig ich die unveränderliche Gegenwart, die sich völlig
außerhalb von Raum und Zeit befand. Das ganze Mandala oder die Umgebung innerhalb meines
Hauses schimmerte wie durchsichtig … das ganze physische Universum war genau so, wie es
normalerweise auch erscheint, nur sehr, sehr zart, so als ob es keine wirkliche fassbare Substanz
hätte. Ich konnte durch sie hindurch in den reinen Raum schauen.

Das Gefühl glich allumfassender Glückseligkeit … ich meine, nicht nur ein gutes Gefühl …,
sondern totale Glückseligkeit. Ein tiefes Gefühl von Ehrfurcht und ursprünglicher Vollkommenheit
… alles ist Selbst-Sein und alles entsteht innerhalb dieses Selbst als dieses. Es gab keine Spur von
Geist oder Ego … nur dieses „Wissende“ als glückseliges Sein.
Das geschah morgens früh … etwas später duschte ich und hatte eine unglaubliche Erfahrung. Als
das Wasser aus dem Duschkopf kam und auf meine Haut traf, schien das Wasser einfach durch
meinen Körper zu strömen, ohne irgendeinen Widerstand. Sicherlich geschah das so nicht … aber
es fühlte sich genau so an. Mein Kopf schien auch transparent zu sein, als ob ich sowohl nach
hinten als auch geradewegs nach oben durchschauen konnte. Die Bewegung meines Körpers erlebte
ich als fast orgasmische Glückseligkeit … ich wiegte mich spontan hin und her während das warme
Duschwasser jede Zelle durchdrang … was die Glückseligkeit weiter verstärkte.

All das dauerte fast den ganzen Tag an. Als ich am nächsten Tag zur Arbeit ging, war es wirklich
umwerfend. Mein Kopf fühlte sich durchscheinend an und so, als würde er von einer kühlen Brise
umweht, die das Gefühl räumlicher Weite nur noch verstärkte. Mein Geist dachte an nichts ... da
war schlicht völliges Gegenwärtigsein im „Jetzt“. Wie einfach in diesem „Zustand“ zu leben und zu
arbeiten! Es bedurfte keiner Anstrengung oder Sorge und doch war Präzision ohne Absicht eine
Selbstverständlichkeit. Wie wunderbar! Wie leicht!

Seit einigen Tagen stellt sich dieser Zustand spontan ein, wenn ich vollkommen entspannt und
gegenwärtig bin... nur die Intensität hat nachgelassen. Dennoch tritt das glückselige Gefühl fast
durchgehend auf, aber viel gelassener und gleichmäßiger.“

Das Faszinierende an der direkten Arbeit mit der Energie des Bewusstseins ist, dass die Energie
unabhängig davon fließt, ob du nun daran glaubst oder nicht. Wenn du die Energiepraktiken
durchführst, werden die Ergebnisse für jede und jeden gleich sein, unabhängig von Religion, Kultur
oder Glaubenssystem. Dies ist allgemein für meine Bemühungen wichtig. Ich versuche ja einen
vollkommen allgemeinen Ansatz zu entwickeln, der von allen aus jeder Kultur leicht und effektiv
angewendet werden kann.

Im Zen-Buddhismus besteht die Hauptübung darin nur in der richtigen Haltung zu sitzen, ohne den
Geist auf ein anderes Thema zu richten, außer vielleicht auf die Atmung zu achten. Normalerweise
wirst du angewiesen, die Aufmerksamkeit innerhalb des Nabelchakras zu halten. Wenn dies
konsequent und mit wacher Konzentration getan wird, vermehrt sich die Energie im Nabelchakra
bis zu dem Punkt, an dem sie nach unten zur Basis der Wirbelsäule überfließt, wo sie in den
zentralen Kanal eintritt. Unter dem Abwärtsdruck auf die in den Zentralkanal eintretende Energie
beginnt das Prana sich den Zentralkanal hinauf zum Kronenchakra zu bewegen. Wenn die Energie
in das Kronenchakra eintritt, geschieht wahres nicht-duales Samadhi oder Meditation. Das
gewöhnliche im Gehirn und im Kronenchakra zentrierte Ego-Bewusstsein verwandelt sich in reines
Gewahrsein. Dies läutet den Augenblick völligen Erkennens ein. Dein energetisches Ich-Gefühl
oder Empfinden der in sich zusammengezogenen individuellen Identität löst sich auf und enthüllt so
sein leeres, waches Wesen, ähnlich wie Eis zu Wasser zerschmilzt. In diesem Moment wird ein
Nicht-Getrenntsein und Einssein mit dem Universum erkannt und du hast tiefe Einsichten in das
Wesen der Wirklichkeit. In den frühen buddhistischen Lehren besagt eine Gruppe von Texten, die
Prajnaparamita-Sutras genannt werden, dass alle materiellen Formen im Wesentlichen leer von
jeder ihnen innewohnenden unabhängigen Existenz sind. Dennoch drücke sich diese Leerheit genau
in jenen Formen aus, die wir wahrnehmen. Diese Weisheit wird untrüglich erkannt.

In der Quantenphysik besagt ein ähnlicher Gedanke, dass von uns als materielle Objekte betrachtete
Dinge zu fast 100 Prozent aus leerem Raum besteht. Es gibt keine als starre Festigkeit
fortbestehende Art unveränderlicher Masse oder Substanz. Dennoch erscheint diese leuchtende
Leere vollständig als unsere scheinbar feste Welt. Es heißt, dass wir in tiefer Meditation die Formen
als im Wesentlichen transparente Leerheit erkennen, wie Hologramme. Aber diese Leere drückt sich
stets in den von uns erlebten Formen aus. Wenn sich das Kronenchakra vollständig öffnet, erkennt
unser Gewahrsein, dass „Form genau Leere und Leere genau Form ist“, wie es in den alten
buddhistischen Texten heißt.
Eine bedeutende Theorie der modernen Quantenphysik schlägt vor das gesamte Universum als ein
Hologramm zu betrachten. In tiefer Meditation nehmen wir dies direkt als tatsächliches Wesen der
gesamten Realität wahr, einschließlich von uns selbst und von allen Lebewesen. Das liegt daran,
dass diejenige Bewusstseinsenergie, die unser Gefühl ausmacht ein materielles und
individualisiertes Selbst zu sein, ihre eigene transparente Leere erkannt hat. Das Gewahrsein wird
als eine raum-artige Leere ohne jegliche materielle Stofflichkeit erkannt. Wenn du dies in einem
Augenblick der Gnosis oder spirituellen Einsicht wahrnimmst, verstehst du reflexartig auch das
gesamte Erfahrungsfeld als ein durchscheinendes Energiespiel. Die physische Realität erscheint als
ein allumfassendes transparentes Hologramm, das in kristallartigen Mustern seiner eigenen
Leuchtkraft schimmert. Die erfahrene Grundstimmung ist reines Entzücken. Es ist die
wahrgenommene Qualität der uns innewohnenden Selbsterkenntnis. Dies ist ein tatsächliches
Erfahren von „Einssein“ oder Nicht-Dualität, das spontan ins Bewusstsein eindringt und sehr weit
jenseits des vom Intellekt Fassbaren oder Vorstellbaren liegt. Tatsächlich ist diese Weisheit nur dann
erfahrbar, wenn der Intellekt und der Gedanken konstruierende Verstand völlig abwesend und
untätig sind.

Der Grund für dieses erlebte Einssein mit der gesamten Realität liegt darin, dass du nicht länger ein
kleiner, getrennter Teil der Realität bist. Solange du etwas bist, kannst du nicht nichts sein. Bis du
im Erfahrungswissen nichts oder leeres Gewahrsein bist, kannst du nicht alles sein. Die Leerheit
deiner Form ist die Form deiner Leerheit. Dies ist der Kern der erleuchteten Weisheitseinsicht, die
sich bei der vollständigen Aktivierung des Kronenchakras eröffnet. Wir könnten das Beispiel eines
Eiswürfels in einer Schale mit Wasser verwenden. Als Eiswürfel hat das Wasser das Aussehen von
Individualität angenommen. Aber wenn der Eiswürfel schmilzt, ist die Identität dann der gesamte
Inhalt der Wasserschale. Das ist die Erfahrung der Erleuchtung. Du bist dieser riesige und
grenzenlose Ozean reinen Bewusstseins, der als diese oder jene scheinbare Form auftritt. Aber
letztlich sind alle Formen nur Formen des Bewusstseins; niemals ist der Eiswürfel nicht das
formlose Wasser.

Wie bereits erwähnt, gebe ich im Anhang eine vollständige Anleitung zu den Übungen des subtilen
Energiekörpers. An dieser Stelle gebe ich einen Überblick über den anfänglichen Prozess und die
Methodik.

Zunächst solltest du in einer aufrechten Position sitzen. Das ist beispielsweise möglich, indem du
auf einem Stuhl ein wenig nach vorne gelehnt sitzt um die Wirbelsäule so gerade wie möglich zu
halten. Ich persönlich bevorzuge das Sitzen auf einem Kissen auf dem Boden, wie beim Yoga. Wie
du deine Beine anordnest, ist nicht so wichtig; achte nur auf eine stabile Position. Lege deine
Hände bequem auf die Oberschenkel, so wie es sich angenehm anfühlt. Deine Wirbelsäule muss
gerade sein.

Schließe deine Augen und nimm dein Atmen wahr. Spüre, wie der Atem durch die Nase ein- und
ausströmt und nimm wahr, wie sich deine Lungen bei jedem Atemzug ausdehnen und entspannen.

Als nächstes spüre den zentralen Kanal, der vom unteren Ende der Wirbelsäule bis zur Fontanelle
verläuft. Du brauchst ihn nicht klar zu visualisieren. Spüre einfach, dass es einen Energiekanal
gibt, der in der Wirbelsäule von unten nach oben verläuft. Richte den Fokus deiner
Aufmerksamkeit auf den obersten Punkt deines Kopfes, etwas hinter der Mitte des Schädels. Du
kannst die Fontanelle mit deinem Finger ertasten. Sie kann sich wie eine kleine Einbuchtung oder
ein weicher Punkt auf dem Schädel anfühlen. Stelle dir dort ein Energiezentrum vor, das auf
subtile Weise an der Fontanelle vibriert, vielleicht zwei bis fünf Zentimeter darunter, innerhalb des
Gehirns. Irgendwann beginnt deine Aufmerksamkeit auf ganz natürliche Weise dort zu ruhen.
Habe also keine Sorgen, es nicht genau richtig zu machen. Lege deinen Fokus einfach auf den
allgemeinen Bereich dort. Sobald du so etwas wie eine Energieregung spürst, die deine
Aufmerksamkeit auf sich zieht, hast du das Kronenchakra gefunden. Halte deinen Fokus nun so
lange auf diesen Energiepunkt gerichtet, wie es angenehm ist, mindestens fünf Minuten oder so.
Bitte erinnere dich, dass du nichts visualisieren oder dir vorstellen musst, sondern nur deine
Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Ort richtest.

Das Kronenchakra ist in jedem Menschen vorhanden; du musst es nur wahrnehmen. Sobald du es
spürst, sollte es sich wie ein leichtes Vibrieren oder energetisches Pulsieren anfühlen. Behalte das
als Bezugspunkt bei. Versuche deine Aufmerksamkeit während des Tages und des Abends so oft wie
möglich auf diesem Punkt zu halten, besonders wenn du kurz vor dem Einschlafen bist. Versuche
täglich zwanzig Minuten im Sitzen zu meditieren und nur diese Übung zu machen. Wenn es dir erst
einmal gelingt das Kronenchakra zu orten, sollte deine Meditation in einem leicht veränderten
Bewusstseinszustand verlaufen, der entspannter und ruhiger ist. Manchmal ist dann da ein Gefühl,
als könnte sich stundenlang auf das Kronenchakra oder die Fontanelle konzentriert werden, weil es
so angenehm ist. Mache auf jeden Fall so lange weiter, wie es angenehm ist. Ein wichtiger
Schlüssel in der Praxis ist es Spannungen loszulassen und zu einer völligen Entspannung von
Körper und Geist zu finden. Indem völlig entspannt und dennoch hellwach geblieben wird, öffnen
sich die inneren Kanäle und Chakren vollständig, so dass ein sehr angenehmes Gefühl den ganzen
Körper durchströmt. Dein Geist wird weit und heiter. Durch die hier beschriebene Praxis wird der
gesamte innere feinstoffliche Energiekörper gestärkt und aktiviert. Um es zu wiederholen, dies ist
nur eine kurze Einführung in die Praktiken des Energiekörpers. Eine vollständige Beschreibung
sowie einige hinführende vorbereitende Übungen, die möglicherweise notwendig sind, findest du
im Anhang mit dem Titel „Die Haupt-Übungsfolge des feinstofflichen Körpers.“

Alle drei Ansätze können zusammengefasst und in einem großen Zusammenhang dargestellt
werden. Zunächst kannst du versuchen dein erleuchtetes Wesen in deinem eigenen Bewusstsein zu
finden. Eventuell erhälst du eine hinweisende Belehrung über das Wesen des unveränderlichen
Gewahrseins. Du könntest jedoch vielleicht nur intellektuell verstehen, dass deine Identität nicht der
Körper oder der Geist ist. Aber es findet keine vollständige Verschiebung in der Perspektive statt.
Das verschafft dir ein gewisses Maß an Entspannung, so als ob der Intellekt sein Ziel des Verstehens
erreicht hätte und sich nun entspannen könnte. Aber diese intellektuelle Einsicht dringt nicht tief
genug in die im feinstofflichen und physischen Körper verbleibende Energiekontraktion ein. Die
intellektuelle Einsicht ist nur von kurzer Dauer. Es gab nur einen Blitz der Einsicht, aber keine
vollständige Umwandlung des in sich zusammengezogenen Selbsts und Geistes. Indem du diesen
unterschwelligen Blitz immer wieder erkennst und dann lernst, im bloßen Beobachten aller
Erfahrungen zu verweilen, werden Gedanken und das geistige Ergreifen ruhiger und weniger
fesselnd. Infolgedessen beginnt sich dein innerer feinstofflicher Körper aus Chakren, Kanälen und
feinstofflicher Energie, dem Chi oder Prana, zu entspannen und zu weiten. Es ist jene in sich
zusammengezogene Energie innerhalb des inneren feinstofflichen Körpers, die das Gefühl eines im
Körper ortsgebundenen Selbst vermittelt, als ob du identisch mit dem Körper wärest. Dabei ist nicht
das gedankliche Konstrukt des Selbst gemeint, sondern wie es auf der Ebene einer Stimmung oder
eines Gefühls erlebt wird. Wenn sich als Folge des zunehmend entspannten Geistes der innere
feinstoffliche Körper entspannt, erleben wir ein Gefühl von Weite, größerer Klarheit und
emotionalem Wohlbefinden.

Das Verstehen gibt uns eine Einsicht, hat aber eventuell keinen Einfluss auf Gefühl oder Stimmung
der inneren Erfahrung. Vielleicht verstehst du es intellektuell, aber es gibt keinen grundlegend
positiven Wandel im Gefühlsleben. Daher kann Meditation dabei helfen den Geist in einen ruhigen
Zustand zu bringen. Das ist auch gut so, denn der Rest ergibt sich auf natürliche Weise.

Frage: Könntest du die Analogie des Spiegels etwas näher erläutern, die unser unveränderliches
Wesen als Gewahrsein betrachtet?
Antwort: Unser wahrnehmendes und wissendes Wesen ist wie ein Spiegel. All unsere Erfahrungen
sind in diesem Spiegel erscheinende Reflexionen. Er kann in keiner Weise verdeckt werden, denn
was auch immer der Geisteszustand, die Emotion, das Gefühl oder die Sinneswahrnehmung ist, die
in unserem spiegelähnlichen Wesen reflektiert wird, ist vollständig in der Erfahrung des
Reflektiertwerdens bekannt. Das ist es, was der Spiegel tut: Er „kennt“ die Spiegelungen. All diese
Reflexionen erscheinen in der Leere des Spiegels und die Leere des Spiegels ist das, was die
Reflexionen kennt. Keine Spiegelung kann diese Fähigkeit zu Spiegeln blockieren. Es gibt nichts
im Spiegel, was verdeckt werden könnte, weil der Spiegel völlig leer von allen veränderlichen
Eigenschaften ist. Es ist die Leere des Spiegels, die seine Freiheit und sein Potenzial für unendliche
Erfahrungen ausmacht.

Irgendjemand könnte behaupten: „Ich verliere doch diese Eigenschaft der Spiegel zu sein, wenn ein
starkes Ich-Gefühl vorhanden ist.“ Es scheint wohl so zu sein. Aber wenn du genau hinschaut, ist es
die Ich-Erfahrung, die im Spiegel als gerade gegenwärtige Reflexion geschieht. Der Spiegel
funktioniert also perfekt. Das starke Ich-Gefühl ist es, was der Spiegel kennt, genauso wie das
Gefühl der Frustration darüber, das leere Wesen des Spiegels nicht spüren zu können. Beides sind
die im Spiegel des Gewahrseins auftretenden aktuellen Reflexionen.

Nimm dir also einen Augenblick um irgendeinen Gedanken zu bemerken, das Ich-Gefühl als
Identität, eine Emotion, ein Gefühl oder eine Sinneswahrnehmung. Achte nun darauf, ob diese
Erfahrung im Spiegel deines Gewahrseins bekannt war. Ist sie im Spiegel deines Gewahrseins
erschienen? Wenn ja, versuche das Gleiche mit vielen anderen Erscheinungen. Ist irgendeine
Erscheinung, also ein Gedanke, ein Gefühl oder eine Sinneswahrnehmung, die du tatsächlich
erlebt hast, nicht im Gewahrsein erschienen?
Sogar wenn wir glauben uns in einem Zustand der Ablenkung zu befinden, erschien das Thema der
Ablenkung im Gewahrsein. Es war die gegenwärtige Spiegelung, die in deinem perfekt
funktionierenden Gewahrsein erschien. „Ablenkung“ ist nur ein Etikett für eine bestimmte geistige
Erfahrung, die im Gewahrsein auftaucht.

Anstatt nun die Gewahrseins-Erfahrung in zwei Teile zu spalten - das Wahrnehmen von und die
davon getrennte Erfahrung, erkenne das Gewahrsein selbst als die erscheinende Erfahrung. Wenn
du beispielsweise einen Gedanken im Gewahrsein hast, betrachte das Gewahrsein als in
Erscheinung tretenden Gedanken, wie Wellen auf dem Ozean. Der Ozean tritt als Wellen in
Erscheinung. Die Wellen „geschehen“ dem Ozean nicht, sie sind der Ozean. Bemerke dasselbe mit
deinen Gedanken, Emotionen, Gefühlen, Selbstgefühl und Sinneswahrnehmungen. Erfahrungen
geschehen dem Gewahrsein gegenüber nicht, Erfahrungen sind Gewahrsein. Das ist eine radikal
andere Art die Dinge zu sehen, eine nichtduale Perspektive.

Frage: Du erwähntest die tibetische Dzogchen-Tradition, also die Lehren der Großen
Vollkommenheit. Könntest du deren wichtigste Praxis-Anweisungen ein wenig mehr erläutern? Mir
ist noch unklar, wie ich diese Lehren in die Praxis umsetzen kann.

Antwort: Die wesentlichen Anweisungen sind recht einfach, wenn die Hauptprinzipien bekannt
sind. Die Lehren der Großen Vollkommenheit zeigen, dass unser gegenwärtiges beobachtendes
Gewahrsein oder Bewusstsein bereits erleuchtet und vollkommen ist. Zunächst einmal müssen wir
dieses vollkommene Gewahrsein von anderen Funktionsebenen des Geistes unterscheiden, wie
Denken und bildliches Vorstellen. Wenn wir dieses vollkommene Gewahrsein erkennen, wird es auf
Tibetisch Rigpa genannt. Rigpa ist der herausragend wichtigste Begriff in den Lehren der Großen
Vollkommenheit. Rigpa ist dieses „nackte“ oder bloße Gewahrsein, das schlicht alle im Geist
geschehenden Erfahrungen beobachtet. Die einfache Erfahrung des Sehens mit den Augen kann mit
oder ohne Gedanken über das ablaufen, was gesehen wird. Genauso erfährt Rigpa-Gewahrsein
sowohl geistige als auch sinneswahrnehmungsbezogene Inhalte ohne zu urteilen, zu etikettieren
oder über die Erfahrungsereignisse nachzudenken.
Stelle dir als Übung vor, dass Rigpa deine Gewahrseins-Kugel ist, die den Raum deines Kopfes
ausfüllt und dass sie aus deinen Augen schaut. Du als diese Kugel reinen Gewahrseins schaust aus
deinen Augen. Erkenne, dass du dieses leere Beobachten bist, was standardmäßig einfach da ist. In
dieser Kugel klaren Gewahrseins können Gedanken auftauchen und verschwinden wie Wolken im
weiten Raum des Himmels. Dennoch wird der Himmelsraum nicht durch das Erscheinen von
Wolken oder deren Abwesenheit verändert. Wir können also den klaren Raum des Himmels von
den in ihm erscheinenden Wolken oder dem Wetter unterscheiden. Genauso können wir auch
zwischen dem Raum unseres klar beobachtenden Gewahrseins und unseren darin auftretenden
Gedanken unterscheiden. Dies ist die erste Seite der Einführung in das stets gegenwärtige Rigpa-
Gewahrsein als unserem eigenen unveränderlichen Zustand.

Wenn du dies direkt erkennst, verweilst du einfach im Erkennen dieses grundlegenden Wesens
unseres Gewahrseins, dieses reinen Beobachtens. Du entspannst völlig alle Anstrengungen
irgendeine Erfahrung zu ergreifen oder ihr zu widerstehen. Du bemerkst einfach, dass dieses klare
Gewahrsein unter allen Umständen und immer lückenlos gegenwärtig ist. Wenn dies auf völlig
entspannte und gleichzeitig lebhaft wachsame Weise erkannt wird, wirst du einen offenen, klaren
Zustand friedvoller und freudiger Gegenwart erleben. Diesen Zustand hältst du den ganzen Tag
über aufrecht, so dass dein natürliches Gegenwärtigsein in alle Aktivitäten und Erfahrungen
integriert wird. Nach und nach verbringst du immer mehr Zeit im Rigpa-Gewahrsein anstatt zu
denken und dir etwas vorzustellen. Das Rigpa-Gewahrsein wird klarer und weniger persönlich, so
wie sich das Ich-Gefühl genauso auflöst, wie irgendeine weitere Wolke am klaren Himmel des
reinen Gewahrseins. Du bist im Hier und Jetzt und das stärkt deine Fähigkeiten bei allen
Handlungen, die du ausführst. Dies sind die wesentlichsten Seiten der Dzogchen-Praxis.

Dzogchen-Meister Ponlop Rinpoche lehrte:

„Unser Geist befindet sich ursprünglich im Zustand von Rigpa (Wissendes Gewahrsein). Welchen
Geisteszustand wir auch immer durchlaufen, ob es sich um eine sehr benebelnde Erfahrung von
Unwissenheit oder ein sehr aufwühlendes Gefühl von Wut handelt, wir haben uns nie aus dem
Zustand von Rigpa wegbewegt. Unser Geist war schon immer im Zustand von Rigpa, aber wir sind
uns dessen nicht immer bewusst.“

Mit anderen Worten: Du übst dich darin, dein Gewahrsein leer und klar der Erfahrung zu
überlassen, ohne es absichtlich mit geistigen Inhalten wie Urteilen, Auswerten, Widerstehen oder
Ergreifen zu füllen. Letztendlich wirst du kein Getrenntsein mehr zwischen dem Gewahrsein und
seinem Erfahrungsfeld spüren. Das ist der nicht-duale Zustand des unmittelbaren Erkennens.
Kapitel Sechs

Nichtdualität und Quantenphysik

Ein eventuell recht ungewöhnlicher Blick darauf, wer und was wir im Universum sind, wird in
bestimmten Randgebieten der sich beständig weiterentwickelnden wissenschaftlichen Forschung
angeboten. Schon seit längerem bin ich generell besonders an den philosophischen und spirituellen
Auslegungen der Quantenphysik interessiert. Viele Quantenphysiker vertreten seit den 1930er
Jahren die Auffassung, dass das Bewusstsein oder das Gewahrsein an sich nicht unbedingt ein
Ergebnis von reiner Gehirntätigkeit sind. Eher könnten sie – und das von Anbeginn – Teil der
grundlegenden inneren Vernetzung des Universums selbst sein. Mein Interesse an den engen
Überschneidungen östlichem Gedankenguts und der Quantenphysik haben mich zu einer
langjährigen Recherche zu diesem Thema geführt. Diese Nachforschungen führten zu meiner
Überzeugung, dass eine Art „Quantenintelligenz“ universell in Form grundlegender Information
alle Erscheinungen auf allen Ebenen durchdringt, sei es auf der subatomaren – oder auf der
feststofflichen Ebene. Dabei geht es auch darum, diese Quantenaspekte des Bewusstseins bezüglich
sogenannter übersinnlicher Wahrnehmungen zu verstehen, wie Telepathie, Hellsichtigkeit und dem
gleichzeitigen Auftreten verschiedener scheinbar unabhängiger Ereignisse mit überraschend
gleichem Informationsgehalt, kurz Synchronizität. Hierdurch sollten ein besseres und klarer
wissenschaftliches Verständnis dieser Phänomene ermöglicht werden. Ich glaube, dass Mystiker
und andere Suchende sich seit Jahrtausenden immer wieder in diese Quantenintelligenz
hineinbegeben haben und ihre Erfahrungen schließlich entsprechend ihres jeweiligen kulturellen,
religiösen und gesellschaftlichen Umfeldes beschrieben haben. Ich fühle, dass während meiner
hellsichtigen Erfahrung in Saudi Arabien, eine tiefere Ebene des Bewusstseins, eben genau diese
Quantenintelligenz in dieses Erlebnis eingebunden war. Gleiches gilt für alle im ersten Kapitel
beschriebenen Erlebnisse bezüglich jenes Traum-Erlebnisses und des hellsichtigen Sufi-Meisters in
Kaschmir.

Bereits mein ganzes Leben lang erfuhr ich immer wieder tiefgreifende Augenblicke von
Synchronizität, die sich oft als recht irritierende Momente eines „Zufalls“ erwiesen. Eins dieser
Erlebnisse, an das ich mich erinnere, geschah während ich im Internet einen Redebeitrag über
höhere Bewusstseinszustände hörte. Zeitgleich überflog ich einen Text, den ich gerade zu einem
ähnlichen Thema geschrieben hatte. In dem Moment, als ich in meinem Text „oh, mein Gott!“ las,
sagte der Sprecher in dem Redebeitrag: „Oh, mein Gott!“ Ich dachte erst einmal, wie merkwürdig
es doch sei, dass sich die gelesenen Wörter wie die Stimme des Sprechers anhörten. Als ich die
Aufnahme dann noch einmal abspielte, war es wirklich der Sprecher, der genau in diesem Moment
„oh, mein Gott!“ sagte. Was für ein Zufall war das, dass mein Blick in genau dem Moment auf die
Wörter fiel, als der Sprecher sie sekundengenau aussprach? Ich dachte nur: Oh, mein Gott, wie
seltsam!“

Stanislav Grof, Gründer der transpersonalen Psychologie, schrieb:

„Viele von uns haben schon merkwürdige Zufälle erlebt, die jenseits gewöhnlicher Erklärungen
lagen. Der Österreicher Biologe Paul Kammerer war einer der ersten, der an den wissenschaftlichen
Aspekten dieser Erscheinungen interessiert war. Er berichtete eine Situation, in der sein
Straßenbahnticket die gleiche Nummer hatte wie die Theaterkarte, die er kurz darauf kaufte. Später
an jenem Abend erhielt er eine Telefonnummer mit genau der gleichen Ziffernfolge. Der Astronom
Flammarion zitiert die amüsante Geschichte eines dreifachen Zufalls mit einem gewissen Mr.
Deschamps und einem besonderen Pflaumenpudding. Deschamps bekam einmal als Junge ein Stück
dieses Puddings von einem Mr. de Fortgibu. Zehn Jahre später entdeckte er den gleichen Pudding
auf der Karte eines Pariser Restaurants und bestellte ihn. Da stellte sich jedoch heraus, dass das
letzte Puddingstück bereits serviert worden war – an Mr. de Fortgibu, der just zu dieser Tageszeit
ebenfalls das Restaurant besuchte. Viele Jahre später war Mr. Deschamps zu einer Party geladen,
bei der dieser Pudding als eine besondere Seltenheit kredenzt werden sollte. Während Mr.
Deschamps den Pudding aß meinte er, dass nun nur noch Mr. de Fortgibu fehlen würde. Da öffnete
sich die Tür und ein älterer Mann betrat den Raum. Es war Mr. de Fortgibu. Er platzte
versehentlich hinein, weil er eine falsche Adresse für den Ort bekommen hatte, wo er eigentlich
verabredet gewesen wäre.“

Ich betrachte solche spezifischen Situationen von Synchronizität als Quantenereignisse. Dies sind
Momente, in denen voneinander abhängige Verbindungen auf einer tieferen Ebene der Wirklichkeit
urplötzlich an der Oberfläche des Bewusstseins erscheinen. Ich hatte dabei nie ein Gefühl, dass
diese Ereignisse bedeutungslose Anomalien seien. Genau im Gegenteil. Ich empfand es stets so,
dass sich hier das Wirken dieser Quantenintelligenz bemerkbar machte. Nach solchen Erlebnissen
erlebte ich immer wieder ein erfrischendes Gefühl von Vertrauen in diese alles durchdringende
universelle Intelligenz. Sie scheint sich auf verborgene und dennoch bedeutungsvolle Weise
auszudrücken. Ich bin überzeugt, dass diese Intelligenz laufend durch die Sprache der
Quantenphysik mit uns kommuniziert. Während wir zunehmend mehr über die Vernetzung und die
Struktur des Universums lernen, scheint das Bewusstsein selber zunehmend ein wichtiger Teil der
Forschung zu werden. Lass uns deshalb einen kurzen Blick in die Richtung aktueller Entwicklungen
der Quantenphysik werfen.

Damit wir uns nicht in der Theorie verlieren, betrachte ich hier nur die Punkte, die nach meinem
Empfinden direkt etwas mit Bewusstsein und Geist zu tun haben. Erst einmal zu den Grundlagen.
Unsere gewöhnliche, alltägliche Erfahrungsebene kann als Welt der klassischen Physik bezeichnet
werden. Hier läuft alles nach den Regeln geordneter Prozesse, die vorhersagbar sind und den
Gesetzen von Ursache und Wirkung, Schwerkraft, Bewegung und elektromagnetischen Gesetzen
unterliegen. Ich habe hier ein paar einfache, grundlegende Bestandteile der Physik aus der Zeit
Isaak Newtons benannt. In der uns eigenen Dimension von Erfahrung werden Gegenständen und
Energien klare Positionen in Raum und Zeit zugewiesen, die hierdurch leichter erkannt werden
können. Wir können diese Dimension als Makrowelt bezeichnen, weil sie sich auf größere Dinge
bezieht, die wir mit dem bloßen Auge sehen und mit herkömmlichen Mitteln messen können.
Entsprechend können wir als Mikrowelt die subatomaren Teilchen und deren Eigenschaften also als
Quantenwelt bezeichnen. Die Silbe Quanten- bezieht sich auf sehr kleine Erscheinungen von
Energie, also die kleinst möglichen. Diese kleinstmöglichen Einheiten scheinen anderen Regeln zu
folgen, als es die klassische Physik vorschlägt. Viele Quantenphänomene, wenn auch nicht alle,
ereignen sich in winzigen Abläufen. Sie verlaufen in der Größenordnung von Atomen und sogar
noch beträchtlich kleineren Energieeinheiten. Sie liegen damit also deutlich außerhalb des
Bereiches, der noch ohne technische Hilfsmittel gemessen werden kann. Es gibt aber auch ein paar
Beispiele für Quantenphänomene, die im klassischen Bereich unserer Wahrnehmung sichtbar sind.
Eines der bekannteren Beispiele dafür ist der Laser. Ein Laserstrahl wird deshalb für uns sichtbar,
weil Abläufe auf der Quantenebene dafür sorgen, dass Photonen sich regelmäßig anordnen und
einen durchgehenden und zusammenhängenden Lichtstrahl erzeugen. Hier haben wir also ein
Experiment, in dem Quanten- und Makrowelt nachvollziehbar zusammenwirken. Ebenso lässt sich
das menschlichen Gehirn selber als eine Kombination zweier Systeme betrachten. Es wäre dann die
Kombination eines klassischen binären, nach klassischen physikalischen Regeln konstruierten
Rechners mit einem Quantencomputer. Schauen wir uns nun die jüngsten Entdeckungen in den
Neurowissenschaften und der Quantenphysik dazu an.

Aktuelle Einblicke in die Hirnforschung und die Verarbeitung von Quanteninformationen eröffnen
uns ganz neue Muster der Wirklichkeit. In der Quantenphysik wird weithin akzeptiert, dass die
elementarsten „Teilchen“ des Universums nicht wirklich kleinste Teilchen sind. (Viele
Versuchsergebnisse mit dem Elektron bereits vor etwa 100 Jahren erwiesen sich da beispielsweise
als bahnbrechend.) „Kleinste Teilchen“ sind hier schlicht als ein „Bisschen“ („bit“) Information zu
betrachten. Das Universum im Ganzen repräsentiert dann einen riesigen Informationsraum. Diese
Vorstellung der Wirklichkeit kann aber dem entsprechend nicht mehr rein auf das bloße Vorliegen
von Elementarteilchen oder feststofflichen Objekten hin interpretiert werden. Ein Beobachter
empfängt also Quanteninformationen als sinnliche Wahrnehmung, welche dann weiter im Gehirn
verarbeitet werden, damit uns diese Informationsinhalte anschließend als eine direkte, erlebte
Sinneserfahrung erscheinen. Die komplette Sinneserfahrung entspricht sozusagen der primären
Informationseinheit, die ursprünglich im Quantenraum vorlag, allerdings verschlüsselt war. Diese
Sichtweise betrachtet das Universum also eher als reines Bewusstsein, in der alles Dingliche oder
Materielle in Bits von Quanteninformation vorliegt und auch wieder in diese verwandelt werden
kann. Diese primären Einheiten von Quanteninformation werden mit dem Begriff Q-Bit bezeichnet.
Wir können den Terminus Information hier durchaus allgemeiner auch als Wissen oder sogar mit
dem Begriff Weisheit bezeichnen. Diese oben beschriebene, grundlegendere Sicht löst auch das
Rätsel, wie ein dingliches Universum überhaupt aus ursprünglichem Nichts entstehen konnte. Denn
so, wie ursprünglich angenommen, scheint es in Wahrheit nicht gewesen zu sein! Was aus diesem
Nichts erschien, war nichts anderes als Information. Bewiesen wird dies auch durch
reproduzierbare, geordnet und strukturiert ablaufende Experimente in der Quantenphysik, wo
subatomare „Teilchen“ spontan aus dem Nichts entstehen und genauso wundersam wieder
verschwinden. Denn es ist eben so, dass hierbei gerade nicht ein kleines Teilchen erschien und
verschwand, sondern ein Informations-Bit, ein Q-Bit.

Wie der große Quantenphysiker John Wheeler sagte: „Etwas“ kommt von „Bits.“ Dinge – als
„Etwas“ – treten auf Grund von Informations-Bits in Erscheinung. Informationen bedürfen jedoch
der Verarbeitung durch so etwas wie einen Computer, um die Bedeutung jener Information zu
interpretieren. Es ist in etwa so wie Radiowellen ein Empfangsgerät benötigen, um entschlüsselt als
Musik hörbar zu werden. An dieser Stelle betreten individuelle Gehirne und der menschliche Geist
die Bühne. Bei biologischen Organismen entsprechen die Gehirne dem Radio, was die durch die
fünf Sinne empfangenen Informationen entschlüsselt. Wir empfangen jedoch nicht nur Töne,
sondern eine umfassende hologramm-artige sichtbare „Gestalt“, die wir „Universum“ nennen. All
dies entsteht und wird hervorgebracht durch unseren Verstand, also unseren Geist. Seit einigen
Jahrzehnten gibt es eine Theorie über die Natur und das Universum, die als holografisches Modell
bekannt geworden ist. Der Quantenphysiker David Bohm, einst ein vertrauter Kollege von Albert
Einstein, war einer der ersten, die von jenem holografischen Modell des Universums berichteten.
Bekannt geworden ist David Bohms Darstellung in dem Buch „Die implizite Ordnung, Grundlagen
eines dynamischen Holismus“ (Goldmann Verl., München 1987. Original „Wholeness and the
Implicate Order“, Routledge, London 1980).

In den Pionierjahren der Quantenphysik entdeckten Albert Einstein und andere Wissenschaftler sehr
ungewöhnliche Ereignisse: Wenn zwei subatomare Teilchen, wie beispielsweise Elektronen, sich an
einem Punkt trafen und sich anschließend trennten, verhielten sie sich wie identische Zwillinge.
Auch wenn die Elektronen durch große Entfernungen getrennt würden, sogar durch Millionen von
Lichtjahren, und dann eines der Zwillingselektronen verändert werden würde, ergäbe sich eben
diese gleiche Veränderung auch für den anderen Zwilling in genau dem gleichen Augenblick. Kein
bisschen Zeit vergeht zwischen der Veränderung des einen und der des anderen. Irgendwie gelangt
die Information sofort ohne Verzögerung zu dem anderen Zwilling. Dies wurde auch als „spukhafte
Fernwirkung“ beschrieben. Albert Einstein wurde dies nun aber zu einem Problem, denn weitere
Experimente bestätigten, dass jene Information des einen, sich für den anderen Zwilling schneller
als Lichtgeschwindigkeit bewegen musste. Einstein behauptete aber ursprünglich, dass nichts und
niemand sich schneller als Lichtgeschwindigkeit bewegen könne. Wie also konnte das alles sein und
zusammenhängen?

Viele Physiker stellten hierzu verschiedene Theorien auf. Eine der interessantesten war die von
David Bohm vorgestellte Idee. Seine Antwort auf diese Frage war, dass unsere Wirklichkeit, die
uns als dingliche Welt der klassischen Physik in Form von Erfahrungen – Raum, Zeit und Objekten
erscheint, die sichtbare Entfaltung einer tiefer liegenden Quelle ist. Weil sich dies alles aus ein und
der selben Quelle entwickelt, so Bohm, ist auch die Information darüber, wie Teilchen auftauchen
und sich verhalten, an allen potenziellen Aufenthaltsorten der Zwillingsteilchen oder Informationen
gleich. Das komplette Universum ist eingebettet in diese Quantenintelligenz, die Bohm implizite
Ordnung nennt. Diese ist untrennbarer Bestandteil dessen, was er explizite Ordnung nennt. Implizit
meint in diesem grundlegenden Zusammenhang „innen drin“ und explizit „nach außen, zu Tage
tretend“. Dabei kann die Sache aber auch umgekehrt laufen; die Informations-Bits können
verschwinden und als pures Potential wieder zum Innenliegenden werden.

Ein gutes Beispiel dafür sind unsere Gedanken. Ein Gedanke erscheint im Geist, der selber als
Quelle dient. Dann verschwindet der Gedanke, kann aber später wieder auftauchen. Bohm
empfindet alle Dinge als eine untrennbare Ganzheit. Die Dinge stellen sich als Facetten einer
einzigen gemeinsamen Grundlage dar. Was hier bekannt ist, kann gleichzeitig dort gewusst werden.
Bohm bezog sich auf diese allumfassende Grundlage von allem Bestehenden als Holobewegung.
Das Universum funktioniert als riesiges Hologramm, in dem die Ganzheit in jede individuelle
Erscheinung eingebettet ist. Dieses Modell der Wirklichkeit könnte auch Phänomene wie Telepathie
und andere außersinnliche Erfahrungen erklären. Zusätzlich löst dieses Modell das Quantenrätsel,
über das Einstein bis zu seinem Tode herumgrübelte. Es kann gut sein, dass Telepathie überhaupt
nichts damit zu tun hat, dass jemand weiß, was eine andere Person gerade denkt. Eher ist es wohl
so, dass es nur einen Geist gibt und jenes klassische Konzept zweier getrennter Personen bloß eine
Täuschung ist. Das entspricht Bohms Argument, dass es garnicht zwei Teilchen gibt, die sich wie
„identische Zwillinge“ verhalten, sondern dass da in Wirklichkeit nur ein Teilchen, eine
grundlegende, ungetrennte Einheit war.

Ich habe viel Zeit mit dem Studium der aktuelleren Gedanken zur Quantenphysik und
Neurowissenschaften verbracht. Eine Theorie sieht das Universum tatsächlich als riesiges
Hologramm inklusive unseres Körpers, Gehirns, unserer Gedanken und dem Gefühl ein „Selbst“ zu
besitzen. Mich interessiert diese holografische Theorie und Sichtweise, seit ich erstmals darüber in
den frühen 1980er Jahren gelesen habe. Ich empfand dieses Modell immer als stimmig. Es bedurfte
und bedarf jedoch weiterer wissenschaftlicher Erklärung und Unterstützung. Das Denken in
Richtung des holografischen Modells nimmt aktuell zu. Einstein spürte, dass sein einstiger
Schützling Bohm sein erfolgreicher Nachfolger werden würde. Bohm war einer der ersten, die eine
zusammenhängende Theorie, welche das Universum als Hologramm betrachtet, überzeugend und
erfolgreich beschrieb. Weitere Forschungen in der Quantenphysik unterstützen Bohms Theorie in
jüngster Zeit insofern, als dass sie bis Dato unerklärliche Ereignisse in der dinglichen- und in der
Quantenwelt einfach befriedigender verstehbar machen.

Auf dem Gebiet der Neurowissenschaften behauptete Karl Pribram in den 1960er Jahren, dass das
Gehirn holografisch arbeiten würde. Pribram war einer der weltweit angesehensten Hirnforscher.
Durch seine zielgerichteten Untersuchungen entdeckte er, dass bis dahin ungeklärte Fragen zum
Gedächtnis und zu weiteren Gehirnfunktionen endlich gelöst werden konnten. Sie mussten dafür in
ein Modell eines holografisch arbeitenden Gehirns eingearbeitet werden. Dieser Denkansatz erhielt
zunehmende und ausdauernde Unterstützung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft.
Pribram und Bohm setzten sich dann irgendwann zusammen und verglichen ihre Aufzeichnungen.
Sie kamen darauf hin zu dem Schluss, dass das ganze Universum, unsere Körper mit eingenommen
vollständig holografisch aufgebaut ist.

Heute sind viele Quantenphysiker, Philosophen, Neurowissenschaftler und Hirnforscher von dem
Gedanken fasziniert, dass etliche Aspekte der Quantenphysik auch auf das menschliche
Bewusstsein angewendet werden können. Die Ähnlichkeiten zwischen den zwei Bereichen
Quantenphysik und der Erforschung des menschlichen Bewusstseins sind sehr erstaunlich. Bereits
in den frühesten Tagen der Quantenphysik gab es Diskussionen darüber, ob das menschliche
Bewusstsein selbst eventuell ein notwendiger Teil für ein vollständigeres Verständnis sein müsste,
wie Quantenprozesse interaktiv in unserer unmittelbaren Welt, der Auffassung von Erfahrungen und
deren Verarbeitung beteiligt sind. In manchen Quantenexperimenten scheint ein Beobachter des
Experiments durch seine Anwesenheit und sogar die Beobachtung selbst die experimentellen
Messergebnisse zu beeinflussen. Das bedeutet, dass unsere Erfahrung der Wirklichkeit nicht nur
vom beobachteten Objekt, sondern auch von der Beschaffenheit des Beobachters selbst abhängt.
Dies führt zu weitergehenden Fragen über die noch bestehende Unklarheit bezüglich der Natur des
Bewusstseins, des Geistes und des Gehirns.

Dr. Pribram schrieb einen Aufsatz, in dem er ein wenig mehr über außersinnliche Wahrnehmungen
andeutete. Einige andere interessante Themen mit Bezug zu dem Modell des holografisch
arbeitenden Gehirns werden darin ebenfalls erwähnt. Pribram vermutet darin, dass Mystiker und
andere die holografische Beschaffenheit des Universums schon seit tausenden von Jahren immer
wieder entdeckt haben könnten. Er bezog sich dabei besonders auf buddhistische und hinduistische
Beschreibungen des Universums. Die Kabbalah, der Sufismus und das östliche orthodoxe
Christentum weisen ähnliche Modelle vor.

Pribram schreibt dazu 1968:

„Nur wenige Wissenschaftler sind bisher vertraut mit der impliziten holografischen Ordnung. Ich
glaube jedoch, dass gerade diese Ordnung auf der Erfahrungsebene von Mystikern, Hellsichtigen
und anderen untersucht wird, die sich mit paranormalen Phänomenen beschäftigen. Wenn die
Bedingungen für das Eintreten in den holografisch, impliziten Bereich klarer beschrieben werden
würden, könnten wir vielleicht das wissenschaftliche Verständnis für paranormale Phänomene
erlangen, nach dem wir auf Konferenzen wie dieser suchen. Wie in der Einführung gesagt,
wahrhafter wissenschaftlicher Austausch hängt von dieser Grundlage des Verstehens ab, weniger
von dem Beweis der Verlässlichkeit experimenteller Tatsachen. Ich bin davon überzeugt, dass dieser
Paradigmenwechsel in der Wissenschaft uns wirklich die Verständnisgrundlage dafür geben wird,
dass die Welt der Erscheinungen nichts anderes als die Kehrseite einer anderen Realität ist. Das
alles wird ermöglicht durch die erhaltenen Einblicke in die Quantenphysik und weitergedacht durch
das holografische Modell der Hirnfunktionen. Diese andere Realität wird und wurde vielleicht
schon seit ungezählten Jahrtausenden erfahrungsmäßig erforscht.“

Mein zweites Buch, „Der Weg des Lichtes“, wird sehr detailliert die Lehren und Praktiken der
Traditionen dokumentieren, in deren Mittelpunkt unser wahres Wesen als absolut unbeschreibbares
und unwandelbares „Klares Licht“ des Gewahrseins erkannt wird. Diese Traditionen beschreiben
das Universum als Ausdruck dieses Lichtes. Modulationen der Lichtfrequenzen schneiden sich
überall und erscheinen als umfassendes Hologramm im leeren Raum der reinen Wahrnehmung. Wir
sind dieser leere Raum reinen Gewahrseins und unsere Kreativität und Schaffensfreude erscheint als
unendliche Projektionsfläche holografischer Dimensionen von Farbe, Licht und Klang, die nichts
anderes sind als Bilder in einem Spiegel.

Im historischen Hua-Yen Buddhismus gibt es eine Beschreibung der Wirklichkeit, die der Idee des
holografischen Universums recht ähnlich ist. Diese Beschreibung sieht alles enthalten in jedem
noch so unterschiedlichen, individuellen Teil. Dieses alles verbindende Netz von Beziehungen wird
im Hinduismus als Netz Indras bezeichnet, wobei Indra einer der höchsten Götter dieser Tradition
ist.

In seinem Buch „The Enlightened Mind“ schreibt Stephen Mitchell:


„Indras Netz ist ein tiefgreifendes und subtiles Gleichnis für die Struktur der Realität. Stelle dir ein
riesiges Netz vor; an jedem Knotenpunkt befindet sich ein Juwel; jedes Juwel ist vollkommen klar
und spiegelt in seinen Facetten alle anderen Juwelen in diesem Netz. Das geschieht auf die Weise,
wie zwei sich gegenüber stehende Spiegel sich ihre Spiegelbilder bis ins Unendliche gegenseitig
zeigen. Ein Juwel ist hierbei ein Sinnbild für ein individuelles Sein oder ein individuelles
Bewusstsein oder eine Zelle oder ein Atom. Jedes Juwel ist engstens verbunden mit allen anderen
Juwelen im Universum. Jede noch so kleine Veränderung in einem Juwel bedeutet eine Veränderung
in jedem anderen Juwel.“

Letztendlich gestand Bohm gegenüber Pribram, dass er das Universum insgesamt selbst nur noch
als „Gedanke“ empfand. Die heutige Quantenphysik gewöhnt sich an die Vorstellung, dass das
Bewusstsein eine nicht zu leugnende Rolle beim Erschaffen unserer Erfahrung spielt. Das
Universum nimmt für uns solange keine Form an, bis seine Information beobachtet, verarbeitet und
als dreidimensionale Erfahrung erschaffen wird. Das alles geschieht in unserem Gehirn. Einige
herausragende Quantenphysiker, wie Brian Greene und Leonard Süsskind glauben, dass das
Universum letztlich eine zweidimensionale Informationsmatrix ist, die dann als dreidimensionales
Hologramm projiziert wird. Wenn diese zweidimensionale Information im Bewusstsein oder Gehirn
erst einmal verarbeitet wurde, erscheint sie schließlich als dreidimensionales Hologramm. Anders
ausgedrückt ist das Universum zusammen mit unserem Körper und Gehirn nichts anderes als ein
riesiges Hologramm. Das passt zu Pribrams Untersuchungen, die unser Gehirn als holografisch
arbeitend beschreiben. Es liegt im Wesen eines Hologramms, dass jeder einzelne Teil von ihm das
vollständige Hologramm in sich enthält. Du könntest also sagen, dass das ganze Universum in
deinem großen Zeh oder auch im kleinen Zeh enthalten ist. Das ist nicht übertrieben. Es bedeutet,
dass auch jeder einzelne Gedanke das vollständige Universum enthält, weil alles Teil des
Hologramms ist. Das vollständige Universum liegt verschlüsselt in jedem seiner einzelnen Teile
vor.

Dieses Konzept des in jedem kleinsten Teil eingefaltet vorliegenden kompletten Universums wurde
und wird von Dichtern wie Mystikern gleichermaßen geteilt. William Blake schrieb:

„Die Welt schauen in einem Körnchen Sand,


einen Himmel in einer Wildblume,
Endlosigkeit halten in der Fläche deiner Hand
und Ewigkeit in einer Stunde.“

Brian Greene, Physik- und Mathematikprofessor an der Columbia Universität (New York, USA), ist
weithin für einige bahnbrechende Entdeckungen in der Superstring-Theorie bekannt. Er schreibt in
seinem Buch, „Das elegante Universum: Superstrings, verborgene Dimensionen und die Suche nach
der Weltformel“:

„Die Physik und alles, was wir in der Welt um uns herum kennen, kann tatsächlich an Vorgänge
gebunden sein, deren grundlegende Existenz nicht hier bei uns gefunden wird, sondern diese,
ähnlich einem dünnen Hologramm-Streifen, eher in einer entfernten Grenzschicht existiert. Dieser
Streifen kann durch geschickte Beleuchtung auf die passende Weise etwas entstehen lassen, was
wie eine dreidimensionale Welt aussieht. Vielleicht ist unsere dreidimensionale Welt wirklich nur
ein holografisches Lichtbild von Gesetzmäßigkeiten, die auf einem kleinen dünnen Streifen
existieren, wie auf jenem dünnen kleinen Plastikfilm, diesem dünnen Hologramm. Es ist eine
verrückte Idee und ich glaube, die Physik wird sich wahrscheinlich in den nächsten Jahren oder im
kommenden Jahrzehnt in diese Richtung bewegen – zumindest wenn über Quanten-
Anziehungskraft oder die Quanten-String-Theorie gesprochen wird.“
Bohms Sicht, wie sie im folgenden zum Ausdruck kommt, stimmt überein mit dem neuesten Stand
der Erkenntnisse bezüglich der Beschaffenheit des Universums, so wie es die Quantenphysik
versteht. In der sich durchsetzenden Sichtweise ist das komplette Universum Information, nicht
„Energie“. Das Universum macht nur Sinn und hat eine erkennbare Struktur, wenn es von einem
bewussten, erkennenden Geist entschlüsselt wird. Bohm schrieb:

„Die fühlbare Wirklichkeit unseres alltäglichen Lebens ist tatsächlich eine Art von Täuschung, wie
ein holografisches Bild. Darunter liegt eine tiefere Existenzordnung, eine riesige und
ursprünglichere Ebene von Wirklichkeit. Diese bringt auf gleiche Weise alle Objekte und
Erscheinungen der physischen Welt hervor, wie ein Streifen holografischer Film das Hologramm
selber hervorbringt. Wenn die empfundene Festigkeit der Welt nichts anderes ist als eine zweite,
abgeleitete Wirklichkeit und „das da draußen“ tatsächlich eine holografische Fata Morgana von
Frequenzen, also das aufnehmende Gehirn ebenfalls ein Hologramm ist, welches nur ein paar
Frequenzen dieses verschwommenen Bildes verarbeitet, was wird dann aus der objektiven Realität?
Einfach gesagt, sie hört auf zu existieren. Auch wenn wir als Wesen mit Körpern denken, wir
würden uns durch eine physische Welt bewegen, so ist dies eine Illusion. In Wirklichkeit sind wir
„Empfänger“, die durch einen kaleidoskopischen Ozean von Frequenzen treiben.“

In seinem Buch, „Decoding Reality – The Universe as Quantum Information“, schreibt Vlatko
Vedral zu verschiedenen Aspekten der Theorie über Quanteninformation einiges, was eindrucksvoll
zu Bohms Ideen passt. Vedral ist aktuell Professor für Quanteninformationstheorie in Oxford (UK).
Er führt das Universum zurück auf seine grundlegenden Bausteine, die der Informations-q-Bits.
Hier sind einige Schlüsselzitate aus seinem Buch:

„Die von der Natur verwendete Sprache ist – wenig überraschend – ,Information´…“

„In der östlichen Religion und Philosophie steht das Denken über Beziehungen im Mittelpunkt der
Betrachtungen […] Leerheit im buddhistischen Sinne bedeutet, dass die „Dinge“ nicht aus sich
selbst heraus existieren, sondern nur in Bezug auf andere „Dinge“ möglich sind …“

„Es erscheint vielleicht wünschenswert, die „mathematischen Ideen“ von „tatsächlichen Teilchen“
zu unterscheiden; aber es ist schwierig irgendeine logische Grundlage für so eine Unterscheidung
zu finden. Ein Teilchen zu entdecken bedeutet, bestimmte Effekte zu beobachten, die als Beweis für
seine Existenz akzeptiert werden. [Der britische Astronom Arthur Stanley] Eddington behauptet
nun, dass ein Teilchen nur eine Ansammlung von Benennungen ist, die wir dafür benutzen, die
Ergebnisse unserer Messungen zu beschreiben. Mehr nicht …“

„Alles, was bleibt, ist die Beziehung zwischen unseren Messungen und den Benennungen
derselben! Der Grund für die Vielfältigkeit, die wir in der Welt um uns herum sehen (und von dieser
Komplexheit, zumindest soweit sie das Leben betrifft, glauben wir, dass sie mit der Zeit zunimmt)
liegt alleine in der zunehmenden gegenseitigen Verbundenheit. Können wir auf diese Art und Weise
wirklich analysieren, wie wir die Wirklichkeit fortwährend weiter benennen? Indem wir damit
fortfahren, werden wir durch alle (wie auch immer) möglichen Mittel niemals „das Ding an sich“
erfahren und verstehen. Alles Bestehende existiert durch Konventionen, Beschreibungen und
Benennungen und die Dinge an sich existieren in unmittelbarer, gegenseitiger Abhängigkeit.
Deshalb sagen Buddhisten, dass ihr höchstes Ziel – das Verstehen der Leerheit – schlicht bedeutet,
dass wir verstehen, wie grundlegend verbunden alle Dinge tatsächlich miteinander sind …“

„Wir haben einen Punkt erreicht, an dem jedes Materieteilchen (wie ein Atom) und jede Energie
(wie ein Photon) im Universum ausschließlich nur in Bezug auf ein speziell erstelltes, aufwendiges
Verfahren definiert wird, um es aufzustöbern. Wenn der Detektor, wie beispielsweise ein
Geigerzähler, „klick“ macht, ist das Teilchen entdeckt. Der Klick des Messgeräts selbst erschafft ein
zusätzliches q-Bit oder Bit an Information, aus der sich dann die neue Realität zusammensetzt. Der
springende Punkt ist jedoch, dass das Teilchen überhaupt nicht unabhängig vom Detektor existiert.“

„Der Klick an sich besitzt keine unabhängige Ursache und daher resultiert hier auch kein den Klick
auslösendes unabhängiges Teilchen. Lassen wir diese komplizierten Vorgänge einfach mal bei Seite,
so kommen wir zu dem Schluss, dass wir dem zu Folge tatsächlich nirgendwo allem zugrunde
liegende, kleine Teilchen identifizieren können, die eine unabhängige Existenz besitzen und dass im
Universum kein Ding zu finden ist, welches aus unabhängigen Teilchen besteht. …

„Alles im Universum bestehende, alles, dem du irgendeine Art von Wirklichkeit zuschreiben
kannst, besteht alleine auf der Basis beidseitiger Informationen, die es wiederum mit anderen
Objekten im Universum teilt. Unterhalb dessen existiert nichts, nichts anderes hat irgendeine ihm
zugrunde liegende Wirklichkeit …“

„Trotz dem wir eine wohl definierte, sinnliche Realität um uns herum wahrzunehmen scheinen,
widerspricht es jeglicher Intuition, dass die Quantenphysik vorschlägt, es existiere keine zugrunde
liegende, von uns unabhängige einzige Wirklichkeit im Universum. Das ist der unserer klassischen
Denkweise widersprechende Punkt. Unsere Wirklichkeit wird tatsächlich nur dann definiert und tritt
in die Realität ein, wenn wir sie beobachten …“

„Das Universum beginnt ursprünglich leer aber birgt gleichzeitig ein Potenzial aus einer riesigen
Menge an verschlüsselten Informationen, die noch nicht in Erscheinung getreten sind. Das
Schlüsselereignis, welches dem Universum schließlich irgendeine Richtung gibt, ist der erste Akt
des „Symmetrie-Brechens“, jener erste kreative Schnitz des Bildhauers. Dieser Handlungsbeginn,
den wir als völlig willkürlich, ohne irgendeine vorangegangene Ursache erachten, entscheidet
schlicht in diesem Moment darüber, warum ein winziger Aspekt im Universum eher soherum
erscheint und nicht andersherum …“

„Aber woher kommen diese q-Bits (Informations-Bits als Grundlage für das Universum) wirklich?
Die Quantentheorie erlaubte uns erstmals diese Frage zu beantworten; aber die Antwort läuft nicht
auf das hinaus, was wir erwarten. Sie schlägt vor, dass diese q-Bits von nirgendwo herkommen, also
einfach auftauchen! Keine vorhergehende Information ist dafür nötig, dass die auftauchende
Information einfach da ist. Information kann aus der Leerheit heraus erschaffen werden …“

„Innerhalb unserer Wirklichkeit existiert alles aufgrund eines alle verbindenden Netzes von
Beziehungen und die verwobenen Bausteine dieses Netzes stellen die q-Bits, die
Informationseinheiten dar. Wir verarbeiten diese, setzen sie zusammen, beobachten und bewerten
diese Information um die Wirklichkeit um uns herum aufzubauen. Der Bereich der Naturgesetze
selbst stellt Informationen über Informationen dar, außerhalb dessen Spektrum es für uns nur dunkel
ist. Wenn also ein Informationsinhalt dann spontan aus der Leerheit erscheint, wird dieser
entschlüsselt für uns wahrnehmbar um unsere Sicht auf die Wirklichkeit zu aktualisieren. Dies ist
das Tor zum Verstehen der Wirklichkeit.
Ich ende nun mit einem Zitat aus dem TaoTeKing, in dem meine Gedanken bereits vor 2500 Jahren
viel präziser ausgedrückt werden:

,Das Tao, von dem berichtet wird, ist nicht das ewige Tao.
Der genannte Name ist nicht der ewige Name.
Das Namenlose ist der Anfang von Himmel und Erde.
Das Benannte ist die Mutter der tausend Dinge.
Stets wunschlos, kann das Geheimnis erkannt werden.
Stets suchend, kann handfest Gewordenes erkannt werden.
Diese beiden entspringen der gleichen Quelle,
unterscheiden sich aber im Namen;
dieser erscheint als Dunkelheit,
Dunkelheit in Dunkelheit.
Das Tor zu allen Geheimnissen.´ “
(Vlatko Vedral „Decoding Reality – The Universe as Quantum Information“ ...)

Unsere Gehirne verrichten für uns Menschen mit all den auf uns einströmenden Informationen eine
geradezu erstaunliche Verarbeitungs- und Deutungsarbeit. Unser Gehirn und unser Geist
funktionieren allerdings mit zwei unterschiedlichen, integrierten Betriebssystemen. Das eine
verarbeitet zugunsten unseres Überlebens entlang der Pfade der klassischen Physik nach
spezifischen Reiz-Reaktions-Mustern und vorherrschenden, bekannten Mustern der Verarbeitung.
Das andere Betriebssystem verarbeitet eher entlang der Wege eines Quantencomputers, in dem
reines Denken, Intuition, bildliche Vorstellung, außersinnliche Wahrnehmung und spirituelle
Einblicke möglich sind. Das klassische Gehirn verarbeitet Sinnesinformationen und gibt diese als
Gedanken in Form von kleineren Paketen oder Päckchen an das Bewusstsein weiter. Hiermit sind
die Gedanken selbst gemeint. Der Quantengeist kann jedoch höhere Informationswellenlängen
empfangen und das entsprechende Wissen über wesentlich schnellere und „reinere“ Kanäle
weitergeben, die wir als spontane Einsichten oder auch durch Intuition erfahren. Ich schreibe hier
„reiner“, weil die Quantenverarbeitung diverse reiz-reaktions-verbundene Aspekte diskursiver,
komplexer Gedanken und Gewohnheiten umgeht.

In dem Maße, wie das Fassungsvermögen des Quantengeistes ausgeweitet wird, kann ein deutlich
gesteigertes intuitives Verarbeiten entlang der Wege außersinnlicher Wahrnehmungen erfahren
werden, wie es beispielsweise bei Telepathie, Hellsichtigkeit und Beobachtungen unerklärlicher
Synchronizitäten zu erleben ist. Allwissenheit ist schlicht die Fähigkeit, Information zu
entschlüsseln, die im Universum eben alles ausmacht. Ein Augenblick der Erleuchtung ist die
plötzliche Fähigkeit, den in allem enthaltenen Informations-Bauplan der ganzen Wirklichkeit zu
lesen, der sich auf das Bewusstsein und Sein bezieht. Diese Quanten-Supereinblicke erscheinen aus
dem Nichts oder der Leerheit, woraus alle Informationen spontan auftauchen. Dieser Raum, der
noch nicht in diesem Moment aktualisierten Dimension unendlicher Möglichkeiten, könnte auch als
der Quantenraum der „Überposition“ bezeichnet werden. Dieser Überpositions-Zustand ist auch
bekannt als nicht-ortsgebundener Wellenzustand. Wenn dieser nicht zu verortende Wellenzustand
des Lichtes aufgrund von Beobachtung und Messung „kollabiert“, erscheint er als ortsgebundenes,
lokales „Teilchen“ oder Photon in Raum und Zeit. Deshalb erscheint Licht sowohl als Teilchen als
auch als Welle. Wie wir im weiteren Verlauf besprechen werden, scheint unser individuelles
Bewusstsein genau gleichartige Wesensmerkmale aufzuweisen.

Die Quanteninformation während des Erleuchtungszustandes besteht unabhängig von der


Datengrundlage unserer klassischen Reiz-Reaktions-Verarbeitung. Dennoch wird die plötzlich und
erstaunlich überraschend auftretende Information der Quantenerleuchtung gespeichert. Dies aber
nur in begrenzter Form, weil das Verarbeitungs- und Speichervermögen solcher
Quanteninformation durch das Gehirn eben kaum möglich ist. Die Quantenerleuchtung existiert nur
in der Quanten-„Überposition“ als Wellenzustand des Bewusstseins. Deshalb berichten Individuen,
welche diese unmittelbare Erleuchtung erfahren haben, dass diese Erfahrung unmöglich in Worte zu
fassen sei.

Es scheint die Mühe wert zu sein, dennoch einen Zugang in diesen Erfahrungsbereich zu finden
oder unseren Quantengeist möglichst zu erweitern, anstatt in der sehr umgrenzten,
aufgabenfixierten Perspektive unseres Gehirns zu verbleiben. Um in diesem Sinne weiter zu
kommen, müssen wir jene zwei für unsere Informationsverarbeitung anfänglich erwähnten
Betriebssysteme unseres Gehirns genauer unterscheiden können. Das normale Denken und
Erschaffen von Gedankenkonstrukten bildet die alltägliche und überwiegende Funktionsweise des
klassisch aufgebauten Gehirns. Nicht-konzeptuelles Wahrnehmen und kognitive Einsichten
hingegen stellen die vordergründig bekanntesten Funktionen des Quantengeistes dar. Indem wir in
einer Position nicht-konzeptuellen Gewahrseins verweilen, fangen wir an, die immer wieder
auftauchenden Vorgänge im klassisch aufgebauten, konzeptionellen Teil unseres Gehirns zu
beobachten. Wir beobachten einen endlosen Gedankenstrom, eine Bilderflut und damit verbunden
verschiedene Geschichten. Ebenso bemerken wir ein Gefühl von Selbst-Identität als subjektives
Selbst inmitten all dieser unterschiedlichen Geschichten. Dieses Gefühl eines individuellen,
persönlichen Selbst ist eine durch Gewöhnung anerzogene Konstruktion der Reiz-Reaktions-
Verbindungen innerhalb des benannten klassischen Betriebssystems unseres Gehirns. Dieser Anteil,
dieses Selbstkonstrukt bedient sich der vorhandenen Informationsflut und verwandelt sie
holografisch in konkretere Einheiten, in voneinander getrennte Subjekte und Objekte. Deshalb
erscheint uns die Welt als solide und dauerhaft, obwohl die Quantenphysik uns zeigt, dass sie,
abgesehen vielleicht vom Raum, keineswegs festgefügt oder solide ist.

Unsere gewöhnliche Art die Welt zu erfahren ist reine Interpretation basierend auf den
Rahmenbedingungen unserer „Hardware“, bedingt durch die DNS, und unserer „Software“,
bestimmt durch unsere Gewohnheiten. Wir wissen, dass beispielsweise Insekten eine andere
Sinnesinterpretation der gleichen Information haben wie die, die wir erfahren. In unsere Erfahrung
ergießt sich ein Informations-Datenstrom und wird auf sehr subjektive Weise verarbeitet. Kein
sinnlich Wahrnehmender nimmt eine starre, objektive Welt wahr, die genau so existiert, wie sie
wahrgenommen wird. Wir erfahren nur das, was unsere „Hard-“ und „Software“ verarbeitet und
schließlich als geistig erschaffenes Bild entstehen lässt. Der Geist interpretiert
Wahrnehmungserfahrungen in ständigem Abgleich mit seiner bisherigen Software-Datenlage
vorangegangener Erfahrungen und fügt in ein an sich völlig neutrales Ereignis bis dahin neue
unbekannte, subjektive Details ein. So erschafft unserer Geist seinen eigenen „Himmel-und-Hölle-
Dualismus“ aus ursprünglich vollkommen neutralen Erfahrungen. Durch die Deaktivierung der
starren Glaubensgewohnheiten des Geistes an seine eigenen Bewertungen und Beurteilungen, an
seine Meinungen und Interpretationen, dass diese die letztendlich „wahre Realität“ seien, entdecken
wir schließlich einen entspannteren und uns wohlgesonnenen Bewusstseinszustand. Um das zu
erreichen, müssen wir uns jedoch irgendwie auf den Quantengeist einlassen, der dann die alte
„Hardware“ und die alten „Software-Programme“ des gewohnheitsmäßigen Geistes und des Reiz-
Reaktions-Modus überschreibt.

Verschiedene interessante Studien der letzten 50 Jahre weisen darauf hin, dass sowohl das
Bewusstsein als auch die Denkprozesse selbst auf der Quantenebene ablaufen. Wie bereits erwähnt,
kann es durchaus sein, dass unser Gehirn eine Kombination des klassischen Biocomputers und eines
Quanteninformations-Verarbeitungssystems ist. Beide werden aus zwei verschiedenen Quellen
gespeist. Der klassische Biocomputer ist mit Sinneswahrnehmungen und körperlichen Erfahrungen
verbunden. Der Quantenprozessor arbeitet mit Erinnerungen, kreativen Gedanken, Gewahrsein,
Bewusstsein, bildlichen Vorstellungen, Träumen, mystischen Erfahrungen, Erleuchtung und
außersinnlichen Phänomenen wie Telepathie, Hellsichtigkeit, Synchronizität, außerkörperlichen
Erfahrungen, Nahtoderlebnissen und anderen, eher ungewohnten Aspekten des Bewusstseins.
Einige Wissenschaftler schlugen vor, dass die Quantenvorgänge möglicherweise innerhalb der
Gehirnzellen und Neuronenverbände ablaufen könnten. Es kann jedoch genauso gut möglich sein,
dass Bewusstsein und Gewahrsein völlig unabhängig vom Gehirn sind und in einer Dimension
existieren, die ich als Quantenintelligenz bezeichne. Sie ist ein allumfassendes Feld, das Energie
und Raum als den Seinsgrund durchdringt. Die Forschungen dazu sind sehr interessant und einige
Werke dazu können gerne selbst gelesen werden, beispielsweise Veröffentlichungen von Stuart
Hameroff, dem erwähnten Karl Pribram und David Bohm, Roger Penrose, oder auch Amit
Goswami. Die hier genannte Auswahl stellt dabei nur einige Wenige von weitaus mehr Autoren zu
diesem Thema dar.
Während sich die Neurowissenschaftler auf das Gehirn konzentrieren, um den Quantengeist besser
zu verstehen, kannst du selber einen Zugang zu unmittelbaren Erfahrungen erhalten. Dazu arbeitest
du mit den inneren Energiezentren, Chakren genannt, wie in Kapitel 5 beschrieben. Indem
beispielsweise das Kronen-Chakra innerhalb des Schädels aktiviert wird, erhältst du Zugang zu
höheren Zuständen des Quantenbewusstseins. Wenn du das Chakra des Dritten Auges aktivierst,
was sich gerade oberhalb der Linie zwischen den Augen befindet, und es öffnest, kannst du in die
Lage versetzt werden andere Quantendimensionen der Wirklichkeit zu erfahren. Wir scheinen fähig
zu sein mit Hilfe dieser und anderer Praktiken des inneren Lichtes direkt über unseren Körper
Zugang zu David Bohms Impliziter Ordnung zu erhalten, also direkt zu jenem kosmischen
Hologramm.

Energie kann auf unserer Erfahrungsebene, der Ebene klassischer Physik, als Potential im Sinne
einer Möglichkeit verstanden werden, die aber noch nicht in die dingliche Dimension von Raum
und Zeit eingetreten ist. Wenn, wie bereits erwähnt, beispielsweise Licht beobachtet wird, so kann
dieses Licht auch als Welle erscheinen, deren genaue Position nicht konkret gemessen werden kann.
Diese Wellenformation weist weder einen konkreten Ort noch eine Stofflichkeit auf. Das Licht kann
aber auch als ein Photon auftauchen, also als ein Teilchen mit einem messbaren spezifischen Ort in
Raum und Zeit. Dies aber eben nur in dem Moment wenn es gemessen wird. In der Quantenphysik
folgen subatomare Teilchen genau den gleichen Gesetzen. Die Teilchen existieren tatsächlich
solange nicht in Raum und Zeit, bis irgendjemand sie beobachtet oder versucht, deren Position oder
Geschwindigkeit zu messen. Sie gelten bis dahin nur als mathematische Wahrscheinlichkeiten.
Wenn jedoch beobachtet, „kollabiert“ der Wellenzustand des Quantenpotentials und ein
subatomares „Teilchen“ erscheint „spontan“ in unserer Dimension der klassischen Physik. Vor dem
genannten Kollaps hatte das Teilchen keine wirksame Existenz, es war eben nur ein Potential oder
eine Möglichkeit.

Dem entsprechend können wir sagen, dass Materie und Energie solange in „Gottes Geist“
verbleiben, oder in der „Überposition“, bis sie in die Dimension der geschaffenen Dinge eintreten.
Solange kein bewusster Beobachter daran teilnimmt findet keinerlei Schöpfung statt, erscheint
keine Form aus der Dimension des reinen Potentials. Es ist analog zu der Tätigkeit eines Künstlers
oder einer Künstlerin. Sie oder er erblickt das künstlerische innere Bild im Geist. Bis zum ersten
Pinselstrich besteht das Bild jedoch nur als Potential im Geist. Das Überführen des inneren Bildes
in die Realität als gemaltes Bild, ist somit unmittelbar kreativ, weil es keinen Regelkanon dafür gibt,
was und wie die Dinge schlussendlich konkret werden können. Alles fließt im Wechselspiel mit der
Natur, der Perspektive und dem zeitlichen Ablauf des beobachtenden Bewusstseins.

Lass uns die Quantentheorie auf unsere unmittelbare Erfahrung anwenden. Was wäre, wenn unser
Gefühl ein Individuum zu sein, also unsere persönliche Selbstidentität, das Ergebnis einer dieser
besagten Quantenkollapse wäre? Bewusstsein als Quantenintelligenz existiert an sich nur als
undefinierter Quantenzustand eines Potentials. Bewusstsein an sich hat einen nicht differenzierten
Seinszustand. Bewusstsein ist überall präsent, weil die Quantenintelligenz auch, wie geschildert, im
absolut kleinst möglichen Raum anwesend ist. Sie ist die Grundlage, in die alles eingebettet ist,
anschaulicher gemacht hier vielleicht durch die Ebene der Planck-Skala. (Die Planck-Skala erfasst
den Raum mit der Planck-Länge von etwa 10-35 Meter, was noch viel winziger ist als alles, was sich
auf der Ebene der Nanotechnologie bewegt.) Wir nehmen an, dass die Quantenintelligenz sich
selber mit Hilfe des Bewusstseins reflektiert, ähnlich wie beim Träumen. In anderen Worten, sie
beobachtet sich selbst, genauso wie Quantenphysiker Quantenphänomene „beobachten“. In dem
Augenblick des fokussierten Beobachtens kollabiert die Quantenwelle hinein in unsere Dimension
von Raum und Zeit als „Einheit“ oder Teilchen. Nun schlage ich folgende Analogie vor. Wenn die
Quantenintelligenz sich selber mit Hilfe von Gedanken reflektiert, erfolgt ein sofortiger
Bewusstseinskollaps hinein in die Dimension von Raum und Zeit. Dabei entsteht eine Bewusstseins-
„Einheit“. Das wäre dann praktisch die Geburt des Selbst, wie es in unserer normalen Dimension
erscheint. Es hat einen Ort und eine Definition im Bewusstsein. Es ist unser individueller
Standpunkt mit seinem spezifischen Blickwinkel. Dieser kollabierte Bewusstseinszustand erscheint
nun als ein angenommener Standpunkt in Raum und Zeit. Das leere, raumgleiche Gewahrsein als
reiner Seinsgrund kollabiert dagegen nicht. Nur seine Dimension oder das Energiefeld kreativen
Bewusstseins fällt in sich zusammen. Das Energiefeld kollabiert um den reinen Seinsgrund herum,
ähnlich einer sich zusammenziehenden Kugel mit einem reinen, gewahrnehmenden und leeren
Zentrum. Die Qualität des reinen Gewahrseins im Zentrum bleibt unverwandelt, wie das klare Glas
des Spiegels durch die Spiegelungen in ihm unberührt bleibt.

Dieser Kollaps kann jedoch umgekehrt werden. Jenes den Zusammensturz Verursachende kann als
Tor dafür genutzt werden, um in den ursprünglichen Zustand der Quantenintelligenz
zurückzukehren. Erinnere dich, dass das Entstehen des Bewusstseins eines getrennten Selbstes den
eigentlichen Kollaps verursacht hat. Das bedeutet dem entsprechend, dass jener ursprüngliche
Zustand wieder erreicht werden kann, wenn sich jemand klar der Selbst-Losigkeit bewusst wird. Je
mehr wir uns selbst als ein von allem getrenntes „Ich“ oder „Selbst“ definieren, desto länger
verbleiben wir gewohnheitsgemäß in der Erfahrung des getrennten, kollabierten Selbstzustandes.
Die Gewöhnung an diese scheinbare Realität ist ein Geisteszustand, der aufgrund grundlegender
geistiger Unwissenheit zustande kommt. Es ist ein Nicht-Kennen unserer perfekten, wellenzustands-
artigen ursprünglichen Natur. Dieses „Nicht-Kennen“ oder „Nicht-Wissen“ ist die Ursache unseres
Leidens.

War und ist das nicht die Botschaft der Meister und Mystiker? Indem wir uns von den
selbstverliebten und selbst-bewussten Fixierungen befreien, begeben wir uns hinein in den
Seinsgrund, jenen undefinierten Zustand der Quantenintelligenz. Dieser Augenblick heißt
Erleuchtung. Durch dieses sich Hineinbegeben erfahren wir Bewusstsein jenseits der Begrenzungen
von Selbst, Raum und Zeit. Zudem blühen dann uns innewohnende Qualitäten auf, wie Glück,
Liebe, Frieden und tiefgreifende Weisheit. Diese sind alle der Quantenintelligenz innewohnende
Qualitäten.

Abschließend möchte ich noch Quantenphänomene einer fortgeschritteneren spirituellen


Entwicklung besprechen, die Bestandteil vieler esoterischer Traditionen sind. Ein mittlerweile sehr
bekanntes Phänomen findet sich in der Geschichte der tibetischer Kultur. Dergleichen Ereignisse
werden auch weiter bis heute berichtet. Hier folgt ein entsprechender Bericht des Dalai Lama:

„Vor zwei Jahren erlangte ein tibetischer Yogi, der Dzogchen praktiziert hatte (die Große
Perfektion, eine Sicht und Meditationsart in der Nyingma-Tradition), einen Zustand des völligen
Verschwindens seines grobstofflichen physischen Körpers. Wir nennen dies den
„Regenbogenkörper erlangen“. Er hieß Achog (sprich: Atschog) und kam aus Nyarong. Er hatte hin
und wieder Philosophie an der Gelug-Klosteruniversität Sera nahe Lhasa studiert und erhielt
Belehrungen von meinem Juniorlehrer Trijang Rinpoche. Achogs Hauptlehrer war der Nyingma-
Lama Dudjom Rinpoche. Obwohl er Tantra sowohl entsprechend der alten als auch der neuen
Schulen des tibetischen Buddhismus praktizierte, war seine Hauptpraxis die Rezitation von „Om
Mani Padme Hung“ und die begleitende Meditation.

Bis vor etwa drei Jahren äußerte er immer wieder den Wunsch, die Möglichkeit eines Treffens mit
dem Dalai Lama noch in diesem Leben zu haben. Dann, eines Tages, rief er seine Schüler
zusammen, um Opferungen zum Wohlergehen des Dalai Lamas durchzuführen. Nach dem Ende des
Opferrituals überraschte Achog seine Schüler mit der Ankündigung, dass er sie nun verlassen
werde. Er zog sich seine safranfarbene Klosterrobe an und bat sie, ihn in seinem Zimmer für eine
Woche einzuschließen. Seine Schüler folgten dieser Bitte und öffneten erst nach einer Woche
wieder sein Zimmer. Sie fanden – nichts mehr – außer seiner Robe. Sein Körper war vollständig
verschwunden. Einer von Achogs Schülern und ein Mitpraktizierender kamen nach Dharamsala,
wo sie mir die Geschichte erzählten und mir ein Stück seiner Robe gaben.

Weil er im Unterschied zu manch anderem Lama für gewöhnlich in Zurückgezogenheit als


schlichter Mönch ohne irgendwelche Grillen lebte, bewies er, dass er ein guter Praktizierender war
und dieses Ereignis letztendlich geschehen konnte. Hier kannst du die Verbindung zwischen
Ursache und Wirkung erkennen. Es gibt auch andere, über die Wunder behauptet werden, aber ohne
entsprechende Ursachen …

Unser Ziel ist es, den fundamental zugrunde liegenden Geist des Klaren Lichtes zu verstehen, die
subtilste Ebene des Bewusstseins, und dann ohne auf grobstofflichere Ebenen zurückzukehren in
dieser Ebene zu verbleiben. Dieser gereinigte Zustand ist jedoch nicht nur ein mentaler, er schließt
auch den Körper mit ein, eben den von Ichfixierung freien, feinstofflichen Körper, der aus Energie
(Prana, Chi) besteht. Dies ist die reinste Form des Klaren-Licht-Geistes. Der letztendliche Zweck
dieser Erscheinung liegt in der Unterstützung aller anderen Wesen darin, die gleiche Freiheit von
Leid und Begrenzung zu erlangen.

Zentral für diesen Reinigungsvorgang ist das Verstehen der lichten und wissenden Natur des
Geistes. Dazu gehört ein Verständnis dafür, dass betrübende Gefühle, wie begehrende Lust, Hass,
Feindseligkeit, Eifersucht und eine kriegerische Haltung der innersten Geist-Essenz nicht
innewohnen, sondern nur am Rande dieser liegen. Wenn der Geist sein eigenes Wesen kennt und
diese Weisheit mit kraftvoller Konzentration zusammengelegt wird, ist es schrittweise möglich
diese trüben Geisteszustände zu schwächen und letztendlich zu überwinden. Ansonsten würden sie
den Prozess des sich wiederholenden Leids weiter antreiben. Dies ist die tibetische Sicht auf die
feinstofflichen Verbindungen zwischen Geist und Materie und wie sie in dem Vorgang altruistisch
gelenkter Reinigung wirken .“ (Dalai Lama in Jeffrey Hopkins Übersetzung: „Mind of Clear Light:
Advice of Living Well and Dying Consciously by H. H. The Dalai Lama“.)

Es folgt ein anderer interessanter Artikel zum gleichen Thema des Verstehens des „Lichtkörpers“.
Zudem wird hier der Bericht des Dalai Lama über Lama Achog von Vertretern der christlichen
Tradition bestätigt, die ein Interesse an diesem Thema haben:

„Der Benediktiner Mönch David Steindl-Rast schlug die Erforschung der „Lichtkörper“-Übergänge
vor. Das sind Ereignisse, bei denen sich die Körper spirituell hoch entwickelter Individuen
nachweislich innerhalb weniger Tage nach ihrem Tod auflösen. Steindl-Rast erhielt eine begeisterte
Antwort von Marilyn Schlitz, der Forschungsleiterin von IONS.

In einer gemeinsamen Initiative mit dem Esalem Institute erweiterte IONS seine Forschung über
„metanormale Fähigkeiten“. Damit gemeint sind Verhaltensweisen, Erfahrungen und
Veränderungen des Körpers, die unser Verständnis für das übliche menschliche Handeln
herausfordern. Die Herausforderung besteht in den zentralen Fragen zur Entwicklungsmöglichkeit
eines jeden Menschen.

„Bruder David erzählte uns, dass er für sein Projekt an verschiedenen Stellen um Unterstützung
gebeten hatte“, erinnert sich Schlitz. Seine Absicht war es, jene behaupteten Beobachtungen zu
bestätigen und weitere Berichte zu sammeln. Das würde uns nicht nur für ein weitergehendes
Verständnis des Regenbogenkörper-Phänomens helfen, sondern auch einen Blick auf dessen
umfassendere Bedeutung werfen. Steindl-Rast wurde jedoch zu Verstehen gegeben, dass dieses
Forschungsgebiet in der konventionellen Wissenschaft nicht akzeptiert sei. Ich dagegen sagte: „Das
ist genau die Art von Projekten, an denen IONS interessiert ist. Wenn die Forschungsarbeit
innerhalb eines strengen und kritischen Rahmens entworfen wird, sind wir für die Untersuchung
aller möglichen Fragen offen, die unsere Vorstellungen davon erweitern, wozu wir Menschen fähig
sind.“

Steindl-Rasts eigene Neugier bezüglich des Regenbogenkörpers wurde geweckt, als er Geschichten
über tibetische Meister hörte. Mit Hilfe spiritueller Praktiken hatten diese einen hohen Grad an
Weisheit und Mitgefühl erreicht. Als sie starben, so wurde Steindl-Rast berichtet, erschienen
plötzlich Regenbögen am Himmel. „Und mir wurde berichtet, dass ihre Körper nach ein paar Tagen
verschwanden. Manchmal blieben Fingernägel und Haare übrig. Manchmal hinterließen sie nichts.“

Diese Geschichten machten ihn vor allem in Bezug auf die Wiederauferstehung von Jesus Christus
nachdenklich, die von zentraler Bedeutung für seinen eigenen Glauben war. „Wir wissen, dass Jesus
eine sehr mitfühlende, selbstlose Person war. Entsprechend der Überlieferung war sein Körper nach
seinem Tod nicht mehr da.“

Steindl-Rast machte darauf aufmerksam, dass Christus´ Auferstehung je nach spiritueller


Ausrichtung heutzutage unterschiedlich gedeutet wird. Für eher konservative Christen ereignete
sich die Wiederauferstehung – das sich Erheben von den Toten – einzig bei Jesus Christus und ist
für alle anderen Menschen unmöglich. Die Minimalisten dagegen legen laut Steindl-Rast ihr
Augenmerk auf das Fortleben von Jesus´ Geist. Sie glauben, dass die Wiederauferstehung von Jesus
nichts mit seinem stofflichen Körper zu tun habe.

Viele Menschen (inklusive Steindl-Rast selber) sind dennoch offen für die Idee, dass auch der
Körper in der geistigen Welt eine wichtige Rolle spielt und dass bestimmte spirituelle Erfahrungen
letztendlich von allen Menschen gemacht werden können.

1999 schließlich entschied Steindl-Rast, dass er jenes merkwürdige Phänomen des


Regenbogenkörpers und einer möglichen Verbindung zu der Wiederauferstehung von Jesus
erforschen wollte. „Ich schickte ein Fax an einen Freund in der Schweiz, einen buddhistischen Zen-
Lehrer. Ich wusste, dass dort viele Tibeter wohnten. Also bat ich ihn um eine Befragung vor Ort
über den Regenbogenkörper. Zwei Tage später erhielt ich ein Antwortfax mit der Nachricht, dass
ein Tibeter den Zen-Lehrer angesprochen hätte. Als der Regenbogenkörper angesprochen wurde,
meinte der Tibeter: „Es ereignete sich vor kurzem bei einem meiner Lehrer. Ein bekannter Lama,
der Zeuge jener Ereignisse wurde, schrieb einen Bericht darüber.“ Ab diesem Punkt nahm Steindl-
Rast Kontakt mit dem Pater Francis Tiso auf, einem ordinierten römisch-katholischen Priester, der
zehn Sprachen inklusive Tibetisch studiert hatte und dem auch die tibetische Kultur geläufig war
(Pater Francis Tiso steht dem kanonischen Büro in der Kathedrale von St. Peter in Isernia, Italien
vor, und ist der Erzdiozöse von San Francisco zugeordnet, wo er Pfarr-Vicar in Mill Valley ist.)

Steindl-Rast meinte dazu: „Ich wusste, dass Pater Tiso gelegentlich Tibet besuchte. Also fragte ich
ihn, ob er in der näheren Zukunft einen Besuch dort plane. Er antwortete, dass er genau an diesem
Tag aufbrechen würde.“

Bruder Steindl-Rast bat Pater Tiso um einen Zwischenstop in der Schweiz um jenen Tibeter
befragen zu können. Trotz dieser sehr spontanen Bitte machte Pater Tiso den Umweg durch die
Schweiz und die Forschungsreise begann.

Der Regenbogenkörper ist ein komplexes Phänomen, was wahrscheinlich Jahre der Untersuchung
bedarf. „Wenn wir als anthropologische Tatsache feststellen können“, sagte Steindl-Rast, „dass
alles, was über die Wiederauferstehung von Jesus geschrieben wurde, nicht nur bei anderen
Menschen geschah, sondern auch heutzutage geschieht, dann würde das unser
Entwicklungspotential als heute lebende Menschen in einem völlig neuen Lichte erscheinen lassen.“
Gegenwärtige Regenbogenkörper-Erfahrungen

Über den Kontakt in der Schweiz erfuhr Pater Tiso den Namen des Mönches, dessen Körper sich
nach dessen Tod aufgelöst hatte: Khenpo A-chos (auch Atschog ausgesprochen), ein Gelugpa-
Mönch aus Kham in Tibet, der 1998 gestorben war. Pater Tiso fand auch das Dorf in einer
abgelegenen Gegend, wo sich Khenpo A-chos´ Erimitage befunden hatte. Mit den
Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern, die während Khenpo A-chos´ Tod anwesend gewesen
waren, nahm Pater Tiso Interviews auf Tonband auf. Er führte auch viele Gespräche mit Leuten, die
Khenpo A-chos persönlich kannten.

„Abgesehen von der Art, wie er starb, war er ein sehr interessanter Mensch“, kommentierte Pater
Tiso. „Jede und jeder erwähnte, dass Khenpo A-chos seine Gelübde stets einhielt und betonte die
Reinheit seiner Lebensführung sowie seine Gesprächen dazu, wie wichtig das Kultivieren von
Mitgefühl war. Er war in der Lage, selbst den ungehobelsten und härtesten Typen nahezubringen,
ein wenig freundlicher und ein bisschen achtsamer zu sein. Allein schon sich in seiner Anwesenheit
zu befinden, verwandelte bereits die Leute.“

Pater Tiso interviewte unter anderen Lama Norta, Khenpo A-chos´ Neffen, Lama Sönam Gyamtso,
einen jungen Schüler, und Lama A Khyug, einen Dharmafreund des späteren Khenpo A-chos. Sie
berichteten folgendes:

Ein paar Tage bevor Khenpo A-chos starb, erschien ein Regenbogen genau über seiner Hütte. Nach
seinem Tod waren dutzende Regenbögen im Himmel zu sehen. Khenpo A-chos starb auf seiner
rechten Seite liegend. Er war nicht krank; ihm schien es nicht schlecht zu gehen und er rezitierte
unablässig das Mantra OM MANI PADME HUNG. Mehrere Augenzeugen bestätigen, dass seine
Haut sich nach Aussetzen der Atmung rosa färbte. Eine Person sagte, die Haut hätte sich glänzend
weiß verfärbt. Alle berichteten, sie hätte angefangen zu leuchten.

Lama A Khyug hatte dann vorgeschlagen, den Körper seines Freundes in die gelbe Robe der Gelug-
Mönche einzuwickeln. Im Laufe der folgenden Tage konnten sie dann aufgrund der Form der Robe
beobachten, dass seine Knochen und sein gesamter Körper schrumpften. Zudem hörten sie
wunderschöne, wundersame Musik aus dem Himmel und es roch angenehm nach Duftstoffen.

Nach sieben Tagen schauten sie unter die gelbe Robe und sahen keinen Körper mehr. Lama Norta
und einige andere behaupteten, dass Khenpo A-chos ihnen nach seinem Tod in Tag- und
Nachtträumen erschienen war.

Andere Regenbogenkörper-Erscheinungen

Pater Francis Tiso betonte, dass das beeindruckenste Interview jenes mit Lama A Khyug war. Er
erzählte, dass er im Falle seines Tode auch den Regenbogenkörper manifestieren würde. „Er zeigte
uns zwei Fotografien, die von ihm im Dunklen aufgenommen worden waren. Auf diesen Fotos
strahlte sein Körper Lichtstrahlen aus.“

Lama A Khyug betonte die Möglichkeit den Regenbogenkörper auch verstehen zu können, während
man noch lebte, also nicht nur zum Zeitpunkt des Sterbens. Deshalb plante Pater Tiso eine
Rückkehr nach Tibet mit einer professionellen Fotoausrüstung, um jenes strahlende Licht
dokumentieren zu können.

Andere Aufzeichnungen metanormaler Ereignisse rund um den Tod wurden auch untersucht. So
waren beispielsweise einige Kollegen von Pater Tiso Zeugen des nachtodlichen Prozesses von
Dilgo Khyentse Rinpoche gewesen, der acht Jahre zuvor gestorben war. „Dieser Mann hatte große
Knochen“, so Pater Tiso, „und es wurde berichtet, dass sein Körper Wochen nach seinem Tod
schrumpfte. Theoretisch könnte das zwar auch durch Einwirkung von Chemikalien geschehen sein,
aber die Knochen waren ja ebenfalls mitgeschrumpft.“

Ein Schrumpfen des Körpers ereignete sich auch bei einem anderen tibetischen Lehrer namens
Lama Thubten. Sein miniaturisierter Körperbau wird in einem Kloster in Manali (Indien)
aufbewahrt. Pater Tiso versicherte, dass das Schrumpfen oder Verschwinden des Körpers kurz nach
dem Tod bereits vor Jahrhunderten dokumentiert worden sei. So geschah es in der klassischen
Geschichte von Milarepa, einem buddhistischen Heiligen aus Tibet, der im 11. Jahrhundert lebte.
Milarepas Biografie wurde 1912 von Jacques Bacot ins Französische und in den 1920er Jahren von
Walter Evans-Wentz ins Englische übersetzt.

„Im neunten Kapitel dieses Literaturklassikers steht geschrieben, dass Milarepas Körper kurz nach
seinem Tod völlig verschwand“, erklärte Pater Tiso, der eine Dissertation über diesen Heiligen
Tibets geschrieben hatte.

Auch die frühesten Biografien über Milarepa, so Pater Tiso, bestätigten dieses Ereignis. Zudem gibt
es Berichte über Padmasambhava, den berühmten Tantrameister des 8. Jahrhunderts, wie sich auch
dessen Körper auflöste und verschwand.

Die Bedeutung von Praxis und Kultur

Pater Tiso betonte, dass es bei dieser Art von Forschung nicht nur wichtig sei möglichst viele Leute
zu interviewen, sondern auch das Lesen von Biografien und von jeglichen schriftlichen Berichten
über diese Ereignisse. Als er in Tibet ankam um Informationen über den Tod von Khenpo A-chos zu
sammeln, hatte er das Glück sehr viel biografisches Material über ihn von Sönam Phuntsok zu
erhalten – und das bereits eine Stunde nach seiner Ankunft.

Pater Tiso erklärte, dass es darauf ankam, dieses Phänomen nicht nur zu bestätigen, sondern
generell ein Verständnis für die Werte, spirituellen Praktiken und die Kultur zu entwickeln, in die
dieses Phänomen eingebettet sei. „Wir müssen die tibetischen Institutionen und Praktiken in einem
neuen Lichte untersuchen um einige tiefgreifende Wahrheiten über das Vermögen des menschlichen
Bewusstseins und unseres Potentials als Menschen für die gesamte Menschheit zu entdecken.“

Diese Möglichkeit besteht derzeit in der Nyarong-Region von Tibet, wo über verschiedene
Ereignisse in Zusammenhang mit dem Regenbogenkörper berichtet wurde. Die Forschungsgruppe
studiert derzeit deren spirituelle Lebensweise, insbesondere deren spirituelle Praktiken.

Pater Tiso erhielt ebenfalls Kopien von spirituellen Klausur-Anleitungen, die für ein Verständnis
besonders hilfreich waren.

Lama A Khyug berichtete Pater Tiso, dass es sechzig Jahre intensiver Praxis bedürfe um den
Regenbogenkörper erlangen zu können. „Ob es immer dieser langen Zeit bedarf, weiß ich nicht“,
gab Pater Tiso zu, „aber wir möchten es uns mit allem Respekt ermöglichen, einige dieser Praktiken
in unsere eigene westliche philosophische und religiöse Tradition zu integrieren.“

Gleichzeitig plante die Forschungsgruppe ihren Blick auf Kulturen jenseits der tibetischen Tradition
auszuweiten, so Pater Tiso. Dadurch sollte das Phänomen des Regenbogenkörpers mit dem der
Auferstehung Jesus Christus´ besser verglichen werden können. Nach unserem Wissen schrumpften
oder verschwanden die Körper der meisten christlichen Heiligen nicht nach deren Tod, meinte Pater
Tiso.
„Hochverwirklichte Heilige im katholischen und orthodoxen Christentum tendieren eher zur
Unvergänglichkeit, so dass deren Körper nach dem Tode nicht verwesen.“

Allerdings wird der körperliche Aufstieg im Sinne der Himmelfahrt in der Bibel für Enoch, Maria,
Elijah und möglicherweise Moses berichtet, ergänzte Pater Tiso. Und es gibt verschiedene
Geschichten über das Erscheinen von Heiligen nach deren Tod, ähnlich dem weit verbreiteten
Phänomen, welches als „Lichtkörper“ bekannt ist.

„In meiner Kirche der zwei Heiligen Cosmas und Damian in Italien haben wir eine große Zahl von
Jahrhunderte alten Berichten, die das Erscheinen dieser Heiligen in Träumen und Visionen
andeuten. Sie bewahrten die Leute dadurch vor Schaden und heilten sie von Krankheiten. Auch
heutzutage berichten mir Menschen, dass sie diese Visionen haben“, sagt Pater Tiso.

Als er 1984 in einer italienischen Kapelle mit offenen Augen meditierte, erfuhr er ebenfalls selbst
eine außerordentliche Vision. Er berichtete hierzu, dass Jesus Christus vor ihm in Form eines
violetten Lichtkörpers erschienen sei. Zu jener Zeit erwog er eine Lehrstelle in den USA
anzunehmen. Seine Vision von Christus deutete allerdings auf den Verbleib in Italien hin.
„Zu jenem Zeitpunkt in meinem Leben war es wichtig keinen Fehler zu begehen“, erinnerte sich
Pater Tiso. „Ich blieb also in Italien, wurde dort später ordiniert und lebte danach fast zwölf Jahre in
einer Eremitenkapelle“

Verschiedene tibetische Lehrer erschienen ihm immer wieder im Traum. Wenn er öffentlich
unterrichtet, spricht Pater Tiso ganz offen über diese Erfahrungen. Er tut dies, weil er es wichtig
findet, dass die Menschen verstehen, dass solche Ereignisse gewöhnlicher und häufiger sind, als wir
gemeinhin glauben. „Ich denke, so wie die Menschen in ihrer spirituellen Praxis reifen, beginnen
sie visionäre Erfahrungen zu haben.“

Gegenwärtige Schlussfolgerungen

Länder wie beispielsweise China, so Pater Tiso, und bestimmte politische Bewegungen in
Westeuropa haben sich entschieden alles, was mit dem kontemplativen Leben zu tun hat,
auszuschließen oder sogar physisch zu zerstören. „Es ist jetzt unsere Aufgabe, Institutionen und ihre
Praxis in einem neuen Lichte zu untersuchen, um einige tiefgreifende Wahrheiten darüber für die
gesamte Menschheit wieder zu erlangen, wer oder was wir als menschliche Wesen wirklich sind.“

Die Forschungsarbeit hierzu ist eindeutig umstritten, weil sie die ewigen Fragen nach dem Leben
und dem Tod sowie der unsterblichen Seele und das Thema der Reinkarnation aufgreift. Zudem
weist sie darauf hin, dass die vermeintliche Wiederauferstehung von Jesus Christus kein Einzelfall
war, sondern als ein leuchtendes Beispiel darauf hinweist, was für jeden Menschen möglich und
erfahrbar ist.

Sowohl Pater Tiso als auch Bruder Steindl-Rast betonten, dass solcherlei Fähigkeiten allein bei
hoch entwickelten Individuen auftreten, die eine Verkörperung von Mitgefühl und Liebe sind. Sie
vermuten auch, dass diese Qualitäten – Bewusstsein und Bewusstheit generell – treibende Kräfte
der Evolution sind. „Es ist meine große Hoffnung, dass die Erforschung des Regenbogenkörpers
uns diese Möglichkeit klarer erkennen lässt“, sagte Steindl-Rast.

Pater Tiso war der Meinung, dass in der heutigen Zeit des hemmungslosen Konsums, der
unkontrollierten Ausbeutung und wirtschaftlichen Ungerechtigkeit gerade die Stärkung der
mitfühlenden, altruistischen und spirituellen Dimension der Menschheit dringender denn je ist. Er
meinte, dass wir mit Blick auf die Zukunft neue Konzepte für Klöster und spirituelle
Rückzugszentren entwickeln sollten. Für Individuen mit einer idealistischen Motivation, die auf der
Suche nach einer intensivierten spirituellen Praxis sind, wären das dann Anlaufzentren. Er schlug
ebenfalls die Gründung eines „Heiligen“-Labors vor, um hier die Fortschritte der teilnehmenden
Individuen dokumentieren zu können.

Bezüglich des Regenbogenkörpers erhofften sich Pater Tiso und sein Team auch die vollständige
Erfahrung beobachten und wissenschaftlich dokumentieren zu können, während sie geschehen
würde.

„Was wichtig ist“, meinte Marylin Schlitz, „dass wir die Bandbreite dessen erweitern, von dem wir
glauben, was möglich ist. Wir möchten herausfinden, ob es Wege für die Entwicklung spiritueller
Praktiken gibt, die uns auch zu anderen Erfahrungen unseres höchsten Potentials führen, selbst
wenn diese neuen Praktiken uns nicht unbedingt zu der persönlichen Erfahrung des
Regenbogenkörpers führen.“
Gail Bernice Holland ist Mitherausgeberin von „IONS Review“ und ehemalige Herausgeberin von „Connections“. Sie ist die Autorin von „A Call vor
Connection: Solutions for Creating a Whole New Culture“ (New World Library 1998). Kontakt: gbauthor@noetic.org

Bruder Steindl-Rast ist Leiter des „Network For Grateful Living“ und pflegt die aktuelle Entwicklung dessen Webseite www.gratefulness.org

Das Phänomen des aufgrund spiritueller Praxis verschwindenden Körpers ereignete sich
verschiedentlich auch im 20. Jahrhundert. Gut dokumentiert werden konnte es bisher in Tibet.
Genau diese Art von Ereignissen geschahen aber auch an anderen Orten und in anderen Kulturen.
Das berühmteste dieser Phänomene in der ferneren Vergangenheit war wohl das Verschwinden von
Christus im Anschluss an seine Kreuzigung. Vor seinem Tod zeigte sich sein „Quanten-Lichtkörper“
verschiedenen Zeugen auch in der Verklärung vom Berg Tabor, wie im Neuen Testament berichtet
wird. In der griechisch-orthodoxen Tradition gibt es ebenfalls viele Geschichten über Heilige, die
auf der Insel des Berges Athos in Griechenland lebten. Ein wiederkehrendes Thema taucht dabei in
den vergangenen Jahrhunderten immer wieder auf und betrifft die heiligen Eremiten. Diese wurden
entweder von Licht vollständig umgeben gesehen oder gar in eine Lichtgestalt verwandelt. Diese
Lichtkörper-Tradition geht angeblich bis in die Zeit von Christus zurück. Folgendes Gedicht von
einem dieser Eremiten, Sankt Symeon dem Neuen Theologen, ist aus dem 10. Jahrhundert
überliefert:

„Wie kommt es, dass Du mich in dieses glänzende Gewand gekleidet,

strahlend mit der Pracht der Unsterblichkeit,

welches all meine Mitmenschen in Licht verwandelt?

Dein Körper, makellos und himmlisch

erstrahlt im Feuer deiner Göttlichkeit …,

mit dem es unaussprechlich verbunden und verschmolzen ist.

Dies ist das von Dir gegebene Geschenk, mein Gott:

Dass dieser schäbige und sterbliche Körper

eins wurde mit deinem unbefleckten Körper,

dass ich Eins wurde mit deiner Göttlichkeit

und zu deinem eigenen reinsten Körper wurde,


ein strahlendes Mitglied, durchscheinend licht, leuchtend und heilig.

Ich schaue die Schönheit von Allem, ich kann das Strahlen sehen.

Ich wurde eine Spiegelung des Lichtes deiner Güte.“

Als ich vor ein paar Jahren Israel besuchte, bekam ich die seltene Möglichkeit zu diesen Themen
ein Interview mit einem der führenden Meister jüdischer Mystik und Esoterik der Kaballah, Rabbi
Yizchak Ginsburgh, zu führen. Wir besprachen auch das Phänomen des stufenweisen
Verschwindens des physischen Körpers von Meistern der Kabbalah. Er berichtete mir, dass er selber
bei seinem eigenen Lehrer einige Jahre zuvor dieses Phänomen beobachten konnte. In jenem Fall
allerdings trat die Erscheinung nicht in Verbindung mit dem Tod des Lehrers auf, sondern es
ereignete sich eine schrittweise Transparenz des Körpers zu Lebzeiten, also während voller
Funktionsfähigkeit im Alltag. Rabbi Ginsburgh erklärte dazu, dass wir einen inneren „Lichtkörper“
göttlichen Lichtes besitzen. Wenn wir ein Niveau großer Reinheit von negativen Gedanken und
Energien erlangen, wird der physische Körper durch den Grad an innerer Herzensreinheit
verwandelt. Der Körper wird zu reinem Licht.
Der Lichtkörper wird auf Häbräisch Tselem genannt, was „das Bild Gottes, so wie in der Seele des
Menschen erschaffen“ bedeutet. Hier folgt nun ein Zitat des Kabbalah-Meisters Rabbi Moses
Isserles von Krakau aus dem 15. Jahrhundert:

„Wahrhaftig ist es passend, Ihn mit Hilfe folgender Parabel oder Metapher zu beschreiben, weil
Licht mit Ihm gefunden wird. Alljene, die schauen, sehen an Ihm, und jede und jeder schaut in Ihm
so wie in einen Spiegel blickend. Weil die grobe Stofflichkeit im Menschen der oder dem gegenüber
steht …, die oder der kontempliert, hinter dem klaren Licht in der Seele, das ich ihr und ihm
spiegeln möchte und sie oder er sieht darin, in einer inneren Vision, ihre oder seine eigene Form.
Deshalb verglichen die Propheten die göttliche Herrlichkeit (Kavod) mit dem Menschenbild, weil
sie ihre eigene Form sahen. Doch in unserem Lehrer Moses, weil er aus sich alle Körperlichkeit
beseitigt hatte und da keine dunkle Materie mehr von außen ist, blieb beim Betrachten nichts weiter
als das strahlende Licht selbst und da war kein Spiegelbild, er sah allein die klare Seite.“

Während eines Kaschmir-Aufenthaltes erzählten mir mehrere Schüler meines Sufi-Meisters, dass
sich genau diese Art von Erscheinung bei unserem Lehrer Qassim ereignete. Sie erinnerten sich an
eine Zusammenkunft vor einem Sufi-Treffen auf einem kleinen Hausboot, das nahe dem Ufer
vertäut war. Eine schmale Holzplanke wurde als Steg zum Ufer benutzt. Sie waren bereits einige
Stunden auf dem Treffen gewesen, während dessen es heftig schneite. Sie berichteten, dass Qassim
ihnen mitteilte, dass er ein wenig rausgehen würde. Die Zeit verging und schließlich entschieden sie
sich nach Qassim zu suchen. Als sie rausgingen, entdeckten sie weder auf dem Boot noch am Ufer
irgendwelche Fußspuren im Schnee. Es gab schlicht keine Spur von ihm. Sie gingen zurück ins
Boot um abzuwarten. Schließlich kam Qassim zur Tür herein. Neugierig geworden, gingen einige
hinaus und konnten auch dann keine frischen Spuren im Schnee entdecken, die zurück zum Boot
oder zur Tür führten. Qassim hatte mir mitgeteilt, dass er in der Lage sei überall „hinzureisen“,
wohin er wollte. Er meinte, dass er auf diese Weise bereits zuvor in die USA gereist sei. Allerdings
sagte er, dass es dort für ihn schwierig war klar zu sehen. Er fragte mich, ob ich wüsste, warum das
so sei. Ich konnte ihm das nicht beantworten. Daraufhin erklärte er mir, dass es dort an dem nicht
ausreichenden „spirituellen Licht“ läge.

Der Sufi-Meister Najm Razi schrieb 1256:


„Wenn das Licht im Himmel des Herzens in Form eines oder mehrerer strahlenden Monde
aufleuchtet, schließen sich die beiden Augen für diese Welt und die andere. Wenn dieses Licht
aufleuchtet und der absolut reine innere Mensch den Glanz der Sonne oder mehrerer Sonnen
erlangt, nimmt der Mystiker weder diese Welt wahr noch die andere. Unter dem Schleier des
Geistes schaut er nur seinen eigenen Meister. Dann ist sein Herz nichts als Licht, sein feinstofflicher
Körper ist Licht, seine stoffliche Bekleidung ist Licht, sein Hören, sein Schauen, seine Hand, seine
Umgebung, sein Inneres – alles ist nichts als Licht – ebenso sein Mund und seine Zunge.“

So wie wir mehr über die holografische Natur des Universums lernen, müssen wir unsere
stofflichen menschlichen Körper mit in dieses holografische Modell integrieren. Ein
dreidimensionales Hologramm besteht aus reinem Licht. Wenn das Universum und unsere Körper
tatsächlich Hologramme sind, ist es nicht schwer die Phänomene des Lichtkörpers wissenschaftlich
zu verstehen, so wie wir es zuvor besprochen haben. Es ist eigentlich nur eine Frage des Erlangens
eines tieferen Verständnisses von Wahrnehmung, also eines Wahrnehmens, welches jenseits und
hinter die scheinbare Festigkeit unserer Welt schaut. David Bohm meinte dazu einmal: „Das
Universum ist gefrorenes Licht.“

Wir können uns hierzu mit Hilfe verschiedener Methoden Zugang verschaffen um wieder in diese
Ebene der ursprünglichen Klares-Licht-Wahrnehmung eintreten zu können. Interessant in diesem
Zusammenhang ist, dass sich bei uns im jüdisch-christlichen Mythos die Vorstellung einer
„gefallenen“ Menschheit findet. Vielleicht können wir den Begriff kollabiert gleichbedeutend damit
verwenden. Unser „gefallener Zustand“ ist tatsächlich Ausdruck eines Quantenkollapses. Der
Mensch versucht diesen Kollaps mit Hilfe verschiedener spiritueller und religiöser Mittel
rückgängig zu machen. Eines der am leichtesten verfügbaren Mittel ist jedoch die Meditation.
Mit dem Kollaps hinein in ein scheinbar unabhängiges, verfestigtes und ortsgebundenes
Selbstkonstrukt brach auch das damit verbundene Energiefeld zusammen, hinein in einen
abgetrennten Geisteszustand dualistischen Bewusstseins. Dieses dualistische Bewusstsein äußert
sich in einem auf den reinen Verstand reduzierten Geist, der ausschließlich auf der Grundlage des
Denkens anstatt auf der des natürlichen, ursprünglichen Wissens funktioniert. Der Kollaps trennt
also das einheitliche Feld der Quantenintelligenz in scheinbare Anteile, wie beispielsweise in
Subjekte und Objekte. Dies gibt dem Individuum ein Gefühl der Getrenntheit von allen „anderen“
und von der eigenen tiefgründigen und ursprünglich vollständigen Selbstnatur. Durch
Meditationsmethoden und andere direkte Möglichkeiten ist es jedem Menschen möglich den
ursprünglichen Zustand wieder zu erfahren.

Der denkende Verstand ist stets an Geschichten gebunden, die sich auf das individuelle Selbst
beziehen. Dies verstärkt das Gefühl einer getrennten Selbstheit, indem es seine Existenz stetig und
immer wieder neu als eine unabhängig bestehende Einheit bestätigt sieht. Dadurch schließen wir
uns in eine selbst erschaffene Dimension ein, die auf sich wiederholenden Gedanken und inneren
Bildern beruht. Indem wir aber schlicht eine Position einnehmen, aus der heraus wir geistige
Phänomene beobachten, verschiebt sich die persönliche Identität hinein in einen offenen
Bewusstseinszustand, der sich weniger festgefahren mit selbst vorgestellten Rollen innerhalb der
diversen Geschichten identifiziert. Diese ruhige Beobachterposition steht einem Zustand gegenüber,
in dem gewohnheitsgemäß mentale Aktivitäten und Geschichten ständig erneut aktiv vorangetrieben
werden. Die Verschiebung des persönlichen Identitätitäts- oder Selbstkonstruktes in einen offeneren
Bewusstseinszustand ist damit vergleichbar, dass ursprünglich als solide empfundene
Erscheinungen sich wieder als Quantenphänomene aus dem ortsgebundenen Zustand eines festen
Teilchens hinein in ihren undefinierten und offenen Wellenzustand öffnen.

Wie bereits besprochen gibt es in der Meditation einen spezifischen Zustand, der Samadhi oder
nicht-duale Wahrnehmung genannt wird. Im Samadhi gibt es keine festgefügte Identität mehr, die in
ihrer spezifischen Zeit oder ihrem spezifischen Raum verortet werden könnte. Die wesentliche
Natur des Bewusstseins ist reine Quantenintelligenz. Alle Erscheinungen tauchen so auf, wie
Reflektionen in einem Spiegel, in dem die Quantenintelligenz das unwandelbare klare Glas des
Spiegels ist und die Erscheinungen seine Spiegelbilder sind.
Wir können uns auf bequeme Art hinsetzen und erst einmal einfach eine Position einnehmen, in
der wir das Beobachtende sind. Anfangs mag es hilfreich sein zunächst die Gedanken, so wie sie
auftauchen, einfach zu benennen: Im Geist bemerken wir, „dies ist ein Gedanke“. Wir beginnen
hierbei das bloße Beobachten von der Betriebsamkeit unseres Geistes zu unterscheiden. Bemerke
dann, wie Gedanken scheinbar von selbst auftauchen; bemerke, wie sie genauso von selbst einfach
wieder verschwinden und bleibe dabei wach und entspannt schauend. Registriere, dass in dem
Raum zwischen zwei Gedanken weiterhin jenes beobachtende Wahrnehmen gegenwärtig ist, also
auch in Abwesenheit von Gedanken. Es ist dieses beobachtende Gewahrsein, das zeitgleich mit
den Gedanken und auch ohne sie einfach präsent ist, welches wir entdecken wollen.
Dieses beobachtende Gewahrsein war niemals Bestandteil des geistigen Kollaps´. Dieses
beobachtende Gewahrsein ist und bleibt ewig unwandelbar und ist daher unser Königsweg zum
Bewusstsein der ursprünglichen Quantenintelligenz. Indem wir auf diese Methode des reinen
Beobachtens und Wahrnehmens vertrauen, kehren wir auf direktem Weg den Kollaps hinein in die
dualistische Welt unseres gewohnten selbstzentrierten Bewusstseins um, zurück in die ursprüngliche
Wirklichkeit. Wir entdecken letztendlich, dass dieses reine, erkennende Beobachten das Gewahrsein
der ursprünglichen Quantenintelligenz IST, die in allen Bewusstseinszuständen gegenwärtig ist. Sie
ist nicht versteckt oder verborgen. Sie ist das, was hier und jetzt gerade eben hier diese Wörter liest.
Schaue zurück auf das, was aus deinen Augen schaut und du wirst erkennen, dass die
Quantenintelligenz dein wahres beobachtendes Wesen ist.

Frage: Gibt es Beispiele von Individuen, die ihre Quantenintelligenz oder ihren Quantengeist
erfolgreich entdeckt und aktiviert haben?

Antwort: Ich bin mir sicher es gibt viele. Aber ich glaube, dass bei den meisten der Zustand des
reinen in-der-Quantenintelligenz-seins nicht lange anhält. Das kann beispielsweise bei inspirierten
Dichtern, Künstlern, Wissenschaftlern, Mystikern und Erfindern der Fall sein. Eine Gruppe von
Individuen jedoch scheint mehr als andere Traditionen eine bemerkenswerte Fähigkeit anbieten zu
können, die Realität durch die Augen der Quantenintelligenz zu betrachten. Schon länger als
sechzehn Jahrhunderte besteht in der Zen-Tradition die Methode, in der ein Zen-Meister seinen
Schüler dadurch versucht erwachen zu lassen, indem er die Quantenintelligenz bei ihm direkt
anspricht. Eine der Methoden dafür ist das Koan. Ein Koan ist eine Art Gedankenpuzzle, mit dem
der Schüler vermeintlich ringen soll, bis eine erleuchtende Einsicht geschieht. Einige berühmte
Koans sind: „Was ist der Klang einer klatschenden Hand?“ oder „Zeige mir dein Gesicht, bevor
deine Eltern geboren wurden.“ Der Schüler arbeitet während der Meditation im Geiste daran und
stellt dem Meister mit der Zeit verschiedene Antworten vor. Nachdem alle möglichen logischen und
rationalen Erklärungen ausgeschöpft zu sein scheinen, kann dem Schüler in äußerster Verzweiflung
ein Durchbruch, ein Erwachen gelingen. Er zeigt und erkennt dann seine eigene Quantenintelligenz.
In diesem Moment ist die Antwort vollkommen offensichtlich und er erhält endlich die Bestätigung
durch seinen Meister. Die Antwort kann durch ein schlichtes Augenzwinkern ausgedrückt werden
oder durch ein Tippen auf die Tischplatte. Beide Antworten machen keinen Sinn für einen
Außenstehenden, aber absolut Sinn im Zusammenspiel des Zen-Meisters mit dem Schüler.

In der Wissenschaft des Quantenrechnens gibt es eine ähnlich paradox wirkende, also
widersprüchliche Erscheinungen. Bei einem herkömmlichen digitalen Programm wird die
Information entweder als eine 0 (Null) oder eine 1 verarbeitet. Das Quantenrechnen basiert
allerdings auf 01; die 0 und die 1 sind weder voneinander getrennte Möglichkeiten in einer
Entweder/ Oder-Situation, noch sind sie verbunden. Sie sind beide eine 0 und eine 1
gleichzeitig.Wie kann das sein? Das ist ein gutes Koan, ein Koan was allein nur im Quantenzustand
einen Sinn ergibt.

In den tibetischen Traditionen der Großen Perfektion (Dzogchen) und des Mahamudra gibt es
ebenfalls Methoden, die als „direktes Einführen“ und „das wahre Wesen aufzeigen“ bezeichnet
werden. In diesen Traditionen weist eine Meisterin oder ein Meister in einem Eins-zu-Eins-
Austausch mit einem Schüler oder einer Schülerin unvermittelt auf die im Moment gegenwärtige
und aktive Quantenintelligenz hin, die bis dahin nicht bemerkt wurde. Durch ein geschicktes
„Aufzeigen“ kann die Schülerin oder der Schüler eine plötzliche und authentische Einsicht erfahren,
die unerwartet aus der Quantenintelligenz herausplatzt. Das kann ein unerwartetes Aufblitzen des
erleuchteten Geistes sein. Die Schülerin oder der Schüler wird dann angewiesen in dieser Einsicht
zu verweilen. Ihm oder ihr wird Zeit gegeben, alle Ursachen für Unsicherheiten auftauchen und sich
auflösen zu lassen, bis sich aus dem ersten Aufblitzen der Einsicht ein durchgehendes Gewahrsein
entwickelt.

Frage: Du hast eine außerkörperliche Erfahrung aus deiner Zeit in Dänemark beschrieben und
gedeutet. Welche Verbindung besteht zwischen dieser Erfahrung und der von dir so benannten
Quantenintelligenz? Bedeutet das, dass unser „persönlicher“ Aspekt der Quantenintelligenz die
Fähigkeit zur Reinkarnation hat?

Antwort: Als örtlich gebundene Quantenintelligenz sind wir ein bewusstes Erfahrungskontinuum.
Anders ausgedrückt sind wir ein Quantengeist, ein dimensionsloser Punkt wissenden Gewahrseins
ohne Grenzen oder Mittelpunkt. Am besten wird dies durch das Bild einer Kristallkugel dargestellt.
Diese durchsichtige und unsichtbare Kristallkugel, diese klare Sphäre, ist unser Quantengeist in
örtlicher Erscheinung. Er ist von einem Energiefeld umgeben, der Energie seines eigenen Lichtes.
In diesem Energiefeld oder der Aura sind diejenigen Erinnerungen gespeichert, die sich auf unser
Erfahrungskontinuum beziehen. Es hat die Fähigkeit ohne das körperliche Sinnessystem direkt
wahrnehmen zu können. Beim Eintritt des Todes oder während jeglicher außerkörperlicher
Erfahrung verlässt diese Gewahrseins-Kugel den Körper. Dieses Energiefeld hat die Wahl zu
reinkarnieren oder ohne einen physischen Leib weiterzubestehen. In den tibetischen Traditionen
wird gelehrt, dass unsere Klarheit zu diesem Zeitpunkt siebenmal intensiver und präziser sei, als sie
es noch innerhalb des physischen Körpers ist.

Ich hatte verschiedene, absolut klare Erinnerungen an vergangene Leben, die vollständig mit
gegenwärtigen Lebenssituationen und Strömungen zusammenhingen. So erinnere ich mich
beispielsweise anschaulich an meinen Tod vor meiner jetzigen Reinkarnation. Ich lebte in Europa
und kam gerade aus einem Café. Ohne darauf zu achten ging ich auf die Straße und wurde von
einem von rechts kommenden Laster erfasst. Ich fühlte mich aus meinem Körper gleiten, während
ich ihn, meinen Körper, auf der Straße liegen sah. Blut strömte stark aus meiner rechten Kopfseite.
Als ich anfing höher über dieser Szene zu schweben, spürte ich, dass dies mein Sterben bedeutete,
ich aber meinen Körper noch nicht verlassen wollte. Ich glitt zurück hinein in meinen Kopf. In
diesem Augenblick fühlte ich einen entsetzlichen Schmerz in der zerschmetterten rechten
Schädelhälfte. Der Schmerz war zu heftig. Ich ließ los, glitt wieder hinauf und hinfort. Seit Beginn
meines jetzigen Lebens hatte ich oft schreckliche, migräneartige Kopfschmerzen auf meiner rechten
Kopfseite, so dass ich mich manchmal vor Schmerz wie ein Ball zusammenkrümmte. Ich erinnere
mich noch sehr gut an eine dieser Kopfschmerz-Attacken, als ich fünf oder sechs Jahre alt war.
Meine Mutter ging mit mir zum Arzt, aber dieser konnte keine physische Ursache finden. Als junger
Erwachsener hatte ich dann viele Jahre später eine Therapiesitzung mit einer Rückführung ins
vorige Leben. Dabei erinnerte ich mich an jenen vorangegangenen Tod. Nachdem ich meinen
gewaltvollen Tod detailliert erinnert hatte, verschwanden diese Kopfschmerzen für immer. Ich
beschreibe diese Geschichte genauer sowie weitere Erinnerungen an frühere Leben in meinem
zweiten Buch, Der Weg des Lichtes. Diese Erinnerungen hatten machtvolle und tiefgreifende
Verbindungen zu gegenwärtigen Lebensumständen und Neigungen. Für mich ist es keine Frage, ob
ich viele male zuvor gelebt habe.

Frage: Wie kann ich diese Quantenintelligenz für mich selbst entwickeln?

Antwort: Insbesondere durch das Studium der Informationen, die hier in Kapitel Fünf vorgestellt
werden. Alle drei von mir präsentierten Methoden sollten ausreichen. Im Appendix finden sich
detaillierte Meditationsanleitungen, wie die Übung „Das Weisheitsauge öffnen.“

Was ich jedoch als die Essenz der Erleuchtung betrachte, also die wahre Kernunterweisung, die
direkt ins Mark trifft, ist das Erkennen „des Wissenden oder der erkennenden Qualität“ innerhalb
jeglicher Erfahrung. Während jeder Erfahrung, seien es mentale Gedankenphänomene, innere
Bilder und Gefühle oder Phänomene der Wahrnehmung durch die fünf Sinne, ist ein erkennendes
Wissen ständig gegenwärtig. Indem wir uns mit dieser grundlegend wissenden Qualität bekannt
machen, wird sie zunächst als „Zeuge“ der Erfahrung definiert. Dieses Wissende scheint erst
einmal getrennt von unseren Erfahrungen zu sein. Bei genauer Betrachtung bemerken wir anfangs,
dass es sich nicht nur um ein bloßes erkennendes Wissen handelt, sondern dass es ein subtiles
Gefühl von Identität aufweist, also etwas wie „ich weiß“. Wenn wir dann dieses Ich-bin-Gefühl
noch näher betrachten, entdecken wir schließlich eine vollständig integrierte Geschichte
persönlicher Identität. Wir entdecken, dass diese Geschichte völlig durch unsere individuelle
Gedanken aufgebaut ist. Sie stellen sich als miteinander verwobene Erinnerungen und innere
Bilder dar. Wenn wir dann jeden Gedanken und jedes Bild untersuchen, entdecken wir, dass keines
davon irgendeine bleibende Substanz oder Festigkeit hat. Wir entdecken die leere Seite aller
Gedanken als gemeinsamen Nenner: leer, sich stets wandelnd, ohne innewohnende, ohne
unabhängige Existenz. An irgendeinem Punkt erkennen wir weiter, dass unser Gefühl von einer
persönlichen Identität auch deswegen leer ist, weil sie nichts weiter ist als unsere leeren,
substanzlosen Gedanken über eine Identität. Wir entdecken, dass weder den Gedanken noch der
zugeschriebenen Identität irgendeine eigenständige Substanz oder irgendetwas dauerhaft Festes
innewohnt.

Wenn der Geist erkennt, dass dieses „Ich-bin“-Gefühl als ein getrenntes, beobachtend Wissendes
eine bloße Vorstellung, also ein schlichtes Spiel leerer Gedanken ist, kann ein Augenblick
unübertroffener Klarheit entstehen, in dem das unpersönliche nackte Wissen jeglicher Erfahrung
sich selbst im bewussten Gewahrsein offenlegt. Es ist dieses nackte Wissen ohne irgendein Gefühl
von persönlichem Bezug, welches unser wahres erleuchtetes Wesen ist. Es ist eher wie bewusster
Raum als irgendeine Art ortsgebundene Einheit. Einmal erkannt, führen wir unser Bewusstsein
immer wieder in die Ruhe dieses nackten Wissens, frei von persönlicher Selbstdefinition, bis wir
darin Stabilität erlangen. Eine Weisheit, eine Gnosis erwacht dann mit jedem frischen Moment des
Erkennens, welches die innerste Natur des Seins offenlegt, also jenen natürlichen Zustand des
bewussten Wissens. Diese sich von selbst ergebende Weisheit ist die Weisheit der Erleuchtung:
Erleuchtet zu sein bedeutet zu erkennen, dass das ursprüngliche Wissen als reines Gewahrsein jene
Quantenintelligenz ist, die von Anfang an immer gegenwärtig war und ist und niemals verborgen
oder einem Wandel unterworfen ist.
Kapitel Sieben

Integration: Das Verschmelzen von Weisheit, Liebe und Leben

„[…] das Sehen meines Auges […] ist […] dasselbe wie das, was da gesehen wird mit dem Auge.
Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und
Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.“
(Predigt 12 von Meister Eckhart)

Wir können Sein und Gewahrsein nur bis zu einem bestimmten Punkt besprechen. Er ist erreicht,
wenn unser Geist auf das Ruhen als aufmerksames und waches Gegenwärtigsein ausgerichtet wird,
das vollkommen entspannt ist. Wir haben kein Thema mehr im Geist. Wir sind einfach und
beobachten, ohne über unsere Erfahrung nachzudenken oder zu urteilen. Allem wird erlaubt zu sein,
wie es ist. Das gilt innerlich für Gedanken, Gefühle sowie Wahrnehmungen und äußerlich für
Ereignisse und Geschehendes. Lass Dinge geschehen. Lass sein. Indem sich im Geschehen-lassen
einige Fertigkeit ansammelt, entsteht spontan ein klarer Bewusstseinszustand. So wie sich diese
Klarheit vertieft, entsteht auch ein Gefühl von tiefgehendem Wissen dafür, wer und was du
spirituell bist. Indem du es so lässt, wie es ist, löst sich das Gefühl ein Beobachtendes zu sein auf.
Es geschieht das perfekte nicht-dualistische Verschmelzen von Gewahrsein und dessen
Wahrnehmungsfeld. Dies wird als Eins-sein empfunden. Weiterhin belässt du diesen Zustand des
Einsseins einfach so, wie er ist. Das führt gerade zu einem weiteren Zustand unbeschreiblich
lebendiger Durchscheinendheit oder Transparenz, als ob du selbst ein klares rahmenloses Fenster
wärest.

Ab irgendeinem Punkt tritt der denkende Geist wieder hinzu mit dem Versuch, intellektuell zu
verstehen, was da gerade passiert ist. In diesem Moment des mentalen Ergreifens taucht der
dualistische Zustand von Subjekt und Objekt wieder auf. Durch ein unterschwelliges gedankliches
Entspannen löst sich das subjektive Gefühl eines Selbst auf und jene Transparenz ist wieder da. Die
fünf Sinne sind offen und wach, aber ohne das Gefühl eines Jemand, der sieht und hört. Da ist
schlicht nacktes Sehen, Hören, Fühlen und Wahrnehmen. Der Geist ist völlig ruhig in Klarheit
sowie Gegenwärtigsein und dennoch vollkommen entspannt. Es wird dann in diesem natürlichen
Gleichgewicht des Hin-und-herpendelns fortgefahren ohne Ziel und Anstrengung.

Einst näherte sich Bahiya dem Buddha und bat ihn darum, jene Einsicht zu offenbaren, die für das
Erkennen der Erleuchtung nötig ist.

„Lehre mich den Dhamma (die höchste Wahrheit), oh Gesegneter! Lehre mich den Dhamma, oh Du
Einer, erfolgreich Gegangener, die für mein langfristiges Wohl und meinen langfristigen Segen sein
werden!

Der Buddha antwortete: ,Dann, Bahiya, solltest du dich in folgendem üben: In Bezug auf das
Gesehene wird da nur das Sehen sein. In Bezug auf das Gehörte nur das Hören. In Bezug auf das
Gefühlte nur das Fühlen. In Bezug auf das Gedachte nur das Denken. So ist es, wie du üben sollst.
Wenn für dich nur noch das Gesehene bezüglich des Gesehenen da ist, nur noch das Gehörte
bezüglich des Gehörten, nur noch das Gefühlte bezüglich des Gefühlten, nur noch das Gedachte
bezüglich des Gedachten, dann Bahiya, gibt es kein „du“ mehr im Sinne von diesem, ist kein „du“
mehr da, du bist weder hier noch dort drüben noch zwischen den beiden. Dies, schlicht dies, ist das
Ende von Samsara (Leiden).´

Indem er diese kurze Erklärung des Dhamma (höchste Wahrheit) von dem Gesegneten hörte, war
Bahiyas Geist in diesem Augenblick befreit. Nachdem er diese Belehrung Bahiya gegeben hatte,
ging der Gesegnete.“
Dies ist die Belehrung, einfach das Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen und Denken
zuzulassen, geschehen zu lassen, ohne weitere Gedanken und Geschichten darüber eingreifen zu
lassen. Dazu gehören auch die unterschwelligen Gedanken, wie ich sehe, ich höre oder ich denke.
Es werden sich auch keine weiteren Gedanken zusätzlich zu den wahrgenommenen gemacht. Eine
Gedanken-Erscheinung wird nur bemerkt, wie jede andere Sinneswahrnehmung. Es gibt kein „Ich-
denke“-Gefühl oder „meine Gedanken“. Gedanken tauchen einfach auf, indem sie kommen und
gehen, ohne Besitzer. Sei schlicht auf nackte Art gewahr ohne einen Mittelpunkt eines
Selbstbewusstseins, wie ein neugeborenes Kind die Welt erfahren würde.

Falls und wenn im Geist wieder die Neigung auftaucht Gedankliches festhalten zu wollen und
damit auch ein zentraler Standpunkt subjektiver Erfahrung als ich bin, dann empfindest du dich
eventuell als getrennt vom gesamten Wahrnehmungsfeld. Wenn du dieses Festhalten-wollen
entspannst, entsteht der Zustand des Eins-seins wieder von neuem. Dies ist die Kunst unserer
Praxis. In dieser subtilen Kunst wird fortgefahren, bis der Geist nicht mehr versucht die laufende
Erfahrung gedanklich festzuhalten. Ebenso ist es überflüssig, sich darüber Sorgen zu machen, wie
denn eine ganzheitliche Integration aufrecht zu erhalten sei und wie sie vor dem Verschwinden
bewahrt werden könnte.

Stelle dir vor, du befändest dich in einem Fluss, würdest auf das Angenehmste und in verspielter
Stimmung mit der Strömung treiben. Plötzlich stündest du alleine am Ufer, würdest zittern und
wärest nass. Du fragtest dich, wie das denn passiert sei. Du verstündest einfach nicht, wie du ganz
schlicht zurück ins Wasser springen könntest. Du wärest nun ein Zuschauer an der Seitenlinie.
Unser natürlicher Zustand ist dabei fließendes Eins-sein vollkommen integriert als Fluss. Durch das
Handeln der geistigen Energie des Festhaltens entsteht dann der Subjekt-Objekt-Gegensatz. In
diesem Augenblick nimmt das Bewusstsein einen spezifischen Blickwinkel ein. Es wird selbst-
bewusst und nimmt die Welt der Erfahrungen als von sich als Selbst-Bewusstsein getrennt wahr.
Wenn wir das Getrennt-sein empfinden, ergibt sich auch ein Gefühl von Gespalten-sein oder
Zersplitterung, irgendeine Art von Leiden ist nicht mehr weit und unsere spirituelle Suche, die
Rückkehr zur Ganzheit beginnt.

Ich schlage nun vor, diesen Augenblick des Getrennt-seins als das Entstehen von Selbst-
Bewusstsein zu benennen. Ein subjektiver Selbst-Blickwinkel entsteht im Bewusstsein, wenn es
erkenntnismäßig nicht mehr in das allumfassende Erfahrungsfeld integriert ist. Anstatt dessen
beobachtet dieses Selbst-Bewusstsein die Erfahrung zusammen mit einer festen Vorstellung von
einem getrennten Ich und einer davon getrennten Welt. Diese abgetrennte Welt wird dann
selbstbewusst beobachtet. Interessant ist dabei, dass dieser Prozess nicht irgendetwas ist, was sich in
unserer übersinnlich kosmischen Vergangenheit abspielte. Vielmehr ereignet sich diese scheinbare
Trennung andauernd gemeinsam mit dem Sich-auflösen hinein in das Eins-sein.

Mit Hilfe unserer Praxis und Einsichten können wir ein klares intuitives Wissen vom bewussten
Sein erlangen. Wir können uns dann fragen: „Was macht das Sein?“ Unser Leben besteht nicht
darin, einfach in einem starren Zustand entrückt von Bewegung und Handeln zu leben. Wir wohnen
in Körpern, die ständig Dinge in dieser Welt tun.
Wo berühren sich die Bereiche des Seins und des Tuns? Ist es möglich vollkommen mit unserem
Tun Eins zu sein? Ich empfehle diesen integrierten Zustand täglich während unseres Tuns zu
erfahren; am besten sogar häufiger während alltäglicher Handlungen als in den Momenten der
Ruhe.
Wir glauben, dass wir in unserer Meditationshaltung in perfekter Ruhe sitzen müssen, um Eins-sein
oder Erleuchtung erlangen zu können. Wir verpassen die Augenblicke vollkommenen Eins-seins,
die laufend tagsüber da sind, weil wir während dieser Augenblicke im Eins-sein sind. Wenn du
wirklich drin bist, wird Eins-sein nicht bemerkt. Ansonsten wärest du außerhalb des Eins-seins und
würdest darauf blicken.

Eine passende Analogie könnte die Konzentration auf eine Aktivität sein, in der du völlig aufgehst.
Das kann eine Sportart sein, artistische Bemühungen, Sex haben oder Abwaschen. Wenn du völlig
beschäftigt bist, bist du Eins mit dem Handeln, mit dem Tun. Du vergisst dichselbst vollkommen im
Tun. Das ist authentisches Eins-sein. Deshalb haben sich viele Zenmeister immer wieder für
körperliche Arbeit oder Putzen als gute Zenpraxis eingesetzt. Du wirst völlig Eins mit deinem
Handeln. Dies ist der Zweck aller asketischen – und kampfkünstlerischen Zenpraktiken, wie
Pinselmalerei, die Teezeremonie, Blumenstecken, Kendo, Zen-Bogenschießen und Aikido, die wohl
am meisten bekannte Zenkunst. Die Praxis besteht darin einen Zustand frei von allem Selbst-
Bewusstsein zu erlangen. Dies ist eben der Zweck der Zenmeditation. Es gibt also auch einen
anderen Weg außerhalb der Meditationspraxis im Sitzen, um diesen ursprünglichen Zustand von
Eins-sein zu entdecken. Das Eins-sein mit Hilfe einer Aktivität zu entdecken ist im Alltag sogar
noch kraftvoller. Dann ist alles, was du tust, deine Praxis.

Seit einigen Jahren wird dieses angenehme völlige Verschmelzen mit unseren alltäglichen
Handlungen „im Fluss sein“ oder „being in the zone“ genannt. Es ist keine absichtlich fokussierte
Achtsamkeit, um besonders selbstbewusst zu sein, damit wir uns selbst zwanghaft im Handeln
vergessen könnten.

Buddhismus zu studieren heißt das Selbst zu studieren. Das Selbst zu studieren bedeutet, das Selbst
zu vergessen. Das Selbst zu vergessen führt dazu, durch alle Dinge erleuchtet zu werden.
Dogen Zenji, Japan im 13. Jahrhundert.

Eugen Herrigel zeichnete seine Erfahrungen beim Lernen mit einem Zenmeister auf, der auch ein
Kyudo-Meister war, also in der Kunst des Bogenschießens. Herrigel lernte dabei, dass das
persönliche Selbst und jeder beabsichtigte Wille aus der jeweiligen Handlung herausgenommen
werden müssen, um die letztendliche Vollendung im Ausführen zu erlangen. Wenn das geschieht,
scheint die Handlung von alleine zu erfolgen. Eine „höhere Macht“ innerhalb und zugleich jenseits
von einem selbst zeigt sich. Die höhere Macht leitet die Aktion ohne irgendeine Störung durch den
persönlichen Willen. Der Meister nannte diese höhere Macht „Es“. Er sagte beispielsweise, „lass Es
die Handlung führen.“ Idealerweise ergibt sich ein spontanes Handeln von alleine mit einem
perfekten Ergebnis.

Nach Jahren des Trainings war es Herrigel möglich, die Wirksamkeit dieser selbst-losen Methode
des Handelns mitzuerleben. Der Meister lud ihn eines Nachts ein, mit ihm in den Schießstand zu
kommen. Herrigel erinnerte sich an die abendlichen Ereignisse:

„Ich nahm ihm gegenüber auf einem Kissen Platz. Er reichte mir Tee, sprach aber kein Wort. So
saßen wir eine lange Weile da. Nichts war zu hören als das singende Brodeln des kochenden
Wassers über glühenden Kohlen. Endlich erhob sich der Meister und gab mir einen Wink, ihm zu
folgen. Die Übungshalle war hell erleuchtet. Der Meister hieß mich eine Moskitokerze, lang und
dünn wie eine Stricknadel, vor der Scheibe in den Sand zu stecken, das Licht im Scheibenstand
jedoch nicht anzuknipsen. Es war so dunkel, dass ich nicht einmal dessen Umrisse wahrnehmen
konnte, und wenn nicht das winzige Fünklein der Moskitokerze sich verraten hätte, hätte ich die
Stelle, an welcher die Scheibe stand, vielleicht geahnt, aber nicht genau auszumachen vermocht.
Der Meister „tanzte“ die Zeremonie. Sein erster Pfeil schoss aus strahlender Helle in tiefe Nacht.
Am Aufschlag erkannte ich, dass er die Scheibe getroffen habe. Auch der zweite Pfeil traf. Als ich
am Scheibenstand Licht gemacht hatte, entdeckte ich zu meiner Bestürzung, dass der erste Pfeil
mitten im Schwarzen saß, während der Zweite die Kerbe des ersten Pfeiles zersplittert und den
Schaft ein Stück weit aufgeschlitzt hatte, bevor er sich neben ihm ins Schwarze bohrte. Ich wagte
nicht, die Pfeile einzeln herauszuziehen, sondern brachte sie mitsamt der Scheibe zurück. Der
Meister schaute sie prüfend an. „Der erste Schuss“, sagte er dann, „sei kein Kunststück gewesen,
werden Sie meinen, ich sei doch mit meinem Scheibenstand seit Jahrzehnten so vertraut, dass ich
sogar bei tiefstem Dunkel wissen müsse, wo sich die Scheibe befindet. Das mag sein, und ich will
mich nicht auszureden wissen. Aber der zweite Pfeil, der den ersten traf – was halten Sie davon? Ich
jedenfalls weiß, dass nicht „ich“ es war, dem dieser Schuss angerechnet werden darf. „Es“ hat
geschossen und hat getroffen. Verneigen wir uns vor dem Ziel als vor Buddha!“

Ähnliches sagte der Apostel Paulus:

„Nicht mehr ich selbst lebe, sondern es ist Christus, der in mir lebt.“

Wir können genauso gut sagen:

„Nicht mehr ich selbst lebe, sondern Es lebt in mir und Es ist das Handelnde.“

Es geht darum, dass hier ganz sicher eine höhere Macht wirkt, die Großes mühelos erreicht, wenn
sie nicht persönlich beeinträchtigt wird.

„Es gibt ein Ding - im Mischmasch vollbracht,


vor Himmel und Erde lebendig gemacht.
Welche Stille! Welche Leere!
Allein steht es fest und ändert sich nicht.
Es kann (des) Himmels und (der) Erde Mutter sein.

Ich kenne nicht seinen Namen.


Man bezeichnet es „Dao“.
[…] gezwungen, ihm einen Namen zu geben, sagte ich „Größe“.
[…]“ (Laotse)

Wenn unser Leben in allen Handlungen vollkommen frei von Selbst-Bewusstsein verläuft, strömt
unser Leben harmonisch in Freude und Zufriedenheit. Frei von Selbst-Bewusstsein zu sein ist
gleichbedeutend mit der Abwesenheit vom Ich. Die Energie des Ichs verwandelt sich in die reine
Klarheit fürsorglichen Handelns vollkommen im Hier und Jetzt. Das heißt nicht, dass wir uns mit
spirituellen oder religiösen Handlungen oder humanitärem Engagement beschäftigen müssen. Jede
Aktivität mit einem Gefühl freudvollen Einsatzes und in völliger Abwesenheit von Selbst-
Bewusstsein zählt. Es kann so weltzugewandt sein wie Autowaschen, Sport betreiben, in einer
wunderschönen Landschaft zu wandern oder jemanden zu lieben. Was auch immer es ist, ein
vollkommenes Absorbiertsein in die Handlung ist es und eben frei von Druck oder Zwang in diesem
Zusammenhang. Wenn diese Momente erst einmal recht genossen werden, wird es möglich, die
achtsame und nackte Gegenwart allem zuzuwenden, was wir tun. Der Schlüssel besteht also darin,
jegliches Tun in einem Zustand absoluter Abwesenheit von Selbst-Bewusstsein geschehen zu
lassen. Es ist also nicht so schlau „nachzuschauen“, ob du die Abwesenheit von Selbst-Bewusstsein
während des Tuns „fühlen“ kannst. Das wäre gleichbedeutend damit, selbstbewusst zu werden, um
das Freisein von Selbst-Bewusstsein bemerken zu können.

Erinnere dich, dass kein innerer Zeuge die Qualität einer Handlung bemerkt, wenn sich das Ich als
Selbst-Bewusstsein in erkennende Handlungsenergie verwandelt. Ein guter Indikator für einen
Moment der Abwesenheit von Selbst-Bewusstsein ist eine bemerkte Zeitverschiebung. Nach so
einer Erfahrung fragen Leute oft: „Whow, was ist mit der Zeit passiert?“ Es war ein zeitloser
Augenblick, weil es ohne das Ich als Selbst-Bewusstsein keine Zeit gibt.
Immer wieder erfahren Menschen Augenblicke außerhalb der Zeit in völligem Eins-sein und in
Abwesenheit vom Selbst ohne sich mit diesem Thema beschäftigt zu haben, es studiert oder je
meditiert zu haben! Indem du anfängst solchen Augenblicken des Eins-seins bewusster gewahr zu
sein, beginnst du die unterschwelligen und zarten Eigenschaften des Flusses zu bemerken,
vergleichbar mit dem Fließen des Tao (Dao). Du lebst so im Fließen, wie du der Fluss bist – also
das Fluss-sein – in allem, was du tust.

Indem du im natürlichen Fluss des Lebens lernst frei von Selbst-Bewusstsein zu leben, beginnt eine
Verschiebung der Ausrichtung. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich vom Gewahrsein hin zum
Einwurzeln in dein eigenes Herz voller Mitgefühl und vertrauter, natürlicher Fürsorge. Von der
schillernden Klarheit des Sehens und der Sinneserfahrungen in der Mitte deines Kopfes, sinkt dein
Bewusstseinszentrum hinab in die Tiefen des Herzens. Dort entfaltet sich Frieden, Seeligkeit, Glück
und Freude. Diese Herzensqualitäten sind kein Ergebnis perfektionierter tugendhafter Handlungen,
sondern sie wohnen bereits deinem Sein inne. Durch das einfache Einladen deines Bewusstseins
hinein in dein Herz erkennst du dein dir allervertrautestes Wesen. Du erkennst den Grund dafür,
warum du lebst. Du erkennst deinen Sinn des Seins. Göttliche Weisheit, Frieden und eine Ruhe
breiten sich im Herzen aus, welches nur auf die Ankunft deines Bewusstseins gewartet hat. Viele
Traditionen berichten von dieser Weisheit und dem Herz als Sitz des Göttlichen im Menschen.

Vor einigen Jahren hatte ich einen lichten Traum, der den Weg des spirituellen Herzens sowie unser
Licht des Gewahrseins versinnbildlichte. Ich möchte diesen Traum hier mitteilen.

„Ich fand michselbst hoch über den wunderschönen Na Pali-Klippen auf Kauai, Hawaii, fliegend
wieder. Es war ein warmer klarer Himmel über tiefem azurblauen Wasser. Ich schaute hinab und sah
das durch Wellen gebrochene Sonnenlicht glitzern. Mir wurde bewusst, dass ich völlig nackt war
und in der erwärmten Thermik der Luft glitt, die unter meine ausgestreckten Arme griff und mich
trug. Es war ein Augenblick vollkommener Freude und Freiheit, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt
hatte. Eine satt-smaragdgrüne Üppigkeit bedeckte die Vulkanklippen, die sich mehr als dreihundert
Meter zur Küste unter mir erstreckten, und war durchdrungen von vibrierendem Leben und einem
Drang zu wachsen und zu überleben. Ich nahm das alles in mir auf, wie eine Liebhaberin in
vergnüglicher Freude nach Luft schnappt, das trunken machende Panorama einatmend. Ich
wünschte mir, dass der Moment nie vergehen sollte und versuchte ihn für immer in mir zu behalten.
Im gleichen Augenblick erhob sich der Gedanke: „Wie kann ich überhaupt so hoch in der Luft
fliegen …, so ohne Flügel oder sonstige Hilfsmittel?“ Mit diesem Gedanken begann ich zu fallen.
Ich drehte ab und wirbelte ein wenig herum, während ich auf das Wasser unter mir zufiel. Ich hatte
das Gefühl, ich sollte beim Aufprall mit dem Gesicht nach oben und mit ausgestreckten Armen und
Beinen landen. Dann hatte ich unvermittelt das ruhige Gefühl, alle Todesangst loszulassen, alles zu
lösen sowie zu entspannen und mich der Vollkommenheit allem anzuvertrauen, was mir dazu riet.

Nachdem ich tausend Meter gefallen war, verschmolz mein Körper schließlich mit dem Meer. Es
war ein sanftes Eintauchen ohne Schmerzen und ohne irgendeinen Bruch im Bewusstsein. Ich sah
und fühlte alles klar und deutlich. Ich sank unter den Wellen hinab in die Tiefe und schaute nach
oben hin zum strahlenden Sonnenlicht, das sich an der Oberfläche der Wellen brach. Ich fühlte mich
weiter in die Tiefe gezogen und der warme Sonnenschimmer verblasste. Helligkeit verwandelte sich
allmählich in Dunkel und Dunkelheit langsam in Schwärze, in ein tiefes Schwarz, wie ein gläsern-
kristallartiges Schwarz. Jegliches Gefühl von Selbst löste sich auf, jedoch nicht jenes umfassende
Gefühl dafür, einfach zu Sein. Trotz der Schwärze fühlte ich mich umarmt und geborgen von einem
Empfinden vollkommener Liebe und Angenommenseins. Eine Ruhe und ein Frieden war da, den
ich nimmer missen wollte. In diesem Augenblick und zusammen mit diesem Gedanken erhaschte
ich einen Lichtschimmer von oben. Die Dunkelheit wurde durchdrungen von Licht, das in
Zusammenarbeit mit der Schwärze unter mir wirkte. Das Licht zog mich nach oben aus den Tiefen
hinein in sein Strahlen und seine Wärme. Meine Welt wurde hell und durchscheinend und erfüllte
die Wasserumgebung um mich mit einem sanften Licht. Das Licht selbst schien vor Lebendigkeit zu
vibrieren. Es lud mich ein in sein auserwähltes Reich reiner Seeligkeit und bedingungsloser Freude.
Wie der Tag die Nacht verdrängt, so überstrahlte ein Gefühl von völliger Klarheit und Bewusstsein
die sich zurückziehende Dunkelheit.

In diesem Augenblick wachte ich auf. Ich lag in meinem Bett auf dem Rücken wie in diesem
Traum, meine Augen öffneten sich plötzlich und ich blickte nach oben an die Zimmerdecke. Etwas
war anders geworden. Mein Blickwinkel hatte sich verschoben. Das Gefühl, ich würde vom Inneren
meines Kopfes aus durch die Augen hinausgucken, wich dem Empfinden, dass mein bewusstes
Wahrnehmen in meinem Herzen zentriert war. Ich schaute von meinem Herz aus durch meine
Augen. Das gleiche Gefühl unaussprechlichen Friedens und großer Freude durchströmte mich, wie
in dem Traumzustand des tiefsten und stillsten Ortes der Dunkelheit. Ich hatte keine Lust
aufzustehen. Jenes Gefühl friedvoller Freude war so intensiv. Dennoch stand ich auf und machte
mich fertig für den Tag. Dieses Empfinden, in meinem Herzen in einem Zustand tiefen Friedens und
Glückseeligkeit zu ruhen, dauerte mehrere Tage. Später fand ich mich eher scheinbar hinter meinen
Augen positioniert zu sein. Ich konnte mich immer wieder entspannen und mein Bewusstsein in
mein Herz sinken lassen, um Friede und Freude mich durchströmen zu lassen, die immer auf das
sich hingebende Bewusstsein warteten.“

Dieser Traum fasst alle Stationen meiner Suche nach der tiefgründigsten Weisheit sinnbildlich
zusammen. Er zielt auf das Verstehen meines eigenen inneren Wesens und die unwandelbaren
Qualitäten reinen Seins. Von dem Höhenflug im sinnlichen Bereich mit seiner unendlichen
Schönheit und purer Freude hinein in die Tiefe des Nichtwissens und in die dunkelste Nacht weiß
ich dabei stets, dass alles von oben bis unten mit unserer eigenen immer strahlenden Liebe und
Helligkeit durchdrungen ist.

In vielen aktuellen Belehrungen zu Achtsamkeit und Nicht-Dualität wird das spirituelle Herz und
seine Bedeutung für den Weg zur Befreiung nicht wirklich verstanden. In vielen mystischen
Traditionen erfährt das spirituelle Herz eine besondere Beachtung. Daher dachte ich, dass eine
detailliertere Erforschung dieses wichtigen Themas recht sinnvoll sein könnte.

Einer der berühmtesten Anhänger der indischen Advaita-Vedanta Tradition, Ramana Maharshi,
bezieht sich häufig auf die Idee, dass ein übergeordnetes Selbst oder Gott auf mystische Weise im
Herzen wohnt. Dieses ist nicht mit dem physischen Herz gleichzusetzen. Es wird oft als
Energiezentrum oder Chakra beschrieben in der Nähe unseres physischen Herzens und als Zentrum
unseres Wesens. Ramana Maharshi ist dabei mit seiner Ansicht auf keinen Fall alleine.

„Was als Herz bezeichnet wird, ist nichts anderes als Brahman (Gott) ...“

„Wie auch immer du es nennst, Gott, Selbst, das Herz oder den Sitz des Bewusstseins, es ist immer
das gleiche. Der wesentliche Punkt ist, dass das HERZ eben jenen Kern eines jeden Wesens
bedeutet, das Zentrum, ohne das überhaupt garnichts da wäre. (Ramana Maharshi)

„Der strahlend helle Brahman (Gott) verweilt in der Höhle des Herzens und ist dafür bekannt, sich
dort zu regen. Es ist die große Quelle, weil darin der Kern von allem liegt, was sich bewegt, atmet
und zwinkert.“ (Mundaka Upanishad, Zweite Mundaka 2:1)

„Das Selbst ist in der Lotusblüte des Herzens versteckt. Jene, die sich selbst in allen Wesen
erkennen, wandeln tagtäglich im Bereich Brahmans, der sich im Herz verbirgt. In Frieden
gegründet, erheben sie sich über das Körperbewusstsein hinauf zum obersten Licht des Selbst.
Unsterblich, frei von Angst, ist dieses Selbst Brahman, der Wahrhaftige genannt. Jenseits der
Sterblichen und Unsterblichen umfasst er beide Welten. Diejenigen, die dies erkennen, leben hier
und jetzt tagtäglich im Himmel.“ (Eknath Easwaran (Übers.): The Upanishads, Petaluma, CA. 1987.
Nilgiri Press, darin Chandogya Upanishad 8:1.1 2 4.3.)

„Dieses Herz in uns ist Gott selbst.“ (Die Brihadaranyaka Upanishaden)

„Der Weise, der durch die Methoden der höchsten Meditation über das Selbst jenes uralte Eine
erkennt, schwierig wahrzunehmen, welches in der innersten Höhle verweilt, versteckt in der Höhle
des Herzens, das in den Tiefen des inneren Seins lebt, er, der dieses Eine als Gott kennt, wird von
den Fesseln der Freude und des Leides befreit.“ (Katha Upanishaden, Vers 12)

Die Sufis im islamischen Mystizismus sehen Gottes Aufenthaltsort auch im Zentrum des Herzens.
Jene östlichen christlich-orthodoxen Lehren, die als Hesychasm bezeichnet werden, sehen es auch
so, dass Gott gefunden werden kann, indem das im Kopf verortete bewusste Wahrnehmen, das
Nous, hinunter ins Herz geführt wird. In der jüdisch-orthodoxen Kabbalah regiert die letztendliche
Gottesnatur Ain Sof ebenfalls im spirituellen Herzen.

Rumi, ein mystischer Sufi des 13. Jahrhunderts, schrieb dazu:

„Nur aus dem Herzen heraus kannst du den Himmel berühren. […] Je tiefer du im Herzen lebst,
desto klarer und reiner wird der Spiegel. […] Ich suchte nach Gott unter den Christen und beim
Kreuz und fand Ihn dort nicht. Ich betrat die alten Tempel mit den Ritualen für die alten Götter.
Keine Spur von Ihm war dort … Schließlich schaute ich in mein eigenes Herz und dort sah ich Ihn;
Er war nirgendwo anders.“

In der östlichen christlich-orthodoxen Tradition gibt Sankt Theophan der Einsiedler im 19.
Jahrhundert folgende Hinweise:

„Du musst aus deinem Kopf heraus und in dein Herz kommen. Jetzt gerade sind deine Gedanken in
deinem Kopf und Gott scheint außerhalb von dir zu sein. Deine Gebete und all deine spirituellen
Übungen bleiben ebenso äußerlich. Solange du in deinem Kopf bleibst, wirst du niemals deine
Gedanken meistern, die weiter in deinem Kopf umherwirbeln werden, wie Flocken in einem
winterlichen Schneesturm oder Mücken in der Sommerhitze. Wenn du in dein Herz herabsteigst
wirst du keine weiteren Probleme haben. Dein Geist wird sich leeren und deine Gedanken sich
auflösen. Die Gedanken in deinem Geist werden stets umherjagen und du wirst sie niemals unter
Kontrolle bringen. Wenn du jedoch in dein Herz eintrittst und dort verweilen kannst, werden sie
sich in Luft auflösen. Jedesmal, wenn Gedanken eindringen, brauchst du dich nur in dein Herz
herabsinken zu lassen und die Gedanken werden sich auflösen. Dies wird dein sicherer Himmel
sein. Sei nicht faul. Sinke hinab. Du wirst Leben in deinem Herzen finden. Dort sollst du wohnen.

Aufmerksamkeit für dasjenige, was sich im Herzen regt und daraus hervorgeht – dies ist das
hauptsächliche Handeln eines angemessenen christlichen Lebens.“ (Zitate des russisch-orthodoxen
Mönches und Bischofs St. Theophan der Einsiedler im 19. Jahrhundert)

Sowohl die tibetische Dzogchen-Tradition als auch die ursprünglich-tibetische Bön-Religion lehren,
dass der letztendliche Seinsgrund im Herzen wohnt. In diesen Traditionen wird das Herz als Mutter-
Licht bezeichnet, unser bewusstes Wahrnehmen im Kopf als Kind-Licht. Es wird gelehrt, dass sich
das Kind-Licht ursprünglich aus dem Mutter-Licht erhob. Vollständige Erleuchtung geschieht
demnach, wenn das Kind-Licht wieder in das Mutter-Licht im Herzen hinein verschmilzt. Die zwei
waren tatsächlich niemals getrennt. Der Geist aber erschafft den Anschein von Getrenntsein. Wenn
unser Körper stirbt, schaut unser Kind-Licht, also unser Bewusstsein, das strahlend scheinende
Mutter-Licht am Ende des Kristallkanals, der den Kopf mit dem Herz verbindet. Es scheint, als ob
wir in einen Lichttunnel und direkt ins Herz blicken.
Dieser Tunnel wird auf Tibetisch Kati genannt, der kristallene Lichtkanal. Das Kind-Licht als unser
Bewusstsein sieht das glänzend weiße Mutter-Licht, sieht das Strahlen unserer ureigenen Wärme
und bedingungslosen Liebe am Ende des Kristallkanals im Mittelpunkt des Herzens. Das Kind
„fliegt“ der Mutter entgegen und verschmilzt mit ihr, dem Ursprung des Bewusstseins, im Herz.
Dies ist vollständige und anhaltende Erleuchtung. All das kann auch zu Lebzeiten eines Menschen
erlangt werden, geschieht jedoch nur sehr selten. Wir würden so eine Person als „vollkommen
herzlich“ empfinden.

Alle Übungen in der tibetischen Dzogchen-Tradition zielen auf dieses Ergebnis. Unser Gefühl von
Getrenntsein ist allein eine gedanklich konstruierte Trennung zwischen Kind- und Mutter-Licht,
jenem klaren Licht unseres absoluten Wesens. Der verlorene Sohn oder die verlorene Tochter kehrt
letztendlich Heim.

Wenn unser Bewusstsein vollständig in unser Herz eintritt, erfahren wir eine deutliche
Andersartigkeit des Seins. Dieses Gefühl des Getrenntseins fehlt. Diese Dualität zwischen einem
unabhängig empfundenen und örtlich gebundenen Selbst-Bewusstsein und unserer absoluten
Wesenheit hat sich aufgelöst. Tiefer Frieden, Bereinigtsein und Freude sind da.

„Wenn der Geist irgendwann ins Herz sinkt, wird ungestörte Freude überwältigend spürbar. Da ist
dann ein Gefühl, das selbst nicht getrennt ist von reinem Gewahrsein. Als Beispiel werden Kopf
und Herz das gleiche.“ (Ramana Maharshi, GR, 80)

In diesem Moment fühlen wir, dass unser eigenstes Wesen bedingungslose Liebe ist, das reine
Erstrahlen des Eigenglanzes des Seins. Wir müssen garnichts machen, um es zu bekommen. Es ist
und war immer da, seit Ewigkeit. Aufgrund des Eingebundenseins in unsere geistig-denkerischen
Aktivitäten und Ablenkungen haben wir uns nicht darum gekümmert, unser wahres Wesen zu
bemerken. Wie Jesus es lehrte: „Das Königreich Gottes ist in dir.“ (Bibel, Neues Testament, Lukas
17:21)

Als ich 1978 in Kathmandu in Nepal war, hatte ich das seltene Privileg, von dem tibetischen
Meister Sachyu Tulku im Swayambhu Tempel einer buddhistischen Traditionslinie zu einem
Gespräch eingeladen zu werden. Diese Traditionslinie nannte sich Karma Kagyu und hat ihre
Wurzeln in der Zeit dessen überragenden Meisters Milarepa. Er lebte in Tibet vor etwa eintausend
Jahren. Sachyu Tulku war bereits 84 Jahre alt und starb wenige Monate später. Zunächst führte er
notwendige Initiationsrituale durch, die sogenannten Ermächtigungen. Danach brachte mir sein
oberster Anleiter die einführenden Energie- und Visualisationspraktiken bei.

Wochen später, bereits zurück in den Vereinigten Staaten, hatte ich die Absicht die Hauptübung so
durchzuführen, wie ich sie beigebracht bekommen hatte. Ich setzte mich also eines Abends in
meinem Zimmer hin. Was diese Art der Praxis betraf, so war sie sehr einfach. Ich sollte einen
goldenen Buddha im Zentrum meines Herzen visualisieren. Er erschien und strahlte in goldenem
Licht. Von seinem Herzzentrum strömten Lichtstrahlen hinaus in alle Richtungen. Die Energie von
Liebe und Mitgefühl wurde so allen fühlenden Wesen im Universum überbracht. Um die
Visualisationspraxis durchzuführen musste ich zunächst das Gefühl erzeugen, dass eine
unerschöpfliche Kraft von Liebe und Mitgefühl dem Zentrum von Buddhas Herz innewohnt. Diese
Kraft konnte das Leid aller Wesen im Universum auflösen. Dies klar im Geiste, visualisierte ich das
Hinausströmen jenes kraftvollen Lichtes, das jeden Winkel des Universums erreichte. Wie ich in
dieser Visualisierung für einige Minuten verblieb, fühlte es sich plötzlich so an, als ob das Zentrum
meines Herzen aufbrach und eine Erfahrung vollkommener Liebe mein Wesen durchströmte. Solch
ein tiefes Gefühl reiner Liebe und reinen Mitgefühls hatte ich nie zuvor und auch später nicht mehr
erlebt. Diese tiefgründige spirituelle Erfahrung führte mich tief in den allerinnersten Kern meiner
Existenz. Dort entdeckte ich das Herzlicht meiner wahren Natur, ein Wegweiser, der mich immer in
die richtige Richtung führen würde.

Hier ist eine sehr einfache Meditation, die für jede und jeden die Mittel anbietet, um in das eigene
innere Heiligtum des Herzen einzutreten.
Zuerst einmal suche für die Praxis einen ruhigen Raum oder Ort auf. Nimm eine angenehme
Sitzhaltung ein: Setze dich auf einem Stuhl nieder oder auf einem Sitzkissen auf dem Boden.
Richte dich in deiner Körperhaltung so ein, dass deine Wirbelsäule aufrecht steht. Schließe deine
Augen und achte für mehrere Minuten schlicht auf das Atmen. Stelle dir beim Einatmen vor, wie
die Energie deines Atems ins Zentrum deines Herzchakras strömt, das sich mitten in deiner Brust
befindet. Atme auf diese Weise ganz sanft während du dein Herzchakra fokussierst. Wenn sich
deine mentale Energie beruhigt und du dich entspannt und offen fühlst, erinnere dich an eine Zeit,
in der du für jemanden eine starke Liebe empfunden hast. Wenn erst einmal auch nur das geringste
Gefühl von Liebe in deinem Herzen aufkommt, halte den Fokus darauf. Lass dieses Gefühl
wachsen und deine Aufmerksamkeit sich immer mehr davon anziehen lassen. Indem du geübter in
dieser Praxis wirst, sinkt deine Aufmerksamkeit und dein Bewusstsein immer tiefer hinein in den
Raum des Herzen. Es wird dir so vorkommen, als ob dein Bewusstsein vom Zentriertsein im Kopf
zu einem Ort in deinem Herzen herabsteigt. In diesem neuen Zustand entdeckst du tiefen Frieden,
Gelassenheit und liebende Freude. Vielleicht bemerkst du auch ein Gefühl, wie die Blende einer
Kamera, die sich öffnet und sich immer mehr weitet. Dies ist ein guter Hinweis dafür, dass sich
deine Praxis in die richtige Richtung bewegt. Fahre mit der Übung fort, wie oben beschrieben, und
alles weitere wird sich spontan und auf natürliche Weise entwickeln.
Wenn du möchtest, darfst du gerne diese Praxis auch so ausführen, wie ich sie ursprünglich in
Nepal unterrichtet bekam, wie einen Absatz weiter oben beschrieben. Vor allem jedoch vergiss
deine Gedanken und ihre träumerisch sich vorgestellten Geschichten. Entspanne dich vollständig
hinein in diesen klaren und wachen Herzraum deines wahren Wesens.

Nachdem ich mein Streben in diese Richtung bereits 55 Jahre ausgerichtet hatte, habe ich
festgestellt, dass der westliche Kulturkreis den Intellekt mehr wertschätzt als das Herz. Das trifft
natürlich nicht immer zu, aber ganz allgemein scheint es schon so zu sein. Wir können dennoch
erkennen, dass das Herz seine eigene Weisheit besitzt, die sich nur dann voll entfaltet, wenn der
dualistische, denkende Geist in das Klare Licht verwandelt wird. Die wichtigste Aufgabe des
Intellektes ist es, das strategische Überleben unseres Organismus´ abzusichern. Die wichtigste
Aufgabe der Weisheit des Herzens ist es, uns nach Hause zu dem uns innewohnenden Guten, dem
bereits Perfekten und der Freude zu führen. Wir sind Lichtwesen und durch das Erkennen unserer
eigenen Bewusstheit als das Klare Licht des Herzen erkennen wir zugleich, dass wir bereits zu
Hause sind.

Wenn unser bereits bestehendes Bewusstsein sich in das Wesen der uns innewohnenden Weisheit
verwandelt, sehen wir die Heiligkeit und perfekte Göttlichkeit der Welt schlicht so wie sie ist. Dabei
erhält die uns innewohnende Weisheit das bereits bestehendes Bewusstsein überhaupt aufrecht.
Unser Mandala der Erfahrungen verwandelt sich nicht in einen Raum blanker Leere. Vielmehr wird
es als das gesehen, was es immer war, nämlich ein fugen- und makelloses Netz von Beziehungen
und leuchtender Energie, die das Auge erfreut und zu spontaner, freudvoller Tatkraft inspiriert. In
diesem Raum grenzenloser Freiheit entdecken wir, dass das A und O dieser Beziehungen in Liebe
und Mitgefühl gründet. Diese sind das Herzblut und der Puls des Mandalas. Wir können dieses
Mandala über den Pfad der Weisheit oder den der bedingungslose Liebe erreichen. Die Vollendung
einer der beiden Pfade bedeutet die Vollendung beider.

Begeistern wir uns selbst auf dieser Reise durch das Öffnen unserer Herzen für die Liebe gegenüber
allen Wesen und dem Leben. Erfreuen wir uns selbst an der ganzen Pracht der Welt und tanzen wir
frei im Klaren Licht unseres eigenen Selbst-erkennens von Augenblick zu Augenblick.
Abschließend erzähle ich eine kurze Geschichte aus der tibetischen DzogChen-Tradition. Denken
wir dabei daran, dass DzogChen übersetzt „Große Perfektion“ bedeutet. Dieser Ausdruck zeigt auf
die unserem wahren Wesen innewohnende Vollkommenheit und die ganze Wirklichkeit. Diese
Große Perfektion wird nicht nur als begrenzter Zustand irgendeiner außerordentlichen spirituellen
Erfahrung erlebt. Vielmehr entdecken wir die unmittelbare Vertrautheit der Großen Perfektion in
jedem Augenblick der Erfahrung. Jeder Moment, jedes mentale Ereignis, jedes Gefühl, jede
Wahrnehmung ist eine Erscheinung und ein Ausdruck des perfekten Buddhawesens, wie auch
immer es in dem Augenblick wirkt.

„Nyoshul Lungtok, der später einer der größten DzogChen-Meister der Gegenwart werden sollte,
folgte seinem Lehrer Patrul Rinpoche 18 Jahre lang. Während all dieser Jahre waren die zwei fast
unzertrennlich. Nyoshul studierte und praktizierte sehr gewissenhaft und war bereits in der Lage,
das erleuchtete Bewusstsein zu erkennen, hatte bis dahin jedoch nicht die letztendliche Einführung
in diesen Zustand durch einen Meister der Großen Perfektion erhalten. Eines berühmten abends gab
ihm Patrul Rinpoche dann jene Einführung in diesen Zustand. Es ereignete sich, als sie sich in einer
der Einsiedeleien hoch in den Bergen oberhalb des DzogChen-Klosters in Tibet aufhielten. Es war
eine wunderschöne Nacht. Der dunkle Himmel war klar und und die Sterne funkelten hell. Die
Atmosphäre ihrer Einsamkeit wurde noch durch entferntes Hundegebell im Kloster unterhalb
verstärkt.

Patrul Rinpoche lag ausgestreckt am Boden. Er rief Nyoshul zu sich herüber und sagte: ,Sagtest Du
nicht, Du würdest das grundlegende Wesen des Bewusstseins nicht kennen?´ Aufgrund des
besonderen Tones in der Stimme seines Lehrers erriet Nyoshul, dass dies ein besonderer Augenblick
war und nickte erwartungsvoll.

,Es ist nichts besonderes dabei, wirklich´, sagte Patrul recht locker.

,Komm und leg Dich hier nieder, mein Sohn, und sei wie dein alter Vater.´ Nyoshul streckte sich
neben Patrul am Boden aus.

Patrul Rinpoche fragte ihn dann: ,Siehst Du die Sterne da oben am Himmel?´

Nyoshul antwortete: ,Ja.´

,Hörst Du die Hunde im DzogChen-Kloster bellen?´

Nyoshul antwortete wiederum: ,Ja.´

,Hörst Du, was ich Dir gerade sage?´

Und noch einmal antwortete Nyoshul: ,Ja.´

,Nun, die Meditation der Großen Perfektion ist das, schlicht das.´“
Anhang: Zusammenfassung der Methoden und Übungen

Wesentliche Grundlagen der Praxis

Die aller-ursprünglichste Praxis ist die Nicht-Praxis des schlichten gewahr-seins, also deine
ursprüngliche Standardeinstellung.
Diese Praxis kann als formelle Meditationssitzung ausgeübt werden, indem ohne irgendein
Programm gesessen wird, dennoch völlig gegenwärtig ohne mentale oder vorgeplante
Beschäftigung. Diese Praxis ist tatsächlich die Frucht der Praxis und dennoch erscheint sie als der
ständig durchlaufende Zustand in jedem Augenblick. Kein Gefühl von einem Selbst oder gedachter
Objekte ist da in diesem nicht-dualen Zustand steter Gegenwart. Wenn dieses bloße Gewahrsein
stattfindet, wird schlicht darin verweilt als dieses lebendige und wache Gewahrsein während der
24 Stunden tagsüber und nachts in vollkommener Entspannung. Durch ein erfolgreiches
Weiterentwickeln werden die Chakras vollständig offen und die subtilen Energien fließen im
Zentralkanal. Der Körper erscheint durchscheinend für deine innere Wahrnehmung und dein Geist
ist gänzlich klar mit freudvollen Gefühlen, die in den inneren Kanälen umlaufen.

Wenn dein Zustand nicht so ist, wie oben beschrieben, ist es ratsam eine beruhigende Meditation
mindestens eine halbe Stunde täglich zu praktizieren. Du kannst diese Meditation in zwei Sitzungen
pro Tag aufteilen, wenn nötig.
Sitze dabei einfach mit aufrechter Wirbelsäule und den Augen fokussiert auf einen Punkt entweder
an der Wand oder auf dem Boden. Die Augen bewegen sich dabei nicht, es gibt keinen
gedanklichen Plan, beobachte einfach deinen Atem. Wenn Gedanken, Gefühle oder Empfindungen
aufkommen, erkenne sie einfach und beurteile sie nicht und beschäftige dich nicht weiter mit
ihnen. Sie lösen sich von alleine auf.

Hier ist eine weitere Praxis, die recht hilfreich sein kann, wenn du in einem unangenehmen oder
unklaren Geisteszustand bist:

Das Sich-Selbst-Befreien aller Zustände

Betrachte und bemerke deinen gegenwärtigen Geisteszustand. Was ist in deinem Geist in diesem
Augenblick, genau wie er ist? Ob es eine Geschichte ist, einzelne Gedanken, Selbst oder ein
Gefühlszustand, beobachte schlicht diesen Zustand. Schau, ob du irgendeine Festigkeit darin
findest, irgendetwas stabiles und dauerhaftes. Nachdem du auf deinen Zustand auf diese Weise
geschaut hast bemerke, dass er eine leere Erscheinung ist, die von deiner Aufmerksamkeit
unterhalten und befeuert wird. Bemerke die leere, durchscheinende Seite dieses Zustandes.

Als nächstes bemerke das Gewahrsein, welches in dem Wahrnehmen gegenwärtig ist. Beobachte
die Qualität dieses bewussten Gewahrseins. Hat es irgendetwas Festes an sich? … irgendeine
Farbe? … Form? Ist es einfach eine wahrnehmende Leere? Nachdem du für dich geklärt hast, dass
das wahrnehmende leere Gewahrsein vollkommen transparent ist, betrachte jenen anfänglichen
Zustand noch einmal. Ist er verschwunden? Ist er schwächer geworden? Wurde er in leeres
Gewahrsein verwandelt? Wenn nicht, wiederhole die oben beschriebenen Schritte solange, bis der
Zustand „sich-selbst-befreit“. Er wird es sowieso tun, weil alle Erscheinungen und Zustände
vorübergehend, leer und nicht-erschaffen sind.

Den Bauplan des Subtilen Körpers erforschen

Den Zentralkanal kannst du dir etwa so breit wie deinen Daumen vorstellen, außen blass-blau und
rosa-rötlich innen. Die allgemeine Erscheinung ist halb-durchscheinend und wie von innen heraus
leuchtend. Der rechte Seitenkanal ist leuchtend rot und der linke leuchtend weiß. Bei Mädchen und
Frauen sind die Farben der Seitenkanäle vertauscht. Beide sind in etwa so breit wie dein kleiner
Finger. Diese Informationen sind gut zu wissen, wobei wir keine speziellen Übungen mit den
Seitenkanälen durchführen werden. Alleine durch das Fokussieren auf die Chakras und den
Zentralkanal verhalten sich die Seitenkanäle entsprechend. Wenn du es schaffst dein Prana oder
deine innere Energie in den Zentralkanal zu lenken, werden die Seitenkanäle inaktiv. Dem
entsprechend werden die Seitenkanäle aktiv, wenn der Geist sich in dualistischen Gedanken
zusammen mit negativen Gefühlsenergien ergeht, wobei sich dann der Zentralkanal schließt und
inaktiv wird. Das Ziel der Energie-Praxis ist es also, das Prana in den Zentralkanal zu lenken, um
deine Chakren vollständig zu öffnen und zu aktivieren. Entsprechend dem Grad deines Gelingens
bei deinen Bemühungen wirst du Bewusstseinszustände erleben, die anderweitig unerreichbar für
die meisten menschenmöglichen Erfahrungen sind. Das letztendliche Ziel ist es, die Energie von der
Basis der Wirbelsäule aus in den Zentralkanal aufwärts in das Kronen-Chakra zu bringen. Die
vollständige Erleuchtung kann auch nur durch diese Methode erfahren werden.

Die Haupt-Übungsfolge des feinstofflichen Körpers

Für manche kann die Energie-Praxis zu intensiv sein, weil dabei konzentrierte Energien entspannt –
und bis dahin untergründig verdeckte Gefühle hervortreten können. Das kann unangenehm sein und
sich orientierungslos anfühlen. Die hier mitgeteilten Praktiken sollen behutsam ausgeführt werden
und ohne irgendeine Anstrengung, die inneren Energien zu erzwingen. Du sollst dich nicht durch
intensive Atemübungen oder das Atem-Halten verausgaben, während du diese Übungen ausführst.
Gehe langsam dabei vor und lerne sanft deine Grenzen zu erspüren. Dennoch wirst du solange nicht
wissen, wie es geht, bis du mit deiner eigenen Energie ein wenig experimentierst. Wenn es anfängt,
sich unangenehm anzufühlen, beende die Übung. Mache einen Spaziergang draußen, betätige dich
sportlich oder mache einfach etwas Schönes. Es reicht vollkommen aus, die Übungen des Ruhens
im klaren Gewahrsein durchzuführen, wie das Himmel-Schauen (siehe weiter hinten) und die
beruhigenden Meditationen (siehe oben).

Begib dich zunächst einmal in eine aufrechte Sitzposition. Wenn du auf einem Stuhl sitzt, dann
etwas weiter vorne auf der Sitzfläche, um die Wirbelsäule so gerade wie möglich zu halten. Ich
bevorzuge das Sitzen auf dem Boden und auf einem Sitzkissen, wie beim Yoga. Die Haltung
deiner Beine ist weniger wichtig; begib dich in eine stabile Position. Lass deine Hände bequem auf
deinen Beinen ruhen, so wie es dir am besten gefällt. Deine Wirbelsäule soll gerade sein.

Schließe deine Augen und achte auf deinen Atem. Spüre den Atem, wie er in die Nase hinein und
wieder heraus strömt. Spüre, wie deine Lungen sich mit jedem Atemzug dehnen und entspannen.

Als nächstes spüre den Zentralkanal, der vom untersten Punkt der Wirbelsäule bis zur Fontanelle
verläuft. Du musst ihn nicht deutlich visualisieren. Fühle einfach, dass dort ein Energiekanal
innerhalb der Wirbelsäule von unten nach oben verläuft. Fokussiere den obersten Punkt deines
Kopfes, der ein wenig hinter der Schädelmitte liegt. Du kannst die Fontanelle mit den Fingern
orten. Die Stelle fühlt sich an, wie eine leichte Delle oder ein weicher Fleck auf dem Schädel.
Stelle dir dort ein Energiezentrum vor, das etwas unterhalb der Schädeloberfläche bei der
Fontanelle auf subtile Weise vibriert, etwa drei bis fünf Zentimeter nach innen, innerhalb des
Gehirns. Irgendwann findet deine Aufmerksamkeit die richtige Stelle auf natürliche Weise. Mache
dir also keine Sorgen darüber, ob es so oder so genau richtig ist. Fokussiere dich auf den
allgemeinen Bereich des Schädels. Wenn du erst einmal eine Art Energiebewegung bemerkst, die
deine Aufmerksamkeit erregt, hast du das Kronen-Chakra geortet. Fokussiere dich auf diesen
Energiepunkt für mindestens fünf Minuten oder so. Erinnere dich daran, dass du nichts
visualisieren oder dir vorstellen musst; halte deinen Fokus einfach auf den allgemeinen Bereich
des Schädels gerichtet. Das Kronen-Chakra ist in allen Leuten vorhanden; du musst es nur
bemerken. Es sollte sich wie ein leichtes Vibrieren oder energetisches Pulsieren anfühlen. Halte
dies als deinen Bezugspunkt. Versuche deine Aufmerksamkeit so oft wie möglich auf diesem
Punkt zu halten, sowohl tagsüber als auch abends, besonders beim Einschlafen. Versuche täglich
zwanzig Minuten dieser Praxis als Sitzmeditation auszuführen. Wenn du erst einmal erfolgreich
das Kronen-Chakra geortet hast, sollte deine Meditation zu einem entspannten und ruhigen
Bewusstseinszustand führen. Manchmal kann es sich so angenehm anfühlen, als ob du für Stunden
auf das Kronen-Chakra fokussiert bleiben könntest. Verweile auf jeden Fall in dieser Meditation,
solange es sich angenehm anfühlt. Ein Schlüssel zu dieser Praxis ist es, alle Anspannungen
loszulassen und sich in einem Zustand vollkommener körperlicher und geistiger Entspannung
einzufinden.

Durch vollständiges Entspannen auf klare und wache Weise öffnen sich die inneren Kanäle und
Chakren völlig und führen dazu, dass sehr angenehme Empfindungen den ganzen Körper
durchströmen. Der Geisteszustand wird weit und gelassen. Der ganze innere Körper der subtilen
Energie wird durch diese Praxis harmonisiert und aktiviert.

Wenn du in jener Praxisroutine sicher geworden bist, kannst du diese erweiterte Version
durchführen, die auch ich anwende:

1. Ich fokussiere mich auf den untersten Punkt der Wirbelsäule.

2. Ich versuche eine warme Energie oder ein Kribbeln am untersten Punkt der Wirbelsäule oder
etwas höher zu fühlen.

3. Ich entspanne mein Atmen, mache tiefe und langsame Atemzüge.

4. Ich entspanne mich völlig mit geschlossenen Augen, ohne Gedanken.

5. Beim langsamen Einatmen lasse ich jene warme Energie oder das Kribbeln meine Wirbelsäule
von unten her aufwärts wandern.
6. Beim Ausatmen halte ich die innere Energie mental dort, wo sie jeweils ist. Beim Einatmen
lasse ich sie dann wieder weiter hoch wandern.

7. Auf diesem Weg fließt die Energie manchmal in das Herzchakra hinein, was zu einem
freudvollen Gefühl führt.

8. Ich halte die Energie beim Herzen, solange sie dort verweilt.

9. Ist es so weit, fahre ich damit fort, die Energie mit jedem Einatmen hochwandern zu lassen
ohne sie absinken zu lassen.

10. Wenn sich nach einigen Minuten wohlige Gefühle einstellen, führe ich die Energie zum
obersten Punkt meines Kronen-Chakras bei der Fontanelle.

11. Ein starkes Raumgefühl breitet sich gleichzeitig mit Glücksgefühlen aus.

12. Ich halte meinen Atem sanft und blicke direkt nach oben mit geschlossenen Augen, wobei ich
meine Augen nach oben fokussiere, um den obersten Teil meines Kopfes von innen zu sehen.
Darin halte ich meine Aufmerksamkeit und fokussiere auf einen vorgestellten Lichtpunkt in der
Krone und gleichzeitig innerhalb des Schädels.

13. Ein pulsierender Sinneseindruck fängt an sich im Dritten-Auge und am untersten Punkt der
Wirbelsäule zu entwickeln.

14. Ich verweile darin solange ich kann.

15. Ich entspanne mich und beobachte einfach.

16. Mit geschlossenen Augen schaue ich durch mein Drittes-Auge-Chakra gerade aus hinaus in
den Raum. Ich lasse mein Bewusstsein mit dieser grenzenlosen Weite des Raumes verschmelzen.

Ich nehme mein Gewahrsein wahr, das erfährt was gerade geschieht. Ich merke, dass ich der leere,
wache Kontext bin, in dem alle Erscheinungen als dessen Inhalt geschehen. Ich verweile als diese
Erkenntnis, ohne weitere Planung.

Falls du einen unangenehmen Druck im Kopf verspürst, stelle dir eine Öffnung bei der Fontanelle
vor, wobei dein Prana nach oben und hinaus in den Raum oberhalb deines Kopfes strömt. Das sollte
vom Unbehagen entlasten.

Solltest du dich jemals unangenehm bei der Durchführung dieser Praktiken fühlen, mach eine Pause
und gehe spazieren oder tu etwas, was dich auf andere Gedanken bringt als die Praxis. Benutze stets
deine Intelligenz und zwinge dich nicht in irgendeine Richtung. Entspannung und Sanftheit sind
immer der Schlüssel.

Das Himmelschauen

Wenn dein Geist relativ ruhig und klar ist, solltest du das Himmelschauen oder In-den-Raum-
schauen üben. Dabei fokussierst du dich auf den Himmel ohne die Augen zu bewegen. Oder beim
In-den-Raum-schauen schaust du in den Raum eines Zimmers, jedoch nicht auf irgendein
physisches Objekt darin.
Lenke dein Gewahrsein auf den Seh-Sinn und spüre, wie er mit dem äußeren Himmelsraum oder
dem leeren Zimmer-Raum zwischen deinen Augen und der Wand verschmilzt. Verweile etwa 10
Minuten lang darin, frei von grübelnden Gedanken. Dehne die Übung mit der Zeit so lange aus,
wie es angenehm ist. Halte deine Augen möglichst bewegungslos, blinzeln ist natürlich erlaubt.
Atme langsam und ruhig durch den nur leicht geöffneten Mund. Je länger du übst, desto
durchscheinender und klarer werden dein Geist und dein Gewahrsein. Bemerke das sich daraus
ergebende leere, klare Bewusstsein als dein eigentliches Wesen. Du bist nicht der Körper, dein
Geist oder deine Gedanken.

Tatsächlich brauchst du keine andere Praxis als diese eine. Sie vereint viele Vorteile, die sonst durch
das Ausüben etlicher anderer Praktiken erwachsen würden.

Inneres Licht Praxis

Schließe deine Augen und nimm die Helligkeit der äußeren Lichtquelle auf der Innenseite deiner
durchscheinenden Augenlider wahr. Bemerke, wo das Licht ist und wo dein Wahrnehmungssinn
zentriert ist. Nimm alle Geräusche wahr und spüre, wie die Klänge untrennbar von deinem
Gewahrsein erscheinen. Verweile in diesem Gefühl des Nicht-Getrenntseins so lange, wie es
angenehm ist. Nimm von Zeit zu Zeit dein leeres Gewahrsein wahr.

Bemerke nun wieder das Licht auf der Innenseite deiner geschlossenen Augenlider. Fühle, wie das
Licht deinen Schädel ausfüllt, der ansonsten leer erscheint, ohne Gehirn, nur gefüllt mit Licht und
dem Gewahrsein. Verweile in diesem raumgleichen Zustand solange, wie es angenehm ist.

Nun öffne deine Augen langsam und nur ein wenig. Nimm den Zimmer-Raum wahr ohne
irgendeinen Gegenstand zu fokussieren. Beobachte, wie dein Gewahrsein untrennbar von jenem
Zimmer-Raum erscheint. Verweile in diesem raumgleichen Gewahrsein. Bemerke dann, wie dein
Schädel durchsichtig erscheint, ohne Begrenzung deines Bewusstseins. Verweile in dieser
Durchsichtigkeit des Gewahrseins.

Schließe deine Augen wieder und stelle dir vor, du blickst aus dem Inneren deines Schädels heraus
nach oben in die Krone deines Kopfes. Spüre, ob da irgendein Pulsieren oder Vibrieren im
Kronenbereich ist. Wenn dem so ist, verweile in diesem Moment des Fühlens für einige Minuten.

Als nächstes fühle, ob da eine pulsierende oder vibrierende Empfindung beim Kreuzbein oder im
unteren Bereich der Wirbelsäule ist. Wenn dem so ist, verweile wieder einige Minuten in diesem
Gefühl.

Spüre dann wieder den Kronen-Punkt für ein paar Minuten. Fühle jetzt in den Punkt des Dritten-
Auges hinein, ob dort irgendein Pulsieren oder Vibrieren ist. Wenn dem so ist, verweile in diesem
Zustand einige Minuten lang.

Verschiebe deine Aufmerksamkeit nun wieder und wieder einige Minuten lang vom Wahrnehmen
des Kronen-Punkes zu dem des Dritten-Auges und zu dem des Kreuzbeins, bis jene Empfindungen
an allen drei Punkten auftreten und dort durchgehend wahrzunehmen sind. Dies bringt die subtilen
Energien in den Zentralkanal.

Nimm dann wieder das Licht in deinen Augenlidern wahr. Spüre das klare, leere Raumhafte und
seine Transparez innerhalb deines hohlen Schädels. Verweile in dieser Klarheit für einige Minuten.

Öffne deine Augen wieder ein wenig und verweile in diesem klaren Gewahrsein so lange, wie es
angenehm ist. Sei klar und gegenwärtig ohne beabsichtigtes Denken und ohne irgendeinen Plan.

Beende die Sitzung und lasse dich nicht erneut auf vorsätzliches Denken oder Begriffsbildung ein.
Dies zu tun würde jene Qualität offener Raumhaftigkeit einstürzen lassen. Übe auf diese Weise so
oft wie möglich.

Praktizieren entsprechend der Zen-Tradition

Die Hauptübung im Zen-Buddhismus ist das Sitzen in korrekter Haltung ohne den Geist auf
irgendein Thema zu lenken, abgesehen vielleicht vom Beobachten des Atems.
Die korrekte Haltung bedeutet das Sitzen in aufrechter Position von Wirbelsäule und Hals sowie
einem leicht zur Brust, also „nach innen“ ausgerichtetem Kinn. Egal, ob mit Kissen auf dem
Boden oder auf einem Stuhl sitzend, den Rücken gerade zu halten ist sehr wichtig. Es lässt die
inneren Energien auf natürliche Weise im zentralen Energiekanal hochfließen. Üblicherweise wirst
du angewiesen, die Aufmerksamkeit innerhalb des Nabel-Chakras zu fokussieren, einem Punkt
etwa drei fingerbreit unterhalb des Nabels. Indem dies konsequent mit aufmerksamer
Konzentration getan wird, nimmt die Energie im Nabel-Chakra so lange zu, bis sie nach unten
überfließt, in Richtung des untersten Punktes der Wirbelsäule. Dort tritt sie in den Zentralkanal ein.
Durch den nach unten gerichteten Druck auf die in den Zentralkanal eintretende Energie beginnt
sich das Prana im Zentralkanal nach oben zu bewegen bis zum Kronen-Chakra. Wenn die Energie
in das Kronen-Chakra eintritt, geschieht nicht-duales Gewahrsein (Samadhi) oder Meditation. Das
im Gehirn und Kronen-Chakra zentrierte gewöhnliche Ich-Bewusstsein verwandelt sich in reines
Gewahrsein, auch reines Bewusstsein genannt. Dies kündigt den Punkt vollkommenen Erkennens
an. Dein Ich-Gefühl löst sich von alleine auf, wie Eis zu Wasser schmilzt. Dann fühlst du Nicht-
getrenntsein und Eins-sein mit dem Universum und erfährst tiefgründige Einsichten in das Wesen
der Wirklichkeit.

Unter den frühen buddhistischen Belehrungen gibt es eine Textgruppe, die Prajnaparamita Sutras
genannt werden. In ihnen wird behauptet, dass alle materiellen Formen im Wesentlichen leer von
aller unabhängigen Existenz, also nicht aus sich selbst heraus existent sind. Dennoch drückt sich
jene Leerheit genau als diese wahrgenommenen Formen aus, wie Hologramme. Diese Einsicht wird
zur direkten Erfahrung und wird vollständig begriffen.

Das Weisheits-Auge öffnen

„Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und
Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.“
(Aus Predigt 12 von Meister Eckhart)

Diese Praxis habe ich von Qassim, meinem Sufi-Lehrer in Kaschmir gelernt. Wenn sie auf
angemessene Weise ausgeführt wird, erwächst ein kraftvoller Zustand intuitiven Gewahrseins
daraus und eventuell vollständige Erleuchtung.

Sitze für einige Minuten mit geschlossenen Augen ruhig auf einem Stuhl oder Sitzkissen auf dem
Boden. Lasse alle Gedanken und Wünsche sich beruhigen. Bemerke, dass alle Gedanken leer sind,
was bedeutet, dass sie keine Substanz oder dauerhafte Grundlage haben. Sie sind eher wie leere
Wolken. Erkenne, dass all deine Geschichten über dieses oder jenes genauso leer sind. Bemerke
als nächstes, wie dein Gefühl für ein persönliches Selbst auch nur so eine Geschichte ist, die sich
aus Erinnerungen speist. Sie ist genauso leer wie ein Traum. Erkenne, dass der Raum deines
inneren Gewahrseins auch leer ist und den Kontext darstellt, in dem Gedanken und Geschichten
gemeinsam mit deinem Selbstgefühl auftauchen. Bemerke, dass du selbst dieses unwandelbare
leere Gewahrsein bist.

Stelle dir einen einzelnen großen Augapfel in der Mitte deines Vorderkopfes hinter der Stirn vor.
Er befindet sich oberhalb des Dritten-Auge-Chakras. Der Augapfel ist ziemlich groß und hängt in
seinem hinteren Bereich mit leichtem Kontakt zu beiden Ohren. Sobald sich diese Visualisation
angenehm anfühlt, entwickle das Gefühl, dass du dir das Auge nicht mehr „vorstellen“ musst,
sondern dass es vielmehr schon immer dort gewesen ist. Verweile einfach mit geschlossenen
Augen, als ob du durch dieses Auge in den Raum schauen würdest. Bleibe in dieser Kontemplation
durchgehend für mindestens 15 Minuten und wiederhole sie so oft wie möglich. Wenn du
Gedanken bemerkst, erinnere dich daran, dass Gedanken leer sind, dass Geschichten leer sind und
dein persönliches Selbstgefühl leer ist. Nimm wieder wahr, dass der Raum deines inneren
Gewahrseins auch leer ist und den Kontext darstellt, in dem alle Gedanken, Geschichten und ein
Selbstgefühl auftauchen. Bemerke, dass du selbst dieses unwandelbare leere Gewahrsein bist.

Genauso hervorragend ist die Durchführung dieser Praxis im Liegen auf dem Rücken während des
Einschlafens. Schlafe ein während du diese Praxis ausführst und halte ein Gefühl lebendiger
Klarheit im Bereich deines Vorderkopfes aufrecht.

Die Ergebnisse können schrittweise oder plötzlich auftauchen. Ein extrem klarer Zustand von
Transparenz voller Weisheit und Einsicht entsteht im Bereich deines Vorderkopfes. Im vollständig
geöffneten Zustand verstehst du das Wesen der Wirklichkeit und dein wahres Wesen. Deshalb wird
dieses Auge das Weisheitsauge genannt. Hellsichtigkeit und andere übersinnliche Wahrnehmungen
können sich auch einstellen. Sowohl in der Kabbalah, als auch im Sufismus, im tibetischen
Buddhismus, dem Kundalini Yoga und im Schamanismus ist das Weisheitsauge anerkannt.

Für weitere Informationen zu Retreats oder Fragen zur Praxis kontaktiere bitte Jackson Peterson
unter ejackpete@yahoo.com oder über seine Webseite www.wayoflight.net .

Du kannst auch Jacksons Facebook-Gruppe „Transparent Being“ beitreten, in der er Fragen


beantwortet und Beratung anbietet: www.facebook.com/groups/436183323088781/ .

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