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Häusliche Gewalt im Kontext von

Schwangerschaft und Geburt


Hildegard Hellbernd

Lerneinheit 2: Gewaltverhältnisse & Gewaltdynamiken

Hildegard Hellbernd
S.I.G.N.A.L. e.V. - Intervention im Gesundheitsbereich gegen häusliche und
sexualisierte Gewalt
freie Dozentin

Hildegard Hellbernd (Dipl. Päd., MPH) ist Pädagogin und Gesundheitswissenschaftlerin. Ihre Ar-
beitsschwerpunkte und Expertise liegen im Bereich der Prävention und Intervention in der Ge-
sundheitsversorgung bei häuslicher und sexualisierter Gewalt. Sie hat zahlreiche Artikel zu Ge-
sundheitsfolgen und Interventionschancen im Gesundheitswesen verfasst und Curricula zur In-
tervention bei häuslicher Gewalt für Fortbildungen im Gesundheitswesen (mit)erstellt. Sie ar-
beitet als Dozentin in der Aus-, Fort- und Weiterbildung für Gesundheitsfachkräfte zur Thematik
Gewalt in Paarbeziehungen und sexualisierte Gewalt mit SIGNAL e.V. zusammen (www.signal-
intervention.de).

haeuslichegewalt.elearning-gewaltschutz.de
Inhalt
1. Einleitung ........................................................................................................................... 2

2. Ausmaß von Gewalt ........................................................................................................... 2

3. Formen der Gewalt ............................................................................................................. 2

4. Stressoren bei Schwangerschaft und Geburt als ‚Auslöser‘ von Gewalt ............................... 3

5. Gesundheitsfolgen ..............................................................................................................3

6. Risikofaktoren .................................................................................................................... 4

7. Erzwungene Schwangerschaft durch sexuelle Gewalt .........................................................5

8. Prävention und Intervention nutzen ....................................................................................5

9. Gewalt erkennen ................................................................................................................ 6

10. Gezielte Unterstützung und Kooperation ............................................................................ 7

11. Fazit ................................................................................................................................... 9

12. Literaturverzeichnis ........................................................................................................... 10

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1. Einleitung
Schwangerschaft und Geburt beinhalten ein hohes Risiko für Gewalt in der Paarbeziehung bzw.
häusliche Gewalt. Wenn Fachkräfte Risiken frühzeitig erkennen, können sie gezielte Unterstüt-
zung anbieten und dazu beitragen, den Gewaltkreislauf zwischen Generationen zu durchbre-
chen, zumal Frauen in dieser Zeit oft eine große Offenheit für Veränderungen zeigen.

2. Ausmaß von Gewalt


Gewalt nimmt während der Schwangerschaft oftmals zu. Internationalen Studien zufolge liegt
die Häufigkeit (Prävalenz) von häuslicher Gewalt bei Frauen während der Schwangerschaft zwi-
schen 4 % und 12 % (WHO, 2011).

In der bundesweiten Repräsentativstudie gaben 10 % der gewaltbetroffenen Frauen eine


Schwangerschaft und 20 % die Geburt des Kindes als lebenszeitliches Ereignis an, bei dem ihr
Partner zum ersten Mal gewalttätig wurde (Schröttle & Müller, 2004). In einer Studie der Agen-
tur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) berichteten 42 % der Frauen über Partner-
gewalt während der Schwangerschaft in einer früheren Beziehung, 20 % der gewaltbetroffenen
schwangeren Frauen benannten Gewalt durch den / die aktuelle Partner*in (FRA, 2014) 1. Un-
tersuchungen zeigen unterschiedliche Ergebnisse: Häusliche Gewalt kann vor der Schwanger-
schaft oder nach der Geburt beginnen bzw. zunehmen, mitunter kann eine Schwangerschaft
auch Schutz vor Gewalt bedeuten (Brownridge, 2011).

3. Formen der Gewalt


Körperliche, psychische und sexuelle Gewaltformen während der Schwangerschaft sind zielge-
richtet, sie sollen demütigen und verletzen. Frauen berichten über Schläge, Tritte gegen den
Bauch, über ein breites Spektrum psychischer Gewalt wie Beschimpfungen, Kränkungen und
Erniedrigungen z. B. über ihr Aussehen, das Infrage-Stellen der Vaterschaft, die Forderung
nach Schwangerschaftsabbruch, Drohungen gegen Mutter und Kind, Zerstörung von bereits
angeschafften Gegenständen für das Neugeborene, Kontrolle der sozialen Kontakte und über
ökonomische Gewalt aufgrund finanzieller Abhängigkeit. (Stöckl, 2009).

1Nach Ansicht der Verfasser*innen der FRA-Studie kann die Differenz der Angaben widerspiegeln, dass Frauen in
den Interviews in geringerem Ausmaß über Gewalterfahrungen in einer aktuellen Partnerschaft „berichten können
oder wollen“ (FRA 2014 S. 22).

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4. Stressoren bei Schwangerschaft und Geburt als
‚Auslöser‘ von Gewalt
Qualitative Studien zu Partnerschaftsgewalt bieten Aufschluss über Stressoren in Umbruch-
phasen wie Schwangerschaft und Geburt (Bacchus et al., 2006, Stöckl & Gardner, 2013). Stöckl
und Gardner (2013) interviewten 19 Frauen, unter anderem in einer Münchner Geburtsklinik,
zur Einschätzung des Einflusses ihrer Schwangerschaft auf die erlittene Partnergewalt. Die
Frauen betrachteten ihre Schwangerschaft als persönlichen Wendepunkt, der mit „neuen Er-
wartungen“ an die Beziehung und mit dem „Gefühl von Überforderung“ für die zukünftigen
Mütter und Väter verbunden war. Angesichts der bevorstehenden Geburt berichteten Frauen
über einen hohen Veränderungsdruck, sodass bestimmte Verhaltensweisen des Partners nicht
länger akzeptabel waren. Konflikte, die bereits früher zum Streit führten, nahmen an Heftigkeit
zu und eskalierten: Mangelnde Verbindlichkeit in der Beziehung, zusätzliche finanzielle Belas-
tungen, Gestaltung des Sexuallebens, Aufteilung der Hausarbeit, Alkohol- und Drogenkonsum,
Rollenerwartungen des Partners („perfekte Mutter“). Weitere ‚Auslöser‘ für Gewalttätigkeiten
waren eigene repressive Kindheitserfahrungen, traumatische Ereignisse in der Kindheit des
Partners oder Eifersucht des Partners auf das ungeborene Kind. Frauen nannten eine höhere
Verletzlichkeit, sie fühlten sich z.T. zu jung, ein Kind allein aufzuziehen, sahen sich weniger wi-
derstandsfähig bei Gewalttätigkeiten, ökonomisch abhängiger und bemerkten eine zuneh-
mende Dominanz des Partners (Stöckl & Gardner, 2013). Die Autorinnen gehen davon aus, dass
gewalttätige Männer versuchen Kontrolle und Macht zu etablieren, da eine Schwangerschaft
die autonome Kontrolle der Frau über ihren Körper und Unabhängigkeit von dem Partner sym-
bolisiert.

5. Gesundheitsfolgen
Häusliche Gewalt ist stets mit negativen Folgen für die Gesundheit von Frauen verbunden und
betrifft insbesondere die reproduktive Gesundheit. Verletzungen, psychosomatische Be-
schwerden durch Belastungsstress und (Re-)Traumatisierungen unter der Geburt können so-
wohl Frauen wie auch das un- oder neugeborene Kind betreffen (WHO 2013a, Hellbernd &
Brzank, 2013). Ein Drittel der von häuslicher und sexueller Gewalt betroffenen Frauen berich-
tete in der bundesweiten Repräsentativstudie über vermehrte Komplikationen bei Schwanger-
schaft und Geburt. 3 % der Frauen gaben Fehlgeburten als eine Folge der Gewalt an (Schröttle
& Müller, 2004).

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Gewaltattacken können zu Plazentaablösungen, Uterusrupturen und Verletzungen beim Fötus
führen. Als evident gelten häufigere Frühgeburten, eine Steigerung des Risikos der Neugebo-
renen für ein geringeres Geburtsgewicht um bis zu 16 % und doppelt so häufige Schwanger-
schaftsabbrüche bei gewaltbetroffenen Frauen (Bailey, 2010; WHO, 2011; WHO, 2013a).

Gewaltbelastungen nach der Geburt können zu Stillproblemen, postnatalen Depressionen und


Störungen der Mutter-Kind-Bindung führen (Hellbernd & Brzank, 2013).

Eine Auswertung von routinemäßig erhobenen Perinataldaten (2014-2016) in Australien (N =


52.509) bestätigt 2, dass die von Frauen angegebene Angst vor dem Partner stark mit einem
erhöhten Risiko für postnatale Depression für Mütter, niedrigem Geburtsgewicht der Kinder,
Frühgeburt und mit Auswirkungen auf das Stillen verbunden war (Chaves et al., 2019).

Stress durch Gewaltbelastung während der Schwangerschaft beeinflusst ebenso das Gesund-
heitsverhalten. Frauen berichten über verspätete Inanspruchnahme der Schwangerenvorsorge
oder zeigen risikoreiche Bewältigungsstrategien wie z. B. verstärkten Alkoholkonsum
(Schröttle & Müller, 2004; WHO 2011).

6. Risikofaktoren
Als erhöhte Risikofaktoren für das Erleben häuslicher Gewalt auf individueller Ebene gelten
eine ungewollte Schwangerschaft, wenn Frauen jünger sind und Nikotin-, Alkohol- und Sub-
stanzmittel während der Schwangerschaft konsumieren (WHO, 2011, WHO, 2013a, Hahn et al.
2018).

Eine Längsschnittstudie unter N = 1939 schwangeren Frauen über 18 Jahren in Südschweden


zeigte, dass eine Vorgeschichte von Gewalt (unabhängig von Art, Schweregrad oder Täter) zu
den stärksten Risikofaktoren für häusliche Gewalt in der Schwangerschaft gehörte. Die Studie
zeigte ein 8,4-Mal höheres Risiko für häusliche Gewalt während der Schwangerschaft bei
Frauen, die als Single bzw. vom Partner getrennt lebten. Bei Frauen, die über Symptome von
Depression und Schlafmangel berichteten, lag das Risiko für häusliche Gewalt 3,8-Mal höher
(Finnbogadottir et al., 2016).

Alkoholmissbrauch und Eifersucht des Partners verweisen auf ein hohes Risiko für schwere kör-
perliche Gewalt während der Schwangerschaft (Hellmut et al. 2013). Brownridge et al. (2011)
verglichen in einer repräsentativen kanadischen Studie die Situation gewaltbetroffener Frauen

2 Perinataldaten
beziehen sich auf statistische Angaben, die in der geburtshilflichen Versorgung in Krankenhäusern
erhoben werden.

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mit und ohne Gewalterfahrungen während der Schwangerschaft. Während der Schwanger-
schaft waren Frauen schwerer und wiederholter Partnerschaftsgewalt ausgesetzt. Sie hatten
sich doppelt so häufig von ihrem Partner getrennt und häufiger Hilfen in Anspruch genommen
als gewaltbetroffene Frauen, die während der Schwangerschaft keiner Gewalt ausgesetzt wa-
ren. Ein höheres Risiko bestand bei ökonomischer Abhängigkeit vom Partner und verbalen
Übergriffen (Brownridge et al., 2011).

Fachkräfte sollten besonders aufmerksam sein für Gewalt in Paarbeziehungen während der
Schwangerschaft, wenn Frauen im Laufe ihres Lebens körperlicher, psychischer, sexueller Ge-
walt ausgesetzt waren, allein/getrennt leben, und wenn sie Symptome von Depression aufwei-
sen.

7. Erzwungene Schwangerschaft durch sexuelle Gewalt


Kinder können von Beginn an in das Gewaltgeschehen eingebunden sein, schon die Zeugung
kann das Ergebnis sexueller Gewalt sein. Dies betrifft Schwangerschaften als Folge von sexuel-
lem Missbrauch in der Jugend, Vergewaltigung im Kontext von Krieg, Flucht, Zwangsheirat o-
der in einer Partnerschaft. In der europäischen FRA-Studie berichteten 8 % der Frauen in
Deutschland über sexuelle Gewalt in der Paarbeziehung. Von diesen gaben über 50 % mehr als
eine Vergewaltigung an. 30 % der Frauen, die sexueller Gewalt in der Paarbeziehung ausgesetzt
waren, hatten sexuelle Gewalt bereits in der Kindheit erfahren (FRA-Studie, 2014).

Heynen (2013) beschreibt unterschiedliche Bewältigungsmuster von Frauen, die aufgrund se-
xueller Gewalt durch den (Ex-) Partner schwanger wurden. Die Reaktionen reichen von der Ab-
lehnung des Kindes bis zum Aufbau einer verantwortlichen Mutter-Kind-Beziehung. Heynen
verweist auf den Bedarf an Unterstützung bei Schwangerschaftskonflikten, Geburt und Mut-
terschaft (Heynen, 2013).

8. Prävention und Intervention nutzen


Für alle Fachkräfte, die Frauen in der Zeit von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett be-
gleiten und junge Eltern in ihrer neuen Rolle unterstützen, besteht die Chance, Risiken von
häuslicher Gewalt frühzeitig zu erkennen und geeignete Hilfen für Kinder und gewaltbelastete
Mütter und Väter anzubieten. Während der Schwangerenversorgung haben Frauen zumeist

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vielfältige Kontakte zu gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen. Das ermöglicht die Ent-
wicklung vertrauensvoller Beziehungen zwischen betroffenen Frauen und Gesundheitsfach-
kräften wie Hebammen oder Geburtshelfer*innen. Bedarfe können erkannt und Frauen trau-
masensibel begleitet werden (Kruse, 2018).

Für den Gesundheitsbereich liegen eine Reihe wissenschaftlich erprobter Interventionskon-


zepte und -standards bei häuslicher Gewalt vor, wie z. B. das S.I.G.N.A.L. - Interventionskon-
zept (RKI, 2008; Hellbernd et al., 2005) oder das Ersthilfe-Standardverfahren „LIVES“ im klini-
schen Handbuch der WHO (WHO, 2014) 3. Sie beinhalten

 ein aktives Fragen nach möglichen Gewaltereignissen,


 die Dokumentation von Verletzungen,
 die Beachtung von Schutz,
 das Abklären akuter Gefährdung sowie
 die Vermittlung zu weiterer Unterstützung.

Das aktive Ansprechen gilt dabei als zentraler erster Schritt, um Gewaltbelastungen zu erken-
nen (Winterholler & Wieners 2018).

Konflikte und Belastungen während der Schwangerschaft wahrzunehmen und zu adressieren


ist ein wichtiger Meilenstein in der Prävention. Fachkräfte können dazu beitragen, die Kommu-
nikation zwischen den Partnern zu stärken und positive Rollenmodelle für die Elternschaft zu
vermitteln, insbesondere wenn sie aufgrund belasteter Kindheitserfahrungen fehlen.

9. Gewalt erkennen
In der Schwangerenvorsorge spricht sich die WHO aufgrund der erhöhten Verletzlichkeit von
Frauen und ihren Kindern dafür aus, Gewalterfahrungen durch routinemäßiges Fragen (Scree-
ning) systematisch zu berücksichtigen (WHO 2013b S. 20). Laut O‘Doherty et al. (2015) besteht
eine vierfach häufigere Wahrscheinlichkeit, dass Gewaltereignisse während der Schwanger-
schaft erkannt werden, wenn Frauen bei Kontakten mit dem Gesundheitswesen routinemäßig
nach möglichen Gewaltsituationen gefragt werden (O‘Doherty et al., 2015).

Für den Gesundheitsbereich liegen geeignete – international evaluierte – Frage-Instrumente


(Screening-Tools) vor, die in der Schwangerenversorgung genutzt werden können (Hellbernd,

3Vgl. Materialien zum Download auf der Homepage von S.I.G.N.A.L. e.V. – Intervention im Gesundheitsbereich ge-
gen häusliche und sexualisierte Gewalt: http://signal-intervention.de/intervention-bei-gewalt)

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2018, , Perttu/Kaselitz 2004). Ein einfühlsames Fragen nach Gewalterfahrungen sollte zu ver-
schiedenen Zeitpunkten der Schwangerschaft erfolgen und berücksichtigen, inwieweit Frauen
zuhause die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, ob sie Angst vor einem jetzigen oder
früheren Partner haben und welchen Formen von Gewalt sie ausgesetzt sind (Bacchus et al.
2004).

Frauen akzeptieren im Rahmen der Anamnese nach Gewaltereignissen gefragt zu werden.


87 % der Frauen befürworten in der FRA-Studie, dass die Frage nach Gewalt bei Anzeichen ge-
stellt wird (FRA 2014). Nach Stöckl et al. (2013) sprachen sich 92 % der befragten Frauen in einer
Münchner Geburtsklinik (N = 401) für ein Screening in der Schwangerenversorgung aus. Als
wichtige Voraussetzungen für ein Fragen nach Gewalterfahrungen nannten die Frauen ge-
schulte Fachkräfte, ausreichend Zeit und die Vermittlung von weiteren Informationen sowie
einer vertieften Beratung (Stöckl et al., 2013).

10. Gezielte Unterstützung und Kooperation


Eine ärztliche gerichtsfeste Dokumentation von Verletzungen und Beschwerden nach Gewalt
in der Paarbeziehung ist für zivil- oder strafrechtliche Schritte von großer Bedeutung. Sie kann
in Ermittlungsverfahren, bei der Beantragung von Gewaltschutzmaßnahmen, in Sorge- und
Umgangsrechtsverfahren oder bei Aufenthaltsklärungen helfen, die erlittene Gewalt glaubhaft
zu machen.

Eine besondere Gefährdungssituation besteht für gewaltbetroffene Frauen bei Offenlegung


der Gewalterfahrung und während der Trennungsphase. Als Anzeichen für eine aktuell beson-
dere Gefährdung gelten die zunehmende Häufigkeit und Schwere körperlicher Gewalt in den
letzten sechs Monaten, Bedrohung mit einer Waffe, Würgen, Todesdrohungen oder eine Miss-
handlung während der Schwangerschaft. Für eine Risikoeinschätzung und Sicherheitsplanung
empfiehlt sich die Inanspruchnahme einer erfahrenen Beratungsstelle.

Das bestehende Netz von Hilfsangeboten und Beratungsstellen 4 ist vielen Frauen nicht be-
kannt, insbesondere wenn sie aus Ländern kommen, in denen keine regionalen Unterstüt-
zungs- und Schutzeinrichtungen zur Verfügung stehen (Brzank 2012).

Prävention und Intervention erfordern eine enge Kooperation zwischen verschiedenen Ge-
sundheitsprofessionen und Fachkräften in (psycho-)sozialen Einrichtungen. Die WHO emp-

4Das bundesweite Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" (www.hilfetelefon.de) bietet Unterstützung sowohl für
Frauen, die Gewalt erleben oder erlebt haben, wie auch eine kollegiale Beratung für Fachkräfte.

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fiehlt die weitere Verweisung zu einer Fachberatung und eine kurz- bis mittelfristige Empower-
ment-orientierte Intervention (bis zu 12 Beratungssitzungen), um im Fall von Gewaltepisoden
während der Schwangerschaft die gesundheitliche Situation der Frauen und ihrer Kinder zu ver-
bessern. Maßnahmen, die den Prozess der Selbstermächtigung fördern, könnten eine höhere
Beachtung erfahren (Kubany et al., 2015).

Im Zusammenhang mit Angeboten der „Frühen Hilfen“ und der Einführung von „Babylotsen-
projekten“ in Geburtskliniken 5 hat häusliche Gewalt unter Fachkräften verstärkt Beachtung ge-
funden (Schäfer, 2010, Fisch et al., 2016). Trillingsgaard et al. (2019) verweisen auf den Bedarf,
häusliche Gewalt in Vorbereitungskursen zur Elternschaft stärker zu berücksichtigen. In der dä-
nischen Untersuchung unter Frauen (im 3. Trimester der Schwangerschaft) und ihren Part-
ner*innen in Kursen zur erstmaligen Elternschaft wurde ein nicht unerhebliches Ausmaß von
körperlicher und psychischer Gewalt auch bei eher risikoarmen 6 Paaren festgestellt. Gewalttä-
tiges Verhalten, das sowohl von Männern gegenüber Frauen als gegenseitige Gewalt und in hö-
herem Ausmaß noch von Frauen gegenüber ihren Partnern angegeben wurde, führte zu kli-
nisch signifikanten negativen gesundheitlichen Auswirkungen für alle Beteiligten. Angesichts
der Offenheit von Eltern für eine bestmögliche Förderung ihres Kindes, besteht eine hohe
Chance, den Kreislauf von Gewalt zur nächsten Generation zu durchbrechen (Trillingsgaard et
al. 2019). International liegen Hinweise auf erfolgreiche Intervention bei häuslicher Gewalt, v.a.
im Rahmen von Hausbesuchsprogrammen (home visitation program), vor (van Parys et al.
2014, O'Doherty et al. 2015).

5 Hebammen klären im Erstkontakt mit schwangeren Frauen, ob diese möglicherweise von Gewalt betroffen sind.
Im Bedarfsfall ziehen sie Babylotsen hinzu, die als Bindeglied zwischen den Kliniken und dem Netzwerk Frühe Hilfen
fungieren (Fisch et al. 2016).
6 Die Einschätzung bezieht sich auf unterschiedliche Verhaltensmuster bei Gewalt in einer Paarbeziehung, bei der

die Forschung (Johnson 1995) unterscheidet zwischen „Intimate Terrorism“ („Gewalt als systematisches Gewalt- und
Kontrollverhalten“ in einem ungleichem Beziehungsverhältnis, das häufig in einer Gewaltspirale eskaliert und über-
wiegend von Männern angewandt wird) und „Situational Couple Violence“ („Gewalt als spontanes, situatives Ver-
halten“, bei der eine Beziehung auf Augenhöhe durch situative Konflikte mit verbalen, psychischen und körperlichen
Übergriffen und Gewalttätigkeiten geprägt ist, bei der von einer Gleichverteilung zwischen den Geschlechtern aus-
gegangen wird)., (vgl. Gloor & Meier.2003. Ringen um das Thema gewaltbetroffene Männer. Forschungserkennt-
nisse und gesellschaftspolitische Diskurse. Zürich. http://www.gesunde-maenner.ch/data/data_159.pdf)

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11. Fazit
Für eine qualitativ gute Versorgung bei Gewaltbelastungen in der Schwangerenversorgung und
Geburtshilfe bedarf es weiterhin einer stärkeren Sensibilisierung für das Ausmaß und die Fol-
gen von häuslicher und sexualisierter Gewalt, einer entsprechenden Kompetenz im Umgang
mit der Gewaltthematik und Sicherheit beim Fragen nach Gewaltereignissen.

Die WHO (2013b) benennt folgende Mindestvoraussetzungen, die für ein Fragen nach Gewalt-
erfahrungen sichergestellt werden müssen: (Gesundheits-)Fachkräfte sind geschult und wis-
sen, wie sie fragen können, Einrichtungen verfügen über ein Standardverfahren (Protokoll / Ab-
laufpläne) und ein Überweisungssystem zu regionalen Unterstützungseinrichtungen.

Gewalt an Frauen zu beenden ist das Ziel der EU Konvention „Übereinkommen des Europarats
zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ („Istanbul-
Konvention“), die 2018 in Deutschland in Kraft getreten ist. Die Konvention verpflichtet zu
Maßnahmen, um den Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt sicherzustellen und Betroffe-
nen Unterstützung zu bieten.

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12. Literaturverzeichnis
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