Der Fremde fiel als erstes der verrückten Hanna auf.
Wir nannten die Tochter des einzigen Frisöres in unserem Dorf, immer nur die verrückte Hanna. Niemand kann so genau sagen, welches Ereignis wirklich zu dieser Namensgebung führte. Die einen sagten, sie sei als kleines Kind einmal, als sie für einen Augenblick unbeaufsichtigt nach draußen gelaufen war, in eine Pfütze gefallen und dabei fast ertrunken. Im letzten Moment habe ihre Mutter sie, die gerade mit Klara Wientges vor dem Haus stand, entdeckt und sie retten können. Bei diesem Ereignis sei Hannas Hirn stark geschädigt worden. Leider kann niemand mehr die Frau Wientges fragen, ob das so stimmt. Vor einigen Jahren ist sie in einem Altenheim in der Stadt verstorben. Andere wieder erzählen, das der Vater gelegentlich einen über den Durst getrunken hatte und wenn er von einer seiner Sauftouren spät in der Nacht zurück kam, weckte er seine Frau und einzigste Tochter und verprügelte diese. Danach soll sein Frisörsalon immer für mehrere Tage geschlossen gewesen sein. Für diese Tuscheleien hinter vorgehaltener Hand, gibt es aber nicht wirklich einen Beweis.
Es war im Spätsommer vor 17 Jahren, bestimmt war
es schon Mitte September, denn die ersten gefärbten Blätter waren schon auf den Wegen zu sehen, als der Fremde plötzlich hier im Dorf auftauchte. Gut, manchmal beginnen die Bäume sich auch schon in den letzten Augusttagen zu verfärben. So genau kann sich wohl niemand von uns mehr an den Tag erinnern. Wenn der alte Peters noch leben würde, dann könnten wir den fragen, denn mit den ersten Herbstfarben begannen auch seine Gelenke zu schmerzen, und darüber führte er genau Buch. Er hätte also genau nachschlagen können, wann der Fremde unter uns war. Aber leider ist auch der alte Peters vor einigen Jahren verstorben, an einem Herzanfall während der Arbeit in seinem Garten. Und ich glaube kaum, dass sein Sohn, seine privaten Unterlagen aufbewahrt hat.
Auf jeden Fall war der Fremde plötzlich da. Er ging
unsere Hauptstraße hinauf. Er wurde damals auf um die 30 Jahre geschätzt, war trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit nur mit einer leichten Jeans und einem gelben T-Shirt bekleidet. Was die Bekleidung anging waren sich wohl alle Einwohner unseres Dorfes einig: Sehr einfach und für diese Jahreszeit wirklich nicht angemessen. Er wurde in den kommenden Tagen fast immer um die gleiche Zeit wieder gesehen. Immer mehr Menschen aus unserem Dorf mussten um diese Zeit hinter den Gardinen gestanden haben. Aber niemand bekam heraus, wohin er ging.
Die verrückte Hanna war in meiner Schulklasse. Ich
denke, sie hat diesen Namen wirklich verdient. Sie war so eigenartig wie keine andere. Sie sprach so gut wie nie mit uns. Auf dem Pausenhof stand sie immer abseits, in der Nähe eines Rasens, und ging ein paar Schritte auf und ab. Manchmal blieb sie auch stehen und machte den Eindruck als würde sie das Treiben auf dem Schulhof beobachten. Wenn der Unterricht aus war, verschwand sie als eine der ersten. Und niemand kümmerte sich um sie, keiner wollte mit ihr befreundet sein. Konnte ein Mensch noch auffälliger sein, mit der stimmte doch wirklich etwas nicht.
Etwa 3 Tage nachdem der Fremde zum ersten Mal
aufgetaucht war, sah man ihn zusammen mit der verrückten Hanna. Man kann sich kaum vorstellen, wie schnell das die Runde in unserem Dorf machte. Niemand hatte eine Ahnung, warum der Fremde gerade mit Hanna sprach. Zu seiner Entschuldigung sei auf jeden Fall gesagt, dass er kaum ahnen konnte, dass Hanna etwas merkwürdig war. Irgendwann waren beide verschwunden, Hanna und auch der Fremde. 17 Jahre haben wir nichts mehr von ihnen gehört und gesehen. Auch von Hannas Eltern war nichts zu erfahren. Sie schwiegen einfach, wenn man mit ihnen über ihre Tochter sprechen wollte. Ein Wunder, dass sie es solange bei uns ausgehalten haben.
Wir sahen Hanna erst kürzlich auf der Beerdigung
ihres Vaters wieder. Ihre Eltern wussten also die ganze Zeit wo sie sich befand, sonst hätte ihre Mutter sie ja nicht benachrichtigen können. Der Fremde war stets in ihrer Begleitung. Diesmal war er mit einem schwarzen Anzug und einer dunklen Krawatte bekleidet und obwohl jeder ihn anstarrte, schien keiner durch ihn und schon gar nicht in ihn hinein sehen zu können. Hanna und der Fremde trugen Ringe, das war fast allen aufgefallen.
Nach der Beerdigung sprach Hanna mich an. Sie hatte
den Fremden, kurz nach dem sie mit ihm verschwunden war, geheiratet. Kennengelernt hatte sie ihn schon fast zwei Jahre zuvor, während eines Wochenendausfluges an die Nordsee. Niemand in unserem Dorf hatte wohl mitbekommen, dass Hanna gelegentlich den Ort verließ und in Urlaub fuhr.
Ich habe in Erfahrung bringen können, dass der Mann
unserer verrückten Hanna Arzt ist und eine eigene Praxis in einer Großstadt des Ruhrgebiets betreibt. Hanna ist in seiner Praxis halbtags angestellt. Außerdem schreibt sie Artikel für eine regionale Tageszeitung und ihre Kurzgeschichten werden mit großem Erfolg gelesen. Unsere Hanna ist vielleicht gar nicht so verrückt.