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VORSPIEL_13_LITHO 22.01.

2002 14:13 Uhr Seite 1

Das Magazin des Wiener Burgtheaters

Februar/März 2002 Nr.13

vor s p i e l
Hanspeter Müller, Sabine Haupt und Edmund Telgenkämper

„Wenn Du einen Wunsch frei hättest, was wäre das?


– Alles soll so bleiben, wie es ist.“
„Hund Frau Mann“ von Sibylle Berg

in Kooperation mit
vor s p a n n
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Spaßgesellschaft zu Ende
geht im Einzelfall vielleicht so:

D
Von Sibylle Berg

Da bin ich also umgefallen. Einfach so, wie man wir in eine Kurve fuhren, berührte das Mädchen, ich laufen, nicht reden, weil das Gesicht gefroren und
einen Fernseher ausschaltet. Am Rande der Straße. weiß bis heute nicht, wie sie hieß, mich. Und rückte heim, ins Bett und unter der Bettdecke mit kleinen
Schaltet man ja gerne mal an Fernsehern herum. ein Stück näher zu mir. Der Himmel wurde rot und Tieren spielen. Ich wollte den Menschen in der
Auf dem Weg nach Hause wurden mir die Beine die Musik warm und es war ein Moment der Nacht ansehen, nie mehr schlafen, satt sein nur
müde, waren so gelangweilt die Beine, dass sie sich Unendlichkeit. Und ich wußte, alles was danach vom Betrachten seiner Arme, wollte ihm die Tränen
einfach ergaben. Bum. Liegen. Liegen und warten. noch kommen könnte, hätte nie mehr diese Per- essen, sagen: du musst nicht mehr weinen, ich
Nur nicht weinen jetzt. Es schneit nicht. Wie das ist. fektion. Ich habe das vergessen. Und natürlich muss nicht mehr weinen, weil wir doch nicht mehr
Das Weinen, ohne dass wer es sieht und bedauert. immer wieder gesucht. Nach dem Gefühl, unend- allein sind, wollte Sandburgen bauen. Ihm aus
Kein Reif. Keinen gefunden, der mich liebt. Das ist, lich zu sein. Es wird nicht dunkel. Am Rande der Büchern lesen und die Fingerspitzen küssen, alle
was übrigbleibt, der Ende des Spaßes. Der ist ja Straße und warum keiner hier läuft? hundert nacheinander. Das dachte ich in den
vorbei, der Anfang ist schnell vorbei. Nächten mit der Idee einer Person, und war so auf-
Der Rest ist schnell vergangen, ist schnell erzählt, geregt, wie ein Geschenk erhalten war es mir.
Der Anfang besteht aus Demütigung. Missbraucht, ist niemals ein Wunder, ist Warten und Wiederho- Und dann kam der Mensch, er war aus Fleisch und
geschlagen, ignoriert, eingesperrt, zum Schweigen lung, die du mitmachst, weil du glaubst, es käme eigenen Gedanken und es wurde meiner für eine
gebracht, überfüttert, unterfüttert, kalt oder zu noch etwas. Das, was einem versprochen wird, Zeit und nie fühlte es sich so an, wie in den Näch-
heiss und keine Macht. Nicht über deinen Stuhl- das käme noch, in den Jahren nach der Jugend. ten, da ich träumte. Er war nur Schweigen und
gang und deine Gefühle, gar nicht. Doch sie machen falsche Versprechungen. Das ist Haut, die kalt war und mir fremd und Gedanken,
das Spiel. Jeder verspricht jedem etwas, eingelöst die ich nicht verstand und Feindschaft von beiden,
Du bist Kind und wartest. Wartest und es tickt wird nicht. Versprechen von ewiger Liebe, ewigem von mir und ihm, weil es sich für uns beide so
immer eine Uhr und immer ist Sonntag und immer Leben und so wird gelogen von Spaß in fernen anders anfühlte als die Idee. Und dann war das
sind sie dir fremd, die Personen, aus denen du Ländern mit schönen Frauen und Männern in bun- Schweigen zu groß, irgendwann, der Geruch zu
entstanden, immer nicht du. Und sie mögen sich ten Badeanzügen mit Softdrinks und eleganten schlecht und dann ging ich oder der andere es ist
nicht, ihr Leben nicht, dich nicht. Glückliche Kind- PKWs und dass es sei, wie eine Party. Das Leben. egal. Es tat weh eine Zeit lang, so eine tote Idee ist
heit gibt es nicht, wie sollst du glücklich sein in Das sagen sie dir, zeigen es dir und du wirst noch schon nicht lustig, bis ich mich wieder ablenkte
Willenlosigkeit und dir fremd. Überall Dinge, vor nicht einmal misstrauisch, wenn du beginnst auf und von einem Menschen träumte, der mich retten
denen du Angst hast, und noch nicht einmal das Partys zu gehen und in der Ecke stehst, dir die würde. Hat nie einen gegeben. Und kein Trost, in
Wort dazu. Tiere und andere Kinder, die dich schla- Augen tränen, der Hals schmerzt, weil du soviel der Zeit nach der Liebe zu leben, allein sind wir alle
gen, dir auflauern, Schatten in der Nacht, Geräu- rauchst und trinkst aus Enttäuschung, dass Partys und suchen nach wem, der uns liebt und werden
sche im Haus, die Gesichter deiner Eltern, in unbe- so etwas Langweiliges sind und keiner mit dir niemanden finden, keinen. Denn auf jeden der
obachteten Momenten. Und du stehst am Fenster spricht und nichts. Und das Problem, bei dem sucht, kommt einer der gesucht wird, und ich woll-
und schaust auf Häuser und bist verzweifelt, weil Leben nach der Jugend ist doch, dass du denkst, te ja auch keinen lieben, der mich wollte. Nie.
du weißt, dass das, worauf du hoffst, in so einem du wüsstest, wie sich alles anfühlen müsste und Bitte geh nicht, haben sie gesagt, die falschen
Haus stattfinden wird und aus keinem kommt danach suchst und es nie finden wirst, weil Ideen Menschen und ich bin gegangen, habe gedacht,
Lachen. Danach – Ein paar Jahre, in denen ich immer besser sind als Wahrheiten. Du bist nicht ich muss aber mal los, denn der richtige Mensch
nicht auf den Tod gewartet habe. Waren die mehr jung und noch nicht alt und das ist die läng- wartet da draußen auf mich. Niemand hat gewar-
besten. Im Körper eines Menschen, mit dem ste Zeit, die du verbringst, und ohne es zu merken, tet. Die Liebe saß in meiner Wohnung und ich habe
Verstand eines Kindes. sagen Menschen SIE zu DIR. Dann habe ich die Tür geschlossen. Weniger fand ich und jünger
begonnen zu arbeiten. Habe gedacht, das würde wurden sie nicht, ich schon, dachte ich und konnte
Es ist kalt. Es schneit nicht. Ich bin dunkel. ein Gefühl machen. Es ist immer ein Gefühl da mit ihrem alten Fleisch nicht umgehen, weil es mich
gewesen. Es war wie Hunger und nicht wissen an das erinnerte, was kommen musste.
Es war der erste Abend in meiner eigenen Woh- worauf. Die Arbeit. War jeden Morgen aufstehen.
nung. Sie war leer die Wohnung und von unglaubli- Viel zu früh, und immer zu kalt, der Wecker, der Es wird nicht kalt. Am Rande der Straße. Und in
cher Lässigkeit. Es gab ein Bett, dieses Bild mit klingelte, der Kaffee am Küchentisch und weinen den Häusern gehen Lichter an. In den Häusern,
einem Berg darauf und meine Anlage, der Rest mögen und nicht wissen warum. War nur Angst vor hör nur: sie schreien sich an, sie trinken und schla-
roch nach frischer Farbe. Ich dachte, dass ich alles dem Zuspätkommen, vor dem Nicht genügen, vor gen sich, schlagen die Kinder, ficken die Kinder,
könnte, was ich wollte, dachte, dass der schlimm- dem Gespräch mit dem Chef, dem Tragen falscher ficken sich, schlagen sich, sie schweigen und wei-
ste Teil meines Lebens hinter mir läge und nur noch Trikotage, dem Sagen falscher Antworten, dem nen, weil sie so traurig sind, weil sie scheitern, weil
Glück anstände, da ich frei sei. Es war, wie in Ticken der Uhr und dem Warten auf den Sonntag, sie sehen, dass ihr schönes Leben nichts taugt,
einem Kaufhaus eingeschlossen sein und nehmen und da nicht wissen was tun und Warten auf den weil sie ahnen, dass es nicht besser wird, sondern
können, was man will. Ich war von zu Hause in eine Montag und nicht wissen warum, denn der Montag schlechter und doch nicht wissen, was zu tun sei.
Stadt gezogen, die ich bewunderte, weil sie eine war Angst. War müdes Gehen zur vollen U- Bahn Und nie ist der Mensch, den sie haben, die Ret-
Stadt der Möglichkeiten war. Also Frühling und ich war das Betreten eines Gebäudes, das falsch roch tung, ist immer nur ein Mensch und nie der, den sie
saß auf der Fensterbank. Schwalben flogen hoch und dem Grüßen von Menschen, die nie nah wirklich lieben könnten, aber ehrlich, einfach Pech
und pfiffen. Die Luft war sehr weich und das Licht waren, es war: Entlassen werden als ich zu alt war. gehabt, und geben ihm die Schuld, sie sagen: ich
in einer absurden Art gelb. Gerade in dem Moment, Ich, das steht mal fest, war mir nie ein Freund. hasse, wie du isst, wie du läufst, wie du riechst,
in dem die Stille zuviel wurde und leicht hätte in und meinen sich damit. Die Enttäuschung damit,
leise Traurigkeit umschlagen können, kam mein Ich habe keinen gefunden, der mich liebt. Die Liebe wenn sie langsam begreifen.
Freund vorbei, mit einem Mädchen. Das Mädchen, gab es nur in den Nächten, bevor ich mit dem
ich glaube sie war außerirdisch oder so etwas, ich Menschen war, den ich mir ausgesucht hatte, Schau wie ich jetzt hier liege. Schau wie ich keinen
meine damit, dass ich so jemanden noch nie gese- der mich unglücklich machen sollte. Lag ich, in der habe, der noch einmal mich berührt, im Herzen,
hen hatte. Es ging etwas von ihr aus, dass ich Nacht, die vor der Liebe immer hell war, und habe eingerollt in meine Arme, aber betrügen geht nicht,
warm wurde. Ich dachte: ich möchte dieses gedacht: Wie ich ihn halten wollte, den Menschen, sind meine Arme, die meine Beine halten. Habe
Mädchen ansehen. Tag und Nacht nichts anderes meinen Menschen, unter der Bettdecke mit kleinen keine Angst, bin nicht traurig. Doch nach Hause
mehr, als sie anzusehen. Später saßen wir im Auto, Tieren spielen. Und singen wollte ich dem Men- schaffe ich es nicht mehr. Zu müde. Spaß. Habe
es war ein offenes Auto, ich weiß nicht mehr, was schen, bis er lacht und lacht, wollte ich mit ihm, bis ich nie gehabt. Und nun, nun beginnt es zu schneien,
für eines, und ich hatte eine Kassette in den Recor- wir aus dem Bett fielen, ihn wecken, in der Nacht, und ich habe keinen gefunden und dunkel wird es.
der geschoben. Es war eine gemischte Kassette wenn der erste Schnee fällt, und rauslaufen und
mit allen meinen Lieblingsliedern drauf. Wir fuhren dann ihn halten, bis ihm warm würde. Ich wollte alle SIBYLLE BERG, geb.1962 in Weimar. Seit 1996
stundenlang durch den Abend, und ich mußte kei- Wege mit ihm gehen, die ich in meiner Einsamkeit Autorin und Journalistin. Ihr Stück HUND FRAU MANN
ne Angst haben, dass meine Musik den beiden gegangen bin, und die Wege wären neu. Ich wollte ist derzeit im Kasino am Schwarzenbergplatz zu sehen,
nicht gefiel. Als seien wir in einem Luftballon. Wenn ihn füttern mit Kartoffelbrei und auf kalten Feldern Vorstellungen am 17., 20. und 22. März.

Impressum
vorspiel. Das Magazin des Wiener Burgtheaters erscheint fünfmal jährlich als Sonderbeilage der Tageszeitung DER STANDARD.
Medieninhaber: DER STANDARD Verlagsgesellschaft mbH. 3430 Tulln, Königstetter Strasse 132.
Herausgeber: Direktion Burgtheater GesmbH, 1010 Wien, Dr. Karl Lueger-Ring 2. Redaktion: Dramaturgie Burgtheater.
Gestaltung: section.d. Hersteller: Goldmann-Zeitungsdruck GesmbH, 3430 Tulln, Königstetter Strasse 132
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„Darf man über Terror lachen?” Anmerkungen zu Martin McDonaghs Der Leutnant von Inishmore

I I. III.
Toren der Gewalt - Irische Helden: Köder, um den Helden in die Heimat zurückzulocken,
Bankrott einer Rebellion Spezialisten des Scheiterns die Heimat soll zum tödlichen Hinterhalt werden.
Es wäre zum Lachen, gäbe es nicht Tote. Und es
ist tatsächlich zum Lachen, weil es sich schließlich
Martin McDonaghs „Der Leutnant von Inishmore“ Jenseits aller modernen Terrordebatten befindet doch nur um eine mit viel schwarzem Humor ver-
ist die vielleicht erste Komödie über Terrorismus. sich McDonaghs Stück in der Tradition der iri- sehene, gut erfundene irische Geschichte handelt:
Der Autor, dessen Stück in Großbritannien fünf schen Literatur, in der das „Heldische“ ein bedeu- So geht es vielleicht letztlich gar nicht um Terroris-
Jahre lang aus Angst, den Friedensprozeß zu tender literarischer Topos ist. Angesichts der leid- mus, und das Stück ist viel eher ein Anti-Märchen
gefährden, nicht gespielt wurde und erst kürzlich vollen Geschichte des irischen Volks sind die vor- aus der Hölle, über das kläglich fehlgeleitete Gel-
in Stratford-upon-Avon uraufgeführt wurde, geschichtlichen gälischen Heldensagen bis heute tungsbedürfnis von Menschen, das sich recht
benutzt einen alten Erzähltrick: Aus einem banalen weit verbreitet. Wo das Leben oft so schmachvoll erfolglos als politischer Terrorismus maskiert.
Anlaß - dem Tod einer Katze - kommt eine giganti- und monoton verläuft, sind Geschichten aus grau-

IV.
sche Rache-Maschinerie in Gang, die wegen der er Vorzeit beliebt, die das eigene kleine Leben hel-
Unverhältnismäßigkeit zwischen Anlaß und Folgen denhaft übersteigen. Ein Phänomen, das als gänz-
vollkommen absurd und grotesk wirkt. Sentimen- lich „unirische“ und triviale Heldensehnsucht bei- Der Autor
talität und Gewaltbereitschaft, Langeweile und nahe jede männliche Adoleszenz begleitet.
Fanatismus, Wahnvorstellungen und Patriotismus In Irland aber scheint die Fixierung auf Helden dar- Martin McDonagh, der britische Erfolgsautor aus
gehen eine kaum mehr entwirrbare Melange ein, überhinaus eine spezifische Ausprägung zu London mit irischen Eltern, war erst 25 Jahre alt,
und die ehemals idealistischen Ziele des Freiheits- haben: Sie ist nicht auf die vorübergehende Ent- als er 1995 den „Leutnant von Inishmore“ schrieb.
kampfs sind längst zur Phraseologie verkommen; wicklungsstufe eines Menschen begrenzt, son- Hierzulande ist er durch seine Leenane-Trilogie
die armselige Verblendung dieser sogenannten dern reicht weit in die Erwachsenenwelt hinein, bekannt geworden: „Die Schönheitskönigin von
Freiheitskämpfer wird umso evidenter. Eine Para- und die Geschichten aus gälisch mythischer Vor- Leenane“, „Ein Schädel in Connemara“ sowie
bel, die auch jenseits von irischem oder sonsti- zeit sind, anders als die Urgeschichten bei ande- „Der einsame Westen“. „Der Leutnant von
gem Terrorismus etwas über falsches „männliches“ ren Völkern, nicht nur ein ferner Spiegel aus längst Inishmore“ ist der Mittelteil der Aran-Trilogie.
Heldentum und den Verlust an Orientierung und vergangenen Zeiten, sondern geradezu im Über- Die anderen zwei Stücke der Trilogie sind „Der

Werner Wölbern, Birgit Minichmayr, Samuel Finzi

Menschlichkeit erzählt - Toren der Gewalt, die vom maß lebendige Gegenwart. Aus der Diskrepanz Krüppel von Inishmaan“ und, noch unübersetzt,
Autor dem Gelächter preisgegeben werden. Bei zwischen den alten mythischen Helden (geschich- „The Banshee of Inisheer“. Martin McDonaghs
Martin McDonagh wird die bittere Tragödie eines ten) und der gegenwärtigen Dantesken Vorhölle Stücke sind auf europäischen Bühnen außeror-
Landes, das seit Generationen nicht zur Ruhe am Rande von Europa, in der die irischen Under- dentlich erfolgreich. Kritiker schrieben, es gelänge
kommt, zur grotesken Komödie über den „alten“ dogs seit langem zu leben glauben und aus der es ihm, John Millington Synges irischen Witz mit
Terrorismus, geschrieben in Zeiten, als es den kaum ein Entrinnen gibt, ernährt sich eine ganze Brendan Behans Volkstheaterton und Quentin
neuen noch nicht gab. Literatur, die - von Joyce bis O’Casey, von Synge Tarantinos Filmbildern zu kombinieren.
über William Butler Yeats bis zu Beckett - oft Joachim Lux

II.
genug Weltliteratur geworden ist. Sie erzählt über
das „Provinziell“-Irische hinausgehend von Spe-
Darf man über Terror lachen? zialisten des Scheiterns, von Maulhelden, Sonder- „Ich denke, ich bewege mich auf dem Grat zwi-
lingen, Aufschneidern, Verlorenen, Rebellen, schen Komödie und Grausamkeit, weil ich der Mei-
Aber darf man angesichts der vielen Blutopfer, die Gejagten und Schwächlingen, die ihren Geltungs- nung bin, das eine erhellt das andere. Ich tendiere
der Terrorismus nicht nur in Irland, sondern überall drang im Welt-Inferno nicht oder nur unzulänglich dazu, soweit ich nur kann, ins Extreme zu treiben,
auf der Welt fordert, darüber lachen? Martin leben können. Die alte Diskrepanz von Heldenhun- weil ich denke, daß man die Dinge durch Übertrei-
McDonagh meint: ja und befindet sich damit in ger und armseliger Wirklichkeit, die die irische Lite- bung viel klarer sehen kann als durch jegliche Form
guter alter Komödientradition. Seit Jahrhunderten ratur als Topos durchzieht, kommt bei Martin von realistischer Darstellung Das Stück entstand
machen Komödienschreiber Angst- und Feindbil- McDonagh als Terrorismus-Farce verkleidet wie- aus einem Gefühl, das man pazifistische Wut nen-
der zum Gegenstand von Komödien, anstatt sie der. Das falsch verstandene Heldentum kehrt als nen könnte. Es ist ein gewalttätiges Stück, das voll
pathetisch-heldenhaft zu vergrößern. Das jüngste Pest zu denen zurück, die sich ursprünglich und ganz gegen Gewalt ist.“ (Martin McDonagh)
Beispiel hierfür ist vielleicht der italienische Nobel- danach gesehnt haben, aus ihrer mißlichen Lage
preisträger Dario Fo, der die von ihm angefeinde- herauszukommen. Und wenn die Maulhelden DER LEUTNANT VON INISHMORE
ten Kapitalisten aufs Monster- und Farcenhafte irgendwann doch noch aktiv werden, ist das, was Von Martin McDonagh
herunterholte, um sie mit frechem Gelächter poli- sie tun, von besonders haarsträubender Unsinnig- Österreichische Erstaufführung
tisch zu vernichten. Schon O’Casey meinte: keit, so daß es besser gewesen wäre, nichts zu REGIE: Dimiter Gotscheff AUSSTATTUNG: Katrin
„Lachen zielt daraufhin, alles, was aufgeblasen tun und Maulheld zu bleiben. Die Sehnsucht nach Brack LICHT: Luk Perceval/Mark van Denesse
und anmaßend ist, zu verspotten und den der patriotischen, urgälischen Großtat für Volk und MUSIK: Sandy Lopic̆ic̆ MIT: Birgit Minichmayr;
falschen Glanz darauf in die Farbe des stumpfen Vaterland verreckt in einer kleinen Zimmerschlacht. Michele Cuciuffo, Samuel Finzi, Daniel Jesch,
Bleis zu verwandeln.“ Ähnliches tut Martin Mc Donagh McDonagh travestiert in seiner Farce einen Topos Michael Masula, Johannes Terne, Stefan Wieland,
mit dem irischen Terrorismus. Er schreibt eine kar- aus alten Heldenepen: Der Held hat einst sein Werner Wölbern; MUSIKER: Otmar Klein,
nevaleske Groteske, die sich lachend vom Grauen „home sweet home“ verlassen, um in der Ferne Bernhard Moshammer, Albin Paulus/Sepp Pichler,
zu befreien versucht, den Terror „zu Schanden Heldentaten zu begehen und hat sein Heiligstes Lennie Dickson, Claus Riedl
lachen“ (O’Casey) möchte. Die Hölle der perma- und Liebstes, seine Katze, zurückgelassen, in die Premiere am 25. Januar im Akademietheater
nenten Gewalt, die Irland seit langem prägt, zer- Obhut des Vaters gegeben. Diese Schwachstelle weitere Vorstellungen am 27., 28. u. 29.1. und
platzt im besten Fall im Gelächter. wird vom Feind ausgenutzt. Die Katze wird zum am 1., 5., 17., 19., 21., 23., u. 24.2.

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Das verkommene Verhältnis zu Schiller Günther Rühle über Die Jungfrau von Orleans

E
Es ist Klage zu führen, daß das einst prächtige
Verhältnis des deutschen Theaters zu den späten
Dramen Schillers immer mehr verkommt. Der spä-
te Schiller? - Nein danke! - Das deutsche Theater
ist in bezug auf den klassischen Schiller „lieferun-
fähig“, das heißt: schöpferisch blockiert. Lediglich
mit „Maria Stuart“ knabbert und experimentiert es
am Rande des Spätwerks. Was also ist los mit
dem späten Schiller? Sind es nur die Intendanten
und Regisseure, die sich Schillers Spätwerk ver-
weigern? Dies sind ihre Vokabeln: zu viel Innerlich-
keitspathos, rhetorische Theatralik, Sentenzendra-
matik; Tendenz zur Oper, Zitatenschwulst,
geschlossene Form, Künstlichkeit, Abstraktionis-
mus, Bühneneffekt statt Lebenswahrheit, Germani-
stensätze wie der über das Mädchen von Orléans:
„Ihr Schicksal: Das Schicksal der reinen Idee in der
unreinen Welt“ (Johanna: die reine Idee?), blockie-
ren die Zugänge und Einsichten. Der geläufigste
Ausweg aus dem Labyrinth der Vorwände und
Vorurteile heißt für die wenigen Regisseure, die
„trotzdem“ den späten Schiller inszenieren: histori-
scher Bilderbogen, Märchen, Legende, Bilderbuch.
Nichts hätte sich Schiller - wie dringlich er nach
dem „Wallenstein“ auch nach dem „poetischen
Drama“ suchte - weniger vorgestellt, als ein Mär-
chen-, Legenden- oder Bilderbuchdramatiseur zu
sein. Er war Dramatiker.
Das heißt: ein Dichter von Konflikten, von höchsten
Bedrängnissen, vom Zusammenstoß menschlicher
Planungen mit der Realität, von Verwirrungen,
Irritationen, von Handlungswahn, Selbstverlust,
Zumutungen, Lebensveränderungen,
Katastrophen, Rettungen und Verstrickungen.
Realitätsblinder Idealismus?
Ist in der „Jungfrau von Orleans“ irgendeine Idea-
lität, außer der, die sie sich und der Welt um sie
herum selbst einreden und die wir in sie hineinse-
hen wollen? Ist dieses Mädchen mit der Heldin-
nenrolle nicht ein von sich selbst, außer sich selbst
gebrachtes Geschöpf, das sich nur wenige Augen-
blicke - und das auch nur im Gefühl von Schuld -
als Mensch begreifen darf. Ist der Wahnsinn innen
und außen die wahre Macht? Man muß auf den
Kern dieser Stücke sehen.
Im Brennpunkt des Schillerschen Dramas steht
immer der eine Bedrängte, der aus aller Gewöhn-
lichkeit herausgerissen ist. Er ist nicht zu betrachten
als „der große Einzelne“, der - wie eine alte
Schiller-Tradition es wollte - Bewunderung braucht.
Der jeweils Eine steht da als Paradigma in einer
besonderen Situation, in einem Geflecht von Interes-
se, Belastungen und Unvorhersehbarkeiten. Hinter
den Schillerschen Vers sehen heißt, sehr reale
gesellschaftliche Strukturen und erstaunliche psy-
chologische Abläufe wahrnehmen. Die irrationalen
Prozesse in der „Braut von Messina“ und in der
„Jungfrau von Orleans“ ergeben unter dem Aspekt
Kleists vielleicht andere Zugänge. „Die Braut von
Messina“ und Kleists „Familie Schroffenstein“ verdan-
ken sich doch demselben Jahr (1802) und nehmen
sich aus wie Zwillingsstücke einer zu verabschieden-
den Aufklärung. Und das Hirtenmädchen aus Dom
Remy gerät, fortgezogen aus dem heimischen
Idyll, in den Wirbel der Identität mit sich selbst, in
ungewisse Wirklichkeit, in der Wunder und Zauber,
Himmelsherkunft und Hexenhaftigkeit, Lieblichkeit
und Amazonentum verschiedene Gesichte dersel-
ben Person und Situation werden. Eine Wahn-
sinnsszenerie, politisch stimuliert, durchsetzt mit
Hysterien, Angstexzessen, jähen Glaubensstürzen Karoline Eichhorn (Probenphoto)
und Verwandlungen der Hauptfigur.
Ist die Jungfrau nicht auch eine frühere Schwester
DIE JUNGFRAU VON ORLEANS Eine romantische Tragödie von Friedrich Schiller
des „Käthchen von Heilbronn“ wie der „Penthesilea“?
REGIE: Karin Beier BÜHNE: Achim Römer KOSTÜME: Lydia Kirchleitner MUSIK: Christian von Richthofen
Das Stück wäre eine Legende, ein Märchen? „Die MIT: Karoline Eichhorn, Barbara Petritsch, Sylvie Rohrer; Bernd Birkhahn, Urs Hefti, Johannes Krisch,
Jungfrau von Orleans“ liest sich als ein Stück über Juergen Maurer, Markus Mössmer, Cornelius Obonya, Nicholas Ofczarek, Denis Petković, Paul Wolff-Plottegg,
die Exzesse der Psyche in politisch desaströser Zeit. Hermann Scheidleder, Rafael Schuchter, Peter Simonischek
Wie immer man auch den Zugang zu den späten Premiere am 3. Februar im Burgtheater
Stücken Schillers findet, das Theater kann sich nicht Voraufführungen am 1. und 2.2., weitere Vorstellungen am 5. und 27.2.
länger vor ihnen drücken. Ein verkommenes Verhält-
nis ist zu beleben. „Was die Kunst noch nicht hat,
das soll sie erwerben.“ Dieser Auftrag ist von Schiller.

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Wer zuerst kommt …

… sitzt nicht alleine*

Birgit Minichmayr und Karlheinz Hackl vor der Vorstellung von Nestroys „Der Zerrissene“

* Jeder, der in der Zeit vom 1. bis 28. Februar ein neues Abonnement 2002/03 für das Burg- oder Akademietheater erwirbt, erhält beim Kauf eines zweiten Abos auf
dieses eine zusätzliche Ermäßigung von 10% zu der bereits bestehenden 25%igen Preisermäßigung für jedes Abo. Selbstverständlich gibt es diese Sonderermäßigung
auch auf jedes weitere Abonnement, falls Sie für Freunde oder Familie mehrere kaufen.
Informationen in der Abonnement-Abteilung, im Gebäude der Zentralen Kassen, Goethegasse 1, Tel 51444 DW 7878, Fax DW 7879
vor
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noch handen
Glückliche Tage von Samuel Beckett

Samuel Beckett führt in „Glückliche Tage“ Mittelpunktfigur der Frau konzentrieren kann,
den allmählichen Verfall zweier Menschen die teils grausam in Erde begraben und zugleich
vor. Er läßt sie nach und nach in den Boden einer höllischen Sonne ausgesetzt ist.
und ins Bodenlose versinken, bis sie schließ- Diese außergewöhnliche Vision aus den Tiefen
lich ganz verschwinden. Das alternde Paar der Beckettschen Imagination war schon in „Der
Winnie und Willie kann sich nur einge- Namenlose“ antizipiert: „Krüppelrumpf... mit dem
schränkt bewegen. Sie steckt im Boden fest, Napf auf dem Kopf und dem Rumpf im Staub”.
er kommt nur auf allen Vieren vorwärts. Ein Doch gab es vielleicht noch andere Quellen der
Sack mit Gegenständen, ein strenges Tages- Inspiration: In den schockierenden Schlußeinstel-
ritual, das Reden mit Willie, ihrem Mann, hel- lungen des Buñuel-Films „Un chien andalou“
fen Winnie durch den Tag. Obwohl sie ihn (1928) ragen halbbegrabene Figuren aus der Erde
selten sieht, ist das Wissen um seine Anwe- - solche Avantgarde-Filme sah sich Beckett als
senheit ein tröstlicher Gedanke. Während sie Lektor an der Ecole Normale an. Buñuels und
monologisiert, schweigt er die meiste Zeit. Dalís Filmskript war in derselben Nummer der
Aber manchmal erscheint sein Kopf auf ihrer Zeitschrift This Quarter abgedruckt, in der einige
Höhe, oder sie hört ihn die Zeitung lesen. Ein von Becketts Übersetzungsarbeiten erschienen.
„glücklicher Tag” ist, wenn er ihr antwortet. Ein Zeitschriftenphoto von Angus McBean (1938,
Dann weiß sie, daß sie nicht alleine ist. Denn im Rahmen einer Besprechung, „The Fleet’s Lit
Winnies größte Sorge ist, daß Willie eines Up“), worauf die Schauspielerin Frances Day, bis
Tages nicht mehr da ist. Der Titel des Stücks zur Gürtellinie begraben, mit einem von fremder
„Glückliche Tage“ wird oft ironisch verstan- Hand gehaltenen Spiegel posiert, kommt der
den, ist von Beckett aber nicht unbedingt so Frauengestalt aus „Glückliche Tage“ noch näher.
gemeint. Beide Figuren versuchen, trotz Wir wissen nicht, ob Beckett dieses Photo gese-
ihrer aussichtslosen Situation, nicht nur wei- hen hat.
terzuleben, sondern auch das Beste aus Während der nächsten drei Monate arbeitete er
ihrer Situation zu machen. Die Sprache, das fortgesetzt an dem neuen Stück. Doch wurde er
Sprechen wird dabei zum eigentlichen beständig durch die Vorbereitungen zum Umzug
Lebensmotor, indem sie sprechen, erinnern in die neue Wohnung am Boulevard Saint-Jacques
und vergewissern sie sich ihrer eigenen Exi- unterbrochen. Mitte November begann Beckett
stenz. Über die Entstehung des Stückes täglich dort zu arbeiten. Erst Anfang des neuen
schreibt James Knowlson in seiner gerade Jahres 1961 aber hatten sie sich endgültig in der
auf deutsch erschienen Beckett-Biographie: neuen Wohnung festgesetzt. [...] Die erste Arbeit,
die Beckett jetzt in Angriff nahm, war eine zweite
Am 8. Oktober 1960 klappte Beckett ein creme- Fassung von „Glückliche Tage“. Er entfernte eine
farbenes Schreibheft auf und notierte: „Stück. Menge unwesentlicher Bestandteile und gab den
Weibliches Solo 8. 10. 60 Ussy.” (Er saß in Ussy Protagonisten die harmonisierenden Namen
an seinem Schreibpult aus Eichenholz.) Nach nur „Winnie” und „Willie”. Winnies Bewegungen sind
vier Seiten hörte er zu schreiben auf und legte das so kompliziert, daß Beckett wohl in dieser
Heft beiseite; in einem hellgrünen Schulheft mit Arbeitsphase jeden einzelnen Vorgang in seinem
kariertem Papier setzte er erneut an. Von Anfang Zimmer ausprobiert haben muß, wobei er seine
an standen ihm einige Einzelzüge des Bühnen- eigene Brille und Zahnbürste zu Hilfe nahm und
bilds vor Augen: „eine weite Grasebene, die sich eine von Suzannes Taschen, ihren Lippenstift und
vorne sanft zu einem niedrigen Hügel erhebt, des- Toilettenspiegel ausborgte. Nur so konnte er
sen Höhe etwa 4 Fuß [1,20 m] beträgt”; die Frau sichergehen, daß Winnies Text und Gestik so rei-
(erst „W” [Woman], dann „Mildred”) ist auch bungslos zusammenwirken, bzw. so präzis einan-
schon da, ziemlich genau wie in der Endfassung der ablösen - wenn sie ihre Brille aus der Tasche
von „Glückliche Tage“, bis über die Taille im Hügel kramt, sie auf - oder absetzt, putzt und zur Prü-
eingebettet, mit schwarzem Ledersack und Son- fung der Zahnbürste einsetzt, usw.
nenschirm, schlafend, den Kopf auf den Armen.
Ihr Gefährte taucht in gestreiftem Schlafanzug auf 1961 wurde „Happy Days“ im Cherry Lane Theatre
und sitzt zunächst unten am Hügel auf einem Vor- in New York uraufgeführt. Die deutsche Erstauf-
sprung. Im zweiten Heft ist er aber schon vom führung fand 1971 in Berlin unter Becketts eigener
Hügel verdeckt, so daß das Stück sich auf die Regie in der Werkstatt des Schiller-Theaters statt.

GLÜCKLICHE TAGE von Samuel Beckett


REGIE: Edith Clever BÜHNE: Christoff Wiesinger
KOSTÜME: Susanne Raschig MIT: Jutta Lampe; Urs Hefti
Jutta Lampe (Winnie), Edith Clever (Regie) Premiere am 22. März im Akademietheater
Koproduktion mit dem Berliner Ensemble

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„Scheitern, noch mal scheitern,


besser scheitern”

C
Ein Interview mit dem Autor Raoul Schrott über Gilgamesh, die Götter und die Alpen

Claudia Hamm: Das Gilgamesh-Epos gehört aber aussichtslos scheitern. Das Leben ist wie Welche Eingriffe in den Stoff macht Ihre
als Titel zwar in den klassischen Literatur-Kanon, eine Generalprobe für ein Stück, das keine Pointe Bearbeitung?
aber wenige haben sich tatsächlich mit diesem hat, und das Leben ist immer nur die Generalpro-
Text beschäftigt. Was war Ihre Ausgangsmotivati- be, die scheitert. Von Gilgamesh gab es im Laufe von 2000 Jahren
on für die immense Trümmerarbeit, die Sie mit Unsere ganzen Endzeitvisionen, daß die Welt mindestens drei verschiedene Fassungen. Die
der Aufarbeitung, Übersetzung und Bearbeitung einem Untergang entgegenläuft, kommen ja alle jüngste, die ninivitische Fassung, ist die am besten
verschiedenster bisher entdeckter Gilgamesh- aus diesem syrischen, irakischen, iranischen erhaltene. Aber auch schriftstellerisch die schlech-
Varianten geleistet haben? Raum. Letztlich von den Zorastren, die glaubten, teste. Auf den gesamten Stoff- und Motivkomplex,
daß es Millenien gibt und die Welt einem Unter- der ja nur lückenhaft überliefert ist, noch einmal
Raoul Schrott: Als ich für „Die Erfindung der gang zusteuert. Dieser Kulturkreis sah die Welt zurückzugreifen und das Ganze neu zu versam-
Poesie“ versuchte, die Anfänge der Dichtung unse- astronomisch festgefügt, die Läufe nicht nur der meln, war natürlich eine reizvolle Aufgabe, denn
res abendländischen Kulturkreises nachzuzeich- Gestirne, sondern auch der Menschenschicksale wann hat man schon mal als moderner Dichter die
nen, wurde ich nach langer Zeit wieder auf „Gilga- festgeschrieben. Ein Leben ist etwas Unabänder- Gelegenheit, ein Epos zu schreiben? Das war der
mesh“ aufmerksam. „Gilgamesh“ ist der älteste liches, Fatalistisches, Nihilistisches, und dagegen poetische Anlaß: Einmal Homer sein! Dann gab es
literarische Text, der überhaupt überliefert ist, älter aufzubegehren macht eigentlich die Individualität zwei Probleme: eine Psychologie der Figuren findet
als alle Gedichte, als alle Hymnen. Ich hatte „Gilga- eines Menschen aus. Die Auseinandersetzung mit man in diesem Stück entweder nur zwischen den
mesh“ in der Studentenzeit schon einmal in der den Göttern hat diesen Hintergrund: sich gegen Zeilen, in den Figurenkonstellationen oder in den
Reclam-Ausgabe gelesen und eigentlich dem Text das festgeschriebene Schicksal aufzulehnen und Wortspielen. Das heißt, die Figuren sind nie durch
nichts abgewinnen können. Das lag vor allem an gleichzeitig zu wissen, daß man darin scheitern sich selbst oder ein reflektierendes Empfinden moti-
dem Nibelungen-Deutsch der Übersetzung. muß. In diesem Scheitern jedoch findet man viert, sondern sie beziehen ihre Motivation und ihre
Erst vor kurzer Zeit habe ich dann eine neue engli- Selbstbestätigung, Selbstbewußtsein, auch einen Legitimation durch die Götter. Durch das Leben,
sche Übersetzung von Andrew George gelesen, die Sinn in diesem Sinnlosen. Die ewige Revolte ge- das fatalistisch festgeschrieben wird von den
mich sehr überrascht hat; und die hat mich auf die gen das Absurde ist das Humane am Menschen, Göttern. Das neu zu erzählen, war notwendig, weil
Idee des Theaters gebracht. am Menschsein und am menschlichen Schicksal sich die Erzählperspektive und Göttervorstellung
Denn dieses „Epos“, als das es immer betitelt wird, ist. Das ist für mich einer der Grundwidersprüche, gewandelt hat. Zum zweiten ist Gilgamesh im Origi-
hat ja eigentlich nicht die klassische Form eines mit der Kunst sich auseinandersetzt und aus der nal ein Held, der zwölf Meter hoch und eben ein
Epos, sondern eher die eines szenischen Oratori- Kunst entsteht. Held ist, der sich nur durch das charakterisiert, was
ums. Mir ging es um das Wechselspiel zwischen er tut. Auch das ist eine Stilisierung, die wir heute
Poesie oder epischem Erzählen und dramatischem nicht mehr kennen. Diesen reliefartigen, zwölfmeter-
Erzählen, das schon im Original zu finden ist. hohen, überlebensgroßen Gestalten wieder Fleisch
Die eigentliche Faszination an diesem Stoff ist aber und Blut zu geben - und Gilgamesh war ja auch
seine Modernität. Dieser Text ist ja sehr viel älter als eine historische Figur, bevor er zu einer literarischen
die Bibel. Die Bibel, wie auch später die homeri- geworden ist - sie wieder zurückzuschreiben auf ein
schen Epen und Tausendundeine Nacht, überneh- menschliches Maß, war eine weitere Herausforde-
men dann erst viele Stellen und Motive. Rilke nann- rung, die bedingt war durch unser heutiges Erzähl-
te diesen Text „das Epos der Todesfurcht“. und Weltverständnis. Die Götterproblematik wäre
Der Mensch begehrt gegen sein Schicksal auf, und heute, wenn man sie so beschreiben wollte wie in
die Konzeption dieses Schicksals war schon um Mesopotamien vor 5000 Jahren, entweder eine
3000 v. Chr. eine, die keine Paradiesvorstellungen sehr frömmelnde oder eine gewollt salbungsvolle,
für das Jenseits kannte. Der Mensch bezieht seine demütige und letztlich kitschige.
Funktion auf der Welt nur aus seinem Sklavenda- Daß wir nicht mehr an die Götter glauben, daran
sein, denn er muß den Göttern dienen. Und das, war das Gilgamesh-Epos ja entscheidend mit be-
was ihn dann in der Unterwelt erwartet, ist noch teiligt, denn mit der Entdeckung des Gilgamesh-
schrecklicher als das, was einem im Leben zu- Epos und seiner Sintflutgeschichte wurde Ende
stoßen kann, denn die Unterwelt dachte man sich des 19. Jahrhunderts die Bibel und ihre Wahrheit in
finster und staubig, ohne Licht, ohne Speisen. Frage gestellt. Plötzlich offenbarte sie sich nicht als
Diese unendliche Monotonie und die Verweige- „Wort Gottes“, sondern als literarisches Werk, das
rung jeder Art von Paradiesvorstellung, wie wir sie eine Vielfalt von Motiven aus den Götter- und
vom Christentum her gewohnt sind, ist eine Heldensagen des Vorderasiatischen Raumes über-
moderne Situation, die eher an ein Ghetto in der nommen hatte.
Bronx erinnert, diese Ausweglosigkeit und Aus-
sichtslosigkeit eines Lebens, das kein Heilsver- Welche Rolle spielt für Sie die physische Anwe- Gilgamesh ist auch eine Road-Story. Welche Bedeu-
sprechen kennt, kein Schlaraffenland, keine senheit der Götter in diesen Texten? Könnten Sie tung hat die Reise? Sie sind ja auch ein Vielreisender,
Auferstehung, sondern nur ein Dahinvegetieren sich auch vorstellen, sich mit einem Stoff zu be- überhaupt sind Sie ein Reisender, glaube ich...
nach dem Tod, wenn der Körper zerschlissen ist, schäftigen, der christlich und nicht polytheistisch
„wie ein von Motten zerfressenes Tuch“, wie es geprägt ist? Wo sich das Problem der bildlichen Ja, „Gilgamesh“ ist auch Reiseliteratur. Das zeigt
im Text heißt. Die Todesvorstellung ist, daß sich Repräsentanz des Gottes anders stellt? sich auch deutlich darin, daß die „Odyssee“ als
der Körper wieder in Erde und Lehm auflöst und unser Ur-Werk vom Reisen sehr viele Motive von
zwar in einem Fäulnis- und Zersetzungsprozess, Also mir hat das Christentum, ganz privat gespro- „Gilgamesh“ übernimmt. Aber die Reisemotive in
der erschreckend ist. Dies ist für mich eine viel chen, weder katholisch noch protestantisch je der „Odyssee“ sind längst nicht so vielfältig und
existentialistischere Auffassung eines Lebens- gefallen. Es ist eine importierte Religion, die aus ausdifferenziert wie bei „Gilgamesh“. In „Gilgamesh“
schicksals, als man es vermuten würde aus der Palästina kommt, die hat ja mit unserem Raum gibt es mindestens ein halbes Dutzend von Reise-
Frühgeschichte der Menschheit. hier in Österreich gar nichts zu tun. Das hat mich definitionen oder Symboliken von Reise.
schon immer gewundert, diese Geschichte von Das ganze Epos fängt schon mit dem Satz an:
In Ihrer Bearbeitung von Euripides’ „Bakchen“ brennenden Dornenbüschen, das hat ja mit der Gilgamesh ist derjenige, der den Apsu gesehen hat,
für das Burgtheater hatten Sie den Schluß auch ganzen alpinen Landschaft nichts zu tun, die gibt das ist der unterirdische Ozean, kann aber auch
dahingehend verändert, daß Agaue sich nicht es hier ja gar nicht. Und das, was mich in einem bedeuten: Alles, Abgrund und Totalität. Also Gilga-
abfindet mit dem Urteil der Götter, sondern als künstlerischen Sinn dagegen aufbringt, ist der mesh ist deshalb ein Held, weil er alles gesehen,
Mensch revoltiert und gegen die Götter kämpft. Monotheismus, daß also alles in einer einzigen alles erfahren hat. Er hat alle Länder bereist, überall
Nun ist „Gilgamesh“ auch ein Stoff, wo in vielen Figur verkörpert wird, in einer allumfassenden, Wege und Pässe geöffnet, Brunnen angelegt,
Episoden immer wieder der Kampf der Menschen omnipotenten Figur. Da finde ich die griechischen Oasen und Städte gegründet: ein Ausgreifen, ein
gegen die Götter thematisiert wird. Was ist das oder babylonischen Götter in ihren dialogischen imperialistisches Reisemotiv, auch ein enzyklopädi-
für ein Kampf? Bezügen viel lebendiger, streithafter, widersprüch- sches Verständnis von Wissen.
licher und auch menschlicher. Aber das hängt Dann zieht Gilgamesh in den Zedernwald, um sich
Er ist das typische Aufbegehren gegen das Le- auch mit der poetischen Denkweise beim Schrei- einen Namen zu machen. Eine Reise, um sich zu
ben, im Sinne von Camus und dem „Mythos von ben zusammen: wenn man poetisch einen Baum vereweigen. Sein Freund Enkidu bereist einen
Sisyphos“. Es bleibt einem nichts anderes übrig, beschreiben soll, ist die Versuchung groß, immer Frauenkörper und dieser wird topographisch be-
als den Stein ewig auf den Berg zu rollen und zu- auch den Gott eines Baumes zu sehen, eine schrieben. Die Hure Shamhat sagt: Leg deine Hand
zusehen, wie er wieder hinunterrollt. Das passiert Personifizierung des Naturphänomens. „Guter zwischen meine Beine, dann siehst du das ganze
Gilgamesh und Enkidu mit jedem Abenteuer. Mond, du gehst so stille“ ist ja auch eine Verkör- Zweistromland, von der Wüste bis zu den Feldern,
Scheitern, noch mal scheitern, besser scheitern, perung, die auf Vielgötterei hinweist. von den Dämmen und dem Fluß bis zur Mündung.

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i t r e ch n u n g
„Kultur aus Angst“
Ein Interview mit dem Regisseur Theu Boermans über Gilgamesh, die Männer und den Tod

Weiterhin gibt es das Motiv der Flucht: Gilgamesh Claudia Hamm: Wo andere Interpreten in Da steckt eine riesige Angst dahinter, eine Todes-
flüchtet ständig vor dem Tod und betrachtet die Rei- „Gilgamesh“ ein Menschheitsdrama sehen, angst. Männer sind in dem Sinne lächerlich, daß
se als eine Flucht vor sich selbst. Die Reise ist hier interessiert Sie darüberhinaus das Männerdrama. sie sich den Tod als Feind wählen. Frauen schei-
ein Umherirren ohne Ziel, nur der Weg ist das Ziel. Was ist das Drama des Mannes? nen – vielleicht durch ihre Fähigkeit zu gebären –
Dann gibt es eine Reise, in der Gilgamesh durch einen anderen Umgang mit Tod und Schmerz zu
das Tor der Sonne geht, in eine Art von Jenseits: Theu Boermans: Das Faszinierende an diesem haben. Das prägt unsere ganze Kultur, die immer
das Land Dilmun, das wie jedes Utopia auf einer Text ist die moderne Rebellion des Menschen noch eine Männergesellschaft ist und eine Män-
Karte eingezeichnet ist. Auf den alten babyloni- gegen sein eigenes Schicksal, den eigenen nermetaphysik, auch wenn das immer wieder
schen Landkarten gibt es ja bereits diese Utopi- Lebenslauf und den Tod. Man kann die Entwick- problematisiert wird.
en, diese mythischen Inseln, wie die Inseln der lung Gilgameshs und seinen Umgang mit dem
Hesperiden, die glückseligen Inseln, Taprobane, Tod mit der Entwicklung des Bewußtseins eines Was bedeutet der Freund für Gilgamesh?
alle diese Orte leben von derselben Symbolik einzelnen Menschen, der gesamten Menschheits- Die Männerfreundschaft?
wie dieser Ort, an dem Uta-napishti lebt, dieser geschichte sowie mit der wissenschaftlichen
babylonische Noah, jenseits der Flüsse, jenseits Entwicklung des 20. Jahrhunderts parallel setzen. Entweder sind Männer Konkurrenten um Frauen,
der bekannten Welt. Gleichzeitig ist das Mo- Zunächst ist da Enkidu, der Tiermensch ohne dann töten sie einander, oder man ist selber
ment, wo Gilgamesh durch das Tor der Sonne Bewußtsein seiner selbst. Quasi paradiesisch bedroht, dann fusioniert man gegen die Frau:
geht, auch eine Art Wiedergeburtszene, Reise lebt er mit den Tieren, bis er von der Hure Sham- Wenn es keine Konkurrenten gibt, langweilt man
als Wiedergeburt. Modern gesagt, sieht er das hat verführt und „zivilisiert“ wird: er lernt die Spra- sich. Wenn man nicht mehr um die Frauen
Licht am Ende des Tunnels, das man esoteri- che und erlangt damit Ratio und Selbstbewußt- kämpfen muß, muß man sich einen anderen
schen Beschreibungen zufolge ja beim Augen- sein. Erst dann wird ihm sein bevorstehender Tod Feind suchen. Dann fängt man an zu spielen.
blick seines Todes erblickt. Er kommt an einen bewußt und zu einem großen Schmerz.
Ort jenseits der Zeit, wo sich die Sonne im Win- Gilgamesh ist „der König, der nicht sterben will“. Das heißt, Gilgamesh nimmt den Freund nicht als
ter zurückzieht, wo dieser Mensch lebt, der Dieser Wahn treibt ihn durch sein ganzes Leben. Anderen wahr, sondern als Verdoppelung seiner
außerhalb aller menschlichen Zeit gefallen ist Zuerst zieht er mit Enkidu aus, um einen Dämon eigenen Potenz?
und ewig lebt. Das ist wiederum das Motiv, daß in einem Wald zu töten. Gilgamesh begegnet ihm
man glaubt, durch eine Fortbewegung im Raum in verschiedenen Angstträumen; in der Schlacht Ja, ich denke, daß er dies spürt, die Verdoppe-
die Zeit überwinden zu können. mit dem Dämon besiegen beide ihre eigenen lung seiner Kraft. Er verliebt sich in den Freund,
Ängste. Sie „beherrschen“ die Psychologie. weil er sich selbst erkennt im anderen und sich
Der nächste Kampf ist ein metaphysischer: im anderen in sich selbst verliebt.
Gilgamesh und sein Freund Enkidu nehmen es Der Mensch will über sich selbst hinaus, deshalb
mit der Liebesgöttin Ishtar auf, meinen, auf die schafft er Kollektive, deshalb schafft er sich
Götter und die heterosexuelle Liebe verzichten zu Götter. Gibt es die Götter? Die Menschheit gibt
können und selbst unsterblich zu sein. Ein es, und die Angst gibt es, die sind in der
Größenwahn auf dem Gebiet der Metaphysik. Menschheitsgeschichte immer dieselben geblie-
Schließlich wird Gilgamesh eine Pflanze ben. Wir können zwar jetzt erklären, daß ein Blitz
geschenkt, die jünger aussehen läßt, ein kosme- eine elektrische Entladung ist und kein Gott, aber
tischer Trug. Die Pflanze ist wie die biologische doch wollen wir darüber hinaus noch etwas
Wissenschaft, mit der wir versuchen, die Todes- glauben. Das ist der moderne Mensch: mit dem
angst zu bewältigen. Die Selbstermächtigung, Wunsch, etwas soll trotzdem sein, damit nicht
mit der Medizin und Gentechnik heute gegen alles ein großes Nichts ist. Wenn nicht alles
Krankheit und Tod kämpfen und die selbstver- Leben und Streben umsonst sein soll, muß man
waltete Reproduktion des Menschen herbeiseh- irgendeine andere Ebene finden, warum man lebt
nen, zeugt von derselben fundamentalen Angst - wenn man überhaupt nachdenken will über das
vor dem Altern und dem Sterben. Leben. Das schafft Gewalt, Opfer und Kriege.
Andererseits steht „Gilgamesh“ an einem recht Denn jede Verzweiflung, die sich in Gewalt aus-
konkreten gesellschaftsgeschichtlichen Punkt: lebt, ist eine Verzweiflung gegen die Sinnlosigkeit.
dem Beginn des Patriarchats. Gilgamesh sucht Und letztendlich sucht man einen Vorwand, um
ein Männerbündnis, das sich behauptet gegen Krieg zu führen, weil der Mensch die kollektive
seine soziale Pflicht als Mann. Die Diskussion Gewalt braucht, weil er über das Menschsein
zwischen Männern und Frauen und ihre gesell- hinaus will, weil er etwas übersteigern will,
schaftlichen Rollen ist für mich ganz zentral in obwohl er weiß, daß es schrecklich ist. Gibt es
Ganz darunter liegt das ursprünglichste Reisemo- diesem Stück. keine Naturgewalt, dann wird man selbst gewalt-
tiv: das Zyklische der Jahreszeiten. Ich glaube, daß der Krieg zwischen den tätig. Friedenszeiten sind ja immer nur Zeiten der
Dann gibt es die Traumreisen. Enkidu zum Beispiel Geschlechtern der Krieg aller Kriege ist. Jeder Vorbereitung auf den Krieg. Wenn die Gesell-
wird eine Traumreise geschenkt hinunter in die Un- andere Krieg ist letztlich darauf zurückzuführen: schaft mehr oder weniger funktioniert, kommt die
terwelt, von wo er berichten kann, wie es den Men- auf die Angst der Männer vor den Frauen. Das Seinsfrage auf. Und die wird immer wieder mit
schen nach dem Tod geht. Das ist auch das älteste Wort Angst deckt zwar nicht alles ab, aber alles Gewalt bewältigt, weil der Gewaltrausch eine
Reisemotiv in der „Odyssee“, die Reise hinunter in hat damit zu tun. Denn für beide Geschlechter Droge ist, Adrenalin, ein Zustand, in dem man
die Unterwelt, wo Odysseus Teiresias trifft. Odysse- gibt es eine Prämisse: daß das Überleben gesi- sich selber vergißt. Die Gewalt ist ja auch ein Ver-
us muß ja auch an den Rand der Welt gelangen, chert werden muß. Das ist der zentrale Trieb. such, seine eigene Angst in den Griff zu bekom-
um zu erfahren, wie es nach dem Leben weiter- Der Mensch als Teil der Natur muß, weil er men. In Initiationsriten muß ein junger Mann etwas
geht. Also Reise als auch Zeitreise. sterben muß, auch wiedergeboren werden wie Gefährliches tun, um seine eigene Angst zu über-
das Korn, wie die Bäume. winden, um ein Krieger werden zu können. Die
Ist nicht das ganze Stück als Gedankenreise kom- Mutprobe gibt Mut: du hast dies überstanden und
poniert: der halbtote Gilgamesh liegt auf dem To- Ist dieses zyklische Denken in unserem Kulturkreis kannst weiter kämpfen. Die Grundprinzipien davon
tenbett und wartet auf eine Entscheidung, was mit denn noch nachvollziehbar? sind in dem Stück enthalten. Kultur aus Angst.
ihm wird und läßt sein ganzes Leben Revue passie-
ren. Die Geschichte ist der Flashback einer Erinne- Der Mensch ist wie alles andere auch ein Natur-
rungsreise durch ein ganzes Leben. material. Er denkt sich zwar selber linear, weil er
als Vernunftwesen in seiner eigenen Sterblichkeit
Ja, das ist die Rahmenhandlung. Die Läufe der Ge- aufhört. Aber die Menschheit als Gesamtheit ist GILGAMESH von Raoul Schrott
stirne sind zyklisch, aber die menschliche Lebenszeit zyklisch. Die Menschen werden geboren, um zu Uraufführung
ist eben linear. Und auf einer symbolischen Ebene ge- wachsen, zu blühen und zu sterben. Und dabei REGIE: Theu Boermans BÜHNE: Bernhard
sehen ist das auch wieder die Revolte des Menschen spielt das Weibliche natürlich eine große Rolle. Hammer KOSTÜME: Hildegard Altmeyer
gegen die ewige Wiederkehr des Gleichen. Aber die- Die Idee von einem Sündenfall, das Konzept VIDEO: Walter Verdin LICHT: Gerhard Fischer
ser unterliegt der Mensch dann am Schluß: das Zykli- Bewußtsein, die soziale Rolle des Mannseins hat SOUND: Didi Bruckmayr MIT: Kirsten Dene,
sche gewinnt, denn das Leben im Hades ist eine ewi- sich ja erst über Jahrtausende zu dem entwickelt, Dorothee Hartinger, Sylvia Haider, Bibiana Zeller;
ge Wiederkehr des Gleichen. Dort gibt es nur das im- wie wir sie jetzt denken. Dabei sind Ängste und Didi Bruckmayr, Adrian Furrer, Markus Hering,
mer wieder Erzählen des bereits Erlebten, die Toten Projektionen von Männern entscheidend gewe- Roland Kenda, Ignaz Kirchner, Roland Koch, Rudolf
erzählen sich immer wieder ihre Geschichten, denn sen, und man hat sie mit der Aufwertung von Melichar, Robert Reinagl, Edmund Telgenkämper
„Erinnern ist unsere einzige Art von Unsterblichkeit.“ Ratio und Wissenschaft zu bewältigen versucht. Premiere am 3. März im Akademietheater

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vor
VORSPIEL_13_LITHO 22.01.2002 14:13 Uhr Seite 10

Der Jude
von Malta
von Christopher Marlowe
deutsch von Elfriede Jelinek und Karin Rausch
James, Sie sind Co-Direktor des Royal Court Theatres in London; können
Sie uns einen kleinen Einblick in Ihre Arbeit dort geben?

Ich bin seit 1992 am Royal Court - die längste Zeit in meinem Leben, die
ich irgendwo jemals fest engagiert war. Das Royal Court ist das größte auf
Uraufführungen und neue Stücke spezialisierte Theater, und wenn man,
so wie ich, der Meinung ist, es sei das spannendste am Theater, sich mit
junger Dramatik auseinanderzusetzen, dann ist das Royal Court der Ort
dafür! Das Theater nicht sehr groß - ein Raum für 400 Zuschauer, eine
Studiobühne mit 80 Sitzplätzen - jedoch die Spielplandisposition läuft
ganz anders als am Kontinent: üblicherweise gibt es 4 Wochen Proben-
zeit, daher kommen wir auf etwa 16 Premieren im Jahr. Der organisatori-
sche Apparat ist klein und daher sehr familiär gehalten, eine Qualität, die
für Regisseure, die viel herumreisen, selten geworden ist. Trotzdem finde
ich es auf Dauer frustrierend, zu wenig Zeit zu haben, um sich während
der Proben intensiv mit einem Text auseinandersetzen zu können. Unsere
ganze Theaterkultur hat sich zwar mit dieser Tatsache abgefunden und
baut darauf auf - die Schauspieler beispielsweise sind unheimlich schnell
im Lernen - allerdings ist das Resultat dann auch manchmal - und nicht
überraschend - oberflächlich.

Die Produktionsbedingungen hier in Wien unterscheiden sich also massiv


von denen, die Sie gewohnt sind...

Allerdings! In Großbritannien gibt es nur zwei Repertoiretheater, und selbst die


unterscheiden sich sehr von großen europäischen Häusern. Das National
Theatre hat einen einzigen Schauspieler permanent im Vertrag und die Royal
Shakespeare Company hat erst vor kurzem das Ensemble-System aufgege-
ben. Was wir leider aus den Augen verloren haben, ist, daß die großen Klassi-
ker für feste Schauspielertruppen geschrieben wurden, von Dichtern, die
diese Truppen gut kannten. Für uns in England ist es ganz normal, erst zwei
Tage vor der Premiere das erste Mal Bühnenproben zu haben. Irrsinn! Sie
können sich vorstellen, wie aufregend es für mich ist, hier zu arbeiten.

Zu Sarah Kane: Wie haben Sie Sarah Kane kennengelernt? War es eine
persönliche Begegnung oder eine „literarische“?

Eine literarische. Sarahs Agentin hat mir Zerbombt zur Lektüre geschickt
- sie kannte mich gut genug, um zu wissen, daß ich darauf anspringen
würde. Ich fand das Stück tatsächlich außergewöhnlich, und daraufhin
habe ich ein Treffen mit Sarah arrangiert. Schließlich haben wir uns bei
einer Tasse Tee im Probenraum des Royal Court kennengelernt. Ich war
überrascht, daß eine so charmante Person ein so düsteres Stück schrei-
ben konnte. Ich erinnere mich, daß sie mich mit ihrem Wissen über Foot-
ball verblüfft hat. Sie war sehr witzig, mit einem ausgeprägten Sinn für
pechschwarzen Humor. Dazu kam, daß sie ungeheuer liebevoll und
großzügig war, und sich ständig um das Wohlergehen anderer gekümmert
hat. Sie strahlte ungeheure Energie aus - ihr Gehirn war buchstäblich
‘heiß’. Wir haben ihr angeboten, das Stück sofort - vor einem kleinen, aus-
gewählten Publikum - zu lesen.

Sie haben seit Zerbombt eng mit ihr zusammengearbeitet. Hat man diese
‘Hitze’ auch in der Arbeit mit ihr gespürt?

Ja! Ich war beeindruckt von der Reife und Professionalität die sie auf den
Proben an den Tag legte - sie wußte genau, wann sie eingreifen konnte
und wann es richtig war, die Schauspieler ihren eigenen Weg finden zu
lassen. Als Studentin hatte sie selbst schon gespielt und inszeniert.
Sie hegte große Sympathie für die Schauspieler und wußte, daß sie Extre-
mes von ihnen verlangte. Noch überraschender war allerdings, daß sie
auch Sympathie für all ihre Charaktere empfand; obwohl Ian ein Monstrum
ist, mochte sie ihn, hauptsächlich deshalb, weil er sie zum Lachen brach-
te. Wenn er schließlich stirbt - ein Alkoholiker, von Krebs zerfressen, brutal
vergewaltigt von einem Soldaten, seine Augen herausgerissen - und da-
nach wiederaufersteht, nur um festzustellen, daß es regnet, das war wahr-
scheinlich ihre liebste komische Szene. Was sie allerdings während der
Proben wirklich aufregte, war, wenn die Schauspieler die Interpunktion
nicht beachteten, auf die sie große Sorgfalt und Mühe verwendet hatte:
„If they don’t do that comma, I’ll fucking kill them!“ („Wenn die das
Komma nicht sprechen, werd’ ich sie verdammt noch mal töten!“).
Später hat sie das Bühnenbild kritisiert - und natürlich zu recht:
die erste Hälfte von Zerbombt muß in einem realistischen Hotelzimmer
spielen, damit man es in der zweiten Hälfte in die Luft jagen kann. Wenn

„Jetzt versteh ich, man das sorgfältig macht, geht das Stück völlig auf. Das war für uns da-
mals schwer, auf einer Studiobühne, mit wenig Budget. Ich habe das
Stück dann letztes Jahr noch einmal auf unserer großen Bühne inszeniert -
daß auf Erden keine Liebe ist, vor allem, um dem Stück auch auf dieser Ebene gerecht zu werden.

Was ist das Faszinierende an Sarah Kanes Stücken?


kein Mitleid bei den Juden, Anfänglich war ich von den Tabuthemen fasziniert - jene Dinge, vor denen

keine Frömmigkeit beim Türken.” wir Angst haben, erzählen uns am meisten über uns selbst. Dann geht es
sehr stark um Gefühle, ein Anachronismus in unserem rationalen Zeitalter,
und Sarah konnte Gefühle mit großer technischer Sicherheit zu Papier
bringen. Zu einem Zeitpunkt, als die meisten britischen Dramatiker sich
sehr auf neu errungene theatrale Formen beriefen, war sie davon beses-
sen, Form und Inhalt zu vereinen. Sie hatte die große Gabe, beides glei-
LEITUNG: Peter Zadek, Wilfried Minks, Susanne Raschig, Dorothee Uhrmacher, chermaßen zu beherrschen, etwas, das viele Dramatiker nie schaffen.

Christoph Ghislaine, André Diot, Susanne Auffermann, Bärbel Jaksch, Klaus Figge Aber trotz der formalen Unterschiede klingen ihre Texte düster, ja hoffnungs-
los. Diese Grundstimmung zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk?
MIT: Christine Kaufmann, Blanka Modra, Elisabeth Orth, Mareike Sedl; Uwe Bohm,
Rückblickend geht es seit Zerbombt um Selbstmord. Aber ich glaube,
Benjamin Çabuk, August Diehl, Itzko Fintzi, Harald Fuhrmann, Urs Hefti, Peter Kern, daß ihr zentrales Thema die Liebe ist - oder zumindest die Möglichkeit der
Liebe. In vielerlei Hinsicht ist sie eine romantische Dichterin, obwohl viele
Ignaz Kirchner, Hans Dieter Knebel, Knut Koch, Dietrich Mattausch, Paulus Manker, Leute diese Qualität übersehen, wegen der Dunkelheit und Düsternis ihrer
Themen. Einmal hat sie sich darüber geäußert: „Once you have percei-
ved that life is very cruel, the only response is to live with as much
Hanspeter Müller, Cornelius Obonya, Nicki von Tempelhoff, Gert Voss u.a. humanity, humour and freedom as you can.“ („Sobald man erkannt
hat, daß das Leben grausam ist, besteht die einzige Möglichkeit darauf zu
VORSTELLUNGEN IM BURGTHEATER AM 11., 17. UND 19.2. reagieren darin, mit soviel Menschlichkeit, Humor und Freiheit wie möglich
zu leben.“) Aber darüber hinaus sind ihre Stücke auch deshalb so
VORSPIEL_13_LITHO 22.01.2002 14:13 Uhr Seite 11

zeitig
„I’d rather risk overdose in theatre than in life“
James Macdonald im Gespräch über Sarah Kane und ihr letztes Stück 4.48 Psychose

unterschiedlich, weil sie sehr darauf bedacht war, für jedes Stück eine Form Es war sehr schwierig. Wir haben das Stück kurz nach Sarahs Tod be-
zu finden, die mit dem Material absolut kongruent ging. kommen und es war uns lange nicht möglich, in den Text auch nur hinein-
zublicken. Später habe ich dann in Workshops gemeinsam mit den
Könnte man sie deshalb als ‘typisches’ Phänomen der dramatischen Sze- Schauspielern und meinem Ausstatter versucht, eine Sprache für diesen
ne der 90er Jahre, vor allem Großbritanniens, bezeichnen? Text zu finden. Natürlich konnte ich nicht anfangen zu proben, bevor ich
nicht wußte, wieviele Schauspieler dabei sein sollten - der Text läßt das ja
Viele Journalisten haben sie in diesem Zusammenhang gesehen. Ich aber völlig offen. Während der Proben haben wir die Szenen dann auf alle nur
glaube, es ist interessanter zu sehen, wie sehr sie sich von ihren Zeitgenos- erdenklichen Weisen gespielt, und es war so seltsam, daß Sarah nicht da
sen unterschieden hat; viele haben - erfolglos - versucht, sie zu imitieren. war, um mit uns die Möglichkeiten des Stücks zu diskutieren. In der knap-
Zugegeben, anale Vergewaltigung wurde nach Zerbombt zu einer Art pen Zeit haben wir versucht, so viel wie möglich zu recherchieren - und
‘Royal-Court-Klischee’, sodaß es mittlerweile schwierig ist, das noch ernst waren - ja - geschockt, was wir dabei über Depression und ihre Behand-
zu nehmen. Was sie aber wahrscheinlich mit den Kollegen ihrer Generation lung erfahren und gelernt haben. Wir haben viel gelesen, außerordentliche
verband war, sich über Politisches durch das Persönliche zu artikulieren. Literatur, von Menschen, die an Depressionen litten, vor allem Lyrik. Be-
sonders faszinierend war es, drei Schauspieler zu haben, die einen Ge-
Wie hat sie über ihre Arbeit gedacht? danken, einen Geist verkörperten, für einen einzigen Bewußtseinsstrom
dieselbe Verantwortung übernahmen.
Es gibt ein paar Dinge, die sie gesagt hat, die ich sehr mag: „There is-
n’t anything you can’t represent on stage. If you are saying you Wie kam es zur Aufteilung des Textes auf drei Schauspieler?
can’t represent something, you are saying you can’t talk about it,
you are denying its existence.“ („Es gibt nichts, was sich auf der Natürlich ließe sich 4.48 Psychose auch mit einem einzigen Schauspieler
Bühne nicht darstellen ließe. Wenn man behauptet, etwas nicht darstel- machen, obwohl das für diesen Schauspieler eine unglaubliche Gewaltan-
len zu können, dann hieße das, darüber nicht sprechen zu können, zu strengung bedeuten würde, und ich habe das auch in Erwägung gezogen.
leugnen, daß es existiert.“) - Ich glaube zwar nicht, daß ihre Stücke im Aber für die Uraufführung galt es, einer simplen autobiographischen Lesart
deutschsprachigen Raum so heftigen Protest ausgelöst haben wie in möglichst entgegenzuwirken. Zwei Schauspieler schienen mir falsch, zu
Großbritannien, aber das ist doch ein fantastisches Argument für ihr schematisch und nicht genügend fragmentiert, vier hatte Sarah bereits in
Theater! „Theatre has no memory, which makes it the most exi- Gier verwendet, ein Stück, das 4.48 Psychose sehr nahesteht, fünf er-
stential of the arts. No doubt that is why I keep coming back, in schienen mir wiederum zu viel. Eine wichtige Einstiegshilfe in den Text ist
UM 4 UHR 48 MORGENS, WENN DIE VERZWEIFLUNG ÜBER
the hope that someone in a dark room somewhere will show me die Zeile „Opfer.Täter.Zuschauer“. Depressive Menschen spielen all diese
an image that burns itself into my mind, leaving a mark more per-
MICH KOMMT, WERDE ICH MICH AUFHÄNGEN - der Zeit- Rollen selbst, vereinen sie in sich. Andererseits gibt es auch die kognitive
manent than the moment itself.“ („Das Theater hat kein Gedächtnis, punkt, der Sarah Kanes letztem, nachgelassenen Stück den Ti- Dreiheit, die in der Behandlung von Depressionen verwendet wird, um die
deshalb ist es die existentiellste der Künste. Zweifellos ist das der tel gibt, ist jener Moment größter Klarheit, der den frei Sicht des Patienten auf sich selbst, auf die Welt und auf die Zukunft zu be-
Grund, warum ich immer wieder dorthin zurückkehren werde, in der gewählten Weg in den Tod bedingt. 4.48 Psychose, lässt sich schreiben. Und es finden sich viele religiöse Anspielungen im Text, daher
Hoffnung, daß mir irgendjemand in einem dunklen Raum irgendwo ein als verstörendes und verstörend genaues Protokoll einer schien mir eine Art ‘unheiliger depressiver Dreifaltigkeit’ am richtigsten. Ich
Bild zeigt, daß sich in mein Hirn einbrennt und so ein Zeichen hinterläßt, Krankheit lesen, einer Krankheit zum Tode. Es verweigert sich denke, daß diese Aufspaltung den Text ‘universeller’ macht - und das wie-
das dauerhafter ist als der Augenblick selbst.“) - das erinnert mich dar- dramatischen Strukturen, präsentiert keine herkömmlichen Per- derum ist eine zentrale Erfahrung von Depression.
an, daß eines ihrer größten Theatererlebnisse eine Live-Sex-Show in
Amsterdam war, in der der Teufel dem Sensenmann den Schwanz
sonen, will keine Handlung zeigen; vielmehr ist es eine lyrische 4.48 Psychose ist ein sehr persönlicher Text. Würden Sie denen zustim-
lutschte. „If we can experience something through art, then we Elegie, komponiert aus Mono- und Dialogen, aus Aufzählungen, men, die das Stück als das ‘Testament’ , das Vermächtnis einer hochbe-
might be able to change our future, because experience engraves Repetitionen, Variationen über die Unmöglichkeit zu leben, die gabten jungen Autorin nennen?
lessons on our hearts through suffering, whereas speculation lea- Unfähigkeit zur (Selbst-)Liebe; ein unsäglich verzweifelter, zer-
ves us untouched... It’s crucial to chronicle and to commit to me- stückelter Textkörper, dem Auslöschung das Ziel ist, Fragmente Meiner Meinung nach sind all ihre Texte sehr persönlich. Aber weil 4.48
mory events never experienced in order to avoid them happening. eines Selbst, das sich nicht mehr zu definieren weiß, auch nicht Psychose auf konventionelle Charaktere verzichtet, tritt das persönliche
I’d rather risk overdose in the theatre than in life“ („Wenn wir fähig mehr über die Sprache, die noch kurz Linderung bringt, bevor Moment stärker zutage. Eigenartigerweise ist es aber auch zugleich ihr all-
sind, etwas durch Kunst zu erfahren, dann sind wir vielleicht auch fähig, gemeinstes Stück - schon deshalb, weil es etwas zum Gegenstand hat,
auch sie sich auflöst; Dokument einer kaputten Welt zerstörter
unsere Zukunft zu ändern, weil Erfahrung sich in unsere Herzen ein- über das jeder ein bißchen weiß, selbst, wenn er oder sie selbst nie so
schreibt, wohingegen Spekulationen uns unberührt lassen ... Es ist wich- menschlicher Beziehungen, gleichzeitig einer unsagbaren weit oder so tief gegangen sind. De facto ist das Stück auch eine Art Ver-
tig, Ereignisse, die wir nie erlebt haben, zuzulassen und unserem Ge- Trauer um den Verlust der stabilisierenden Einheit des Selbst: mächtnis, ein letztes Statement - es geht um Selbstmord, und Sarah hat
dächtnis mitzuteilen, um zu verhindern, daß sie eintreten. Eher riskiere BODY AND SOUL CAN NEVER BE MARRIED. sich ein Monat, nachdem sie die Arbeit abgeschlossen hatte, umgebracht.
ich eine Überdosis im Theater als im Leben.“) – das finde ich eine wun- Viele Kritiker haben das Stück nach der Uraufführung nur als ‘Abschieds-
derbare Beschreibung dessen, was ihre Stücke am Theater auslösen - brief’ gelesen, und einfach eine gute Story gewittert. Tatsächlich hat Sarah
sie sind experimentell, nicht spekulativ. Die zentrale Stelle in Gesäubert, an dem Text sehr sorgfältig über 9 Monate gearbeitet; und als Autobiogra-
zum Beispiel lautet „F-F-F-F-F-Felt it.“; das sagt eine Frau, die physisch phie ist es sehr unergiebig und enthüllt wenig. In ihren Stücken geht es die
derart mißbraucht wurde, daß sie kaum noch sprechen kann. Ich glau- meiste Zeit um Gefühle, darum, wie sich etwas anfühlt, und 4.48 Psychose
be, daß Sarah ganz genau wußte, daß das Schreiben ihr persönlich beschreibt quasi von Innen, wie sich eine klinische Depression anfühlt.
nicht helfen würde - es war niemals therapeutisch. Gleichzeitig geht es um Ideen - das philosophische Paradoxon des ‘Ster-
ben-Wollens’ und das politische Paradoxon von ‘Normalität’. Natürlich hat
Sie haben die negativen Reaktionen auf ihr Werk in England angesprochen. sie sich ihrer eigenen Gefühle bedient, um das Stück zu schreiben. Ein
Vor allem Zerbombt löste ja starke Proteste aus. Wie haben Sie das erlebt? Jahr bevor sie mit der Arbeit an 4.48 Psychose begonnen hat, schrieb sie
Und wie ging es ihr damit, so heftig im Kreuzfeuer der Kritik zu stehen? über ihre bisherige Arbeit: „I don’t find my plays depressing or lacking
in hope. To create something beautiful about despair, or out of a
Bei Zerbombt war es, als ob die Kunst das Leben imitierte! Der Zynismus feeling of despair, is for me the most hopeful, life-affirming thing a
des Journalisten in Sarahs Stück bestimmte auch die Art und Weise, wie person can do.“ („Ich glaube nicht, daß meine Stücke depressiv oder
britische Zeitungen - und nicht nur die Sensationspresse - darüber berich- hoffnungslos sind. Etwas Schönes über Verzweiflung zu schreiben, oder
tet haben: „Ein Theater bringt ein Stück, geschrieben von einer fiesen 23- aus einer Verzweiflung heraus zu schreiben, ist für mich das Hoffnungs-
jährigen, die von unseren Steuergeldern finanziert wird!“ Meine liebste He- vollste, Lebensbejahendste, das man tun kann“.)
adline war „This Feast Of Filth“ („Ein Fest des Drecks“); solche Reaktionen
haben das Stück bekannt gemacht - haben andererseits aber auch nicht Sie haben Sarah Kane ja in all den Jahren nicht nur beruflich, sondern
gerade zu dessen Verständnis beigetragen. Ironie, daß Sarah sich in der auch privat sehr gut kennengelernt. Wie denken Sie über ihren Freitod?
Welt der Sensationspresse recht gut auskannte, weil ihr Vater für eine die-
ser Zeitungen als Journalist arbeitete. Gern zitierte sie den Satz: „Nur ein Der Schmerz hat aufgehört; sie hatte einen Punkt erreicht, wo ihr das nöti-
toter Journalist ist ein guter Journalist“. Aber natürlich waren die verhee- ger war als zu leben. Ich glaube nicht, daß irgendjemand das kommen ge-
renden Reaktionen für sie ein Alptraum - sie hatte alles, ihr Herz, ihre Seele sehen hat; sie hat auch viel über Selbstmord gesprochen und so lange
in das Stück hineingepackt, hat es gewagt, offen über die Geschehnisse darüber geschrieben - vielleicht ist es dann auch nicht so überraschend.
in Bosnien zu sprechen, zu einer Zeit, als die meisten Schriftsteller dies ig- Natürlich war es tragisch, und natürlich kann man darüber nachdenken,
norierten; hören zu müssen, sie sei nur ein verantwortungsloses Kind, ob sie eine bessere Behandlung hätte haben können, und so weiter, aber
machte sie wahnsinnig zornig. Da war es gut, daß andere Autoren für das SARAH KANE, geboren 1971 in Essex, studierte zunächst am Ende ist es doch so, daß sie einen Grund zu leben suchen mußte und
Stück öffentlich Partei ergriffen - Pinter und Bond wurden zu dieser Zeit ih- Theaterwissenschaft an der Bristol University, dann Szeni- ihn nicht mehr finden konnte, und das, glaube ich, war ihr ureigenstes Vor-
re Mentoren. sches Schreiben an der Birmingham University. Durch die recht. Als ich mit der Arbeit an 4.48 Psychose begann, wurde mir klar,
Uraufführung ihres ersten Stückes Zerbombt (Blasted) 1995 wie wenig ich über Depression wußte, daß Depression in unserer Gesell-
Pinter und Bond hat sie ja auch als ihre Vorbilder angesehen. am Royal Court Theatre London wurde sie rasch bekannt: das schaft immer noch ein großes Tabuthema ist, obwohl so viele Menschen
unter Depressionen leiden. Das Stück beschreibt letztlich die Reise eines
Ja - die beiden waren ihre Theatergötter, dazu noch Shakespeare und vor
Stück wurde rasch in mehrere Sprachen übersetzt und europa- Individuums zu jenem Punkt, an dem Selbstmord die einzige Option bleibt.
allem Beckett. Eine ihrer liebsten Dialogstellen stammt aus Fin de Partie, weit aufgeführt. Phaidras Liebe (Phaedra`s Love), 1996 von der Und die Intensität, mit der Sarah diese Reise beschreibt, finde ich un-
wo es über Gott heisßt: „Le salaud! Il n’existe pas.“, die sie auch in Zer- Autorin selbst am Gate Theatre London inszeniert, und Gesäu- glaublich berührend, vor allem, wenn man bedenkt, was es sie gekostet
bombt zitiert; in 4.48 Psychose heißt es einmal „Diebstahl ist der heilige bert (Cleansed), 1998 wieder am Royal C ourt uraufgeführt, haben muß, das niederzuschreiben.
Akt“. Wenn man bedenkt, wieviele große Dichter sie zitiert, dann über- festigten ihren Status als empfindsames, zugleich tief verstör-
rascht es doch sehr, wie hervorragend sie es geschafft hat, die Angst vor tes Talent. Gier (Crave), ebenfalls 1998, bei den Festspielen in Mit James Macdonald haben Hans Mrak und Stephan Müller gesprochen
Einflüssen zu transzendieren: Ich glaube nicht, daß man ihr Werk mit dem E dinburgh uraufgeführt, zeigte ein andere Sarah Kane: ein
irgendeines anderen verwechseln kann.
großer, verzweifelter Monolog eines Menschen, „dem die Liebe
James Macdonald zeichnete u.a. 4.48 PSYCHOSE
In einem Interview sprach Sarah Kane davon, daß sie sich sehr mit Anto- abhanden gekommen ist“, zugleich ein Abschied von der scho- für die Uraufführungen von von Sarah Kane
nin Artaud beschäftigte, während sie an 4.48 Psychose arbeitete. nungslosen Darstellung physischer und psychischer Gewalt. Gesäubert, Zerbombt und Österreichische Erstaufführung
Von 1998 bis 1999 war sie Hausautorin bei der Paines Plough 4.48 Psychose verantwortlich. REGIE: James Macdonald
Ich glaube, daß Artauds Denken im Ganzen wesentlich wichtiger für ihre Theatre C ompany. Nach einem Krankenhausaufenthalt Außer am Royal Court AUSSTATTUNG: Jeremy Herbert
Arbeit war, als irgendein spezieller Text, den er geschrieben hat. Aber sie (Selbstmordversuch) erhängte sie sich im Februar 1999. In 4.48 inszeniert er auch regelmäßig an LICHT: Nigel Edwards
hätte zum Beispiel den Forderungen, um die es in Artauds Briefwechsel anderen Theatern . MIT: Maria Hengge,
Psychose (geschrieben in einem Zeitraum von 9 Monaten) pro- Heike Kretschmer; Lukas Miko
mit Jacques Rivière geht, vollkommen zugestimmt - die Verantwortung,
tokollierte sie ihre Krankheit. Es entstand großteils in einer Ner-
die ein Schriftsteller auf sich nehmen muß, neue Formen zu finden, die ex-
akt das reflektieren, was er in seinem Kopf erlebt.... venheilanstalt und erlebte im Juni 2000 seine (posthume)
Uraufführung ebenfalls am Royal C ourt Theatre. Auf Sarah ➔ STURZFLIEGEN. Ein
Abend über Depressio-
Premiere am 17. Februar im
Kasino am Schwarzenberg-
Wie haben Sie sich 4.48 Psychose genähert, als Sie es in London zur Kanes Entschluß trifft wohl auch ein Satz aus diesem Stück zu: nen und Manien platz; weitere Vorstellungen
Uraufführung brachten? THIS IS NOT A WORLD IN WHICH I WISH TO LIVE. Informationen auf S. 15 am 18., 19., 20. und 27.2.

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vorschau
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Auf dem Spielplan im Februar/März 2002


Burgt h e a t e r Akademiet h e a t e r

RO SEN FÜR DAS ENSEMBLE


DREI PUBLIKUMSRENNER FEIERN „RUNDE VORSTELLUNGEN”

Erst Ende März des letzten Jahres hatte Stephan Müllers Dramatisierung von Thomas Bernhards Roman ALTE MEISTER im
Kasino am Schwarzenbergplatz Premiere, wechselte nach erfolgreichem Start ins Akademietheater, und nun feiert das Ensemble
mit Adrian Furrer, Urs Hefti, Hanspeter Müller und Edmund Telgenkämper am 16. Februar schon die 50. Vorstellung. Ein großer
Publikumserfolg, wie schon die Kritik erahnen ließ: „Mit subtilen Mitteln wird die Hypotaxe des Bernhard’schen Textes in den Büh-
nenraum choreographiert. Wie die Schachtelsätze des Originals verklammern sich die vier Herren (...) ineinander, wechseln ihre Posi-
tionen und feuern aus dem Hinterhalt die besten Pointen des österreichischen Übertreibungskünstlers noch einmal ab.” (NZZ)
Auch Robert Meyer mit seinem Soloprogramm HÄUPTLING ABENDWIND gilt großes Publikumsinteresse: Bereits zum 25. Mal
steht die „Indianische Faschingsburleske“, wie sie von Nestroy genannt wird, am Mittwoch, den 20. Februar, auf dem Programm
des Akademietheaters. Versäumen Sie also nicht zu erleben, wie die Häuptlinge Abendwind und Biberhahn die jahrelange Feind-
schaft ihrer Stämme mit einer Verehelichung ihrer beiden Kinder beenden wollen, doch durch einen schiffbrüchigen Fremdling
enorm in diesem Vorhaben gestört werden und so erst einmal ein großes, Nestroy’sches Durcheinander entsteht.
Ebenfalls feiern kann das Ensemble der Produktion DAS WEITE LAND. Zum 50. Mal steht Schnitzlers Tragikomödie in der Regie
von Achim Benning am Montag, den 25. Februar, auf dem Spielplan des Burgtheaters. Ein heutiges Stück mit Karlheinz Hackl,
Regina Fritsch, Kitty Speiser, Branko Samarovski, Heinrich Schweiger, Sylvia Lukan, Robert Meyer, Johannes Krisch u.v.a.:
Der Fabrikant Hofreiter, verheiratet, aber unterwegs mit einem jungen Mädchen auf einer Bergtour, tauscht Erfahrungen mit dem
Hoteldirektor Aigner aus. Auch Aigner hat einmal seine Frau betrogen, obwohl er sie über alles geliebt hat. Und um die Ehe nicht
noch durch eine Lüge zu beschmutzen, hat er ihr den Betrug gestanden. Sie hat sich von ihm getrennt und er begriff, daß es not-
wendig war. Denn auch sie hat ihn als einzigen geliebt - und durch den Seitensprung war das Vertrauen in ihre Beziehung
grundsätzlich erschüttert. Gerade weil sie sich liebten, mußten sie sich trennen. Hofreiter versteht Aigner nicht, dessen Haltung ist
ihm fremd. Er selbst hat wenig Skrupel, seine Frau zu betrügen. Gerade hat er eine Affaire beendet und auch die Bergtour unter-
nimmt er in ziemlich eindeutiger Absicht. Aber Aigner verknüpft mit seiner persönlichen Erfahrung keinen moralischen Standpunkt,
denn, sagt er, „die Seele ist ein weites Land.“
ALTE MEISTER von Thomas Bernhard - Ensemble
Nächste Vorstellungen am 8. und 16. Februar im Akademietheater

HÄUPTLING ABENDWIND
von Nestroy/Offenbach - Robert Meyer
Am 20. Februar im Akademietheater

DAS JÜNGSTE TAG von Ödön von Horváth -


Peter Simonischek, Johanna Wokalek CYRANO VON BERGERAC von Edmond
Ab 7. März im Burgtheater Am 20. und 22. Februar im Burgtheater

CYRAN O VO N BERG ERA C und DER JÜN G STE TAG


IM FEBRUAR UND MÄRZ WERDEN ZWEI ERFOLGSPRODUKTIONEN WIEDER AUFGENOMMEN

Er ist der berühmteste Haudegen seiner Zeit, ein brillanter Poet, ein von den Mächtigen gefürchteter Satiriker, doch eines fehlt ihm:
die Liebe einer Frau. Ein Makel hält ihn davon ab, daran zu glauben, er könnte diese je erringen: seine Nase. Sie ist riesengroß, nie-
mand darf in seiner Gegenwart darauf anspielen oder sie auch nur länger betrachten. Wenn einer darüber spottet, dann er selbst.
Plötzlich aber erscheint ein junger Mann und verhöhnt ihn. Doch kann er ihn nicht, wie er es schon mit vielen tat, vor seinen De-
gen fordern, denn seine Cousine liebt den schönen jungen Mann. Der liebt sie auch, kann es ihr aber nicht gestehen, denn so
schön er ist, so ungeschickt ist er, sich auszudrücken. Und gerade darauf legt die preziöse Dame Wert. Auch der mit seiner Nase
geschlagene Poet liebt die Cousine schon seit ihren Kindertagen. Die beiden Männer verbünden sich: der Dichter leiht dem Schö-
nen seine Worte, und durch dessen Mund kann er der Angebeteten gestehen, was er ihr sonst nie zu sagen wagte. - Aber wann
wird sie das Doppelspiel durchschauen? CYRANO VON BERGERAC von Edmond Rostand - eine der großen romantischen
Komödien der Weltliteratur mit Klaus Maria Brandauer in der Titelrolle und Barbara Auer, Denis Petković, Roland Koch, Johannes
Terne, Branko Samarovski, Heinrich Schweiger, Peter Matić u.v.a. - ab 20. Februar wieder im Burgtheater!
Schuld und die Einsicht in Schuld sind das Thema von Horváths spätem Stück DER JÜNGSTE TAG. Eine Unachtsamkeit des
Stationsvorsteher Hudetz hat zu einem schweren Zugunglück geführt. Der pflichtgetreue Beamte kann nicht glauben, daß er ver-
antwortlich ist und leugnet die Tat. Er findet eine Zeugin in der jungen hübschen Wirtstochter Anna, die ihn im entscheidenden
Augenblick durch einen übermütigen Kuß abgelenkt hat. Doch nach dem Meineid regt sich ihr Gewissen und beide verstricken
sich immer weiter in ihrer Schuld.
Ab 7.März stehen Peter Simonischek, Elisabeth Orth, Michael König, Hanspeter Müller, Johanna Wokalek, Nicholas Ofczarek,
Annette Paulmann, Libgart Schwarz, Florentin Groll, Gerd Böckmann, Cornelius Obonya, Hans Dieter Knebel, Wolfgang Gasser,
Franz J. Csencsits, Urs Hefti, Branko Samarovski, Daniel Jesch, wieder in Andrea Breths für drei Nestroys nominierter Insze-
nierung - „hinreißend genau und beglückend einfach“ (Die Presse) - auf der Bühne des Burgtheaters.

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INFORMATION gesamten Folgemonat (Tel: 5132967-2967). Sollte der Wahlabonnenten- REINEKE FUCHS: Preisermäßigung für Kinder bis 16 Jahre: 50 % Er-
Über Kartenreservierungen und Serviceleistungen im Servicecenter des Vorverkaufstag auf ein Wochenende oder einen Feiertag fallen, so ist mäßigung. Die Preise für Einzelveranstaltungen sind extra gekennzeichnet.
Burgtheaters, Hanuschgasse 3, 1010 Wien. Tel. +43 / 1 / 51444-4140 der nächstfolgende Werktag der offizielle Vorverkaufstag. ( Ausnahme
Wahlabo III Vorverkauf ab 14. des Vormonats auch an Sonn- und ERMÄSSIGUNGEN
TAGESKASSEN Feiertagen). Ermäßigte Karten auch im Vorverkauf. Der telefonische Last Minute Ticket: 50% Ermäßigung ab einer Stunde vor Vorstellungs-
Zentrale Kassen der Bundestheater: Kartenverkauf für Inhaber von Kreditkarten beginnt am ersten beginn an der Abendkasse bei nicht ausverkauften Vorstellungen, ausge-
Hanuschgasse 3, 1010 Wien, Telefon/Information: 514 44/7804 Vorverkaufstag. Tel: +43 / 1 / 513 1 513, von Montag bis Sonntag nommen Matineen und Sonderveranstaltungen im Kasino. Schüler,
Im Burgtheater: von 10 - 21 Uhr. Kartenvorverkauf über Kartenbüro JIRSA, Tel: +43 / 1 Studenten, Lehrlinge, Präsenz- und Zivildiener sowie Arbeitslose mit
Dr.-Karl-Lueger-Ring 2, 1010 Wien, Telefon: 514 44/4440 / 400 600. Stehplätze für das Burgtheater und Akademietheater entsprechendem Lichtbildausweis erhalten bei nicht ausverkauften Vor-
In der Volksoper Wien: werden an den Abendkassen verkauft. Kartenverkauf im Internet über stellungen an der Abendkasse 30 Minuten vor Beginn der Vorstellung
Währinger Straße 78, 1090 Wien, Telefon: 514 44/3318 www.burgtheater.at oder direkt: www.culturall.com ermäßigte Karten zum Preis von € 7 (ATS 96,32)

ÖFFNUNGSZEITEN SCHRIFTLICHE KARTENBESTELLUNGEN


Montag bis Freitag: 8 bis 18 Uhr, Samstag, Sonn- und Feiertag: aus den Bundesländern und aus dem Ausland können bis spätestens zehn
9 bis 12 Uhr Tage vor dem Vorstellungstag an das Servicecenter Burgtheater, Hanuschgasse
In den Zentralen Kassen am 1. Samstag jedes Monats und an den 3, 1010 Wien, gerichtet werden. Tel: +43 / 1 / 51444-4145, Fax -4147.
Adventssamstage 9 bis 17 Uhr SPIELPLAN/ABONNEMENT / WAHLABONNEMENT / ZYKLEN
Der Spielplan des Burgtheaters mit Akademietheater, Kasino und
KARTENPREISE
ABENDKASSEN Tel: +43 / 1 / 514 44 + DW Vestibül und mit allen Abonnement- und Zyklenterminen erscheint jew-
Preiskategorien Burgtheater und Akademietheater € 4 (ATS 55,04),
Burgtheater/Vestibül DW 4440, Akademietheater DW 4740, Kasino DW 4830 eils am 15. des Vormonats. Er liegt an allen Spielstätten aus und kann
€ 7 (ATS 96,32), € 15 (206,40), € 22 (ATS 302,73), € 29 (ATS auf Wunsch kostenfrei zugeschickt werden. Abonnementen, Wahlabon-
Die Abendkassen öffnen eine Stunde vor Vorstellungsbeginn.
399,05), € 36 (ATS 495,37), € 44 (ATS 605,45), Stehplätze € 1,5 (ATS nenten und Inhaber von Zyklen erhalten den Monatsspielplan automa-
KARTENVORVERKAUF 20,64) Einheitlicher Kartenpreis für im Kasino € 22 (ATS 302,73), im tisch per Post. Spielplaninformation im Internet unter www.burgthe-
Beginnt jeweils am 20. des Vormonats für den gesamten Folgemonat. Vestibül nach Angabe (ermäßigte Karten für € 7 (ATS 96,32) auch im ater.at und täglich im DER STANDARD und in weiteren Wiener
Wahlabonnenten haben Vorkaufsrecht ab 15. des Monats für den Vorverkauf. Tageszeitungen.

Kasino Vestibül

WIEN - PARIS - WIEN


DIE MÖWE FLIEGT WIEDER!

Nach zahlreichen Gastspielen in Berlin, Moskau, Edinburgh geht DIE MÖWE nach Paris - ist aber im Februar und März auch
wieder im Akademietheater zu sehen.

In Tschechows Menschentheater bleibt kein Unglückspaar allein, es gibt immer noch ein zweites, ein drittes und oft ein viertes. Man
liebt parallel und über Kreuz, doch fast immer vergeblich. Weil aber alle diese Trauerfälle sich so kraus verschlingen und ineinander
spiegeln, verliert der einzelne bald an Gewicht und wird komisch. Mindestens für den Zuschauer, der ja anders als die Verstrickten
ihr vergebliches Sehnen und Werben durchschaut, auch die Wonne im Schmerz erkennt, diese Sucht nach Verwundung, den
Ehrgeiz im Martyrium. So auch Nina, die „Möwe“, das ärmste Opfer in dem nach ihr benannten Stück.

„Luc Bondy zeigt einfach, was ist. Daraus entsteht die Ehrlichkeit dieser Aufführung und auch ihre Traurigkeit – eine Traurigkeit,
die nie in Schwermut absackt, weil Bondy gelingt, was Tschechow stets eingefordert hat: den komödienhaften Zug seiner
Stücke aufschimmern zu lassen, die tragische Lächerlichkeit all dieser Lebenspfuscher wahrzunehmen, den Witz ihrer Verzwei-
flung.“ (Süddeutsche Zeitung)

„Unmöglich, diese Inszenierung zu beschreiben; wer sie sehen kann, hat Glück.“ (NZZ)

DIE MÖWE von Anton Tschechow - am 6., 7. und 15. Februar im Akademietheater. Am 22., 23., 24. und 26. Februar gastiert das
Ensemble mit Jutta Lampe, August Diehl, Martin Schwab, Gert Voss, Johanna Wokalek, Ignaz Kirchner, Philipp Brammer, Urs
Hefti, Gertraud Jesserer, Maria Hengge, Benjamin Çabuk, Alena Baich und Hans Kloser im Odeon, Théâtre de l’Europe Paris.

DAS WEITE LAND von Arthur Schnitzler -


Karlheinz Hackl, Regina Fritsch
Am 6., 7. und 25. Februar im Burgtheater

DIE MÖWE von Anton Tschechow -


Jutta Lampe
d Rostand - Klaus Maria Brandauer Am 6., 7. und 15. Februar und
r am 12. März im Akademietheater

FRÜHLINGS ERWACHEN
von Frank Wedekind - Birgit Minichmayr, Michele Cuciuffo STÜRMIS C HE G EFÜHLE
Vorstellungen im Akademietheater,
FRÜHLINGS ERWACHEN VON FRANK WEDEKIND IM AKADEMIETHEATER
am 9. und 13. Februar und am 17. März
Die Jugendlichen in FRÜHLINGS ERWACHEN leiden allesamt unter einer ebenso heimtückischen wie unumgehbaren Epidemie:
sie sind in der Pubertät. Ihre Körper verändern sich, die Hormone spielen verrückt, und in den Familien bricht das Chaos aus. Sie
entdecken sich und ihre Körper im Kontext aufkeimender Sexualität. Zu Wedekinds Zeiten sahen sie sich schulischer Repression
und einer prüden, alles Körperliche verneinenden Sexualmoral ausgesetzt – heute fallen sie in den Bausch aufgeklärter Pädagogik:
jede Information ist zu haben, und doch ist das erste Verliebtsein so umwerfend wie eh und je; und die Angst vor dem ersten Mal ist
so tückisch, dass immer wieder die gleichen Katastrophen geschehen. Die unbändigen Gefühlsschwankungen, die Suche nach der
eigenen sexuellen und seelischen Identität, das Austesten der von der Gesellschaft gesetzten Grenzen, das sind die Themen, die
Wedekind am Beginn des letzten Jahrhunderts provokant, die Zensur auf den Plan rufend, in seinem Stück verarbeitet hat: Lustvolle
Onanie auf offener Szene, zwei junge Männer, die ihrem homoerotischen Verlangen nachgehen, Wendla Bergmann, die ungewollt
schwanger wird, Moritz Stiefel, der, von Pubertätsnöten geplagt, allen Lebensmut verliert, und Melchior Gabor, der jenen
‘Vermummten Herrn’ trifft, der ihn ins Leben führen will ...

„Christina Paulhofer, die junge deutsch-rumänische Regisseurin, entschied sich für den Versuch, mit Wedekinds Text ein Drama heutiger
Pubertät auf die Bühne zu bringen. Und - der Versuch gelang. Selten sah man die jungen Darsteller der Burg so gelöst, so intensiv, so
bei sich, so befreit von angelernten Manierismen der Schauspielschulen. Junge Menschen in ihrer Verletzlichkeit.“ (Der Standard)
„Das Wiener „Frühlings Erwachen“ ist so unangestrengt heutig, so witzig, so lebendig und von solcher Frühlingszartheit, dass man
verblüfft ist und beglückt. Beglückt, weil ein jugendliches Ensemble lustvoll die Lust spielt an diesem Spiel, das vor nicht allzu lan-
ger Zeit ihre persönliche Pein gewesen sein dürfte – und damit auch frustige und lustige Erwachsene erreicht. Verblüfft, weil es
Christina Paulhofer gelingt, den Schmerz zu offenbaren, der hinter der Verwirrung der Gefühle steckt; die Aggression, die Ersatz ist
für Erfüllung der heimlichen Wünsche.“ (Süddeutsche Zeitung)

Karten und Information: www.burgtheater.at / 51444-4140 / Vorverkaufbeginn am 20. des Vormonats


Auf Seite 15 finden Sie Hinweise und Ankündigungen zu unseren Sonderprogrammen!

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vorschläge
VORSPIEL_13_LITHO 22.01.2002 14:28 Uhr Seite 15

TRAUMGEKRÖNT DER VERBRECHER AUS VERLORENER GEDACHTES, BELACHTES,


RAINER MARIA RILKE UND CHRISTIAN MORGENSTERN EHRE. EINE WAHRE GESCHICHTE VERBRANNTES
IN VERTONUNGEN DER KOMPONISTEN IHRER ZEIT MARTIN SCHWAB LIEST FRIEDRICH SCHILLER OTTO SCHENK LIEST AUS SEINEN LIEBLINGSBÜCHERN

Klaus Bachler holte vor drei Jahren Cornelius Obonya zurück Schillers „wahre Geschichte“ über das Räuberleben des Ein Abend zugunsten der österreichischen Gesellschaft der
nach Wien. Die erste Rolle, mit der er sich dem Burgtheater- Friedrich Schwan (bei Schiller Christian Wolf) könnte man Freunde der hebräischen Universität Jerusalem
Publikum vorstellte, war der Soldat in Schnitzlers „Reigen”, es als Rückerinnerung lesen, die Schiller in der aufgezwunge-
folgten unter anderem der Junge in Albees „Das Spiel ums nen Rolle eines Deserteurs seiner verlassenen schwäbi-
Baby”, Ajax in Shakespeares „Troilus und Cressida”, Hollarcut schen Heimat nachschickt. Oft jedoch wird sie auch von
in Bonds „Die See”, Gottschalk in Kleists „Käthchen von Juristen herangezogen, um am Beispiel von Schillers
Heilbronn” und zuletzt eine Doppelrolle in Peter Zadeks Anklage der württembergischen Unrechtszustände ein
Marlowe-Inszenierung „Der Jude von Malta”. Modell aufgeklärter Strafpraxis zu entwickeln.
Die Erzählung über den Ebersbacher Gastwirtsohn Christi-
an Wolf, zeigt den Weg eines Menschen, der immer tiefer
in Armut und Not gerät Von der Gesellschaft verstoßen
und vertrieben, wird er zum Mörder und Verbecher und
schließlich zum Tode verurteilt.

Karten können an den Zentralen Kassen der Bundestheater


im Hanuschhof, Goethegasse 1, 1010 Wien, und direkt im
Burgtheater erworben werden.
Erstmals ist Cornelius Obonya nun mit einem eigenen,
lyrisch-musikalischen Programm zu sehen: Nach einer Im Burgtheater am 20. März um 20 Uhr
Idee des Dirigenten Rami Langer, der den Abend am

STURZFLIEGEN
Klavier begleitet, und der Sopranistin Birgit Kurtz begibt er
sich auf die Spuren Rainer Maria Rilkes und Christian
Morgensterns im Spiegel der Komponisten ihrer Zeit.
So entsteht mit der Gegenüberstellung der lyrischen Dich-
tung zu den jeweiligen Vertonungen von Alexander Zem- LEBEN IN DEPRESSIONEN UND MANIEN
linsky, Egon Wellesz, Franz Mittler, Alban Berg und Erich
Zeisel ein poetisches Bild des literarisch-musikalischen
Lebens der letzten Jahrhundertwende. Dabei werden
Gelesenes, Gesungenes
auch unveröffentlichte Noten aus dem privaten Nachlass
von Erich Zeisel zur Aufführung gebracht.
„Der Verbrecher aus verlorener Ehre gilt mit Recht als erste
große Novelle des neueren deutschen Schriftums. Sie ist und Nacherzähltes von
Im Akademietheater am 28. Februar um 20 Uhr
zu einer Art Modell geworden. Wir könnten ihre Nachwir-
kungen bis auf unserer Tage verfolgen, ziehen es aber vor, und über Menschen
„KOMIK IST IMMER ERNST BIS DER
auch hier die Frage nach ihrer Bedeutung im Gesamtwerk
Schillers aufzuwerfen. Die Nähe der Räuber ist unverkenn- zwischen Himmelfahrt und
KOMIKER SICH UMBRINGT“
bar. Christian Wolf, der Sonnenwirt ähnelt physiognomisch
Franz, sein Schicksal erinnert an Karl Moor. Die Antagoni- Höllensturz, Menschen,
sten des Erstlings werden zusammengefaßt und sozial auf
eine tiefere Stufe versetzt. So war es vorgezeichnet in der die medizinisch betrachtet
Geschichte , die Professor Abel in der Stuttgarter Akade-
mie vermutlich seinen Schülern erzählt und später seiner depressiv, manisch oder
Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus
dem menschlichen Leben einverleibt hat. beides sind.
Schiller, obwohl er sich in der Seele eines Christian Wolf
aus eigener ungeklärter Erfahrung auskennt, tritt, sobald er
Texte von William Shakespeare (Sonette),
ihn darzustellen versucht, von außen an ihn heran, löst sei-
nen Charakter in Eigenschaften auf und setzt ihn wieder Friedrich Nietzsche (Die Fröhliche Wissenschaft),
zusammen. Immer wenn er darauf verzichtet, die Größe Thomas Bernhard (Wittgensteins Neffe) und
pathetisch zu proklamieren, bleibt ihm der Umweg über Gabriele Vasak (Sturzfliegen 1-3)
den diskursiven Scharfsinn nicht erspart. Doch allzu lange Musik von Joy Division, Jimi Hendrix, Kurt Cobain,
hält er es bei dieser kühlen Methode nicht aus. Wir spüren, Tom Waits, Udo Lindenberg und Roland Neuwirth
wie mühsam er seine Erregung bemeistert, wie ungeduldig & den Extremschrammeln
der Bühnendichter wieder zu reden begehrt. Der Ton ver-
ändert sich schon, sowie dem Verbrecher selber das Wort Leitung: Univ.Prof.Dr. Heinz Katschnig (Psychiater),
erteilt wird. Christian Wolf erzählt nicht so, wie er nach
Gabriele Vasak (Schriftstellerin) und Stephan Müller
unseren realistischen Wahrheitsbegriffen erzählen müßte.
Nein, Schiller will rühren, setzt sich über den vorgezeichne- Mit Ensemblemitgliedern des Burgtheaters
ten Stil hinweg und gönnt seinem Helden Anstand und
Adel. Im Zug der Katastrophe sodann ist ohnehin kein Hal- Im Kasino am Schwarzenbergplatz am 12. März um 20 Uhr
ten mehr. Mit einer Kunst, die sich um keine Wissenschaft
von der Seele - es sei denn die des Lesers - kümmert, die
rückhaltlose Regie der Affekte Mitleid, Hoffnung, Furcht, ➔ Ein Abend zu

Ich habe Angst.


4.48 PSYCHOSE
Erbarmen ist, werden wir am Ende entgegengeführt, dem
letzten, erschütternden, Stille gebietenden Satz: „Ich bin
Die Künstler haben alle Angst. der Sonnenwirt“. (Emil Staiger)
Angst. Im Akademietheater am 11. März um 20 Uhr

Angst. NACHWEISE BILDER: Georg Soulek (Titelbild, S.15 „Hund Frau Mann“, S.12/13 „Alte Meister“);
Reinhard Werner (S.4 „Der Leutnat von Inishmore“, S.5 „Die Jungfrau von Orleans“, S.6 „Birgit

Kunst und Angst.


Minichmayr, Karlheinz Hackl“, S.12/13 „Das weite Land“, „Cyrano von Bergerac“, „Robert Meyer“,
„Heiratsantrag“, S.15 „Martin Schwab“, „Cornelius Obonya“, „Ignaz Kirchner“), Ruth Walz (S.11 „Jut-
ta Lampe, Edith Clever“, S.12/13 „Die Möwe“), Bernd Uhlig (S.12/13 „Der jüngste Tag“), Martin God-
win (S.7 „Sarah Kane“), Walter Verdin (S.8/9 „Gilgamesh“), das Porträt von Samuel Beckett aus:
Ignaz Kirchner liest Texte aus Thomas Bernhards Gisèle Freund, Photographien & Erinnerungen, München/Paris 1998; die Abbildunge auf S.8/9 aus:
„Minetti“ und „Der Stimmenimitator“ Raoul Schrott, Gilgamesh. Epos, München/Wien 2001; die Abbildung auf S.7 aus: Jenny Holzer,
Writing, Ostfildern-Ruit 1996; TEXTE: Der Text von Sybille Berg (S.3) ist ein Originalbeitrag; der Text
Im Akademietheater am 14. März um 20 Uhr von Günther Rühle (S.5) in: FAZ, 5. Mai 1982.

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