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Georg Wolfgang Cernoch

W ISSEN, TECHNIK, ANPASSUNG.


KARL R. POPPERS MIßLUNGENER ÜBERGANG VON DER LOGIK DER FORSCHUNG
ZUR EVOLUTIONÄREN ERKENNTNISTHEORIE

I. POPPERS PRÄGUNG EINES »GENETISCHEN APRIORI«1


Ich sehe in der Vorstellung der evolutionären Erkenntnistheorie durch Popper zwei
Problemkreise: Erstens die Aufweichung der von ihm in der Logik der Forschung
dargestellten erkenntnistheoretischen Methode und zweitens die irreführende und zum
Teil falsche Bezugnahme auf Kant. Popper benützte anläßlich eines Diskussionsbeitrages
zur Kontroverse von Philosophie und evolutionärer Erkenntnistheorie während eines
Symposiums in Wien 1986 die Gelegenheit, um eine Aussage zu treffen, die von
grundsätzlichem Wert ist: »Erstens möchte ich mir von niemand vorschreiben lassen,
welche Terminologie ich benützen soll. Die Hauptsache ist, daß die Terminologie klar
ist.« (B, S. 127) Popper bezog sich dabei auf die Auseinandersetzung um die
Verwendung des Begriffes der Apriorität bei Kant und in der evolutionären
Erkenntnistheorie: »[Die] Terminologie „genetisch a priori“ ist vollkommen klar,
zumindest meiner Meinung nach. Es heißt, daß etwas schon da ist, vor dem a posteriori,
vor der Wahrnehmung« (B, S. 127).
Popper hat nun in der Exposition seines Diskurses mit Konrad Lorenz auf seine
Bemerkung zur Klarheit der Terminologie auf eine Weise Bezug genommen, welche die
Schwierigkeit seiner terminologischen Abgrenzung aufzeigen läßt. Poppers Auffassung
unterscheidet sich von der Konrad Lorenz darin, daß das »genetische a priori« nicht auf
Umwege von Wahrnehmungen gemacht, also auch nicht mittels Wahrnehmungen
früherer Generationen »ins Genetische übernommen« worden sei. Zum Unterschied des
Gebrauches des Ausdruckes »genetisches a priori« schreibt Popper:2 »Und zwar ist nicht
die Verwendung der Begriffe verschieden, aber meine Theorie ist verschieden. Und
Theorien sind hundertmal wichtiger als Begriffe. (Theorien können wahr und falsch sein,
Begriffe können bestenfalls adequat und schlimmstenfalls irreführend sein. Begriffe sind
nicht wichtig, verglichen mit Theorien).« (B, S. 128) Zwar ist die Unterscheidung von
Theorien und Begriffe, die Popper in Klammer gesetzt hat, richtig, da Theorien die
Begriffe insofern bestimmen, als daß nur Satzsysteme entscheidbar sind. — Trotzdem gilt
auch: Ohne Begriffe keine Sätze und keine Satzsysteme, somit keine Theorien. Popper
hat offensichtlich von seiner Untersuchung der uninterpretierten, implizit und explizit
interpretierten Universalien (nichts anderes als Begriffe) in der Logik der Forschung,

1
Grundlage der hier diskutierten Problemstellung sind zwei Arbeiten von Karl Raimund Popper:
(A) Skizze einer evolutionären Erkenntnistheorie, in: K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, Verlag
Hoffmann u. Campe, Hamburg 1973, p. 68 ff., (B) Die erkenntnistheoretische Position der
Evolutionären Erkenntnistheorie, in: derselbe, Alles Leben ist Problemlösen, Piper 1994, p. 127 ff..
Diese Arbeiten werden im Zuge des vorliegenden Aufsatzes als A oder B zitiert.
2
(B, p. 128). Hier im 3. Kapitel.
— 2 —

deren Status entscheidend ist, welche Art von Theorie das Ergebnis der Interpretation des
Axiomensystems ist, bereits Abschied genommen.3
Popper setzt nun fort: »Aber von der „Notwendigkeit“ eines apriorischen Wissens,
um das Wahrnehmungswissen zu ermöglichen, darf man nicht auf die „Notwendigkeit“
im Sinne einer logischen Modalität schließen. Genau hier weiche ich von Kant ab: Da
unser Wahrnehmungswissen hypothetisch ist, darf unser apriorisches Wissen auch
hypothetisch sein. Und so ist es in der Tat.« (B, S. 129) Popper dürfte dem
weitverbreitenden Irrtum aufgesessen sein, der Geltungsanspruch der Kantschen
Kategorien würde sich auch auf die Produkte ihrer Anwendung auf Erfahrungsobjekte
erstrecken. In der modallogischen Frage folgt er also doch Konrad Lorenz: »Man muß
sich klar darüber sein, daß diese Auffassung des ›Apriorischen‹ als Organ die Zerstörung
seines Begriffs bedeutet: Etwas in stammesgeschichtlicher Anpassung an die Gesetze der
Außenwelt Entstandenes ist in gewissem Sinne a posteriori entstanden, wenn auch auf
einem durchaus anderen Wege als dem der Abstraktion oder der Deduktion aus
vorangegangener Erfahrung«4 Offenbar glaubt Popper in der Tat, daß die Geltung apriori
im Zuge der Kantschen Argumentation darauf beruhe, daß Kant beansprucht hat, auf dem
Umweg präformierter Kategorien unseres Verstandesgebrauches ontologische Prinzipien
der Natur in Stellung gebracht zu haben. Nur so erklärt sich diese Äußerung: Da sich nun
die Natur nicht als ein für alle Mal Feststehendes herausgestellt hat, so hätten auch die
Erkenntnisprinzipien eines Geschöpfes mit Intellekt und Sinnlichkeit begabt gegenüber
den Naturgegenständen kein Anrecht auf unwandelbar apriorische Geltung.
Wenn nun Popper mit seiner Begriffsprägung »genetisches Apriori« bloß aus dem
scholastischen Verständnis des »a priori« eine Reihenfolge herausheben wollte, wäre
nichts dagegen einzuwenden. Darüberhinaus sei es aber »notwendig, das Wort „a priori“
deshalb weiter zu verwenden, weil es hier eben eine ganz bestimmte Beziehung zum
Kantianismus gibt. Meiner Meinung nach wird Kant viel verständlicher, wenn man sich
darüber klar wird, daß er, wenigstens sehr oft, „genetisch a priori“ gemeint hat, obzwar er
natürlich immer von „a priori gültig“ gesprochen hat.« (B, S. 127) Es würde zu weit

3
Karl Raimund Popper, Logik der Forschung, Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen 51973, S. 42 ff..
Vgl. auch den Anhang X, in welchem die Universalien zum Anlaß für eine allgemeine »Strukturtheorie«
werden, die den allgemeinen oberen Sätzen der Naturwissenschaften noch vorausgesetzt werden muß: »Ich
gehe aber hier über das in diesen Abschnitten gesagte hinaus, indem ich den eigentümlichen
ontologischen Status allgemeiner Gesetze betone (etwa dadurch, daß ich von ihrer „Notwendigkeit“ oder
ihrem „strukturellen Charakter“ spreche), und auch durch die Hervorhebung der Tatsache, daß der
metaphysische Charakter und die Unwiderlegbarkeit der Behauptung, es gebe Naturgesetze, uns nicht
daran zu hindern braucht, diese Behauptung rational — d. h. kritisch — zu diskutieren.« (P. 393). Vgl.
dazu G. W. Cernoch, Die Theorie der Theorien als Grundlegung der Methodologie der Erkenntnislogik bei
Karl Raimund Popper. Eine kritische Untersuchung der »Logik der Forschung« unter dem Gesichtspunkt
der Bestimmbarkeit der »logischen Form«von Basissatz und Naturgesetz. in: Jahrbuch der Sir Karl Popper
Gesellschaft, Frankfurt/Main, Peter Lang Verlag 2001
4
Konrad Lorenz, Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie, in: Blätter für
deutsche Philosophie 15 (1941), p. 94-125, p. 95 f
— 3 —

gehen, an Ort und Stelle einen vollständigen Beweis zu versuchen, doch schon aus der
Gegenüberstellung von analytischer (transzendentale Deduktion) und von synthetischer
Methode (Schematismus, Grundsätze) läßt sich erkennen, daß die Gründe a priori bei
Kant, sofern sie überhaupt als genetisch verstehbar sein können, nichts mit den Gründen
des Werdens im Sinne der Entwicklung einer Gattung zu tun hat. So könnte auch die
Behauptung Kants »genetisch« genannt werden, daß die dritte dynamische Kategorie aus
den beiden ersten erst »entspringe«. — Es scheint mit dem Attribut »genetisch«
offensichtlich vielerlei gemeint werden zu können, wenn die Zeitbedingung des Vor-seins
des »a priori« unbestimmt bleibt. Schließlich kommt Popper zu einer Totalaussage: »Ich
behaupte nämlich, daß alles, was wir wissen, genetisch a priori ist. A posteriori ist nur die
Auslese von dem, was wir a priori selbst erfunden haben.« (B, S. 127)
Das hat offensichtlich starke Bezüge zu Kants Auffassung, daß wir nur dasjenige,
was wir selbst in die Erfahrung gelegt haben, wieder a priori herausheben können. Das
»a posteriori« erschöpft sich bei Kant aber nicht in der Idee der Auslese der
Wahrnehmung hinsichtlich der Bildung von Kategorien oder einer Theorie, und erschöpft
sich auch bei Popper in der Logik der Forschung nicht in der Idee der Auslese der
deduktiv exponierten Theorien anhand der Erfahrung, sondern beide setzen bereits
logische Prinzipien als Leitfaden zur Selektion voraus, die nicht selbst in der Erfahrung
der Objekte enthalten sind. Was wir wissen, ist immer a posteriori, wir können nach Kant
nur, wenn wir die Erfahrung analysieren und von den in ihr jeweils empirisch-konkret
gegebenen Bedingungen absehen, auf die Bedingung ihrer sie erst qualifizierenden
Möglichkeit rückschließen. Wir sind gezwungen, für qualifizierte Erfahrung a priori
Bedingungen anzunehmen; nur insofern wissen wir auch von diesen Bedingungen. —
Popper interpretiert hingegen das apriorische Wissen hier als eines, daß dem Wissen
aposteriori vorangehen müsse. Das ist schlechte Metaphysik, die Kant zu überwinden
getrachtet hat, und widerspricht dazu dem Falsifikationsansatz aus der Logik der
Forschung, wonach die Theorien bereits einerseits eine deduktive Form und andererseits
aus den allgemeinen Sätzen der Theorie anhand abgeleiteter Instantialsätze rechtfertigbare
empirische Sätze (Basissätze) besitzen müssen, um in der Erfahrung behauptend
exponiert und gegebenenfalls auch widerlegt werden zu können:5 Weder die obersten
allgemeinen Sätze einer Naturwissenschaft noch deren Hypothesen sind nun apriorisches

5
»Unsere im folgenden entwickelte Auffassung steht im schärfsten Widerspruch zu allen
induktionslogischen Versuchen; man könnte sie etwa als Lehre von der deduktiven Methodik der
Nachprüfung kennzeichnen.« (Logik der Forschung, p. 5). »Die universiellen Sätze sind raum-zeitlich
nicht beschränkt, auf kein durch Individualien ausgezeichnetes Koordinatensystem bezogen. Damit hängt
die Nichtfalsifizierbarkeit der universiellen Es-gibt-Sätze zusammen — wir können nicht die ganze Welt
absuchen, um zu beweisen, daß es etwas nicht gibt — und ebenso die Nichtverifizierbarkeit der Allsätze:
wir müßten gleichfalls (genau so wie vorher) die ganze Welt absuchen, um dann sagen zu können, daß
etwas nicht gibt. Dennoch sind sind sowohl die universiellen Es-gibt-Sätze als auch die Allsätze einseitig
entscheidbar: Wenn wir feststellen, daß es hier oder dort „etwas gibt“, so kann dadurch ein universieller
Es-gibt-Satz verfiziert bzw. ein Allsatz falsifiziert wird.« (p. 40)
— 4 —

Wissen, auch kann das nicht von den streng-allgemeinen Sätzen6 einer
naturwissenschaftlichen Theorie behauptet werden. Immerhin war Popper in der Logik
der Forschung die Sachlage doch noch soweit klar, daß er dort leugnet, daß die Gewißheit
auch von gut bewährten Naturgesetzen mit der Gewißheit von mathematischen oder
logischen Gesetzen vergleichbar werden könnten.7 Eher noch kann man von beliebigen
Annahmen ausgehen, wenn nur die logischen Beziehungen zwischen den Sätzen des
Aussagesystems widerspruchsfrei und die Formulierung der Hypothesen durch
Erfahrung widerlegbar ist, wenn auch die Bewährung solcher Aussagesysteme weniger
Gewicht hat als die Bewährung von Hypothesen durch eine große Anzahl von
verschiedenen daraus abgeleiteten Hypothesen über lange Zeit hinweg schon bewährter
Aussagesysteme.

II. ONTOGENETIK UND PHYLOGENETIK IM LEIBAPRIORI:


WISSEN UND TECHNIK IN DEN BEURTEILUNGSPRINZIPIEN
Was nunmehr unter »Wissen« zu verstehen sein soll, kann man gleich weiter unten
entnehmen: Bevor wir aus unseren Wahrnehmungen lernen können, »müssen wir — also
genetisch a priori —, die Fähigkeit besitzen, unsere Sinneseindrücke zu ordnen und zu
interpretieren«. (B, S. 127) Daran wäre nichts auszusetzen, wäre erstens diese Fähigkeit
nicht als Wissen, und zweitens wäre hier unter dem Begriff »genetisch a priori« einfach
ein materiales a priori des leiblichen Substrates des erkennenden Subjekts zu verstehen,
das sowohl ontogenetisch wie phylogenetisch aufzufassen ist. Zweifellos sind auch in der
K. r. V. mehrfach Ansätze für die Vorstellung der Entwicklung der Arten zu finden. Im
Paralogismus in A nimmt Kant Ausblick auf einen Aspekt der transzendentalen
Anthropologie: Demnach sollten durch die Kategorien die empirische Bedingung des
Subjekts selbst auch evolutionstheoretisch erkennbar werden, indem »alle Gegenstände

6
Popper gebraucht im Neuen Anhang, X. (Universalien, Dispositionen und Naturnotwendigkeit) den
Ausdruck „streng allgemeine Sätze«, um dem terminologischen Problem der verschiedenen Grade an
Allgemeinheit aus dem Wege zu gehen. Er bringt das Beispiel des ausgestorbenen neuseeländischen
Riesenvogels »Moa«, der zwar nach unseren Erkenntnissen mindestens sechzig Jahre hätte werden
können, aber wegen der Schwächung durch eine chronische Viruserkrankung niemals über fünfzig Jahre
alt geworden ist. Da diese Viruserkrankung nur ein zufälliger oder kontingenter Umstand ist, auch wenn
die Funde darauf schließen lassen, daß alle Vögel an dieser Erkrankung gelitten haben, zeigt dieses
Beispiel, »daß es wahre, streng allgemeine Sätze gibt, die nicht den Charakter wahrer universaler
Naturgesetze, sondern einen zufälligen Charakter haben.« (p. 382)
7
Logik der Forschung, »Im Vergleich zu logischen Tautologien haben Naturgesetze einen
kontingenten, zufälligen Charakter.« Doch aber seien die Naturgesetze gegenüber den selbst »in einem
höheren Grad« kontingenten Einzeltatsachen für notwendig anzusehen. (p. 384) Das setzt sich fort: »Wie
in 28 erläutert wurde, gilt für die singulären Sätze, die aus einer Theorie ableitbar sind — die
„Instantialsätze“ —, daß sie nicht den Charakter von Basissätzen oder Beobachtungssätzen haben.«,
(Fußnote p. 204), aber auch schon auf p. 67.
— 5 —

[...] in der absoluten Einheit der Apperzeption« gedacht werden müssen.8 Offenbar ist
unsere Leiblichkeit geeignet, zu allen Gegenständen zu gehören, die das Dasein in der
absoluten Einheit der Apperzeption, mithin die Kategorien durch sich selbst erkennen
würde. Das ist in der K.r.V. durchaus Angelegenheit der Ideenlehre. Im regulativen
Gebrauch der Ideen: Homogenität, Spezifikation, Kontinuität (B 686/A 656) als
Vernunftideen; als Prinzipien ihres Erfahrungsgebrauches: Mannigfaltigkeit,
Verwandtschaft, Einheit (B 690/A 662) ist zweifellos der Ansatzpunkt evolutionärer
Vorstellungen bei Kant zu sehen; als einer der vielen Versuche, Mannigfaltiges auf
einfache Prinzipien zurückzuführen. — Doch sind die Kategorien gerade nicht ein
Produkt der Ideenlehre und deren Regressus zu einfacheren Prinzipien, sondern beziehen
sich auf den Erfahrungsgebrauch: »Er [der Regressus] ist also kein Principium der
Möglichkeit der Erfahrung und der empirischen Erkenntnis der Gegenstände der Sinne,
mithin kein Grundsatz des Verstandes [...].«9
Hingegen liefert die Deduktion der Kategorien manchmal Gründe für die Annahme,
daß Kant an die ontogenetische Entwicklung gedacht hat. So sind die von Popper
genannten Fähigkeiten (neben den historischen Bedingungen)10 auch aktuelle
empirische Voraussetzung , sich individuell das Problem der Kategorien des Verstandes
in der Selbsterfahrung des Ichs überhaupt zu stellen, und so zweifellos ontogenetischer
Natur.11 Popper aber behandelt hier einen Begriff von »Wissen«, der weder mit der
Kantschen Kategorienlehre und deren Deduktionsversuch, noch mit
Entwicklungspsychologie zu tun hat, und greift auf das »Wissen« einer Pflanze um den
Sonnenuntergang zurück. Diese Art von »Wissen« wäre aber phylogenetisch im Sinne
des »genetischen Apriori« erklärbar, als ob das »genetisch apriorische Wissen« in der
Idee des Genpools liege, wovon die die einzelnen Arten und Individuuen jeweils bloße
Einschränkungen wären.

8
»Man kann daher von dem denkenden Ich (Seele) das sich als Substanz, einfach, numerisch identisch
in aller Zeit, und das Correlatum alles Daseins, aus welchem alles andere Dasein geschlossen werden
muß, denkt, sagen: daß es nicht sowohl sich selbst durch die Kategorien, sondern die Kategorien, und
durch sie alle Gegenstände, in der absoluten Einheit der Apperzeption, mithin durch sich selbst erkennt.«,
K.r.V., A 401
9
B 537/A 509
10
Eine phänomenologische Anthropologie, die letztlich das, was Natur und Geschichte wie auch unser
Umgang miteinander aus uns gemacht hat, uns als Substrat unseres Anfangenkönnens mit der Aufklärung
voraussetzt.
11
Horst Pfeiffle, Zur Psychogenese des Apriori. Jean Piagets Kritik an Kant., in: Joseph Rupitz,
Elisabeth Schönberger, Cornelius Zehetner (Hrsg.), Achtung vor Anthropologie. Interdisziplinäre Studien
zum philosophischen Empirismus und zur transzendentalen Anthropologie. Festschrift zum 70.
Geburtstag von Michael Benedikt, pp. 381-390. »Mit dem Schema des ursprünglichen Erwerbs geht hier
Kant konform mit der Position Piagets, weil mit dieser Formel bei Kant bereits die Differenzierung der
Erfahrung nach den zwei Aspekten Piagets möglich ist. „[...] Erfahrung, die der Beobachter (Psychologe)
macht und [...] Erfahrung, die das seine Erkenntnisse konstruierende Subjekt macht“«.(J. Piaget, Weisheit
und Illusionen der Philosophie, Frankfurt/Main 1974, p. 74), p. 387
— 6 —

Kants Entwurf eines Systems der inneren und äußeren Zweckmäßigkeit des
Naturprozesses in der K. d. U., wo sich allein eine Analogie zu einem Begriff der Form,
der zwischen dem bestimmenden Beurteilungsprinzip im Verstandesgebrauch und dem
teleologischen Beurteilungsprinzip anhand der Naturtechnik invariant ist, finden ließe,
übersieht Popper also völlig: Kant hat nämlich nicht nur der Doktrin der bestimmenden
Urteilskraft als Erkenntnisprinzip der Kategorien noch ein ästhetisches und teleologisches
Beurteilungsprinzip zur Seite gestellt, sondern überlegt in der Kritik der teleologischen
Urteilskraft die Notwendigkeit, ein dem subjektiven teleologischen Beurteilungsprinzip
entsprechendes objektives Naturprinzip geben zu müssen,12 ansonsten jede Erklärung der
Entwicklungsprozesse in der Natur völlig ausgeschlossen wäre: »Damit also der
Naturforscher nicht auf reinen Verlust arbeite, so muß er in Beurteilung der Dinge, deren
Begriff als Naturzwecke unbezweifelt gegründet ist (organisierter Wesen), immer irgend
eine ursprüngliche Organisation zum Grunde legen, welche jenen Mechanism selbst
benutzt, um andere organisierte Formen hervorzubringen, oder die seinige zu neuen
Gestalten (die doch aber immer aus jenem Zwecke und ihm gemäß erfolgen) zu
entwickeln.«13 Dazu stellt sich Kant zuerst eine vergleichende Morphologie als
Erfahrungsbasis vor: »Es ist rühmlich, vermittelst einer komparativen Anatomie die große
Schöpfung organisierter Naturen durchzugehen, um zu sehen: ob sich daran nicht etwas
einem System Ähnliches, und zwar dem Erzeugungsprinzip nach, vorfinde; ohne daß wir
es nötig haben, beim bloßen Beurteilungsprinzip (welches für die Einsicht ihrer
Erzeugung keinen Aufschluß gibt) stehen zu bleiben.«14
Obwohl Kant eine ursprüngliche Organisationsform annimmt, was als Rest eines
objektiven teleologischen Naturprinzips angesehen werden kann,15 wird das
Erzeugungsprinzip als Mechanismus interpretiert. Die organisierten Naturwesen selbst
benutzen mechanische Prinzipien, um in der aktuellen Zeit ihrer Existenz gemäß ihrer
inneren Zweckmäßigkeit funktionieren zu können. Äußere Zweckmäßigkeit stellt sich
immer erst durch einen Naturmechanismus (Naturtechnik) her:
»Die Übereinkunft so vieler Tiergattungen in einem gewissen gemeinsamen Schema, [...],
sondern auch in der Anordnung der übrigen Teile zum Grunde liegen scheint, wo

12
Analog zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften als Seitenstück zur
Doktrin der bestimmenden Urteilskraft.
13
K.d.U., (§ 80, Von der notwendigen Unterordnung des Prinzips des Mechanisms unter dem
teleologischen in einer Erklärung eines Dinges als Naturzweck) B 368 f./A 363.
14
B 369/A 364
15
»Die Befugnis, auf eine bloß mechanische Erklärungsart aller Naturprodukte auszugehen, ist an sich
ganz unbeschränkt; aber das Vermögen, damit allein auszulangen, ist, nach der Beschaffenheit unserers
Verstandes, sofern er es mit Dingen als Naturwesen zu tun hat, nicht allein sehr beschränkt, sondern auch
deutlich begrenzt: nämlich so, daß, nach einem Prinzip der Urteilskraft, durch das erste Verfahren allein
zur Erklärung der letzteren gar nichts ausgerichtet werden könne, mithin die Beurteilung solcher Produkte
jederzeit von uns zugleich einem teleologischen Prinzip untergeordnet werden müsse.« § 80,
(B 367 f./A 362)
— 7 —

bewundrungswürdige Einfalt des Grundrisses durch Verkürzung einer und Verlängerung


anderer, durch Einwickelung dieser und durch Auswickelung jener Teile, eine so große
Mannigfaltigkeit von Species hat hervorbringen können, läßt einen obgleich schwachen
Strahl von Hoffnung ins Gemüt fallen, daß hier wohl etwas mit dem Prinzip des
Mechanimus der Natur, ohne welches es überhaupt keine Naturwissenschaft geben kann,
auszurichten sein möge. Diese Analogie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit
einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die
Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer
gemeinschaftlichen Urmutter, [...] aus welcher und ihren Kräften, nach mechanischen
Kräften (gleich denen, wornach sie in Kristallerzeugungen wirkt), die ganze Technik der
Natur, die uns in organisierten Wesen so unbegreiflich ist, daß wir uns dazu ein anderes
Prinzip zu denken genötigt glauben, abzustammen scheint.«16
Dieses andere Prinzip, das zu denken wir glauben, genötigt zu sein, wäre nichts
anderes als das teleologische Prinzip als ein objektives Prinzip der Natur selbst. Kant
stellt also zwischen Präformationslehre und Epigenesis anhand der Naturtechnik17 die
Möglichkeit vor, daß die Entwicklung allein aus der Naturtechnik immerhin denkbar wäre,
obgleich er gemäß der Untersuchungen in der Antinomie der teleologischen Urteilskraft
dergleichen letztlich doch in Übereinstimmung mit der Lehre der Epigenesis
ausschließt.18 Hier wäre nun der geeignete Ansatzpunkt zu finden, einen Begriff zu
situieren, der anhand des Begriffes der Naturtechnik sowohl für Erkenntnisprinzipien des
Verstandes wie für das teleologische Beurteilungsprinzip gleichermaßen in Frage
kommen könnte. »Zu einem Körper also, der an sich und seiner innern Möglichkeit nach
als Naturzweck beurteilt werden soll, wird erfordert, daß die Teile desselben einander
insgesamt, ihrer Form sowohl als Verbindung nach, wechselseitig, und so ein Ganzes aus
eigener Kausalität hervorbringen, dessen Begriff wiederum umgekehrt (in einem Wesen,
welches die einem solchen Produkt angemessene Kausalität nach Begriffen besäße)
Ursache von demselben nach einen Prinzip, folglich die Verknüpfung der wirkenden
Ursachen zugleich als Wirkung durch Endursachen beurteilt werden könnte.«19 Kant
gelangt hier zu einer sowohl zu den Entwürfen aus der K. r. V.wie aus der K. p. V.
alternativen Darstellung des intelligiblen Subjekts aus dem Zweckbegriff der technisch-

16
B 368 f./A 364
17
§ 81, Von der Beigesellung des Mechanismus zum teleologischen Prinzip in der Erklärung eines
Naturzweckes als Naturprodukt (B 378/A 373)
18
Vgl. hiezu Stephen Jay Gould, Ever since Darwin. Reflecions in Natural History, American
Museum of Natural History 1973. Obgleich der theoretische Ansatz der Präformisten eher dem der
modernen Genetik entspricht, ist hinsichtlich wissenschaftstheoretischer und methodischer Erfordernisse
dem epigenetischen Ansatz der Vorzug zu geben, obgleich dieser im Widerspruch zu den Erkenntnissen
der modernen Genetik Positionen des Lamarckismus nicht ausschließt. pp. 201-206.
19
K.d.U., § 65, Dinge, als Naturzweck, sind organisierte Wesen, B 291/A 287
— 8 —

praktischen Vernunft, das im Naturbegriff gewissermaßen als Naturgeist in der Materie


eingesperrt bleibt und für die Form des Naturgegenstandes zu sorgen hat.
Popper geht in B einen anderen Weg, indem er anhand eines über alle Grenzen
erweiterten Begriff der Homologie ansetzt, der vor dem »Wissen« der Pflanzen um den
Sonnenaufgang nicht halt macht (B, S 135), und so das »genetische« Apriori seines
Entwurfs eines Wissensbegriffes zwar versucht, bei Kant theoretisch zu rechtfertigen,
aber inhaltlich auf die moderne Genetik seit Gregor Mendel zurückgreift. Wie Popper
sich zwischen der rein darwinistischen Auffassung in der Evolutionstheorie zwischen
Mutation und Selektion und der Auffassung von Konrad Lorenz positioniert, der
einerseits unter dem Oberbegriff der Fulguration auch nicht-genetisch bedingte spontane
Änderungen des Entwicklungsverlaufes annimmt, andererseits die passive
Anpassungsleistung alleine durch Selektion mit einer vergleichsweise scheinbar
zielgerichteten Anpassungsleistung durch Veränderung des Funktionskreises eines
Organes ergänzt, wird weiters noch zu beobachten sein. Das soll im Anschluß an die
folgende Behandlung über den Vergleich von Wissen, Theorie und Anpassungsleistung
im Rahmen der Logik der Forschung bis zu seinem Ende verfolgt werden. Entscheidend
für diesen Abschnitt der vorliegenden Arbeit ist aber, daß Popper 1986 einen theoriefreien
Begriff von »Wissen« exponiert und daß er die Totalität des Wissens als nicht
theoriefähiges Wissen bestimmt, das entgegen Kants Darstellungen in allen relevanten
Stellen ein angeborenes Wisses qua genetischer Struktur des Individuums sein soll. In
einem gewissen Sinne soll dieser Begriff des Wissens aber doch auch das Wissen
qualifizieren; ich denke, die Unterscheidung Poppers von Apriorität und Aposteriorität als
die von Phylogenese und Ontogenese zu bezeichnen, trifft noch am Besten seine
Auffassung. Das genetische Apriori bezieht sich also auf die Phylogenese, und somit per
Definition nicht mehr auf Erkenntnistheorie oder irgend einem sonstigen ontogentisch
relevanten Wissensbegriff. Damit hat Popper in der Frage nach der Bestimmung des
Konzepts von »Wissen« (ob Popper nun will oder nicht eine Begriffsbestimmung) nicht
nur den gesellschaftlichen Aspekt der Frage nach der Entstehung und Bewährung von
Theorien übersprungen, den er in der Logik der Forschung, wenngleich auch zumeist nur
implizit und insgesamt höchst widersprüchlich, immerhin doch als unverzichtbar bewertet
hat.20

20
p. 54 f.; vgl. auch Rüdiger Bubner, Dialektik und Wisssenschaft, Suhrkamp 21974: »Die
Falsifikation als solche bedeutet ein logisches Verfahren, der Vorgang der Falsifikation einer bestimmten
Hypothese oder Theorie durch einen bestimmten, ihr widersprechenden Basissatz spielt sich dagegen im
Rahmen einer diskutierenden, experimentiell interagierenden und verbindliche Beschlüsse fassenden
Forschergemeinschaft ab. Ein Basissatz wird als falsifizierende Instanz vorgeschlagen und gilt also
zunächst ebenso hypothetisch wie die Theorie, zu deren Widerlegung er beigebracht wurde.« (p. 137)
— 9 —

III. DIE SELBSTSTÄNDIGKEIT DES LOGISCHEN GRUNDES EINER THEORIE


Ich wende mich nun dem anderen vorliegenden Artikel (A) zu. Hier hat Popper die
Schwierigkeit zwischen »materialen«, »empirischen« oder auch »genetischen« Apriori
(wobei gerade letztere Ausdrucksweise besonders vieldeutig ist) einerseits und dem
Apriori in der Erkenntnistheorie andererseits weitaus befriedigender skizziert als in seiner
späten Wortmeldung in Wien 1986. Inmitten eines Versuchs einer gleichzeitig
evolutionstheoretischen wie erkenntnistheoretischen Darstellung schreibt Popper:
»Ist die Anpassung lange genug vor sich gegangen, so wird uns die Schnelligkeit,
Feinheit und Komplexität der Anpassung geradezu wunderbar vorkommen. Trotzdem
kann man sagen, die Methode des Versuchs und der Irrtumselimination, die zu alldem
geführt hat, sei keine empirische Methode, sondern gehöre zur Logik der Situation . Das
erläutert in meinen Augen (vielleicht etwas zu knapp) die logischen oder
apriorischen Anteile des Darwinismus.« (A, S. 71) — Eingangs dieser Argumentation
schreibt Popper: »Mit anderen Worten: Ein wesentlicher Teil des Darwinismus ist keine
empirische Theorie, sondern eine logische Wahrheit « (A, S. 70). Die »Logik der
Situation« besitzt also jene Qualitäten und Bedingungen, unter welchen apriorisches
Wissen zu finden sein soll, aber weder ist alles an dieser »situativen« Logik schon Teil
eines apriorischen Wissens, noch (und das ist hier entscheidend) ist diese »Logik der
Situation« in irgend einem Sinn durch ein »genetisches a priori«, gleich welcher
Bedeutung, zu vereinnahmen, sondern gehört zur Struktur der Situation und entspricht
insofern der Raumerfahrung bei Herbart. Herbarts Begriffe von Raum und Zeit sind aber
ursprüngliche Erwerbungen, haben also nichts mit einem angeborenen genetischen
Apriori, auch nicht das geringste mit einer phylogenetischen Entwicklungstheorie zu tun,
sondern bleiben Angelegenheit der ontogenetischen Argumentation.21
Insofern erscheint die Suche nach der »logischen Wahrheit« in der darwinistischen
Theorie (A, S. 70) ein Garant gegen jedweilige Auffassung eines rein »genetischen a
priori« im Sinne des Vortrages in Wien 1986 zu sein. Zuerst berichtet Popper davon, daß
er schon früh zwischen der »Entstehung der Geschichte der Erkenntnis einerseits und
ihrer Wahrheit, Gültigkeit und „Rechtfertigung“ andererseits« (A, S. 68) unterschieden
habe. Als Beleg liefert er ein Selbstzitat aus dem Prager Kongress 1934:

21
Herbart versucht aus den »Gruppierungen« und Arten von »Empfindungen« Formen der Erfahrung
zu finden, die als ursprüngliche Erwerbung die wahren und einzigen Prinzipien der Metaphysik
ergeben. Dann folgt die Erörterung der Vorstellungen als Produkt der Selbsterhaltung der Seele
gegenüber anderen einfachen Qualitäten, die auch eine Ontologie der Realen — einfacher Qualitäten,
die unveränderbar sind und von uns nicht rein wahrgenommen werden können — enthält. Da nun
anscheinend auch Vorstellungen eine Art von Realen sind, müssen sie, einmal ins Bewußtsein
aufgenommen, ebenfalls unveränderlich sein. Ihr wechselseitiger Einfluß aufeinander drückt sich als
Hemmung oder Förderung aus. In diesem Entwurf sieht Herbart die Grundlage der
Mathematisierbarkeit der Psychologie. Vgl. dazu A. Brückmann: Pädagogik und philosophisches
Denken bei J.H. Herbart, Zürich 1961: p. 100 ff. wird die Konstruktion des intelligiblen Raumes
als ›Form des Zusammenfassens‹ im Denken ausführlich behandelt.
— 10 —

»Wissenschaftliche Theorien können niemals „gerechtfertigt“, verifiziert werden.


Dennoch kann eine Hypothese A unter Umständen mehr leisten als eine Hypothese B
... « (Erkenntnis 5, 1935, S. 170 ff. oder Logik der Forschung, S. 253; hier A, S. 68) —
Offensichtlich verbindet Popper die Entstehung und die Geschichte der Erkenntnis mit
demjenigen Kriterium, welches die »Leistung« von Hypothesen zu beurteilen hilft; die
Feststellung, daß keine Theorie verifiziert werden kann, aber mit dem Problem der
Wahrheit, also mit der Gültigkeit und Rechtfertigung der Erkenntnis. »Ich betonte sogar
schon sehr früh, daß Fragen der Wahrheit oder Gültigkeit einschließlich der logischen
Rechtfertigung der Bevorzugung einer Theorie vor einer anderen (der einzigen Art von
„Rechtfertigung“, die ich für möglich halte) von allen genetischen , historischen und
psychologischen Fragen scharf unterschieden werden müssen.« (A, S. 68)
Popper hält also die logische Rechtfertigung für rein abhebbar von allen sonstigen
kontingenten Fragen nach den Erkenntnisbedingungen. So bleibt hier nichts als die
»logische Wahrheit«, die garantiert nicht eine Angelegenheit von »genetischen,
historischen und psychologischen Fragen« werden kann. — Folgen wir der in A
gegebenen Selbstdarstellung Poppers weiter: »Doch schon bei der Abfassung meiner
Logik der Forschung kam ich zu dem Schluß, daß wir Erkenntnistheoretiker den Vorrang
vor den Historikern beanspruchen können: Logische Untersuchungen der Gültigkeit und
Annäherung an die Wahrheit könne für genetische und historische, ja sogar für
psychologische Untersuchungen von größter Wichtigkeit sein. Sie sind diesen jedenfalls
logisch vorgeordnet, obwohl wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen dem
Erkenntnislogiker viele interessante Probleme liefern können.« (A, S. 68) Ich entnehme
daraus, daß, obwohl die »logische Rechtfertigung« von allen »genetischen, historischen
und psychologischen Fragen scharf unterschieden« werden muß, eben dieselbe allen
diesen Fragen vorausgesetzt ist; aber ich entnehme dem Gesagten auch, das genetische,
historische und psychologische Fragen mit erkenntnistheoretischen Fragen in einen
vorgegebenen Zusammenhang stehen. Die Schwierigkeit »logischer Rechtfertigung«
besteht also sowohl für die eigentlich zu untersuchenden naturwissenschaftlichen
Theorien, wie auch für jene Teile der erkenntnistheoretischen Untersuchungen, die zur
Beurteilung der »Leistung« einer solchen Theorie in genetischer, historischer und
psychologischer Hinsicht zu unternehmen sind.

IV. DER »ANTHROPOMORPHISMUS« UND DIE MIßLUNGENE DEDUKTION DER


EVOLUTIONÄREN ERKENNTNISTHEORIE
Popper vermag auch in der früheren Arbeit (A) das fragliche, und von Vertretern der
evolutionären Erkenntnistheorie behauptete innere Verhältnis von Erkenntnistheorie und
Evolutionstheorie nicht befriedigend zu skizzieren, allerdings ist Popper im Text A bis
zuletzt noch um Ausgewogenheit bemüht: »Die evolutionäre Erkenntnistheorie ermöglicht
also ein besseres Verständnis beider, der Evolution und der Erkenntnistheorie, soweit sie
— 11 —

mit der wissenschaftlichen Methode zusammenfallen. Sie ermöglicht ein besseres


Verständnis auf logischer Grundlage.« (A, S. 71) Im späteren Text B wird die
Erkenntnistheorie in die Evolutionstheorie nahezu aufgelöst. Allerdings bleibt es eine
Poppersche evolutionäre Erkenntnistheorie: Der »Anthropomorphismus« im als immer
schon für eine bestimmte Epoche der Umwelt angepaßtes »Urwesen«, das insofern immer
schon »allgemein« um diese Umwelt »weiß« oder diese antizipiert (B, S. 134), führt dazu,
daß Popper zunächst ausdrücklich nur das individuelle Überleben ins Zentrum der
Evolutionstheorie stellt. Damit glaubt Popper eine gegenüber alle anderen Positionen der
Evolutionstheorie unabhängige Partei (mit eigener nicht weiter diskutierbarer
Terminologie) gründen zu können. Das Konzept eines »Urwesens« als Träger eines
theoriefreien »Wissens« vertritt zunächst wohl soviel wie die allgemeinste Gestalt eines
Individuums, wozu man sich die »Logik der Situation« aus dem Text A ergänzend als
»Struktur« einer jedweiligen a priori passenden Umwelt denken muß. Das
evolutionstheoretische Kriterium der »Angepaßtheit« besitzt also überraschenderweise
den Versuch einer metaphysischen Deduktion in dieser gleichursprünglich
vorauszusetzenden »Angepaßtheit« von »Urwesen« und der »Logik der Situation«. Setzt
man in B allein die »Methode von Versuch und Irrtum« als apriorisches Wissen in die
Vorstellung einer »Logik der Situation« aus A ein, dann geht es in der Tat bei Popper
wieder um die ursprüngliche Affinität von Subjekt und Objekt.
Zwar wird im Abschnitt »Homologie, Wissen und Anpassung« anhand der
»Homologie« ein Wissensbegriff demonstriert, der zumindest allen höheren Säugern
zugemutet werden soll; in weiterem Sinn womöglich sogar allen in Konkurrenz stehenden
beweglichen Arten. Doch schon die Anwendung des Konzepts der »Homologie« auf das
»Wissen« der Pflanzen des Wechsels von Tag und Nacht (B, S. 135), zeigt wieder
schonungslos die Grenzen solcher Versuche auf: Der Gebrauch des Wortes »Wissen« ist
hier bestenfalls äußerst metaphorisch, in Wirklichkeit steckt dieses »Wissen« in der
Struktur der Pflanze. Popper geht darauf einmal ein, erkennt aber nicht die Schwierigkeit,
hier von »Wissen« zu sprechen, wenn er sagt: »Das bedeutet nicht, daß sie [die Pflanzen]
einen Verstand haben, das bedeutet nur, daß sie entsprechend angepaßt sind. Daß das
über Expansionen und Kontraktionen von Geweben geht, ist selbstverständlich. Aber
jedenfalls sind die Gewebe so gebaut, daß sie dem angepaßt sind: Sie setzen
Regelmäßigkeit voraus.« (B, S. 135 f.) Von Antizipation keine Spur, sondern wiederum
eine ursprünglich vorausgesetzte Angepaßtheit. — Die Methode von Versuch und Irrtum
aber sei die Strategie alles Lebens (B, S. 140), sie ist aber auch gerade im ursprünglichen
Sinn eine Strategie des Handelns eines Subjekts, das mehrere Möglichkeiten zu Handeln
überhaupt besitzt und als solche eben der Idee eines Anthropomophismus, den Popper
mit seinem Begriff der Homologie angesprochen hat (B, S. 134), entspricht. Kann aber
dem »Urwesen« als Vertreter der ersten ursprünglichen Gattung der entsprechende
Freiheitsgrad zugemutet werden, um hier auch nur eine Analogie dieser Strategie finden
— 12 —

zu können? Eingedenk der Pawlowschen wie Lorenzschen Unterscheidung in angeborene


und erworbene Instinkte offenbar nicht. — Poppers Abstraktionen führen nunmehr
soweit, daß er nicht nur nicht zwischen Wissen und Angepaßtheit oder zwischen
Homologie und Analogie,22 sondern auch nicht mehr zwischen angeborene und
erworbene Reflexe zu unterscheiden vermag. Popper hält dergleichen offenbar für
philosophisch.
Bei näherer Betrachtung der Überlegungen Poppers stellt sich über allen bislang
erörtereten inneren Widersprüchen eben heraus, daß ein solches Urwesen bereits »das
Leben« selbst ist, das Versuche mit verschiedenen »Bauplänen« anstellt. Das was gerade
einem Individuum der ersten einfachsten Gattungen nicht möglich ist, nämlich sein
erfolgloses Verhalten zu ändern, das soll der »Natur« selbst gelingen. Diese Strategie
mündet also in eine Vorstellung, die um nichts weniger metaphysisch ist, als die schlichte
Voraussetzung eines jeweilig für die gegebene Umwelt ursprünglich passenden
»Lebensatoms«, das in concreto bestimmt ist (das genetisch apriorische Wissen) und in
individuo nach der Methode von Versuch und Irrtum vorgeht; und zwar in die begründet
bezweifelte Vorstellung davon, daß die »Natur« selbst imstand ist, nach der Methode von
Versuch und Irrtum vorzugehen, denn welches Substrat sollte da noch imstand sein,
Irrtum als solchen zu erfahren? Auch Kant bemerkt offenbar den Abgrund zwischen den
Anfangsgründen der Evolution des Lebendigen und den geregelten Fortgang der
Entwicklung nach Prinzipien der Naturmechanik. Kant übersieht dabei nicht die
Schwierigkeit, daß hier das Prinzip der Entwicklung des Lebendigen (Prinzip der
Erzeugung gegenüber dem Prinzip der Beurteilung) keinerlei abstrakt eindeutig zu
machende Erfahrungsgrundlage im transzendentalen Subjekt besitzt. Das Prinzip der
Erzeugung, das für eine Evolutionstheorie des Lebens in Frage kommen kann, wird also
weder der Erfahrung auf sinnlicher Grundlage, noch den Vernunftprinzipien überhaupt
widersprechen können.23 Popper aber hat nun versucht, unter Mißachtung aller Grenzen,
das Prinzip der Erfahrung des Menschen als intelligibles Wesen mit sinnlicher

22
Daß formal gleiche Organfunktionen (Verhalten) aus verschiedenen Organen (Motive, Triebe) bei
verschiedenen Arten in einem ähnlichen Funktionszusammenhang entwickelt werden können, wobei die
logische Identifizierung zunächst nicht vom Begriffsinhalt abhängt, ist ein bekannter Umstand, und wird
Analogie genannt. Formal gleiches Verhalten (gleiche Organe) aus gleichen Gründen, die im gleichen
funktionalen Zusammenhang entsteht, heißt homolog, wobei die logische Identifizierung insofern vom
Begriffsinhalt abhängt, als daß damit eine entscheidbare Definition verbunden ist.
23
»Er kann den Mutterschoß der Erde, die eben aus ihrem chaotischen Zustande herausging (gleichsam
als ein großes Tier), anfänglich Geschöpfe von minder-zweckmäßiger Form, diese wiederum andere,
welche angemessener ihrem Zeugungsplatze und ihrem Verhältnisse unter einander sich ausbildeten,
gebären lassen; bis diese Gebärmutter selbst, erststarrt, sich verknöchert, ihre Geburten auf bestimmte,
fernerhin nicht ausartende Spezies eingeschränkt hätte, und die Mannigfaltigkeit so bliebe, wie sie am
Ende der Operation jener fruchtbaren Bildungskraft ausgefallen war. — Allein er muß gleichwohl zu dem
Ende dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Orgnisation beilegen;
widrigenfalls die Zweckform der Produkte des Tier- und Pflanzenreiches ihrer Möglichkeit nach gar nicht
zu denken ist.« (K.d.U., § 80, B 370/A 366)
— 13 —

Anschauung auf dieses Urwesen zu erweitern und gerät derart mitten in die
Auseinandersetzung um den problematischen Idealismus.

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