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uns jedoch, dass diese Geburt, so

In Bethlehem sehr sie einesteils ein historisches


geboren Ereignis war, anderenteils immer
wieder in der Seele der Gläubigen
von Thomas Noack aller Zeiten geschehen kann.
Die Sohngeburt in der Seele
Diese weihnachtliche Besin- war das große Thema des mittel-
nung wird am 26. Dezember alterlichen Mystikers Meister Eck-
2006 um 6:56 Uhr im Deutsch- hart. In seinen Predigten lehrte
landradio in der Sendereihe er: »Der Vater gebiert seinen
Wort zum Tage ausgestrahlt. Sohn im Innersten der Seele und
gebiert dich seinem eingebore-

L iebe Hörerin, lieber Hörer,


Gott wurde in Bethlehem ge-
boren. Das Weihnachtsfest erin-
nen Sohne als nicht geringer.«1
Die Geburt des Sohnes vollzieht
1 Meister Eckehart: Deutsche Pre-
nert uns an dieses einmalige Er- digten und Traktate, herausgege-
eignis vor zweitausend Jahren. ben und übersetzt von Josef Quint,
Das innere Christentum lehrt München 1985, Seite 356.

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sich »im Sein und im Grunde der seiner Wesenheit, / So wird in dir
Seele.«2 Aber die Seele ist nicht geborn das Kind der Ewigkeit.«5
Lavaters Himmel und
einfach nur der Ort dieser mys- Johann Scheffler nahm Einflüsse Swedenborgs Träume:
tischen Geburt. Denn wenn der der Mystik, besonders aber auch
der Theosophie Jakob Böhmes
Die Beziehung zwischen Johann Caspar Lavater
ewige Gott in Dir die Gestalt
seines Sohnes annimmt, dann auf. Und so hören wir abermals und Emanuel Swedenborg
wirst Du durch diese Geburt die Botschaft, dass die Geburt von Dr. Ursula Caflisch-Schnetzler
selbst ein anderer, ein neugebo- des Sohnes den erlöst, der sie
Vorbemerkung der Schriftleitung: Dr. Ursula Caflisch-Schnetz-
rener Mensch. Du wirst ein Sohn erfährt.
ler ist seit 1994 maßgeblich an der auf zehn Bände ange-
und eine Tochter Gottes. Meister Wieder einmal hat uns das
legten »historisch-kritische[n] Edition ausgewählter Werke
Eckhart predigte: »Wo der Vater Weihnachtsfest verzaubert. Aber
Johann Caspar Lavaters« (JCLW) beteiligt. Am 24. Juni 2006
seinen Sohn in mir gebiert, da in wenigen Stunden wird dieser
hielt sie im Swedenborg Zentrum Zürich einen Vortrag über
bin ich derselbe Sohn und nicht eigentümliche Glanz, diese selt-
»Lavaters Himmel und Swedenborgs Träume«, den wir hier in
same Atmosphäre verflogen sein.
ein anderer«3 Diese Wandlung einer von der Referentin überarbeiteten Form veröffentlichen.
Und dann? Nehmen wir die Ge-
von einem bloß irdischen zu
burtstagsfeier Jesu doch diesmal Einleitung
einem spirituellen Menschen ist
zum Anlass, den tieferen Sinn
der große Nutzen der immer-
währenden Sohngeburt.
aufzusuchen! Jesus Christus will
in Dir geboren werden, so dass
I m zweiten Band der Aussichten in die Ewigkeit, dem wohl wichtigs-
ten theologischen Werk von Johann Caspar Lavater, verweist der
Zürcher Pfarrer 1769 auf Immanuel Kants 1766 erschienene Schrift
Von der inneren Weihnacht,
er bleibend zu Deinem Leben Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik.1
die uns nicht nur ein schönes gehört. Du wirst durch diese Ge- Im 1773 herausgegebenen dritten Band der Aussichten in die Ewig-
Fest, sondern eine bleibende burt zu einem Sohn oder einer keit erwähnt Lavater den zuvor von Kant angesprochenen »Geis-
Wandlung beschert, sprach Tochter Gottes werden. Du wirst terseher« explizit, indem er schreibt, dass »Herr Kant in Königsberg
auch Johann Scheffler, Angelus von neuem geboren werden. Ein – ein wol nicht schwacher Kopf – von Emanuel Schwedenborg er-
Silesius genannt. Bekannt sind neuer Geist wird Dich erfüllen, zählt; der zu Gothenburg einen Brand zu Stockholm gesehen und
seine Reime im Cherubinischen neue Gedanken, neue Ziele und einer Gesellschaft beschrieben haben soll«.2 Diese beiden Verweise
Wandersmann: »Wird Christus neue Gefühle. Durch Deine Ge-
1 [Johann Caspar Lavater]: Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Herrn
tausendmal zu Bethlehem gebo- genwart wird ein Bote Gottes die Joh. Georg Zimmermann. 4 Bände, Zürich 1768-1778. Vgl. Johann Caspar
ren / Und nicht in dir, du bleibst vielfach ausgebeutete Erde be- Lavater: Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe (JCLW). Band
noch ewiglich verloren.«4 Oder: treten. Du musst nur eines tun, 2: Aussichten in die Ewigkeit 1768-1773/78, hg. von Ursula Caflisch-Schnetz-
»Berührt dich Gottes Geist mit wenn Du nach Bethlehem gelan- ler, Zürich 2001, S. 319. Vgl. JCLW, Ergänzungsband: Bibliographie der
Werke Lavaters. Verzeichnis der zu seinen Lebzeiten im Druck erschienenen
2 A. a. O., Seite 425.
gen willst: Wer das Wort Gottes Schriften. Herausgegeben und betreut von Horst Weigelt; wissenschaftliche
3 A. a. O., Seite 172. hören will, der muss schweigen Redaktion Niklaus Landolt, Zürich 2001, Nr. 64.
4 Angelus Silesius, Cherubinischer können, denn in ein volles Gefäß Vgl. Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der
Wandersmann, eingeleitet und kann man kein Wasser gießen. Metaphysik, Zweyter Theil, in: Kants Werke (Akademie Textausgabe), Band
erläutert von Will-Erich Peuckert, II: Vorkritische Schriften II (1757-1777), Berlin 1968, S. 353-373.
Leipzig o.J., Erstes Buch. 5 A. a. O., Zweites Buch. 2 JCLW, Band II, S. 429.

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auf den schwedischen Universalgelehrten Emanuel Swedenborg3 sind von Mitte Oktober 1763,5 zeigen aber v.a. die beiden noch erhal-
die einzigen Spuren, die sich in Johann Caspar Lavaters Werk di- tenen Briefe an Swedenborg während der Niederschrift der Aus-
rekt nachweisen lassen.4 Dass der Zürcher Theologe, der von 1741 sichten in die Ewigkeit.6 Auch findet eine Auseinandersetzung mit des-
bis 1801 in seiner Heimatstadt gelebt und gewirkt hatte, sich mit sen Gedanken in verschiedenen Briefwechseln Lavaters statt7 sowie
Swedenborgs Träumen, mit dessen ganzheitlicher Sicht des Men- – etwas verdeckter – wohl auch in den Gedanken seiner übrigen
schen und der Verbindung zur himmlischen Welt sicher nicht nur frühen Schriften. Ob Lavater Swedenborgs wichtigste lateinisch ge-
in dem utopischen Werk Aussichten in die Ewigkeit auseinanderge- schriebenen Werke auch tatsächlich gelesen hat, ist zwar anzuneh-
setzt haben wird, zeigt ein früher Eintrag in seinem Reisetagebuch men, lässt sich aber nicht nachweisen. Keines derselben erscheint auf
seiner Liste der bis 1768 gelesenen Bücher;8 zudem spricht Lava-
3 Biographien zu Emanuel Swedenborg (in deutsch): Ernst Benz: Emanuel
Swedenborg. Naturforscher und Seher, Zürich 2004 (Neuauflage der Aus- ter von Swedenborgs Gedanken auch meist nur im Konjunktiv. Was
gabe von 1948; mit Quellennachweisen). George F. Dole / Robert H. Kirven: aber besonders erstaunt, ist die Tatsache, dass Lavater Swedenborg
Ein Naturwissenschaftler erforscht geistige Welten (Internet-Beitrag). Die eigentlich nie bei seinem richtigen Namen nennt. So bezeichnet er
Anmerkungen verweisen auf die in englischer Sprache erschienene Literatur ihn 1763 als »Schwedenborch«9 und in einem späteren undatierten
zu Emanuel Swedenborg, besonders auf Rudolf L. Tafel: Documents concer-
ning the Life and Character of Emanuel Swedenborg, Swedenborg Society,
und ohne Anschrift versehenen Brief als »Swegenborg«10.
London 1877. Beiden Gelehrten – Lavater und Swedenborg – die im 18. Jahr-
4 Zum Überblick über Leben und Werk Johann Caspar Lavaters, vgl. Horst hundert zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Inten-
Weigelt: Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung (Kleine Van- sion wichtige theologische und anthropologische Impulse setzten,11
denhoeck-Reihe), Göttingen 1991. – Karl Pestalozzi / Horst Weigelt (Hg.):
Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar
ist gemeinsam, dass sie sowohl von Zeitgenossen als auch von der
Lavater (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Band 31), Göttingen 1994. Nachwelt gespaltene Reaktionen auf ihre Gedanken erhalten haben.
– Ulrich Stadler / Karl Pestalozzi (Hg.): Im Lichte Lavaters. Lektüren zum 200. Auf dem in Stockholm 1688 als Emanuel Swedberg geborenen und
Todestag (Johann Caspar Lavater Studien (JCLSt), Band I) Zürich 2003. – Als im März 1772 vierundachtzig jährig in London verstorbenen Ema-
historisch-kritische Edition der Werke Johann Caspar Lavaters sind bereits
folgende Bände erschienen: JCLW, Band II: Aussichten in die Ewigkeit 1768- 5 Horst Weigelt (Hg.), Reisetagebücher, Teil I, S. 437.
1773/78, hg. von Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2001. – JCLW, Band 6 Lavater an Emanuel Swedenborg, 24. August 1768 und 24. September 1769,
III: Werke 1769-1771, hg. von Martin Ernst Hirzel, Zürich 2002. – Weitere FA Lav Ms (Familienarchiv Lavater in der Zentralbibliothek Zürich), Briefe Nr.
Editionen: Ursula [Caflisch-] Schnetzler: Johann Caspar Lavaters Tagebuch 172 und 173.
aus dem Jahre 1761, Pfäffikon 1989. – Horst Weigelt (Hg.): Johann Kaspar 7 So zum Beispiel im Briefwechsel zwischen Lavater und Johann Gerhard
Lavater. Reisetagebücher. 2 Teile (= Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. Hasenkamp, FA Lav Ms 511 und FA Lav Ms 563. Vgl. Karl Christian Ehmann
VIII, Band 3 und 4), Göttingen 1997. – Frühere Ausgaben: Johann Caspar (Hg.): Briefwechsel zwischen Lavater und Hasenkamp, Basel 1870.
Lavater’s nachgelassene Schriften, hg. von Georg Gessner. 5 Bände, Zürich 8 Vgl. FA Lav Ms 121.1: »Bücher, die ich gelesen […] bis A. 1768. unter
1801/1802. – Johann Caspar Lavater: Ausgewählte Schriften, hg. von Johann einander.«
Kaspar Orelli. 8 Bände, Zürich 1841-1844. – Johann Caspar Lavaters ausge- 9 Vgl. oben Anmerkung 5. (Reisetagebücher, Teil I, S. 437)
wählte Werke, hg. von Ernst Staehelin. 4 Bände, Zürich 1943. – Im Weiteren 10 Brief von Lavater, ohne Datum und ohne Anschrift, FA Lav Ms 589.3.1: »[…]
ist an neuerer Literatur zu nennen: Klaus Martin Sauer: Die Predigttätigkeit über Swegenborg wollt’ ich gern meine Gedanken ausführlicher sagen, wenn
Johann Kaspar Lavaters (1741–1801). Darstellung und Quellengrundlage, ich Zeit hätte […]«
Zürich 1988. – Horst Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande – Distanz und 11 Hingewiesen sei hier auf: Ernst Benz: Swedenborg und Lavater. Über die reli-
Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahr- giösen Grundlagen der Physiognomik, Stuttgart 1938. – L Goerwitz: Lavater
hundert (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Band 25), Göttingen 1988. und Swedenborg. Ein Wort zu Lavaters 200. Geburtstag (»Die Neue Kirche«,
– Bettina Volz-Tobler: Rebellion im Namen der Tugend. ›Der Erinnerer‹ – eine Monatsblätter für fortschrittliches religiöses Denken und Leben), Zürich
Moralische Wochenschrift, Zürich 1765–1767, Zürich 1997. 1941, S. 183-192.

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nuel Swedenborg lastete wohl Kants Urteil über dessen himmlische
Geheimnisse, seine Träume und Visionen. Bei Johann Caspar Lavater
waren es die scharfen Reaktionen der Berliner Aufklärung wie auch
Goethes Abwendung von ihm. Beide sind daher in den Literatur-
geschichten zumeist nur am Rande erwähnt. Swedenborg wird zwar
zugestanden, dass er für die Entwicklung der Gedanken bei Klop-
stock und Goethe wichtig gewesen sei. Sein theosophisches Werk
– nach 1745 geschrieben – wird aber auf die Gedanken des Okkul-
tismus reduziert. Bei Lavater beschränkte sich das Urteil lange Zeit
zumeist fast ausschließlich auf die Freundschaft mit Goethe12 und
das in Zusammenarbeit mit diesem erstellte Werk, die Physiogno-
mischen Fragmente.13 Die Traditionsbildung ging bei Lavater und
Swedenborg also nicht primär von deren Werken aus, sondern wurde
von der Rezeption in der Zeit der Aufklärung und der Klassik geprägt.
In meinem Beitrag sollen zum einen die Berührungspunkte zwi-
schen den beiden Gelehrten anhand ihrer Gedanken analysiert wer-
den. Auf der andern Seite möchte ich zeigen, dass Swedenborg und Lavater, Felix Hess u. Heinrich Füssli bei Spalding.14
Lavater mit Hilfe der Vernunft versuchten, auch in die Geheimnisse
des Glaubens einzudringen. Dies taten sie jedoch mit einem unter- Am 16. Oktober 1763 während seines Aufenthaltes beim aufge-
schiedlichen Ansatz und in unterschiedlicher Intensität: Swedenborg klärten Reformtheologen Johann Joachim Spalding im Vorpommer-
noch unter dem Aspekt des Universalgelehrten und damit in latei- schen Barth hält der soeben in Zürich ordinierte Jung-Theologe oder
nischer Sprache. Der wesentlich jüngere Lavater schrieb seine Werke Verbi Divini Minister Johann Caspar Lavater in seinem Reisetagebuch
in deutscher Sprache und prägte sie durch einen Christus zentrierten fest, dass man – »über dem Mittageßen« von der Zeit geredet habe
individuellen Zugang zu Gebet, Glauben und Bibel. und dass einem die Zeit in jenem Leben (also im Jenseits oder Himmel)
Beim Werk von Emanuel Swedenborg stützte ich mich auf zehn mal länger vorkomme als in diesem: »Ein Jahr der Verdamm-
die deutschen Übersetzungen und Zusammenfassungen der niß ist eine Ewigkeit. Bey Gott ist keine Zeit, weil keine Succession
Swedenborg Gesellschaften. Bei Johann Caspar Lavater konnte ich der Gedanken bey ihm statt haben kann. Die Welt ist, wie [Johann
zum grossen Teil auf die seit 2001 in zehn Bänden erscheinende histo- Georg] Sulzer sagt, ein einziger (oder vielmehr der einzige Gedanke)
risch-kritische Edition der Werke Johann Caspar Lavaters zurückgrei- Gottes, den seine Allmacht sichtbar gemacht hat.« Im folgenden Ab-
fen, deren zweiten Band mit den Aussichten in die Ewigkeit ich 2001 schnitt kommt Lavater in seinen Notizen auf Swedenborg (oder eben
herausgegeben habe und an deren 4. Band ich momentan arbeite. »Schwedenborch«) zu sprechen, der ein »vornehmer Schwede« sei,
12 Vgl. dazu: Heinrich Funck (Hg.): Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher. 14 Reproduktion eines Stiches nach einem Gemälde von Heinrich Füssli. Links Spal-
Schriften der Goethe-Gesellschaft. Band 16, Weimar 1901. ding, daneben Herr von Arnim auf Suckow, auf der rechten Seite des Tisches
13 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Lavater, hinter ihm Felix Hess, zu äusserst rechts der Zeichner, Füssli. Vgl. Johann
Menschenkenntniß und Menschenliebe. 4 Bände, Zürich 1775-1778 ( Hildes- Caspar Lavater 1741-1801. Denkschrift zur hundertsten Wiederkehr seines Todes-
heim 2002). tages, hg. von der Stiftung von Schnyder von Wartensee, Zürich 2002, Titelbild.

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und sehr viel »De Caelo, De Amore infinito etc. etc. geschrieben und hen Todes seines engen Freundes und früheren Reisegefährten Felix
vorgegeben, daß er mit Engeln über diese Materien geredet, und daß Hess in Briefen an den Arzt und Freund Johann Georg Zimmermann
ein jeder durch Glauben und Liebe zu dem Umgang mit denselben gerichtet hatte. Im elften Brief des zweiten Bandes der Aussichten in
gelangen könne.« Er – Swedenborg – habe »sonst viel physicalische die Ewigkeit befasst sich Lavater mit Kants Werk Träume eines Geister-
Schriften herausgegeben« und »soll daneben ein vernünftiger und tu- sehers und damit auch mit Kants kritischer Auseinandersetzung mit
gendhafter Mann seyn. Nebst sehr vielen Ungereimtheiten, die in sei- den Träumen und Visionen von Emanuel Swedenborg.
nen höheren Schriften vorkämen, »sollen doch sehr viele sublime Ge-
danken enthalten seyn. Die Einbildungskraft« – so Lavater in seinem
Immanuel Kants Kritik an Emanuel Swedenborg in
Tagebuch – habe »schon mehr Wahrheiten entdekt als die Vernunft. seinen Träume[n] eines Geistersehers, erläutert durch
Die Vernunft hat sie dann erst geprüft, ihren Gründen nachgespürt Träume der Metaphysik
u. mit andern Wahrheiten in einen Zusammenhang gebracht.«15
Im elften Brief der Aussichten in die Ewigkeit, der von der »Vollkommen-
Nach dieser Notiz des erst 21-jährigen Lavater in seinem Reise-
heit des himmlischen Cörpers« handelt, hält Lavater in seinem Werk
tagbuch zu schliessen, wird wohl Johann Joachim Spalding die drei fest, dass er wünschte, dass auch Immanuel Kant etwas über das Jenseits
jungen Theologen aus Zürich, Felix Hess, Heinrich Füssli (der spätere geschrieben hätte, dass sich Kant jedoch nicht in diese Materie einlasse.
Maler) und Johann Caspar Lavater, »der Führer der beyden andern« Von Emmanuel Swedenborg schreibt Lavater nichts. Er lässt es beim
(wie Spalding in seiner Lebensbeschreibung festhält)16 – wird also Jo- Verweis auf Kant bleiben, »einem Genie von so seltenem Maasse«, deu-
hann Joachim Spalding die drei jungen Theologen, die ihren Studien- tet jedoch an, dass dieses »so unphilosophisch über den Einfluss einer
aufenthalt bei ihm verbrachten, auf das 1758 in London erschienene mehreren Beleuchtung der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele,
Werk Swedenborgs De coelo et ejus mirabilibus et de inferno ex auditis und der Beschaffenheit unseres künftigen Zustanden in das sittliche
et visis17 (Vom Himmel und von den wunderbaren Dingen desselben, von Leben räisonnniere«.19 Mit seiner Kritik an Emmanuel Swedenborgs
der Hölle in der Geisterwelt)18 aufmerksam gemacht haben. Lavater Werk Arcana caelestia20 hatte sich der Philosoph Kant akribisch und in
scheint es aber später während seines Aufenthaltes nicht gelesen zu kritischer Art und Weise mit den Gedanken Swedenborgs befasst.21
haben, denn es zeigt sich kein weiterer Hinweis darauf im Reiseta- »Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten. Hier finden
gebuch. Dass Swedenborg mit Engeln »über die Materien des Jen- sie ein unbegränztes Land, wo sie sich nach Belieben anbauen kön-
seits geredet habe und dass jeder durch Glauben und Liebe zu dem nen. Hypochondrische Dünste, Ammenmärchen und Klosterwunder
Umgang mit denselben gelangen könne« fällt Lavater wenige Jahre lassen es ihnen an Bauzeug nicht ermangeln.« So beginnt Immanuel
danach beim Verfassen seines theosophischen Werks Aussichten in Kant 1766 sein satirisch-philosophisches Werk Träume eines Geisterse-
die Ewigkeit wieder ein, jenem Werk, das er u.a. auch wegen des frü- hers, erläutert durch die Träume der Metaphysik.22 Er setzt sich in dieser
15 Vgl. oben Anmerkung 5. (Reisetagebücher, Teil I, S. 437) Schrift detailliert mit dem Spiritualismus Emanuel Swedenborgs aus-
16 Johann Joachim Spalding’s Lebensbeschreibung von ihm selbst und heraus- einander, insbesondere mit dessen Arcana caelestia. Im Vorbericht fragt
gegeben mit einem Zusatze von dessen Sohne Georg Ludwig Spalding, Halle sich Kant jedoch vorerst, ob ein Philosoph alle Geistererscheinungen
1804, S. 66.
17 Emmanuel Swedenborg: De coelo et ejus mirabilibus et de inferno ex auditis 19 Vgl. oben Anm. 1. (JCLW, Band 2, S. 319)
et visis, London 1758. 20 Emmanuel Swedenborg: Arcana caelestia, quae in Scriptura Sacra seu verbo
18 Emmanuel Swedenborg: Vom Himmel und von den wunderbaren Dingen Domini sunt detecta. 8 Bände, Londen 1749-1773.
desselben, von der Hölle in der Geisterwelt. Aus dem Latein von J. Chp. Lenz, 21 Vgl. oben Anm. 1. (Kant, Träume)
Leipzig 1775. 22 Vgl. oben Anm. 1. (Kant, Träume)

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abläugnen und diese in seinen Schriften überhaupt widerlegen solle. dige Mensch existiere also nicht nur durch seinen Körper, sondern
Er kommt dabei zum Schluss, sich gar nicht erst »mit dergleichen auch durch die Geisterwelt. Dies sei dem lebendigen Menschen nicht
vorwitzigen oder müssigen Fragen zu bemengen [befassen] und sich bewusst, soll ihm aber über Swedenborgs Visionen vermittelt werden,
[nur] an das Nützliche zu halten« oder »wie die durch die Erfahrung denn »der äußere Mensch [die Schale] korrespondiere [steht in einem
gereifte Vernunft, die zur Weisheit wird, in dem Munde des Sokrates Verhältnis] mit dem inneren Menschen [mit der Seele]«. Kant kommt
mitten unter den Waaren eines Jahrmarktes mit heiterer Seele spricht: nach dieser detaillierten Analyse von Swedenborgs Arcana caelestia
»Wie viele Dinge giebt es doch, die ich alle nicht brauche.« Kant geht zum kritischen Schluss, dass »alle […] Urtheile, wie diejenige[n] von
im Folgenden dann aber detailliert und analytisch auf Swedenborgs der Art, wie meine Seele den Körper bewegt, oder mit andern Wesen
Werk ein. Unter diesen »vielen Dingen«, die er im Vorbericht erwähnt, ihrer Art jetzt oder künftig in Verhältnis steht, niemals etwas mehr
versteht er die »anschauende Erkenntnis der andern Welt, die nur er- als Erdichtungen sein können und zwar bei weitem nicht einmal von
reicht werden kann, wenn man etwas von demjenigen Verstande ein- demjenigen Werthe, als die in der Naturwissenschaft, welche man
büsst, welchen man für die gegenwärtige nötig habe.« Man soll sich Hypothesen nennt, […] und deren Möglichkeit sich also jederzeit be-
nach Kant also gedulden und darauf konzentrieren, die gegenwärtige weisen lassen.« Swedenborgs Aufzeichnungen sind nach Kant folglich
Welt möglichst klug und geschickt mit Hilfe des moralischen Glaubens reine Dichtungen. Dieser Vorwurf trifft einen ehemaligen Naturwis-
zu verwalten. Die Kritik an Swedenborg oder »Schwedberg«, wie ihn senschaftler und Empiriker, der vor seinen 1743 einsetzenden Visionen
Kant nennt, setzt denn auch genau da ein. Swedenborg kümmere mit den höchsten wissenschaftlichen Auszeichnungen verschiedener
sich nämlich nicht um die gegenwärtige Welt, sondern beschäftige Akademien ausgestattet worden war.
sich als »Erzgeisterseher unter allen Geistersehern« fast ausschließlich
nur mit den Toten und deren Welt. Im zweiten Hauptstück der Träume
Emanuel Swedenborg: Biographie
übt Kant gezielt Kritik an Swedenborgs Hauptwerk Arcana caelestia, Emanuel Swedberg wurde am 29. Januar23
das »acht Quartbände voll Unsinn« sei. Er versucht, »mit Weglassung 1688 in Stockholm in eine wohlhabende
vieler wilden Chimären, die Quintessenz des Buchs auf wenige Trop- und angesehene Familie geboren. Bereits
fen« zu reduzieren. Diese Essenz aus Swedenborgs Werk beinhaltet, mit elf Jahren wandte er sich den mathe-
dass nach Swedenborg alle Menschen in »gleich inniger Verbindung matischen Disziplinen zu, denen zahl-
mit der Geisterwelt ständen, nur dass sie es (noch) nicht empfänden«, reiche naturwissenschaftliche Studien
da sie ihr Innerstes noch nicht aufgetan haben. Es bestehe nämlich ein folgten. Forschungen mit Publikationen
äußeres und ein inneres Gedächtnis, wobei das innere bei den meis- und Reisen in die kulturellen Zentren des
ten Menschen noch nicht aktiviert sei. Nach dem Tod werde die Er- damaligen Europa vervollständigten bis
innerung jedoch zu all dem geöffnet, was je in die Seele gekommen zu seinem dreißigsten Lebensjahr sein
und was bis anhin dem Menschen verborgen geblieben sei. Diese Er- Emanuel Swedenborg24 Wissen. Swedenborg gründete 1718 die
innerung sei gleichzeitig das vollständige Buch des eigenen Lebens. erste wissenschaftliche Zeitschrift Schwe-
Die Seele selbst verändere beim Tod folglich nicht ihre Stelle, sondern dens, den Daedalus Hyperboraeus (Der nordische Daedalus); zudem
erkenne, wo sie stehe. Swedenborg als Geisterseher vermöge mit ab-
geschiedenen Seelen Kontakt aufzunehmen. Für ihn sei die Schranke 23 Nach dem Julianischer Kalender; nach dem heutigen Gregorianischen am 9.
Februar 1688.
zwischen äusserer Schale und innerem Kern, zwischen Körper und 24 Robin Larsen (Hg.): Emanuel Swedenborg. A Continuing Vision, New York
Erinnerung (Seele) bereits im Diesseits aufgehoben. Er könne zudem 1988, S. 34: »Emanuel Swedenborg engraved after a drawing from life by J.
den momentanen Zustand der Verstorbenen erkennen. Der leben- W. Stör, 1734«.

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bekam er die Stelle des außerordentlichen Assessors in der schwe- Swedenborg schränkte nach diesen ersten Visionen seine Rei-
dischen Bergwerksbehörde, da er auch selber über seine Familie Minen setätigkeit ein und zog sich für den letzten Lebensdrittel in ein Haus
besass. 1719 wurde er geadelt und nahm nun den Namen Swedenborg auf dem Land zurück, wo er Werke zu den himmlischen Geheimnis-
an. Als ältester Sohn der Familie hatte er nun auch Anspruch auf einen sen,27 von der Seele, dem Geist und dem Leib,28 von der Sexualität
Sitz im Riddarhus, dem Adelshaus, einem der vier Häuser des Reichs- zwischen Mann und Weib29 und von der wahren christlichen Reli-
tags, der das Land zusammen mit dem König regierte. Swedenborg gion30 verfasste. So spirituell all diese Werke geprägt sind, so ver-
reformierte und modernisierte in der Folge den Bergbau und publi- suchte Swedenborg doch weiterhin, den Zugang zu dieser neuen
zierte neben seiner Tätigkeit verschiedenste wissenschaftliche Werke, himmlischen Welt auch über die Vernunft zu finden. Dass dies nicht
so dass er 1740 als Mitglied in die schwedische Akademie der Wissen- immer gelingen konnte und auch nicht für alle einsichtig war, zeigt
schaften aufgenommen wurde. 1743 widmete er sich anatomischen nicht nur die Reaktion Kants, sondern zeigen auch Reaktionen ver-
Studien und publizierte auch hier verschiedene Werke. Gleichzeitig schiedener anderer Zeitgenossen. Ziel von Swedenborgs Visionen
setzten die ersten Visionen und Träume ein, die Swedenborg in seinem und Forschungen war, den göttlichen Sitz in der menschlichen Seele
Traumtagebuch25 auf minuziöseste Art und Weise festgehalten hat. So zu finden und damit auch eine Verbindung zwischen den beiden
schreibt er (gemäß seiner eigenen Aussage) bei seiner ersten Christus- noch getrennten Welten, dem äußeren und dem inneren Gedächt-
vision, die er in der Nacht vom 6. auf den 7. April 1743 erfahren hatte: nis, dem Diesseits und dem Jenseits herzustellen.

»Um zehn Uhr legte ich mich zu Bett und fühlte mich etwas besser. Briefe Lavaters an Swedenborg
Eine halbe Stunde vernahm ich einen Lärm unter meinem Haupt
und dachte, daß mich der Versucher verlassen hätte. | Sogleich
Der Theologe Johann Caspar Lavater interessierte
ging ein Schauern über mich, das sehr stark war und vom Haupt sich in seinen frühen Studien ebenfalls für die Or-
(ausgehend) über den ganzen Körper lief, (verbunden) mit einigem tung der Seele und die Verbindung zwischen
Geräusch, und dies einige Male; ich fühlte, daß etwa Heiliges über Diesseits und Jenseits. Als Kind der Aufklärung
mir war. Daraufhin schlief ich ein, und etwa gegen zwölf, ein oder versuchte er wie Swedenborg primär über die
zwei Uhr nachts erfaßte mich ein so starkes Schauern, vom Haupt Vernunft in die Geheimnisse des Glaubens ein-
bis zu den Füßen, mit einem Donner, als ob viele Gewitter zusam- zudringen. So ist es nicht erstaunlich, dass sein
menstießen, was mich erschütterte; es war unbeschreiblich und Interesse an Swedenborg schon früh geweckt
streckte mich auf mein Angesicht nieder. Da, in dem Augenblick, wurde. Im dritten Band der Aussichten in die Ewig-
als ich zu Boden gestreckt wurde, war ich hellwach und sah, daß Der junge Lavater, keit nimmt Lavater Kants Schrift Träume eines
ich niedergeworfen wurde, und wunderte mich, was dies bedeuten Selbstportrait.31 Geistersehers und damit auch Swedenborgs acht-
sollte und sprach, als ob ich wach wäre, bemerkte jedoch, daß mir
die Worte in den Mund gelegt wurden […] Ich erwachte mit Zit- 27 Emanuel Swedenborg: Himmlische Geheimnisse, die in der Heiligen Schrift,
tern, geriet wieder in einen solchen Zustand, daß ich in Gedanken dem Worte des Herrn, enthalten und nun enthüllt sind, Zürich 1966-1973.
(dabei) weder schlafend noch wachend war und dachte: »Was mag 28 Von der Seele, Geist und Leib. Emmanuel Swedenborgs Gedanken. Zum
dies sein, ist es Christus, Gottes Sohn, den ich gesehen habe?«26 Leib-Seele-Problem, Zürich 1956.
29 Der Mensch als Mann und Weib. Sexualität und eheliche Liebe in der Schau
25 Emanuel Swedenborg: Traumtagebuch 1743-1744. Aus dem Schwedischen von Emanuel Swedenborg, Zürich 1973.
übersetzt von Hofrat Felix Prochaska, Swedenborg Verlag Zürich, Zürich 30 Emanuel Swedenborg: Die wahre christliche Religion, Zürich 1963.
1978. 31 Denkschrift 1902, S. 21: Selbstportrait Lavaters, 1766. Nach einer Reproduk-
26 Emanuel Swedenborg, Traumtagebuch 1743-1744, S. 11-12. tion des nicht mehr auffindbaren Originals.

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bändiges Werk Arcana caelestia auf, maßt sich jedoch nur indirekt schon Beweise eines außerordentlichen u beinahe göttlichen Wis-
ein Urteil über Swedenborgs Schriften an, die er im Original wahr- sens gegeben haben) niemanden in dieser Welt kenne, der fähig
scheinlich nur zum Teil auch wirklich gekannt hatte. Da Lavaters wäre, meine Fragen zu lösen, so will ich mir die Freiheit nehmen,
Interesse an den Dingen des Jenseits für das Verfassen des Werks sie Ihnen vorzulegen, u getröste mich, sie werden sich herablassen,
Aussichten in die Ewigkeit groß gewesen ist, wandte sich der junge mich hierin bald möglichst zu befriedigen.
I. Ich bin seit drei Jahren mit Herz u Seele beschäftigt gewesen ein
Theologe nun in Briefen direkt an den wesentlich älteren Schwe-
Gedicht über die künftige Seligkeit der Christen zu schreiben, u
dischen Gelehrten Emanuel Swedenborg, der offensichtlich Zugang
habe vor kurzem verschiedene Briefe, besonders an Zimmermann,
zu der Lavater noch verschlossenen Welt besaß.
den gegenwärtigen berühmten Arzt in des Königs von England,
Zwei Briefe sind erhalten, die der Zürcher Pfarrer mit einem Jahr
einen Hannoveraner, meinen vertrauten Freund, geschrieben, um
Abstand an Swedenborg gerichtet hat. Bei beiden wünscht Lavater die Meinungen der Weisen u Gelehrten darüber zu erfahren, bevor
einerseits Kenntnis vom Zustand des verstorbenen Freundes Felix ich das Gedicht selbst bekannt mache. Ich wünsche sehnlichst,
Hess, andererseits eine Reaktion auf den ersten Band der bereits ge- auch Ihre Ansicht zu hören, was von großem Nutzen für mich sein
druckten Aussichten in die Ewigkeit. Beide Briefe zeigen sehr eindrück- würde; ich weiß aber nicht, ob Sie mit der deutschen Sprache ver-
lich, wie groß das Interesse Lavaters an Swedenborgs Wissen über traut sind. Ich würde Ihnen gerne entweder eine Abschrift davon
dessen Kenntnis der jenseitigen Welt gewesen ist. Daher sollen hier senden oder, wenn es Ihnen gefällt, die vornehmsten Teile ins La-
längere Abschnitte aus den in der Zentralbibliothek Zürich noch er- teinische übersetzen.
haltenen Abschriften eingerückt werden: II. Ich bin schon lange teils aus der heil. Schrift, teils durch eigne Er-
fahrung überzeugt gewesen, daß Gott häufig gläubige u brünstige
Lavater an Swedenborg, 27. August 1768:32
Gebete in solcher Weise erhört, daß um derselben willen nicht nur
»Sehr zu verehrender u vortrefflicher Mann! wundervolle Dinge geschehen, sondern wirkliche Wunder gewirkt
worden sind. Ich bin gerade im Begriff, eine Abhandlung über die-
Ich zweifle nicht, daß Sie öfter durch Briefe von Fremden, mit
sen Gegenstand zu schreiben, u bitte daher, mir Ihre Ansicht über
denen Sie nicht bekannt, beunruhigt werden, u daß Sie durch Be-
denselben zu sagen. Sie zweifeln wahrscheinlich nicht, daß Gott u
trachtungen, Geschäfte, Reisen u die Gesellschaft angesehener Per-
Christus auch jetzt noch Wunder wirkt, um der Gläubigen willen,
sonen sehr in Anspruch genommen sind, so werden Sie vielleicht
welche auch mit ihm vereinigst sind; vielleicht sind einige Beispiele,
gegenwärtiges Schreiben von einem unbekannten Schweizer als
welche die Sache außer Zweifel setzen zu Ihrer Kenntnis gelangt.
eine Spielerei u Zudringlichkeit ansehen; allein nachdem ich erfah-
– […] Könnten sie mir wohl gewisse u autentische Beweise davon
ren, daß ein so großer Mann mein Zeitgenosse ist, konnte ich nicht
verschaffen?
umhin, ihn über einige Dinge zu fragen, welche mir von der höch-
III. Ich habe viel gehört u gelesen von Ihrem vertrauten Umgange
sten Wichtigkeit zu sein scheinen, u da ich außer Ihnen, (die Sie
mit den Geistern der Verstorbenen: möchte es mir denn erlaubt
32 Lavater an Emanuel Swedenborg, 24. August 1768, FA Lav Ms 583, Brief Nr. sein, Ihnen, hochverehrter Mann! Einige Fragen vorzulegen, wel-
172 [Abschrift; 4 Seiten]. Die Zitate aus den ungedruckten Briefen werden che aus einem Herzen kommen, das ganz redlich gesinnt u mit
diplomatisch getreu wiedergegeben. Lediglich die Gross- und Kleinschrei- Hochachtung gegen Sie erfüllt ist; Fragen, durch deren Lösung ich
bung wird der heutigen Regelung angepasst. Die von Lavater hervorgeho-
von der Wahrheit dieser beinahe unglaublichen Berichte überzeugt
benen Stellen werden kursiv gesetzt. Gebräuchliche Kürzel sind ausgeschrie-
werden möge.
ben, individuell abgekürzte Formen jedoch belassen. Verdoppelungszeichen
werden durch Doppelschreibung wiedergegeben, eindeutige Ligaturen auf- 1. Felix Hess, einer meiner Freunde, starb den 3. März 1768: – wird
gelöst. Alle von der Herausgeberin gemachten Zusätze stehen in eckigen [] er mir erscheinen während meines Lebens, u wann, in welcher
Klammern. Weise? – wird er mir etwas offenbaren in Betreff der Seligkeit derer

182 OFFENE TORE 4/06 OFFENE TORE 4/06 183


im Himmel, oder meines kirchlichen Berufes auf Erden? Ich drang nen andern Brief nicht empfangen haben; ich habe nun aber erfah-
sehr inständig in ihn vor seinem Tod, mein Verlangen wo möglich ren, auf welchem Wege der gegenwärtige Sie erreichen wird.
zu stillen. Ich verehre die wundervollen Gaben, die Sie von unserm Gott emp-
2. Wird Heinrich Hess, der Bruder des Verstorbenen, mein sehr fangen haben. Ich verehre die Weisheit, die aus Ihren Schriften
guter Freund, noch überzeugt werden von der Kraft des Glauben hervorglänzt u kann daher nicht umhin, die Freundschaft eines so
u des Gebetes, die ich lehre, u an der er noch zweifelt? – u welche großen u vortrefflichen noch lebenden Mannes zu suchen. Wann
von den Bewohnern Zürichs, welche noch in einem Zustande des es wahr ist, was man von Ihnen erzählt, so wird Gott Ihnen zeigen,
Zweifels sind, werden davon überzeügt werden? wie sehr ich in Einfalt des Herzens suche, mit Ihnen in Verbindung
3. Werde ich jemals so glücklich sein, mit Eng[eln] oder den Gei- zu kommen. Ich bin ein junger Mann, noch nicht 30 Jahre alt, Die-
stern der Verstorbenen zu verkehren ohne irgend einen falschen Fa- ner des Evangeliums; ich wirke u werde wirken für die Sache Christi
natismus u ohne Ungehorsam gegen das Gebot Gottes, die Toten so lang ich lebe.
Ich habe Einiges über die Seligkeit des künftigen Lebens geschrie-
nicht zu fragen? u durch welche Lebensweise oder durch welche
ben. – O daß ich Briefe über diesen Gegenstand mit Ihnen wech-
Tugenden könnte ich zu einem so hohen Vorzug gelangen?
seln, oder noch lieber mit Ihnen sprechen könnte!
[…]
Ich füge eine Schrift bei. Sie sollen meine Seele kennen lernen. Um
Werden Sie nicht unwillig, vortrefflichster u gelehrtester Mann,
Eines bitte ich Sie, göttlich inspiriter Mann! Ich beschwöre Sie bei
über einen sehr eifrigen Jünger der Wahrheit, welcher weder un-
dem Herrn, es mir nicht abzuschlagen.
besonnen leichtgläubig, noch auch ungläubig sein will, sondern
Im Monat März 1768 starb Felix Hess, mein bester Freund, ein jun-
ein offenes Herz hat, bereitwillig aus innerster Seele aufzunehmen,
ger Mann aus Zürich, im Alter von 24 Jahren, ein redlicher Mann,
was immer die Wahrheit hervorstrahlen läßt. Leben Sie wohl, u ein edles Herz, sterbend nach christlichem Geist, aber noch nicht
lassen sie mich nicht lange vergeblich auf Antwort warten. Möge eingekleidet in Christus. Ich bitte, sagen Sie mir, was er macht.
Gott u Christus, dem wir angehören, wir mögen leben oder ster- Malen Sie mir seine Gestalt, seinen Zustand, u.s.w. in solchen Wor-
ben, mit Ihnen sein. ten, daß ich erkennen möge, daß Gott in Wahrheit in Ihnen ist.
Johann Caspar Lavater von Zürich Ich sende Ihnen hier auch eine Zifferschrift, welche sie verstehen
Diener des Wortes Gottes.[»] werden, wenn es wahr ist, was man von Ihnen erzählt: ich bitte,
Zürich in der Schweiz den 24. Aug. 1768. selbige niemandem zu zeigen.
Ich bin Ihr Bruder in Christo, antworten Sie mir recht bald als red-
Auf diesen ersten Brief erhielt Lavater keine Antwort, so dass er licher Bruder; beantworten Sie mir den Brief, den ich an sie habe
gut ein Jahr später, am 24. September 1769, einen zweiten Brief an abgehen lassen u zwar in solcher Weise, daß ich sehen möge, was
Swedenborg richtete:33 ich jetzt blos auf das Zeugnis Anderer hin glaube.
Christus, dem wir angehören lebend od. sterben, se[y] mit uns !
»Edelster, verehrungswürdigster u Geliebtester in Christo unserm
Johann Caspar Lavater, Diaconus am Waisenhaus«
Herrn!
Zürich in der Schweiz den 24. Sept. 1769.
Ich habe mir die Freiheit genommen, zum zweiten Mal an Sie zu
schreiben, da es wohl möglich ist, daß Sie in Folge Ihrer Reisen mei- Johann Caspar Lavater, der zwischen diesen beiden Briefen
seine erste Stelle als Diakon (zweiten Pfarrer) an der Waisenhauskir-
33 Lavater an Emanuel Swedenborg, 24. September 1769, FA Lav Ms 583, Brief
Nr. 173 [Abschrift; 2 Seiten + Zuschrift des Abschreibers: Aus den Quellen
che in Zürich angetreten hatte, war mit seinem ersten Band der Aus-
treu wiedergegeben und mit Anmerkungen begleitet von Dr. J.F. J. Tafel, sichten in die Ewigkeit weit über die Landesgrenzen hinaus in der Ge-
Universitätsbibliothekar zu Tübingen.]. lehrtenwelt bekannt geworden. 1769 gab er den zweiten Band der
184 OFFENE TORE 4/06 OFFENE TORE 4/06 185
Aussichten heraus und verschickte im gleichen Jahr verschiedenen von den reisefreudigen Zeitgenosssen besucht. Lavaters Umtriebig-
Freunden und Gelehrten die Drey Fragen von den Gaben des heiligen keit und Berühmtheit strahlte weit über die Landesgrenzen hinaus.
Geistes.34 Damit beschäftigte er sich wie Swedenborg mit der Frage Dennoch zentrierten sich Zeit seines Lebens seine Gedanken auf
nach der Beschaffenheit des Menschen im Jenseits und der Verbin- die aus sich heraus erarbeitete Individualität, auf das Individuum
dung des jetzigen Zustandes mit dem Künftigen. Von Swedenborg Mensch als Abbild Gottes. Im 2. Band seines Werks Aussichten in die
verlangte er in seinen an ihn gerichteten Briefen den Beweis der Ewigkeit stellte der erst achtundzwanzig jährige Lavater erstmals di-
Präsenz Gottes auf Erden (»daß ich erkennen möge, daß Gott in rekt die Frage nach der Bedeutung des Menschen. Er selbst beant-
Wahrheit in Ihnen ist«). Da Swedenborg jedoch Lavaters drängende wortete diese Frage dahingehend, dass er den Menschen als »Ein
Fragen nicht beantworten wollte, ja sogar den Kontakt zu ihm ver- freyes, lebendiges, selbstthätiges Wesen« bezeichnet, das »begabet«
weigerte, sah dies Lavater wohl als Eingeständnis seines Wissens ist »mit empfindenden, denkenden, moralischen, [und] physischen
oder eben Nicht-Wissens. Kräften, die sich unendlich vervollkommnen lassen.« Der Mensch
Die Briefe Lavaters an Swedenborg zeigen einerseits nicht nur sei »ein Wesen, das vermögend ist, die grössten Veränderungen in
Lavaters Interesse an den Visionen Swedenborgs, sondern machen dem Zusammenhang aller Dinge zu bewirken und zu veranlassen
andererseits auch aufmerksam auf die im Zentrum stehende The- [...]«36 Lavater meint damit nichts anderes, als dass der Mensch mit
matik des 18. Jahrhunderts: die Bedeutung und Funktion des Men- seinen von Gott gegebenen Kräften die Möglichkeit besitzt, sich mit
seinen Fähigkeiten und anhand der Tugend und des Glaubens über
schen innerhalb des göttlichen Universums.
die Grenzen des Todes hinaus zu entwickeln.
Diese zentrale Frage stellte sich Lavater sowohl in seinen frag-
mentarisch gehalten Werken als auch in seinem enorm dichten Brief- »Der Adler, der zum Himmel fliegen,
wechsel mit Gelehrten aus ganz Europa.35 Und aus der Sonne trinken kann,
Sieht eines Schmetterlings Vergnügen
Und Würmer mit Verachtung an.
Gedanken in Lavaters frühem Werk O Ihr, die Ihr Euch hoch auf Thronen
Johann Caspar Lavater war eine der bedeutendsten Personen des Als Richter jedes Geistes setzt,
Warum verschenkt Ihr eure Kronen
18. Jahrhunderts. Mit seinen Lehrern Johann Jacob Bodmer und Jo-
Nur dem, der Unschuld fein verletzt?
hann Jacob Breitinger und dem Idyllendichter Salomon Gessner
Warum belacht Ihr jeden Dichter,
machte er Zürich zu einer geistigen Hochburg, zu einem »Limmat- Dem Tugend über alles gilt?
Athen«. Dieses wurde aber nicht nur von Gelehrten erkannt, son- Was hilft das Lob der Schriftenrichter,
dern als – wie wir heute sagen würden – In-Stadt ganz allgemein Wenn unser eigen Herz uns schilt?
Das, Bodmer, hast du mich gelehret,
34 [Johann Caspar Lavater]: Drey Fragen von den Gaben des heiligen Geistes.
Allen Freunden der Wahrheit zur unpartheyisch-exegetischen Untersuchung Zu dieser Wahrheit will ich stehn,
vorgelegt, [Zürich], Im September 1769. Vgl. JCLW, Band III, S. 93-99. Vgl. Und wenn uns auch die Welt nicht höret;
JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 115. »Nein! was nicht gut ist, ist nicht schön!«
35 Vgl. JCLW, Ergänzungsband: Johann Caspar Lavater (1741-1801). Verzeich- Lacht laut, so viel ihr lachen wollet,
nis der Korrespondenz in der Zentralbibliothek Zürich, hg. von Christoph Ich singe mehr als Lieb und Wein!
Eggenberger / Marlis Stähli. Bearbeitet von Alexandra Renggli und Marlis Verdammt mit lauter Stimme sollet
Stähli aufgrund des Standortkatalogs und unter Verwendung der Vorarbei-
ten von Ursula Caflisch-Schnetzler, [Zürich 2007 ]. 36 JCLW, Band II, S. 335.

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Ihr mir, ihr Wollustlieder seyn! und von der zukünftigen Vollkommenheit der Seeligen und – damit
Und wenn ihr noch so zierlich klinget, man sich auch im Himmel versteht – von der »Sprache im Himmel«,
Und wenn die ganze Welt euch singet, die eine physiognomische, pantomimische und musikalische Spra-
Und wenn ich euer Verse Fluss
che sein wird.
Und Bilder selbst bewundern muss.
Ursprünglich plante Lavater die Aussichten als Lehrgedicht im
Vernunft, du sollst das Urtheil sprechen!
Du, Tugend, ihr zur Seite stehn!
Sinne von Klopstocks Messias40 oder Andreas Cramers Die Auferste-
Mein Herze lässt sich nicht bestechen; hung41 zu schreiben. Aus verschiedenen Gründen – auf die wir hier
Nein! was nicht gut ist, ist nicht schön!«37 nicht näher eintreten können42 – verfasste Lavater seine Gedanken
nun aber in Briefen an den gelehrten Freund Zimmermann und
Dieses »Lied des Schweizerliederdichters«, das Lavater 1766 hoffte damit, die »Depositairs des gesunden Verstandes, des guten
erstmals publiziert hatte, zeigt zum einen die Wurzeln, aus der La- Geschmakes, der wahren Weltweisheit, und der apostolischen Got-
vaters Werk wächst, nämlich »Das, Bodmer, hast du mich gelehret«, tesgelehrsamkeit«43 zu erreichen. Lavater meinte damit die Gelehr-
nämlich: die Vernunft zu gebrauchen und die Tugend zu bewahren. tenelite der Zeit, also u.a. Bodmer und Breitinger, Gessner, Klopstock,
Als Adler, der zum Himmel fliegt, um aus der Sonne zu trinken, wird Bonnet, Sulzer, Haller, Kant, Spalding, Cramer, Herder und Mendels-
der Dichter zum Weltenschöpfer und bekommt damit die Aufgabe, sohn.44 Der Universalgelehrte Swedenborg wird nicht genannt. La-
nicht mehr das weltliche Geschehen in anakreontischer Verzückung vaters eschatologischen Gedanken fanden bei den Gelehrten große
oder pietistischer Verbrämung zu beschreiben, sondern als Dichter Beachtung, nicht zuletzt auch darum, weil er die Lehre des Natur-
anhand von Vernunft, Tugend und Phantasie die Welt, den Wel- philosophen Charles Bonnets als Basis seiner Überlegungen nimmt.
tenplan neu zu entdecken und zu besingen. Nach den Auserlesenen Der zentrale Gedanke in Charles Bonnets Betrachtung über
Psalmen Davids (1765),38 der anonym erschienen moralischen Wo- die Natur45 und seinen 1769 nachfolgenden zwei Bänden der
chenzeitung Der Erinnerer (1765-1767)39 und den Schweizerliedern Palingénésie46 (Wiedergeburt, Seelenwanderung) ist die Annahme
(1766) trat Lavater 1768 mit seinem theologischen Werk Aussichten eines präexistenten Keims, in dem bereits alles angelegt und vorbe-
in die Ewigkeit erstmals an ein breiteres öffentliches Gelehrtenpubli- stimmt ist, was den Menschen ausmacht. Dieser Keim kommt mit
kum. In 25 Briefen an den gelehrten Freund und Arzt Johann Georg
Zimmermann thematisierte Lavater in seinen Aussichten in die Ewig- 40 [Friedrich Gottlieb Klopstock]: Der Messias. Vier Bände, Karlsruhe 1751-1773.
Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Aus-
keit nacheinander Tod, Zwischenzustand, Auferstehung, Gericht und gabe, hg. von Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurle-
sein utopisches Jenseits, seinen Himmel, die Wohnungen, in denen busch und Rose-Marie Hurlebusch, Berlin / New York 1974-1996.
die Seeligen sich aufhalten und die gesellschaftlichen Freuden, die 41 Johann Andreas Cramer: Die Auferstehung. Eine Ode, Zürich 1768.
sie geniessen dürfen; er berichtet auch von deren Beschäftigungen 42 Vgl. JCLW, Band II, S. XVII-XLIII (Einführung).
43 JCLW, Band II, S. 9.
37 Johann Caspar Lavater: Schweizerlieder. Vierte verbesserte und vermehrte 44 Vgl. JCLW, Band II, S. 9-10.
Auflage, Zürich 1775, S. 311-312. Vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, 45 Charles Bonnet: Contemplation de la Nature, Amsterdam 1764. – Charles
Nr. 318. Bonnet: Betrachtung über die Natur, Leipzig 1766.
38 Johann Caspar Lavater: Auserlesene Psalmen Davids zum allgemeinen 46 Charles Bonnet: La Palingénésie Philosophique ou Idées sur l’Etat passé et
Gebrauch in Reimen gebracht, Zürich 1765. Vgl. JCLW, Ergänzungsband l’Etat Futur des Etres Vivans. 2 Bände, Genf 1769. – Herrn C. Bonnets […]
Bibliographie, Nr. 61. Philosophische Palingenesie […] Aus dem Französischen übersetzt und mit
39 Der Erinnerer. Eine moralische Wochenschrift. 2 Bände, Zürich 1765-1767. Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater, Zürich 1769 und
Vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 131. 1773.

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dem Beginn des Lebens zur Entwicklung. In der Nachfolge von Leib- Gemeinnützigkeit; die Verschiedenheit der Sprachen störe auch »die
niz Monadentheorie stehend,47 definiert Bonnet in seiner Theorie, Einheit und Harmonie der grossen Geister-Familie«.
die auf Naturbeobachtungen basiert, die Welt als ein organisches Die »allgemeine Sprach« nun – die Lavater anstrebt – ist »die
Ganzes, in der die göttliche Vorsehung der präexistente Keim ist. In Natursprache des ganzen Menschen«. Alle Zeichen und Wörter wer-
Analogiestufen werden die einzelnen Keime in der von der Vorse- den zukünftig wegfallen, um dieser einen »unmittelbaren« Sprache
hung her bestimmten Weise entwickelt. Der Mensch kann weder in zu weichen. Diese Sprache darf nun aber nicht nur mehr successiv
den präexistenten Zustand noch in den Entwicklungsprozess aktiv sein, wie es Lavater nennt, sondern sie muss »successiv und momen-
eingreifen. Auch der Tod unterbricht diese Entwicklung nur inso- tan zugleich sein«; das heisst: Die allgemeine Sprache muss gleich-
fern, als er den aus Körper und Seele bestehenden Menschen, dieses zeitig enorm viele Bilder, Gedanken und Empfindungen wie ein Ge-
»être mixte«, wie es Bonnet nennt, in einer Art Verpuppung (der mälde vermitteln. Diese allgemeine Sprache muss »Gemälde und
Raupe ähnlich) die Zeit bis zur Auferstehung durchleben lässt. Aus Sprache zugleich seyn«.
diesem Kokon, tritt der Mensch in die neue himmlische Welt ein, Lavater folgert daraus, dass »die unmittelbare Sprache (die
um dort mit gesteigerten Sinnen zu leben und zu wirken. Bonnet Natursprache oder Sprache des Himmels) »physionomisch, panto-
denkt in Analogien. In seinem Denken entwickelt sich die Welt und mimisch – musicalisch. [ist. …] Wie Christus das redendste, leben-
alles Lebendige auf eine Vollkommenheit hin, ohne dass der Mensch digste, vollkommenste Ebenbild des unsichtbaren GOttes ist, ein
selbst darauf Einfluss nehmen könnte. Ebenbild, wo alles Ausdruck, alles von unerschöpflicher und unend-
Lavater übernimmt in seinen Aussichten in die Ewigkeit von licher Bedeutung ist; […] so ist jeder Mensch – (ein Ebenbild GOttes
Charles Bonnet den Gedanken des im Keim angelegten Ganzen. Er und Christi) so ganz Ausdruck, gleichzeitiger, wahrhafter, vielfas-
setzt nun aber dem Menschen das Göttliche als Keim, als christliches sender, unerschöpflicher, mit keinen Worten erreichbarer, unnach-
»Urbild« ein. Durch dieses Implantat, diese Inkarnation wird Christus ahmbarer Ausdruck; Er ist ganz Natursprache. […] Alles in der Natur,
für den Menschen zum sichtbaren Vorbild, dem es nachzustreben jede Frucht, das geringste Blat hat seine Physiognomie, seine Natur-
gilt. Diese Inkarnation des christlichen »Urbildes« in den Keim des sprache – die von jedem geöffneten Auge verstanden wird; Nur der
Menschen und die damit implizierte imitatio Christi bewirkt nun, lebendige, vernünftige, moralische Mensch, nur das Ebenbild GOt-
dass der Mensch selbst – individuell – an seiner durch den Glauben tes soll sie nicht haben?«
an Christus bedingten Erlösung mitarbeiten kann und soll. 1772 – mitten in der Arbeit am 3. Band der Aussichten in die
Im 16. Brief des dritten Bandes der Aussichten in die Ewigkeit be- Ewigkeit – veröffentlichte Lavater seinen ersten Beitrag zur Lehre von
richtet Lavater über die »Sprache im Himmel«:48 »denn unaussprech- der Physiognomik, betitelt: Von der Physiognomik.49 Diese Publika-
lich verschieden von unserer izigen Sprache muss unsere himmlische tion resultierte aus zwei Vorträgen, welche er 1771 vor der Natur-
seyn.« Im Folgenden zeigt Lavater, wie sich seine Sprache im Him- forschenden Gesellschaft in Zürich gehalten hatte. In dieser Schrift
mel gestalten wird: »Fürs erste«, so meint er, müsste »eine allge- entwirft Lavater das Konzept zur Physiognomik als Wissenschaft.
meine Sprache angenommen werden«, denn »die Verschiedenheit Beschreibt Lavater in den Aussichten in die Ewigkeit das in Stufen
der Sprachen« sei »eine Folge von großen Zerrüttungen«; diese be- sich fortsetzende Leben nach dem Tod und die Sprache im Himmel,
wirke »in den Gemüthern Disharmonie« und hindere den Geist zur die über die Physiognomik auch mit der irdischen verbunden ist, so
beobachtet er im Geheimen Tagebuch. Von einem Beobachter seiner
47 Gottfried Wilhelm Leibniz: Lehr-Sätze über die Monadologie, Aus dem Fran-
zösischen übersetzt von Heinrich Köhlern, Frankfurt und Leipzig 1720. 49 J.C. Lavater von der Physiognomik, Leipzig 1772. Vgl. JCLW, Ergänzungsband
48 JCLW, Band II, S. 449-457. Bibliographie, Nr. 378.

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Selbst von 177150 aufs Genaueste die Entwicklung seiner Seele, die Verbindung von Lavaters und Swedenborgs Gedanken
das Göttliche im Menschen ist.
Vergleicht man die Gedanken der beiden Gelehrten Lavater und
Wie das Geheime Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst
Swedenborg, so findet man in ihren Grundaussagen zum Teil Paral-
eine Fortsetzung in den 1773 von Lavater nun selbst herausgege-
lelen, zum andern divergierende Aussagen. Lavater und Swedenborg
benen Unveränderte[n] Fragmente[n] aus dem Tagebuche eines Beob-
sind beide an der himmlischen Welt interessiert und beide erkennen
achters seiner Selbst51 erfuhr, so folgte auch auf die erste Publikation
sie eine Verbindung und Entsprechung zwischen Diesseits und Jen-
zur Physiognomik, der eine große Resonanz erfahren hatte, 1775-
seits. Bei Swedenborg ist es dem Divinator (Seher) möglich, den
1778 die vier Folianten der Physiognomische[n] Fragmente zur Beför-
Zugang zu den Verstorbenen und zum Jenseits zu erschließen. La-
derung der Menschenkenntniß und Menschenliebe.52 Wie der Titel es
vater entwirft in den Aussichten zwar ein utopisches Jenseits, gene-
schon beinhaltet, geht Lavater in seinen Studien zur menschlichen
rell beschränkt sich aber seine Sicht des Menschen aufs Diesseits,
Physiognomie von einer anthromorphen Haltung aus. Nicht nur die
da die »Kräfte der Gottheit noch verschlossen und unentwickelt
Kenntnis des Menschen soll zur Wissenschaft, sondern die christliche
schlummern«. Nach Swedenborg wird mit dem physischen Tod
Liebe zum Menschen als Grundlage befördert werden.
das innere Gedächtnis geweckt und die damit freigelegte Erinne-
Lavaters Werk, so unterschiedlich es sich äußerlich auch gestal-
rung zum Buch des Lebens. Bei Lavater, der nicht vom befangenen
ten mag und so vielfältig es ist, hat mit seiner Christologie ein in-
Menschen, sondern vom freien Individuum ausgeht, kann das Buch
neres Ziel: Die Imitatio Christi oder die Gottebenbildlichkeit zu fin-
des Lebens mit dem Verfassen eines moralischen Tagebuchs bereits
den. Jeder Mensch hat mit dem »Bild der Gottheit […] alle Kräfte
im jetzigen Leben geschrieben werden. Zudem kann der Mensch
der Gottheit wenigstens verschloßen, wenigstens schlummernd und
die göttliche Seele erkennen und sich in Stufen über das Bewusst-
unentwickelt in sich.«53 Verschließt sich der Mensch dem Wirken
sein, den Glauben und die Tugend verbessern. Der Kern des Men-
Christi nicht, so kommen die in ihm existierenden göttlichen Kräfte
schen – bei Swedenborg das innere Gedächtnis – wird bei Lavater
individuell zur Entfaltung. Lavater geht die Erforschung des Men-
erst nach dem Tod freigelegt. Diese Befreiung vom irdischen Leib
schen von drei Seiten an: theologisch – subjektiv – und physiogno-
führt beim Menschen im Jenseits zur höchsten Weisheit. Die Spra-
misch. Theologisch, indem er mit seiner Christologie in Analogie-
che des Himmels, die Swedenborg in seinen Träumen und Visionen
stufen über den Tod hinaus die innere Entwicklungsfähigkeit des
mit den Geistern spricht, ist für Lavater die Physiognomische, die
Menschen zeigt (Aussichten in die Ewigkeit); subjektiv, indem er an-
hier auf Erden als Wissenschaft bereits gelernt werden kann. Wie
hand des Tagebuchs seine Seele zu ergründen und zu verbessern
Swedenborg, so anerkennt auch Lavater die Verbindung von Körper
sucht – und physiognomisch, indem er das am Menschen Beobach-
und Seele, von Schale und Kern. Das Göttliche zeigt sich dabei einer-
tete auf das Göttliche hin analysiert.
seits über die Seele, die Lavater im Tagebuch zu erforschen suchte,
50 [Johann Caspar Lavater]: Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner andererseits im Körper – primär im Gesicht. Swedenborg und Lava-
Selbst, Leipzig 1771. Vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 183. ter kommen beide über die Naturwissenschaft und damit über die
51 Johann Caspar Lavater: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Vernunft zu diesen Erkenntnissen: Lavater v.a. über den Naturphilo-
Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773. Vgl. JCLW, Ergänzungsband Biblio-
graphie, Nr. 183.
sophen Charles Bonnet; Swedenborg über seine eigenen Studien.
52 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Wie die Beispiele zeigen, finden sich in den Gedanken von La-
Menschenkenntniß und Menschenliebe. 4 Bände, Leipzig und Winterthur vater und Swedenborg wichtige Verbindungen. »Die Ungereimt-
1775-1778. Vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 274. heiten, die in seinen höheren Schriften«54 vorkommen und die be-
53 Johann Caspar Lavater: Entwurf einiger Gedanken zu einem Religionsbegriff
[1785], FA Lav Ms 49 und 56, Nr. 4a. 54 Horst Weigelt (Hg.), Reisetagebücher, Teil I, S. 437.

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reits im ersten Brief an Swedenborg formulierten Bedenken gegen Glauben an ein himmlisches Jenseits und dem Gedanken der Ent-
einen »falschen Fanatismus und den Ungehorsam gegen das Gebot sprechung – aus den Schriften und Briefen Lavaters schließen, dass
Gottes, die Toten zu fragen« bewirkten aber, dass Lavaters sich von dieser sich nach einem ersten Zögern und einer späterer kurzen Be-
Swedenborg gedanklich immer mehr distanzierte. So spricht Lava- geisterung von den für ihn doch zu weit ins Geisterreich führenden
ter in keinem seiner Werke von Swedenborg als einem/seinem »père Gedanken Swedenborgs abgewendet hatte. Der schwedische Uni-
de cet ouvrage«55, wie er dies bei Charles Bonnet bezüglich der versalgelehrte Swedenborg wurde von seinen Träumen und Visi-
Aussichten in die Ewigkeit getan hatte, ja er erwähnt erstaunlicher- onen überrascht und sah sich damit – trotz aller wissenschaftlichen
weise nicht einmal Swedenborgs Namen. In späteren Äußerungen Vernunft, die sich auch in den spekulativen Werken spiegelt – als ein
weist Lavater zudem explizit jede Verbindung zu Swedenborgs Ge- Gefäß oder Medium, durch das Gott spricht und handelt. Er selbst
danken ab. So findet sich zum einen ein unadressierter Brief vom blieb dabei weitgehend das Medium, das zwar aktiv Kontakt mit
6. Februar 1786, worin der Zürcher Theologe schreibt, dass er von den Geistern aufnehmen konnte, in seinen Träumen und Visionen
»Schwedenborg keine Idee angenommen habe, die dem »Totalsys- sich jedoch größtenteils passiv verhielt. Der wesentlich jüngere The-
tem des Evangeliums zuwider sei.«56 In die gleiche Richtung gehen ologe Lavater ging als Kind der Aufklärung dagegen bewusst und
die Äußerungen, die Lavater ein Jahr früher, am 6. Februar 1785, gezielt die Gedanken und Fragen nach dem Menschsein und des-
sen Stellung innerhalb des göttlichen Schöpfungsplans an und be-
über den schwedischen Gelehrten formuliert hatte und die 1841 im
antwortete diese Fragen über das Individuum, das sich innerhalb des
ersten Band der 8teiligen Ausgabe von Johann Kaspar von Orelli ab-
göttlichen Universums als freier Mensch bewegt. Mit Hilfe seiner ver-
gedruckt wurden. Darin bezeichnet Lavater Swedenborg zwar als
nünftigen Erkenntnisse, der Tugend und dem christlichen Glauben
»einen wahren, redlichen Divinator«. Dennoch sei nicht alles wahr,
besitzt der Mensch bei Lavater die Möglichkeit, über Stufen bewusst
was für ihn – Swedenborg – wahr gewesen sei: »Wenn er, wie ich
in die Nachfolge Christi zu treten. Bei der Suche nach dem himm-
fast nicht zweifeln will, wahr erzählte, so hatte er gewiß Visionen; lischen Jenseits stieß Lavater über Kant auf Swedenborgs Träume
aber diese Visionen waren seiner individuellen Natur angemessen; und dessen Himmel. In seinem utopischen Werk Aussichten in die
sie richteten sich nach dem Medium, durch welches gesehen ward. Ewigkeit überschritt er dichterisch die Grenzen zwischen Diesseits
Das aufrichtigste Auge sieht gelb durch ein gelbes Glas. Auch selbst und Jenseits, versuchte jedoch nicht, das »Totalsystem des Evangeli-
Geister können anders nicht, als nach dem Medium wirken, das sich ums« zu durchbrechen, sondern wollte dieses mit Hilfe der Vernunft
ihnen darstellt.« So erschienen denn die Geister »jedem in der mög- und der Bibel erkennen. Lavaters utopischer Himmel in den Aus-
lichsten Gleichförmigkeit seiner Natur« und seien damit nicht allge- sichten in die Ewigkeit sind nicht Swedenborgs Träume, die dieser als
mein wahr. Alle Ideen Swedenborgs seien also »der freien Prüfung Realität empfunden hatte, sondern ein nach der Bibel gezeichnetes
jedes Individuums unterworfen« und so »nehme ich« – schreibt La- mögliches Bild des göttlichen Jenseits. Dass sich Lavaters utopischer
vater auch hier – »also von Swedenborg keine Idee an, die dem To- Himmel mit Swedenborgs Träumen berührt, scheint wahrschein-
talsystem des Evangeliums zuwider sind«.57 lich. Ob sich die beiden jedoch in ihren Gedanken näher gekommen
So gut sich die Gedanken von Emanuel Swedenborg in La- wären, wenn ein Briefwechsel zwischen Swedenborg und Lavater
vaters christliches System und in die Gedanken der Physiognomik entstanden wäre, muss als Frage offen bleiben.
einfügen ließen, so muss man neben dem Verbindenden – dem
55 Lavater an Charles Bonnet, 18. Dezember 1768, FA Lav Ms 553, Brief Nr. 50.
56 FA Lav Ms 589.3.7 [Brief vom 6. Februar 1786; ohne Anschrift].
57 Johann Kaspar Orelli, Ausgewählte Schriften, Band I, S. 271-273.

194 OFFENE TORE 4/06 OFFENE TORE 4/06 195


Geburt des Sohnes in der Seele deutet, erscheint er von einem swe-
Die Geburt des Sohnes in der Seele denborgschen Standpunkt aus betrachtet als ein früher Herold der
Mit Swedenborg Meister Eckhart entdecken kommenden Kirche.
von Thomas Noack Um dieser Lehre von der Sohngeburt in der Seele willen wird
Eckhart als »Mystiker« bezeichnet. Auch Swedenborg hat das Etikett
1. Meister Eckhart: Ein Herold der kommenden Kirche »Mystiker« erhalten.4 Jedoch hat es sich bei ihm nicht durchgesetzt.
manuel Swedenborg wurde gegen Ende der Frühen Neuzeit1 Das hat seinen Grund im besonderen Anliegen Swedenborgs, das
E zum Propheten einer »nova ecclesia«. Das Besondere dieser »ec-
clesia« erwächst aus der Einsicht in den inneren Sinn der Heilsge-
wir in Abgrenzung gegenüber Eckhart darstellen wollen, indem wir
fragen: Wie bekommt Swedenborg das Mystische in den Blick? Und
schichte.2 Was in der Menschwerdung Gottes angelegt war, wird was bedeutet das für unsere Auseinandersetzung mit Eckhart von
in der kommenden Kirche zu Tage treten: Das Geschichtliche des einem swedenborgschen Standpunkt aus?
Christusgeschehens wird zum Symbol einer inneren Wandlung Das Mystische ist nach Swedenborg das Geheimnisvolle, das
werden, die Swedenborg »regeneratio« nannte. Das Geschichtliche Verborgene, das dem Verstand Unzugängliche und daher Dunkle.
wird in den Innenraum der Seele verlegt werden. Dadurch wird der Dazu die folgenden Belege aus seinen Schriften: »Dass der Verstand
äußere Prozess zu einem inneren und der Mensch zu einer »Kirche unter dem Gehorsam des Glaubens gefangen genommen werden
in kleinster Gestalt« (HH 57). Das ist die fundamentale Einsicht der muss, ist wie eine öffentliche Bekanntmachung, die den Dogmen
Geistkirche Christi. Und wie gestaltet sie sich bei Meister Eckhart? der heutigen Kirche vorauseilt, um anzuzeigen, dass die innere Di-
Josef Quint schrieb in seiner Einleitung zu den deutschen Predigten mension (des Glaubens) mystisch ist oder aus Geheimnissen besteht
und Traktaten Meister Eckeharts: »Man hat von Eckehart gesagt, es (quod interiora sint mystica seu arcana), die in die höheren Bereiche
mache seine Größe aus, daß er eigentlich nur einen einzigen Ge- des Verstandes nicht einfließen und von ihm nicht begriffen wer-
danken habe, einen Gedanken zwar, tief und erhaben genug zum den können, weil sie seine Fassungskraft übersteigen.« (KD 59). Bei
Leben wie zum Sterben. Dieser eine Grund- und Kerngedanke Ecke- Swedenborg finden wir außerdem die Formulierung »mystica fidei«
harts, aus dem alle übrigen entwickelt, zu dem sie anderseits alle (Geheimnisse des Glaubens, WCR 803). Und in EO 957 schreibt er:
hin orientiert sind, ist der von der Geburt des Wortes in der Seele.« »Die Apokalypse war bisher wie ein verschlossenes oder mystisches
(Quint 21f.)3 Indem Eckhart die Geburt des Sohnes in Bethlehem als Buch (Liber occlusus seu mysticus).« Das Mystische ist demnach das
dem Verstand Unzugängliche, das deswegen gerne mit einer Aura
1 »Frühe Neuzeit« bezeichnet in der Geschichte Europas die Epoche zwischen des Geheimnisvollen umgeben wird.
dem Spätmittelalter und der Französischen Revolution.
2 Einen engen Zusammenhang zwischen dem geistigen Sinn und der neuen Kir-
Das »Mystische« oder Dunkle nennt Swedenborg lieber das
che stellt Swedenborg beispielsweise in GV 264 und WCR 669 her. Die Beschaf- Innere oder den inneren Sinn, der nun nicht mehr verborgen ist.
fenheit der Kirche als creatura verbi ist immer so, wie das Verständnis des Wortes. Denn der schwedische Theologe des 18. Jahrhunderts wirkte als
3 Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, herausgegeben und »Aufklärer des Himmels«5. Bekannt ist die Inschrift »Nunc licet«, die
übersetzt von Josef Quint, 1979. Quint verwendet die Schreibweise »Ecke-
hart«, wir haben uns für »Eckhart« entschieden. Eckhart bestätigt, dass er 4 Ich verweise nur auf Ralph Waldo Emerson, in dessen Buch »Repräsentanten
immer dasselbe sagt, aber vielfältig variiert: »Diese Weise, dasselbe auf der Menschheit« es das Kapitel »Swedenborg oder der Mystiker« gibt, und
viele Weisen auszulegen, halte ich auch (sonst) in meinen zahlreichen Ausle- auf Martin Lamms Buch »Swedenborg: Eine Studie über seine Entwicklung
gungen inne.« (Meister Eckhart, Werke I und II, Texte und Übersetzungen, zum Mystiker und Geisterseher«.
herausgegeben und kommentiert von Niklaus Largier (Bibliothek deutscher 5 So betitelte Richard David Precht einen Artikel über Swedenborg in der
Klassiker, Bde. 20 und 21), 1993, Band II, Seite 525). Wochenzeitung Die Zeit vom 7. Januar 1999.

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er in der geistigen Welt über dem Tor des Tempels der kommen- mit jedem einzelnen Menschen der inneren Kirche. Swedenborg
den Kirche sah. Sie bedeutet, »dass es nun erlaubt sei, mit dem Ver- verweist auf das Hohepriesterliche Gebet Jesu in Johannes 17. (Siehe
stand in die Geheimnisse des Glaubens einzutreten (intellectualiter HG 2004 und 1013). In EO 565 bringt er die »unio mystica« mit der
intrare in Arcana fidei)« (WCR 508). Und sein exegetisches Haupt- von der Zweinaturenlehre her bekannten »unio hypostatica« in Ver-
werk nannte er: »Himmlische Geheimnisse (arcana caelestia), die in bindung. Swedenborg lehnt dieses christologische Dogma ab und
der heiligen Schrift oder dem Worte des Herrn enthalten und nun fügt seine Meinung mit den folgenden Worten an: »Sie wissen nicht,
enthüllt (detecta) sind«.6 Das mystische Dunkel lichtet sich also im dass Gott und Mensch oder das Göttliche und das Menschliche im
Werk Swedenborgs. Nun gibt es einen Zugang zu den bis dato mys- Herrn nicht zwei sind, sondern eine (einzige) Person, vereint wie
tischen (verborgenen) Dingen des Wortes. Damit verlieren sie ihren Seele und Leib«. Wir dürfen demnach unter der »unio mystica« die
von Geheimnissen umwitterten Charakter, weswegen das Wort innige Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen zunächst
»mysticum« in den Werken Swedenborgs eher selten vorkommt. im Kyrios und dann in der ganzen Menschheit verstehen.
Aus HG 3833 geht hervor, dass der sogenannte mystische Sinn kein Fassen wir das Gesagte zusammen: An einigen Stellen spricht
anderer ist als »der innere Sinn des Wortes«.7 Und aus HG 4923 ist zu Swedenborg von »mystica« (den mystischen Dingen) und von
entnehmen, dass die »mystica Verbi« (die mystischen Geheimnisse der »unio mystica« (dem mystischen Einssein). Das Wissen um die
des Wortes) »die inwendigen Wahrheiten (interiora)«, das heißt »die »mystica Verbi« (HG 4923) in der Tradition deutet er als die nie ganz
geistigen und himmlischen des Reiches des Herrn« sind.8 verloren gegangene, aber dunkle (mystische) Ahnung, dass in den
Besondere Beachtung verdient der Begriff »unio mystica«, den heiligen Texten der Juden und Christen ein innerer Sinn enthalten
Swedenborg in HG 1013, 2004 und EO 565 verwendet. Er versteht sei. Swedenborg sah seine Aufgabe darin, die »arcana mystica«
darunter: erstens die Vereinigung des Guten mit dem Wahren und (das mystische Geheimwissen, HG 9280) in die Sprache der erwa-
des Wahren mit dem Guten, zweitens die Vereinigung des göttlichen chenden Vernunft zu übertragen. Die »unio mystica« ist ein Ge-
Wesens des Herrn mit dem menschlichen und des menschlichen mit schehen allumfassender Einswerdung: Gutes und Wahres werden
dem göttlichen, drittens die wechselseitige Vereinigung des Vaters eins, Göttliches und Menschliches werden eins, zunächst im Kyrios
mit dem Sohn und viertens die wechselseitige Vereinigung des Kyrios und dann durch den Kyrios auch in der gefallenen Menschenwelt;
sie wird mit dem Kyrios eins und untereinander eins, so dass am
6 Swedenborg spricht statt von »mystica« (mystischen Dingen) auch von Ende der »homo maximus«, der Organismus allumfassender Ein-
»arcana«: »Die Geheimnisse der Weisheit (Arcana sapientiae) der drei Himmel,
die in ihm (dem Wort) enthalten sind, sind die mystischen Dinge (mystica), heit im Geiste Christi ersteht. Es fällt auf, dass Swedenborg »my-
von denen viele sprechen.« (OE 1079). »Die mystischen Geheimnisse (arcana sticum« meist im Zusammenhang der Wiedergabe fremder Mei-
mystica), von denen man sagen muss, dass sich schon viele Geistforscher nungen verwendet. Das ist ein Hinweis darauf, dass sein Werk die
(divinatores) vergeblich bemüht haben, sie im Wort aufzuspüren, liegen Translatio einer bestimmten »mystischen« Tradition in die Sprache
genau hier (im geistigen Sinn) verborgen.« (HG 9280).
7 HG 3833: »sensus internus Verbi quem vocant mysticum«
der Vernunft darstellt. Das »nunc liceat intellectualiter« (WCR 508)
8 »Das Mystische im Wort muss, weil es göttlich ist, etwas sein, was im Himmel bekommt so einen neuen, traditionsgeschichtlich vertieften Sinn.
bei den Engeln ist … Das Mystische im Himmel bei den Engeln kann nur Swedenborg sah sich in der Nähe derer, die das mystische Geheim-
das sein, was man das Geistige und Himmlische nennt und was einzig und wissen zur Sprache bringen wollten; gleichzeitig verwendete er das
allein vom Herrn, seinem Reich und der Kirche, also vom Guten und Wahren
handelt … Ich muss einfach das sogenannte ›Mystische des Wortes‹ eröffnen,
Wort »mysticum« aber nur sehr zurückhaltend, weil er als Seher das
das heißt sein Inneres oder die geistigen und himmlischen Dinge des Reiches Mystische eben nicht nur schemenhaft wahrnahm, sondern im hel-
des Herrn.« (HG 4923, vgl. auch HG 9688, 5022). len Licht des Geistes erschaute.
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Das Anliegen Swedenborgs ist sonach einesteils mit dem des stellen konnte. Swedenborgs »neue Kirche« setzt den Untergang
Mystikers Eckhart verwandt, denn auch Swedenborg verlagert mit der »alten Kirche« voraus. Demnach hätten Swedenborg und Meis-
seiner »Wissenschaft der Entsprechungen« das historische Gesche- ter Eckhart kaum etwas gemein. Doch die Predigt von der Sohnge-
hen der Menschwerdung Gottes in den Innenraum der Seele, so burt in der Seele ist wie eine Brücke zwischen den Epochen. Und
dass es zu einem immerwährenden Geschehen wird. Anderenteils es war wohl diese Predigt, vorgetragen in der Sprache des Volkes,
ist Swedenborg aber als ein Mann der Aufklärung davon überzeugt, die bewirkte, »daß Eckhart im ganzen Mittelalter der einzige Theo-
dass dieser Perspektivenwechsel erst dann zum Durchbruch kom- loge von Rang gewesen ist, gegen den ein Inquisitionsprozess, und
men kann, wenn die mittelalterliche Theologie überwunden sein zwar in der Form eines Ketzergerichts, angestrengt wurde.«10 Eck-
wird. Der Aufbau der inneren Kirche setzt die Destruktion des alten hart wurde zu seiner großen Überraschung von seiner Kirche als je-
Glaubensgebäudes zwingend voraus (siehe Swedenborgs Ausle- mand angesehen, der Unkraut auf den Acker des Herrn säte (siehe
gung der Apokalypse). Demgegenüber erweist sich Meister Eckhart die Bulle »In agro dominico«); doch in unseren Augen ist er ein frü-
als ein durch und durch mittelalterlicher oder scholastischer Theo- her Sämann der kommenden Kirche. Deswegen wollen wir uns seine
loge, denn er kritisiert das Erbe der Kirchenväter und die Dogmen Lehre von der Sohngeburt in der Seele etwas genauer anschauen.
seiner Kirche nicht. Er reizt lediglich, auch wenn er von der Gottes-
geburt spricht, den Interpretationsspielraum der Überlieferungen 2. Die Geburt des Sohnes in der Seele
seiner Kirche aus.9 Und so finden wir bei Meister Eckhart noch eine Wie kommt die Sohngeburt bei Meister Eckhart zur Sprache? Wir
Großzahl der theologischen Irrtümer, die Swedenborg später vehe- wollen uns mit der sprachlichen Gestalt dieses zentralen Gedankens
ment bekämpfen wird, zum Beispiel die klassische Trinitätslehre. Die anhand von Zitaten aus den Werken Eckharts vertraut machen. Als
Mystik ist so gesehen eine wunderbare Blüte der Innerlichkeit im Ge- Textgrundlage dient uns im wesentlichen die Handausgabe der deut-
mäuer der mittelalterlichen Kirche. Swedenborg gehörte aber schon
schen Predigten und Traktate Meister Eckeharts von Josef Quint.11
einer anderen Zeit an; er war der »Aufklärer des Himmels«, der sich
Wir unterscheiden zwischen der sprachlichen Gestalt und der ge-
die Offenbarung des in der Mystik vergleichsweise dunkel Geahnten
meinten Sache, weil Swedenborg eine andere Sprache spricht, aber
nur unter der Voraussetzung des Einsturzes der alten Gemäuer vor-
denselben Sachverhalt im Auge hat. Swedenborg spricht nirgends
9 In der Lehre von der Gottesgeburt greift Eckhart auf eine lange Tradition von der Geburt des Sohnes in der Seele, aber er spricht von der
zurück, und zwar an erster Stelle auf Aussagen des Neuen Testaments (Joh Wiedergeburt. Wir werden in einem späteren Stadium der Untersu-
1; Röm 8,15; Gal 4; 2. Kor 3,18), die er mit der Interpretation der Gottes-
chung einen Zugang von Swedenborg zu Meister Eckhart anbieten,
ohnschaft der griechischen Väter Origenes, Dionysius Areopagita, Maximus
Confessor verbindet. Von Origenes (In Ieremiam IX n. 4 und In Lucam XXII aber zunächst müssen wir den mittelalterlichen Magister selbst zu
n. 3) übernimmt Eckhart das Motiv der Gottesgeburt in jeder Seele und das Wort kommen lassen. An die Begegnung mit dem Fremden kann
Motiv der Zeitlosigkeit der Gottesgeburt. Die Formel, daß Gott immer schon sich dann die Entdeckung von Vertrautem anschließen. Die Formu-
geboren ist und immer geboren wird, war bereits in die Sententiae des Petrus
Lombardus eingegangen. Von Dionysius Areopagita übernimmt Eckhart den 10 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Band 3, 1996, Seite 248
Gedanken der Überformung des Menschen, der sich in der unmittelbaren 11 Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, herausgegeben und
gnadenhaften Partizipation des Menschen am Sein des Sohnes ausdrückt, übersetzt von Josef Quint. Diese handliche Ausgabe ist im Leineneinband
und verbindet diesen mit der Formel des Maximus Confessor, daß »der beim Carl Hanser Verlag und als Taschenbuch im Diogenes Verlag erhältlich.
Mensch aus Gnade werde, was der Sohn von Natur ist«. (nach Largier I,817). Ausführlicher, aber ebenfalls noch für den allgemeinen Gebrauch bestimmt,
Siehe Hugo Rahner, Die Gottesgeburt: Die Lehre der Kirchenväter von der ist Meister Eckhart, Werke I und II, Texte und Übersetzungen, herausgegeben
Geburt Christi im Herzen der Gläubigen, in: Zeitschrift für katholische Theo- und kommentiert von Niklaus Largier (Bibliothek deutscher Klassiker, Bde. 20
logie 59 (1935) 333-418. und 21), 1993.

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lierung des Titels »Die Geburt des Sohnes in der Seele« legt eine Swedenborg ist der Sohn »das göttliche Wahre« (HG 2803 und an
Gliederung in drei Unterpunkten nahe. Zuerst wollen wir uns mit vielen anderen Stellen).
dem Sohn befassen (2.1.), dann mit seiner Geburt (2.2.) und zum »Sohn Gottes« ist keine exklusive, Jesus Christus allein vorbehal-
Schluss mit dem Ort seiner Geburt (2.3.). tene Bezeichnung. Jeder Gläubige kann (durch die geistige Wieder-
geburt) ein Sohn Gottes werden. Meister Eckhart lehrte: »Wo der
2.1. Der Sohn Vater seinen Sohn in mir gebiert, da bin ich derselbe Sohn und nicht
ein anderer« (Quint 172). »Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Un-
Was können wir mit Meister Eckhart unter dem Sohn verstehen? terlaß, und ich sage mehr noch: Er gebiert mich als seinen Sohn und
Quint sprach von der Geburt »des Wortes« (Quint 22), wir spre- als denselben Sohn.« (Quint 185). »Nun soll der Mensch so leben,
chen in der Überschrift von der »des Sohnes«. Gemeint ist in beiden daß er eins sei mit dem eingeborenen Sohne und daß er der einge-
Fällen dasselbe, denn im Hintergrund steht die Logoschristologie borene Sohn sei. Zwischen dem eingeborenen Sohne und der Seele
des Johannesevangeliums (siehe »filius sive verbum« im Johannes- ist kein Unterschied.« (Quint 205). »Der Vater gebiert seinen Sohn
kommentar Meister Eckharts)12. »Sohn« und »Wort« sind im Den- im Innersten der Seele und gebiert dich mit seinem eingeborenen
ken Eckharts austauschbar. Dazu einige Belege: »Göttlicher Natur Sohne als nicht geringer.« (Quint 356). »Die Leute wähnen, Gott sei
Samen das ist Gottes Sohn, Gottes Wort« (Quint 141). »Nun wol- nur dort (= bei seiner historischen Menschwerdung) Mensch ge-
len wir von dieser Geburt reden, wie sie in uns geschehe und in worden. Dem ist nicht so, denn Gott ist hier (= an dieser Stelle hier)
der guten Seele vollbracht werde, wenn immer Gott der Vater sein ebenso wohl Mensch geworden wie dort, und er ist aus dem Grunde
ewiges Wort in der vollkommenen Seele spricht.« (Quint 415). Weil Mensch geworden, daß er dich als seinen eingeborenen Sohn ge-
»Sohn« und »Wort« austauschbar sind, kann die Geburt auch als ein bäre und als nicht geringer.« (Quint 357).
Sprechakt beschrieben werden: Der Sohn wird geboren, indem Gott Die Lehre Eckharts von der Geburt des Sohnes in der Seele
sein Wort in der Seele spricht. Das ermöglicht es, einen Bogen von ist vergleichbar mit der Lehre Swedenborgs von der neuen oder
Eckharts Geburt des Wortes über Swedenborgs »correspondentia« Wiedergeburt (regeneratio). In diesem Zusammenhang nennt auch
(das Innewerden des göttlichen Wortes) bis zu Lorbers innerem Wort Swedenborg die Wiedergeborenen »Söhne Gottes«: »Die Wieder-
zu spannen. Gottes Wort, das in der Seele ertönt und im Gemüt geborenen werden im Worte Söhne Gottes und von Gott Gebo-
(mens) sprachlich eingekleidet wird, ist voll Weisheit, so dass auch rene genannt.« (WCR 572). Der biblische Anknüpfungspunkt für
»Wort« und »Weisheit« austauschbar sind. Dazu ebenfalls einige Be- Swedenborg ist Joh 1,12f. (siehe HG 8409, 1608): »Wie viele ihn
legstellen: »Darum heißt der Sohn in der Gottheit die Weisheit des aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden,
Vaters.« (Quint 225). »Die Meister stimmen darin alle überein, Got- denen, die an seinem Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch
tes Weisheit sei sein eingeborener Sohn.« (Quint 370). Als Offenba- aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes,
rung der göttlichen Weisheit muss die Geburt des Sohnes oder des sondern von Gott geboren sind.« Durch die zweite Geburt werden
Wortes in der Seele mit Licht und Erleuchtung einhergehen. Daher wir zu Söhnen und Töchtern Gottes. Eckharts Lehre ist von einem
lesen wir bei Meister Eckhart: »Es ist die Eigenart dieser Geburt, daß swedenborgschen Standpunkt nachvollziehbar.
sie immerfort mit neuem Lichte vor sich geht.« (Quint 426). »Der
Vater gebiert seinen Sohn im ewigen Erkennen« (Quint 172). Nach 2.2. Die Ungeborenheit und die Geburt des Sohnes

12 Meister Eckhart, Auslegung des heiligen Evangeliums nach Johannes, in: Meister Vor der Geburt des Sohnes wollen wir auf seine »Ungeborenheit«
Eckhart, Werke II, hrsg. und kommentiert von Niklaus Largier, 1993, Seite 494 eingehen. Eckhart ver wendet diesen Begriff beispielsweise in seiner
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Armutspredigt: »Und darum bin ich ungeboren, und nach der Weise turen gebar, da gebar er mich, und ich floß aus mit allen Kreaturen
meiner Ungeborenheit kann ich niemals sterben. Nach der Weise und blieb doch drinnen in dem Vater … Im Vater sind die Urbilder
meiner Ungeborenheit bin ich ewig gewesen und bin ich jetzt und aller Kreaturen.« (Quint 256). Auch während meines Daseins als Ge-
werde ich ewiglich bleiben.« (Quint 308). Zum Verständnis betrach- schöpf ruht von aller Zeit unberührt mein göttliches Urbild in Gott.
ten wir die Natur des Wortes. Im Akt der Mitteilung oder Äußerung Daher kann Eckhart sagen: »Wenn ich zurückkomme in ›Gott‹ und
bleibt es ganz und gar im Geiste des Mitteilenden. Meister Eck- (dann) dort (d. h. bei ›Gott‹) nicht stehen bleibe, so ist mein Durch-
hart erläutert das so: Das Wort »entspringt in mir, zum andern ver- brechen viel edler als mein Ausfluß … Wenn ich in den Grund, in
weile ich bei der Vorstellung, zum dritten spreche ich es aus, und ihr den Boden, in den Strom und in die Quelle der Gottheit komme, so
alle nehmt es auf; dennoch bleibt es im eigentlichen Sinne in mir.« fragt mich niemand, woher ich komme oder wo ich gewesen sei.
(Quint 256).13 Das Wort bleibt auch in seiner Geborenheit ungebo- Dort hat mich niemand vermißt, dort entwird ›Gott‹.« (Quint 273).
ren. Unter der »Ungeborenheit« versteht Meister Eckhart demnach Da nach Eckhart jeder Mensch ein Wort oder Gedanke Gottes ist,
das Sein des Menschen als Idee in Gott.14 der auch dann in Gott bleibt, wenn er ihn ausspricht, wird mich bei
Dieses Sein als Idee oder Gedanke in Gott steht im Hintergrund meiner Rückkehr in die Kreise der Gottheit niemand vermisst haben.
der folgenden Aussagen Eckharts: »Als ich (noch) in meiner ersten Zwar habe ich mich eine Zeitlang hinausgeträumt, aber mein Urich
ist immer in Gott geblieben. Bei meiner Rückkehr erwache ich aus
Ursache stand, da hatte ich keinen Gott, und da war ich Ursache
dem süßen Traum der Ichheit, und Gott als der meinem geschöpf-
meiner selbst.« (Quint 304)15. Die erste Ursache (prima causa) be-
lichen Dasein gegenüberstehende Schöpfergott entwird. Das sind
zeichnete in der scholastischen Theologie Gott.16 Da die jedem in-
kühne Gedanken!
dividuellen menschlichen Dasein zugrunde liegende Idee in Gott
Am ehesten finden wir sie bei Jakob Lorber wieder. Denn auch
mit Gott identisch ist, hat sich jeder Mensch so gesehen selbst ge-
dort wird der Mensch seinem innersten Wesen nach als ein »Ge-
schaffen. Er war die Ursache seiner selbst. »Als der Vater alle Krea-
danke Gottes« beschrieben und mit dem göttlichen Geist im Her-
13 Vgl. die Unterscheidung von »logos endiathetos« und »logos prophorikos« in zen der Seele identifiziert. Lorber unterscheidet Seele und Geist und
der griechischen Philosophie schreibt zum Geist: »Der reine Geist ist ein Gedanke Gottes, her-
14 So sieht es auch Josef Quint: »Gemeint ist an beiden Stellen (Quint 273,11ff. vorgehend aus Seiner Liebe und Weisheit, und wird zum wahren
und 304,34ff.) die Existenz des Menschen als Idee in der Gottheit vor seiner
irdischen Geburt.« (Quint 495). Zu Quint 308,11ff. merkt Josef Quint an:
Sein durch den Willen Gottes.« (GEJ 7,66,6). Die eckhartsche Formel
»Eins ist gewiß: daß es sich im ganzen Passus um eine kühne Ausdeutung des »wie er‘s war, als er (noch) nicht war« (Quint 304, siehe auch Quint
vorgeschöpflichen Seins des Menschen in seiner Idee handelt, das identisch 159) begegnet uns auch bei Jakob Lorber: »Er wird Mich allezeit
ist mit Gott selbst, weswegen Eckehart ohne weiteres sagen kann, ich sei schauen wie ein Bruder den andern Bruder, und wie Ich ihn schaute
Ursache meiner selbst ›nach der Weise meiner Ungeborenheit‹ eben in mei- schon von Ewigkeit her, ehe er noch war.« (HGt 1,1,1; siehe auch DT
ner ›Idee‹.« (Quint 500). Eckharts Ausführungen in seiner »Expositio Sancti
Evangelii secundum Iohannem« zeigen, dass im Hintergrund sein Verständ-
21,17). Allerdings schildert Lorber nicht eine Rückkehr in Gott oder
nis des Johannesprologs und des Logos steht. die Gottes- und Gnadensonne. So weit geht auch die Neuoffenba-
15 Josef Quint merkt zu dieser Stelle an: »Was im folgenden von Eckehart ausge- rung durch Lorber nicht.
führt wird, betrifft die vorgeschöpfliche Existenz des Menschen als Idee im Noch zurückhaltender ist Swedenborg. »Das Innerste und
actus purus des geschöpflichen Seinsgrundes, in dem die Idee des einzelnen Höchste des Menschen« ist bei ihm nicht der göttliche Geist(funke),
Menschen wesenseins ist mit der Gottheit, in der ›ich‹ also auch keinen ›Gott‹
hatte und kannte.« (Quint 499).
sondern »die Seele« (WCR 8). Diese ist ein »Aufnahmegefäß« (re-
16 Zum Begriff der ersten Ursache: »Die erste Ursache jedes Dinges ist die Idee ceptaculum) (WCR 470-474), und dementsprechend wird die Bezie-
(ratio), der Logos, ›das Wort im Anfang‹.« (Largier II,499). hung zwischen Gott und der Seele mit dem Begriff »Einfluss« (in-
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flux) umschrieben. Allerdings lehnt Swedenborg die kirchliche Lehre und überfließt in die Kräfte und auch in den äußeren Menschen.«
einer »creatio ex nihilo« ab (siehe WCR 76 und GLW 282). Nicht »aus (Quint 426). Allerdings kann der Mensch seine Fensterläden und
Nichts« hat Gott das Weltall erschaffen, sondern »aus sich selbst« Türen schließen, so dass sich das Licht, das sich von sich aus aus-
(GLW 282) oder »aus der göttlichen Liebe durch die göttliche Weis- breiten würde, nicht mehr ausbreiten kann. »Schuld daran ist, daß
heit« (WCR 76). Nun sind die göttliche Liebe und die göttliche Weis- die Wege, auf denen dieses Licht eingehen sollte, belastet und ver-
heit aber »Substanz« und »Form« (GLW 40). Von da aus ist es nicht sperrt sind mit Falschheit und mit Finsternis« (Quint 426). Daher ist
mehr allzu weit zu der Vorstellung, dass die Gedanken Gottes die Ur- die Geburt des göttlichen Lichtes in der Seele kein Geschehen, das
substanzen und das innerste Wesen der Schöpfung und somit auch sich naturnotwendig vollzieht. Die Eingeburt des Sohnes durch den
des Menschen sind. Vater gelangt nur durch die Ausgeburt des Sohnes durch den Men-
Sohn und Logos meinen dasselbe, nämlich mit Swedenborg schen zum ersehnten und glücklichen Ende. Auf diese Beidseitigkeit
gesprochen »das göttliche Wahre«. Die Geburt des Sohnes ist dem- bei der Verwirklichung der Geburt weist Eckhart mehrfach hin: »Im
nach ein Sprechakt des Vaters, der je nach der Fähigkeit des Men- gleichen Zuge, da er seinen eingeborenen Sohn in mich gebiert, ge-
schen zu hören ausgestaltet wird. Eckhart sagt: »Des Vaters Spre- bäre ich ihn zurück in den Vater. Das ist nicht anders, als daß Gott
chen ist sein Gebären, des Sohnes Hören ist sein Geboren-werden.« den Engel17 gebar, während er wiederum von der Jungfrau gebo-
(Quint 390). Der Logos ist die Schnittstelle zwischen der Unendlich- ren ward.« (Quint 258). »Es ist Gott wertvoller, daß er geistig gebo-
keit Gottes und der Endlichkeit des Menschen. Durch den Logos ist ren werde von einer jeglichen Jungfrau oder (= will sagen) von einer
der Mensch mit dem unendlichen und unergründlichen Meer der jeglichen guten Seele, als daß er von Maria leiblich geboren ward.«
göttlichen Liebe und Weisheit verbunden, allerdings verwirklicht er (Quint 256). Gott gebiert den Sohn, aber die Jungfrau oder die reine
diese im Prinzip unendliche Fülle immer nur in seiner Wesensform, Seele muss ihn wiedergebären, das heißt ausgebären. »Wäre ich
das heißt in der Eigenart der seinem Dasein zugrunde liegenden aber nun aus mir selbst ganz ausgegangen und meiner völlig ledig
göttlichen Idee. Gleichwohl bleibt der Logos die Schnittstelle oder geworden, ei, so würde der Vater vom Himmel seinen eingeborenen
der Mittler zwischen der Unendlichkeit und der Geschöpflichkeit
Sohn in meinem Geiste so lauter gebären, daß der Geist ihn wieder-
und teilt dem Gefäß im Prinzip das Ganze oder die Totalität der un-
gebären würde.« (Quint 341, siehe auch Quint 206).
erhörten Tiefe Gottes mit. Bei Eckhart liest sich das so: »Nun spricht
Dieser Gedanke Eckharts erinnert mich an Swedenborgs Aus-
er (der Sohn): ›alles, was ich von meinem Vater gehört habe‹. Ja,
führungen über die Wechselseitigkeit der Verbindung zwischen Gott
alles, was er von Ewigkeit her von seinem Vater gehört hat, das hat
und Mensch (siehe WCR 371, GLW 115 usw.). Außerdem fällt mir das
er uns offenbart und hat uns nichts davon verhüllt.« (Quint 390f.).
Gesetz des vom Ausfluss abhängigen Einflusses ein, das Swedenborg
»Alles, was der Vater hat und was er ist, die Abgründigkeit göttlichen
folgendermaßen erläutert: »Ein allgemeines Gesetz lautet: Der Ein-
Seins und göttlicher Natur, das gebiert er alles in seinen eingebo-
fluss passt sich dem Ausfluss an (vgl. auch WCR 814). Wenn demnach
renen Sohn. Das ›hört‹ (Joh 15,15) der Sohn von dem Vater, das hat
er uns geoffenbart, auf daß wir derselbe Sohn seien.« (Quint 293). der Ausfluss gehemmt wird, dann wird auch der Einfluss gehemmt.
Die Fülle der durch den Logos vermittelten Offenbarung kann und Durch den inneren Menschen geschieht der Einfluss des Guten und
soll sich im gesamten Organismus der Seele und des Gemüts aus- Wahren vom Herrn, durch den äußeren soll der Ausfluss erfolgen,
breiten wie das Licht der Sonne, das seiner Natur entsprechend alle und zwar in das Leben, das heißt in die Übung der zwischenmensch-
Räume des großen Hauses flutet und somit erleuchtet: »In dieser lichen Liebe. Wenn dieser Ausfluss tatsächlich stattfindet, dann ist
Geburt ergießt sich Gott mit Licht derart in die Seele, daß das Licht 17 Dass der Sohn hier »Engel« genannt wird, hängt wohl damit zusammen, dass
im Sein und im Grunde der Seele so reich wird, daß es herausdringt er im NT der Gesandte des Vaters genannt wird.

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auch der Einfluss vom Himmel, das heißt durch den Himmel vom Geistkirche Christi: Die Kirche ist nicht der Klerus und nicht die Mau-
Herrn, ein fort während vorhandener. Findet dieser Ausfluss aber erkirche, sondern die Seele selbst und unmittelbar, sofern sich in ihr
nicht statt, das heißt ist im äußeren oder natürlichen Menschen ein die Sohngeburt vollzieht.
Widerstand vorhanden, nämlich das Böse und Falsche, das das ein- An zahlreichen Stellen weist Meister Eckhart die Seele als den
fließende Gute zerreißt und auslöscht, so folgt aus dem oben er- Ort der Sohngeburt aus. Einige Beispiele: »Der Vater gebiert sei-
wähnten allgemeinen Gesetz, dass sich der Einfluss dem Ausfluss an- nen Sohn im Innersten der Seele …« (Quint 356)19. Das Innerste ist
passt. Das bedeutet: Der Einfluss des Guten zieht sich zurück; und so zugleich das Höchste. Daher kann Eckhart auch sagen: »Er gebiert
wird das Innere, durch das der Einfluss hindurchgeht, verschlossen. seinen eingeborenen Sohn in das Höchste der Seele.« (Quint 258).
Durch diese Unaufgeschlossenheit macht sich Dummheit in geisti- Nach anderen Formulierungen geschieht diese Geburt »im Sein und
gen Dingen breit, und zwar so sehr, dass ein solcher Mensch vom im Grunde der Seele.« (Quint 425) oder »im innersten Grunde«
ewigen Leben nichts mehr weiß noch wissen will. Am Ende herrscht (Quint 178); auch im Herzen: »Gott hat keine eigentlichere Stätte
(geistig betrachtet) Wahnsinn, so dass man das Falsche dem Wahren als ein reines Herz und eine reine Seele; dort gebiert der Vater sei-
entgegenhält und behauptet, jenes sei wahr und dieses sei falsch. nen Sohn« (Quint 175)20. Diese Übersicht zeigt, dass die Seele der
Und das Böse hält man dem Guten entgegen, und macht jenes zu Ort der Sohngeburt ist; sie zeigt aber auch, dass Eckhart diesen Ort
Gutem und dieses zu Bösem. Auf diese Weise zerreißt man das Gute innerhalb der Seele noch etwas genauer bestimmen möchte. Des-
ganz und gar.« (HG 5828). wegen ist in den Beispielen vom Innersten oder Höchsten, vom Sein
oder Grunde und vom Herzen die Rede. Denn die Geburt geschieht
2.3. Der Ort der Sohngeburt nicht irgendwo in der Seele, sondern in ihrem Edelsten oder Aller-
Die Geburt des Sohnes geschieht in der Seele. Gott ist zwar »in heiligsten. Die Bestimmung des genauen Ortes der Sohngeburt ist
geistiger Weise in allen Dingen«, »gebärend aber ist er nur in der sprachlich nur bis zu einem gewissen Grade möglich. Am Ende muss
Seele«, denn sie »ist naturhaft nach Gott gebildet.« (Quint 425). Sie die Erfahrung des Mystikers dem zerbrechlichen begrifflichen Ge-
ist »imago dei«. »Dieses Bild muß durch diese Geburt geziert und rüst den er forderlichen Halt geben. Dennoch wagt sich der Prediger
vollendet werden.« (Quint 425). Dadurch wird die Seele zur »Ruhe- Eckhart noch ein bisschen weiter vor, so dass auch wir ihm noch ein
statt« (Quint 313) oder zum Tempel Gottes. »Dieser Tempel, darin bisschen weiter folgen können.
Gott gewaltig herrschen will nach seinem Willen, das ist des Men- Unter dem Innersten oder Höchsten ist nämlich »das Fünklein
schen Seele« (Quint 153)18. Das ist das Credo der inneren oder der der Vernunft« (Quint 248) zu verstehen. Aus Quint 247 geht hervor,
18 Der Deutung der Seele als Tempel Gottes liegen Stellen aus den Korinther-
dass »das Höchste« »das Fünklein der Seele« ist. Außerdem sagt
briefen des Apostels Paulus zugrunde: »Und welchen Zusammenhang hat der uns Meister Eckhart: »Die Vernunft ist das oberste Teil der Seele«
Tempel Gottes mit Götzenbildern? Denn wir sind der Tempel des lebendigen (Quint 396). Und nach Quint 392 ist »das Fünklein der Vernunft«
Gottes; wie Gott gesagt hat: ›Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und »das Haupt der Seele«.21 Dieses Seelenfünklein ist der eigentliche
ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.‹« (2. Kor 6,16). »Wißt
ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?« (1. geistlichen Hausallegorie siehe: Friedrich Ohly, Haus. III (Metapher), in: Real-
Kor 3,16). »Oder wißt ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes lexikon für Antike und Christentum, Band 13, Stuttgart 1986, Sp. 905-1063.
in euch ist, den ihr von Gott habt, und daß ihr nicht euch selbst gehört?« (1. 19 Die Formulierung »im Innersten der Seele« begegnet uns auch Quint 377.
Kor 6,19). Vgl. auch Sermo XXIV n. 234; n. 249: »Domus mea. Nota primo 20 Zur Bedeutung von »rein« in diesem Zusammenhang vgl. Quint 367: »Wodurch
quod domus dei est ipsa essentia animae cui solus deus illabitur« (»Mein wird die Seele rein? Dadurch, daß sie sich an geistige Dinge hält.«
Haus. Bemerke erstens, daß das Haus Gottes das Wesen der Seele selbst ist, 21 Largier weist darauf hin, »daß zwei Begriffe der Vernunft bei Eckhart zu
in das Gott allein sich einsenkt, und zwar Gott bloß.«). Zur Geschichte der unterscheiden sind: die Vernunft als Seelenvermögen und die Vernunft als

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Ort der Sohngeburt. »Dort [= im Fünklein der Vernunft] geschieht meinte »ist von allen Namen frei und aller Formen bloß, ganz ledig
die Geburt, dort wird der Sohn geboren.« (Quint 393). »Die Seele und frei, wie Gott ledig und frei ist in sich selbst.« (Quint 163). Und
hat nichts, worein Gott sprechen könnte, als die Vernunft.« (Quint daher bekennt der Prediger Eckhart: »Ich habe bisweilen gesagt,
397). Wir erinnern uns daran, dass die Geburt des Sohnes auch als es sei eine Kraft im Geiste, die sei allein frei. Bisweilen habe ich ge-
ein Sprechakt beschrieben werden kann, der uns, indem wir den sagt, es sei eine Hut des Geistes; bisweilen habe ich gesagt, es sei ein
Logos hören, verwandelt, das heißt wiedergebiert. Weil die Geburt Licht des Geistes; bisweilen habe ich gesagt, es sei ein Fünklein. Nun
als das Hören des Logos beschrieben werden kann, deswegen ist die aber sage ich: Es ist weder dies noch das; trotzdem ist es ein Etwas,
Vernunft der Ort in der Seele, der für die Einsprache des göttlichen das ist erhabener über dies und das als der Himmel über der Erde.«
und lebendigen Wortes empfänglich ist.22 (Quint 163)24. Die Sprache dieser Welt hat ihre Grenzen. Das Innere
Die Sprache des Mystikers umkreist die unaussprechliche Er- läßt sich nicht vollständig äußern. Paulus hörte im Paradies »unaus-
fahrung wie ein Adler seine Beute. Daher bleibt der Mystiker in sei- sprechliche Worte« (2. Kor 12,4), und von Meister Eckhart sagte Jo-
ner Wortwahl beweglich. Und daher ist das »Fünklein in der Seele« hannes Tauler: »Er sprach aus der Ewigkeit, und ihr versteht es nach
(Quint 316) zwar ein prominenter, aber keineswegs der einzige Ver- der Zeit.« Und so halten wir am Ende nur die sprachlich etwas dünne
such, das Mysterium begrifflich in den Griff zu bekommen. Eck- Formel von einem »Etwas in der Seele« in den Händen.
hart spricht auch von einem Licht und sagt: »Ich habe zuweilen von
Abschließend seien einige Anmerkungen zu dem in diesem Ab-
einem Lichte gesprochen, das in der Seele ist, das ist ungeschaffen
schnitt Dargestellten vom Standpunkt der Lehren Swedenborgs und
und unerschaffbar … dieses … Licht nimmt Gott unmittelbar, un-
Lorbers aus gestattet. Der Ort des Einflusses ist für Swedenborg von
bedeckt entblößt auf, so wie er in sich selbst ist; und zwar ist das
oben nach unten absteigend zunächst die Seele, dann das Gemüt
ein Aufnehmen im Vollzuge der Eingebärung.« (Quint 315)23. Hier
und schließlich der Körper.25 Von einem Fünklein spricht Swedenborg
wird uns ein Licht in der Seele als der Ort der Eingeburt des Sohnes
nicht, und die Vernunft ist für ihn auch nicht »das oberste Teil der
vorgestellt. Dieses Licht ist mit dem Fünklein identisch (siehe Quint
316). Eckhart nähert sich dem Gemeinten zuweilen auch vom Be- Seele«, sondern ein Mittleres oder ein Vermittler zwischen dem in-
griff der Kraft her an, er sagt: »Ich habe eine Kraft in meiner Seele, neren und dem äußeren Menschen.26 Bei Lorber ist demgegenüber
die Gottes ganz und gar empfänglich ist.« (Quint 323). »Es ist eine von einem »Fünklein« die Rede (GEJ 3,42,6), jedoch wird den Lor-
Kraft in der Seele, und nicht nur eine Kraft, vielmehr: ein Sein, und berleser die Hervorhebung der Vernunft bei Eckhart in diesem Zu-
nicht nur ein Sein, vielmehr etwas, was vom Sein löst: es ist so lau- sammenhang irritieren. Müßte das Fünklein nicht ein Liebesfünklein
ter und so hoch und so edel in sich selbst, daß keine Kreatur dahin- sein? Doch Eckhart steht offenbar in einer anderen Tradition, näm-
ein kann, sondern einzig Gott: der wohnt darin.« (Quint 342). Diese 24 Weitere Aussagen zu diesem »Etwas in der Seele«: »… es gibt ein Etwas in der
Kraft ist wieder die uns schon bekannte Vernunft: »Es ist eine Kraft Seele, worin Gott lebt, und es gibt ein Etwas in der Seele, wo die Seele in Gott
in der Seele, die Vernunft« (Quint 345). Doch am Ende gilt, das Ge- lebt.« (Quint 340). »… es gibt … ein Etwas in der Seele, aus dem Erkenntnis
und Liebe ausfließen« (Quint 306).
Höchstes der Seele, das – als intellectus possibilis – mit dem Seelengrund 25 Swedenborg: »Was von Gott einfließt, das fließt zunächst in die Seele ein,
koinzidiert.« (I,849). dann durch die Seele in das vernünftige Gemüt und schließlich durch dieses
22 Siehe Quint 312: »… im Stillschweigen, wo nichts mehr in die Seele spricht, in das, was den Körper ausmacht.« (SK 8 nach der Zählung der lateinischen
da wird das Wort (ein-)gesprochen in die Vernunft. Das Wort eignet der Ver- Ausgabe).
nunft und heißt verbum, so wie es in der Vernunft ist und steht.« 26 Swedenborg: »Die Vernunft ist das Mittlere zwischen dem inneren, geistigen
23 Aus swedenborgscher Sicht ist die sprachliche Äquivalenz von Aufnahme und Menschen und dem äußeren, natürlichen (rationale est medium inter inter-
Eingebärung beachtenswert. num spiritualem hominem et externum naturalem)« (OE 650).

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lich der, wonach der Mensch ein »animal rationale« ist.27 Das ver- zendenz Gottes stärker betont zu sein als seine Immanenz im Er-
bindet er mit dem Logos des Johannesevangeliums, so dass die Ver- fahrungsraum der Seele und des Gemütes. Bei der Darstellung des
nunft ihm zur Wiege der Geburt (oder Bewußtwerdung) des Wor tes Menschen dominiert daher die Vorstellung eines offenen Wesens,
in der Seele wird. So ist das mit den Glaubenslehren. Wer sich in der das heißt eines Gefäßes, welches das Göttliche nur aus dem Jenseits
einen zu sehr begründet, der nimmt es mit Befremden wahr, dass seiner selbst aufnehmen kann. Der Mensch ist entsprechend der
die andere eben mehr oder weniger anders ist. Betonung der Transzendenz Gottes »nur« ein »Aufnahmeorgan«,
ein »organum recipiens dei« (WCR 34) bzw. ein »organum recipi-
3. Ein swedenborgscher Zugang zur Sohngeburt in der Seele ens vitae« (WCR 461). In dieses Organ kann das Göttliche der Liebe
Ich betrachtete Meister Eckhart oder genauer gesagt seine Lehre und Weisheit zwar einfließen, gleichwohl bleibt Gott selbst seinem
von der Sohngeburt in der Seele vom Standort der swedenborg- Ur wesen nach aber immer außerhalb des geschaffenen Gefäßes. Bei
schen Theologie aus. Das veranlasste mich, in die bisherigen Dar- Meister Eckhart hingegen scheint mir mit dem Konzept der Geburt
legungen hier und da bereits einige Bemerkungen aus der Sicht des Sohnes in der Seele eher die Immanenz Gottes betont zu sein.
dieser Theologie einzufügen. An dieser Stelle möchte ich mich je- Die Seele wird durch die Sohngeburt ganz und gar zu einem Tem-
doch noch einmal eigens der vielleicht wichtigsten oder interessan- pel des in ihr wohnenden Gottes (Quint 153), ja sie wird sogar selbst
testen Differenzwahrnehmung zuwenden, nämlich dem Problem zum Sohne Gottes. Man könnte im Geiste des eckhartschen Höhen-
von Immanenz bei Meister Eckhart und Transzendenz bei Emanuel fluges sagen: Die Menschwerdung Gottes wird erst dann ihr escha-
Swedenborg. tologisches Ziel erreicht haben, wenn sich dieser Gott der sich total
Swedenborg spricht nirgends von einer Geburt des Sohnes in gebenden Liebe ganz und gar in die Seelen der vollendeten Geister
der Seele. Von Eckhart herkommend könnte man mit der Erwartung wird eingeboren haben.
an Swedenborg herantreten, dass der Offenbarer des inneren Sinnes Nun bin ich allerdings der Meinung, dass man die Betonung
der Transzendenz hier und der Immanenz dort nicht zu einem un-
doch wohl dort, wo er die seinerzeitige Geburt des Herrn in Beth-
versöhnlichen Widerspruch hochstilisieren sollte. Denn weder fehlt
lehem geistig auslegt, sagen müßte, dass die Entsprechung dieses
bei Swedenborg der immanente, noch bei Eckhart der transzen-
Geschehens die Geburt des Sohnes in der Seele sei. Aber diese Er-
dente Aspekt. Das möchte im Folgenden zeigen.
wartung wird enttäuscht. Desgleichen könnte man erwarten, dass
Swedenborg spricht vom »Einfluss« und vom Menschen als
Swedenborg »die Wiedergeburt« oder »die geistige Geburt« (HG
einem »Aufnahmegefäß«. In der Natur eines für einen Einfluss of-
9325) als die Geburt des Sohnes in der Seele deutet. Doch auch
fenen Gefäßes liegt es, dass das Einfließende am Ende eingeflos-
diese Erwartung wird enttäuscht. Die Sohngeburt in der Seele, die
sen und im Gefäß vorhanden sein muss. Daher finden wir bei
bei Meister Eckhart so zentral ist, ist bei Swedenborg kein Thema.
Swedenborg die Vorstellung der Einwohnung Gottes (vgl. Sche-
Stattdessen spricht er ständig von einem »Einfluss des Herrn«.
china), denn er kann den Menschen als Tempel oder Wohnung Got-
In Verbindung mit seiner Lehre vom Herrn als der geistigen Sonne tes bezeichnen: »Jeder Wiedergeborene ist ein Tempel (templum)
entsteht bei der Lektüre Swedenborgs der Eindruck, dass der Herr des Herrn« (HG 40). »Jeder Mensch, bei dem der Herr im Guten der
seinem Wesen nach eher außerhalb der Seele wohnt, jedenfalls in Liebe und des Glaubens gegenwärtig ist, ist eine Kirche (ecclesia)«
der Immanenzerfahrung der Engel und der Mystiker aller Religionen (HH 57). »Das Innerste des Menschen ist die Wohnung Gottes bei
nicht vollständig aufgeht. Bei Swedenborg scheint mir also die Trans- ihm (ejus intimum est ubi Dominus apud illum habitat)« (HG 2973).
27 »Est enim homo animal rationale« (Largier II,496). Eckhart verweist in diesem »Dieses Innerste oder Höchste kann als Eingang (introitus) des Herrn
Zusammenhang auf das 1. Buch der Metaphysik des Aristoteles. beim Engel und Menschen und als seine eigentliche Wohnung (do-
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micilium) bei ihnen bezeichnet werden.« (HH 39). Nach WCR 8 ist Aus swedenborgscher Sicht interessant ist, dass auch Meister
die Seele »das Innerste und Höchste des Menschen« (siehe auch EL Eckhart die Begriffe einfließen, aufnehmen und Gefäß verwendet.
101). Demnach kann die Seele als der Wohnsitz des Herrn im Men- »In dieser Geburt … wirst du des göttlichen Einfließens und aller sei-
schen angesehen werden, was zeigt, dass wir bei Swedenborg durch- ner Gaben teilhaft.« (Quint 425). »Ein jegliches Gefäß hat zweierlei
aus auch den immanenten Aspekt finden. (Kennzeichen) an sich: es nimmt auf und enthält. Geistige Gefäße
Wenden wir uns Meister Eckhart zu! Obwohl bei ihm mit der und körperliche Gefäße sind verschieden. Der Wein ist in dem Fasse,
Eingeburt des Sohnes in den Innenraum der Seele die Immanenz das Faß aber ist nicht im Wein noch ist der Wein im Fasse, will sagen:
oder das Innewohnen Gottes im Mittelpunkt steht, ist er sich seiner in den Dauben; denn wäre er im Fasse, will sagen: in den Dauben,
so könnte man ihn nicht trinken. Anders steht es um das geistige
Transzendenz vollumfänglich bewusst. Mit dem Bild eines Spiegels
Gefäß! Alles, was darein aufgenommen wird, das ist in dem Gefäß
im Wasserbecken verdeutlicht Eckhart den Zusammenhang zwi-
und das Gefäß in ihm und ist das Gefäß selbst. Alles, was das geis-
schen der Immanenzerfahrung und der bleibenden Transzendenz
tige Gefäß aufnimmt, das ist von seiner Natur. Gottes Natur ist es,
Gottes: »Ich nehme ein Becken mit Wasser [die Seele]28 und lege daß er sich einer jeglichen guten Seele gibt, und der Seele Natur ist
einen Spiegel hinein [das Etwas in der Seele] und setze es unter den es, daß sie Gott aufnimmt« (Quint 224). Im Geistigen ist eine viel in-
Sonnenball [Gott]; dann wirft die Sonne ihren lichten Glanz aus der nigere und wechselseitigere Durchdringung und Vereinigung mög-
Scheibe und aus dem Grunde der Sonne aus und vergeht darum lich als im Natürlichen.
doch nicht. Das Rückstrahlen des Spiegels in der Sonne ist in der Diese Ausführungen sollten verdeutlichen, dass die transzen-
Sonne (selbst) Sonne, und doch ist er (= der Spiegel) das, was er ist. dente und die immanente Sichtweise keine unvereinbaren Gegen-
So auch ist es mit Gott. Gott ist in der Seele mit seiner Natur, mit sätze sind, sondern die beiden Seiten derselben Münze, die man
seinem Sein und mit seiner Gottheit, und doch ist er nicht die Seele. aber nicht gleichzeitig betrachten kann, weswegen der eine mehr
Das Rückstrahlen der Seele, das ist in Gott Gott, und doch ist sie (= diese, der andere mehr jene im Auge hat. Swedenborg akzentuiert
die Seele) das, was sie ist.« (Quint 273). Der Mystiker erlebt Gott im mehr die Transzendenz, Eckhart mehr die Immanenz; doch das Mys-
Innenraum seiner Seele und seines Gemütes und verfällt dennoch terium der unschaubaren Ganzheit vereinigt in sich beide Seiten.
nicht dem Irrtum, in dieser Erfahrung den ganzen Gott zu beher- 4. Der Weg zur Erfahrung der Sohngeburt
bergen. Swedenborg hat die schöne Formel geprägt: »Gott ist nach
der Erschaffung der Welt im Raum ohne Raum und in der Zeit ohne Die Geburt des Sohnes in der Seele ist nach Quint der »eine Grund-
Zeit.« (WCR 30). In Abwandlung dieser Formel können wir sagen: und Kerngedanke Eckeharts«. Wir können auch sagen: Sie ist der
Gott ist nach der Erschaffung des Menschen in der Seele ohne Seele, Gipfel seiner Mystik. Beim Anblick dieses hohen Berges stellt sich
das heißt ohne selbst Seele oder Seelisches zu werden. So finden wir uns die Frage: Gibt es einen Weg zum mystischen Gipfelerlebnis
der Geburt des Wortes in der Seele? Oder ist das Ganze nur steile
bei Meister Eckhart also auch das Wissen um den transzendenten
Theologie? Nein! Denn es gibt ihn, den einen gangbaren Aufstieg
Gott, der immer mehr ist und bleibt als das, was von ihm erfahrbar
im sonst allerdings unüberwindlichen, allen menschlichen Kräften
wird, und dennoch seit der Erschaffung des Menschen und seiner
widerstehenden Massiv. Der Meister beleuchtet ihn in wechseln-
eigenen Menschwerdung zum Menschen hin unterwegs ist und sich den Perspektiven, so dass er sehr anschaulich vor unser geistiges
ganz und gar in dessen Seele eingebären will. Auge tritt.
28 Die Einschübe in den eckigen Klammern stammen von mir und sollen mein Der Weg hat einen Namen: die via negativa zur unio mystica.
Verständnis dieser Stelle verdeutlichen. Der Grundgedanke ist folgender: Das Gute und Wahre in der Seele
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und im Gemüt ist eine Schöpfung Gottes. Der Mensch kann Gutes womit sie wahrnimmt, und dieses ist bitter gemäß der Krankheits-
und Wahres, das heißt Göttliches, nicht selbst hervorbringen oder natur der Krankheit. Es gelangte noch nicht bis dahin, wo es schme-
gar erschaffen. Er kann aber dem Wirken Gottes in ihm widerste- cken sollte; es dünkt den Kranken bitter, und er hat recht, denn es
hen, und daher lautet die grundlegende Forderung der via negativa: muß bitter sein bei dem Belag und dem Überzug. Wenn diese Zwi-
Gebe deinen Widerstand auf! »Der Mensch folge nur und wider- schenschicht nicht weg ist, schmeckt nichts nach seinem Eigenen.
stehe nicht; er leide (es), und lasse Gott wirken.« (Quint 313). Diese Solange der ›Belag‹ nicht von uns beseitigt ist, solange schmeckt
eine Notwendigkeit erläutert Eckhart mit vielen Worten, wobei er uns Gott nimmermehr in seinem Eigenen, und unser Leben ist uns
jedesmal einen neuen Aspekt des einen und einfachen Kerngedan- (dann) oft bekümmert und bitter.« (Quint 211f.; siehe auch Quint
kens beleuchtet.29 260). Allen diesen Bildern entnehmen wir, dass Gott immer schon
Lassen wir uns diesen Gedanken zunächst durch einige ein- da ist. Aber dieses Dasein ist dem Menschen nicht immer bewusst
drückliche Bilder verdeutlichen. Im Traktat vom edlen Menschen for- oder nicht immer als etwas Göttliches bewusst. Daher stellt sich dem
muliert ihn Eckhart in Anlehnung an Origenes: »Gottes Bild, Gottes Menschen nur eine Aufgabe, nämlich das zu beseitigen, was der
Sohn, sei in der Seele Grund wie ein lebendiger Brunnen. Wenn aber reinen und klaren Wahrnehmung Gottes im Wege steht.
jemand Erde, das ist irdisches Begehren, darauf wirft, so hindert und Die Geburt des Sohnes ist gleichbedeutend mit dem Hinein-
verdeckt es (ihn), so daß man nichts von ihm erkennt oder gewahr sprechen und der Ausgestaltung des wesenhaften Wortes in der
wird; gleichviel bleibt er in sich selbst lebendig, und wenn man die Seele. Die via negativa im Zusammenhang des Hörens ist das Schwei-
Erde, die von außen oben darauf geworfen ist, wegnimmt, so kommt gen. Meister Eckhart lehrt: »Wo dieses Wort gehört werden soll,
er (wieder) zum Vorschein und wird man ihn gewahr.« (Quint 143). muß es in einer Stille und in einem Schweigen geschehen.« (Quint
Oder: »Die Sonne [Gott] scheint ohne Unterlaß; jedoch, wenn eine 430). »In der Stille und in der Ruhe … dort spricht Gott in die Seele
Wolke oder Nebel [Gedanken] zwischen uns und der Sonne ist, so und spricht sich ganz in die Seele.« (Quint 238). »… im Stillschwei-
nehmen wir den Schein nicht wahr.« (Quint 143). Oder: »Wenn ein gen, wo nichts mehr in die Seele spricht, da wird das Wort (ein-)ge-
Meister ein Bild macht aus Holz oder Stein, so trägt er das Bild nicht sprochen in die Vernunft.« (Quint 312). Was ist hier mit Schweigen
in das Holz hinein, sondern er schnitzt die Späne ab, die das Bild ver- und Stille gemeint? Ich sage es mit einer swedenborgschen Note:
borgen und verdeckt hatten; er gibt dem Holze nichts, sondern er Gemeint ist die vollkommene Empfänglichkeit. Vollkommen ist sie,
benimmt und gräbt ihm die Decke ab und nimmt den Rost weg, und wenn das Eigene (Swedenborgs »proprium«) zur Ruhe gekommen
dann erglänzt, was darunter verborgen lag.« (Quint 144). In einer ist. Oder, um es mit einem Bild zu sagen: Nur die ruhige Hand kann
Predigt spricht Eckhart von einer »Zwischenschicht« (das Eigene), die den Willen des Schreibenden aufnehmen und ohne Störungen aus
den Kranken (den Sünder) daran hindert das Gute und Wahre als der Eigenbewegung einer zittrigen Hand wiedergeben. Eckhart ver-
etwas Gutes und Wahres zu schmecken: »Daß der Kranke die Speise wendet ein ähnliches Bild, indem er vom Auge sagt: »Soll mein Auge
und den Wein [das Gute und Wahre] nicht schmeckt, was wunders die Farbe sehen, so muß es ledig sein aller Farbe.« (Quint 216). Das
ist das? Nimmt er ja doch den Wein und die Speise nicht in ihrem Auge ist ein Bild für den Verstand und die Farbe ein Bild für die bunte
eigenen Geschmack wahr. Die Zunge hat eine Decke und ein Kleid, Vielfalt der Erscheinungen. Die Welt der Sinneseindrücke läßt sich
nur dann verstehen, wenn der Verstand nicht selbst sinnlich oder in
29 Diesen Ansatz finden wir auch bei Swedenborg. Er schreibt: »Niemand kann einem absolutistischen Sinne empirisch wird. Denn das Verstehen
Gutes, das wirklich gut ist, aus sich heraus tun.« (LL 9). Und: »Insoweit ein
Mensch Böses als Sünde flieht, tut er das Gute nicht aus sich, sondern aus
ist eine Gabe des inneren Lichtes, das sich den chaotischen Phäno-
dem Herrn.« (LL 18). Das Tun des Guten besteht demnach im Nichttun des menen, den Kosmos des Denkens schaffend, mitteilt. Das Erkennen
Bösen. Auch das ist eine Beschreibung der via negativa. steigt also nicht von außen nach innen auf, sondern fließt als das
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Licht der Sonne der geistigen Welt von innen nach außen herab deutet darauf hin, dass dem natürlichen oder kreatürlichen Wissen
und beleuchtet auf diesem Wege ganz am Ende auch die Dinge der im Vollzug der Logosgeburt die entsprechende himmlische Wesens-
sogenannten sichtbaren Welt. So sahen es die Alten, und so kön- form eingeprägt wird, womit das natürliche Wissen mit Swedenborg
nen wir uns den Sinn der folgenden Erläuterungen Eckharts zum gesprochen den Charakter eines Gefäßes bekommt. Das mystische
Schweigen erschließen: Wo das Wort in die Seele eingesprochen Schweigen meint demnach nicht die Auslöschung der Gedanken,
wird, »dort schweigt das ›Mittel‹, denn dahinein kam nie eine Kre- sondern eher das Gegenteil, nämlich die Öffnung, die totale Prä-
atur noch ein Bild noch kennt die Seele da Wirken oder Erkennen senz derselben, so dass sie zu einem vollkommen ebenen und unge-
noch weiß sie da von irgendeinem Bilde, sei‘s von sich selbst oder trübten Spiegel der himmlischen Wirklichkeit und letztlich des gött-
von irgendwelcher Kreatur.« (Quint 416). »Und da man ein Bild hat lichen Logos werden. Diese absolute Präsenz des Geistes ist jedoch
nur von dem, was außerhalb von einem ist und durch die Sinne von nicht als theoretische Übung vollziehbar, sondern nur in der Einbet-
den Kreaturen hereingezogen wird, und da es auch immerzu auf tung in den Lebensprozess oder den existentiellen Vollzug unseres
das hinweist, dessen Bild es ist, so wäre es unmöglich, daß du je- im tiefsten Grunde schon immer ideellen Seins. Daher müssen wir
mals durch irgendein Bild selig werden könntest. Und daher muß uns nun dem Lebemeister Eckhart zuwenden.
da Schweigen und Stille herrschen, und der Vater muß da sprechen Er sagt uns: »Der Mensch, der sich selbst und alle Dinge gelas-
und seinen Sohn gebären und seine Werke wirken ohne alle Bilder.« sen hat, der des Seinen nichts an irgendwelchen Dingen sucht und
(Quint 419). Das Schweigen als Voraussetzung des Logoshörens be- alle seine Werke ohne Warum und (nur) aus Liebe tut, ein solcher
zieht Eckhart auf die äußeren oder sinnlichen Gedankenbilder. Das Mensch ist für die ganze Welt tot und lebt in Gott und Gott in ihm.«
Schweigen meint nicht das Auslöschen oder das gänzliche Verges- (Quint 291). Lassen wir uns von diesem Wort leiten! Dann können
sen aller Sinneseindrücke, sondern das zur Ruhe Kommen der Ge- wir sagen, dass sich Eckharts Lebenslehre offenbar in den Begriffen
danken in ihrem Eigenen. Solange deine Gedanken noch dich be- »Gelassenheit«, »nichts suchen« und »Wirken ohne Warum« zusam-
schäftigen und umtreiben, sind sie noch nicht zur Ruhe gekommen. menfassen läßt. Diese Vorstellungen überschneiden sich gegensei-
Das Schweigen all der äußeren oder kreatürlichen Bilder meint, dass tig. Wenn wir uns also im Folgenden zuerst der Gelassenheit zuwen-
sie vollkommen offen und empfänglich für das Licht von oben ge- den, dann ist das, was wir später zu den anderen Begriffen sagen
worden sind. Dann sind »die Scheinbarkeiten« oder »Erscheinungs- werden, darin im Grunde bereits enthalten. Und dennoch lohnt sich
formen des Wahren« (Swedenborgs »apparentiae veri«) »Gefäße des der gesonderte Blick auf die einzelnen Begriffe, weil jeder ein etwas
Wahren« (Swedenborgs »vasa« oder »receptacula veri«) geworden. anderes Licht auf die eine große Lebenswahrheit wirft.
Eckhart bestätigt uns diese Interpretation des Schweigens. Auf den Gelassenheit ist die Voraussetzung des Worthörens, von dem
Einwand: »Herr, Ihr setzt all unser Heil in ein Unwissen. Das klingt oben die Rede war: »… wer Gottes Wort hören soll, der muss völ-
(doch) wie ein Mangel«, antwortet er: »Wo Unwissen ist, da ist Man- lig gelassen sein.« (Quint 213). Doch wen oder was soll man las-
gel und ist Leere; so einer ist ein tierischer Mensch, ein Affe, ein Tor! sen? Der Mensch »muß sich selbst und diese ganze Welt gelassen
– und das ist wahr, solange er in diesem Unwissen verharrt. Indes- haben.« (Quint 216). »Wenn sich der Mensch abkehrt von sich
sen: man muß hier (ja) in ein überformtes Wissen kommen, und selbst und von allen geschaffenen Dingen – so weit du das tust, so
zudem darf dieses Unwissen nicht aus Unwissen kommen, sondern: weit wirst du geeint und beseligt in dem Fünklein in der Seele, das
aus Wissen muß man in ein Unwissen kommen. Dann werden wir weder Zeit noch Raum je berührte. Dieser Funke widersagt allen
wissend werden mit dem göttlichen Wissen, und dann wird unser Kreaturen und will nichts als Gott, unverhüllt, wie er in sich selbst
Unwissen mit dem übernatürlichen Wissen geadelt und geziert wer- ist.« (Quint 315f.). Sich selbst und diese ganze Welt lassen, das ist
den.« (Quint 430). Eckharts Rede von einem überformten Wissen also Eckharts Antwort. Sie ähnelt der Forderung Swedenborgs, die
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Selbstliebe (amor sui) und die Weltliebe (amor mundi) zu entfer- menen Vertrauens fallen, wo uns nur noch der wesenhafte Gott
nen (HG 7750). Die Gelassenheit begründet ein neues Verhältnis auffangen kann. Das alttestamentliche Vorausbild des absoluten
zu den Dingen. Von einem swedenborgschen Standpunkt aus kann Ver trauens ist Abraham. Er vertraute dem unsichtbaren Gott über
man sie mit der Lehre vom Nutzen schaffen in Verbindung brin- alle Vernunft hinaus, als er aufgefordert wurde, den Sohn der Ver-
gen. Denn wer sich auf das sinnstiftende Tun verlegt, der ergreift heißung zu opfern. Da ließ Abraham Gott um Gottes willen.
die Dinge nicht mehr als Dinge (= im Modus des Habens); die Be- Eine andere Formulierung zur Bezeichnung derjenigen tätigen
dingtheit seines Daseins in der Welt ist ihm nur noch der Ort der Verfassung, die die Wiege der Sohngeburt bildet, ist das Wirken
Auswirkung seines inneren Lebens aus dem göttlichen Grund. Er ohne Warum30: »(Nur) so wird der Sohn in uns geboren: wenn wir
hat die Dinge in ihrer dinglichen Qualität gelassen. Die Bindung kein Warum kennen …« (Quint 373). »Aus diesem innersten Grunde
oder Fesselung an das eigene Ich und die Dinge dieser Welt hin- sollst du alle deine Werke wirken ohne Warum.« (Quint 180). Die
dern das Gemüt am Aufstieg zu Gott und den göttlichen Dingen, Festlegung des Tuns auf eine rationale Begründungsstruktur, das
wobei sich der Weltbezug beinahe von selbst entkrampfen würde, heißt das Wirken mit einem Warum, hält es im Horizont der eigenen
wenn der Mensch nur gegenüber den Absichten seines Ichkom- Klugheit gefangen. Das Wirken ohne Warum erfolgt demgegenü-
plexes ein entspannteres Verhältnis entwickeln könnte. Deswegen ber ohne jede Berechnung aus freier, ungebundener Liebe. Eckhart
meint Eckhart: »Hast du (aber) dich selbst gelassen, so hast du sagt: »Liebe aber hat kein Warum.« (Quint 299, siehe auch Quint
(wirklich) gelassen.« (Quint 300). Diese Lösung von den Außen- 291). »Der Mensch aber ist wahrhaft Sohn, der da alle seine Werke
mächten (= dem Ich des äußeren Menschen und den Dingen der aus Liebe wirkt.« (Quint 386). Eng mit dem Wirken ohne Warum ist
äußeren Welt) sammelt und vereint den Menschen um die innere, das verbunden, was Eckhart vom Gerechten sagt, dass er nämlich
göttliche Mitte und befreit ihn aus der Vermannigfaltigung oder nichts sucht mit seinen Werken: »Der Gerechte sucht nichts mit sei-
Zerstreuung. »So auch mußt du, wahrlich, wenn du diese edle Ge- nen Werken; denn diejenigen, die mit ihren Werken irgend etwas
burt finden willst, alle ›Menge‹ lassen und mußt zurückkehren in suchen, oder auch solche, die um eines Warum willen wirken, die
den Ursprung und in den Grund, aus dem du gekommen bist.« sind Knechte und Mietlinge.« (Quint 267). Der Mensch soll sein Tun
(Quint 432). Und am Ende soll der Mensch sogar Gott um Gottes auch nicht an eine intentionale Ausrichtung binden. Denn auch da-
willen lassen: »Das Höchste und das Äußerste, was der Mensch las- durch wird er, der doch aus der Unverfügbarkeit Gottes als sein Sohn
sen kann, das ist, daß er Gott um Gottes willen lasse.« (Quint 214). geboren werden soll, zu einem Knecht der eigenen Klugheit. Ratio-
Zum Verständnis dieser gewagten Aussage bedienen wir uns einer nale Begründungen und Zielsetzungen mögen zwar dem Lernpro-
früheren, weniger kühnen aus den Reden der Unterweisung. Dort gramm dieser Welt entsprechen, die Gotteskinder werden dadurch
lehrte »Bruder Eckhart«: »Der Mensch soll sich nicht genügen las-
sen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, 30 Der Ausdruck »ohne Warum« taucht volkssprachlich erstmals bei Beatrijs von
Nazareth (gest. 1268) auf (sonder waeromme), die damit einen Gedanken
so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Bernhards von Clairvaux wiedergibt. Das Denken Bernhards und Wilhelms
Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen von St. Thierry bilden zweifellos den Hintergrund dieses Ausdrucks, der sich,
und aller Kreatur.« (Quint 60). Wenn wir die Unterscheidung des ausgehend von Beatrijs‹ niederländischer Übersetzung, schnell in den Volks-
gedachten vom wesenhaften Gott in die obige Aussage eintragen, sprachen verbreitet und zu einem Kernwort der mittelalterlichen Mystik wird.
dann lautet sie so: »Das Höchste und das Äußerste, was der Mensch Er begegnet bei Hadewijch, in Marguerite Poretes »Le mirouer des simples
ames« (»sans pourquoy«), wird schließlich zu einem Grundbegriff der domi-
lassen kann, das ist, daß er (den gedachten) Gott um (des wesen- nikanischen Mystik und findet über spätmittelalterliche Texte, die Theolo-
haften) Gottes willen lasse.« Das Lassen des gedachten Gottes läßt gia Deutsch und die Taulerdrucke, den Weg in die frühe Neuzeit und über
uns jenseits all unserer Gottesbilder in den Abgrund des vollkom- Angelus Silesius auch zu Martin Heidegger. (Nach Largier I,746)

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aber nur in den Käfig der Ichssteuerung eingesperrt. Sie sollen je- so würde wiederum nichts daraus. Darum soll man der ersten Einge-
doch aus der unbegrenzten Weite des göttlichen Wesens neu ge- bung folgen und so voranschreiten; dann kommt man dahin, wohin
boren werden; und der Sinn, der sich in ihrem Leben entfaltet, soll man soll, und so ist‘s recht.« (Quint 382). Auch nach Swedenborg
mehr sein als der eigene Sinn. Bei Swedenborg finden wir einen ist die eigene Klugheit nur ein Schein, ein zwar notwendiger, aber
ähnlichen Gedanken, ausgedrückt in den Worten, dass die Men- eben doch ein Schein: »Eigene Klugheit (propria prudentia) gibt es
schen der inneren Kirche (= die wahrhaft Eingeweihten) »das Gute nicht, es hat nur den Anschein, dass es sie gibt, und das muss auch
und Wahre um des Guten und Wahren willen tun« (NJ 25), das heißt so sein.« (GV 191).
ohne Warum bzw. um seiner selbst willen. Die eigene Intelligenz ist auch in Bezug auf die Werturteile eine
Nicht nur die Werke, auch Gott soll der Mensch nicht im Sinne trügerische Instanz. Eckhart rät uns, alles auch gegen den Anschein
seiner eigenen Rationalität instrumentalisieren. Eckhart sagt das an- für das Beste zu halten (Quint 168) und sich in »Gleichmut« (Quint
schaulich so: »Du suchst etwas mit Gott und tust gerade so, wie 386) zu üben, das heißt ein gleichbleibendes Gemüt in alle Situ-
wenn du aus Gott eine Kerze machtest, auf daß man etwas damit ationen hineinzutragen: »Willst du wissen, ob dein Kind geboren
suche; und wenn man die Dinge findet, die man sucht, so wirft man werde und ob es entblößt sei, das heißt: ob du zu Gottes Sohn ge-
die Kerze hinweg.« (Quint 171). »Aber manche Leute wollen Gott mit macht seist? – Solange du Leid in deinem Herzen hast um irgend
den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen und wollen Gott etwas, und sei‘s selbst um Sünde, solange ist dein Kind nicht gebo-
lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und ren.« (Quint 320f.). »Wer Gott in rechter Weise nehmen soll, der muß
des Käses und deines eigenen Nutzens.« (Quint 227). So »lieben« ihn in allen Dingen gleicherweise nehmen« (Quint 176).
manche frommen Leute Gott, wegen der Seligkeit und des Himmels; Die menschengemäßeste Haltung ist mit Swedenborg gespro-
und so machen sie Gott zu einem Faktor in ihrer eigenen Rechnung. chen die des Gefäßes, das heißt der vollkommenen Empfänglichkeit.
Demgegenüber lassen die Worte des Propheten Jesajas etwas von Die Vorausetzung dafür ist die vollkommene Leere, denn nur das
der unendlichen Weite des göttlichen Geistes erahnen: »Meine Ge- leere Gefäß kann den Wein der himmlischen Weisheit aufnehmen.
danken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Der klassische Begriff für diese Haltung der wohlgeübten Empfäng-
Wege – Spruch des Herrn. So hoch der Himmel über der Erde ist, lichkeit ist Demut, die Bereitschaft, sich willig in den Dienst nehmen
so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Ge- zu lassen. Eckhart lehrt in diesem Sinne: »Wer von oben her empfan-
danken über eure Gedanken.« (Jes 55,8f.). Und Swedenborg weist gen will, der muß notwendig unten sein in rechter Demut.« (Quint
uns darauf hin, dass kein Sterblicher die göttliche Vorsehung durch- 172). Der Meister des inneren Lebens bringt die Demut mit dem
schauen kann; nur im Nachhinein können wir ein wenig von der »unten sein« in Verbindung. Denn im Lateinischen hängen humilis
Weisheitstiefe des Pantokrators erfassen (GV 175-190). (niedrig, eigentl. dem Boden nahe) und humilitas (Demut) zusam-
Daher läuft der Rat des Lebemeisters am Ende darauf hinaus, men. Außerdem weiß Meister Eckhart: »Die Demut (humilitas) hat
die eigene Klugheit zu lassen und sich vertrauensvoll der geistge- ihren Namen vom Boden (humus)« (Largier II,617). Und da auch der
lenkten Spontanität in die Arme zu werfen. »Darauf läuft alles hinaus, Mensch (homo) seinen Namen vom Boden (humus) hat, kann man
was man raten oder lehren kann: daß ein Mensch sich selbst raten sagen, dass die Demut wirklich die menschengemäßeste Haltung ist,
läßt und auf nichts als nur auf Gott schaue, wenngleich man dies weil sie seinem Wesen als Erdling ganz und gar entspricht. Deswe-
in vielen und verschiedenen Worten ausführen kann.« (Quint 381). gen heißt es in den Offenbarungen durch Jakob Lorber sogar: »Die
»… wollte ein Maler gleich beim ersten Striche alle (weiteren) Stri- Demut ist das Einzige, das ihr Mir geben könnet, ohne es eigentlich
che bedenken, so würde nichts daraus. Sollte jemand in eine Stadt vorher von Mir empfangen zu haben.« (HGt 2,11,12). Die »Krone
gehen und wollte (schon) überlegen, wie er den letzten Schritt täte, der Schöpfung« nimmt also die unterste Stufe der geistigen Hierar-
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chie ein, und soll sich dementsprechend nämlich dienstbereit ver- stalt eines universellen digitalen
halten. Eckhart bringt »die unterste Stätte« mit der Gelassenheit in Die UNESCO Netzwerkes mit ausgewählten
Verbindung. Damit schließt sich der Kreis unserer Betrachtung. Lasse
Erdling das, was dich als werdendes Geistwesen ohnehin nicht er-
anerkennt die herausragenden Dokumenten:
wertvolle Buchbestände, Hand-
füllen kann, lasse dich selbst und alle Dinge, und lasse dich dann als Bedeutung schriften, Partituren, Unikate,
himmlisches Gefäß von der göttlichen Liebe und Weisheit erfüllen! Bild-, Ton- und Filmdokumente.
»Ebenso sage ich von dem Menschen, der sich zunichte gemacht Swedenborgs »Memory of the World« ver-
hat in sich selbst, in Gott und in allen Kreaturen: Dieser Mensch hat folgt zwei Ziele: Zum einen geht
die unterste Stätte bezogen, und in diesen Menschen muß sich Gott
ganz und gar ergießen, oder – er ist nicht Gott. Ich sage bei der ewi-
gen und immerwährenden Wahrheit, daß Gott sich in einen jegli-
D okumentarisches Erbe spie-
gelt die Vielfalt von Spra-
chen, Menschen und Kulturen
es um den weltweiten Zugang
(»access«) zu kulturell bedeut-
samen und historisch wichtigen
chen Menschen, der sich bis auf den Grund gelassen hat, seinem wider. Es ist der Spiegel der Welt Dokumenten. Zum anderen
ganzen Vermögen nach völlig ergießen muß, so ganz und gar, daß und ihres Gedächtnisses. Aber geht es um die Sicherung (»pre-
er in seinem Leben, in seinem Sein, in seiner Natur noch auch in sei- dieses Gedächtnis ist verletz-
servation«) des dokumenta-
ner Gottheit nichts zurückbehält: das alles muß er in befruchtender lich. Täglich verschwinden Teile
rischen Erbes vor Gedächtnis-
Weise ergießen in den Menschen, der sich Gott gelassen und die davon unwiederbringlich.
verlust und Zerstörung. Bei dem
unterste Stätte bezogen hat.« (Quint 314). Die Organisation der Verein-
Programm handelt es sich nicht
ten Nationen für Bildung, Wis-
um ein finanzielles Förderpro-
senschaft, Kultur und Kommu-
gramm zum Zweck der Restau-
nikation (UNESCO) hat 1992
ein Programm zum Erhalt des rierung des Dokumentenerbes.
dokumentarischen Erbes der Vielmehr soll der Eintrag in das
Menschheit ins Leben gerufen: UNESCO-Weltregister als inter-
»Memory of the World« (das nationale Auszeichnung gelten.
Gedächtnis der Menschheit). Die Herkunftsländer verpflich-
Mit dem Programm beabsich- ten sich, für die Erhaltung und
tigt die UNESCO, dokumenta- Verfügbarkeit des jeweiligen do-
rische Zeugnisse, die in Archiven, kumentarischen Erbes zu sorgen.
Bibliotheken, Dokumentations- Im Jahr 2005 nahm die UN-
stellen, Museen, Gedenkstätten ESCO eine Sammlung von Ma-
und anderen kulturellen Instituti- nuskripten Swedenborgs, die in
onen überliefert sind, zu sichern der Königlichen Akademie der
und auf neuen informations- Wissenschaften in Stockholm
technischen Wegen weltweit aufbewahrt wird, in ihre Liste des
zugänglich zu machen. Entste- Welterbes von für die gesamte
hen soll ein »Weltregister des Menschheit bedeutungsvollen
Memory of the World« in Ge- Archiven und Dokumenten auf.
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Diese Manuskripte, rund schiedlichen, Rebstöcken. Un- inen des Disibodenbergs, einer
20000 Seiten, wurden nach Jahrestagung sere »Rebstöcke« waren die von Wirkungsstätte der Hildegard
Swedenborgs Tod 1772 von sei-
nen Erben der Königlichen Aka-
der Swedenborg- täglich wechselnden Referenten
gehaltenen Vorträge: Kain und
von Bingen, einem Grillabend,
zahlreichen spontanen guten
demie der Wissenschaften in Freunde 2006 Abel, Turmbau zu Babel, Hiob, Gesprächen bei Tisch, beim
Stockholm geschenkt, deren Prophetie, der Glaube, die Wie- abendlichen Zusammensitzen
Eine Nachlese von Elke Barduhn
Mitglied Swedenborg war. Es ist dergeburt (nicht zu verwechseln (natürlich wurden dabei auch
eine der größten existierenden mit Reinkarnation!). Auf der so- die Erzeugnisse der Region, also
Sammlungen von Manuskripten
aus dem 18. Jahrhundert und au- E gal, von welcher Himmels-
richtung man sich dem klei-
nen Ort Horath auf den Höhen
liden Grundlage dieser großen
Vortragsbandbreite gediehen
der Dornfelder und der Spätbur-
gunder und andere genossen),
ßerdem eine der wenigen in der dann die unterschiedlichsten dem Kegeln oder auch dem ge-
modernen Zeit, die als Grund- des Hunsrück nähert – immer »Früchte« der Tagung: Grup- meinsamen Fiebern während der
lage für eine neue christliche Kir- durchquert man vorher ausge- penarbeit unter Anleitung, Ge- Fußballspiel-Übertragungen.
che diente. Swedenborgs Bot- dehnte Weinberge. So wie der sang im Tagungs-Chor, täglich Derart herrliche Früchte, wie
schaft fand überall in der Welt Wein dieser Region zwischen andere Morgenandachten, lie- Trauben es nun einmal sind,
zahlreiche Anhänger und einige Mosel, Saar, Ruwer und Nahe bevoll gestaltet von einzelnen dürfen natürlich auch weiter-
unter ihnen betrachten seine die wirtschaftliche Grundlage Tagungsteilnehmer/innen. verarbeitet werden. Und so er-
Manuskripte sogar als Reliquien. bietet und im Alltag der Men- Doch guter Wein gedeiht nur laube ich mir, um weiter im Ent-
Die Sammlung umfasst sowohl schen allgegenwärtig ist, so auf geeignetem Boden durch sprechungsbild zu bleiben, noch
Swedenborgs Jahre als Wissen- wird die Swedenborg-Tagung intensive Pflege. Wir wurden den folgenden Vergleich: Die
schaftler und Techniker als auch alljährlich bestimmt vom Den- wieder, wie in den Vorjahren, Auslegung eines Grimmschen
sein Leben nach seiner religiösen ken in Entsprechungen, ausge- im Natürlichen verwöhnt vom Märchens – Hans im Glück – in
Krise in den vierziger Jahren des hend von der Entsprechungs- Komfort des herrlichen Famili- der Weise wie Swedenborg Bi-
18. Jahrhunderts. Die Sammlung lehre Emanuel Swedenborgs. enhotels in Horath. Unterbrin- beltexte als Entsprechungen
wird noch immer in der König- Sechs erfüllte Tage, randvoll mit gung, Verpflegung und Service deutet, war ein derart köstlicher
lichen Akademie aufbewahrt. Programmangeboten beladen, ließen wiederum keine Wünsche Genuss, der ohne weiteres dem
Deutschland ist übrigens mit in der Gesellschaft von unge- offen. frischen Traubensaft verglichen
acht Einträgen im Memory of fähr sechzig Menschen gleicher Geselligkeit wird in Weinan- werden kann. Mancher andere
the World Register der UNESCO oder ähnlicher Gesinnung, Ge- baugebieten großgeschrieben, Teilnehmer wird diese Art der
vertreten. Aufgenommen wur- schwistern im Geiste – das ist ein sie gehört sozusagen zur We- bis ins letzte Detail liebevollen
den u.a. das Göttinger Exemplar äußerst intensives Erlebnis mit sensart der Menschen. Während Gestaltung des letzten Taguns-
der 42-zeiligen Gutenberg-Bibel, großer Langzeitwirkung. und nach der Ernte, der Weinlese, abends ebenso wie ich als Über-
Goethes literarischer Nachlass In der weiteren Umgebung feiert jeder Ort sein Wein- oder raschung mit enormer Tiefen-
und das Autograph der 9. Sinfo- von Horath gedeihen Riesling-, Winzerfest. Die Geselligkeit wäh- wirkung erlebt haben.
nie Beethovens. Kerner-, Spätburgunder-, Dorn- rend der Swedenborg-Tagung Der feierliche Gottesdienst
felder-, Elbling-Trauben an, bestand u. a. aus dem organi- mit gemeinsamer Abendmahls-
je nach Sorte natürlich unter- sierten Ausflug zu den Klosterru- feier am Sonntagvormittag bil-
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dete schließlich nicht nur den gen haben, dass die diesjährige
Höhepunkt sondern gleichzeitig Swedenborg-Tagung eine per-
auch den Abschluss der Tagung fekt organisierte, rundum gelun-
und steht somit in meinem klei- gene Veranstaltung geworden
nen Entsprechungsbild für den ist, meinen herzlichsten Dank für
vergorenen, vergeistigten, ge- die unvergesslichen Tage.
läuterten Traubensaft, nämlich Die Jahrestagung 2007 findet
den Wein. von 15. bis 20. Mai wiederum in
Glücklicherweise ist guter Horath im Hunsrück statt. Das
Wein lange haltbar und so habe Programm ist ab sofort beim
ich, bildlich gesehen, einen rei- Swedenborg Zentrum Zürich
chen Vorrat davon mit nach erhältlich.
Hause genommen in Form von
geistiger Nahrung und werde
mir diesen Vorrat gut einteilen,
damit er bis zu meinem nächs-
ten Aufenthalt in Horath reichen
wird. Allen, die dazu beigetra-

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