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Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21.

November 2009

DOKUMENTATION

Kommunalkongress 2009
SPD-Landesverband Niedersachsen
Hannover, 21. November 2009

1
www.spd-niedersachsen.de
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Vorwort

Liebe Genossinnen und Genossen, Leitlinien die wichtigsten Eckpunkte sozial-


viele von euch waren vor Ort und konnten sich selbst demokratischer Kommunalpolitik für Niedersach-
ein Bild machen: mit rund 700 Teilnehmerinnen sen beschreiben. Die Ergebnisse des Kommunal-
und Teilnehmern war der erste Kommunalkongress kongresses bieten hierfür eine erste gute Grundlage
des SPD-Landesverbandes Niedersachsen ein gro- mit vielfältigen Ideen und Überlegungen. Deshalb
ßer Erfolg! Unser ausdrücklicher Dank gilt allen, die wollen wir mit dieser Dokumentation dazu beitra-
ihren Beitrag zum Gelingen des Kongresses geleis- gen, dass die vier Redebeiträge der Hauptreferen-
tet haben! ten und die Diskussion der Thesenpapiere für alle
Die inhaltlichen Diskussionen haben gezeigt: Interessierten zur Verfügung stehen.
die SPD macht sich auf den Weg für erfolgreiche Wir wünschen eine anregende Lektüre und
Kommunalwahlen 2011! Mit fachkundigen Referent- grüßen euch herzlich
innen und Referenten und einer großen Vielzahl von
Parteimitgliedern haben wir die entscheidenden
Zukunftsfragen für unsere Städte, Gemeinden und
Landkreise diskutiert. Manchmal auch durchaus
kontrovers – aber nur so können wir die beste Politik
für die Menschen in unserem Land entwickeln. Garrelt Duin, MdB Michael Rüter
Garrelt Duin, Sigmar Gabriel, Christian Ude Landesvorsitzender Landesgeschäftsführer
und Stephan Weil haben in ihren Redebeiträgen
deutlich gemacht, worauf es mit Blick auf die anste-
henden Herausforderungen ankommt: die SPD vor
Ort muss wieder näher an die Menschen heranrü-
cken! Wir müssen für unsere Konzepte einer sozial
gerechten Finanzierung der Kommunen und einer
leistungsstarken und bürgernahen Daseinsvorsor-
ge werben.
Auf unserem Landesparteitag im Mai 2010
2 wollen wir mit unseren kommunalpolitischen
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Inhaltsübersicht

Reden Thesenpapiere und Diskussionsergebnisse

Rede des Landesvorsitzenden Forum 1


Garrelt Duin, MdB 4 Infrastruktur und Energieversorgung
Anforderungen an die kommunale
Rede des Oberbürgermeisters von Hannover Daseinsvorsorge 32
Stephan Weil 9
Forum 2
Rede des Parteivorsitzenden Stadt gestalten statt verwalten
Sigmar Gabriel, MdB 11 Erwartungen an die kommunale
Daseinsvorsorge 34
Rede des Oberbürgermeisters von München
Christian Ude 17 Forum 3
Integrationspolitik in der Einwanderungs-
gesellschaft
Chancen und Teilhabe in unseren Städten
und Gemeinden 37

Forum 4
Bildung findet Stadt
Perspektiven für die kommunale
Bildungspolitik 41

3
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Rede des Landesvorsitzenden


Garrelt Duin, MdB

Liebe Genossinnen und Genossen, unsere Heimat gestalten wollen und wie wir das
nachdem wir das Nebelhorn gerade schon einmal vor allen Dingen nicht nur alleine, sondern gemein-
ausprobiert haben, darf ich Euch nun mit funktio- sam mit möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern
nierender Technik ganz herzlich begrüßen zu unse- machen können. Wir wollen damit heute beginnen,
rem Kongress »Starke Kommunen, starkes Land«! quasi ein Leitbild zu entwerfen, Bilder und Konzepte
Es ist nach der Bundestagswahl sehr viel gespro- zu entwerfen, wie die Gestaltung dieser Politik für
chen worden über den Zustand der SPD. Manche die Menschen in unseren Heimatregionen ausse-
haben dort zu klaren Worten gegriffen. Ich finde hen kann.
das allein schon der Blick von hier oben, allein die Sigmar Gabriel hat in Dresden sinngemäß ge-
Zahl derjenigen, die sich zu diesem kommunalpo- sagt: Die SPD war immer dann stark, wenn sie sich
litischen Kongress angemeldet haben aus Reihen nicht angepasst, nicht abgefunden hat, wenn sie
der SPD – aber auch einige von außerhalb der SPD Utopien entworfen, Hoffnungen genährt hat.« Und
– zeigt, dass der Zustand der SPD wesentlich bes- genau damit wollen wir auf diesem Kongress auch
ser ist als manche geglaubt haben und als manche beginnen in den verschiedenen Gesprächsrunden.
vielleicht auch von außen gehofft haben. Ich heisse Die Städte und Gemeinden sind sehr in Bewegung.
euch ganz, ganz herzlich willkommen, dass ist ein Es ist eine sehr interessante und eine hoch span-
starkes Zeichen der kommunalpolitischen Familie nende Zeit in der sich die Städte und Gemeinden
in unserer niedersächsischen SPD, dass ihr heute zurzeit befinden.
alle hier seid! Die Finanzkrise bleibt auch dort nicht ohne
Das Motto unseres Kongresses lautet: »Star- Auswirkung. Die demographische Entwicklung ist
ke Kommunen, starkes Land«. Das klingt auf den ein anderes Stichwort mit dem es sich auseinander-
ersten Blick vielleicht etwas technisch. Es geht aber zusetzen gilt. Und all das, was uns an Wirtschafts-
um etwas, das uns allen ganz besonders im Kopf ist, krise gerade betrifft macht sich in den Kommunen,
was uns besonders am Herzen liegt. Etwas was auch macht sich auf der Einnahmeseite, macht sich in
Gefühl und Hoffnung zugleich betrifft. Nämlich der täglichen Arbeit bemerkbar und deshalb will
es geht darum, wie wir unsere Heimat, da wo wir ich an dieser Stelle auch noch mal ausdrücklich an
wohnen, unseren Stadtteil, unsere Gemeinde, unser diejenigen im sozialdemokratischen Teil der großen
4 Dorf, wie wir das künftig gestalten wollen. Wie wir Koalition erinnern , die gleich zu Beginn des Jahres
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– in enger Absprache mit den kommunalen Spitzen- Ich habe es schon erwähnt, es geht darum, das
verbänden – dafür gesorgt haben, dass ein Konjunk- Leben in der Heimat konkret zu gestalten. Und wir
turpaket II auf den Weg gebracht worden ist, um vor werden dazu in ganz verschiedenen Politikfeldern
Ort in den Kommunen dringend notwendige Inves- in den nächsten Jahren eine Menge Anlass haben,
titionen auf den Weg bringen zu können, liebe Ge- gerade auch in der Heimat jenes konkret zu gestal-
nossinnen und Genossen. Das dürfen wir nicht ver- ten, was auf anderen Ebenen genauso diskutiert
gessen. Das war ein ganz, ganz wichtiges Element wird. Wenn ich an die Umwelt- und Energiepolitik
unserer Politik und hat unter Beweis gestellt, dass denke, dann gibt es in der nächsten Zeit - Stichwort
die SPD die Kommunalpartei sein kann und wieder »Auslaufen der Konzessionsverträge« - eine Riesen-
sein wird. chance für die Kommunalpolitik über dezentrale
Im Lande Niedersachsen können wir ähnlich Energieversorgung und über dezentrale Energiege-
Positives nicht beobachten. Das was man formal Ka- winnung nachzudenken und die dann auch Realität
binett nennt, was aber inzwischen mehr ein Arbeits- werden zu lassen.
kreis von Landesministern ist, diskutiert hin und Wenn ich über die soziale Frage nachden-
wieder natürlich auch über die Zukunft der Kom- ke, dann ist das Stichwort »Integration« Eines was
munen. Aber es gibt keine klare Linie und wir haben nicht der Bundesinnenminister mit einer Versamm-
es gerade in den letzten Tagen wieder erlebt, dass lung, die vielleicht einmal im Jahr in Berlin stattfin-
wenn Herr Rippke quasi links abbiegt, Herr Schü- det, wird regeln können, sondern dann werden es
nemann zur gleichen Zeit wieder rechts abbiegt. Es die Kolleginnen und Kollegen in den Gemeinderä-
gibt überhaupt keine Idee innerhalb dieser Landes- ten, in den Stadträten sein, dann werden es die vie-
regierung davon wie sich eigentlich Landesverwal- len Ehrenamtlichen sein, in den Stadtteilen, in den
tung, kommunale Strukturen und die Beteiligung Dörfern, die konkrete Arbeit leisten müssen, damit
von Bürgerinnen und Bürgern in Einklang bringen Integration kein Fremdwort in den Kommunen
lassen. Und deswegen war es ein großer Fehler der bleibt, sondern gelebte Realität wird, liebe Genos-
Landtagsmehrheit unseren sehr gut durchdachten sinnen und Genossen.
Antrag zur Bildung einer Enquete-Kommission im Und nicht zuletzt das Thema der Bildung.
Niedersächsischen Landtag abzulehnen. Wir müs- Ganz konkret wird es doch dann, wenn die Kommu-
5 sen an diesem Kurs festhalten. nalpolitik darüber zu entscheiden hat, welche Schu-
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len eigentlich vor Ort angeboten werden, welches wir Herrn Wulff und seine Landesregierung ohne
Angebot an Ganztagsbetreuung vor Ort angeboten wenn und aber auffordern, mit Blick auf die eigene
werden kann, zu welchen Tarifen dieses passieren Situation, aber auch mit Blick auf die Kommunen,
kann. Und da sage ich, liebe Genossinnen und Ge- die Steuersenkungspläne der Bundesregierung im
nossen, es ist dringend an der Zeit, dass wir eine Bundesrat abzulehnen. Aber Herr Wulff muss nicht
Landesregierung bekommen, die den Kommunen nur im Bundesrat für die Kommunen kämpfen und
die notwendige Entscheidungsfreiheit gibt – und die Steuersenkungspläne ablehnen. Er muss auch
nicht ein Gesamtschulverhinderungsgesetz! Wir vor der eigenen Haustür kehren und er muss end-
brauchen ein Landesregierung, die Leitplanken lich die Kürzung im eigenen Finanzausgleich ge-
setzt, damit die Kommunalpolitiker vor Ort gemei- genüber den niedersächsischen Kommunen wieder
sam mit allen Beteiligten entscheiden können, wel- rückgängig machen, damit wir die Handlungsfähig-
che Schulen sie vor Ort vorhalten wollen. Der der- keit zurückbekommen, die notwendig ist.
zeitige Zustand, liebe Genosinnen und Genossen, Liebe Genossinnen und Genossen, dieser
ist skandalös! Kongress hat mehrere Hundert Teilnehmerinnen
Wir bleiben bei unserer Einladung an Herrn und Teilnehmer. Wir freuen uns, dass im Laufe des
Wulff, darüber zu sprechen und aus den ideologi- Vormittages der neue Parteivorsitzende Sigmar
schen Gräben herauszukommen und endlich das Gabriel zu uns kommen wird. Aber ich freue mich
zu tun, was vor Ort erforderlich ist. In den letzten jetzt schon, dass der amtierende Bundesvorsitzen-
Tagen, liebe Freundinnen und Freunde, – seit dem de der Sozialdemokratischen Gemeinschaft der
die neue Koalition in Berlin regiert – erleben wir Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker,
dann noch etwas, das dann ans Eingemachte geht der Oberbürgermeister unserer Landeshauptstadt
bei den Kommunen. Das was wir dort an Steuer- Stephan Weil hier ist, herzlich willkommen!
senkungsplänen der Bundesregierung hören, was Zu Gast in Niedersachen nicht zum ersten
ja immer wieder, trotz viel Streit zwischen CDU und Mal, aber nicht von hier kommend, sondern mehre-
FDP - auch von verschiedenen Leuten dort bestätigt re hundert Kilometer weit entfernt wohnend, einer
wird -, das wird die schwierige Situation der Kom- der erfolgreichsten sozialdemokratischen Kommu-
munen massiv verstärken. Und deswegen muss von nalpolitiker, die wir kennen, mit Ergebnissen wie-
6 diesem Kongress auch das Signal ausgehen, dass dergewählt, von denen auch wir, auch in unseren
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Hochburgen hier in Niedersachsen gelegentlich änderungen zwingen. Ganz herzlich willkommen


nur zu träumen wagen. Mit über 60 % immer wie- unser Fraktionsvorsitzender gemeinsam mit zwei
dergewählt worden, ganz herzlich willkommen, wir seiner Stellvertreter, die ich ausdrücklich begrüße.
freuen uns, dass er heute hier ist: Christian Ude, der Nämlich für den Bereich Bildung Frauke Heiligen-
Oberbürgermeister aus München. stadt und für den Bereich Innen Johanne Modder,
In Hannover über Kommunalpolitik zu reden, Wolfgang Jüttner als Fraktionsvorsitzender, herzlich
und er wäre nicht dabei, dass käme uns komisch vor Willkommen, schön dass ihr da seid.
und deswegen freue ich mich, dass der Vorgänger Ich bin sicher, dass dieser Kongress nachher in
von Stephan Weil, er hatte 34 Jahre das Amt inne, er den Foren intensiv diskutieren wird und jetzt sehr
ist es mit 28 Jahren damals geworden, dass er heu- genau zuhören wird bei den Reden, die wir gleich
te hier ist, Herbert Schmalstieg, sehr schön, dass du hören werden. Aber dabei darf es natürlich nicht
bei uns bist. bleiben. Und deswegen haben wir als Landesvor-
Stellvertretend für euch, die ihr verschiede- stand einen klaren Plan auch für die nächsten Jah-
ne Funktionen in den Kommunen inne habt, darf re. Wir werden die Arbeit der Nachwuchsförderung
ich begrüßen und das zeigt, wie stark wir auf die- über die Kommunalakademie weiter intensivieren.
ser Ebene aufgestellt sind. Stellvertretend darf ich Wir werden verschiedene Angebote machen über
begrüßen, den Präsidenten des niedersächsischen Bildungsveranstaltungen, damit wir junge Leu-
Städtetages, Ulrich Mädge, aus Lüneburg, herzlich te, neue Leute dazu bekommen, Frauen und Män-
Willkommen. Den Bernhard Reuter, den holen wir ner, die einsteigen wollen in die Kommunalpolitik,
dann nach, der ist noch auf dem Weg. Aber ich freu die vielleicht bisher schon im Elternrat ihre Arbeit
mich auch, dass hier sind, Franz Einhaus als Vorsit- machen, aber noch nicht bei uns sind – und wo wir
zender der SGK und Hauke Jagau als Präsident der gucken wollen, dass sie mit zu uns gehören, damit
Region Hannover, seid uns beide herzlich willkom- wir als Kommunalpartei in Niedersachsen weiter
men. an Stärke gewinnen. Ganz wichtig ist es, dann ge-
Wir müssen in den Kommunen stark sein, aber meinsam zusammenzuarbeiten mit anderen Orga-
wir müssen – ich hab das angedeutet – eben auch nisationen oder Initiativen, die sich ein Thema vor-
im niedersächsischen Landtag die Landesregierung nehmen und sagen, da wollen wir Veränderungen.
7 in diesen Themen treiben, wir müssen sie zu Ver- Ein solches Thema, ich habe es angesprochen, ist
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das der Bildungspolitik. Und ihr habt gehört, dass Amtshandlungen als Parteivorsitzender du hier
es in Niedersachsen ein Volksbegehren gibt für gute nach Hannover gekommen bist und nachher zu uns
Schulen. Und ich freue mich ganz besonders, dass sprechen wirst. Jetzt darf ich dem Andreas Henze,
einer der Initiatoren jetzt gleich nach mir hier spre- als Initiator des Bürgerbegehrens das Wort erteilen.
chen wird und heute unser Gast ist. Andreas Henze, Danke für eure Aufmerksamkeit!
als einer der Initiatoren des Volksbegehrens, ganz, Ich wünsche uns allen einen erfolgreichen
ganz herzlich willkommen hier bei uns auf dem Kongress und einen erfolgreichen Aufschlag für die
Kommunalkongress. Kommunalwahl 2011. Das ist dann ein ganz wich-
Und jetzt darf ich, weil es fast wie abgespro- tiger Baustein dafür, dass wir 2013 hier in Nieder-
chen ist, dass während ich hier oben noch stehe, er sachsen die Geschicke wieder in die Hand nehmen
hineinkommt, unseren neuen Parteivorsitzenden können und eine Politik machen werden für die
begrüßen, Sigmar Gabriel. Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen unseres
Lieber Sigmar, du hast ganz spontan zugesagt Landes. Herzlichen Dank!
als du gesehen hast, dass wir diesen kommunalpo-
litischen Kongress hier machen. Du hast gesagt, da
möchte ich gerne dabei sein. Und es ist in Dresden
auf dem Parteitag ja über viele Dinge gesprochen
worden, aber ich bin ganz sicher, dass in Dresden
Eines ganz klar geworden ist: nämlich, dass die Ar-
beit in den Kommunen auch die Aufmerksamkeit
derjenigen, die in Berlin Verantwortung tragen, ver-
dient. Wir müssen uns darum kümmern, dass die
Kommunalpolitik ein noch stärkeres Gewicht in un-
serem Auftreten erhält. Und auch deswegen hat es
so ein hervorragendes Ergebnis für dich gegeben,
weil du sehr glaubwürdig in Deiner Rede dieses zu
Deinem Thema gemacht hast und deswegen freu-
8 en wir uns, dass schon quasi als einer deiner ersten
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Rede des Oberbürgermeisters


von Hannover Stephan Weil

Liebe Genossinnen und liebe Genossen, mokratisch regiert wird. Oberbürgermeister wer-
guten Morgen, den hier – das habt ihr gehört - im Durchschnitt für
herzlich willkommen in Hannover! Das ist jetzt 34 Jahre gewählt. Wir haben ein stabiles rot-grünes
heute Vormittag schon der zweite schöne Anblick, Bündnis, das jetzt seit 22 Jahren ununterbrochen
der sich mir bietet. Der Erste war um 10 Uhr, als die Verantwortung übernimmt. Deswegen wissen wir
hannoverschen Jusos in revolutionärer Disziplin, hier in Hannover ganz genau, wie wichtig Sozial-
zum ersten Mal seit einer Reihe von Jahren, eine demokratie für eine gesunde Entwicklung unserer
Vollversammlung durchgeführt haben. Und das Stadt ist. Und so wollen wir es auch in Zukunft hal-
war ein schöner Anblick, der sich mir da bot; viele ten. Bei den Kommunalwahlen 2011 wissen wir alle,
motivierte, junge Leute. Und jetzt komme ich hier das wird kein Selbstgänger. Das wird schwierig wer-
her und sehe 700 top motivierte Kommunalpoliti- den und da wird sich zeigen, ob wir die Zeit seit den
kerinnen und Kommunalpolitiker aus ganz Nieder- Bundestagswahlen genutzt haben für ein Come-
sachsen vor mir. back der SPD. Die niedersächsischen Kommunen
Und ich glaube da gibt es auch einen Zusam- gehen mit sage und schreibe 4,5 Milliarden Euro
menhang. Ich glaube, vielen geht es so wie mir. Kassenkrediten in die Krise hinein. Das muss man
Nachdem wir den ersten Schock des 27. September sich mal vorstellen, 4,5 Milliarden Euro, die wir als
hinter uns gebracht haben, haben wir uns gesagt, Kommunen in Niedersachsen, allein für laufende
das ist jetzt auch eine Frage der Ehre, das kann nicht Ausgaben, an Schulden haben aufnehmen müssen.
so stehen bleiben, die SPD wird wieder kommen, in Und zur gleichen Zeit, wo wir sehen, das alles noch
Deutschland, in Niedersachsen und in den Kommu- viel schwieriger wird, beteiligt sich unsere Landes-
nen. regierung daran, dass unsere Kassen im Rahmen
Und natürlich hättet ihr euch keinen besse- von Steuergesetzgebung jetzt erst richtig geplün-
ren Ort für diesen Kommunalpolitischen Kongress dert werden sollen. Ich finde schon allein das sollte
aussuchen können, nicht nur weil Hannover be- uns kräftig motivieren in den nächsten Monaten.
kanntlich die schönste Stadt der Welt ist. Da muss Und gleichzeitig wird betont, wie wichtig al-
der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt les das ist, was wir in den Rathäusern so treiben.
München jetzt ganz, ganz stark sein. Sondern auch, Bildungsrepublik Deutschland haben die Schwarz-
9 weil diese Stadt seit 1946 ununterbrochen sozialde- Gelben ihr Koalitionsprogramm in einem wichtigen
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Teil genannt. Was sie sich darunter vorstellen, dass Gesellschaftspolitik. Wir gestalten die Zukunft die-
sehen wir dann auch in den Städten und Gemein- ser Gesellschaft, liebe Genossinnen und Genossen!
den. Zum Beispiel beim sogenannten Betreuungs- Es ist wahr, die SPD wird für ihr Comeback,
geld, wie es verniedlichend genannt wird. Ich sage starke Kommunen, gute Kommunalpolitikerinnen
euch das mal an einem ganz einfachen kommuna- und Kommunalpolitiker benötigen. Davon haben
len Beispiel. Ich mache im Moment eine Tournee wir in Niedersachsen reichlich, das sieht man von
durch die hannoverschen Moscheen. Davon gibt es hier oben sehr gut. Aber umgekehrt wird auch ein
in Hannover über 20. Und wenn ich da bin, sage ich Schuh daraus. Wir in den Kommunen, wir brauchen
immer, bitte meldet eure Kinder so früh wie möglich eine starke SPD, wir brauchen eine starke kommu-
in die Krippen und in die Kindergärten an. Damit sie nalfreundliche Partei im Land und im Bund, weil wir
so früh wie möglich in unser Bildungssystem integ- letztlich abhängig sind davon, dass dort gute Politik
riert werden, damit sie so früh wie möglich deutsch gemacht wird. Und deswegen freue ich mich über
lernen und wirklich eine gute Schulperspektive vor diesen Kommunalpolitischen Kongress. Er dient
sich haben. Und dann sagen die mir manchmal, das unserer Selbstvergewisserung, er dient aber auch
sei aber ein bisschen teuer. Und wenn ich denen dazu, Kraft zu tanken, Energie zu tanken und in den
antworte, dass muss euch aber die Zukunft eurer nächsten Monaten bis 2011 energisch nach vorne zu
Kinder wert sein, dann habe ich noch nirgendwo gehen und dann bin ich sicher, wird 2011 das Jahr
Widerspruch gehört. Wenn jetzt aber die selben sein, in dem das Comeback der SPD in Niedersach-
Leute hören, sie kriegen 150 Euro monatlich vom sen und in den Rathäusern und Gemeinden sehr,
deutschen Staat dafür, dass sie ihre Kinder nicht in sehr deutlich wird. Herzlich Willkommen in Hanno-
die Kindergärten anmelden, dann fragen die mich, ver, ich wünsche euch, uns allen einen guten Kon-
ob ich Fieber habe. Nein, Genossinnen und Genos- gress. Schönen Dank!
sen.
An so einem Beispiel wird doch deutlich, dass
es nicht egal ist, was abstrakt im Bundesgesetzblatt
steht, die Wahrheit, die findet in den Städten und
Gemeinden statt. Kommunalpolitik, das ist nicht der
10 Besenwagen deutscher Politik. Kommunalpolitik ist
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Rede des Parteivorsitzenden


Sigmar Gabriel, MdB

Lieber Garrelt, haft einen größeren Stellenwert in der gesamten


ich habe zwölf Jahre Kommunalpolitik im Stadtrat Parteiorganisation geben – auch auf Bundesebene,
und im Kreistag gemacht. Der Christian Ude hat liebe Genossinnen und Genossen.
etwas scherzhaft gesagt, das sei ein hartes Schick- Ich sage das nicht nur vor dem Hintergrund
sal. Ich habe das immer so empfunden, dass dieje- des Spruchs den ja Sozialdemokraten oft anwen-
nigen, die auch oder zuerst in der Kommunalpolitik den, dass das Wiedererstarken nach einer Nieder-
gewesen sind bevor sie Landes- oder Bundespoliti- lage für die deutsche Sozialdemokratie oft aus den
ker geworden sind, dass die davon immer profitiert Kommunen herausgekommen ist. Das stimmt.
haben. Du bist nirgendwo so dicht dran an den Be- Aber das ist nicht der eigentliche Grund, warum
dürfnissen, an den Sorgen, an den Hinweisen von ich auch auf dem Parteitag in Dresden dazu etwas
Menschen wie in der Kommunalpolitik. Und der gesagt habe. Ich glaube, Sozialdemokratinnen und
Unterschied ist halt, dass der Bundestags- oder Sozialdemokraten kümmern sich in unserem Land
Landtagsabgeordnete gelegentlich gesehen wird, um gesellschaftliche Integration. Jenen Menschen,
weil er einen größeren Wahlkreis hat, aber wenn der denen es nicht so gut geht, denen soll die Mög-
Oberbürgermeister oder Bürgermeister über den lichkeit gegeben werden, ihr Leben zu verbessern
Marktplatz geht und eine Woche nachdem er Leute oder jedenfalls ein würdiges Leben zu vollziehen.
getroffen hat, die Probleme noch nicht erledigt hat, Gemeinsam mit denen, die in dieser Gesellschaft
dann hat er die wieder am Hals. Ich glaube, das hilft ihren Platz gefunden haben, denen es vielleicht ein
bei der Bodenhaftung. Insofern ist Kommunalpoli- bisschen besser geht. Da wollen wir Deutsche und
tik eine gute Schule. Ausländer zusammenbringen, Junge und Alte, gut
Aber erstmal lieber Garrelt, lieber Stephan, Ausgebildete und weniger gut Ausgebildete, Män-
lieber Christian Ude, liebe Genossinnen und Genos- ner und Frauen. Sozialdemokratie bemüht sich um
sen, vielen Dank dafür, dass ich herkommen durfte. gesellschaftliche Integration und den Zusammen-
Ich habe das sehr gerne gemacht, weil die nieder- halt der Gesellschaft. Wir wollen, dass der Lebens-
sächsische SPD aus eigenem Antrieb und aus eige- weg von Einzelnen offen ist, dass Menschen was
nen Überlegungen das tut, was wir – wie ich glaube machen können aus ihrem Leben. Aber wir wollen
– bundesweit auch als Sozialdemokraten machen uns auch immer kümmern um die, die sozusagen
11 müssen. Wir müssen der Kommunalpolitik dauer- neben uns sind. Übrigens nicht nur im eigenen Land
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– auch mit Blick auf andere Länder. Und wir merken dass sie Ghettobildung verhindern können, dass sie
ja, dass das seit geraumer Zeit auseinander läuft. Kindergärten vernünftig ausbauen können, dass
Das wir eine gesellschaftliche Tendenz haben, in sie Frühförderzentren haben, dass sie Sportförde-
der auf der einen Seite der Zusammenhalt ein Stück rung betreiben können, dass sie Musikschulen und
verloren geht, auf der anderen Seite viele Menschen Volkshochschulen haben, dass sie all das machen
auch die Sehnsucht danach haben, dass sie sich ir- können wo gesellschaftliche Integration zwischen
gendwo noch sicher und gut aufgehoben fühlen. Deutschen und Ausländern stattfinden soll. Ob wir
Die Welt scheint sich ja immer schneller zu drehen. in der Kinder- und Jugendarbeit Erfolg haben, hat
Alles Mögliche verändert sich. Ich glaube, es gibt nur natürlich was mit dem Schulsystem zu tun.
ganz Wenige, die das toll finden. Ich glaube, dass es Wobei, bei der Frage, ob man das Abitur in
ganz viele Menschen gibt, die auch einen Ort ha- Zwölf Jahren machen muss, wird ja immer gesagt,
ben wollen, wo sie sicher leben. Und wo sollte das das mache man, weil der Rest Europas es auch in
besser sein als der Ort an dem sie wohnen, arbeiten, zwölf Jahren schaffe. Dabei wird meistens verges-
die Kinder zur Schule gehen, Freunde leben, sie im sen, dass der Rest Europas das in Ganztagsschulen
Sportverein sind, im Ehrenamt was machen; also macht und wir in Halbtagsschulen. Ich nehme an,
unsere Städte und Gemeinden. Ich glaube, ganz un- dass die, die das ausgerechnet haben, selber 14 Jah-
abhängig von der Frage, dass Sozialdemokratie über re zum Abitur gebraucht haben, sonst wäre ihnen
die Kommunen wieder stark werden kann, müssen das aufgefallen.
wir stärker im Bewusstsein der Politik verankern, Natürlich ist Schule wichtig, aber wir wissen
dass Städte und Gemeinden die Orte gesellschaftli- doch, dass viele andere Dinge auch – zum Beispiel
cher Integration sind. Sie sind mehr als eine Holding eine außerschulische Jugendarbeit – von großer Be-
zur Abwasserbeseitigung oder zur Organisation des deutung sind. Ich finde zum Beispiel, dass wir Kin-
öffentlichen Nahverkehrs. dergärten zu Frühförderzentren ausbauen müssen.
Es sind die Orte – wie Stephan Weil sagt–, wo In denen mit Eltern und Kindern gearbeitet wird, in
das Leben konkret wird. Ob Deutsche und Ausländer denen Sprachförderung da ist. Das alles hängt da-
gut miteinander leben können in Deutschland, das von ab, ob eine Stadt, eine Gemeinde, ein Kreis am
regelt am Ende nicht das Zuwanderungsgesetz, son- Ende all dies finanzieren kann. Dass heißt Städte
12 dern die Frage ob Städte so gut ausgestattet sind, und Gemeinden sind Orte der gesellschaftlichen
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Integration! In der Sozialpolitik war eine der großen dann kann man das nicht machen, ohne Austausch
Errungenschaften nach 1990, als die Sozialdemo- mit den Kommunalpolitikern. Ich weiß, wie wich-
kraten mit den Grünen in Niedersachsen hier die tig der SPD das Thema Vermögenssteuer ist, aber
Regierungsmehrheit errungen hatten, dass wir uns noch viel wichtiger ist die Frage: »Wie sichert ein
gekümmert haben, um den Ausbau von Obdachlo- solches Steuerkonzept die kommunale Finanzba-
seneinrichtungen, von Bewährungseinrichtungen, sis? Und zwar auch außerhalb der Gewerbesteuer.
von Drogenberatungsstellen in Niedersachsen. Und Wie schaffen wir es, dass im Zentrum sozialdemo-
zwar weil die Städte und Gemeinden das nicht al- kratischer Steuerpolitik steht, dass Städte und Ge-
lein konnten, wir haben das mit ihnen gemeinsam meinden ihrer Integrationsaufgabe von Deutschen
organisiert und finanziert. Ein Akt gesellschaftli- und Ausländern, Jungen und Alten, Männern und
cher Integration, nicht Leute am Boden liegen las- Frauen, Arbeitnehmern und Arbeitslosen besser ge-
sen, sondern ihnen beim Aufstehen helfen, immer recht werden kann. Dies geht nur, wenn wir beim
wieder, egal wie häufig. Deswegen glaube ich, ist Parteivorstand der SPD eine Institution haben von
die Kommunalpolitik - wenn sie sich als Integrati- Kommunalpolitikern, die wir nicht nur ein paar Mal
onsebene versteht - in vielerlei Hinsicht das beste im Jahr einladen, um denen zu erklären wie gut
Beispiel für das sozialdemokratische Verständnis wird sind, damit sie es bitte zu Hause erzählen. Son-
vom Zusammenleben in unserem Land. Deswe- dern denen wir sagen: »Prüft mal unsere Konzepte,
gen ist sozialdemokratische Kommunalpolitik oft unser Steuerkonzept, ob wir eigentlich euren An-
so erfolgreich, deswegen ist sie ein gutes Beispiel sprüchen gerecht werden.« Das ist der Grund war-
dafür, wie wir zusammenleben wollen, aber deswe- um wir verabredet haben, gemeinsam mit der SGK,
gen muss Bundes- und Landespolitik in ihren Ver- eine ständige Konferenz der sozialdemokratischen
antwortungsbereichen alles dafür tun, dass Städte Kommunalpolitiker beim Parteivorstand einzurich-
und Gemeinden diese Integrationsaufgabe auch ten, die genau das leisten soll, die Überprüfung so-
erfüllen können. Das ist die Aufgabe und deswegen zialdemokratischer Politik auf die Frage hin: Fördern
glaube ich, muss es darum gehen, noch stärker zu- wir damit die Kommunalpolitik und die Integration
sammenzurücken. in unserer Gesellschaft? Ja oder Nein? Dafür wollen
Wenn wir also auf Bundesebene ein sozial- wir in den nächsten Wochen uns eine vernünftige
13 demokratisches Steuerkonzept der SPD entwickeln, Struktur überlegen. Das dürfen nicht nur Haupt-
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amtliche sein, da müssen auch ehrenamtliche Kom- und FDP, die das noch mal katastrophal verschlech-
munalpolitiker dabei sein. tern wird, liebe Genossinnen und Genossen. Denn
Das muss etwas Selbstverständliches in der wenn man 24 Milliarden Euro Steuergeschenke ver-
SPD werden, deswegen glaube ich, machen die Nie- teilt, dann wissen wir doch alle, dass davon 12 Milli-
dersachsen mit diesem Auftakt genau das, was wir arden als Mindereinnahmen bei Ländern und Kom-
auf Bundesebene machen wollen. Also Garrelt, von munen ankommen und jeder Bürgermeister kann
Niedersachsen lernen, heißt siegen lernen in die- sich doch ausrechnen, was das für seinen kommu-
sem Fall, in anderen Fällen auch. Auch wenn Chris- nalen Haushalt heißen wird. Das heißt, da werden
tian Ude aus München kommt. Ich sag jetzt nicht, 24 Milliarden verschenkt. In der Regel an Leute, die
wer München gegründet hat, Christian. Das mache es nicht nötig haben.
ich nicht, weil ich weiß, Du redest nach mir und sol- Da wird uns übrigens erzählt, es sei ein
che Gefechte mit Dir verliert man. Deswegen lass Wachstumsimpuls. Der Wachstumsimpuls wird
ich das lieber sein. Und es sieht ja nicht wirklich gut dazu führen, dass die jetzt schon so hohe Spar-
aus und – ich meine – darüber werdet ihr diskutie- quote von 11 Prozent weiter ansteigt. Übrigens: der
ren. Wir haben kommunale Steuereinnahmen, ich große Anteil der Steuerentlastung findet bei denen
habe mir das mal raussuchen lassen, die waren im statt, die selbst eine Sparquote haben von über 15
ersten Halbjahr 2009 um 9 Prozent geringer als im Prozent, manchmal 20 Prozent. Da findet die gro-
Vorjahreszeitraum 2008. Die Gewerbesteuerein- ße Entlastung statt, das heißt, die Sparquote wird
nahmen alleine sind um fast 15 Prozent gesunken. steigen. Es wird nichts ankommen bei der Belebung
Die Zuweisung der Länder für kommunale Investiti- der Binnennachfrage, aber es wird dramatische Ein-
onen um mehr als 10 Prozent. Und wir wissen, dass brüche zur Folge haben bei der kommunalen und
es im nächsten Jahr weiter zurückgeht. Die Einnah- bei der Landesinvestitionstätigkeit und wir werden
men der Kommunen sinken um 7,7 Milliarden Euro Tausende von Arbeitslosen mehr im Baugewerbe
– minus 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und bekommen, bei den Investitionen, beim Schulbau,
2010 wird nicht der Abschluss dieser schwierigen beim Bau von Krankenhäusern, im Straßenbau.
Entwicklung sein. Und in dieser Situation, wo die Überall dort werden die Leute keine Aufträge mehr
Lage für die Kommunen ohnehin schon schwierig bekommen, weil die kommunalen Aufträge weg
14 ist, gibt es eine Regierungsmehrheit von CDU/CSU brechen werden. Was die derzeitige Regierung da
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aufgelegt hat, liebe Genossinnen und Genossen, Steuersenkungspolitik kommunale Einrichtungen


das ist das Gegenteil von Wachstumspolitik! schlechter ausgestattet werden. Und die Bürgerin-
Das heißt, die Volksinitiative kann sich gleich nen und Bürger werden nicht vor dem Kanzleramt
fragen, wie die Lehrer eigentlich in Zukunft bezahlt demonstrieren oder vorm Außenministerium, bei
werden sollen. 10 Prozent ist der Anteil des Landes Herrn Westerwelle, sondern vor den Rathäusern, lie-
Niedersachsen an der Einkommenssteuer. Wenn 12 be Genossinnen und Genossen. Die hoffen darauf,
Milliarden den Ländern fehlen, dann werden dem dass sozusagen über die Undurchschaubarkeit der
Land Niedersachsen 1,2 Milliarden Euro Einnahmen Finanzsysteme am Ende die Kommunalpolitiker die
fehlen. Das sind Einnahmen, die fehlen bei Kinder- politische Zeche zu zahlen haben für den Unsinn,
gärten, bei Schulen, bei Universitäten und bei In- der in Berlin angerichtet wird, liebe Genossinnen
vestitionen. Das bedeutet, was am Nötigsten ist, und Genossen.
Investitionen in Bildung, das wird am schwierigs- Also, das ist der Grund, warum Sozialdemo-
ten zu realisieren sein. Das ist eine große Doppel- kraten gut daran tun, den Plänen von Schwarz-Gelb
züngigkeit des Ministerpräsidenten dieses Landes, Widerstand entgegen zu setzen, aber auch Alterna-
der öffentlich erklärt, man müsse in Bildung inves- tiven aufzubauen. Und dazu zähle ich beispielswei-
tieren und gleichzeitig in Berlin als stellvertretender se die Debatte über ein solches Steuersystem, bei
CDU-Parteivorsitzender zustimmt, dass die dafür dem wir dafür Sorge tragen müssen, das Wachs-
notwendigen Investitionen ruiniert werden. Das tumsimpulse da sind, die nicht über Schulden fi-
ist aber noch nicht alles. Als nächstes kommt dann nanziert werden, sondern zum Beispiel über den
noch hinzu, dass angeblich Wettbewerbsgleich- Abbau ökologisch unsinniger Steuersubventionen.
heit kommunaler Unternehmen mit den privaten Das sind insgesamt 50 Milliarden in Deutschland,
Unternehmen hergestellt werden soll. Was nichts liebe Genossinnen und Genossen. Wir haben guten
anderes heißt als dass dort vorbereitet wird, dass Grund auch Alternativen dem entgegen zu setzen
die kommunalen Unternehmen für die Leistungen und nicht nur zu kritisieren was Schwarz-Gelb tut.
der Daseinsvorsorge mehrwertsteuerpflichtig wer- Ich hoffe, dass das nur ein erster Auftakt ist, dass wir
den. Ich finde, dass es guten Grund gibt, darüber in den nächsten Wochen und Monaten nicht nur
die Bürgerinnen und Bürger aufzuklären. Wenn wir in Niedersachsen dafür Sorge tragen, dass wir die
15 nicht aufpassen, dann werden in der Folge dieser Kommunalpolitik mobilisieren – auch gegen das,
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

was da geplant ist. Wir müssen gleichzeitig dafür machen, dass was gesetzlich als freiwillige Leistung
sorgen, dass bei unseren eigenen Politikkonzepten gilt, zu fast 100 Prozent das ist, was Sozialdemokra-
die Integrationsleistung von Städten und Gemein- tinnen und Sozialdemokraten als politische Pflicht-
den im Mittelpunkt steht. Und wir müssen unsere leistungen verstehen, liebe Genossinnen und Ge-
Politik zwischen Bund, Land, Europa und Kommu- nossen. In diesem Sinne vielen Dank und Glück auf.
nen – besser als wir dies häufig in der Vergangen- Und jetzt ist – glaube ich – Christian Ude dran und
heit getan haben – miteinander verzahnen, liebe ich war vorsichtig mit spöttischen Bemerkungen
Genossinnen und Genossen. über die Gründung Münchens. Alles Gute.
Stephan Weil hat zu Recht gesagt, dass wir
natürlich Grund haben, über die Wahlniederlage
des 27. September 2009 in der Partei ausführlich
zu diskutieren. Wir müssen aber auch aufpassen,
dass wir nicht zur Selbsterfahrungsgruppe werden,
sondern wir müssen die Konsequenzen ziehen. Wir
müssen die andere Seite attackieren. Man kann ja
kaum noch von einem Fehlstart sprechen. Das ist ja
schon der Bruch des Amtseides, den die da hinlegen.
Sie haben versprochen, Schaden vom deutschen
Volk abzuwenden und nicht Schaden im deutschen
Volk anzurichten. Das machen sie aber derzeit, liebe
Genossinnen und Genossen.
Lasst uns Städte und Gemeinden als den
wichtigsten Ort gesellschaftlicher Integration ver-
stehen und übrigens bei unseren Konzepten – das
will ich vielleicht am Ende noch sagen - immer da-
rauf achten, dass wir nicht nur dafür streiten, dass
wir die Finanzgrundlage für die gesetzlichen Pflicht-
16 aufgaben sicherstellen. Sondern lasst uns deutlich
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Rede des Oberbürgermeisters


von München Christian Ude

Vielen Dank für eure Einladung, liebe Genossinnen gutem Besuch und hoch motivierten Mitwirkenden
und Genossen! gibt - das meine ich ganz ernst! Denn da ist noch Zeit,
Lieber Sigmar Gabriel, über Heinrich den Löwen Prozesse einzuleiten, Netzwerke aufzubauen, Fehler
brauchen wir nicht mehr zu streiten. Es ist ja unbe- auszubügeln, Pluspunkte zu sammeln. Ich hasse es,
streitbar und anerkannt, dass er München gegrün- wenn ich vier oder gar drei Wochen vor einer Kom-
det hat. Ich möchte nur hinzufügen, immerhin wa- munalwahl eingeladen werde und dann den eigenen
ren es wir dann, die 850 Jahre lang etwas aus der Genossinnen und Genossen sagen soll, warum eine
Stadt gemacht haben! Kommunalwahl wichtig ist. Da ist dann Hopfen und
Liebe Genossinnen und Genossen, ich habe Malz schon verloren, wie der Bayer sagt. Aber Glück-
eine sehr wichtige, sehr gute Nachricht für euch. wunsch zu einer Konferenz, die derart überzeugend
Und das meine ich vollkommen ernst. Nachdem ich einberufen wird und verfasst ist – zwei Jahre vor der
seit Jahrzehnten Kommunalwahlkämpfe überall in Kommunalwahl, so macht man das.
Deutschland begleite, glaube ich, Wahlergebnisse Und dann sehe ich darüber hinweg, dass
voraussagen zu können. Und zwar bereits ein Jahr Kommunalpolitik eigentlich nur einen schwerwie-
im Voraus. Denn bereits da sieht man an den Werbe- genden Nachteil hat: Immer kommt irgendjemand
mitteln – nicht, dass ich viel von Werbemitteln hal- daher, der einem das Wochenende verpatzt. Das war
te, die schaut kein Mensch an und niemand liest sie in diesem Fall der niedersächsische Landesverband.
durch – , ob die Partei weiss, welche Botschaften sie Ich trage es mit Fassung.
unter die Leute bringen will. Ob sie sich auf Aussagen Liebe Genossinnen und Genossen, wir haben
verständigt hat, die dann die letzten 12 Monate ver- das wohl alle gespürt. Stephan Weil hat es schon
breitet werden sollen. Und deswegen kann ich sehr ausdrücklich angesprochen, dass es jetzt nicht nur
wohl anhand der Werbemittel, die es ein Jahr vorher um irgendeine Wahl, die turnusmäßig ansteht, geht
gibt, sagen, ob die Kampagne hinhauen wird oder – sondern tatsächlich um eine Wahlentscheidung in
ins Leere geht. Und man kann es – das ist jetzt der zwei Jahren, die von ganz grundlegender Bedeutung
interessante Teil – sogar zwei Jahre vorhers agen, ob ist. Für die deutsche Sozialdemokratie – ich sage es
etwas gut geht oder ob es schief geht. Erfolgreiche so pathetisch – ist es fast schon eine Schicksalsfrage,
Kampagnen erkennt man immer daran, dass es zwei ob es nach einer niederschmetternden Wahlnieder-
17 Jahre vor dem Wahltermin bereits Konferenzen mit lage bei der Bundestagswahl 2009 wenigstens in
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

den nächsten Jahren auch mal ein Ereignis gibt, das ich es allerdings zeitlich eingrenzen, Sozialdemokra-
wieder einen Aufwärtstrend signalisiert. Das hat ten in der Bundesregierung kommunale Interessen
Bedeutung weit über Niedersachsen hinaus. Kann aufgegriffen haben. Dass jetzt ein Parteivorsitzen-
man in zwei Jahren sagen, dass die SPD wieder zu der die kommunale Karte spielt und die kommuna-
sich gefunden hat? Aber darüber hinaus auch zur le Komponente betont, ist ein wirklicher Glücksfall
Aktion kam und wieder Bevölkerungsgruppen an für die Kommunalpolitik und für die SPD!
sich binden und Erfolge bei Wahlen erzielen konn- Was Schwarz-Gelb zu bieten hat, dass ist ja be-
te? Oder bleibt es beim schrecklichen Befund vom reits deutlich geworden – obwohl es noch nebulös
27. September 2009? Ich will damit zart andeuten: verschleiert wird. Da ist auch noch ein Machtkampf
ihr habt eine Verantwortung, die weit über Nieder- nicht ganz ausgestanden. Es geht so weit, dass zu
sachsen hinausreicht! manchen Themen in der Koalitionsvereinbarung
Aber das ist auch für die Städte wichtig! Bleibt auch das pure Gegenteil zu lesen ist. Etwa bei der
die Sozialdemokratie nach diesem Rückschlag eine Frage der Besteuerung kommunaler Unternehmen.
starke und gestaltende Kraft, die Rathäuser er- Da hat die FDP durchgesetzt, dass kommunale Be-
obern und verteidigen kann? Oder greift ein Erosi- triebe gleich behandelt werden sollen wie private
onsprozess um sich, der sich dann logischer Weise Unternehmen. Und an anderer Stelle, dass man kei-
auch noch auf der kommunalen Ebene bemerkbar ne steuerliche Mehrbelastung wolle. Was aber ein
macht? Die erste Version würde uns Auftrieb geben, Widerspruch in sich ist! Und jetzt kämpfen liberale
die Zweite könnte in eine Depression münden. Des- Wirtschaftspolitiker und Lobbyisten mit christde-
wegen meine ich, diese Kommunalwahlen in zwei mokratischen Bürgermeistern, welcher dieser zwei
Jahren müssen jetzt schon jede Anstrengung wert sich logisch ausschließenden Sätze denn Vorrang
sein um es zum Guten zu wenden! haben soll? Ich fürchte, dass sie andernorts schon so
Und die Alternative wird ja beklemmend deut- viel Steuergeschenke gemacht haben oder machen
lich – Sigmar Gabriel hat es schon angesprochen – wollen, dass sie am Ende natürlich bei den Kommu-
und ich muss nach 40-jähriger Beobachtung der nen wieder einsammeln werden. Aber dann müs-
Bundesebene aus kommunaler Sichtsagen: mich sen wir es ganz groß thematisieren.
hat schon gefreut – darauf komm ich noch zurück Man kann doch nicht mit dem Thema Steu-
18 – wie zumindest in den letzten vier Jahren, so muss rerleichterung antreten und Wahlen gewinnen und
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

dann ausgerechnet dort, wo es jeden, auch noch Recht der Kommunen an, den Nahverkehr selber zu
den wirtschaftlich schwächsten Haushalt, trifft, gestalten, mit privaten Auftragnehmern oder mit
durch eine Steuererhöhung zur Mehrbelastung eigenen Betrieben. Und kaum ist das in trockenen
der Privathaushalte beitragen. Genau das wird sich Tüchern, da kommt eine schwarz-gelbe Koalition
aber, prognostiziere ich, bei der Entsorgung, spezi- daher und schämt sich nicht, diesen Erfolg für ein
ell der Müllabfuhr, herausstellen. Und dann ist es deutsches Verfassungsrecht auf europäischer Ebe-
Preistreiberei mit der unten abkassiert wird. Und ne wieder zu Nichte zu machen mit dem verräte-
das soll dann mit dem schönen Wort Koalition der rischen Satz »Kommerzielle Verkehre müssen be-
Steuerleichterung präsentiert werden? Das ist der vorzugt werden.« Das ist ein Rückschlag für unsere
glatte Hohn! deutschen Interessen in Europa, der ausgerechnet
Wir haben aber noch weitere Kampfansa- von der eigenen deutschen Regierung kommt und
gen in der Koalitionsaussage, wenn sie auch recht es ist auch sprachlich verräterisch »Vorrang für den
schüchtern formuliert sind. Ein Thema ärgert mich Kommerz«, das ist ja fast eine noch schlimmere
besonders. Wir haben über ein Jahrzehnt des Strei- ideologische Formulierung als das frühere »Privat
tes um den öffentlichen Personennahverkehr hinter vor Staat«, das Herr Rüttgers jetzt nicht mehr wahr
uns. Wir hatten marktradikale, neoliberale Vorstöße haben will – mit dem er aber vor vier Jahren sogar in
der europäischen Kommission und wir haben da- der Regierungserklärung seine Amtszeit begonnen
gegen gesetzt. Es ist ein wichtiges Recht der deut- hat! Das ist die Herausforderung von Schwarz-Gelb,
schen Kommunen, das auch aus dem Grundgesetz sie halten auch nach der Wirtschaftkrise, auch nach
hervorgeht – nämlich das Recht der kommunalen dem Bankrott der Privatisierungsstrategie in vielen
Selbstverwaltung, dass wir selber entscheiden wol- Ländern und in vielen deutschen Städten immer
len, ob wir den Nahverkehr ausschreiben oder ob wir noch unbelehrbar daran fest, dass sie sich mit der
ihn mit eigenen Unternehmen selber durchführen. kommunalen Daseinsvorsorge nicht anfreunden
Wir haben alle Register gezogen - gerade als Städ- können, sondern der Privatisierung das Wort reden
tetag haben wir noch auf die Parlamentsfraktionen müssen Dagegen müssen wir gemeinsam Front
im Europaparlament Einfluss genommen - und tat- machen, Genossinnen und Genossen!
sächlich haben wir nach einem Jahrzehnt des Kräf- Um einmal unabhängig von einzelnen Orten
19 temessens durchsetzen können, Europa erkennt das die europäische Konfliktlage darzustellen, erzähle
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

ich gerne von einer Londonreise, die mich tief be- Aber die hat mit Privatisierung diesen Zu-
eindruckt hat. London, dank Maggy Thatcher, die stand erreicht, den ich auch mit zwei anderen Zah-
Musterstadt der Privatisierung. Dort hat der Bür- len beschreiben kann. 30 Prozent des Wassers im
germeister, es war noch Ken Livingston, den wir Netz gehen im Netz verloren. So undicht sind die
mal als linken Sozialdemokraten verehrt haben, Leitungsnetze! Daher der Mangel. Im Juli, August,
aber ihm blieb gar nichts anderes mehr übrig, fol- wenn Garten- und Rasenflächen gesprengt werden,
gendes Plakat aufhängen lassen, das in U-Bahn dann langt´s nimmer. Und gleichzeitig hat Thames
Stationen hing und in kommunalen Schaukästen: Water, die privatisierte Wasserversorgung, 235 Milli-
»If it´s yellow, let it mellow.« Das sagt nun jeman- onen Profit im Jahr ausgeschüttet – und zwar nicht
den mit flüchtigen Englisch-Kenntnissen, wie mir, lumpige Euro, sondern englische Pfund. 235 Millio-
zunächst nichts. Also schlägt man nach. »Wenn es nen Jahresgewinnausschüttung, aber kein Geld um
gelb ist«, das wissen wir noch, aber wie geht der ein derart undichtes Netz instand zu halten! Man
Text weiter? »Lass es stehen«. Das macht nun kei- kann sich ja auch anders behelfen, man muss ja
nen großen Sinn, bis man merkt, was einem die nicht immer gleich ziehen. Das ist der zivilisatori-
Illustration sagen will. Es geht um eine Wassertoi- sche Triumph der Privatisierungsstrategie in seiner
lette. Die Botschaft der Londoner Stadtverwaltung reinsten Form.
nach einem Jahrzehnt der Privatisierung lautet: Und jetzt will ich aber fair genug sein, zu sa-
»Wenn es nur gelb ist, dann zieht bitte nicht ab.« gen, was beim Gespräch mit Thames Water vorge-
Denn London mit seiner privatisierten Wasserver- tragen wird. Sie sagen, das sei sicher erschütternd,
sorgung hat große Wasserversorgungsprobleme aber es liege daran, dass seit viktorianischen Zeiten
in der Sommerzeit. Wenn da jeder, obwohl er nur nicht mehr in das Wassernetz investiert worden
ein kleines Geschäft macht, abzieht, dann gerät sei. Die Probleme gehen also auf mehr als ein hal-
die Wasserversorgung in eine akute Mangelsitua- bes Jahrhundert Versäumnisse in öffentlicher Hand
tion. Man muss sich vorstellen, ich rede hier nicht zurück. Und das Erschreckende ist: das stimmt! Es
von einem indischen Dorf oder einem afrikani- stimmt – und damit haben wir den gesamten Zyk-
schen Kraal, sondern ich rede von der einst stolzen lus. Es beginnt mit der Unterfinanzierung von Kom-
Hauptstadt des Britischen Empire, einer Weltmet- munen, die in ihrer Finanznot weder zu Neuinvesti-
20 ropole! tionen noch zu Instandsetzungen in der Lage sind.
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Wenn es ganz marode geworden ist, sagt man, die den: wer verantwortet jetzt eine Unterfinanzierung
öffentliche Hand kann es nicht. Wir brauchen priva- der Kommunen und welche strategischen Hinter-
tes Kapital. Man privatisiert also – und die Privati- absichten hat er? Das ist doch eine ganz finstere
sierer sagen, was sie immer gesagt haben, nämlich, Machenschaft!
dass sie schon eine vernünftige Rendite für ihren Und Sigmar Gabriel hat Zahlen genannt. Alles
Kapitaleinsatz haben wollen. So wird die Wasser- was allein im Zuge der Steuererleichterungen den
versorgung zum gewinnträchtigen Geschäft, wo- Kommunen weggenommen wird, ist weit mehr als
bei wiederum nicht genügend Geld übrig bleibt, die Bezuschussung der Kinderbetreuung, die wir
um das marode Netz endlich instand zu halten. Der jahrzehntelang mit Dankbarkeit quittieren sollen
Zusammenhang ist mir wichtig! Das Unterfinanzie- – im übrigen auch weit mehr als das verdienstvol-
ren der Kommunen ist ein wesentlicher Bestandteil le Investitionsprogramm II. Das müssen wir zum
der »Thatcherschen Strategie« gewesen, um die Pri- zentralen Thema machen! Schwarz-Gelb nimmt
vatisierung zu erzwingen. Erst wenn die unterfinan- den Kommunen mehr als die Kommunen unter den
zierte Kommune nicht mehr in der Lage ist, die Da- verschiedensten Vorzeichen in der Vergangenheit
seinsvorsorge gut zu gewährleisten, ist es attraktiv erhalten haben und Schwarz-Gelb verschärft eine
zu sagen, die können es nicht, wir brauchen private ohnehin schon dramatische Krisensituation der
Unternehmer – die können besser wirtschaften. kommunalen Haushalte, die durch konjunkturbe-
Dieser Gesichtspunkt ist mir wichtig, denn ich habe dingte Mindereinnahmen und konjunkturbedingte
die große Sorge – aber das ist nicht originell, die Sozialmehrausgaben gekennzeichnet ist in einer
müssen wir alle haben –, dass jetzt die Finanznot in schlichtweg unverantwortlichen Art und Weise.
Folge der Finanzkrise abermals genutzt wird, damit Genossinnen und Genossen, wenn es uns
ausgerechnet die größten Bankrotteure, nämlich nicht gelingt, diesen zentralen Aspekt so klar zu
die Repräsentanten der entfesselten Finanzmärkte, machen, dass ihn wirklich jede Endverbraucherin
wieder daherkommen und sagen: »Die Kommunen, und jeder Endverbraucher kommunaler Leistun-
die die Finanzkrise ja auszubaden haben, die kön- gen versteht, dann wird man nur uns, weil wir in
nen nicht vernünftig mit Geld umgehen. Ihr müsst vielen Rathäusern für die Kommunen stehen oder
uns diese Geschäftszweige übergeben.« Und des- für die Kommunalpolitik in künftiger Zeit gerade
21 wegen meine ich, darüber muss gesprochen wer- stehen wollen, verantwortlich machen und das darf
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

nicht gelingen. Wenn Bäder geschlossen werden, oft, eine völlige Übereinstimmung zwischen roten,
was landesweit der Fall ist, wenn Bibliotheken ge- schwarzen und grünen Oberbürgermeistern. Also
schlossen werden, wenn Gebühren steigen, wenn alles was ich über die Gewerbesteuer sage oder
Eintrittspreise steigen, wenn Kita-Gebühren nicht über Finanzforderungen der Kommunen, würde
erlassen werden können, dann hat es immer mit Petra Roth aus Frankfurt auch unterschreiben. Und
der Finanzausstattung der Kommunen zu tun. Aber die Kommentare unseres bayerischen Landesvor-
der schwarz-gelbe Trick ist, nicht über die Ursachen sitzenden, Hans Scheidinger, CSU Regensburg, sind
zu reden, sondern ganz scheinheilig dann sogar in fast genauso scharf und ablehnend wie das was
den Kommunen zu sagen: »Auch Liberale sind für ich eben über die Koalitionsvereinbarung gesagt
Gebührenfreiheit im Kindergarten« oder »Libera- habe. Das ist einerseits erfreulich, die Kommunal-
len blutet das Herz, wenn eine Stadtbibliothek ge- politiker ziehen an einem Strang, aber andererseits
schlossen wird.« Das müssen wir doch mal angrei- erschwert es auch die Bevölkerung für sozialdemo-
fen! kratische Kommunalpolitik zu begeistern.
Ich sag es mal etwas markig: wer so den Kom- Viele sagen ja schon, es gibt keine sozialde-
munen mutwillig Milliarden nimmt, der hat jedes mokratische oder konservative oder liberale Kom-
Recht verloren dann kommunale Zusatzleistungen munalpolitik, sondern nur Gute oder Schlechte. Und
oder Gebührensenkungen zu fordern. Das ist wirk- das hat man ja über Wirtschaftspolitik auch schon
lich nur noch ein Täuschungsmanöver, das wir nicht mal gesagt. Es soll sogar ein Niedersachse gewesen
durchgehen lassen dürfen! sein. Und da wird dann die Ratlosigkeit der Partei
Genossinnen und Genossen, wenn wir für natürlich größer. Und manchmal weiß man es bei
sozialdemokratische Kommunalpolitik werben Einzelthemen wirklich nicht mehr. So wie sich Ur-
wollen – und ihr werdet es die nächsten zwei Jah- sula von der Leyen für Kinderbetreuung eingesetzt
re tun – dann stellt sich natürlich die Frage: was ist hat, ist wirklich der programmatische Unterschied
denn an der Kommunalpolitik, die wir wollen, sozi- zwischen Sozialdemokraten und Christdemokra-
aldemokratisch? Es gibt ja tatsächlich irritierende ten bei diesem Spezialthema für viele im Lande
Sachverhalte. Wir haben im deutschen Städtetag – nicht mehr erkennbar. Wie war die Welt noch vor 15
Herbert Schmalstieg kann das gleich für Jahrzehn- Jahren schön, da hat die CSU bei uns in München
22 te bestätigen – oft, nicht immer, aber unheimlich noch gesagt: »Wer Krippen baut, der will die Eltern
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

enteignen und die Kinder verstaatlichen.« Da wa- nicht verweigert werden darf. Also manche Unter-
ren noch schöne, knackige Konflikte gegeben und schiede sind uns tatsächlich abhanden gekommen.
jeder wusste, was sozialdemokratische Politik für Und deswegen meine ich, dass eine SPD, die einen
Familien mit Kindern ist. Bei Ursula von der Leyen Kommunalwahlkampf vorbereitet, gut beraten ist,
ist der Gegensatz verloren gegangen. Oder: wir wa- nicht nur vor Ort die besseren Antworten auf tech-
ren die Partei mit einem offenen Herz nicht nur für nische Fragen zu geben – das müssen wir ohnehin
Studentenunruhen, sondern auch für Bürgerinitia- –, sondern zusätzlich ein gesellschaftspolitisches
tiven. Die haben sich eingesetzt, dass Mieter nicht Profil zu entwickeln. Und ich will hierfür die Stich-
vertrieben werden oder Kinderspielplätze errichtet worte nennen:
werden. Sozialdemokraten hatten ein offenes Herz Ich halte den Programmsatz: »Mehr Demo-
dafür. Aber inzwischen gibt es auch Bürgerbegeh- kratie wagen« von Willy Brandt, nach wie vor für ei-
ren - nicht in Niedersachsen – , sondern in Hamburg, nen Markenkern sozialdemokratischer Stadtpolitik.
die gegen integrative Schulpolitik sind. Und es gibt Das heißt natürlich auch Transparenz der Verfahren,
Bürgerinitiativen gegen Behinderteneinrichtungen Bürgereinbindung ernst nehmen. Ich meine aber, es
im eigenen Viertel, weil die die Immobilienpreise heißt auch Eines: Hemmungslose Kungelei bei Auf-
sinken lassen. Der Anblick von Rollstuhlfahrern soll stellung von Kommunallisten passt zu diesem heh-
preismindernd sein. Also: die pauschale Aussage, ren Anspruch verteufelt schlecht.
jede Form von Bürgerinitiative und Bürgerbegehren Meistens wird mehr Demokratie ja nur dort
ist per se schon unterstützungswürdig, würden wir versprochen, wo man sich die Unterstützung eige-
heute auch nicht mehr über die Lippen bringen. Und ner Forderungen erwartet. Also selbst die CSU ist
beim Stichwort »Integration« müssen wir zugeben: plötzlich für Bürgerbegehren, aber nur wenn es um
die Konservativen haben wirklich dazu gelernt. Sie die Frage geht, ob die Türken in die EU sollen. Bei al-
haben jahrzehntelang wieder besseres Wissen ge- len anderen Fragen, die die Vormachtstellungen der
sagt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Konservativen in Frage stellen würden, sind sie na-
Das war die konsequente Verweigerung der Reali- türlich dagegen. Aber auch SPD-Kommunalpolitiker
tät. Aber inzwischen gibt es Integrations-Gipfel im sollten Bürgerbeteiligung nicht nur propagieren
Kanzleramt und zumindest eine Verständigung da- wo es ihnen gelegen kommt, sondern auch da wo
23 rüber, dass Integration gestaltet werden muss und man es wirklich vorleben kann. Und ich meine, das
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Thema Listenaufstellung eignet sich sehr gut dafür Erstens: Wir müssen den Kampf um die Ge-
oder auch die Aufstellung von Spitzenkandidaten werbesteuer wieder zu einem zentralen Thema
und Bürgermeisterkandidaten. Natürlich weiss die machen. Ohne Gewerbesteuer gibt es nicht nur
Mitgliedschaft unserer Partei wahrscheinlich bes- keine starken Städte, es gibt dann überhaupt keine
ser als ein kleiner Funktionärskader, welche Persön- handlungsfähigen Kommunen mehr. So schaut es
lichkeit der Gesamtbevölkerung präsentiert werden doch aus.
soll. Aber es schmälert die Macht der kleinen Funk- Nun hat Hannover beim Thema Gewerbe-
tionärskader und da sollten wir mal ehrlich sein und steuer keinen besonderen Wohlklang. Es scheint
sagen: Jawoll, wir wollen wirklich mehr Demokratie hier ein italienisches Restaurant zu viel zu gegeben,
wagen – sogar in unserem eigenen Beritt! wo mal die Gewerbesteuer sehr schlecht wegge-
Zweites Thema: Ich denke, dass sozialdemo- kommen ist. Aber in der Zwischenzeit ist doch al-
kratische Stadtpolitik immer in der Finanzpolitik len Sozialdemokraten, und dankenswerter Weise
am besten zu erkennen ist. Wir sind für eine sozi- der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, und
algerechte Finanzierung. Leider hat die SPD auch dankenswerter Weise dem ehemaligen sozialde-
einige Zeit lang sogar Tüten drucken lassen mit der mokratischen Finanzminister Peer Steinbrück klar
Aufschrift »Steuern senken«. Das musste noch vom geworden: Es gibt keinen Ersatz für die Gewerbe-
Steuerzahler bezahlt werden, dass das Bundespres- steuer. Aber hier präsentiert uns der schwarz-gelbe
seamt solche Tüten in Umlauf gebracht hat. Ich ha- Koalitionsvertrag die größte Provokation – obwohl
dere heute noch damit, denn eine populistischere wir ein jahrzehntlang rauf und runter berechnet
Aussage kann es ja gar nicht geben. Es ist nicht mal und nachgewiesen haben, dass es für die Gewerbe-
gesagt worden, welche Steuern um wie viel. Es hieß steuer keinen Ersatz gibt. Weil es nur die Möglichkeit
nur »Steuern senken.« Das ist unsere Verheißung, gibt, entweder die Kommunen schlechter zu stellen
das halte ich nicht für sozialdemokratisch. Ich glau- – was angeblich niemand will – oder aber die Lasten
be sozialdemokratische Kommunalpolitik muss auf die Umsatzsteuer draufzusatteln, also den Ver-
ehrlich sagen wie sie all das was sie in der Kommu- braucher noch mehr zur Kasse zu bitten. Oder aber
ne realisiert bekommen will, auch zu finanzieren mittels Zuschlag die Einkommenssteuer zu erhö-
gedenkt. Und deswegen möchte ich für zwei Dinge hen. Mit anderen Worten also die Berufstätigen zur
24 eintreten.: Kasse zu bitten. Obwohl dies rechnerisch einwand-
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

frei nachgewiesen ist durch wissenschaftliche Stu- Und die andere Möglichkeit, die das Koali-
dien und durch Berechnungen des Bundesfinanz- tionspapier nennt, ist ein Zuschlagsrecht auf die
ministeriums, steht in der Koalitionsvereinbarung Einkommenssteuer. Und das muss man sich mal
wieder: Die Gewerbesteuer sei überholt und sie plastisch vorstellen. Es geht hier um immerhin im
müsse durch andere Modelle abgelöst werden. Und vergangen Jahr 40 Milliarden Euro. Glaubt denn ein
dann wird auf die Möglichkeiten Umsatzsteuerbe- Mensch, dass man 40 Milliarden Steueraufkommen
teiligung oder Zuschlagsrecht auf die Einkommens- auf die Einkommenssteuer draufschlagen kann,
steuer hingewiesen. Ich halte das für eine Provoka- nur damit gewinnstarke Unternehmen entlastet
tion, die wir voll annehmen und in den Mittelpunkt werden und stattdessen Berufstätige die Zeche be-
rücken sollten. Was heißt es denn Anderes als die zahlen dürfen. Eine vollkommen irre Vorstellung,
Wirtschaft zu entlasten und stattdessen alle Ver- aber wenn sie es im Sinn haben, dann muss man sie
braucher des Landes bluten zu lassen, wenn man es schon mal fragen, wie sich das mit dem verlogenen
auf die Umsatzsteuer umlegt. Wahlkampf »Mehr Netto vom Brutto« verträgt. Das
Es gibt, Genossinnen und Genossen, im Bund wäre ja die größte Steuererhöhung bei der Einkom-
und den Bundesländern – und das ist eine ziemlich menssteuer.
schwarze Angelegenheit – keinen einzigen Finanz- Ich bin immer wieder der Vorstellung begeg-
minister, der einen Spielraum sieht aus dem Um- net, man könne in Kommunalwahlkämpfen über al-
satzsteueraufkommen Anteile wegzunehmen und les reden: Über Kindergärten, über Seniorenheime,
den Kommunen zu geben. Kein einziger schwarzer über Krankenhäuser, bloß bitte nicht über so sperri-
Finanzminister sieht diese Möglichkeit. Es geht also ge Sachen wie Daseinsvorsorge oder gar über Steu-
doch nicht um Umsatzsteuerumverteilung, son- erpolitik. Ich kann euch sagen, ich habe das strikte
dern es geht ausschließlich um eine zusätzliche Gegenteil gemacht. Ich hab meinen letzten Wahl-
Mehrwertsteuererhöhung, um die gewinnstarken kampf mit der Verteidigung der Daseinsvorsorge
Unternehmen des Landes zu verschonen und zu gegen die Privatisierungsideologie und mit dem of-
entlasten. Eine sozialungerechtere Finanzneurege- fenen Kampf für die Gewerbesteuer gegen schwarz-
lung könnte es überhaupt nicht geben. Dies müs- gelbe Reformvorstellungen geführt. Und ich denke,
sen wir klar aussprechen! dass eine Zweidrittel-Mehrheit ganz ordentlich ist.
25 Vielleicht wäre es ohne besser gegangen.
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Es ist einfach nicht wahr, dass die Leute nur thi und Plethi aus dem sozialen Wohnungsbau. Die
Versprechungen hören wollen und keine bittere Sozialwohnungen sollen anderenorts entstehen -
Wahrheit über die Finanzierung. Ich nehme das ohne sich in die Quere zu kommen. Ich denke, die
Gegenteil wahr, die Leut´ wissen, dass jedem Ver- sozialdemokratische Antwort: »Integration in je-
sprechen irgendwann die Finanzierungsfrage folgt. dem Bebauungsplan« ist die bessere Antwort. Wir
Und wenn man vorher ehrliche, durchgerechne- wollen weder Ghettos für die Armen noch Gebiete
te Antworten gibt, ist ihnen das lieber als wenn für die Privilegierten. Wir wollen den Gedanken der
man das Blaue vom Himmel herunter verspricht. Integration.
Jedenfalls kann man – behaupte ich – auf jeder Und ein weiterer Punkt ist die Frage, ob die
Bürgerversammlung und auf jedem kommunalen Städte sich wegen der Finanznot gesundschrump-
Stammtisch und überall in der Stadt sagen, wer an fen sollen – früher sagte man noch werbewirksa-
die Stadt Erwartungen hat, wer von der Kommune mer »verschlanken« – oder ob wir offen dafür ein-
mehr erwartet, der muss sich auch um die Finan- treten, dass wir in Zukunft wohl mehr Kommune
zierung kümmern und deswegen muss man den brauchen und auf gar keinen Fall weniger. Ich will
schwarz-gelben Parolen eine klare Absage erteilen. das kurz begründen: Die Konservativen sagen, die
Drittes Kennzeichen, auch wenn da die Kanz- Kommune müsse sich verschlanken. Sie müsse
lerin einen verdienstvollen Integrations-Gipfel Aufgaben weggeben, sie könne viele Aufgaben pri-
macht. Ich glaube, dass die Integration nach wie vatisieren – als ob es dadurch billiger würde – weil
vor sozialdemokratischer Markenkern in der Stadt- kein Geld da ist. Ich erlebe allerdings Konservative
politik ist. Wir müssen nur mehr Beispiele nennen und Liberale nur in der entgegengesetzten Rolle
als nur Deutsche und Ausländer. Da haben die Kon- wenn es konkret wird. Dann fordern FDP-Ehepaare
servativen dazu gelernt und das ist sehr erfreu- und Doppelverdiener natürlich mehr Kita-Plätze
lich. Aber es gibt immer noch viele Beispiele wo und zwar kostenlos. Und sobald der eigene Vater
sie eben nicht für Integration sind. Zum Beispiel in ein bisschen daddelig wird wollen sie kommunale
der Stadtplanung, wo wir für soziale Mischung in Dienstleistungen, die es rund um die Uhr ermögli-
jedem Quartier werben, während Konservative im- chen, weiterhin ein selbständiges Leben zu führen.
mer noch gemeinsam mit Bauträgern gerne ganz Und für die städtischen Orchester darf es sowieso
26 privatfinanzierte Wohngebiete hätten. Ohne Kre- nur die teuersten Dirigenten der Welt geben, weil
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

sonst alles andere ein Untergang des Abendlandes keine Großfamilie oder Stammbelegschaft mehr
wäre. Das heißt, sie fordern ja in Wahrheit immer haben, in der sie sich bewegen, erwarten sie die
mehr von der Kommune, wollen sie aber schlechter Befriedigung all dieser Kommunikationserlebnisse,
alimentieren. Das kann nicht aufgehen. Wir haben dieser Gemeinschaftserlebnisse von der Kommu-
gerade wegen der Wandlungsprozesse die auf un- ne. Deswegen müssen wir Bürgerhäuser schaffen
sere Kommunen zukommen in Zukunft mehr Auf- oder Mieterbüros. In den sozialen Wohnungsbau-
gaben. Stichwort »Demographischer Wandel«. Wir gebieten müssen kulturelle Angebote in der Stadt-
werden immer älter. Also werden die Angebote für teilkultur entstehen, die vor Jahrzehnten noch gar
die Älteren – nicht mehr ganz selbständige Gene- nicht nachgefragt wurden. Also ich behaupte, wir
ration – besser und passgenauer werden müssen. sind auf der Höhe der Zeit wenn wir wachsende Be-
Wir haben immer weniger Kinder. Deswegen müs- dürfnisse an die Kommune – gerade in der digita-
sen wir kurioser Weise mehr für Kinder tun, damit len Welt und in der globalisierten Welt zur Kenntnis
Eltern sich wieder entschließen, Kinder in die Welt nehmen – und nicht wie die Konservativen und Li-
zu setzen und die Betreuung gewährleistet ist. beralen von der Abgabe der Aufgaben und der Ver-
Und wir werden immer bunter. Schon allein schlankung der Kommune als Zielsetzung reden.
in der ethnischen und sprachlichen Zusammenset- Ein weiteres Thema wo wir mal Meinungs-
zung. Das fordert uns in Zukunft Integrationsleis- führerschaft hatten, aber in beängstigender Weise
tungen ab, die es in den 50er und 60er Jahren noch verlieren, ist die Gleichstellung der Frau. Ich glaube,
gar nicht gegeben hat. Und ich behaupte, dass sogar dass die SPD bei kaum einem Thema mehr Trümpfe
der technische Wandel an die Kommunen ständig in der Hand hatte und leichtfertig unter den Tisch
neue Anforderungen stellt. Es ist ja nicht wahr, dass fallen lies. Was hatten wir mal für eine stolze Ar-
die Menschen, die schon zur Ausbildung und dann beitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen.
zur Berufstätigkeit und auch noch in der Freizeit Wie sind wir einmal für Gleichberechtigung und
vor der Glotze sitzen, am Computerarbeitsplatz, am Gleichstellung gestanden. Und jetzt sind wir doch –
Computerausbildungsplatz oder vor dem Fernseh- ich sage dass als Politiker männlichen Geschlechts
programm deswegen von der Kommune weniger über 60 – in der öffentlichen Wahrnehmung sehr
erwarten. Ganz im Gegenteil: weil sie mit einem vir- stark die Partei der älteren Männer. Und Frauenthe-
27 tuellen Leben nicht einverstanden sind, aber auch men sind uns ausgegangen und wenn man durch
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

die Plakatwälder fährt, haben oft die Konservativen in Frage kommt und bei Aufsichtsräten ist es auch
oder die Liberalen mehr weibliche Kandidaturen an- so. Also die herzliche Bitte, nicht in den letzten drei
zubieten als wir. Leichtfertig verschenktes Gelände, Wochen sagen, wir treten für Frauen ein, sondern es
ich denke, wir müssen wieder die Partei der Gleich- die nächsten zwei Jahre lang tun, wo immer ihr eine
stellung, der fortschrittlichen Frauen werden. Und Chance dazu habt.
da gibt es enorm viele Handlungsmöglichkeiten im Ich habe schon angedeutet, dass kommunale
kommunalen Bereich. Damit quäle ich euch gerne. Daseinsvorsorge einer der Werte und Zielsetzungen
Kommt mir jetzt bloß nicht mit Gemeinderä- ist, bei denen wir uns durch Konsequenz von Kon-
tinnen. Ich weiß, dass wir beim Ehrenamt günstig servativen und Liberalen absetzen können. Das ist
und freundlich sind. Nein, ich rede mal davon, wo wirklich so. Es gibt zwar nicht in jeder Stadt – aber
in der kommunalen Familie Geld verdient wird. Wie in vielen Städten – Beispiele für konservative und li-
viele weibliche Sparkassenvorstände gibt es denn? berale Sündenfälle. In Dresden wurde unter CDU/
Ich erinnere mich an eine Strategietagung in Berlin. FDP-Führung der gesamte kommunale Wohnungs-
Da hab ich zu 1100 Sparkassenvorständen gespro- bestand verkauft. In Stuttgart sogar die Wasserver-
chen, es waren zwei Frauen im Saal. Die Eine war sorgung, in Düsseldorf die Energie, in Hamburg hat
die stellvertretende Dezernentin des Städtetages, man die Privatisierung der Krankenhäuser – sogar
Monika Kuban und dazu kam die Protokollführerin trotz eines anders lautenden Bürgerentscheids –
vom Sparkassen- und Giroverband. 1100 Sparkas- weiter betrieben und der Privatisierung der Ener-
senvorstände, dort wo wirklich Geld verdient wird. giewirtschaft trauert man in Hamburg heute noch
So klein kann eine Sparkasse gar nicht sein, dass der nach, so dass man jetzt die rührende Idee hat, ein
Vorstand nicht mehr verdient als der Münchener ganz klitzekleines Stadtwerk zu bauen, damit man
Oberbürgermeister, aber keine Frau im Saal. Also auch wieder ein kommunales Unternehmen hat
wenn das kein Punkt ist wo man Glaubwürdigkeit und in der Energiepolitik mitspielen kann. Eine wirk-
in der Frauenpolitik erwerben kann, dann weiß ich lich trostlose Nummer, wenn man mal die Hambur-
nicht weiter. Dasselbe gilt – nicht hundertprozen- ger Elektrizitätswerke hatte und einfach nur hätte
tig, aber weitgehend – für die kommunalen Stadt- behalten müssen.
werke, wo man oft sagt, es gibt halt kein geeignetes, Wir sollten in diesem Punkt mal Bürgerent-
28 weibliches Führungspersonal, das für Spitzenämter scheide studieren. Ich habe mir die Statistik vom
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Städtetag geben lassen. Es hat schon über 100 vatisierung gerungen wird. Ich glaube, dass man
Bürgerentscheide zur Privatisierungsfrage gege- nicht umhin kommt, einen Fehler auf Bundesebene
ben. In Kleinstädten, Mittelstädten, Großstädten, einzugestehen, um eine konsequente Haltung ge-
Millionenstädten, im Osten, im Westen, im Süden, gen unsinnige Privatisierungen zu propagieren und
im Norden. Und in sämtlichen Fällen – ohne eine glaubwürdig zu vertreten.
einzige Ausnahme! – hat die Bürgerschaft gegen Genossinnen und Genossen, ich will noch Ei-
die Privatisierung abgestimmt. nes erwähnen, das nicht zum Markenkern der SPD
Wir müssten doch wirklich bescheuert sein, gehört, aber einfach hinzuerworben werden muss.
wenn wir dies nicht endlich zur Kenntnis nehmen Bei uns in München – und das ist bei anderen Wer-
und endlich zu einem Kampfthema machen wür- ken nicht anders – ist die kommunale Wirtschaft
den, Genossinnen und Genossen! immer mehr zum Vorreiter erneuerbarer Energien
Aber zwei selbstkritische Einwände müssen und ökologischer Politik geworden. Ich gebe sogar
hier natürlich sein. Unsere Auftritte wären klang- zu – ungern, aber aus Wahrheitsgründen muss es
voller und glaubwürdiger, wenn wir nicht an Priva- sein – gelegentlich sind wir von den Grünen dazu
tisierungsvorhaben, die wir selber nicht verstanden getreten worden. Wir hatten noch die Idee, mit ei-
haben, hätten jahrelang mitwirken müssen. Stich- ner großen Kohlekraftwerkbeteiligung so viel zu
wort: »Bahnreform«. Ich habe über diese Frage mit verdienen, dass wir uns damit erneuerbare Energi-
Mehdorn diskutiert, mit den bayerischen Bahnvor- en leisten können. Es hat sich dann herausgestellt,
ständen, mit Tiefensee und seinem Amtsvorgänger. dass die Kohle gar nicht so profitabel ist und man
Und mir hat kein Mensch erklären können, wieso auch die erneuerbaren Energien gleich in Angriff
der Bahnbetrieb leichter die höhere Rendite erwirt- nehmen kann. Aber heute schaut es so aus, dass
schaftet, die ein privater Investor verlangt, als die wir – und das muss man natürlich in der Größen-
niedrigere Rendite, die bei Bundesschatzbriefen zu ordnung sehen – in den nächsten Jahren, so viel in
zahlen ist. Keiner hat es mir erklären können. Dann erneuerbare Energien investieren können, dass wir
frage ich mich: warum wir uns ganze Parteitage da- bis 2015 sämtliche Privathaushalte und bis 2025 so-
mit abgequält haben, wie man die Privatisierung gar zusätzlich noch die Wirtschaftsunternehmen
doch noch über die Runden bringen kann? Das ist mit Strom aus erneuerbaren Energien versorgen
29 ein ganz schweres Manko, wenn um Fragen der Pri- können. Und parallel läuft eine große Solarstadt-In-
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

itiative. Ich meine damit, dass wir das Jahrhundert- der vielleicht auch ein Neofaschist ist, gefolgt ist.
thema Klimaschutz und ökologische Politik nicht Die Städte waren wirtschaftlich in guter Verfas-
den Grünen überlassen dürfen als ob es uns nichts sung – alle drei. Und ich habe in allen drei Fällen
mehr anginge, sondern dass wir im Gegenteil – ohne die sozialdemokratischen Wahlverlierer und die
ihnen Urheberrechte streitig zu machen, wo sie sol- konservativen oder postfaschistischen Nachfolger
che haben – zeigen müssen, dass wir auch auf das interviewt, wie sie sich den Wechsel erklären. Und
Jahrhundertthema Ökologie reagieren. Gerade mit ich habe in allen drei Fällen etwas gehört, was sozi-
der Politik von Sigmar Gabriel als Umweltminister aldemokratischen Gremien und Funktionärskadern
der letzten Jahre können wir das gut untermauern mit ihrer Sozialisation überhaupt nicht gefällt. Aber
und begründen. Denn damit wird auch eine strate- zur Kenntnis nehmen müssen wir es trotzdem. In
gische Option deutlich. Rot-Grün ist für mich nicht allen drei Fällen lautete die gesamte Wahlanalyse:
nur ein Farbenspiel, sondern wie hier in Hannover Sicherheit und Sauberkeit. Die SPD hatte den Ruf
auch ein Synonym für soziale und ökologische Poli- die Sicherheit gewährleisten zu können, zumindest
tik. Und eine solche plausible Option brauchen wir. alle Anstrengungen dafür zu unternehmen, und sei
Wir dürfen nie mehr in die Lage vor dem 27. Septem- es rund um die Hafenstraße, verspielt. Ebenso rund
ber 2009 stürzen, dass wir überhaupt nicht sagen um die Frankfurter Oper, mit einer offenen Drogen-
können, mit wem wir warum zusammenarbeiten szene, wo man einfach achselzuckend sagte, die
wollen in der Regierung. jungen Leute sind so, da kann man nichts machen.
Eine allerletzte Anmerkung, erlaubt mir noch, Und in Rom hat Veltroni eine traumhafte Kultur-
die mich aber unheimlich umtreibt. Man muss ja politik gemacht. Filmförderung, die international
nicht nur wissen, womit man Wahlen gewinnt, gewürdigt wurde, bei Kongressen in Südamerika.
man muss auch wissen, womit man sie zuverlässig Aber abgewählt wurde seine Partei, weil man mit
verlieren kann. Ich hab mich mit einigen Wahlver- Verslummungserscheinungen in der Altstadt nicht
lusten in Europa intensiv beschäftigt. Zum Beispiel fertig wurde. Ich bitte euch selbst gegen eure Sozi-
Hamburg, jahrzehntelang sozialdemokratische alisation – und ich spreche hier auch gegen meine
Hochburg, zum Beispiel Frankfurt, jahrelang ab- Sozialisation –, ich bin im Künstlerviertel Schwabin-
solute SPD-Mehrheiten und zuletzt Rom, wo auf gen aufgewachsen, mit Studentenunruhen groß
30 einen Sozialdemokraten Veltroni ein Postfaschist, geworden, hab als Rechtsanwalt Hausbesetzer ge-
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

gen die Polizei vertreten und sogar Schmerzensgeld als Sekundärtugend brandmarken und dem Wähler
durchsetzen können. Aber dieses müssen wir zur sagen, dass seine Bedürfnisse falsch liegen. Die Ant-
Kenntnis nehmen: die Bevölkerung – und zwar ge- wort wird sein, dass er gar keine tolle Antwort weiß,
rade unsere Arbeiterklientel und kleinbürgerlichen aber uns halt nicht wählt.
Schichten – haben diese Mindestanforderungen an Und deswegen bitte ich, wenn man von »mehr
die Kommunalpolitik. Ich will mich sicher fühlen – Demokratie wagen« spricht, gehört auch dazu, dass
was auch mein gutes Verfassungsrecht ist. Ich will man Bevölkerungsbedürfnisse ernst nimmt, die
körperliche Unversehrtheit und ich will, dass das man selber nicht so prioritär ausgestalten würde,
Stadtbild sauber ist, ich nicht über Glassplitter oder die aber den Menschen, wie sie nun einmal sind,
Butterbrotpapier stolpere oder mich über jeden wichtig sind. Und deswegen bitte achtet auch auf
Anblick ärgern muss. Das können wir kulturkritisch dieses Thema. Danke für die Aufmerksamkeit.

31
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Forum 1
Infrastruktur und Energieversorgung – Anfor-
derungen an die kommunale Daseinsvorsorge
Thesenpapier (Verfasser: Hauke Jagau)

1. Kommunale Unternehmen sind die Basis für 6. Kommunale Unternehmen müssen sich an Ih-
eine gesicherte öffentliche Daseinsvorsorge, für ren Leistungen und an ihrer Wirtschaftlichkeit
den Erhalt der Steuerungsfähigkeit und für eine messen lassen, sie dürfen kein Selbstzweck sein.
demokratische Kontrolle wichtiger Bereiche un- Die wirtschaftliche Betätigung der Kommunen
seres Gemeinwesens. muss für Bürgerinnen und Bürger sowie Politik
2. Stadtwerke, kommunale Entsorger, Wohnungs- transparent sein.
und Verkehrsunternehmen haben ein solides 7. Wirtschaftlichkeit darf nicht zu Lasten fairer und
Wertefundament und tragen zur Umsetzung tariflicher Löhne gehen. Es darf nicht zu einem
gesellschaftlicher Ziele wie dem Klimaschutz Unterbietungswettbewerb mit Dumpinglöhnen
bei. kommen. Beschäftigte in öffentlichen wie privaten
3. Kommunale Sparkassen bilden das Fundament Unternehmen müssen von ihren Löhnen ohne zu-
der regionalen Kreditversorgung, sind der wich- sätzliche Sozialleistungen leben können. Eine faire
tigste Partner für Mittelstand und Existenzgrün- Partnerschaft zwischen Gesellschaftern und Ar-
der und unterstützen Kultur, Sport und gesell- beitnehmerseite ist die Basis für eine erfolgreiche
schaftliches Engagement. Ausrichtung – und wo erforderlich auch Restruktu-
4. Für die öffentliche Daseinsvorsorge stehen nicht rierung – kommunaler Unternehmen.
kurzfristige Gewinne, sondern dauerhafte Ver- 8. Regionale und überregionale Zusammenarbeit
sorgungssicherheit der Bevölkerung und gute bei der öffentlichen Daseinsvorsorge kann zur
Servicequalität im Vordergrund. Privatisierun- Erhöhung der Wirtschaftlichkeit, zur Qualitäts-
gen sind vor diesem Hintergrund oftmals kurz- verbesserung und damit zur Sicherstellung gu-
sichtig, nachhaltige Politik setzt auf langfristige ter Leistungsangebote in städtischen Ballungs-
Effekte. räumen wie in der Fläche beitragen.
5. Die Renaissance kleinerer Stadtwerke und kom- 9. Die niedersächsische SPD steht für:
munaler Entsorger in den Kommunen wird von — Flächendeckende und sichere Versorgung der
der SPD aktiv vorangetrieben. Kooperationen Bevölkerung mit qualitativ guten Dienstleis-
und neue technische Möglichkeiten können tungen zu bezahlbaren Preisen
dazu beitragen, dass auch kleinere Kommunen — Erhalt der kommunalen Entscheidungs- und
32 mehr Steuerungsfähigkeit erlangen (s. Integra). Handlungsfähigkeit vor Ort
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

— Keine Filetierung der kommunalen Daseins- — Interkommunale Kooperationen und Koope-


vorsorge in lukrative privatwirtschaftliche rationen von kommunalen Unternehmen, die
und defizitäre öffentlich organisierte Leistun- zu leistungsfähigeren und kostengünstige-
gen (»Rosinenpickerei«) ren Strukturen im Interesse der Bürgerinnen
— Transparenz über die wirtschaftliche Betäti- und Bürger führen, müssen generell von den
gung der Kommunen und Erhöhung der Wirt- Regelungen des Wettbewerbsrechts ausge-
schaftlichkeit nommen werden.
— Faire Löhne in öffentlichen wie privaten Un- — Die Kommunen benötigen einen sicheren
ternehmen und ein gesetzlicher Mindest- Rechtsrahmen für Inhouse-Vergaben. Dabei
lohn soll auch die Inhouse-Fähigkeit von gemischt-
— Ausrichtung der kommunalen Unternehmen wirtschaftlichen Unternehmen (PPP) abgesi-
auf gesellschaftliche Ziele wie Klimaschutz, chert werden, sofern ein beherrschender öf-
Zugang einkommensschwächer Bürgerinnen fentlicher Einfluss besteht.
und Bürger zu Leistungen und Steigerung der — Die Organisationsfreiheit der Kommunen in
Lebensqualität vor Ort der Wasserwirtschaft muss gewahrt bleiben.
— Erhalt der kommunalen Sparkassen in öffent- Art und Umfang einer kommunalen Aufga-
licher Trägerschaft benerfüllung liegt allein bei den Kommunen.
10. Der rechtliche Rahmen durch EU und Bund be- — Soziale Aspekte und tarifliche Arbeitsbedin-
droht den Bestand kommunaler Unternehmen gungen müssen als Kriterien bei Auftrags-
und damit die kommunale Selbstverwaltung. vergaben im Vergaberecht deutlich gestärkt
Deshalb macht sich die niedersächsische SPD werden.
stark für:
— Die kommunale Gestaltungsfreiheit in der
Daseinsvorsorge ist im EU-Vertrag von Lissa-
bon als übergeordnetes Recht definiert wor-
den. Dies muss Eingang in die europäische
Politikgestaltung und das deutsche Wettbe-
33 werbsrecht finden.
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Forum 2
Stadt gestalten statt verwalten – Anforderun-
gen an die kommunale Selbstverwaltung
Thesenpapier (Verfasserin: Johanne Modder, MdL)

In unseren Kommunen liegt die Wurzel der Demo- strukturelle Besonderheiten, aber auch extremer
kratie. Sie sind das Ergebnis einer langen regionalen Einwohnerrückgang, in anderen Teilen unseres
Geschichte; hier erfahren die Bürgerinnen und Bür- Landes ist die Entwicklung noch stabil.
ger unsere Demokratie: Ob Freiheit und Eigenver- 4. Die Entwicklung der Kommunalfinanzen ist
antwortung, Teilhabe, Menschlichkeit und Solidari- sehr bedenklich. Die strukturelle Finanzkrise der
tät auch gelebt werden, lässt sich hier unmittelbar kommunalen Ebene ist nicht beseitigt, ganz im
erleben. Gegenteil: Zur bestehenden Unterfinanzierung
Ein zukunftsfähiges Niedersachsen ist des- kommen die Auswirkungen der Finanzkrise und
halb auf leistungsstarke Landkreise, Städte und Ge- die Vorhaben der schwarz-gelben Bundesregie-
meinden angewiesen. rung hinzu.
Unsere Kommunen aber stehen vor unge- Eine aufgabengerechte Finanzausstattung
kannten Herausforderungen, weil sich die Rahmen- unserer Kommunen ist und bleibt das Schlüs-
bedingungen für kommunales Handeln und Ge- selthema, wenn es um die Handlungsfähigkeit
stalten spürbar verschlechtern: und Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen
1. Globalisierung und die Internationalisierung der geht: Eine kommunale Selbstverwaltung ohne
Wirtschaftsbeziehungen führen zu einem ver- eigene finanzielle Möglichkeiten verdient diesen
schärften überregionalen und internationalen Namen nicht.
Wettbewerb um Unternehmen und damit um Vor diesem Rahmen müssen sich Gemein-
Arbeitsplätze und um Arbeitskräfte. den, Städte, Samtgemeinden und Landkreise
2. Die demografische Entwicklung, die Integration, neuen Herausforderungen stellen:
die Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge 1. Investitionen in Bildung, verstanden als die
fordern neue Lösungen, auf die Städte, Gemein- Zukunftsaufgabe schlechthin
den und Landkreise nicht immer ausreichend a) deutlicher Ausbau der Krippenplätze,
vorbereitet sind. um eine ausreichende Versorgung zu si-
3. Allerdings sind diese Probleme vielschichtig und chern
regional sehr unterschiedlich: Mancherorts kom- b) Fortentwicklung von Kindergärten und
men mehrere Faktoren zusammen, z. B. geringe –horten als pädagogische Einrichtungen
34 Einwohnerzahlen, hohe Arbeitslosigkeit, infra- c) Ausbau der Ganztagsschulen
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

d) Sicherung von wohnortnahen wei- Um diese Herausforderungen zu bestehen,


terführenden Schulen, die in weiten Tei- muss die kommunale Selbstverwaltung gestärkt
len Niedersachsens nur als gemeinsame werden. Auch hat die Einführung der Eingleisigkeit,
Schule für alle denkbar sind die Bedingungen der kommunalpolitischen Arbeit
2. eine qualitätvolle Familienpolitik mit innova- grundlegend beeinflusst. Die Auswirkungen poli-
tiven Bildungs- und Betreuungseinrichtun- tisch legitimierter Verwaltungsspitzen sind noch
gen und neuen sozialen Netzen nicht überall bewältigt.
3. langfristige u. zukunftsfähige Konzepte für Wir wollen mit diesem Kommunalpoliti-
die Bewältigung der demografischen und schen Kongress die Debatte darüber anstoßen, wie
umweltpolitischen Entwicklungen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
4. Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge uns ein Leitbild einer modernen zukunftsfähigen
und Investitionen in die öffentliche Infra- kommunalen Selbstverwaltung vorstellen.
struktur – auch zur Sicherung der gleichwer- 1. Städte, Gemeinden, Samtgemeinden und
tigen Lebensverhältnisse Landkreise benötigen eine aufgabengerechte
5. Integration als Grundlage für sozialen Zu- Finanzausstattung durch eigene Einnahmen,
sammenhalt aber auch durch einen ausreichenden Anteil
6. leistungsfähige, wirtschaftliche und service- an den Einnahmen des Landes (Finanzaus-
orientierte Verwaltung gleich); die strikte Wahrung der Konnexität
7. Förderung und Stärkung des freiwilligen En- ist Voraussetzung für kommunales Handeln.
gagement 2. Auch in der Gesetzgebung braucht die kom-
8. technischer Fortschritt mit moderner Kom- munale Selbstverwaltung größere Freiräume:
munikationstechnik, die immer schnellere In den Kommunen machen erfahrene Männer
Entscheidungsfindungen erzwingt und Frauen verantwortlich Politik für die Men-
9. stärkere Bedeutung von Fragen der Gesund- schen, die sie gewählt haben; der Gesetzgeber
heitsversorgung auf kommunaler Ebene muss Vertrauen in ihre Entscheidungen haben
und darf nicht alles detailliert vorgeben wollen.
3. Nach der Abschaffung der Bezirksregierun-
35 gen durch die Wulff-Regierung wird eine
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Funktionalreform noch drängender: Aufga- 5. Partnerschaftliche Selbstverwaltung fordert


benverteilung und Aufgabenerledigung zwi- aber auch freiwilliges Engagement in allen
schen Land und Kommunen einerseits sowie Bereichen der Städte und Gemeinden und
zwischen Landkreisen und kreisangehörigen auch neue Instrumente der direkten Demo-
Gemeinden müssen dringend neu und sinn- kratie und andere Beteiligungsformen. Neue
voll geordnet werden. Formen der Kooperation vom Bürgerengage-
4. Kommunale Selbstverwaltung ist gekenn- ment bis zu Public Private Partnerchips mit
zeichnet durch entscheidende Mitwirkung Unternehmen haben hier ebenfalls ihren
ehrenamtlicher Kommunalpolitiker und -po- Platz.
litikerinnen. 6. Die Bedeutung der Kommunalpolitik sollte
a) Das Ehrenamt muss gestärkt werden durch Einrichtung eines kommunalpoliti-
(1) durch Fort- und Weiterbildung schen Ausschusses im Deutschen Bundestag
(2) durch hauptamtliche Unterstützung (in unterstrichen werden.
größeren Kommunen),
(3) durch Verlagerung von Kompetenzen in
die Fachausschüsse
b) Das Verhältnis von Rat und Verwaltung
muss partnerschaftlich ausgestaltet sein:
(1) wichtige Themen müssen – auch ohne
Öffentlichkeit – rechtzeitig vom Rat vorbe-
sprochen sein;
(2) Verwaltungsvorlagen müssen prägnanter,
verständlicher, überschaubarer und früh-
zeitiger vorliegen und außerdem alterna-
tive Lösungsmöglichkeiten enthalten
(3) Das Verhältnis muss von Anerkennung
und Respekt für die ehrenamtliche Arbeit
36 geprägt sein.
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Forum 3
Integrationspolitik in der Einwanderungsge-
sellschaft – Chancen und Teilhabe in unseren
Städten und Gemeinden
Thesenpapier (Verfasser: Andreas Rieckhof)

Die große Mehrheit der Migranten wird künftig ei- Integration gelingt nicht automatisch, sie
nen deutschen Pass haben, so dass nicht mehr die kann auch nicht »von oben« verordnet oder durch
»Ausländerpolitik« im Zentrum der politischen De- politische Beschlüsse herbeigeführt werden.
batte stehen wird, sondern die Frage, wie man zu Der Zugang zu Bildung muss gewährleistet
einem guten Miteinander aller hier lebenden Men- und die Eingliederung in den Ausbildungs- und
schen unabhängig von ihrer Herkunft findet. Arbeitsmarkt muss gefördert werden. Dies gelingt
Zuwanderung sollte als charakteristisch für jedoch nur, wenn alle Beteiligten, Einheimische
unsere Städte verstanden, nicht als gesellschaftli- wie Zuwanderer, die Aufnahmegesellschaft wie die
cher Notstand empfunden werden. Auch die Ein- Selbstorganisationen der Migranten, aktiv und ver-
wanderer früherer Jahrhunderte wurden nicht mit antwortlich daran mitwirken.
offenen Armen empfangen. Der Islam ist, ebenso wie andere Religionen,
Eine entmischte Stadt, in der ethnische oder eine facetten- und auslegungsreiche Glaubens-
soziale Gruppen voneinander getrennt und nicht richtung. Die übergroße Mehrheit der Muslime in
miteinander, sondern nebeneinander her leben, ist Deutschland steht fest auf dem Boden des Grund-
mit unserem Politikverständnis nicht vereinbar. gesetzes. Eine gelungene Integrationspolitik muss
Integration ist eine gesellschaftliche und poli- islamophobe Einstellungsmuster und Vorurteile
tische Schlüsselaufgabe. Dabei kommt es darauf an, abbauen. Neben den religiösen sind vor allem auch
nicht nur Defizite zu beschreiben, sondern auch die die sozialen Aspekte von Migrationserfahrungen in
ungenutzten Potentiale, die durch unzureichende den Vordergrund zu stellen.
Integration der Zuwanderer brach liegen, zu heben. Sozialdemokraten sehen wesentliche Unter-
Die Städte und Gemeinden sollten Zuwanderung schiede zwischen Menschengruppen nicht in der
unter der Bedingung einer erfolgreichen Integrati- ethnischen Herkunft der Menschen, sondern in Be-
on auch als Bereicherung und Stärkung empfinden. zug auf ihre soziale Lage, aber auch ihre Werte und
Von erfolgreicher Integration können wir Überzeugungen.
dann sprechen, wenn sich die Lebensbedingungen Dem steht entgegen, dass viele Menschen
von Menschen mit Migrationshintergrund an die als elementares Merkmal ihres Kulturkreises die
der Einheimischen im Sinne gleicher Chancen und Religion ansehen. Die Revitalisierung der Religion
37 gleicher Teilhabe angenähert haben. in weiten Teilen der Welt verstärkt die Unterschiede
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

zwischen den Kulturen noch. Dies bleibt auch nicht tragen werden. Dies setzt die weitere Etablierung
ohne Auswirkungen auf unsere Kommunen. Auf die einer islamischen Theologie und eine Religionspäd-
kulturelle Dimension des Muslim-Seins hat die SPD agogik mit historisch-kritischem Religionsverständ-
noch zu wenig Antworten gefunden. nis an niedersächsischen Hochschulen voraus.
Die religiöse Praxis der Muslime in Deutsch- Als Querschnittsaufgabe muss Integration
land ist wie bei den Christen in unserem Land sehr in allen Politikbereichen der Landkreise, Städte und
unterschiedlich ausgeprägt. Die Gebetshäufigkeit, Gemeinden verankert werden, in den Kindergärten,
die Einhaltung von religiösen Speisevorschriften, Schulen, Jugendeinrichtungen, in der Stadtentwick-
das Einhalten der islamischen Fastengebote und lung, der Gesundheitsförderung oder der Senioren-
selbst das Kopftuchtragen sind keine Indikatoren arbeit, nicht zuletzt in der Verwaltung und in den
für gelungene Integration. Anders sieht es bei der politischen Gremien selbst.
Teilnahme am gemischtgeschlechtlichen Sport- Ohne gute Sprachkenntnisse und ausreichen-
und Schwimmunterricht, am Sexualkundeunter- de Bildung ist Integration nahezu unmöglich. Auch
richt sowie an Klassenfahrten aus. Die strukturellen wenn Bildung nicht automatisch zu Integration
Integrationsdefizite müssen hier ganz besonders führen wird, weil die Gesellschaft viele weitere Hür-
Anlass verstärkter Integrationsbemühungen sein, den aufbaut, müssen Bildungsanstrengungen und
denn »Verstehen« heißt nicht überall auch »akzep- Bildungsförderung früh ansetzen. Dabei ist es not-
tieren«. wendig, bei »bildungsfernen« Familien unter den
Das Akzeptieren einer multikulturellen Welt Migranten den Nutzen einer guten Bildung und
mit ihren unterschiedlichen Werten und Normen Ausbildung klarer als bisher zu machen, um den Bil-
findet in diesem Land seine Grenzen dort, wo die dungshunger der Jüngeren zu wecken.
Freiheit des Individuums im Sinne der demokrati- Gewalt gegen Frauen in Migrantenfamilien
schen Tradition der Bundesrepublik Deutschland ist nicht ein soziales oder Bildungsproblem, son-
unzulässig beschränkt werden soll. dern es sind teilweise andere Werte und Ziele, nach
Dem unter Muslimen in Deutschland sehr denen in solchen Fällen hier gelebt wird. Eine Welt-
verbreiteten Wunsch nach Einführung islamischen, sicht, die auf autoritären Erziehungszielen beruht,
dem Grundgesetz entsprechenden Religionsunter- ist nicht hinnehmbar. Die Gleichberechtigung von
38 richts an öffentlichen Schulen, sollte Rechnung ge- Mann und Frau auf allen gesellschaftlichen Ebenen
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

ist der Lackmustest für erfolgreiche Integration in lime aller Richtungen. Der Dialog zwischen Christen
Deutschland. und Muslimen hingegen ist Aufgabe der Kirchen
Die interkulturelle Öffnung einer Verwaltung und Religionsgemeinschaften, nicht der »Stadt-
muss »Chefsache« der Verwaltungsspitze sein, oberhäupter«. Gleichwohl sollten Hauptverwal-
wenn sie erfolgreich werden soll. tungsbeamte und Fraktionen auch mit den Trägern
In manchen Kommunen sind Ausländerbei- von Moscheen in regelmäßigen Kontakt stehen und
räte einberufen oder gewählt worden. Die Erfah- diese auch besuchen.
rungen damit sind unterschiedlich, weil ihre Legi- Die politischen Parteien und insbesondere
timation durch hohe Wahlbeteiligung nicht immer die SPD sind aufgefordert, ihre Gremien und Kan-
gegeben ist und sie von vielen Migranten als »Spiel- didatenlisten für Migranten zu öffnen. Migranten
weise« betrachtet werden, die sie aus der realen in einer Fraktion oder Partei sollten nicht unbe-
Politik heraushält. Je mehr Migranten die deutsche dingt für Migrationspolitik zuständig sein und als
Staatsbürgerschaft erwerben, desto mehr verlieren Migrationspolitiker wahrgenommen werden, aber
sie Legitimation. Es bietet sich aber in jedem Fall an, ohne Migranten in den Vorständen, Delegiertenver-
in den Städten und Gemeinden »Runde Tische« zur sammlungen und Fraktionen lässt sich auf Dauer
Integration einzuberufen. die Ernsthaftigkeit von sozialdemokratischer Integ-
Längerfristig sollten alle Städte und Land- rationspolitik nicht belegen.
kreise für ihr Gebiet ein Integrationskonzept verab- Bürgerschaftliches Engagement stellt auch
schieden und sich darüber im Klaren werden, wie für viele Migrantinnen und Migranten eine loh-
Menschen verschiedener Kulturen einen Beitrag für nenswerte Perspektive dar. Es ist dabei normal, dass
eine offene und tolerante Kommune leisten kön- häufig zunächst die Mitarbeit in Migrantenselb-
nen. storganisationen im Vordergrund steht. Säkulare
Es ist sinnvoll, theologische Debatten soweit Elternvereine sind die »geborenen« Gesprächs-
wie möglich von integrations- und gesellschafts- partner für die einheimischen Behörden und Bil-
politischen Erwägungen zu trennen. Ein/e Bürger- dungsinstitutionen, sofern sie auf demokratischer
meister/in ist »Bürgermeister/in aller Einwohner Basis wirken. Wo sie noch nicht existieren, sollten
dieser Stadt«, der Deutschen und Nichtdeutschen, sie mit Unterstützung der deutschen Politik ins Le-
39 der Christen aller Konfessionen, der Atheisten, Mus- ben gerufen werden.
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Ergänzungen aus der Diskussion der


ForumsteilnehmerInnen

Die Mitarbeit von Migranten in Vereinen und Aus der Diskussion des Thesenpapiers ergeben sich
Verbänden der deutschen Mehrheitsgesellschaft folgende Anmerkungen von TeilnehmerInnen:
scheitert, abgesehen vom Sport, der unstreitig als Vor dem Hintergrund des demografischen
besonders erfolgreiche Integrationsmaschinerie Wandels in unserer Gesellschaft kommt dem The-
wirkt, häufig daran, dass Migranten diese als ge- ma Integration eine gesellschaftspolitische, aber
schlossen wahrnehmen. Sie wollen dann dort nicht auch ökonomische Dimension zu. Dieser Aspekt
mitwirken oder sie fühlen sich dort nicht willkom- dürfe nicht vernachlässigt werden.
men. Bei der Integrationsarbeit in den Städten und
Von den Migranten ist zu verlangen, dass sie Gemeinden dürften keine Parallelstrukturen enste-
sich auf diese Integrationsangebote einlassen und hen. In Hannover beispielsweise bestehen 200 Aus-
ihrer Bringschuld zur Integration ebenfalls nach- ländervereine. Diese müssten in einen einheitlichen
kommen. Unser Land, unsere Wirtschaft und unse- Integrationsprozess eingebettet werden. Teilweise
re Gesellschaft können auf Keinen verzichten, wenn bestünde das Problem, dass es Berührungsängste
wir gemeinsam erfolgreich sein wollen. zwischen diesen Vereinen geben würde.
Die SPD müsse sich stärker gegenüber Mit-
bürgerInnen mit Migrationshintergrund öffnen
und diese in die kommunalpolitische Arbeit mitein-
beziehen.
Das Thesenpapier nehme die Gruppe der
osteuropäischen MigrantInnen zu wenig in die
Betrachtung auf. Diese große Gruppe müsse noch
stärker konzeptionell beachtet werden.

40
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

Forum 4
Bildung findet Stadt – Perspektiven für die
kommunale Bildungspolitik
Thesenpapier (Verfasser: Bernhard Reuter)

1. Die große Bedeutung von Bildung sowohl lität der Bildungseinrichtungen in den Mit-
für die individuellen Lebenschancen wie für telpunkt. Die Frage nach Bildungsstrukturen
die gesellschaftliche Entwicklung ist unstrit- kann keine ideologische Auseinandersetzung
tig. Deshalb es nicht hinnehmbar, dass in mehr sein, sondern muss unter dem Gesichts-
Deutschland wie in keiner anderen entwi- punkt beantwortet werden: Welche Struktur
ckelten Gesellschaft Bildungschancen von ermöglicht ein Maximum an Qualität?
der Herkunft, vom sozialen Stand und dem 4. Einer der wichtigsten Unterschiede in den
Bildungsgrad des Elternhauses abhängig deutschen Schulsystemen gegenüber den PI-
sind. Das alte sozialdemokratische Ziel, mehr SA-bestplatzierten Nationen Finnland, Korea
Chancengleichheit durch mehr Bildungs- und den Niederlanden ist, dass alle erfolgrei-
beteiligung zu erreichen, ist heute aktueller chen PISA-Staaten die Verantwortung für die
denn je. Schulen in erster Linie der kommunalen Ebe-
2. Bildung vermittelt sich vor Ort, in der Familie, ne zuweisen. Daraus lässt sich lernen: Eine
der Kindertagesstätte, der Schule. Zugleich Stärkung des kommunalen Einflusses auf die
ist jede Region in ihrer wirtschaftlichen Ent- Schulen trägt zur Qualitätssicherung bei.
wicklung darauf angewiesen, ihre endoge- 5. Städte und Landkreise könnten eine Verant-
nen humanen Potenziale bestmöglich auszu- wortung für Schulen bündeln mit ihren viel-
schöpfen. Deshalb ist das regionale Interesse fältigen anderen Kompetenzen für junge
sehr groß, in Bildung zu investieren, für ein Menschen, von der Jugendhilfe, Jugendarbeit
Ausschöpfen der Bildungsreserven zu sorgen und Jugendsozialarbeit, den Musikschulen,
und damit ein Maximum an Chancen für den der Migrationsarbeit über die berufliche Wei-
einzelnen zu ermöglichen. Daher ist es klug, terbildung und Erwachsenenbildung bis hin
die Verantwortung für Bildung so weit wie zur Gesundheits- und Suchtprävention und
möglich schrittweise in regionale Hände zu zur Sozialhilfe einschl. Eingliederungshilfe für
legen. behinderte Kinder und Jugendliche. Zugleich
3. Seit dem Pisa-Schock ist klar: Deutschland ist könnte die kommunale Selbstverwaltung ge-
im Bildungsbereich nur zweitklassig. Damit stärkt werden.
41 rückt die Frage nach einer optimalen Qua-
Dokumentation Kommunalkongress 2009 | SPD-Landesverband Niedersachsen | Hannover, 21. November 2009

6. Selbstverständlich setzt die Übernahme wei- schulen abzusenken. Unter Beachtung päd-
terer Aufgaben durch die Kommunen eine ver- agogischer Qualitätskriterien müssen auch
fassungsrechtlich abgesicherte Finanzierung vier- und dreizügige, in Ausnahmefällen auch
voraus. Die Aufgabenübertragung auf die Kom- zweizügige Systeme möglich sein.
munen hat unter Beachtung des Konnexitäts- 9. Eine bessere schulische Förderung aller Kinder
prinzips zu erfolgen, d. h., dass in dem Umfang und die immer wichtiger werdenden Aufga-
der übernommenen Aufgaben auch die erfor- ben des Bildungssystems als sozialer Lernort
derlichen Finanzmittel bereitzustellen sind. erfordern die Errichtung von Ganztagsange-
7. Schlüssel für Bildungsreformen und ent- boten an allen Schulformen.
scheidende Ressource für die Verbesserung 10. Der quantitative und qualitative Ausbau der
der Bildungsqualität in den Schulen sind die öffentlichen Kindertagesbetreuung ist eine
Lehrkräfte. Deshalb muss die Mitwirkung der zentrale Aufgabe politischen Handels. Mit
Schulträger bei der Auswahl der Schulleiter Kindertagesbetreuung können die Eltern un-
und Lehrkräfte gestärkt werden. Langfristig terstützt und entlastet werden. Auch ist eine
ist die nicht mehr zeitgemäße Trennung zwi- qualifizierte außerfamiliäre Betreuung für
schen inneren und äußeren Schulangelegen- die Entwicklung von Kindern von großer Be-
heiten durch Übernahme der Personalver- deutung. Kinder brauchen zu ihrer Entwick-
antwortung für die Lehrkräfte in kommunaler lung auch das Zusammensein mit anderen
Trägerschaft unabdingbar. Kindern. Zudem muss Bildung im möglichst
8. Eltern wollen ihren Kindern den bestmög- frühen Alter ansetzen, denn gerade kleine
lichen Schulabschluss und damit einen op- Kinder sind besonders neugierig und lern-
timalen Einstieg in die Ausbildung und das willig. Deshalb eröffnet die frühkindliche Bil-
Berufsleben ermöglichen. Dies führt zu sin- dung und Erziehung auf besonders effiziente
kenden Anmeldezahlen an Hauptschulen Weise umfassende Lern- und Entwicklungs-
und steigender Nachfrage nach gymnasialen chancen.
Angeboten. 11. Die Angebotsvielfalt in der Kinderbetreuung
Um den Elternwillen einzulösen sind muss bedarfsgerecht erhalten und ausgebaut
42 die Hürden für die Errichtung neuer Gesamt- werden. Die unterschiedlichen Angebote si-
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chern flexible Betreuungszeiten. Sie müssen eigenständigen Bildungseinrichtung werden.


individuell zugeschnitten werden können, so Die Ausbildung der Erzieher/innen muss den
dass bei Bedarf eine Betreuung auch abends, geänderten Anforderungen inhaltlich Rech-
am Wochenende oder über Nacht gesichert nung tragen.
ist. Die vor Ort erforderliche Flexibilität bei der 13. Auch beim Übergang zur Schule muss die
Ausgestaltung von Kindertagesbetreuung Kooperation des Kindergartens und der
darf nicht durch zu viele Richtlinien, Verwal- Grundschule vor der Einschulung der Kinder
tungsvorschriften, Ausführungsbestimmun- verstärkt werden. Eine Verzahnung mit dem
gen etc., wie sie derzeit vielfach bestehen, vorschulischen Bildungsbereich ist wichtig
eingeengt werden. Das Verfahren für die Er- und notwendig.
teilung der Betriebserlaubnisse für Kinder- 14. Sprachförderung ist für alle Kinder von Bedeu-
tageseinrichtungen sollte auf der Ebene der tung. Ziel ist das Erreichen einer altersgemä-
örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe ßen Sprachkompetenz der deutschen Spra-
verankert werden. che. Bei Kindern mit Migrationshintergrund
12. Nicht erst die PISA-Ergebnisse haben gezeigt, ist Sprachförderung besonders wichtig, damit
welche langfristigen Folgen eine unzurei- sie mit ausreichenden Deutschkenntnissen
chende fachliche Qualität auch im Elemen- das schulpflichtige Alter erreichen. Erfahren
tarbereich für die Zukunftschancen der Kinder die Kinder in ihrem familiären Umfeld haupt-
und der Gesellschaft hat. Längst verstehen sächlich die Muttersprache, so ist die Kinder-
die Kommunen Kindertageseinrichtungen tagesbetreuung oftmals die einzige Gelegen-
nicht mehr nur als Betreuungseinrichtungen, heit zum Erlernen der deutschen Sprache. Die
sondern als kompetente Partner der Eltern Kommunen legen daher besonderen Wert
und Familien in der Erziehung und Bildung, auf die Sprachförderung von Kindern mit Mi-
als Anwalt der Kinder zur Verbesserung ih- grationshintergrund.
rer individuellen Chancen und als Koope- 15. Der Schutz der Kinder vor Misshandlung und
rationspartner der Grundschulen für einen Vernachlässigung ist eine wichtige Aufgabe
reibungslosen Übergang in die Schule. Die aller Institutionen, die der Bildung, Erziehung
43 Kindertageseinrichtungen sollten zu einer und Betreuung von Kindern dienen und in
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Ergänzungen aus der Diskussion der


ForumsteilnehmerInnen

denen sie sich aufhalten. Präventive Gesund- Frauke Heiligenstadt, MdL, hat aus Sicht der Lan-
heitspolitik muss früh einsetzen, um den Fol- despolitik die Thesen in Stichworten bewertet:
gen mangelnder Bewegung und einseitiger — Es muss eine bessere Mitwirkungsmöglichkeit
Ernährung entgegen zu wirken. der Schulträger in Schule geben, damit eine
noch stärkere Identifikation mit der Schule vor
Ort stattfinden kann. Diese Mitwirkungsmög-
lichkeit kann unterschiedlich gestaltet werden
und muss auch ggf. regional anpassbar sein. Es
geht um deutlich stärkere Kooperation zwischen
Schule und Schulträger.
— Die Hürden für die Errichtung neuer Gesamt-
schulen müssen fallen.
— Die Passagen des Thesenpapiers zur Ganztags-
schule sind zu begrüßen.
— Im Bereich der frühkindlichen Förderung sind die
dargestellten Thesen ebenfalls uneingeschränkt
zu begrüßen. Es muss eine noch stärkere Kon-
zentration auf eine Verbesserung der Qualität
durch die dritte Krippenkraft, kleinere Gruppen
und mehr Verfügungsstunden für Personal ge-
ben. Der von der SPD geprägte Begriff der »Fami-
lienzentren« sollte noch ergänzt werden.
— Die Vernetzung der Schule mit dem außerschuli-
schen Bereich ist zu intensivieren.
— Die Feststellungen zum Ressourceneinsatz sind
richtig. Es muss deutlich mehr investiert werden
in Bildung, damit gleiche Bildungschancen er-
44 möglicht werden können.
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— Die Ausführungen zum Thema Verzahnung — Eine eigene Personalverantwortung für die Kom-
Schule/Kita mit der Kinder und Jugendhilfe wer- munen würde eine geordnete Lehrerversorgung
den unterstützt. in ländlich strukturierten Bereichen und struk-
— Insgesamt gesehen sollten die Gemeinsamkei- turschwachen Regionen nicht mehr gewährleis-
ten der Positionen zwischen SPD Bildungspolitik ten.
auf der kommunalen Ebene und auf der Landes- — Die bereits im Schulgesetz vorhandenen Mit-
ebene stärker betont werden als die nachstehend wirkungsmöglichkeiten bei der Auswahl der
aufgeführten Unterschiedlichen Ansichten. Lehrkräfte und der Schulleitungen oder der Mit-
— Bei allem Wohlwollen gegenüber dem finni- wirkung im Schulvorstand werden zurzeit sehr
schen »Erfolgssystem« Schule darf nicht verges- unterschiedlich genutzt. Es sollten daher erst
sen werden, dass Finnland einen völlig anderen einmal die vorhandenen rechtlichen Mitwir-
Staatsaufbau hat als Deutschland. Wir haben kungsmöglichkeiten ausgenutzt werden, um zu
die Länderzuständigkeit im Bildungssystem. Die einer besseren Abstimmung zwischen Schule
föderale Struktur Deutschlands kann nicht voll- und Schulträger zu kommen, bevor eine Perso-
ständig mit der Staatsstruktur Finnlands vergli- nalverantwortungsübernahme diskutiert wird.
chen werden. Daher sind erst einmal Wege zu gehen in Form
— Die im Thesenpapier geforderte Kommunalisie- von gemeinsamen Budgets für die Schulen.
rung von Schule wird so nicht unterstützt. Dies — Im Thesenpapier ist zum Thema Integration
ließe eine unterschiedliche Bildungspolitk je Sprachförderung nur von Kindern »mit Migrati-
nach „Kassenlage“ der Kommune entstehen und onshintergrund« die Rede. Die Sprachförderung
würde ungleiche Bedingungen im Flächenland ist auch notwendig für alle Kinder, die einen ent-
bringen. sprechenden Förderbedarf haben.
— Es ist ebenfalls nicht deutlich klar, was mit Über-
nahme der Personalverantwortung gemeint ist.
Bedeutet das etwa das Weisungsrecht der Bür-
germeisterIn für die SchulleiterIn? Oder nur die
Mitwirkung bei der Einstellung?
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