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Rückblick auf 10 Jahre praktische Sozialarbeit im Sozialzentrum Hameln e.V.11
die in die Gründung des Vereins 'Hilfe bei Krebs' mündete, in der das
Sozialzentrum Hameln e.V. übrigens gegenwärtig mit der Aktualisierung
und Aufarbeitung der vernachlässigten Buchführung der Jahre 1982 bis
heute engagiert ist. Ebenfalls 1979 wurden die Kontakte zur örtlichen
Bewährungshilfe und zur Justizvollzugsanstalt Hameln-Tündern intensi-
viert und in der Folgezeit etliche ehemalige jugendliche Strafgefangene
nach ihrer Entlassung im Sinne des vorgenannten Resozialisierungsprojekts
in Flakenholz aufgenommen. Erfahrungsgemäß ist der Betreuungsaufwand
für diese problematische Personengruppe sehr hoch (z.T. 1:1), so daß
die Wohngemeinschaft mit ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern hiermit über-
fordert war und sich vom Trend her zunehmend zu einer Behindertenwohnge-
meinschaft entwickelte - dies nicht zuletzt aufgrund der Beziehungen zur
Behindertenwerkstatt der Paritätischen Gesellschaft Behindertenhilfe (PGB)
in Hameln. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang auch die Erwähnung,
daß 1979 und 1980 Studenten der Sozialarbeit im Sozialzentrum Hameln e.V.
Blockpraktika und einen Teil des Anerkennungspraktikums machten, so daß
die Arbeit in der Wohngemeinschaft personell wie auch fachlich in dieser
Zeit verstärkt werden konnte, ergänzende Impulse erhielt.
Parallel zu diesen Aktivitäten brachte auch das Jugendamt Hameln Jugend-
liche in der Wohngemeinschaft im Haus Flakenholz unter, so daß die Zu-
sammensetzung der Bewohner aufgrund ihrer äußerst unterschiedlichen
psychosozialen Probleme und psychischen, geistigen und körperlichen
Behinderungen äußerst heterogen war. Die Erarbeitung der Konzeption
einer heilpädagogisch-therapeutischen Wohngemeinschaft trug den hieraus
resultierenden Erfahrungen im Sinne einer enger definierten Zielgruppe
Rechnung. Das Zusammenleben jüngerer und älterer Menschen in der Wohnge-
meinschaft war im übrigen nicht nur konzeptionell geplant, sie ergab
sich ebenfalls durch die Kontakte zum Frauenhaus Hameln e.V. und die
Aufnahmen in Flakenholz aus diesem Bereich der Sozialarbeit. So kamen
dann im März 1980 auch Sascha und Bianca als Pflegekinder des Ehepaars
Pleinert in die Wohngemeinschaft.
Im April 1980 beschrieb das Sozialzentrum seine Arbeit so: "Zur Zeit
leben 9 junge, erheblich gestörte bzw. behinderte Menschen mit uns zu-
sammen. Wir haben mit sehr viel Zielstrebigkeit, Freude, persönlichem
Einsatz und erheblichen eigenen Mitteln diese Wohngemeinschaft zu
einer wirklichen alternativen Hilfe aufgebaut. Wir sind der Überzeugung(
- und unsere nachweisbaren pädagogischen Erfolge unterstreichen dies -
daß wir mit verhältnismäßig geringen Kosten jungen Menschen, die durch
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Versammlung des Vereins am 28. Oktober 1983 die Gründung eines Vereins-
beirats, in dem Frau Edda Knüppel, Herr Karl Pläpp, Herr Walter Bertram
und Herr Ulrich Kobbe gewählt wurden. In diesem Zusammenhang erscheint
mir ebenso wichtig, daß die Mitglieder der Wohngemeinschaft Flakenholz
zwischenzeitlich einen sog. WG-Beirat gründeten, der die Interessen der
Wohngemeinschaft dem Verein gegenüber vertritt; in der Folgezeit vertrat
Frau Gisela Schüler die Wohngemeinschaft als Beisitzerin im Sozialzentrum
Hameln e.V.. -
Bei alledem reißt die Finanzierungsproblematik der WG-Bewohner nicht ab,
so daß der Verein u.a. beschloß, sich langfristig durch die Einrichtung
eines Cafes ein - wenn auch bescheidenes - weiteres finanzielles Stand-
bein zu schaffen. Am 27. Februar 1986 wurde im Haus Flakenholz 15 die
"Cafe- und Weinstube" eröffnet, die seitdem von Frau Schüler betrieben
wird, ihr Lebensinhalt und Bestätigung gibt, aber auch zur Freude des
Vereins floriert. - Ebenfalls 1986 stellte das Sozialzentrum Hameln e.V.
dem Landkreis Hameln aber auch das Ultimatum, entweder alle Mietverträge
mit den Bewohnern der Wohngemeinschaft kündigen zu müssen oder zu der ge-
währten Sozialhilfe, zum Wohngeld und zu den Mehrbedarfszuschlägen ein
monatliches Betreuungsgeld von DM 400,— zu erhalten, eine Forderung,
auf die der Landkreis letzten Endes eingeht. Immerhin bleibt festzustellen,
daß bis Ende 1985 insgesamt 85 Menschen im Haus Flakenholz Aufnahme ge-
funden haben und dort z.T. noch wohnen, daß der heilpädagogisch-therapeu-
tische Charakter eine echte Alternative zu überversorgenden, entmündigen-
den Heimaufenthalten bietet und manchen auch die Möglichkeit gegeben hat,
aus dem Psychiatrischen Landeskrankenhaus entlassen zu werden. So hat der
Verein einerseits dem Einzelnen eine seinen Fähigkeiten wie Problemen an-
gemessene Heimat gegeben, hierdurch andererseits zugleich dem Staat, der
Sozialhilfe viel Geld erspart. Und dies sozusagen gegen den Willen des
örtlichen Sozialamtes in Hameln wie des überörtlichen Sozialhilfeträgers,
des Landessozialamtes in Niedersachsen! Zwar sagte 1982 der Sozialminister
Hermann Schnipkoweit im Rahmen einer Feierstunde zum Abschluß der Aktion
'Bürger helfen behinderten Mitbürgern1, "wer versuche, sich in die Lage
eines behinderten Menschen hineinzuversetzen, der erkenne, daß der Be-
hinderte dasselbe Bedürfnis nach Freiheit und nach Entwicklungsmöglich-
keiten habe wie jeder von uns und nicht bemitleidet werden wolle. Er
möchte lediglich die besondere Förderung erfahren, die er brauche, um
die jeweilige Beeinträchtigung seiner Funktionen auszugleichen. Die
stützende, die eigene Initiative und eigenen Kräfte belebende Förderung
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Zuletzt möchte ich auf das Ehepaar Ingrid und Heinz Pleinert eingehen,
das ein wesentlicher Motor des Sozialzentrums Hameln e.V. ist: beide
leben mit den Bewohnern der Wohngemeinschaft zusammen, bringen fachliche
wie persönliche Kompetenz in dieses Zusammenleben ein, sind - übertragen
gesprochen - 'Vater' und 'Mutter1 der WG und bieten sich auch als Pro-
jektionsflächen an. In diesem Setting gelingt es ihnen, den ja unter-
schiedlich behinderten (Mit-) Bewohnern erfahrbar zu machen, daß Ingrid
nicht immer nur die 'gute Mutter' im Sinne einer gütigen, gewährenden,
warmherzigen, annehmenden und nährenden Mutter ist und daß als Gegenpol
bzw. Gegenpart Heinz nicht nur der 'böse Vater1 im Sinne eines versagen-
den, regelsetzenden, strengen und harten Vaters ist. Ich denke, gerade
diese Paarkonstellation ermöglicht den Bewohnern im Rahmen ihrer Möglich-
keiten eine emotionale Nachreifung, wie sie m.E. in den schlechteren
'Alternativen' eines Dauerwohnheims oder eines Landeskrankenhauses in
dieser Form nicht möglich ist.
Da Praxis ohne Theorie ja ebenso blind ist wie Theorie ohne Praxis,
habe ich nach Vorbildern oder Modellen gesucht, die theoretisch nicht
allzu sehr abgehoben sind: gefunden habe ich die unkonventionelle und
beispielhafte Arbeit des Analytikers Bruno Bettelheim, der eine milieu-
therapeutisch zu nennende Förderung von behinderten und/oder schwerge-
störten Kindern und Jugendlichen konzipierte, sie in 2 Büchern mit den
Titeln 'Leben lernen als Therapie' und 'Liebe als Therapie' beschrieben
hat. Bei Bettelheim findet sich das Leiden und die Solidarität mit dem
Leiden, das Akzeptieren des - störenden - Symptoms als notwendiger Aus-
druck der inneren Verfassung eines Menschen, den man absolut ernst
nehmen muß, wenn man ihm helfen will, die Geduld im Umgang mit seinen
störenden Verhaltensweisen, bis der andere sein Symptom von sich aus
aufgeben kann, weil er sich verstanden und angenommen fühlt. Genau dies
bezeichnet den Unterschied zwischen der bloßen Abwesenheit von Herr-
schaft und therapeutischer Solidarität. Bei Bettelheim findet sich die
Feststellung, diagnostische Etikettierungen seien ebenso hinderlich wie
jede Art von vorgefaßter Meinung: denn wer schon alles weiß, verschließt
sich der Offenheit der Erfahrung. Hilfreicher ist Einfühlung aus ge-
schärfter Selbstwahrnehmung und die Bereitschaft zu lernen. Sie macht
eine echte menschliche Beziehung möglich, die dem anderen Würde und
Selbstachtung zurückgibt. Von therapeutischem Wert ist dabei nicht zu-
letzt die Erfahrung des anderen, daß er in der Beziehung zu seinem
Betreuer nicht nur der Empfangende ist, daß der Betreuer im Umgang
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mit ihm auch sich selbst besser verstehen lernt, reifer wird. Bei Bettel-
heim findet sich das Prinzip der offenen Tür, das so selbstverständlich
ist wie der absolute Verzicht auf Zwang und Manipulation, der Abbau des
hierarchischen Machtgefalles, die Einbeziehung des Küchenpersonals und
des Hausmeisters in das therapeutische Konzept. Aber all dies ist erst
die Voraussetzung für das Eigentliche: das Engagement der menschlichen
Beziehung und die Aufmerksamkeit für Gefühle (auch des Betreuuers übrigens,
der von der Solidarität der Gemeinschaft getragen werden muß). - Im Bericht
der Enquete-Kommission zur Lage der Psychiatrie aus dem Jahre 1975 heißt
es, allen Reformen vorauszugehen habe die Befriedigung der humanen Grund-
bedürfnisse des Patienten. Dazu gehört freilich mehr als ausreichende
sanitäre Einrichtungen und das Recht auf einen kleinen persönlichen
Bereich. Nehmen wir die 'humanen Grundbedürfnisse1 wirklich ernst, so
ernst wie Bruno Bettelheim, aber auch wie hier das Ehepaar Pleinert in
der Wohngemeinschaft in Flakenholz, so sind wir schon mitten drin in
einer Reform, die über die zaghaften, mehr in Kategorien von Organisa-
tion und Versorgung denkenden Empfehlungen der Enquete-Kommission weit
hinausführt.* Insofern ist "alternativ eben anders ...".
Noch eine weitere kritische Anmerkung möchte ich aber machen: Ingrid
und Heinz Pleinert haben sich in der Vergangenheit finanziell wie
emotional in einem Maße für das Sozialzentrum, für seine Bewohner,
deren Anliegen und Bedürfnisse engagiert, daß man dies zeitweise m.E.
auch als eine Form von 'Selbstausbeutung1 beschreiben kann! Für die
Zukunft wünsche ich beiden, daß nach der Anerkennung als "gleichwertige
Einrichtung" und der Erteilung der Erlaubnis durch das Landessozialamt
Niedersachsen in diesem Jahr sowie der nunmehr ganztägigen Tätigkeit
von Ingrid Pleinert im Haus Flakenholz das Nervenaufreibende, das Über-
anstrengende und Krankmachende, das Mutlosmachende in der tagtäglichen
Arbeit oder besser im tagtäglichen Leben in der Wohngemeinschaft hier
im Haus Flakenholz weniger wird und beide damit mehr Möglichkeiten haben,
das Lebendige und Bereichernde dieses beispielhaften Zusammenlebens in
größerem Maße zu erleben und auch zu genießen.
*z.T. zitiert bei Hans Krieger: Macht und Einfühlung in der Psychiatrie.
Der Patient hat immer Recht. Bücher von Szasz und Bettelheim lehren
radikales Umdenken. In: Die Zeit Nr. 18 vom 23.04.76.
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