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Pro und Kontra machen Patienten z. T.

die auch ängstigende Erfah-


rung, daß von ihnen ausgesprochene Phantasien
" Pro Sexualität in der oder Wünsche als Symptom einer Störung, als
Zeichen von Gefährlichkeit denunziert werden, dies
Klinik" auch, wenn sie gar nicht wegen eines Sexualdelikts
untergebracht werden. D. h., daß nicht einmal ein
vertrauensvoller Austausch mit Pflegern oder The-
rapeuten möglich ist, da mit abwehrenden, ironi-
Vorbemerkung schen, abwertenden Kommentaren, mit psychothe-
Die Diskussion um unseren Umgang mit Sexualität rapeutischem Hinterfragen gerechnet werden muß,
findet bereits gesamtgesellschaftlich nur scheinbar nur bei "guten" Beziehungen mit einzelnen Perso-
offen und aufgeklärt statt, gleitet nur allzu leicht ins nen ein angstfreies Gespräch möglich wird. Denn
Moralisieren und in eine Doppelmoral ab. D.h. es dies betrifft ja auch die Beziehungen mit anderen
geht immer wieder um das durch (indirekte) Verbote Patienten: Sie unterliegen in noch krasserer Form
vermittelte schlechte Gewissen des einzelnen. Dar-
Bewertungen/Entwertungen angesichts einer Hak-
über hinaus wird Sexualität nur allzu leicht auf kordnung, in der ein Raub "besser" ist als ein
Geschlechtsverkehr reduziert und verkürzt. Keines-
(versuchter) Totschlag oder Mord und dies immer
wegs neu und zugleich weiter aktuell ist dieser noch "besser" als Vergewaltigung, "unter" der
Widerstreit dennoch, so daß im folgenden Zitate des
aber in jedem Fall noch Mißbrauch mit Kindern
Juristen und Gesellschaftskritikers Kurt Tucholsky
kommt.
aus den Jahren 1929 bis 1931 (!) eingestreut sind.
Sexualität bezieht sich auch auf die Selbstbefriedi-
An dieser Stelle nun pro Sexualität im Maßregelvoll-
gung, schrieb ich. Doch: Wieviel Intimität läßt die
zug Partei zu ergreifen, beinhaltet die Gefahr des Institution zu? Nicht einmal im KIR bleibt der
Mißverstandenwerdens, doch soll und muß dies
Patient ungestört. Vielmehr ist die Naßzelle ebenso
dennoch versucht werden. Insofern bleibt der Hin-
einsehbar wie das Zimmer selbst, wird der Pfleger
weis, daß dieser einseitig "für" Sexualität im
jederzeit (unfreiwillig) zum Spanner und der Patient
Maßregelvollzug Partei nehmende Text nur gemein-
zum bloßgestellten/ entblößten und peinlich berühr-
sam mit dem ihn ergänzenden "Kontra1'-Text gele-
ten Mitmenschen, dessen völlig normalen, natürli-
sen werden darf.
chen Bedürfnisse und Handlungen quasi exhibitioni-
stisch den Blicken, Bewertungen und Kommentaren
Zum Thema:
anderer ausgesetzt sind. Darüber hinaus wird bei
Sexualität ist auch im Maßregelvollzug untrennba-
manchen Patienten die Steigerung der Häufigkeit
rer Teil menschlichen Ixbens: Sie bezieht sich
von mittlerweile unbefriedigenden Selbstbefriedi-
sowohl auf den einzelnen wie auf das Zusammenle-
gungen zum ''fürchterlichen Normalzustand'', führt
ben und gemeinsame Erleben mit einem/einer aride-
der "Trieb" ein Eigenleben wie eine Espressoma-
ren. In der Unterbringung jedoch erlebt der Patient
schine.
wider Willen, daß dieser lebendige Teil seiner
Desweiteren: wieviel Chance zum Ausleben dieser
Beziehung zu anderen wie zu sich selbst ausgeblen-
Ersatzbefriedigung gibt die Einrichtung, wenn sie
det, verhindert wird und sozusagen erst auf Umwe-
(neuroleptische) Medikamente verabreicht, die auch
gen Eingang in die als "Beziehungsarbeit" oder
triebdämpfend sind? Und: wer von den Ärzten,
"Beziehungspflege" charakterisierte Behandlung
Pflegern, Psychologen macht sich diese Auswir-
findet. D. h. er ist auf sich selbst zurück geworfen,
kung tatsächlich klar und denkt auch wiederholt
so daß ihm (nur) Phantasien, Träume, Sehnsüchte
(selbst-)kritisch darüber nach?
und Selbstbefriedigung bleiben.
Unter Vollzugsbedingungen bleiben kaum Gelegen-
Und nicht einmal das mehr: Träume verändern sich
heiten zur Anregung und Abwechslung, verengen
in der Unterbringung, können quälend werden statt
sich Tagträume und Phantasien in z. T. nie gekann-
zu entlasten oder Tagesreste zu verarbeiten.'' Nachts
ter Weise auf sexuelle Inhalte, bleiben auch bislang
bedrängen sie wüste Träume; ihre innere Sekretion
unbekannte oder nie gewollte homosexuelle Kontak-
ist nicht in Ordnung, sie sehen riesige Geschlecht-
te Ausweg und Infragestellung der eigenen Männ-
steile auf Beinen und zupfen an sich herum... Fühlst
lichkeit zugleich, denn: Wer will schon "schwul/
du sie leiden?" (Tucholsky 1931). Darüber hinaus
8 t$*rmi- *B?"
Pro und Kontra
lesbisch" sein? - Erzieherinnen/Krankenschwestern gehört, daß sexuelle Befriedigung also auch im
sind zwar 'da\n ebenso notgedningen wie Maßregelvollzug möglich sein muß - denn: Sonst
automatisch interessant, Objekt der Phantasie und wird die Unterbringung in der forensischen Psych-
des Bedürfnisses. Gleichzeitig aber sind_sie "tabu", iatrie zum verschärften Knast. Daß Patient nicht
so daß das enttäuschte Begehren ungewollt in auch gleich Patient und Sexual Straftäter nicht gleich
aggressive Phantasie mündet. Hierüber zu sprechen Sexualstraftäter ist, daß also unterschieden werden
erscheint vielen ebenso riskant, da auch dies miß ver- muß scheint selbstverständlich. Und doch wird der
standen werden könnte (siehe oben). Unzucht einzelner pauschal maßreglementierende
Pornos - auch sie ein Bestandteil gesellschaftlicher Zucht entgegengestellt. Nachdenken muß jeder von
Wirklichkeit, ganz gleich ob man sie für "gut'' oder uns - ob Mitarbeiter oder Patient - über seine
"schlecht" hält. Der Wunsch nach ihnen entsteht Einstellungen, Vorurteile, Erwartungen und Moral-
teilweise erst durch die Unterbringung, durch die vorstellungen, dies verbunden mit der Frage, ob das
sich abnutzende oder lustloser werdende Phantasie. für ihn 'Richtige' auch für andere gelten kann oder
Gleichzeitig jedoch bleiben die Frauen unerreich- muß. D.h. es braucht eine Diskussion um die
bar, wird Verlangen nur noch größer, wird die unsensiblen Sexualeinstellungen, wie Sie die 'Ner-
eigene sexuelle Frustration und Not noch deutlicher vensäge' versucht. Und es braucht Offenheit, Be-
spürbar. Die Unterteilung in Softpornos und Hard- reitschaft wie Toleranz für diese menschliche Ge-
pornos - sie ist zweifelsohne ebenso schwierig wie staltung der Unterbringung für einen Abbau von
sinnvoll, sollen und dürfen andere Menschen (und praktizierter Sexualfeindlichkeit. Patentrezepte al-
hier ja meist Frauen) nicht degradiert, per Foto lerdings gibt es wohl kaum. "Also - ? Also gibt es
mißbraucht oder mißhandelt werden. doch wohl nur einen Weg, müßte man denken: Die
Konkret gelebte Sexualität mit einer Frau/mit einem Freiheit des Sexual Verkehrs der Gefangenen, unter
Mann, d.h. Berührung, In-den-Arm-Nehmen, Aufrechterhaltung der nötigen Maßregeln für die
Schmusen, Küssen, Fummeln, Miteinander-Schla- öffentliche Sicherheit." (Tucholsky 1929)
fen usw., das sind natürliche Wünsche, in der
Unterbringung jedoch mehr oder weniger Wunsch-
träume von Patienten. Nur wenige Patienten haben Ulrich Kobbe
diese Möglichkeiten durch besondere Besuchsrege-
lungen vereinzelter weniger Stationen. Und auch Literatur Kurt Tucholsky: Die Gefangenen. (1931)
hier unterliegt die Besucherin dem moralischen Kurt Tucholsky: 8 Uhr abends - Licht aus! ( 1929)
Urteil, schleicht sich die Frage nach Freundin/ in: K. Tucholsky: Politische Justiz. Rowohlt Ta-
Verlobter/Ehefrau ein, werden Patienten wie Part- schenbuchverlag, Reinbek (1970) 69-70 und 71-77
ner/innen danach bewertet, ob sie mit einem oder
mehreren Partnern (intime) Beziehungen haben.
Denn diese angeblich unbedingt notwendigen Fra-
gen nicht zu stellen "hieße eine Sexualordnung
staatlich anerkennen, die nicht die der die Gemein-
schaft beherrschenden Sittengesetze ist... . Die
künstlich aufgeblasene Schicht der deutschen Beam-
ten hat nicht das Recht, uns Sittengesetze zu oktroy-
ieren, zu deren Aufstellung sie niemand legitimiert
hat." (Tucholaky 1929). Als wenn es 'draußen'
keinen außerehelichen Geschlechteverkehr, keine
Beziehungen zu Prostituierten o.a. gäbe: (Warum)
müssen Patienten sich "moralisch einwandfreier"
verhalten als der Arzt, Pfleger, Psychologe... im
Maßregelvollzug? Sind sich beide nicht "einander
nachts viel näher, als er ahnt?" (Tucholsky 1929).
Angesichts dieser Skizze bleibt die beharrliche
Feststellung, daß gelebte Sexualität zum Leben

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