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PAUL S C H M I D T - E L G E R S

Erzählung von der abenteuerlichen Suche


nach dem Goldland Paytiti

VERLAG NEUES LEBEN BERLIN

X 954
Alle Rechte vorbehalten
Lizenz Nr. 303 (305/103/54)
Umschlagzeichnung: Fritz Ahlers, Prleros (Mark)
Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben
Druck: Karl-Marx-Werk. Pößneek. V 15/30
Francisco Pizarro befahl, die Tore des befestigten Lagers weit zu
öffnen. Wohlweislich hatten die Spanier ihre wenigen Geschütze in ver-
deckten Stellungen seitlich der Palisaden untergebracht; aber trotz die-
ser Vorsichtsmaßnahme sank manchem der spanischen Abenteurer der
Mut beim Anblick der Indianer, die sich über die Ebene dem Lager
näherten.
Die gleißenden Sonnenstrahlen dieses heißen Novembertages des
Jahres 1532 brachen sich in augenschmerzendem Funkeln in den goldenen
Federhelmen und Schilden des Gefolges des Inkaherrschers Atahualpa.
Hinter diesem aus der Ferne prunkenden Festzug erhob sich von Tausen-
den Füßen aufgewirbelter gelber Staub wie eine Wolke über dem grünen
Land. Der spanische Feldherr hatte außer Atahualpa und seinem adligen
Gefolge auch das niedere Volk eingeladen, um dem Schauspiel des offi-
ziellen Empfanges des Inkaherrschers durch den großen „weißen Gott" -
so wurde der furchtbare Pizarro in abergläubischem Schrecken von den
Einwohnern Perus genannt - beizuwohnen. Eine Menge Eingeborener,
auch Frauen und Kinder, folgten in banger Neugier der prächtigen
Abordnung.
Francisco Pizarro, der skrupellose Feldherr aus der Stadt Trujillo in
Spanien, wo er in seiner Jugend Schweine hütete, hielt inzwischen
Kriegsrat. Der magere blasse Mann prunkte in vollem Stahlharnisch
auf einem thronartigen Sessel. Die rote Seide des Zelteinganges war
hochgerafft, so daß Pizarro die gesamte Schar seiner ihm verschworenen
Gefolgsleute überblicken konnte. Der Schweiß rann unter dem Silber-
helm über sein Gesicht und nötigte ihn, sich ab und zu mit der behand-
schuhten Rechten über die Augen zu fahren, deren düsteres Feuer in
Ehrgeiz und Machtbewußtsein flammte.
Gonzalo Pizarro, sein Bruder, stand vor dem Thronsessel, neben ihm,
in lässiger Haltung auf seinen Degen gestützt und mit hochfahrenden
Blicken nach draußen schauend, der Ritter Francisco de Orellana. Neben
dem Feldherrn hockte auf einem einfachen, niederen Schemel der Domi-
nikanermönch Valverde. Sein gelblichweißes Gesicht mit dem fanati-
schen Ausdruck bewegte sich ruckartig während des hastigen Gesprächs
mit dem Feldherrn. Der hob die Hand. Er sprach nur kurz, denn die Zeit
drängte. Aber seine Worte entzündeten ein gefährliches Feuer in den
Augen dieser einigen hundert Männer, die in ihren Lederkollern und
Brustharnischen schwer atmend zum Thronsessel hin lauschten.
„Heute gilt es, auf mein Zeichen!" rief Pizarro. „Atahualpa muß unser
Gefangener werden; Gold, unermeßlicher Reichtum wird unser Lohn
sein!"

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Die Männer brüllten Beifall und schlugen an ihre Waffen. Plötzlich
erhob sich der Dominikaner. Mit beiden Händen umfaßte er das kleine
goldene Kreuz, an langer Kette hing es von seinem Hals; er streckte es
den Abenteurern entgegen, und schrill durchbrach seine Stimme die
wüsten Jubelrufe:
„Für die Jungfrau Maria! Wer dieses Zeichen lästert, sei dem Tod
verfallen!"
Die Männer sanken in die Knie.
Pizarro beugte sich und küßte das Kruzifix. „.Santa Maria', unser
Feldgeschrei!" rief er, sich erhebend und das Schwert aus der Scheide
ziehend.
Vom Lagertor erklang ein Hörn. Im Nu stoben die Spanier ausein-
ander.
Orellana verteilte die Gewappneten auf die Zelte und Laubhütten, so
daß der große Platz vor dem Zelt des Feldherrn menschenleer dalag.
Pizarro schritt, umgeben von den bewährtesten Rittern des Heeres, dem
Inkaherrscher Atahualpa entgegen. Er hatte befohlen, die 67 Pferde in
der Nähe zu halten, denn bei einem Gefecht konnten die Pfeile der In-
dianer den Tieren Schaden zufügen; und die Pferde, den Eingeborenen
erst seit der Landung der Spanier bekannt, waren von ungeheurem
Nutzen in einer offenen Feldschlacht.
Unter feierlichem Schweigen näherte sich die vergoldete Sänfte
Atahualpas. Den Oberkörper halb aufgerichtet, den Kopf mit einem wip-
penden Federbusch geziert, funkelnd von Gold und Geschmeide, wirkte
der Inka auf die Spanier wie ein lebendig gewordenes Götzenbild. Prunk-
voll geschmückt wie er, umgaben ihn seine vornehmsten Adligen. Sie
hielten große Wedel aus kostbaren Vogelfedern über die schwankende
Sänfte. Binnen kurzem waren es über tausend braunhäutige Menschen,
die auf dem Platz haltmachten. Alle waren waffenlos.
Atahualpa neigte sein federgeschmücktes Haupt zur Begrüßung.
Pizarro erwiderte den Gruß.
Plötzlich trat der Dominikaner auf den Inka zu. Der wandte sich
lächelnd zu Pizarro, aber Valverde begann ihn in lautem, heftigem Tone
anzusprechen: „Unser Gruß gilt dir, o Herrscher!" Aber das Gesicht
Atahualpas verzog sich wieder nur zu einem höflichen Lächeln, da er
der fremden Sprache nicht mächtig war. „Du kommst in friedlicher Ab-
sicht", fuhr der Mönch fort. „Aber wie sollen wir wissen, ob du wirk-
lich unser Freund bist? Darum fragen wir dich: Erkennst du die Ober-
hoheit seiner allerchristlichen Majestät des Kaisers Karl des Fünften
von Spanien an? Bist du bereit, deinen heidnischen Göttern abzu-
schwören und dem alleinseligmachenden Gott zu dienen?" Der Mönch
breitete dabei fanatisch die Arme aus und blickte herausfordernd auf
Atahualpa.
Unter dessen Gefolgsleuten entstand Unruhe. Nur sehr schwer und
schlecht konnte der von der Küste mitgenommene indianische Dolmet-
scher dem Herrscher die Worte des Dominikaners verständlich machen.

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„Er will das Buch sehen, aus dem dein Gott spricht", übersetzte er
stockend die Bitte Atahualpas.
Der Mönch reichte mit feierlicher Gebärde seine Bibel. Der Inka
nahm das Buch, betrachtete es unentschlossen und hielt es plötzlich
lauschend an sein Ohr. Seine Stirn verfinsterte sich, und einige den
Spaniern unverständliche Worte ausrufend, warf er die Bibel in den
Staub.
Mit einem wilden Schrei sprang der Mönch zurück.
„Dein Buch spricht nicht", übersetzte der Dolmetscher erschrocken.
„Gotteslästerung!" Straft den Heiden", kreischte die Stimme des
Mönches über den Platz bis zu den Verstecken der Spanier.
„Santa Maria!", rief jetzt Pizarro gellend und riß das Schwert aus der
Scheide.
Was nun folgte, war kurz und furchtbar. Brüllend stürzten die ge-
wappneten Spanier hervor und warfen sich auf die wehrlosen Ein-
geborenen. Die Pferde waren schnell zur Stelle, und Pizarro, der sich auf
seinen Rappen schwang, gab den Befehl zur Vernichtung aller „Heiden".
Atahualpa wurde von Orellana aus der Sänfte gezerrt, ihm die Königs-
binde von der Stirn gerissen und seine Hände mit einem Hanfstrick
gebunden. Schrecklich war das Blutbad, das die Horde der Spanier unter
dem Gefolge Atahualpas anrichtete. Die noch zuckenden Körper beraub-
ten sie ihrer golddurchwirkten Kleider und Schmuckstücke.
Das Volk, das sich vor den Toren des Lagers niedergelassen hatte,
hörte das Geschrei der Sterbenden und sah die weißen Männer auf den
Pferden die Schwerter über die Köpfe der im Lager Eingeschlossenen
schwingen. Entsetzen und Furcht mehrten sich, als die Geschütze
donnernd ihre Eisenkugeln in die Menge schleuderten. Die Spanier
stürzten, nur noch Tote und Verwundete auf dem Platz zurücklassend,
durch das Tor und setzten draußen das Blutbad fort.
Da erinnerte sich Pizarro eines Befehls vom spanischen Hofe. „Ich
brauche drei Knaben!" schrie er Orellana zu. Dieser gab die Order weiter.
Aber es war schon zu spät, um die im Blutrausch mordenden Männer zu
zügeln. Wahllos metzelten sie Frauen und Kinder nieder, und über allem
tobte das Feldgeschrei „Santa Maria!".
Fluchend gab Pizarro seinem Gaul die Sporen. Drüben, hinter einem
Zelt, entdeckte er einen flüchtenden Indianerknaben. Orellana verstand
die Absicht des Feldherrn. Er sprengte dem Jungen nach, holte ihn ein
und wollte sich seiner bemächtigen. Doch der Junge wehrte sich. Mit
einem langen Bronzemesser stach er nach dem Pferd, das jetzt den Reiter
abzuwerfen drohte.
Orellana sprang fluchend ab und rannte hinter dem Knaben her.
Mit einem flachen Hieb seines schmalen Schwertes betäubte er den
Fliehenden, nahm den Bewußtlosen in seine Arme und trug ihn ins Zelt.
Bald verstummte das Geschrei. Johlend auf ihre Beute zeigend,
sammelten sich die Spanier. Staub lag über dem Lager, es roch nach
Blut.

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Pizarro hatte nichts von seiner Gelassenheit eingebüßt. „Der junge
Heide scheint im richtigen Alter zu sein", sagte er im Zelt und schätzte
den Jungen wie eine Ware ab. „Neun Jahre etwa; noch fünf Jahre, dann
kann er uns als Dolmetscher beim Zug nach dem Inneren des Landes
dienen." Er befahl seinem Bruder Gonzalo, den Knaben nebst einem
persönlichen Handschreiben an die Küste zu bringen und ihn mit der
ersten heimwärts segelnden Karavelle* an den kaiserlichen Hof nach
Madrid zu senden.
Zuvor wurde der Knabe rasch noch vom Dominikaner getauft, denn
einen Heiden konnte man Seiner christlichen Majestät nicht anbieten.
Er erhielt den Namen Miguelito.

Acht Jahre später segelte ein spanisches Kriegsschiff in den Hafen


vonGuayaquil ein. Inzwischen war Peru von den Spaniern restlos erobert
worden. Die Eingeborenen vegetierten als Sklaven unter den weißen
Herren und schufteten nicht nur auf den Feldern, sondern auch in den
Bergwerken, um Gold und Silber zutage zu fördern; Kaiser Karl in
Spanien brauchte viel Geld für seine Kriege in Europa.
Der Anker rasselte in die Tiefe. Miguel stand in der Gruppe einiger
spanischer Höflinge auf dem Vorderdeck und blickte auf die helle Stadt.
Er war inzwischen zu einem hochaufgeschossenen jungen Menschen
herangewachsen. Seine spanische Kleidung unterschied sich höchstens
durch den minderen Prunk von der seiner Umgebung. Nur sein tief-
braunes, breites Gesicht verriet die fremde Rasse. Seltsame Empfin-
dungen bewegten ihn. Die durch das Leben am spanischen Hof in Madrid
verschütteten Kindheitserinnerungen nahmen beim Anblick dieser Küste
plötzlich Gestalt an. Er hatte ein Gespräch der Höflinge belauscht und
einiges über das Schicksal seiner Heimat erfahren können. Er wußte,
daß König Atahualpa auf Befehl des schrecklichen Pizarro erwürgt wor-
den war, nachdem man von ihm als angebliches Lösegeld „ein Zimmer
voll Goldes, so hoch dein Arm reicht", erpreßt hatte. Den größten Teil
dieses Schatzes hatte man nach Spanien gesandt. Die mit Smaragden
besetzten Tempelgefäße, die goldenen Scheiben, der Sonne nachgebildet,
waren in Madrid zu Goldmünzen umgeschmolzen worden. Diese wander-
ten dann in die Hände von spanischen Feldherren, Soldaten, und manche
Fürstenhand krampfte sich gierig um das Ergebnis spanischer Kolonial-
politik. Aber das erkannte Miguel erst, als er älter war. Und da glaubte
er, es sei dies das ewige Gesetz: Gold, Macht und Herrscher sind eins in
der Welt der weißen Menschen.
Drei Knaben waren sie - zwei von ihnen hatte Pizarro auf späteren
Eroberungszügen erbeutet - die unter strenger Aufsicht zusammen
lebten. Sie wurden von einem Geistlichen in spanischer Sprache und
Sitte erzogen. Die Jahre vergingen.
„Wo liegt unsere Heimat?" fragten oft die Knaben. Keiner wußte
Antwort. Weit, weit fort, das war das wenige, was sie wußten. Die
* Mittelalterliches Segelschiff

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Erinnerungen verschwammen, und langsam nahmen die Gefangenen mit
der Tracht der Spanier auch ihre Umgangsformen und Lebensgewohn-
heiten an.
„Zum Dienst des Kaisers seid ihr bestimmt", betonte stets der Geist-
liche.
Im Alter von siebzehn Jahren kam Miguel dann unter die Obhut des
spanischen Ritters Don Pedro de Ursalla. Unvermittelt kam eines Tages
der Befehl zur großen Reise über das Meer.
„Ich stehe im Dienst des Kaisers." Daran erinnerte sich Miguel beim
Anblick der Heimat. Er wußte, dieser Dienst, für den er erzogen worden
war, begann in dem Augenblick, in dem er den Fuß auf das Land setzte.
Ein Boot näherte sich dem Schiff, wurde festgemacht. Ein gewapp-
neter Mann rief: „Befehl des Statthalters zu Quito, Gonzalo Pizarro! Der
Dolmetscher Miguel hat bei Seiner Herrlichkeit zu erscheinen. Die
spanischen Herren werden gebeten, bis zum Empfang durch seine Edlen
noch auf dem Schiff zu verbleiben."
Miguel verneigte sich fragend vor Don Pedro. Der winkte stolz mit
der Hand. Mißgünstig blickten die Spanier Miguel nach, der nun schnell
und gewandt die Strickleiter hinunter ins Boot kletterte.
Wenig später sprang er an Land. Sein Herz klopfte, als er die steiner-
nen Paläste erblickte. Auf einem hohen Mast am Strand flatterte die
Flagge Kastiliens. Unter dem Schutz dieser Flagge lebt das Volk Perus,
sprach stets Don Pedro zu mir. Ehre sei dieser Flagge, wenn sie den Men-
schen Glück und Wohlstand bringt nach all den schrecklichen Kriegen
vergangener Zeiten, sagte sich Miguel.
Zwei Pferde standen bereit. Der Mann aus dem Boot, ein aufmerksam
blickender Feldhauptmann, bestieg das eine und befahl Miguel, auf dem
anderen Tier voranzureiten. So sprengten sie durch enge Straßen. Das
Volk, eilig und scheu dahineilende Peruaner, sprang vor den Pferden zur
Seite. Dunkle Blicke traf en Miguel. In bequemen Sänften liegende Spanier
grüßten die Reiter höflich durch weitausholendes Hüteschwenken.

Der Statthalter von Quito, Gonzalo Pizarro, saß ungeduldig vor


seinem Schreibtisch, auf dem sich Karten und Briefe häuften. Francisco
de Orellana stand vor ihm.
„Kommt er?" fragte Pizarro mit erregter Stimme.
„Er kommt, und allein... Don Pedro ist noch an Bord."
Der Statthalter hieb mit der Faust auf die Papiere. „Der verfluchte
Hund! Ich weiß, warum er und die Herren des Hofes hier sind. Man hat
mich bei meinem Bruder verleumdet. Aber wartet, bald werde ich so
viel Reichtümer besitzen, daß allen Neidern der Mund gestopft wird!"
„Wir müssen eilen, vielleicht ist der neue Gouverneur schon an Bord",
erwiderte Orellana hastig.
„Schon morgen brechen wir auf. In aller Stille. Das braune Gesindel
ist bereits heute in Marsch zu setzen, ebenfalls die Schweine und Hunde."
Plötzlich lachte Pizarro triumphierend. „Wir werden die Herren auf dem

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Schiffe warten lassen. Unser Erfolg, wenn wir goldbeladen aus der er-
oberten Kolonie zurückkehren, wird diese kleine Unhöflichkeit ent-
schuldigen."
Der Feldhauptmann Lopez de Agualla wurde gemeldet. Pizarro winkte
ungeduldig, und sporenklirrend, den Helm im Arm, schritt der Feld-
hauptmann durch den Saal auf den Statthalter zu. Ihm folgte in höfischer
Tracht Miguel.
„Gut, gut", unterbrach Pizarro die Meldung des Feldhauptmanns. „So,
der ist es also!" Er packte Miguel an den Schultern und schaute ihm ins
Gesicht. „Mein hochedler Bruder Francisco hat dir damals das Glück
zuteil werden lassen, nach Spanien zu fahren, du wirst mir nun im
Namen unserer allerchristlichen Majestät in diesem Land als Dol-
metscher dienen."
Miguel verbeugte sich. „Unter der Flagge Kastiliens zu dienen, ist
eine Ehre", sprach er.
Orellana lächelte Pizarro zu. „Die Voraussicht Eures erlauchten Bru-
ders scheint Früchte getragen zu haben. Miguel ist der Erziehung nach
ein Spanier, hat aber seine peruanische Muttersprache und ihre Dialekte
gepflegt und beherrscht sie vollkommen, schrieb mir der Pater Alvarez."
Dann zu Miguel gewendet: „Hat der ehrwürdige Pater die Wahrheit
berichtet?"
„So ist es", entgegnete Miguel. „Die Sprache der Menschen dieses Lan-
des ist auch die meine, und die spanische Lebensweise ist mir lieb."
„Und dein Herz?" Pizarros Augen bohrten sich in die Miguels.
„Mein Herz?" Miguel trat erschrocken einen Schritt zurück. Sein Herz!
Er fühlte dort plötzlich einen Schmerz, denn diese Frage hatte er sich
noch nie gestellt.
„Nun?" Der Statthalter packte ihn wieder an den Schultern.
Miguel löste seine Augen von dem harten Blick des Mannes und
blickte nach oben. Die Sonne warf ein breites Strahlenbündel durch das
hohe Fenster an die buntbemalte Decke. Stille war im Raum. Nur von
draußen tönte verworrener Lärm der Stadt herein. Miguels Augen senk-
ten sich und blieben an dem Kruzifix haften, das an der stoffbespannten
Wand hinter Pizarro hing. Es war aus Gold, und ein Sonnenstrahl ließ es
aufleuchten.
„Mein Herz ist christlich", sprach er leise.
Pizarro hieb ihm lachend auf den Rücken. „Christlich, Bruder Fran-
cisco! Das sind auch wir im Herzen, wie mit dem Schwerte im Dienste
Seiner allergnädigsten Majestät. Eine gute Antwort! Halte dich also be-
reit, übermorgen reisen wir."
Dem Feldhauptmann wurde befohlen, für die Ausrüstung „Miguels,
unseres Dolmetschers" zu sorgen. Dieser verbeugte sich tief, ging in
dieser Haltung fünf Schritte zurück und wandte sich dann zur Tür. Dort
wiederholte er die Zeremonie.
Sein letzter Blick fiel auf das hellschimmernde Kruzifix. -

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Gonzalo Pizarro, kaiserlicher Statthalter von Quito, brach in der
nächsten Nacht auf, um seiner Wahnidee, das Goldland Paytiti zu finden,
nachzujagen. Monatelang hatte er die Expedition vorbereitet, weder
Geld noch Menschen gespart, und nun mußte er in finsterer Nacht Quito
hinter sich lassen. Tonnen Goldes hatte er der Krone Spaniens vorent-
halten, noch mehr wollte er erbeuten, um die gegen seine Mißwirtschaft
angesetzte Untersuchung niederzuschlagen. Zu diesem nächtlichen Ritt
hatte er nur vier Begleiter befohlen: den hochmütigen Hidalgo*, seinen
Feldkaplan Gaspar de Carjaval, den Feldhauptmann Lopez de Agualla
und den Dolmetscher Miguel. Es galt, das langsam dahinziehende Gros
der Expedition zu erreichen und sich an die Spitze zu setzen.
Waffenklirrend preschten die Reiter die alte Inkastraße dahin. Sie
waren vollgewappnet, selbst Carjaval hatte das Ordenskleid mit einem
Brustharnisch vertauscht, und ein spitzer Helm bedeckte seine Tonsur.
.Er war ein streitbarer Kämpfer des Herrn, dieser Feldkaplan. Ein
goldenes Kreuz an goldener Kette hing um seinen Hals.
Miguel mußte beim Aufleuchten des Metalls an seine erste Begegnung
mit Pizarro denken. Mit offenen Lungen trank er die würzige Luft, die
von dem Gebirge herüberströmte. Nach einer Stunde scharfen Rittes
erreichten die fünf Reiter den Troß der Expedition. Noch war die ge-
pflasterte Straße breit.
„Vorbei!" befahl Pizarro und setzte sich an die Spitze der kleinen
Kavalkade**; Miguel ritt neben dem Feldhauptmann. Mit Staunen sah er
in den nächsten Stunden die lange Schlange der Menschen und Tiere die
Straße entlangziehen.
Agualla zügelte seinen Gaul. „Viertausend Indianer sind unsere Last-
träger für Proviant und Waffen. Das da, die quiekende Herde, sind
Schweine; dort schaukeln die Lamas. Und unsere Leute, die im Abstand
marschieren, führen die zweitausend Bluthunde." Furchtbar erklang das
wilde Bellen dieser Tiere in der Nacht. „Diese Hunde sind unsere beste
Waffe gegen das braunhäutige Menschenvieh", erklärte Lopez voller
Stolz.
Erschrocken hörte Miguel dem Feldhauptmann zu. Seine Kehle wurde
trocken. „Braunhäutiges Menschenvieh!"*War er doch auch einer dieser
Geschmähten! Dann aber sagte sich Miguel, daß der rohe Kriegsmann
neben ihm von seinem Standpunkt aus manches anders betrachte als der
große Pizarro, Hatte er ihn, Miguel, nicht neben sich geduldet als einen
der engsten Gefährten, hatte er ihn nicht sogar umarmt? Und der Marsch
würde lange währen. Pizarro würde seine Hilfe brauchen. Wieder stellte
sich Miguel die Frage, die ihn schon während der Vorbereitungen zu
dieser Urwaldfahrt befallen hatte: Wo soll diese abenteuerliche Reise ihr
Ziel finden?
Jetzt trabten sie endlich an der Spitze des kleinen Heeres. Zwei-
hundert spanische Glücksritter jubelten dem Statthalter zu. Diese
* Hidalgo = spanischer Edelmann
•• Reiterzug

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Männer waren alle zu Fuß und leicht gekleidet. Jedem Spanier folgte ein
Indianer, der ihm die Waffen trug.
Es wurde kurze Rast gemacht: Pizarro hielt Kriegsrat. Es stand fest,
daß man im Morgengrauen die Gebirgskette erreichen würde. Dort hörte
die gute Straße auf, und auf einem schmalen Weg mußte das Heer
weiterziehen. Pizarro befahl, die fünf Pferde durch Indianer nachführen
zu lassen, solange es möglich war. Fünf Eingeborene wurden zur Spitze
des Zuges gebracht, und Miguel mußte den Befehl übersetzen. Die fünf
in weite Umhänge gehüllten Indianer standen vor ihm. Er redete sie in
ihrer Sprache an. Die Lastträger horchten auf, und der älteste von ihnen
trat näher: „Du redest unsere Sprache. Gehörst du zu den Herren?"
„Ich bin kein Spanier, aber ich gehöre zu ihnen", antwortete Miguel.
„Wenn du zu ihnen gehörst, wirst du leben bleiben, wir aber werden
vor Hunger und Kälte sterben", entgegnete der Alte mit müder Stimme.
Dann erzählte er Miguel, daß die viertausend Lastträger vom Statthalter
in einer Nacht aus den Gefängnissen Quitos zusammengetrieben worden
waren. „Pizarro hat uns von einem schnellen Tod in den Gruben, in
denen wir arbeiten sollten, erlöst, aber einen langsameren und qual-
volleren werden wir nun im Urwald finden. Ach, du gehörst zu den
weißen Menschen - was weißt du von uns?"
Die Pferde wurden fortgeführt, und mit ihnen schwanden die fünf
Schatten der Indianer.
Mit beginnendem Tag erfolgte der Anstieg zum Gebirgspaß. Der
Wald trat zurück. Es wurde mit einem Male kalt und neblig. Die Spanier
froren. Wortlos marschierte Miguel am Ende der Spitzengruppe, neben
dem jetzt schweigsamen Lopez. Weit hinter ihnen klang das Bellen der
Hunde und wüstes Schreien der Spanier, die Menschen und Tiere an-
trieben. In Miguel tönten die Worte des alten Indianers nach, bis ihn
die sich verändernde Natur aus seinem Sinnen riß. Sie waren auf der
halben Höhe angelangt. Der Eiswind der nackten Kordillere überfiel
die Spanier, fraß sich bis in das Innerste ihres Gebeins. Nebelschwaden
umhüllten sie.
Und immer steiler wurde der Weg. Fluchend stolperten die Spanier
bergan, über die frostzitternden Glieder legten sie sich Decken und
Wämser. Pizarro befahl, die fünf Pferde zu schlachten und das Fleisch
einzusalzen. Die Lamas, maultierähnliche Tiere, zu Hunderten im Troß
geführt, mußten mit den jetzt entbehrlichen Waffen beladen werden.
Miguel sah, wie einige wilde Kriegsknechte den Indianern die wollenen
Tücher herabrissen und sich selbst umlegten. Einer der Geplünderten
war der Alte, der, nachdem er des Pferdes ledig war, unter einer schwe-
ren Kiste keuchte. Miguel wollte seine Decke abwerfen, um sie dem
alten Manne zu geben, aber ein scharfer Blick Orellanas hielt ihn zurück.

Die Spanier kämpften sich einen Tag und eine Nacht über den Ge-
birgspaß. Fast alle im Troß mitgeführten Schweine verendeten. Von den
Trägern starben an die Hunderte. Während der Frost am diesseitigen

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Hang der Sierra fast unerträglich war, empfing das Heer am jenseitigen
östlichen Hang unvermittelt die feuchte Hitze des Urwaldes, der unüber-
sehbar wie ein grünes Meer vor ihnen lag. Gewaltige Regenstürze durch-
näßten die Menschen. Der Glutatem des Fiebers hauchte sie an. Aber
weiter trieb Pizarro das Heer - tagelang, wochenlang. Der Weg erschien
allen endlos. Die Kleider der Spanier begannen zu zerfallen, ihre leder-
nen Koller schimmelten.
Das Heer verminderte sich. Am Pfade starben Sklaven, verreckten
Tiere. Im Regen löste sich der mitgenommene Proviant zu Brei. Der
nagende Hunger zwang die Spanier, einige Hunde zu schlachten. Es blieb
nicht bei diesen wenigen, bald wurde das heisere Bellen immer seltene;-.
Die eingeborenen Träger hatten kein Körnchen Mais mehr; sie nährten
sich von den Wurzeln des Waldes oder starben.
Plötzlich ließ der Regen nach. Das Heer zog durch einen Wald von
Zimtbäumen. Fluchend erblickte der fiebergeschüttelte Pizarro diesen
Reichtum an Gewürz, der ihnen jetzt nichts nützen konnte. Nahrung
brauchten sie! Der Feldherr gebot Rast. Müde und zerschlagen ruhten
die Spanier. Miguel hockte sich neben Lopez nieder. Er hatte die Stra-
pazen verhältnismäßig gut überstanden, sein Körper hatte sich langsam
auf das Klima seiner Heimat eingestellt/Lopez fieberte. Seine Augen
glühten. Plötzlich verklärte sich sein Gesicht. Er griff mit zitternden
Fingern in den modrigen Waldboden und murmelte verzückt: „Gold . . .
Gold . . . " Und er raffte den vermeintlichen Schatz mit den Händen zu-
sammen und stopfte ihn in die Taschen des zerfetzten Lederkollers.
Miguel ging den alten Lastträger suchen. Endlich entdeckte er ihn in
der ergeben dahockenden Menge der Sklaven. Der Alte lag im Sterben.
Vor Miguel öffnete sich in dem Haufen der ihn scheu anstarrenden Men-
schen eine Gasse.
Erschüttert beugte er sich zu dem Alten nieder. „Ich kam, um ein
fieberstillendes Mittel von dir zu erbitten, und nun finde ich dich selber
krank und elend." Er reichte dem Kranken eine Flasche Wein und ein
Stück gesottenes Hundefleisch, den Rest des ihm zugeteilten Proviantes.
Der Indianer richtete seinen matten Blick auf Miguel. Leise, stockend
sprach er: „Die weißen Herren haben alle Söhne des Inkavolkes getauft,
wo aber bleibt ihre Liebe? Ja, wo sollte sie auch sein, da sie selbst ihren
Gottessohn getötet haben?"
Bestürzt bekreuzigte sich Miguel, doch der Alte stammelte weiter:
„Seht, meine Brüder, er ist uns fremd, und doch waren seine Eltern in
unserem Lande glücklich, ohne die weißen Männer und ihren Gott zu
kennen. Miguel, du wirst unglücklich werden, der du im Herzen weder
braun noch weiß bist."
„Er wird unglücklich werden, unglücklicher als wir ...", murmelten
die düsteren Gestalten um Miguel.
Erschrocken sah er um sich. Im grünen Licht des Waldes erblickte er
nur anklagende Augen. Die gleiche Anklage hatte er auch damals in
den Augen seiner Mutter gelesen, bevor sie unter einem spanischen

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Schwert zusammengebrochen war. Miguel glaubte, diesen anklagenden
Blick aus allen auf ihn gerichteten Augen brennen zu sehen.
Erschüttert rief er: „Ich will euch helfen, aber wie kann ich das?
Die Macht der Spanier ist zu groß, ihr Wissen unserem geschlagenen
Volke überlegen, ihre Waffen unüberwindlich. Die ganze Welt der weißen
Männer ist dem spanischen Kaiser Untertan!"
„So mußt du klüger sein als sie, ohne ihren Schwächen zu erliegen.
Die Gier der weißen Männer nach Gold wird ihr Tod sein. Wer nur
ernten will, ohne zu säen, der wird zugrunde gehen. Zu Sklaven haben
sie uns gemacht. Verflucht seien sie!" Der Alte ballte die Fäuste und
richtete sich halb auf.
„Nimm dieses Inkazeichen, und wenn du im Urwald bist, werden dir
unsere Brüder und Schwestern helfen, wie du ihnen hilfst." Er nestelte
eine mit Knoten durchflochtene bunte Schnur von seinem Gürtel und
reichte sie Miguel, der sie andächtig küßte.
„Der Urwald ist groß", murmelten die Indianer. „Wir sind schwach
und krank, du aber bist noch stark und jung. Tue, was der sterbende
Mann dir sagt."
Der Alte legte sich zurück; noch einmal überlief ein Zittern seinen
Körper; dann war er tot. Wieder öffnete sich die schweigende Gasse vor
Miguel.
Klopfenden Herzens lief er den Weg zurück, ein Säckchen mit Kräu-
tern an sich pressend, das ihm zum Abschied gereicht worden war.
Im Zelt hockte er sich in die Nähe Pizarros, der auf einer Kiste im Ge-
spräch mit Orellana und dem Feldkaplan saß. Eine furchtbare Nieder-
geschlagenheit hatte sich ihrer bemächtigt. Ohne Proviant, umgeben von
einer feindseligen Natur, sank ihnen der Mut.
Miguel lauschte aufmerksam ihrem Gespräch. Oh, er wollte von nun
an klug wie die Schlange sein!
Lopez war nach dem Genuß der zerriebenen Kräuter eingeschlafen
und wurde aufgeschreckt, als Pizarro mit lauter Stimme befahl, Späher
in den Wald zu senden. Bewegung kam unter die Männer. Jetzt, da
es galt, auf Nahrungssuche zu gehen, meldeten sich viele. Konnte
man nicht vielleicht ein Indianerdorf erstürmen und dort auch Gold
finden?
Miguel wurde als Dolmetscher zu der Patrouille befohlen. An der
Spitze von dreißig Spaniern durchbrach er mit seinem langen Messer
das Urwaldgestrüpp. Fluchend hieben die nachfolgenden Krieger mit
ihren Schwertern erweiternde Bahn. Die Späher erreichten einen
schmalen Pfad. Frohlockend stürmten die Spanier an Miguel vorbei. Sie
erblickten ein indianisches Dorf im Wald. Halbkegelförmige, mit Palm-
blättern bedeckte Hütten standen im Kreis um eine Lichtung. Schweine
rannten umher, und den Spaniern lief vor Gier das Wasser im Munde
zusammen. Aber der narbenzerfurchte Obrist Don Antonio de Ribera
gebot Halt und Umkehr: „Wir werden sie bei Nacht fangen, im Schlaf
überraschen, dann bekommen wir alle!"

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Miguel erhielt einen Stoß und mußte mit zurückschleiehen. Im Lager
durfte er nicht von der Seite Riberas weichen. Verzweifelt überlegte
Miguel, wie er die Indianer warnen könne. Aber die funkelnden Augen
des Obristen verfolgten jede Bewegung des Dolmetschers.
In der Nacht wurde das Dorf umzingelt, und es gelang, sämtliche
Bewohner zu fangen. Sie wurden gebunden und in das provisorisch be-
festigte Lager der Spanier geschleppt. Die lachten, als sie die mageren
Braunen sahen. Das Herz schwoll den Weißen: Ihre Gegner würden
keine wohlgenährten Indianer sein wie damals in der Inkazeit, die in
steinernen Häusern wohnten und sich nur nach hartem Kampf den über-
legenen Waffen der Europäer beugen mußten.
Der Häuptling, der „Kazike" des Dorfes, hatte in der durchbohrten
Unterlippe eine goldene Scheibe stecken. Der Obrist, der sie im Würfel-
spiel gewann, riß dem Indianer das Gold aus der Lippe.
Die Spanier waren siegestrunken. Zwei große Feuer wurden entfacht
und die Gefangenen unter besonderer Bewachung in gehöriger Ent-
fernung zusammengetrieben. Pizarro saß auf einer Kiste und befahl
Miguel zu sich. Carjaval und Orellana standen neben ihm.
Im Schein des Feuers verbeugte sich Miguel vor dem Feldherrn.
Der blickte ihn böse und spöttisch an und sprach: „Höre, Miguel,
mein Dolmetscher! Du wirst jetzt Gelegenheit haben zu zeigen, daß du
ein treuer Untertan Seiner allerchristlichen Majestät bist. Bringe den
Kaziken zum Reden. Er muß sprechen! Da er ein Heide ist, ein armer
Wilder ohne Seele, geben wir ihm keine Schonung, wenn er schweigt."
„Bisher haben wir noch jeden zum Sprechen gebracht!" schrie ein
Mann aus der Rotte. Rohes Lachen begleitete diese Feststellung. Pizarro
nickte gnädig.
„Don Antonio de Ribera", befahl er nun. Der Genannte trat vor, warf
den gebundenen Kaziken beim Feuer nieder und löste dessen Fußfesseln.
Carjaval griff nach dem Kreuz an der goldenen Kette.
„Walte deines Amtes, Feldkaplan", lächelte zynisch der Feldherr.
Flüsternd sprach Miguel mit dem Gefesselten. Genau verdolmetschte
er die Worte Carjavals. Ob der Kazike gewillt sei, zur Ehre des alleinigen
Gottes das heilige Zeichen zu küssen. Ob er gewillt sei, seinen heid-
nischen Göttern abzuschwören und sich im Namen des alleinselig-
machenden Gottes taufen zu lassen.
Der Kazike schwieg, nur seine Augen sprachen ein vernichtendes
Urteil, als er Miguel anblickte; aber er schwieg , . .
Miguel richtete sich auf. „Mein Herr und Gebieter, vielleicht ver-
steht er mich nicht."
Der Feldkaplan wandte sich hochmütig ab. „Er versteht dich, aber er
ist ein verstockter Heide wie alle Braunen, ein Waldtier. Bringt ihn
peinlich zum Sprechen."
Auf diesen Befehl hatte Ribera nur gewartet. Mit einem Ruck drückte
er die Füße des Gefangenen in das Feuer. Zwei Männer aus dem Haufen
halfen, die zuckenden Beine des Gefolterten zu halten.

13
„Wo liegt das Goldland Paytiti?" rief Orellana Miguel zu, der hastig
übersetzte.
„Du kannst nichts mehr, Don Antonio", sagte Pizarro böse, als der
Gefangene noch immer nicht antwortete.
Wütend zerrte der Gerügte die schon verkohlenden Füße des In-
dianers weiter in die Glut.
Jetzt bemerkte Miguel, daß den Kaziken ein Zittern überfiel. Er
wollte den Mund zum Sprechen öffnen, aber Miguel beugte sich rasch zu
ihm. Unauffällig schlug er seinen Umhang etwas zur Seite, deutete auf
die bunte Schnur, die er am Gürtel versteckt trug und flüsterte dem
Stöhnenden zu: „Sprich nicht, mein Freund, dann ist es ihr Tod im weg-
losen Urwald."
Der gequälte Blick des Kaziken traf die geknotete Schnur. Seine
Augen wurden plötzlich scharf, und ein Ruck seines Kopfes bekräftigte,
daß er verstanden hatte.
Kurz bevor der gräßlich gequälte Kazike wortlos verschied, sprang
der Feldkaplan zu ihm, besprengte ihn mit ein wenig Sumpf wasser und
taufte ihn auf den Namen Luiz. Starr stand Miguel vor der halbverkohl-
ten Leiche. Er erkannte, daß Eigennützigkeit und Gier die Triebfeder
zu dem war, was er eben erlebt hatte; ein Zerrbild der Christenlehre.
Und Miguel, der den Glauben der Nächstenliebe jung und reinen Herzens
empfangen hatte, fühlte Zorn und Empörung.
Pizarros Augen flackerten böse. „Wie viele Bluthunde haben wir
noch?" wollte er von Orellana wissen.
„Eure Ehren, noch sechs Tiere, die aber bald verhungern werden,
wenn wir es nicht vorziehen, sie für unseren Proviant zu schlachten."
Pizarro dachte einen Augenblick nach. „Die Gefangenen sind zu
schwächlich, um uns als Träger zu dienen; jagen wir sie in den Wald, so
werden die anderen Dörfer gewarnt. Werft sie den Hunden zum Fraß
vor!"
Und so geschah es.
Die im Walddorf erbeuteten Nahrungsmittel wie Mais, Bataten-
knollen sowie die mageren Schweine reichten kaum aus, um den Heiß-
hunger der weißen Abenteurer zu stillen. Pizarro sandte einige Male
Späher aus, doch sie fanden keine Eingeborenen mehr.
Durch den Urwald tönten warnend die Signaltrommeln.
So befahl Pizarro den Abbruch des kleinen Lagers.
Am frühen Morgen zog das stark zusammengeschmolzene Heer tiefer
in den Urwald. Lopez befahl einem Sklaven, sich zu beugen, und bestieg
seinen Rücken. Mühsam wankte der Mann unter der schweren Last des
Feldhauptmanns vorwärts. Das Beispiel fand bald Nachahmung. Die
meisten der vom Fieber geschwächten Spanier suchten sich ihre persön-
lichen Träger.
Wieder marschierte an der Spitze der eiserne Gonzalo Pizarro und
der seit gestern zum Teniente-General* ernannte Francisco de Orellana.
* Generalleutnant

14
Es folgten Don Antonio de Ribera und der Feldkaplan. Diese Spitzen-
gruppe beendeten Pizärros Schreiber, Pedro de Solis und Miguel, denen
sich in langer Reihe der Rest der Abenteurer anschloß. Die Masse der
Träger, ein knappes Dutzend Lamas, ein Haufen antreibender und be-
aufsichtigender spanischer Kriegsknechte mit den restlichen Bluthunden
bildeten den Troß.
Die Offiziere waren gewappnet und trugen ihre jetzt rostgeneckten
Kürasse über den zerfetzten Wämsern. Und wieder peinigte der Hunger
die Menschen. Der Weg der Expedition war durch fortgeworfene Kisten
und die Leichen der Träger gekennzeichnet.
Nach fünf Tagen kam das kleine Heer an einen breiten Fluß, der
durch das Vorgebirge der Sierra stieß. Erstmalig bekamen die Spanier
hier im Urwald einen Fluß zu Gesicht. Sie konnten ihn nicht durch-
waten und standen ratlos am Ufer. Nachdem sie eine Strecke am Wasser
entlanggegangen waren, sahen die müden Männer plötzlich auf dem jen-
seitigen Ufer viele große Hütten. Dort wird es Nahrung geben! Auf dem
Ufersande lagen lange Kanus, und Fischnetze hingen über Stangen.
Braune, fast nackte Menschen standen dort und blickten zu den Fremden
herüber.
Pizarro versuchte die Indianer anzulocken. Er ließ ihnen Decken,
Äxte und Messer zeigen, befahl seinen Leuten, freundlich zu rufen und
zu winken. Aber die Indianer blieben mißtrauisch. Ihr Telegraph, die
Trommeln, hatten Entsetzliches von den Weißen berichtet. Zu aller Ent-
täuschung mußten die Spanier feststellen, daß ihr Pulyer in der schwü-
len Urwaldluft feucht geworden war. Schnell wurden die kleinen Fäß-
chen von den Lamas geladen, das Pulver auf Decken ausgeschüttet und
den Sonnenstrahlen ausgesetzt. Als dies getan war, ließ der Feldherr
Miguel rufen und befahl ihm, den Fluß zu durchschwimmen und mit den
Eingeborenen zu verhandeln.
Wortlos fällte Miguel einen Baum, entkleidete sich, warf den Stamm
ins Wasser, und sich an das Holz klammernd, schwamm er mit kräftigen
Stößen über den reißenden Strom. Und Seltsames geschah ihm.
Während seine Beine kräftig arbeiteten, klammerte er den Stamm
fest an die Brust und lag halb auf dem Rücken. So schaute er in den
sonnenflimmernden Himmel und schloß geblendet die Augen. Mit einem
Male sah er sein ganzes Leben an sich vorüberziehen. In der schwachen
Erinnerung seiner Kindheit war ihm der Überfall der Spanier auf
Atahualpa nur als furchtbarer Schreck ins Herz gegraben. Jetzt aber
wurde er in allen Einzelheiten wieder lebendig. Braunhäutiges Menschen-
vieh! Folterung friedlicher Menschen! Die Christenlehre aber hatten die
Spanier willkürlich ihren eigenmächtigen Zwecken dienstbar gemacht.
Ja, er hatte recht getan, wider seine Herren und den „Dienst des
Kaisers" zu handeln. Und noch zu wenig hatte er gegen das Unrecht
gekämpft! Schon längst hätte er die Indianer warnen müssen. Jetzt aber
bot sich dazu Gelegenheit, wenn er mit den Eingeborenen drüben allein
sprechen würde. Es war ihm, als sei er mit dem Abstreifen der spanischen

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Kleidung ein neuer Mensch geworden. Frei fühlte sich Miguel, wie er im
Wasser dahinschoß, eins mit den Menschen am jenseitigen Ufer. Er
würde für ihre und für seine Freiheit kämpfen . . . Eine kurze Zeitspanne
im reißenden Wasser - aber sie entschied über das weitere Leben
Miguels.
Seine Füße fanden schlüpfrigen Boden. Er drückte den Körper gegen
die Strömung, und die Indianer, die ihm entgegenliefen, sahen aus dem
Wasser einen schlanken, sehnigen jungen Menschen steigen. Er war
nackt bis auf den schmalen Lendenschurz, in dem ein Messer steckte. Das
war nicht mehr Miguel, der Dolmetscher des Gonzalo Pizarro, sondern
ein Sohn des Inkavolkes!
Die Eingeborenen ließen ihre Speere sinken und legten zur Begrüßung
die linke Hand aufs Herz. Miguel sprach mit ihnen, und die Bewohner
des Waldes verstanden seine Worte. Er wurde zum Kaziken Delikola
geführt. Die Dorfbewohner umringten ihn, und Miguel sah die Männer,
Frauen und Kinder aus den Hütten strömen. Sie begrüßten ihn freudig.
Ob er vor den Spaniern geflohen sei, fragten sie. Heiter und friedfertig
gaben sich diese Menschen, und Miguel dachte mit Schrecken daran, daß
auch hier eines Nachts der Obrist Ribera mit einer Horde Spanier unter
wildem Kriegsgeschrei Mord und Zerstörung entfachen würde.
In einer der runden Hütten saßen die Ältesten des Dorfes versammelt,
in ihrer Mitte der Kazike. Er trug um den Hals ein geflochtenes Band,
diclvt mit Affenzähnen besetzt. „Bringst du uns Gutes oder Schlechtes
von den weißen Menschen dort drüben?" fragte der Kazike. „Du bist
ein Sohn des einst reichen Landes an der Küste. Dienst du den weißen
Männern?"
Miguel zog aus dem Lendenschurz die bunte Schnur und wies sie vor.
„Ich war ihr Diener, jetzt bin ich ihr Feind. Und ich rufe alle friedlichen
Bewohner des großen Waldes auf, mich anzuhören und nicht den Ver-
sprechungen der Weißen zu glauben!" Miguel erzählte leidenschaftlich
von den Freveln der Spanier und forderte alle zum Widerstand auf. Der
Kazike und die Ältesten lauschten erregt. Einer von ihnen ergriff das
Wort:
„Was sprichst du von Kampf? Wir sind ein friedliches Volk. Die weißen
Männer sind dort, und wir sind hier, dazwischen liegt der breite Fluß.
Sie haben keine Boote zum Übersetzen und nichts zu essen, wie du sagst.
Lassen wir sie weiterziehen!"
Zustimmend nickten einige der Ältesten. „Ja, wir Bewohner des
Waldes sind ein friedliebendes Volk." Der Kazike hob die Arme und
gebot Schweigen. „Du hörst, was sie sagen, fremder Freund. Aber du
siehst auch selbst, daß der breite Fluß uns schützt. Ich weiß einen an-
deren Weg: Ich werde in einem Kanu zu den weißen Männern fahren,
werde tun, was sie wollen, ihnen Nahrungsmittel in Fülle geben, damit
sie weiterziehen. Und dann werde ich die Fremden mit dir zusammen
dorthin führen, von wo sie niemals wieder den Rückweg finden. Das ist
mein Vorschlag."

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Traurig blickte Miguel in die ernsten Gesichter der Männer in der
Runde. Eindringlich antwortete er: „Ihr dürft nicht länger warten. Jetzt
müßt ihr zu den Waffen greifen! Das Pulver der Weißen, womit sie Blitz
und Donner schleudern und aus weiter Entfernung töten - ihr kennt diese
schreckliche Waffe noch nicht -, ist feucht geworden. Bald wird es die
heiße Sonne getrocknet haben. Noch sind die Eroberer hungrig und mut-
los, ihre gefährlichste Waffe ist unbrauchbar. Die vergifteten Pfeile
eurer Blasrohre können töten, ohne daß der Schütze gesehen wird. Über-
schüttet die Fremden von den Booten aus mit Pfeilen, schleudert Brände
auf das gehäufte Pulver, tötet die Tragtiere. Ich will dafür sorgen, daß
Verwirrung bei den weißen Männern entsteht und euch so im rechten
Augenblick helfen. Alle Dörfer des Waldes müssen sich gegen die weißen
Männer verbünden. Aber handelt ihr nicht so, dann werden euch die
Männer aus dem Land über dem großen Wasser alles versprechen, um es
nicht zu halten und euch alles zu nehmen. Ruft also zum Kampf! Tötet
die jetzt geschwächten Eroberer!"
Aber die Alten wiegten zweifelnd ihre Köpfe.
„Fragt die jungen Männer des Dorfes, ob sie abwarten wollen, bis die
Weißen kommen und sie töten!" rief leidenschaftlich Miguel.
„Du bist jung wie sie. Im Alter liegt Voraussicht und Weisheit. Was
kann uns der Donner der Weißen anhaben, wenn wir in den Wald zurück-
weichen? Und sollte ihr Donner stärker sein als der Donner des Un-
wetters, dem unsere Hütten standhalten?"
Die Ältesten einigten sich, den Vorschlag des Kaziken anzunehmen.
„Seid klug, führt die Fremden in den Untergang! Wir aber aus dem Dorf
werden alle in den Wald ziehen und dort bleiben, bis sie fort sind",
sprachen sie.
„Dann werden andere, neue aus dem Lande über dem großen Wasser
kommen", rief Miguel zornig.
Die Ältesten schüttelten wieder die Köpfe und geleiteten dann den
Kaziken und Miguel zum Fluß. Ein langes, breites Kanu wurde zu
Wasser gelassen. Auf Delikolas Befehl luden die Dorfbewohner Früchte,
Schildkröten, Körbe voll fetter Andirobanüsse, Beeren der Assaipalme
sowie getrocknetes Affenfleisch in das Boot.
Während dieser Vorbereitungen schaute Miguel zum anderen Ufer
hinüber. Er sah dort die Spanier aufgeregt die Vorbereitungen der
„Wilden" verfolgen. Die Sonnenstrahlen durchbrachen den lichteren Ur-
wald und brachen sich an den Kürassen und Waffen. Lagerfeuer, an
denen die hungrigen Spanier das Fleisch der beiden letzten mageren
Bluthunde kochten, sandten ihren Rauch senkrecht in das verfilzte Laub-
dach der Urwaldbäume. Affen, deren neugieriges Gekreisch bis über den
Fluß schallte, hüpften von Ast zu Ast und lachten wohl über die Men-
schen, die mit Armbrustbolzen ungeschickt nach ihnen schössen. Schil-
lernde Papageien stimmten schrill knarrend in das Affenkonzert ein; all
dieser Lärm wurde manchmal durch das stärkere Rauschen des Wassers
verschluckt, um dann desto deutlicher an Miguels lauschende Ohren zu

17
dringen. Ein buntes, prächtiges und friedliches Bild, Das empfanden
auch die Waldbewohner, die neugierig schwatzend mit der Hand über
den Augen dem Treiben der weißen Fremdlinge zusahen. Sie kannten
nicht den Zweck der Feldschlange, eines der beiden bis hierher gerette-
ten Geschütze der Spanier, die durch keuchende indianische Träger vom
Rücken eines Lamas abgeschnallt und fortgeschleppt wurden. Miguel
erblickte deutlich, wie das Eisenrohr von Don Antonio de Ribera hinter
einem aufgeschütteten Sendhaufen in Stellung gebracht wurde. Die
kreisförmige Öffnung blickte drohend auf das Dorf.
Delikola forderte Miguel zum Einsteigen auf. Das lange Kanu lag
schwer im Wasser. Zwei nackte, muskulöse Braune saßen im Heck und
drückten das Boot mit den beiden spitzen Paddeln gegen die Strömung.
„Noch ist es Zeit, Delikola", beschwor Miguel den Kaziken. Der schüt-
telte lächelnd den Kopf. „Mein Entschluß steht fest, die Ältesten haben
zugestimmt."
Miguel schwang sich neben ihn in das Boot. Unter lautem Jubel der
Dorfbewohner wurde das Kanu in die Mitte des Stromes gepaddelt und
die Hölzer kräftig handhabend, ließen es die Ruderer sanft mit der Strö-
mung abtreiben, aber stetig Richtung auf das andere Ufer haltend.
Knapp hundert Meter flußabwärts vom Lager der Spanier näherte sich
das Boot dem Ufer. Noch einige kräftige Schläge mit den Paddeln im
stillen Wasser der Uferströmung, und es stieß an Land. Die Spanier
eilten herbei. Da befahl der Kazike seinen Stammesgenossen streng, ins
Wasser zu springen und heimwärts zu schwimmen.
Gegen Abend veranstalteten die Spanier im Lager ein Festmahl. Auf
der anderen Seite des Stromes standen die Waldindianer am Ufer und
lauschten erschreckt den trunkenen Liedern der Weißen.
Pizarro beabsichtigte, den Kaziken eindrucksvoll zu empfangen. Er
saß in einer mit Palmblättern bekleideten Hütte auf dem Thronsessel,
den zwei Sklaven von Quito bis hierher geschleppt hatten. Miguel, jetzt
wieder in Hose, Wams und Stulpenstiefeln, der christliche Dolmetscher,
hockte zu seinen Füßen. Auf Kisten und Decken saßen im Halbkreis die
Hauptleute. Dort stand auch der Schreiber Pedro de Solis und hielt eine
Rolle mit den Fragen, die der Feldherr von dem Wilden beantwortet
wissen wollte, in der Hand. Der Kazike wurde hereingerufen. Die
Spanier flüsterten bei seinem Erscheinen und zeigten auf die langen
Haare des Braunen, die ihm bis über den Rücken fielen. „Haarmensch",
flüsterten sie sich spöttisch zu.
Pizarro befahl zwei Sklaven, Fackeln zu entzünden und sich neben
den Thronsessel zu stellen. Der Kazike verneigte sich in banger Scheu.
Miguel übersetzte die Fragen, die der Schreiber im Namen Pizarros vor-
las. „Antworte du so, wie es klug ist", sagte Delikola zu Miguel. Und
dieser übersetzte in fließendem Kastilianisch die knappen Laute des
Kaziken: Das reiche Land sei nahe, unermeßliche Schätze befänden sich
dort, und auch genügend Nahrung für die Weißen werde man finden.
Alle Antworten Delikolas, von Miguel ausführlich in seinem Sinne über-

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setzt, waren günstig, und befriedigt hörte der Feldherr zu. Der Kazike
erklärte sich sogar bereit, den Weg nach dem Goldland Paytiti zu weisen.
Freudig murmelten die Spanier, manch einer küßte sein Kruzifix. Am
Ende war Delikola auch einverstanden, die Oberhoheit Kaiser Karls des
Fünften anzuerkennen und sich christlich taufen zu lassen.
Nach dieser Komödie befahl Pizarro, den Kaziken zu fesseln und ihn
bewachen zu lassen. Um die Hände des Entsetzten legten sich plötzlich
feste Hanfstricke.
Um Mitternacht sprang ein Dutzend Spanier unter dem Befehl des
Obristen Ribera in das Kanu. Sie paddelten ungeschickt mit dem kleinen
Schiffchen bis über die Mitte des Flusses. Dort feuerte Ribera seine
Pistole ab, und fast gleichzeitig legte am Ufer der Feldhauptmann Lopez
de Agualla die Lunte an das Zündloch der Feldschlange. Nach einem
dumpfen Knall zog die Stückkugel zischend über die hastig dahinrudern-
den Eroberer und grub sich, eine Erd- und Wasserfontäne aufstiebend,
in das flache Ufer.
Die Eingeborenen hatten noch nicht das Dorf verlassen. Zwar war
das Nahen des Kanus durch Späher beobachtet worden, und eine Gruppe
junger Krieger mit knochenbewehrten Speeren und Holzschilden stand
abwartend im Ufergebüsch. Aber nach dem plötzlichen Blitz, dem Knall
und der Wirkung des klatschenden Einschlages stürzten sie alle er-
schreckt zu Boden und hielten die Hände über den Kopf. Entsetzen
erfaßte sie. Was dann folgte, war eine kopflose Flucht vor den blitz-
schleudernden weißen Göttern, denn jetzt gaben die Spanier eine Salve
ab. Sogar der Musketier verstand es, im schwankenden Kanu sein Rohr
auf die Gabel zu legen und krachend eine Kugel in den Haufen der In-
dianer zu feuern. Fackelschwingend landeten die Spanier. Wer von den
Eingeborenen ihren Weg kreuzte, wurde niedergehauen. Die Hütten
wurden in Brand gesteckt, nachdem alles Eßbare herausgeschleppt
worden war. Unheimlich spiegelten sich die Flammen der brennenden
bienenkorbähnlichen Wohnstätten der Indianer im Wasser. Erschrecktes
Waldgetier floh durchs Gestrüpp. Furchtsam kreischend, kletterten die
Affen bis in das höchste Geäst der Bäume.
Miguel stahl sich leise zu Delikola. Der saß schweigend und starr mit
gebundenen Händen im Troß. Ein von Palm wein trunkener Soldat hielt
das Ende des Strickes in den Händen.
„Jetzt bleibt dir nur noch die Rache", flüsterte Miguel. Da flammten
die Augen des alten Kaziken auf.
Die Spanier blieben nicht lange in dem Lager am Fluß. Zu groß war
ihre Gier nach den Reichtümern des sagenhaften Landes Paytiti. Sie
stopften sich die Bäuche mit den erbeuteten Lebensmitteln voll, verteil-
ten den kärglichen Rest auf die Rücken der Lamas und brachen achtund-
vierzig Stunden nach dem Gemetzel zum Weitermarsch durch den Ur-
wald auf. Pizarro hatte befohlen, sich zu wappnen, denn in der Nacht
dröhnten unaufhörlich die Trommeln der Waldindianer und verbreiteten
die Nachricht vom Überfall auf das Dorf.

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Wie üblich, marschierte Pizarro an der Spitze, diesmal neben Deli-
kola, der das kleine Heer führte. Miguel lief dicht hinter ihnen, um jeder-
zeit die Fragen und Befehle Pizarros verdolmetschen zu können
„Du haftest mir mit deinem Leben dafür, daß der langhaarige Wilde
kein falsches Spiel mit uns treibt", hatte der Feldherr gedroht.
Der Kazike führte die Spanier anfangs einige tausend Meter flußauf-
wärts und bog plötzlich links auf einen schmalen Pfad ab, der sich tief
hinein in den feuchten Urwald schlängelte. Jetzt blieb Miguel ein wenig
hinter dem Kaziken zurück; unauffällig spähte er in die dichten Büsche.
Eine große Spannung hatte sich seiner bemächtigt.

In der Nacht, kurz nach dem Überfall auf das Indianerdorf, als der
größte Teil der Spanier siegestrunken und vom Palmwein sinnlos be-
rauscht schlief, hatte sich Miguel zu Delikola geschlichen. Vorsichtig zog
er das Ende des Strickes, an dem der Kazike gefesselt war, aus der Faust
des schnarchenden Wachtpostens. Die beiden schlichen zwischen den
schlafenden Spaniern hindurch zu den Sklaven, die sich hungrig und
matt um ein verglimmendes Feuer gelagert hatten.
„Auf, die Stunde ist gekommen!" rüttelte Miguel die Schlafenden
wach. Mißtrauisch musterten die Träger den Dolmetscher. Delikola
stand aufrecht neben ihm, die gefesselten Hände auf dem Rücken. In
knappen, leidenschaftlichen Worten setzte er den Indianern den Plan
Miguels auseinander:
Er, Delikola, würde die Weißen weit hinein in den Urwald locken,
wo jeder Schritt im sumpfigen Grund vollste Aufmerksamkeit erforderte
und ermattende Schwüle und schwirrende Insekten die Sinne der Frem-
den trübten. Auf ein von Miguel gegebenes Zeichen sollten dann die
Sklaven mit ihren Lasten in das Urwalddickicht springen, sich ver-
stecken und sich später, weit entfernt vom Heer der Weißen, im Walde
sammeln und die Kundschafter der Waldindianer abwarten.
„Die Trommeln verkünden es", rief Delikola. „Die Stämme des großen
Waldes haben sich zum Kampf entschlossen, sie warten darauf, sich an
den grausamen Eroberern rächen zu können."
„Töten werden sie uns, die wir von der Küste sind." Müde sprach es
einer der Träger, dessen spitze Knochen sich unter seiner zerlumpten
Decke abzeichneten. „Sieh uns an, wir sind zu schwach zum Fortlaufen.
Unter der Peitsche der Weißen halten wir uns nur noch mit Mühe auf
den Beinen." ,
„Der Haß wird euch Kraft geben", entgegnete Miguel. „Wenn ich mein
Pistol abfeuere, springt in den Wald. Die Spanier sind durch ihre
schweren Rüstungen zu behindert, um euch im Dickicht zu verfolgen."
„Und im Walde werdet ihr Freunde, keine Feinde finden", bekräftigte
der Kazike.
Die Aussicht, ihren Peinigern zu entfliehen, um sich an ihnen zu
rächen, ließ die Sklaven neuen Mut schöpfen. Sie versprachen, auf das
vereinbarte Zeichen gemeinsam zu handeln.

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An diesen Plan, den er mit Delikola und den Sklaven besprochen
hatte, mußte Miguel denken. Die scheinbar undurchdringliche Mauer des
Tropenwaldes begünstigte einen entschlossenen Ausbruch der Träger.
Der Zeitpunkt dazu schien jetzt Miguel gekommen zu sein. Immer
beschwerlicher wurde der Weg, Schlingpflanzen und armdicke Lianen
mußten die Spanier mit ihren Schwertern zerhauen, um überhaupt einige
Schritte vorwärts zu kommen. Der Boden schwankte unter ihren Füßen,
stellenweise quoll fauliger Schlamm empor und durchnäßte die ohnehin
zerrissenen Stiefel. So kroch die kleine Heerschlange der Weißen, die
unter ihren eisernen Panzern vor Hitze fast vergingen, mühselig durch
den Urwald. Klatschende Peitschenschläge trieben die dahinwankenden
Träger an; wüstes Fluchen und Geschrei wurden vom Blättergewirr der
mächtigen Bäume geschluckt.
Plötzlich knallte dumpf ein Schuß. Miguel, der Dolmetscher, war
gestürzt, und im Fallen hatte sich sein Pistol entladen. Die indianischen
Träger schrien gellend auf und stürzten zur Seite in den Urwald hinein.
Einige der Spanier hieben mit wütenden Schwertstreichen drei oder vier
der flüchtenden Sklaven nieder, aber im allgemeinen Durcheinander
gelang es dem Rest der Träger, im Dickicht des Urwaldes zu verschwin-
den. Wilde Flüche prasselten auf den Dolmetscher nieder; man gab dem
Schreck über den Schuß und der darauffolgenden Panik die Schuld an
der Flucht der Träger. Hätten die Weißen auf Miguels Dienste verzichten
können, es wäre ihm schlecht ergangen.
Nur mit den notwendigsten Waffen versehen, ohne jeden Proviant,
sahen sich die Spanier verloren. Pizarro raffte einige Hauptleute und
Knechte zusammen und befahl ihnen, die Verfolgung aufzunehmen.
Keuchend versuchten die Männer, das Gestrüpp zu durchdringen und
die Fliehenden einzufangen, aber sie kamen nicht weit. Der Feldhaupt-
mann griff sich plötzlich angstvoll an den Hals, aus dem ein buntgefieder-
ter Blasrohrpfeil ragte. Mehrere Knechte wälzten sich in Krämpfen am
Boden: Das Gift der knöchernen Pfeilspitzen wirkte schnell. Überall war
ein Knacken im verfilzten Unterholz, als wenn viele nackte Füße dort
einen Kreis um die Weißen schlössen. Zirpend schwirrten Pf eile von oben,
von der Seite her, sprangen von den Kürassen ab oder bohrten sich in
das Fleisch der ungeschützten Hände, des Halses oder in die bärtigen
Wangen der Spanier.
Delikola und Miguel berieten sich kurz.
„Herr", Miguel nahte sich ehrfürchtig Pizarro. „Der Kazike spricht
von einem Fluß, Napo, den wir noch heute erreichen könnten. Dort sei
ein Dorf, und Kanus lägen am Ufer; es sei gut möglich, den Fluß hin-
unterzufahren in das Land Paytiti."
Neue Hoffnung erfaßte die Eroberer. Orellana und die Hauptleute
formierten sich eng um Pizarro. Der Feldkaplan sprach einen kurzen
Segen über die Toten, die man am Wege liegen lassen mußte. Dann mar-
schierten die Spanier weiter. Die Furcht beschleunigte ihre Schritte, so
daß sie sich bereits gegen Mittag dem Flusse näherten.

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In schmeichlerischen Worten bat Miguel den Feldherrn, ihn voraus-r
eilen zu lassen, um die Eingeborenen zu überreden, Lebensmittel und
Kanus bereitzustellen. Pizarro, hohläugig und fiebernd, nickte zu dem
Vorschlag, befahl aber, daß der Kazike bei ihm bleiben solle.
So machte sich Miguel allein auf den Weg. Er folgte dem breiten
Schilfgürtel, der sich amFluß hinzog, und stieß einige Stunden später auf
das Dorf. Er wurde von den Spähern der Waldindianer gesichtet, die
ihn in die Mitte nahmen und zu dem großen Haufen der Krieger führten,
die sich am Fluß versammelten. Hier fand auch Miguel die entflohenen
Trägersklaven wieder, die sich mit Speeren bewaffnet hatten. Alle be-
stürmten ihn mit Fragen. Wilder Haß loderte aus den Augen der Wald-
menschen, als sie vernahmen, daß die Weißen bald den Fluß erreichen
würden. Sie schwangen ihre Speere und stießen Kriegsrufe aus. Miguel
übersah mit einem Blicke, daß die Holzspeere, Schilfschilde und Blas-
rohre keine Bewaffnung waren, um den Spaniern mit ihren Stahlschwer-
tern, Harnischen und Handfeuerwaffen in einer Schlacht widerstehen zu
können.
List und Klugheit mußten also das Fehlende ersetzen. Die Omaguas,
so nannten sich hier die Indianer, führten Miguel zu einem großen,
federgeschmückten Kanu, in dem auf buntgewebten Decken eine In-
dianerin saß. Sie war mit einem schilfgeflochtenen Panzer bekleidet, ihr
Kopfschmuck aus Kolibrifedern schillerte in ungezählten Farben. Mit
der rechten Hand stützte sie sich auf einen langen Bogen; Köcher und
Pfeile lagen in ihrem Schoß.
„Das ist Asparia vom tapferen Volk der Wälder am schwarzen Strom.
Sie ist die Anführerin einer Schar Kriegerinnen, die mit ihren schnellen
Kanus herangeeilt sind. Bei diesen Indianern, die mit uns befreundet
sind, kämpfen die Frauen wie die Männer. Gemeinsam mit uns wollen
sie die grausamen weißen Männer vernichten. Du sollst uns dabei
helfen."
Mit wohltönender Stimme begrüßte Asparia Miguel, aber er verstand
ihre Worte nicht, ein Omagua mußte verdolmetschen. Die Indianerin er-
zählte Miguel von einer großen Stadt im Urwald. Dort seien die Häuser
aus Stein gebaut und die Straßen gepflastert. Ein mächtiges Volk wohne
dort und beherrsche das große Gebiet des Waldes. Lange Kanus mit
Raum für je fünfzig Krieger lägen in geschützten Häfen des großen
Stromes, in den alle Flüsse mündeten. Dieses Volk wäre bereit, den
Kampf gegen die Weißen aufzunehmen, aber nur zu Wasser. Sie sprach:
„Also locke die Fremden auf den Fluß, und wir werden sie vernichten."
Miguel blickte über den Napo. Er sah die schmalen, gebrechlichen
Kanus der Omaguas vorsichtig in der Nähe des Ufers dahingleiten und
verglich sie mit Asparias großem Kriegskanu, das lang, schwer und hoch-
bordig im Wasser lag.
Jetzt kamen auch jene zehn Indianerinnen, die sie hierher gepaddelt
hatten, aus den Hütten des Dorfes. Schlank waren sie und überragten die
schmächtigen Omaguas fast um Kopfeslänge. Sie hatten helle Augen,

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und ihre Haare waren mit geflochtenen Bändern zu festen Knoten am
Hinterkopf gerafft, über dem Rücken trugen sie die langen, geschweiften
Bogen.
Abwägend betrachtete Miguel noch einmal die Speere und Knüppel
der Omaguas. Nein, noch waren die Spanier im Vorteil. Wiederum spähte
er sinnend über den Fluß, und plötzlich sah er im Geiste die Spanier auf
einem großen Schiff den Napo hinuntertreiben, und schon schössen viele
Kriegskanus aus den Schilf verstecken. Wolken von Pfeilen schwirrten...
Da war Miguels Plan gefaßt.
„Ja, ich werde die Weißen auf den Fluß locken und die Waldbewohner
vom schwarzen Strom müßten im geeigneten Augenblick die Eroberer
vernichten", antwortete er Asparia. Miguel betonte aber, daß dies nur
mit viel List geschehen könne. Vor allem müßten die Omaguas den
Spaniern helfen, ein Schiff zu bauen. Denn niemals würden sich die
Fremden den kleinen, schwankenden Kanus der Omaguas anvertrauen.
Asparia hob die Hand und sprach eindringlich zu den Indianern, die
bald verdrossen dreinblickten. Sie wollten die Fremden töten, und nun
sollten sie ihnen ein großes Kanu bauen! Aber schließlich stimmten sie
dem Plan zu, der zu sicherem Erfolg führen mußte.
Die Omaguas eilten zum Fluß, denn es war jetzt notwendig, die ge-
flohenen Sklaven aus dem Bereich der Spanier in ein flußabwärts ge-
legenes Dorf zu bringen. Dort sollten sie sich bereithalten.
Miguel trat den Rückweg an.

Das kleine Heer der Spanier hatte sich noch nicht von der Stelle be-
wegt. Delikola hockte auf der Erde, zwei Kriegsknechte ließen ihn nicht
aus den Augen. Pizarro und seine Hauptleute liefen ungeduldig hin und
her und konnten sich dann über die günstige Botschaft nicht genug
freuen: Ein Dorf der friedlichen Omaguas lag wenige Wegstunden ent-
fernt. Lebensmittel wurden dort schon bereitgestellt, die Bevölkerung
erwartete die Weißen in ehrerbietiger Furcht. Das hatte der Dolmetscher
dem Feldherrn berichtet.
Pizarro befahl den Aufbruch. Delikola und Miguel übernahmen wie-
der die Führung. Begierig horchte der Kazike auf, als ihm der junge
Indianer leise von dem Gespräch mit Asparia erzählte.
Bald lichtete sich der Urwald. Wasservögel flohen vor dem Menschen-
trupp, der sich dem Dorf näherte. Pizarro gab den Leuten Weisung, die
Waffen bereitzuhalten. Grimmig lachend, sammelte der Obrist Ribera
seine Truppe geschulter Mörder und Plünderer um sich. Miguel mußte
zum Feldherrn, der genauere Auskünfte wünschte.
„Ach, Herr", Miguel lächelte geringschätzig, „knapp hundert Männer
leben dort als friedliche Fischer mit ihren Frauen und Kindern. Die
Fischspeere dienen ihnen gleichzeitig als Waffen, und nur beim Kampf
im Wald sind die Blasrohre gefährlich." Aber man müsse freundlich zu
den Indianern am Flusse sein, sonst entwichen sie in den Wald und wür-
den weder Früchte für die Spanier pflücken noch Affen jagen. „Der Fluß

23
ist groß und breit", setzte Miguel seinen Bericht fort. „Um schnell in das
Land Paytiti zu kommen, muß das Heer auf dem Fluß einige Tage-
reisen zurücklegen. Aber nur die Omaguas können uns beim Schiffsbau
helfen."
Pizarros Gesicht hellte sich auf. Ein Schiff! Fort von den entsetz-
lichen Mücken, heraus aus dem Urwalddickicht auf freies Wasser! Das
war ein guter Vorschlag. Streng befahl er den Seinen, den Indianern
gegenüber keine Waffengewalt anzuwenden, denn: „Sie sollen für uns
beim Schiffsbau schwitzen, und so dürfen wir zunächst nicht zu streng
gegen die Wilden vorgehen."
Auch unter den Kriegsknechten löste die Nachricht, daß im Dorfe
längere Rast gemacht und ein Schiff gebaut würde, freudige Zustim-
mung aus.
Der Pfad verbreiterte sich, die ersten Hütten wurden sichtbar. Die
Omaguas kamen den Weißen ohne Waffen entgegen, in den Händen hiel-
ten sie Körbe mit Früchten und geräuchertem Affenfleisch als willkom-
mene Gabe. Die Spanier griffen zu, jubelnd und lärmend.
Miguel atmete auf, denn obwohl manch gieriger Blick der verwilder-
ten spanischen Soldateska den goldenen Ohren- und Nasenschmuck der
Indianer streifte, geschah keine Gewalttat.
Die Spanier erholten sich einige Tage, ließen sich von den Omaguas
füttern, und nachdem sie von deren Friedfertigkeit überzeugt waren, be-
gannen sie mit dem Bau des Schiffes. Unter ihnen befand sich ein ehe-
maliger Seemann, Juan de Alcantara; ein anderer war Zimmermann
gewesen, bevor ihn das Goldfieber packte. Diese beiden begannen die Sol-
daten in den handwerklichen Griffen zu unterweisen. Der Plan des
Schiffes wurde mit spitzem Kohlestift auf ein Stück helle Baumrinde ge-
zeichnet. Dann mußte Miguel die Omaguas zusammenholen. Orellana
befahl den Indianern, Kohlenmeiler zu errichten und ließ ihnen von
seinen Knechten zeigen, wie sie Holzkohlen für das Schmiedefeuer er-
halten könnten. Manch rostiges Schwert mußte dazu dienen, für Nägel
und Klemmen umgeschmiedet zu werden.
Delikola zeigte den Spaniern für Brett- und Kielholz geeignete
Bäume. Überhaupt wurde dieser Kazike beim Bau unentbehrlich und
schien ganz davon besessen, den Weißen zu helfen. Miguel mußte sich
immer in Orellanas Nähe halten, um die von Pizarro und Juan de Alcan-
tara gegebenen Anordnungen den Omaguas verständlich zu machen.
Während die Indianer verbissen arbeiteten, saßen ihre Frauen und
flochten aus dem Bast der Palmen Matten, die als Segel dienen sollten.
Unaufhörlich, leise und beschwörend sprach Miguel zu Orellana von
dem Schiff. Gefährliche Wünsche weckten seine berechnenden Worte in
dem Teniente-General. „Herr, der, dem das Schiff gehört, kann das Land
Paytiti erobern und unermeßlichen Reichtum gewinnen.
Aber Pizarro, der Feldherr, ist geizig. Was läßt er seinen Offizieren
schon als Beuteanteil? Wenig genug!" - Orellana verbat sich mit harten
Worten, denen jedoch die Überzeugungskraft fehlte, diese unehrenhaften

24
Feststellungen, aber im Inneren mußte er Miguel recht geben. Immer
größer wurde das Verlangen Orellanas, mit einer Schar Verschworener
sich des Schiffes zu bemächtigen und die ganze Beute an sich zu reißen.
Langsam wuchs das Schiff. Sein Rumpf lag auf langen, hölzernen
Rollen, und nach vielen Tagen mühsamer Arbeit wurde die Brigantine*
fertig. Doch Alcantara lief besorgt und mißgestimmt umher. Breit und
plump war das Gehäuse, das Holz ausgetrocknet, und lange Risse zogen
sich durch die Planken.
Wie sollte es schwimmen? Das Schiff mußte kalfatert werden! Und
wiederum wußte Delikola Rat. Er eilte in den Wald und schnitt einige
Stämme an, aus denen ein weißer Saft in die darunter gestellten Schild-
krötenschalen rann. „Kautschu", sagte Delikola. Dann hängte der Kazike
die Schalen in den Rauch des Kohlenmeilers. Die weiße Milch verwan-
delte sich in eine graue, zähe Masse. Damit wurde das Schiff gedichtet.
Knapp sechs Wochen nach der Ankunft der Spanier bei den Omaguas
wurde die Brigantine bei Sonnenaufgang ins Wasser geschoben. Da
schwamm sie, breit und plump mit viereckigen Segeln - das erste Schiff
dieser Art auf dem Napo-Fluß.
Längst waren alle Nahrungsmittelvorräte der Omaguas verbraucht,
deren Benehmen während der letzten Tage merklich störrisch wurde.
So mußten die Weißen selbst auf Nahrungssuche in den Wald gehen.
Diese verlief meist ergebnislos. Immer aber hörten sie das unheimliche
Dröhnen der Signaltrommeln.
„Es ist Zeit aufzubrechen", riet Miguel Orellana. Lauernd setzte er
hinzu: „Es wäre gut, eine Vorhut auf dem Schiff vorauszuschicken, um
die Strömung auszukundschaften. Herr, Ihr wäret der geeignete Führer
dazu u n d . . . das Land Paytiti liegt nicht mehr weit!" Orellana wurde
blaß vor Freude: Seit Tagen sann er darüber nach, wie er sich des Schiffes
bemächtigen könne. Einiger Getreuer war er sicher. Miguels Rat war
gut - nun kam es darauf an, wie sich der geizige Pizarro zu diesem Vor-
schlag stellte.
Am nächsten Tag hielt der Feldherr Kriegsrat. Die Spanier versam-
melten sich in der größten Hütte des Dorfes. Spürbare Unruhe war in
ihren Reihen; denn über Nacht hatten die Omaguas ihre Heimstätten
verlassen. Leer standen die Schilfhütten in der grellen Sonne.
Pizarro schlug vor, die Brigantine sofort segelfertig zu machen und,
auf die Heilige Jungfrau vertrauend, flußabwärts zu fahren. Orellana
stimmte zu, doch dann schienen ihm Bedenken zu kommen. Es sei wenig
Proviant vorhanden, also müsse man zuerst Affen jagen und Früchte
sammeln, um wenigstens vor dem ärgsten Hunger geschützt zu sein. Und
was sagte der Dolmetscher Miguel zu der Flucht der Omaguas, die doch
sonst so eifrig auf Nahrungssuche für die Weißen gingen?
Mißtrauische Augen streiften Miguel, aber seine Erklärung konnten
die Spanier nicht von der Hand weisen. „Gewiß sind sie in ihrer aber-
gläubischen Furcht vor dem schwimmenden Ungetüm davongelaufen!"
* Kleines zweimastiges Segelschiff

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Noch nie hätten sie solch „großes Kanu" gesehen. Und was den Proviant
beträfe, nun, der Kazike Delikola sei sicher in der Lage, sie an solche
Stellen zu führen, wo sich Früchte in Massen befänden.
Jetzt sah Orellana seinen Augenblick gekommen. „Euer Ehren",
redete er Pizarro ehrfürchtig an, „das Wichtigste ist es, Nahrung zu be-
schaffen. Einige Tage werden wohl darüber hingehen. Aber um diese
Zeit zu nützen, schlage ich vor, inzwischen mit dem Schiff das Fahr-
wasser des Stromes zu erkunden. Eine gefährliche Aufgabe, eine verant-
wortungsvolle Aufgabe", Orellana wiegte nachdenklich den Kopf,
„immerhin, ich will es versuchen. Gebt mir das Kommando über eine
kleine Vorhut!"
Pizarro überlegte lange und schloß eine Weile die nebergezeichneten
Augen. Doch als der weitaus größte Teil der Versammelten diesen Vor-
schlag guthieß, stimmte auch er zu.
Da wechselten Ribera und seine Leute schnelle Blicke, scharten sich
um Orellana und baten, zur Vorhut kommandiert zu werden.
Orellana mußte schwören, in zwei Tagen zurück zu sein. Der Hidalgo
hob die Finger zum Schwur, und seine und Miguels Augen begegneten
sich eine endlos scheinende Sekunde lang.
Dem Wunsche Orellanas, Miguel als Dolmetscher mitzunehmen,
wurde stattgegeben, denn im Lager blieb ja der Kazike Delikola.
Gegen Mittag wurde das lange Bastseil, an dem als Anker ein
schwerer Stein hing, auf das Deck der Brigantine gehievt, und das Schiff
trieb langsam in die Mitte des Stromes. Die Zurückbleibenden feuerten
als Abschiedsgruß ihre Pistolen in die Luft ab. Vorn auf dem Heck stand
Orellana in voller Rüstung, neben ihm Miguel. Hinter ihnen lärmten die
fünfzig Mann, die Ribera in Zucht zu halten hatte, und an der Reling
reckte sich Pater Carjaval in seiner schwarzen Kutte.
„Zeigst du mir den Weg in das Goldland Paytiti?" flüsterte Orellana
Miguel zu. Der lächelte geheimnisvoll.
„Ich führe euch in das Land des Goldes!" versprach er leise. Alcantara
gab Anweisung, die Segel zu setzen, und schon blähten sie sich unter der
frischen Brise, die über die weite Wasserfläche strich. Immer schneller
wurde die Fahrt der Brigantine, die sicher dem breiten Steuer gehorchte.
In vielen Krümmungen bahnte sich der Napo seinen Weg durch die un-
ermeßliche grüne Wildnis.
Miguel schaute nach dem Dorf aus, in dem sich die entflohenen
Sklaven befinden mußten. Aber die Omaguas hatten die Anlegestellen
"ihrer Kanus gut getarnt, nichts verriet im Schilfgürtel menschliche Be-
hausungen. Plötzlich, als die Brigantine wieder eine der zahlreichen
Engstellen mit ihren weißschäumenden Strudeln überwunden hatte, be-
merkte der spähende Dolmetscher eine Flottille schmaler Kanus, die
aus ihren Verstecken beiderseits des Flusses langsam heraustrieb. Die
Boote vereinigten sich in der Mitte des Stromes und nahmen in großem
Abstand die Verfolgung des spanischen Schiffes auf. Noch hatte außer
Miguel niemand die Kanus bemerkt, denn alle schauten nach vorne in

26
das gelbliche Wasser des Stromes. Keiner der Spanier dachte an eine
Gefahr von seiten der Waldindianer. Sie hatten ihre Rüstungen abgelegt
und schwelgten in Schilderungen über das, was sie erwarteten...
Schnell brach die Tropennacht herein, die Segel wurden gerefft, und
die Brigantine trieb langsam den Strom hinab. Es wurde wieder Tag,
und noch immer bot sich das gleiche Bild. Nur gingen jetzt die Wellen
des Napo höher, er wurde breiter, sein Wasser färbte sich milchiggelb,
und ein mächtiger Strudel drückte von rechts her schwarzes Wasser
gegen die Brigantine. Plötzlich schrien die Spanier wie aus einem Munde.
Ein breites Meer öffnete sich und schluckte den Napo.
„Herr, es ist nicht das Salzwassermeer, das ist der große Strom, von
dem die Indianer erzählten!" schrie Ribera. Das Schiff trieb jetzt unruhig
auf den schlammigen Fluten des Riesenstromes, der so breit war, daß
das andere Ufer kaum zu erkennen war. Die Spanier bekreuzigten sich
entsetzt.
„Verfluchter Hund, und wo liegt das Goldland Paytiti?" Wütend zerrte
der Hidalgo Miguel am zerschlissenen Wams. „Wenn du mich betrogen
hast, lasse ich dich an der Mastspitze aufknüpfen!" Miguel entwand sich
geschickt seinem Griff und versicherte, daß es jetzt soweit sei: Bald
werde das gesuchte Land auftauchen.
Nach seinem Eid hätte Orellana die Brigantine wenden und wieder
stromaufwärts kreuzen müssen, zurück zum Lager Pizarros. Aber der
einmal gefaßte Entschluß trieb ihn weiter. Er wußte, daß die anderen
den gleichen Gedanken hatten, die gleichen geheimen Wünsche: Gold,
Gold, Gold! Nur der Feldkaplan drängte finster zur Rückkehr. Aber
Miguel flüsterte auch mit ihm, erzählte eine geheimnisvolle Geschichte
vom Weg zur goldenen Stadt, den ihm Delikola beschrieben habe. Wie
würde sich Pizarro über ihre Rückkehr freuen, wenn sie nicht mit leeren
Händen, sondern mit Schätzen beladen zurückkämen! Bald tauche sie
auf, die goldene Stadt! Mitten aus dem Urwald ragten ihre goldenen
Tempeldächer, hatte Delikola berichtet. Und ein Zehntel allen Goldes
sollte dem Papst gehören, und er, der Pater, würde diesen Schatz der
Kirche zuführen. Nur noch einige Stunden!
Die Spanier umdrängten den Dolmetscher und lauschten begierig
seinen Worten. Das Schiff wurde nahe an das rechte Ufer gesteuert, wo
nach Angaben Miguels bald steinerne Paläste mit goldenen Ziegeln das
Auge blenden würden. Grüne schwimmende Inseln bedeckten jetzt das
Wasser, die Durchfahrt für die plumpe Brigantine wurde schwierig.
Einige der Inseln hatten den Umfang einer Stadt.
Plötzlich geschah etwas Unerwartetes.
Älcantara gab gerade den Befehl, das Steuerruder herumzuwerfen,
denn Baumstämme und Tanginseln trieben vor dem Bug, als unzählige
lange, bemalte Kanus hinter den Inseln hervorschossen. Gellendes Ge-
schrei erschütterte die Luft, ein Hagel von Pfeilen prasselte auf das
Schiff. Die Geschosse bespickten die Segel, blieben zitternd in den
Planken stecken und durchbohrten fast ein Dutzend der Spanier.

27
In den Kanus standen Indianerfrauen. Sie spannten ihre großen Bam-
busbogen mit geübtem Arm, und die langen gefiederten Pfeile schwirrten
unaufhörlich nach dem Schanzwerk der Brigantine. Das Schiff wirkte
gegen die Kanus riesig und unverwundbar, aber schon begann es sich
steuerlos zu drehen, denn die Kriegerinnen hatten sich in die Fluten ge-
stürzt, die Steuerseile durchgeschnitten und versuchten nun, das Schiff
zu erklimmen. Mit einem gewaltigen Satz sprang Miguel vom Heck der
Brigantine zum Mast, in die Mitte des Schiffes. Dort sammelte der
brüllende Ribera die Spanier, die sich gegenseitig ihre Brustpanzer an-
legten und dann die ersten Armbrustbolzen abschössen. Es gelang
einigen Knechten, aus den mitgeführten zwei Musketen zu feuern, und
auch die Pistolen belferten. Donner, Blitz und heißes Metall schlugen
den ersten Ansturm der Indianerinnen ab, doch schon enterten sie seit-
lich das Schiff, und ein schrecklicher Nahkampf begann. Furchtbar
wüteten die Weißen mit ihren stählernen Klingen unter den halbnackten
Eingeborenen. Aber diese erhielten Unterstützung, denn die Flotte der
das Schiff verfolgenden Omaguas, denen sich die Boote der jetzt ein-
treffenden Indianer vom schwarzen Strom anschlössen, griff in den
Kampf mit ein. Die erbitterten Angreifer erklommen die hölzernen
Schanzen. Miguel genoß triumphierend die Vernichtung der verfluchten
Weißen. Schon lag über die Hälfte von ihnen tot oder verwundet an
Deck. Verzweifelt hieb sich Orellana eine Gasse zu Ribera, dem bereits
zwei Pfeile im ungeschützten Schenkel staken.
Da warf Miguel mit einem hellen Schrei sein spanisches Obergewand
ab, und in der rechten Hand das schmale Schwert, stellte er sich an die
Spitze der vom Heck heranstürmenden Kriegerinnen. Rasend vor Wut
wankte ihm Ribera entgegen. Miguel durchbohrte ihm mit einem wohl-
gezielten Stoß das grausame Herz und sprang weiter vor.
Die Spanier hatten inzwischen verzweifelt zu den schweren, unge-
fügen Rudern gegriffen und versuchten das Schiff aus dem Ring der
Kanus hinauszudrücken. Noch fochten zehn Spanier, um Orellana ge-
schart, mit dem Rücken zum Mast. Fast jeder von ihnen war verwundet.
„Das Pulver, Juan!" schrie Orellana. Im Getümmel der kämpfenden
Leiber sah Miguel den Seemann eine Luke aufreißen, während gleich-
zeitig Orellana sich mit dem Rest der Spanier verbissen zum Vorder-
kastell der Brigantine durchhieb. Plötzlich durchschaute Miguel den
teuflischen Plan des Teniente-Generals. Gelang es Alcantara, an den
Rest des Schießpulvers eine Lunte zu legen und es zur Explosion zu
bringen, würde das leichtgebaute Deck der Brigantine aufgerissen und
somit Raum geschaffen für die Spanier, die jetzt vorne an der Spitze des
Schiffes kämpften.
Geschmeidig schlüpfte Miguel durch die halboffene Luke, klomm die
Leiter hinab und erblickte auch knapp über dem Kiel das tanzende Licht
der Lunte, die der über die Schiffsrippen stolpernde Spanier trug. Zwar
gelang es Miguel, mit einem mächtigen Streich seines Schwertes Alcan-
tara das Haupt zu spalten, aber schon sprühte aus einigen kleinen Pulver-

28
säckchen eine Flamme, die jeden Augenblick die aufeinandergestellten
Fäßchen zur Explosion bringen mußte. Miguel sprang über den Toten
zurück zur Leiter. In demselben Augenblick barsten mit dumpfem Knall
die Fäßchen. Die Kraft der Explosion fegte den jungen Indianer von der
Leiter, jagte das Deck hoch und schleuderte einen Teil der Eingeborenen
in den Fluß. Sich gegenseitig anfeuernd, stürzten die Spanier wieder zu
den Rudern, und endlich gelang es ihnen, den Ring der Kanus zu durch-
brechen. Die einmal in Fahrt gekommene Brigantine drückte alles bei-
seite, drehte sich um sich selbst und schaukelte wenig später in der
schnell dahinziehenden Strömung.
Von der Mannschaft lebten noch zehn Mann, Orellana lag verwundet
auf Deck; später kroch der kreidebleiche Feldkaplan unter einem Hau-
fen Hanfstricke hervor.
Die rachedürstenden Indianer verfolgten noch lange die steuerlose
halbzerstörte Brigantine, deren Besatzung dem sicheren Hungertode
preisgegeben w a r . . .
Am nächsten Tage paddelten die Omaguas mit den ehemaligen
Sklaven den Fluß hinauf, um sich endlich an Pizarro und dem Rest der
weißen Eroberer zu rächen.

Miguel erwachte aus seiner Betäubung, als die Brigantine frei von
Verfolgern dahintrieb. Durch undichte Fugen sickerte Wasser in den
Kielraum. Er hörte das Fluchen und Stöhnen der Verwundeten auf dem
Vorderdeck und verkroch sich schnell in den spitzen Bug des Schiffes,
wo das aufgerollte Ankerseil ein günstiges Versteck bot.
Als es Nacht wurde, schlich er vorsichtig aus seinem Versteck. Seine
Hände faßten etwas Hartes, Kaltes - eine Axt, die wohl dem toten Alcan-
tara gehört haben mochte. Das war ein Fingerzeig! Er klemmte die breite
Schneide zwischen eine der mit dem Kau-tschu abgedichteten Fugen
und löste die zähe Masse. Ein handbreiter Fächer gurgelnden Wassers
strömte in den Kielraum. Er, Miguel, würde das Schiff versenken, das
sollte seine Rache sein an denen, die Tod und Elend in seine Heimat
gebracht hatten.
Schon nach kurzer Zeit rauschte ein armdicker Strahl in das Schiff.
Durch das zerstörte Deck erblickte Miguel den sternschimmernden
Tropenhimmel, der genug Licht gab, um das begonnene Werk zu Ende zu
führen. Der junge Indianer lockerte noch einige Planken, klemmte dann
die Axt in den Gürtel und kletterte auf der wiederangelegten Leiter
nach oben. Sein Kopf schmerzte, denn er war beim Sturz gegen das
Kielholz geschlagen, aber die kühle Nachtluft gab ihm seine alte Spann-
kraft wieder. Zwischen ihm und dem Vorderkastell gähnte der decklose
Rumpf der Brigantine, aus dem der Mast in den Himmel ragte. Die
Schatten der Ruderer bewegten sich langsam im Takt.
Miguel zog vorsichtig die Leiter nach oben und warf sie in die schim-
mernde Flut. Unmittelbar darauf sprang er hinterher, faßte das Holz
und arbeitete sich mit langen Stößen zum Ufer hin. Wohl hörte der

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fiebernde Orellana den plätschernden Aufschlag, und auch die Ruderer
hoben lauschend die Köpfe. Aber dann dachten sie, eines der seltsamen
großen Flußpferde habe prustend vor dem Schiff die Flucht ergriffen.
Das Wrack der Brigantine trieb weiter durch die Nacht. Immer
schwerfälliger schaukelte der breite, ungefüge Schatten, denn das
Wasser im Kielraum stand schon kniehoch...

Langsam näherte sich Miguel dem Ufer. Die nachtträgen Raubfische


und Alligatoren verschonten das leckere Mahl, so daß die Füße des ein-
samen Schwimmers nach ihm endlos erscheinender Zeit im zähen Ufer-
schlamm versanken und er nach einigen mühevollen Schritten festeren
Grund erreichte. Miguel watete keuchend durch das hohe Schilf, traf
endlich auf eine Wildtränke und lief von dort auf dem von den Huf-
tieren festgestampften Pfad bis zum Waldrand. Er wollte dem Flusse
folgen, um schließlich auf die Wohnstätten der Indianer zu stoßen. Von
dort konnte ihn ein Kanu bis zum Unterschlupf der Omaguas bringen,
und dann war der Weg nicht mehr weit bis zum Lager der Spanier.
Zur Orientierung diente Miguel nur das Rauschen des Flusses, denn
das verfilzte Geäst der Urwaldbäume verwehrte den Blick nach den
Sternen. Die vielfach geflickten und jetzt nassen Lederstiefel mit ihren
morschen Stulpen begannen in den Nähten zu reißen, und spitze Dornen
rissen blutige Schrammen in Miguels nackten Oberkörper; auch die
mürbe spanische Strumpfhose hing bald in Fetzen. Mutig kämpfte sich
der junge Indianer mit der Axt durch Dickicht und sumpfige Niede-
rungen. Fast kraftlos vor Überanstrengung stieß er gegen Morgen wieder
auf einen ausgetretenen Pfad, diesmal längs des Flusses, dem er, so
schnell er konnte, folgte.

Pizarro wartete ungeduldig auf die Rückkehr der Brigantine. Noch


glaubte er nicht an eine Desertion Orellanas. Um sich zu vergewissern,
suchte er am Morgen des dritten Tages sechs der ergebensten Leute aus
und marschierte mit ihnen ein Stück durch den Urwald, um nach der
Brigantine Ausschau zu halten. Delikola führte den Trupp, als ihm ein
zerlumpter, blutender Mann entgegenstürzte. Er lallte wirre Worte und
brach vor Pizarro zusammen. Der Verwundete war der Fähnrich Sanchez
de Vargas, der zur Vorhut Orellanas gehörte. Von dem Fähnrich erfuhr
der Feldherr den Verrat Orellanas. In der Schlacht auf dem großen Fluß
war Sanchez verwundet über Bord gestürzt, hatte wie durch ein Wunder
das Ufer erreicht und den Weg hierher gefunden.
Der Feldherr ließ den Verwundeten zum Lager zurücktragen, doch
sie brachten einen Toten mit.
Jetzt galt es, so schnell wie möglich den Rückmarsch anzutreten. Der
Traum vom Goldland Paytiti verblaßte vor der peinigenden Angst, in die
Hände der rachelüsternen Indianer zu fallen. Seit der letzten Nacht
schwiegen die Trommeln. Nach dem Bericht des Fähnrichs zu urteilen,
befanden sich die Omaguas weit oberhalb des Flusses. So blieb ihnen

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noch ein Vorsprung. Der kleine Trupp von knapp zwei Dutzend Spaniern
in zerlumpten Kleidern, verschimmelten Lederkollern und verrosteten
Brustharnischen kämpfte sich durch den Urwald. Wieder führte der
demütige Kazike Delikola, aber listig beschrieb er einen großen, zeit-
raubenden Bogen, der es den Omaguas ermöglichen sollte, die Weißen
schneller einzuholen.
Die angstgehetzten Spanier hatten gegen Abend endlich die Stelle
am Napo erreicht, von der damals Ribera zum Überfall auf das Indianer-
dorf über den Fluß setzte. Noch standen dort am jenseitigen Ufer die ver-
kohlten Hütten, und umherliegende Schädel und Knochen erinnerten an
das Gemetzel. Der Feldherr sah sich unruhig nach Delikola um, aber der
war und blieb verschwunden. Mit einem Male erkannte Pizarro, daß er
in eine Falle gelaufen war.
Jetzt ging es um ihr Leben! Er befahl, Feuer in der Runde anzuzünden
und in diesem Kreis ein Karree zu bilden. Hungernd und fiebernd er-
warteten die Weißen den Angriff.
Die Omaguas kamen vom Fluß und vom Walde her in geordneten
Haufen. Ein Teil von ihnen war mit Waffen, die sie von der Vorhut Orel-
lanas erbeutet hatten, ausgerüstet. Mit lautem Kriegsgeschrei stürmten sie
gegen die schnell errichtete Brustwehr des Lagers. Da merkte Pizarro,
daß die Indianer von einem Willen gelenkt wurden: Sie kämpften nicht
planlos, sondern machten Vorstöße, zogen sich zurück, um desto stürmi-
scher anzurennen. Die Pistolen der Spanier krachten und rissen manchen
Angreifer zu Boden, aber immer wieder schlössen sich ihre Lücken.
Plötzlich erblickte Pizarro einen schlanken Indianer. Schwarz und
weiß mit Ton bemalt wie die übrigen, kämpfte er an der Spitze und er-
teilte Befehle. Im Blitze des Schusses seiner Pistole erkannte er in ihm
den Dolmetscher Miguel! Der kurze Augenblick seiner Fassungslosigkeit
genügte, um ihn durch einen furchtbaren Hieb Miguels zu Boden zu
werfen. Hätte nicht ein Knecht den Feldherrn mit seinem Körper ge-
deckt, wäre es Pizarro schlimm ergangen.
Die gewappneten Spanier kämpften Leib an Leib, doch es wurden
ihrer immer weniger. In dieser Nacht wurden neun Spanier getötet, aber
das Lager war noch in ihren Händen.
Gegen Morgen befahl Miguel den Omaguas und ihren verbündeten
Stämmen, den Kampf einzustellen und später die Verfolgung der Spanier
aufzunehmen.
Im dunstigen Morgengrauen brachen die Spanier auf, um weiter zur
Küste zu ziehen. Alles Gepäck ließen sie zurück, denn es galt, das nackte
Leben zu retten. Im Engpaß des Aufstieges in den Anden wurden sie
zum zweitenmal von den Indianern überfallen. Hier stürzten sich be-
sonders die befreiten Sklaven wütend auf ihre Peiniger. Mit bloßen
Händen würgten sie die Spanier zu Tode. Pizarro, blutüberströmt und
halb auf den Knien liegend, hatte noch sechs Kriegsknechte um sich. Es
wäre jetzt ein leichtes für die Indianer gewesen, den Kampf zu beenden,
aber Miguel gebot Einhalt.

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Da lagen die fremden Eroberer, die Gier nach Gold, Macht und Reich-
tum in ein friedliches Land getrieben hatte. Gnadewimmernd streckten
sie die Hände in die Höhe und blickten entsetzt auf den Indianer mit der
Federkrone, in dem sie ihren Dolmetscher Miguel erkannt hatten. Die
Indianer schlössen einen Kreis um sie.
Miguel trat vor und sprach: „Ihr sollt zurückkehren, dorthin, wo ihr
hergekommen seid. Verflucht sei euer Land, sei der Kaiser, dem ihr
dient, und dem auch ich einst verblendet gehorchte. Aber ihr sollt an
der Küste erzählen, wie es euch erging und wie es allen Eroberern er-
gehen wird, wenn sie noch einmal den Fuß in unser Land setzen!"
Die Indianer zogen sich längs des Weges zurück und bewachten den
Weitermarsch der Spanier. Pizarro und seine sechs Mann wankten über
den Gebirgspaß, drei Spanier starben dort vor Hunger Die Überlebenden
stürzten in den Wald, suchten Wurzeln, aßen Käfer und Frösche. Manch-
mal stießen sie am Wege auf die Gebeine der beim Vormarsch zu Tode
gequälten Sklaven. Schaudernd und entsetzte Blicke um sich werfend,
stürzten die Fliehenden weiter.
Halbtot und zu Skeletten abgemagert, erreichten Pizarro und drei
seiner Knechte endlich nach Wochen die Niederungen vor der Küste. Die
spanische Grenztruppe wollte in dem zerlumpten und kraftlosen Bündel
den stolzen und hochfahrenden Statthalter nicht wiedererkennen. Die
Flüchtlinge wurden deshalb unter Bedeckung nach Quito gebracht. Dort
schwebten sie lange zwischen Leben und Tod.
Als Pizarro wieder zu Kräften gekommen war, erzählte er von seiner
furchtbaren Expedition. Unter den Spaniern verbreitete sich großer
Schrecken und Entsetzen vor den Bewohnern des Urwaldes hinter den
Kordilleren, wo ein in spanischen Sitten und Gebräuchen erzogener Ein-
geborener die Indianer zum Kampf einte.

Eines Tages lief eine Karavelle aus Venezuela im Hafen von Guaya-
quil ein. Von dort kam die Nachricht, daß Orellana mit einem kleinen
Häuflein der Seinen halbtot die spanische Kolonie erreicht habe. Auf
einem Floß waren sie den Fluß hinuntergetrieben. Schlimmes berichtete
Orellana von einem kriegerischen Volk inmitten der großen Wälder.
Ein Jahr später kehrte der Feldkaplan Gaspar de Carjaval, an Leib
und Seele gebrochen, nach Madrid zurück. Sein Reisetagebuch liegt noch
heute im Archiv der spanischen Hauptstadt. Die Sage und die Furcht vor
den Waldindianern erhielt sich Jahrhunderte und schreckte die Aben-
teurer ab, das unbekannte Land zu suchen.
Miguel zog sich mit den Omaguas in den Urwald zurück. Er lehrte
sie, kunstvoll zu weben, flinke kleine Segelschiffe zu bauen und manche
Handfertigkeiten, die er sich in seiner in Spanien verbrachten Gefangen-
schaft angeeignet hatte. All sein Wissen gab er an die gelehrigen In-
dianer weiter. Die verstreuten Stämme der Waldbewohner vereinten
sich unter seiner Führung. Lange Zeit dauerte es, bis wieder Europäer
den Weg in das Innere der großen Wälder am Amazonas wagten.
„Seit einigen Sekunden war zwischen Kim und einem
Düsen-Jabo eine wilde Jagerei im Gange. Die zwei
Flugzeuge kamen von den anderen weit ab; denn
der Amerikaner, der schon leicht angeschossen war,
wollte sein Heil in der Flucht suchen. Bis auf Schuß-
weite war Kim schon heran und wartete nun voller
Spannung darauf, daß der Gegner ins Fadenkreuz
seines Visiers rückte. Endlich war der Augenblick
gekommen. Er drückte den Auslöseknopf der
Maschinengewehre und nahm gleichzeitig etwas Gas
weg, um nicht zu dicht an die feindliche Maschine
heranzukommen. Auf das Abwehrfeuer, das ihm
entgegenzüngelte, achtete er nicht, sondern ließ acht
Sekunden lang seine Geschosse in den Rumpf des
Düsen-Jabos prasseln. Da! Das Kabinendach des
Flugzeuges flog ab und hinterher wurde ein Flieger
weit herausgeschleudert. Sofort nahm Kim den
Finger vom Auslöseknopf, obwohl das Flugzeug des
Gegners in sehr guter Schußposition lag. Er wartete,
weil er den zwei anderen amerikanischen Piloten
eine Chance geben wollte. Da flog auch schon der
zweite Flieger des Düsen-Jabos heraus. Sekunden
vergingen. Kim wartete und blieb dicht hinter dem
Gegner. Warum kam der dritte Pilot nicht heraus?
War er vielleicht verwundet worden und konnte das
noch völlig normal fliegende Flugzeug nicht ver-
lassen?"

Auf diese spannenden, interessanten Fragen ant-


wortet unser nächstes Abenteuerheft:

KOZYK
Genau hinter Seppls Nacken war nun das Pferdegetrappel. Plötzlich
fühlte er sich am Kragen gepackt und durch die Luft geschwungen. Er
saß auf dem Pferd eines der Gepanzerten.
„Wie heißt du?"
Schon hatte ihn der Marschall ergriffen und hielt ihn, wie eine Katze am
Fell, in die Luft und schleuderte ihn mit aller Gewalt auf die Erde. Seppl
biß die Zähne zusammen.
„Plattner-Seppl", war die Antwort.
„Plattner? Plattner? He, bist du etwa dem Plattner-Bastian seiner? Ein
netter Fang, bei Gott! Wo ist dein Vater, du Nichtsnutz?"
„Ich weiß nicht."
„Na, warte, du Ausgeburt! Wir werden dich schon zum Sprechen bringen,
dir schon die Zunge lösen. Schlagt ihn mit Ruten!"
Seppl gab keinen Ton von sich.
„Zieht ihm noch eins über, diesem frechen Burschen!"
Wieder sauste die Rute durch die Luft. Seppls Herz raste mächtig. Seine
Lippen waren zu einem Schrei geformt, aus seiner Kehle kam kein Laut.

VON A L E X W E D D I N G
Eine Erzählung aus dem Bauernaufstand des Jahres 1476
Illustriert, 240 Seiten, Halbleinen, 4,30 DM k.

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