Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
14 I GERIATRIE 13
Vor jedem homöopathischen Gedanken liegt die ckelte die Validation (valuta = Wert, d.h. Wertigkeit.
Frage: Wie komme ich an die Informationen, die ich Die Erkrankten haben die gleiche Wertigkeit wie die
für meine Behandlung benötige? Wie führe ich die Gesunden). Naomi Feil ist eine amerikanische Sozial-
Anamnese, wenn ich vom Patienten selbst keine oder arbeiterin, die diese Methode entwickelte und im
nur sehr bedingt Informationen über seinen Zustand Jahre 1982 erstmals veröffentlichte. Das Prinzip die-
erhalten kann? ser Methode besagt, dass Desorientiertheit nicht auf
organischen Schäden des Gehirns beruht. Der Hoch-
Über Validation betagte zieht sich unbewusst in die Vergangenheit
zurück, um Unvollendetes aus der Vergangenheit auf-
Seit vielen Jahren arbeite ich mit desorientierten Pa- zuarbeiten, um so der Unerträglichkeit der Gegenwart
tienten nach der Methode von Naomi Feil. Sie entwi- zu entfliehen. Validation bedeutet in ihrer methodi-
14 GERIATRIE I HK 2.14
schen Zusammenstellung die Weisheit der Verwirrten häufigste Demenzerkrankung. Erste Symptome
anzuerkennen und die Besonderheiten der Welten sind Auffälligkeiten kognitiver Störungen. M.
sehr alter Menschen zu würdigen. Wird dem alten Parkinson.
Menschen geholfen, seine Erinnerungen und Gefüh- Vasculäre Demenz
●
le zu ordnen, kann er noch zu Lebzeiten seinen in- Schädigungen der Blutgefäße: Vorgeschichte Hy-
neren Frieden finden. Naomi Feils Hypothese wurde pertonie und/oder Diabetes.
vom Epidemiologen Edward Snowdon 1986 bestätigt, Erste Symptome sind häufig psychische Verände-
der mit seiner „Nonnenstudie“ belegte, dass ein Ge- rungen (Persönlichkeitsveränderungen).
hirn, das alle Zeichen eines fortgeschrittenen Alzhei- Sekundäre Demenz
●
mers bei der klinischen Untersuchung aufweist, nicht = z.B. bei Tumoren, Intoxikationen, Hormon-/
das Verhalten einer Demenz beim Patienten bedingt. Medikamenteneinnahme, Stoffwechselstörungen.
Die grundlegende Haltung der Validation ist das An- Causal behandeln!
erkennen, Ernstnehmen und Wertschätzen des alten
Menschen in aller Konsequenz. Dies gilt insbeson- Cave: Ein medikamentös zu niedrig eingestellter
Jenseits des 40. Lebensjahres auftretende, i. S. eines Erstscreenings zur Untersuchung einer kognitiven
Krankheitsprozesses einsetzende Beeinträchtigung Störung, die schnellen Überblick über Defizite geben:
der abstrakten Denkfähigkeit und des Erinnerungs-
vermögens. Diese sind so ausgeprägt, dass sie den
Uhrentest nach Shulmann (www.Curendo.de)
●
lichen Aufgaben beeinträchtigen. und die jetzige Uhrzeit mit kleinem und großem
Zeiger. Je nach fortgeschrittenen Defiziten der Ko-
Demenzarten gnition ist diese kleine Aufgabe von schwierig bis
unlösbar. Bei starker Sehschwäche, zitternden
Primäre Demenz
●
Händen durch einen M. Parkinson usw. ist der
= z.B. Alzheimer; in unseren Breitengraden die Test natürlich nicht durchführbar.
HK 2.14 I GERIATRIE 15
1
„Warum“ ist eine kognitive Frage. Sie ist von den Erkrankten nicht mehr beantwortbar, weil überfordernd und/oder sie fordert
heraus zum Resümee, was zu schmerzhaft ist. Ebenso sollten in der Homöopathie niemals „Warum-Fragen“ verwendet werden.
Homöopathen fragen nach dem Wann, Wo, Wie, Was noch etc.
16 GERIATRIE I HK 2.14
ren Charakter an. Der Versuch, die alte Dame zu ten des Zimmers empfing mich eine fröhliche alte
beschwichtigen, verschlimmerte ihren Zustand Frau. Sie hatte meinen Besuch vergessen, freute
dramatisch. Einziger Zugang zu ihr war, sich in sich über den erneuten Besuch und zeigte mir ihr
Ruhe neben sie auf das Bett zu setzen, ihr Fragen Zimmer und die Fotos ihrer Lieben. Keine körper-
über das genaue Aussehen ihrer Unterwäsche zu lich auffälligen Symptome.
stellen, sie zu fragen, wann denn genau die Nach-
barin in ihrem Zimmer gewesen wäre und was sie Analyse, Verordnung und Verlauf
schon unternommen hätte. Über diese Möglich-
keit, ihre Gefühle zu äußern, gelang eine kurzzei- Verordnung
tige Beruhigung. ➛ Ignatia C 200 Dunham einmalig
Der Zornesausbruch ging mit einem knallroten
Gesicht einher. Während ich neben ihr saß, zer- Ignatia ist im Repertorium in den Rubriken Beschwer-
knüllte und zerriss sie die Taschentücher, mit de- den durch Kummer, psychische Auffälligkeiten durch
nen sie sich zuvor die Tränen abgetrocknet hatte lang anhaltenden Kummer und Gemüt - Lachen - ab-
Analyse, Verordnung und Verlauf Laut Pflegepersonal gab es einen tränenreichen Nach-
mittag nach der Ignatiagabe. Die Sucherei nach der
Eine Einzelgabe Kalium bromatum C 200 beendete Decke war danach beendet, ebenso wie die starken
den Spuk nach einem Tag für viele Monate. In großen Gemütsschwankungen. An Symptomatik blieben die
zeitlichen Abständen wiederholte sich die Situation. Fragen nach Datum und Tageszeit - ein übliches Ver-
Eine Gabe Kali-br. C 200, als Bedarfsmedikation ange- halten bei demenziell Erkrankten. Hier ist bereits der
setzt, stellte den Frieden regelmäßig wieder her. Wechsel zwischen der Phase 1 und 2 erkennbar. Die
Patientin fand jedoch den Speisesaal und ihr eigenes
Die gewählte Arznei ist nicht mittels Repertorisation Zimmer weiterhin selbständig.
darstellbar.
Zur Disposition standen Belladonna, Hyoscyamus, Fall: 83-jähriger Mann
Lachesis und Ignatia, die alle ein rotes Gesicht, die Ei-
fersucht, großen Zorn haben können. Der alte Herr kam aus dem Krankenhaus zurück.
Ich entschied mich wegen dieser auffälligen Unruhe Seine bereits vorher bestehende Demenz war ver-
der Hände für Kalium bromatum. schlechtert. Seine Medikamente wurden komplett
umgestellt (Dokumentation liegt leider nicht
Fall: 79-jährige Frau mehr vor). Er weigerte sich zu essen und zu trin-
ken, wehrte sich gegen die Tabletten. Im Fahrstuhl
Mit Grabesstimme erzählte mir die sehr gepflegte erzählt er mir, hier dürfte ich nichts essen, alles
Dame, dass ihr ihre Lieblingsdecke gestohlen wur- wäre vergiftet.
de. Ihr Mann hätte ihr diese Decke zur Hochzeit
geschenkt und er wäre gestorben. Sie zeigte mir Analyse, Verordnung und Verlauf
in ihrem Schrank die Stelle, an der diese Decke
immer gelegen hätte. Es wäre das Einzige, was ihr Nach meiner 17-jährigen Erfahrung in der Geriatrie
noch geblieben wäre. Ihre Stimme klang tief de- griff ich zum Telefon und bat das Pflegepersonal, über
primiert und sie ließ den Kopf hängen. Ich ver- 7 Tage Sulfur C 30 täglich morgens einen Tropfen zu
sprach, dem Fall nachzugehen. verabreichen. Ergebnis: Nach drei Tagen isst der alte
Das Pflegepersonal seufzte ergeben auf meine Herr im Speisesaal mit großem Appetit. Die Arznei
Nachfrage. Die Situation war bekannt, die Suche- wurde abgesetzt.
rei ein Dauerthema. Der Mann starb vor mehr als
10 Jahren. Das Verhalten würde schwanken zwi- In den vielen Jahren meiner Tätigkeit gab ich vie-
schen heftigstem Weinen und tiefer depressiver le Arzneien wegen der Wahnidee „Vergiftung“,
Verstimmung. Die Decke befände sich in ihrem häufig ohne Erfolg. Meine Hypothese in diesen
Bett unter der Tagesdecke. Nach erneutem Betre-
HK 2.14 I GERIATRIE 17
Verhalten kippte ganz plötzlich. Seine Aufdring- Eine Reaktion auf Medikamentengaben wurde
lichkeit, besonders dem jungen weiblichen Perso- ausgeschlossen, keine Opiatgaben. Die Ursache
nal gegenüber, war sehr belastend. Einem „Nein“ war unklar. Er war phasenweise desorientiert. So-
gegenüber reagierte er völlig uneinsichtig. bald er erwachte war er sehr unruhig. Er war einer
unserer „Läufer“. Auffällig war seine Abneigung
Verordnung gegen kalte Luft. Beim Lüften seines Zimmers pro-
➛ Hyoscyamus C 200 Dunham als Einzelgabe testierte er. Warm bekleidet ging er allerdings sehr
gerne nach draußen und lief dann unermüdlich
Verlauf und Analyse seine Runden. Durch den vielen Schlaf aß und
trank er zu wenig. Die reduzierte Flüssigkeitszu-
Die Arznei verwandelte ihn bereits nach 6 Stunden fuhr verschlimmerte seinen desorientierten Zu-
wieder in einen freundlichen alten Herrn. Auch hier stand, der sich verlässlich verbesserte, sobald die
wiederholte sich das alte Verhalten nach einigen Mo- Flüssigkeitszufuhr ausreichend war. Die vorhan-
naten. Hyoscyamus C 200, inzwischen als Bedarfsme- dene Gewichtsreduktion und seine Schwäche sah
Visite eine Woche später Mannes, der jeden Mittag bei ihr zum Essen er-
Der Patient schlief zwischen 9-10 Stunden in der schien und den sie bekochte, für ihn bügelte und
Nacht. Er konnte vergnügt an einem Filmabend teil- für den sie wie eine Mutter war. Nach seiner Pen-
nehmen, ohne einzuschlafen! Das Essen und Trinken sionierung hörten diese Besuche auf und sie fiel
wurde problemlos, z. T. reichlich. Obstipation und in eine depressive Verstimmung. Die Leere war
Protest beim Lüften weiterhin. Nach dem Frühstück mit nichts zu füllen und nach und nach zeigte
und nachmittags ging er weiterhin eine große Runde sich der Beginn eines demenziellen Verhaltens.
spazieren. Das Getriebensein und die Unruhe dabei Durch ihren Wegzug wurde meine Behandlung
waren verschwunden. für einige Jahre beendet. Ich treffe sie wieder im
➛ Reduktion von Mandragora C 12 auf 2 Mal 1 Pflegeheim.
Tropfen wöchentlich. Sie liegt wie eine Diva im Bett und befiehlt dem
Pflegepersonal. Während der Fallaufnahme klagt
Visite 14 Tage später sie unablässig über ihre Einsamkeit und ist voller
Die Pupillen zeigten eine normale Reaktion. Der Pati- Vorwürfe. Ihre Gedanken kreisen ständig um die-
Trinken und voller Blase, dann fließt der Urin un- In dieser Phase kann die Kontaktaufnahme über Mu-
gehindert. Sie kann kleinere Inkontinenzartikel ver- sik eine Brücke darstellen. Ziel ist es, mit verbalen
wenden. Die schwarzen Punkte werden kleiner. und nonverbalen Techniken und viel Einfühlungs-
vermögen das Vertrauen des Patienten zu gewinnen.
Verordnung Berührungen werden zunehmend wichtiger. Der Be-
➛ Nat-m. C 200 Dunham, zweimal wöchentlich. handler sollte seinen Körperausdruck, seine Gefühle
sowie Atem und Stimme dem Desorientierten anpas-
Zwei Wochen später sen. Das Ziel heißt: Aufarbeiten statt zu vegetieren.
Ich treffe auf eine humorige alte Dame mit einem
Schalk. Wir lachen viel bei dieser Visite. Sie will kei- Fallbeispiele Demenz Phase 2
ne Tropfen mehr nehmen. Die Inkontinenz tritt nur
noch bei reichlichem Trinken und voller Blase auf. Fall: 81-jähriger Mann
Die restlichen schwarzen Punkte stören die Patientin
nicht. Ich werde mit einer hochwertigen Schokolade Der alte Herr war bis zu seinem 80. Geburts-
Visite nach 8 Tagen Bisher leider ohne Erfolg. Kein Happyend, der Fall
Etwas am Ausdruck des alten Herrn war verändert. Er läuft weiter.
klagte nicht, wie sonst üblich, über die Kopfschmer-
zen. Er beschrieb mir seine Situation ganz klar. Das Fall: 82-jährige Frau
Denken fiel ihm nach wie vor schwer, doch seine
Wortwahl war klar, er suchte nicht mehr verzweifelt Trotz regelmäßiger Psychopharmakagaben wird
nach Worten. Nach ca. 10 Minuten bemerke ich dann die alte Dame in unregelmäßigen Abständen
bewusst die optische Veränderung: Die zuvor ständig sehr unruhig und will nach Hause gehen. Der
tief in Falten liegende Stirn ist plötzlich geglättet. Beginn einer solchen Phase zeigt sich in unru-
higem Auf- und Abgehen. Häufig verweigert sie
Verordnung die Medikamente, so dass sich ihr Zustand rasch
➛ Reduktion von Lycopodium C 30 auf zweimal wö- verschlimmert. Wird sie an ihren Versuchen, das
chentlich. Haus zu verlassen, gehindert, schlägt sie wild um
sich, schreit, beißt das Pflegepersonal blutig und
Warum Opium? Angeregt durch ein Seminar von Dr. gegebene homöopathische Arzneien ohne Erfolg.
Michael Teut begann ich vor einigen Jahren, Patien- Nach einigen Jahren des Aufenthaltes im Pflege-
ten, die offensichtlich traumatische Kriegssituationen heim erkrankt die Patientin an einem Mammakar-
mit sich tragen, „testweise“ mit Opium in hohen Po- zinom mit nachfolgender Amputation. Bei ihrer
tenzen zu behandeln. In 9 von 10 Fällen sind diese Rückkehr beginnt sie sich aufzugeben. Sowohl die
Verschreibungen erfolgreich. Entweder beginnen die Gabe von homöopathischen Arzneien als auch
Patienten nach den Opiumgaben über das Gewesene Gaben von Bachblüten bleiben weiterhin ohne
erstmals zu berichten oder es „lichtet sich ein Nebel“ Erfolg. Die Mobilisationen vonseiten der Pflege-
und bisher zurückgezogen lebende, auch nicht des- kräfte lässt sie über sich ergehen, hilft beim Trans-
orientierte Patienten, kehren ins Leben zurück. fer in den Sessel nicht mit.
Routinemäßig besuche ich sie. Mein Behand-
Fall: 83-jährige Frau lungsziel ist die Vermeidung eines weiteren Rück-
zuges, der Bettlägerigkeit und ein Dahinvegetie-
Die alte Dame neigt während ihres gesamten Pfle- ren, was unweigerlich folgen würde.
schmunzle gemeinsam mit ihr. Plötzlich fragt sie sie nicht mehr gesehen. Wir reden vom Wetter, dem
mich, warum die Drei wohl so dunkel gekleidet Speiseplan, ich berichte von meinem Urlaub. Beim
wären. Ich antworte, ob sie wohl zu einer Beer- Weggehen spricht sie von ihrer Langeweile. Ich möge
digung gehen wollen? Die Patientin sieht weiter sie bitte wieder besuchen.
im Zimmer umher und meint, dafür wären sie ja
wohl zu klein. Ich frage weiter nach dem Alter der Verordnung
Drei. Sie schätzt 5 und 7 und 12 Jahre alt. Die Fra- ➛ Sulfur C 30 reduzieren auf zweimal wöchentlich.
ge, ob sie etwas über die Eltern und ihr Zuhause
wisse bleibt unbeantwortet. Wir beobachten noch Visite 14 Tage später
eine Weile gemeinsam. Ihre Veränderung ist auffällig. Sie spricht erstmalig
von der Brustamputation und sie kann ihre Verzweif-
Analyse, Verordnung und Verlauf lung äußern. Dann geschieht ein Novum in all den
Jahren ihrer Anwesenheit im Pflegeheim: Sie beginnt,
An meinen Schreibtisch zurückgekehrt erwäge ich sich zu bedanken. Sowohl beim Pflegepersonal, bei
Nach der Verschreibung finde ich im Repertorium Das Verhältnis zur Zeit ist nicht mehr vorhanden. Die
unter „Wahnideen sieht Personen“ den Sulfur, einen Desorientierten führen sich ständig wiederholende
Eintrag von Hahnemann und „sieht Gestalten“ von Bewegungen aus. Rhythmus und Bewegungen erset-
Bönninghausen. zen die Sprache. Laut Naomi Feil ist das Abgleiten in
diese Phase vermeidbar, wenn die Desorientierten
Visite nach 8 Tagen regelmäßig, d.h. alle zwei Stunden am Tag, für eine
Laut Pflegepersonal hat die Bewohnerin zweimal bei kurze Zeit stimuliert werden. Ähnlich einer Mutter,
der Grundpflege geredet. Ihr Missmut der Mobilisa- die viele Male am Tag an das Bett ihres Baby tritt, um
tion gegenüber ist gleich geblieben. es zu pflegen und in engem Kontakt zu sein. Dieses
Die alte Dame sitzt aufrecht in ihrem Sessel und erwi- aufgebaute Vertrauen verhindert, dass die Patienten
dert meinen Gruß. Sie sieht mich an! Auf die Frage, in die 4. Phase der Desorientiertheit, das Vegetieren,
ob ich mich setzen dürfe, nickt sie kurz. Wir reden abgleiten.
über das Wetter und die Kekse auf ihrem Tisch. Sie
hatte Besuch von ihren Kindern und erzählt dies Wenn Menschen durch Bettlägerigkeit zur Unbeweg-
ohne Nachfragen. Beim Weggehen bittet sie mich lichkeit verdammt sind, sich der Kontakt zur Außen-
aktiv, doch wieder vorbeizuschauen, wenn ich Zeit welt auf pflegerische Maßnahmen und seltene Besu-
hätte. che Angehöriger beschränkt, zieht sich der Mensch
zurück, um den Stress der unerträglich gewordenen
Vier Tage später Realität zu überstehen. Es gibt nichts zu tun. So keh-
Laut Pflegepersonal hat die Bewohnerin etwas mehr ren sie in eine Zeit zurück, in der sie noch „jemand
gegessen. Sie antwortet auf Fragen. Diesmal frage ich waren“, sie beleben alte Erinnerungen, um ihre Wür-
nach den dunkel gekleideten Kindern. Die Drei hat de wieder herzustellen; diese Menschen stimulieren
HK 2.14 I GERIATRIE 27
sich selber durch Erinnerungen und dies erzeugt ein Tochter veränderte die Situation schlagartig. Es
Mindestmaß an Wohlgefühl. Frühkindliche Sprach- erfolgte ein massiver Rückzug. Die Ehefrau be-
muster werden wiederbelebt auf der Suche nach Iden- richtete, dass ihr Mann von diesem Zeitpunkt an
tität. „nur noch Buchstaben spucken würde“, es kämen
Die Sprache wird unverständlich, der Patient spricht keine Wörter mehr. Die Lieder wurden zu einem
in Assoziationen. Die Worte ähneln denen, die er ei- Summen, die dazugehörigen Texte waren ver-
gentlich sagen möchte und gehen einher mit Mund-, schwunden.
Kiefer- und Zungenbewegungen. Zwei Jahre nach diesem Ereignis wurde ich zur Be-
handlung hinzugezogen. Eine Kontaktaufnahme
In dieser Phase ist eine Kontaktaufnahme nur noch ist nur über Berührung möglich, auf Ansprache
möglich über Berührung. So kann es sein, dass Sie reagiert mein Patient nicht mehr. Er stimmt aller-
einen Ihrer Patienten auf dem Flur verbal begrüßen dings sofort in ein vorgesungenes Lied mit ein.
und er durch Sie hindurch sieht. Gehen Sie auf ihn
zu und berühren ihn sanft am Arm und wiederho- Analyse, Verordnung und Verlauf
müt – Singen - abwechselnd mit - Weinen) setzte er tätlich zu, so dass nur noch
und diverser anderer „Kummermittel“ ältere oder männliche Pflegekräfte sein
blieben ohne Erfolg. Zimmer betraten. Eine Einzelgabe Hy-
Die intensive Bitte seiner Ehefrau bei oscyamus C 200 Dunham setzte dem
einer Begegnung auf dem Flur, doch Spuk ein Ende. Diese Ausbrüche wieder-
nochmals eine Arznei zu geben, ließ holten sich alle paar Monate. Hyoscya-
mich schließlich (unrepertorisiert) zu mus half jedes Mal mit einer Einzelgabe
der folgenden Entscheidung kommen: zuverlässig.
emotionale Reaktion
●
Im vorliegenden Fall war ein Blick in die Biografie Singen, Lächeln, Weinen oder körperliche Bewe-
●
des alten Herrn die Lösung für sein Verhalten. Mit gung
seinem Gehwagen „fegte“ er durch die Gegend
und rief tags und leider auch nachts sein lautes: Fallbeispiel Demenz Phase 4
„Ho ho ho“. Dieses Verhalten trieb er bis zu sei-
ner körperlichen und unserer seelischen Erschöp- Fall: 85-jährige Frau, Endstadium Alzheimer
fung. Wir erfuhren von ehemaligen Nachbarn, Demenz
dass unser Bewohner früher Kühe auf die Weide
getrieben hat und sein Verhalten wurde verständ- Seit Jahren liegt die alte Dame reglos im Bett. Das
lich. Dieses Verhalten konnte mit Validation un- Gesicht ist starr, die Augen geschlossen. Sie zeigt
terbrochen werden, indem wir ihn berührten und keine Reaktionen. Früher hat sie bei der Versorgung
sagten, die Kühe wären jetzt im Stall oder tagsüber geschrieen. Auch das ist vorbei.
auf der Weide. Erst dann konnte er sich erschöpft Ihr Gesicht sieht aus wie eine Maske. Die Stirn
in seinen Sessel setzen. liegt in Falten, sie ist nicht entspannt. Der Mund
Ansprache ohne Berührung war nicht möglich. ist geöffnet. Ihre einzigen Reaktionen erfolgen auf
Feuchtigkeit und Flüssigkeit am Mund, aber sie
Die Homöopathie kam zum Einsatz aufgrund seiner kann den Schluckakt nicht mehr umsetzen. Ich
Dauererektionen, die das junge Pflegepersonal in interpretiere dies als Durst. Die Ernährung erfolgt
Schrecken versetzte. Unbekleidet lag er meist mor- per PEG (parenterale Ernährung).
gens, manchmal aber auch tagsüber auf seinem Bett
und masturbierte ungehemmt. Ein typisches Verhal- Analyse und Verordnung
ten für die 3. Phase der Demenz, in der alle Hemmun-
gen fallen. Dem jungen weiblichen Pflegepersonal Mein Behandlungsziel: Das Gemüt zu erreichen, eine
HK 2.14 I GERIATRIE 29
Ein Erfolg? Ja, ein Behandlungserfolg! erkrankte Menschen geeignet, nicht für Menschen mit
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Dies gilt bis zum psychotischen oder psychiatrischen Erkrankungen!
letzten Atemzug. Es bedeutet, den Demenzerkrank- In 11 Jahren (2025) wird jeder dritte Mensch in
ten nicht in einem Zimmer vor sich hin vegetieren Deutschland über 60 Jahre alt sein. Damit wird die
zu lassen. Das Unvermögen, Reaktionen zu zeigen, Anzahl der demenziell Erkrankten deutlich steigen.
bedeutet für den validationsgeschulten Beobachter Unsere Patienten werden uns zunehmend mit chro-
nicht die Freiheit von Leiden. Er gilt also feiner zu be- nischen Krankheiten und Demenz konfrontieren.
obachten. Das definierte Behandlungsziel lautete da- Diese Behandlungen folgen anderen Gesetzen! Die
her in diesem Fall: Versuche, einen Kontakt zu diesem größte Hausforderung für uns Therapeuten ist das
Patienten herzustellen, der ihm seine Anspannung Loslassen jeglichen Heilungsanspruches im Sinne
nimmt, sichtbar in Form von Falten auf der Stirn als der Ganzheitlichkeit. Es lohnt sich, diese bewährte
einzig „messbarer“ Parameter. Eventuell die Spitze Kommunikationsmethode zu erlernen. Naomi Feil
eines Eisberges? Aus vielen Erfahrungsberichten mit ist, ähnlich wie der verstorbene Dr. Gawlik, ein „Na-
Menschen im Koma, die sich jenseits des bewussten turschauspiel“. Sie ist bereits über 80 Jahre alt. Ich
...............................................................
Inga Maria Stalljann
Promenadenweg 1 A / 23611 Bad Schwartau
imstalljann@ymail.com
Heilpraktikerin seit 1990, zertifizierte Homöopathin (SHZ). Praxis seit 1991, geria-
trische Homöopathie in Alten- und Pflegeheimen seit 1996. Homöopathische Aus-
bildung bei der Clemens-von-Boenninghausen-Akademie, weitere Ausbildungen
bei Gerhard Risch, Willibald Gawlik, Teilnahme am europäischen Materia medica-
Kurs von Dr. André Saine (2005-2010). Fachfortbildungen in Validation nach Nao-
mi Feil und Psychobiographisches Pflegemodell nach Böhm. Supervisionen zum
Thema homöopathische Geriatrie, Fachvorträge und Seminartätigkeit im deutsch-
sprachigen Raum.
2
Siehe Martin Pistorius: Als ich unsichtbar war.