Sie sind auf Seite 1von 17

Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg Datum:

Fachbereich Geschichte, Philosophie


und Sozialwissenschaften
Institut für Politikwissenschaft
Proseminar:
Dozent:
Semester:

Hausarbeit

DIE CLEAVAGE-THEORIE AM BEISPIEL DES KONFESSIONELLEN WAHLVERHALTENS


IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

vorgelegt von:

MAX MUSTERMANN

Studiengang
E-Mailadresse

1
Inhaltsverzeichnis

Einleitung 3

1. Der Cleavage- Ansatz 4

2. Religiös- konfessionelle Cleavages in der Bundesrepublik 7

3. Aktuelle und Grundsätzliche Probleme des Cleavage- Konzeptes 11

3.1 Dealignment – Prozesse 12


3.2 Das Realignment-Konzept 13

4. Veränderungen durch den Beitritt der fünf neuen Länder 13

5. Fazit 15

6. Literaturverzeichnis 16

2
Einleitung

In seiner Ausgabe vom 26.03.2007 titelte der Spiegel mit „Mekka in Deutschland – Die stille
Islamisierung“. In diesem Zusammenhang prognostizierte man die Zahl der Muslime in
Deutschland für das Jahr 2030 auf etwa 7 Millionen (von 3,3 Millionen heute), was etwa 10%
der Gesamtbevölkerung entspricht. Welchen Einfluss der Islam mit der Vielfalt seiner
Elemente, wie beispielsweise der Scharia auf Politik und Gesellschaft haben kann, ist am
aktuellen Beispiel des Iran erkennbar.

Im Zusammenhang mit dem Seminarthema „Wahlen und Wähler“ habe ich mich jedoch
gefragt, ob auch in Deutschland Religion immer noch großen Einfluss auf die
Wahlentscheidung hat, denn schließlich ist die Auseinandersetzung zwischen Staat und
Kirche eine klassische Konfliktlinie, die bereits LIPSET und ROKKAN im Jahre 1967
formulierten. Dazu scheint es interessant zu sein, vor allem das Wahlverhalten von
Katholiken und Protestanten zu betrachten. So klärt sich vielleicht auch die Frage, wie die
aktuelle Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) zur Annahme kommt, dass in
ihrem „Bündnis für Erziehung“ christliche Werte eine zentrale Position einnehmen müssen,
obwohl so aus meiner Perspektive lediglich ein Teil des demokratischen Wertespektrums
abgedeckt ist. Wenn die Konfession beispielsweise maßgeblichen Einfluss auf die
Wahlentscheidung zugunsten der CDU hat, so scheint mir diese Forderung zwar
nachvollziehbar, jedoch gilt es gerade diese Frage zu prüfen.

Im ersten Teil der Arbeit wird aber zuerst ein kurzer Überblick über die Cleavage-Theorie
gegeben, um theoretische Grundlagen zu legen, bevor sich dann dem Religiös- konfessionelle
Cleavage in der Bundesrepublik zugewendet wird. Neben zentralen Problemen in der
Anwendung der Cleavage- Theorie wird auch die besondere Situation nach der politischen
Wende 1989/90 angesprochen, insbesondere in Hinblick auf das konfessionelle
Wahlverhalten.

Als wichtige Literaturgrundlage ist an dieser Stelle natürlich FALTERS Handbuch


Wahlforschung als Standardwerk von großer Bedeutung. Neben LIPSET und ROKKAn haben
sich aber auch BÜRKLIN, GABRIEL, HOLTMANN und JACOBS auf diesem Gebiet verdient
gemacht. Natürlich kann diese Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit erfüllen, jedoch
handelt es sich hier um einen Problemaufriss, der gleichzeitig einen kurzen Überblick zur
Thematik verschafft.

3
1. Der Cleavage- Ansatz

Zurück geht der Cleavage – Ansatz auf die makrosoziologische Perspektive von LIPSET und
ROKKAN aus dem Jahre 1967. Diese beschreibt längerfristige und vor allem stabile Allianzen
zwischen Bevölkerungsgruppe und politischen Parteien, so wie sie beispielsweise seit dem
19. Jahrhundert in Westeuropa bestanden. 1 LIPSET geht davon aus, dass trotz der bestehenden
Unterschiede im Wahlrecht und im institutionellen Bereich, in unterschiedlichen Ländern und
in fast allen Parteisystemen christdemokratische, sozialistische oder sozialdemokratische,
liberale und sogar grüne Parteien mit einer eigenen Wählerschaft vertreten sind. Bereits in den
60er Jahren wurde durch beide Autoren ein zweistufiges Modell entwickelt, wodurch Die
Ausprägung und die Veränderung von Parteisystemen sich grundlegend erklären lassen. 2
Genau auf dieser Grundlage erstand die Erkenntnis, dass die Herausbildung der
westeuropäischen Parteisysteme eng mit dem Demokratisierungsprozess des 19. und 20.
Jahrhundert verbunden ist, wobei unterschiedliche Länder eine vergleichbare Entwicklung
durchliefen.

Wenn in diesem Zusammenhang von so genannten Cleavages oder soziopolitischen


Spannungslinien gesprochen wird, meint man „langfristige Bindungen zwischen
3
gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien“ . Diese haben sich im Zusammenhang
mit großen gesellschaftlichen Konflikten im Laufe der Zeit herausgebildet. LANE / ERSSON
und KNUTSEN / SCARBROUGH definieren Cleavage wie folgt: „Mit dem Begriff Cleavage
werden dauerhaft in der Struktur einer Gesellschaft angelegte Gegensätze zwischen
identifizierbaren Trägergruppen, die sich in Interessen- oder Wertkonflikten zwischen
gesellschaftlichen Organisationen (Kirchen, Gewerkschaften) manifestieren und dadurch
politisiert werden“. 4 Für die Parteienlandschaft in Deutschland haben Cleavages nach
GABRIEL und THAIDIGSMANN eine relativ hohe Bedeutung. „Je größer die Zahl der
gleichzeitig in einem Lande auftretenden Konflikte ist und je mehr die institutionellen
Arrangements, insbesondere das Wahlrecht, die politischen Repräsentationen dieser Konflikte
erleichtern, desto größer ist die Zahl der in einem Land entstehenden Parteien.“5
Die auch als makrosoziologischer Ansatz bekannt gewordene Cleavage-Theorie von LIPSET
und ROKKAN aus dem Jahr 1967 kann man als ein Konfliktlinienmodell beschreiben, welches
auf der Annahme genereller sozialer Konflikten in einer Gesellschaft basiert.

1
Vgl. Korte, 2003, S.89.
2
Vgl. Ebenda.
3
Holtmann, 2000, S.764.
4
Gabriel / Thaidigsmann, 2002, S.8.
5
Ebenda.
4
Es erfolgt eine „Verbindung zwischen der in der sozialen Situation begründeten
Interessenlage von Wählergruppen und deren Vertretung durch Parteien in
der politischen Arena“ 6.

Zur Veranschaulichung haben LIPSET und ROKKAN bereits 1967 ein Modell entwickelt,
welches in Bezug auf soziale Systeme vier Hauptkonfliktlinien beschreibt:

Abbildung 1 Modell zur Cleavage-Theorie von Lipset und Rokkan

Quelle: Lipset / Rokkan 1967, S.14.

1. „Der Zentrum-Peripherie-Konflikt trennt die herrschenden nationalen, also


zentralstaatliche Eliten und die Vertreter meist ethnischer, sprachlicher oder religiöser
Minderheiten, die sich der Nationalstaatsbildung widersetzen […].“
2. „Im Konflikt zwischen Kirche und Staat setzt sich die Kirche für ihre historisch
gewachsenen Zuständigkeitsbereich und Vorrechte gegen den Machtanspruch des
Staates ein. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Konflikt um Werte und
Moralvorstellungen, der sich etwa in Auseinandersetzungen um die Rolle der Kirche
im Erziehungswesen niederschlägt“

6
Falten / Schoen, 1999, S.457.
5
3. „In der Zeit der industriellen Revolution entstand die Spannungslinie zwischen Stadt
und Land. Die neue Schicht städtischer Unternehmer, die ihren sozialen Aufstieg den
neuen industriellen Produktionsformen verdankte, plädierte beispielsweise stärker für
den Freihandel. […]“
4. „Die Spannungslinie zwischen Kapital und Arbeit entwickelt sich im Zuge der
Industrialisierung. In diesem Konflikt stehen sich Kapitaleigner und abhängige
Beschäftigte gegenüber“7

Abbildung 2 Das Konfliktlinienmodell nach Lipset und Rokkan

Quelle: Wüst, 2003, S.5.

Die Konfliktlinien zwischen nationalem Zentrum und regionaler Peripherie auf der einen
Seite und zwischen Kirche und Staat auf der anderen Seite, werden auch als sozio-kulturelle
Konfliktlinien bezeichnet. Die Konflikte zwischen Stadt und Land und zwischen Arbeit und
Kapital hingegen bezeichnet man auch als sozio-ökonomische Konfliktlinien. 8 FALTER und
SCHOEN weisen in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass genannte Konfliktlinien sich
mit unterschiedlichem Gewicht ausprägen und entsprechend ihre „politische Prägekraft am
deutlichsten an der Wahlurne [zeigen]“9
Zwei dieser beschriebenen Spannungslinien, die bereits seit dem 19. Jahrhundert
zurückverfolgbar sind, äußern sich zum einen in der Bindung der CDU / CSU und der Gruppe

7
Falter / Schoen, 2005, S.146.
8
Vgl. Gabriel / Holtmann, 1999, S.483.
9
Falter / Schoen, 1999, S.458.
6
der so genannten überzeugten Katholiken und andererseits zwischen der SPD und den
gewerkschaftlich organisierten Arbeitern. BÜRKLIN und KLEIN sprechen in diesem
Zusammenhang auch von den konfessionellen- und Klassencleavages. 10 BÜRKLIN und KLEIN
beschreiben anhand der folgenden Tabelle (Abbildung 2), dass diese scheinbar klassischen
Cleavages gerade in der Bundesrepublik noch existent sind. In der ersten Zeile der Tabelle
kann man beispielsweise erkennen, dass 81,9% aller Befragten die SPD, jedoch lediglich
16,7% die CDU/CSU als Partei dargestellt haben, die sich für die Interessen der Arbeiter
einsetzt. Im Bereich der Unternehmer scheint sich dieses umzukehren, denn hier sind es
gerade einmal 5,5%, die der SPD unterstellen, sich für ihre Interessen einzusetzen, wobei die
CDU/CSU an dieser Stelle mit 81% weit an der Spitze steht. Somit ist für BÜRKLIN und
KLEIN klar, dass diese Verteilungen übereinstimmen mit dem bereits im 19. Jahrhundert
herausgebildeten Klassenkonflikt und über Sozialstruktur und Parteisystem noch immer
bestehen.11

Klassencleavage

Konfessioneller Cleavage

Abbildung 3 Politische Cleavages im deutschen Parteiensystem 1976-1987

Quelle: Kieler Bundestagswahlstudie von 1976, 1980, 1983 und 1987;


In: Bürklin / Klein (Jahr) S.77 (bearbeitet).

2. Religiös- konfessionelle Cleavages in der Bundesrepublik

Auch die zweite große traditionelle Konfliktlinie scheint aus dieser Tabelle erkennbar.
Dieser konfessionelle Cleavage zeigte sich bereits seit der Mobilisierung des politischen
Katholizismus durch die Zentrumspartei während des Kulturkampfes in Deutschland. Durch
10
Vgl. Bürklin / Klein, 1998, S.76.
11
Vgl. Bürklin / Klein, 1998, S.76-77.
7
die Teilung Deutschlands und der damit verbundene Ausgliederung des vorwiegend
protestantischen Preußens aus der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, konnte sich
entsprechend eine überkonfessionell christliche Partei in Gestalt der CDU etablieren. Der
politische Katholizismus konnte jetzt in dieser neuen Zentrumspartei integriert werden und
seither versteht sich die CDU auch als „Repräsentanten eines religiösen Traditionalismus“. 12
Diese enge Verbindung von CDU bzw. CSU und dem Katholizismus ist aus der obigen
Tabelle scheinbar auch bis zum Ende der 80er Jahre in der Bundesrepublik zu erkennen. So
entdeckt man beispielsweise, dass 1987 etwa 89,1% der befragten Katholiken der CDU
unterstellen, sich für sie einzusetzen, wohingegen die SPD beispielsweise lediglich 9,3%
erhält.

Laut HOLTMANN sind es jedoch genau diese beiden eben benannten Cleavages, die durch die
zurückgehende Parteibindung, insbesondere seit den 90er Jahren an Bedeutung verlieren und
somit fraglich ist, ob sie die Wahlentscheidung auch im 21. Jahrhundert in der
Bundesrepublik noch massiv beeinflussen. Allerdings muss man an dieser Stelle auch
festhalten, dass in der Gruppe der fest überzeugten Katholiken sogar eine Zunahme der
Bindung an die CDU/CSU erkennbar ist. 13 Aus nachfolgenden Abbildungen 4 und 5 ist zu
entnehmen, dass die konfessionelle Bindung bei der CDU- Wählerschaft höher ist, als
beispielsweise bei der SPD, wo jedoch ein deutlich höherer Anteil konfessionsloser zu
verzeichnen ist.

Abbildung 4 Konfessionelle Bindung der CDU-Wähler Abbildung 5 Konfessionelle Bindung der SPD-Wähler

Quelle: de Nève, bearbeitet nach ZA 3861, BTW 2002. Quelle: de Nève, bearbeitet nach ZA 3861, BTW 2002.

12
Ebenda S.78.
13
Vgl. Holtmann, 1999, S.764-765.
8
Konfessionell gebunden (katholisch und evangelisch) sind demnach in der CDU-Wählerschaft
etwa 79,6%, im Gegensatz zur SPD-Wählerschaft von lediglich 65,7%. Bemerkenswert ist
allerdings, dass 43,6% der CDU-Wähler zur katholischen Konfession gezählt werden können,
was die vorrangegangene Aussage von HOLTMANN bestätigt.

Zwar sind immerhin 13,9% der CDU-Wählerschaft mehr konfessionell gebunden als bei der
SPD, jedoch scheint es sich nicht um einen so signifikanten Wert zu handeln, wie es
beispielsweise im 19. Jahrhundert der Fall war.

Dass also der einstige konfessionelle Cleavage aus dem 19. Jahrhundert noch immer besteht,
kann nur in begrenztem Maße für die heutige Bundesrepublik bestätigt werden.

FALTER, SCHUMANN und WINKLER gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass die
Konflikte zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen sowie zwischen Staat und Kirche die
bedeutendsten Spannungslinien zwar darstellen, aber dass die ehemals konfessionelle
Spaltung mittlerweile eher als religiöse Spaltung wahrgenommen werden kann.14 Die
„Koalition“ von Katholiken und der CDU / CSU scheint im Laufe der Zeit schwächer
geworden zu sein. Bereits PAPPI stellt 1985 fest, dass in diesem Zusammenhang
Konfliktlinien ergänzt, beziehungsweise gänzlich abgelöst werden. So geht er davon aus, dass
nicht einfach die Konfessionszugehörigkeit wahlentscheidender Faktor ist, sondern die
Kirchgangshäufigkeit. 15 Somit erklärt sich scheinbar auch das von HOLTMANN beschriebene
Wahlverhalten von fest überzeugten Katholiken.

Die schon von PAPPI beschriebene Ablösung des Konfliktes zwischen Protestanten und
Katholiken bestätigt WOLF ebenso und geht zugleich davon aus, dass der neue Konflikt in
Zukunft zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen stattfindet.16 Wie schon zur
Bundestagswahl 2002 (Abbildung 3 und 4) deutlich wurde, scheinen offensichtlich
Katholiken tendenziell eher CDU zu wählen und Protestanten eher SPD. Wenn man jedoch
PAPPI und WOLF Glauben schenkt, so würde das folglich bedeuten, dass die Wirkung der
Kirchenbindung sowohl bei Katholiken, als auch bei Protestanten für die Wahlentscheidung
von hoher Relevanz ist. Das heißt also, umso höher die Kirchgangshäufigkeit, desto mehr
wird tendenziell von Katholiken und Protestanten CDU / CSU gewählt. Bestätigen würde
diese Schlussfolgerung auch JACOBS Beobachtung bei der Bundestagswahl 1998. Er stellte

14
Falter / Schumann / Winkler, 1990, S.8.
15
Vgl. Pappi, 1985, S.269-278.
16
Wolf, 1996, S.731.
9
fest, dass eine „starke relative Mehrheit der Protestanten, die eine starke Bindung an die
Kirche haben, für die CDU/CSU [votierten]“17.

Abbildung 6 Die Entwicklung der Kirchgangshäufigkeit. BRD 1953-96


Quelle: Bürklin / Klein, 1998, S.89.

Abbildung 7 Parteipräferenz in den religiös-konfessionellen Schichten


Quelle: Gluchowski / Wilamowitz-Moellendorff 1997;
In: Bürklin / Klein, 1998, S.91.

17
Jakobs, 2000, S.169.
10
Offensichtlich sind die konfessionellen Konflikte von religiösen Konfliktlinien abgelöst
worden und schrittweise überlagert worden. Man muss jedoch auch festhalten, dass
bundesweit der Anteil der kirchengebundenen Christen, mit einer entsprechenden
Kirchgangshäufigkeit, die sich nicht nur auf das Krippenspiel am Weihnachtsabend
beschränkt, seit 1945 stark zurückgeht. Es scheint sich hier also um ein Paradebeispiel für den
Wandel von Cleavages im Politischen System der Bundesrepublik zu handeln, wodurch ROTH
und JUNG sogar annehmen, dass sich diese religiösen- und konfessionellen Konflikte schon
bald ganz verschwinden.18 Andererseits stehen Forderungen aus dem
Bundesfamilienministerium des vergangenen Jahres diesen Aspekten scheinbar gegenüber,
denn wie kann eine Forderung nach der Umsetzung von christlichen Werten im
Bildungssystem begründet werden, wenn die Zahl der konfessionell gebundenen Wählern und
deren Kirchgangshäufigkeit rapide abnimmt? So gehen EMMERT, ROTH und JUNG in den
westlichen Bundesländern davon aus, dass der Anteil von Katholiken mit hoher
Kirchenbindung von 60% (1953) auf etwa 29% (1994) gesunken ist. Der Anteil der
Protestanten sank im gleichen Zeitraum von 19% auf 9%. 19 JACOBS vermutet den Anteil des
dennoch hohen Anteils an Kirchenmittgliedschaften lediglich in der Bequemlichkeit des
Austretens.20 GAULY weist darauf hin, dass die Kirchenbindung zu einem Altersmerkmal
werden könnte, wobei sich eine „entkirchlichte Jugendkultur“ scharf abgrenzt. 21 So scheint es
also, als ob die Kirchenbindung an Prägekraft für Wahlentscheidungen immer mehr an
Bedeutung verlieren könnte.

3. Aktuelle und Grundsätzliche Probleme des Cleavage- Konzeptes

Etwa seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, kann man nach GABRIEL von einem
„Zerfall traditioneller politisch-sozialer Milieus“ und von einer „Veränderung der
Sozialstruktur“ sprechen.22 Wie wirkt sich das jedoch auf die traditionellen Cleavages aus?
BÜRKLIN und KLEIN beschreiben in diesem Zusammenhang zwei Erklärungsansätze.
Einerseits wird hier von so genannten „Dealignments“ und andererseits vom „Realignments“
gesprochen.23

18
Vgl. Roth / Jung, 2002, S.3-17.
19
Emmert / Jung / Roth, 1998, S.71.
20
Jacobs, 1999, S.165.
21
Gauly, 1991, S. 52.
22
Gabriel u.a., 1994, S.10.
23
Bürklin / Klein, 1998, S.82.
11
3.1 Dealignment – Prozesse

Das Phänomen der Dealignment durch abnehmende Gruppengrößen ist in der Regel dann
beobachtbar, wenn ein bestimmter Anteil an der Gesamtbevölkerung sinkt. Dieser ist stark in
ein politisch-soziales Milieu integriert und entspricht somit den Cleavage-Strukturen einer
bestimmten Partei. 24 Verantwortlich für diese Entwicklung kann der Strukturwandel seit den
60er Jahren in der Bundesrepublik verantwortlich gemacht werden. Durch die Verlagerung
des primären- und des sekundären Sektors hin zum tertiären Sektor, veränderten sich nicht nur
die Erwerbsarten, sondern auch die Erwerbstätigen selbst. Nach BÜRKLIN und KLEIN
veränderte sich der Anteil der Arbeiter beispielsweise von 51% im Jahre 1950 auf etwa 35%
im Jahre 1995. Hingegen stieg der Anteil der Angestellten und Beamten im gleichen Zeitraum
von 21% auf 54%.25 Der oftmals so scherwiegende Klassencleavage scheint sich somit zu
relativieren, da die einstigen fest integrierten „Mitgliederstrukturen“ sich mehr und mehr
auflösen. Somit ist ein Bedeutungsverlust offensichtlich vorprogrammiert.26
Aber auch der konfessionell-religiöse Cleavage scheint nach Bürklin und Kleinen einen
vergleichbaren Bedeutungsverlust hinnehmen zu müssen. Der schon thematisierte Rückgang
der Kirchgangshäufigkeit ist nicht nur ein Indiz für eine geringere konfessionelle Bindung,
sondern zeigt deutlich, welch tiefgreifender Säkularisierungsprozess sich im Laufe der Zeit
herausbilden konnte.
Dealignment- Prozesse können nach GABRIEL und BRETTSCHNEIDER auch im engeren Sinne
auftreten. Entstehen diese also innerhalb einer sozialen Gruppe, so „ nimmt die Prägekraft der
politisch- kulturellen Milieus für das Wahlverhalten also auch intern ab“.27

Ob solche Prozesse in der Bundesrepublik wirksam waren oder sind, ist aus meiner
Perspektive nicht eindeutig zu beantworten. GLUCHOWSKI und WILAMOWITZ-MOELLENDORF
zeigen jedoch in einer empirischen Studie aus dem Jahre 1997, dass der Stimmenanteil der
Arbeiter innerhalb der SPD in den letzten 25 Jahren langsam gesunken ist, ebenso wie der
Anteil der regelmäßigen Kirchgänger (Katholiken und Protestanten) bei der Union. 28
Kurzfristige Einflussfaktoren, die bekanntlich eine nicht zu unterschätzende Wirkung haben,
können jedoch unter Umständen diese langfristigen Überlegungen überlagern, wodurch die
eben angesprochen Theorie nicht eindeutig zugestimmt werden kann.

24
Zelle, 1998, S. 55.
25
Vgl. Bürklin / Klein, 1998, S. 83.
26
Ebenda.
27
Gabriel / Brettschneider, 1994, S.24.
28
Vgl. Bürklin / Klein, 1998, S. 84-89.
12
Im Gegensatz zu den Dealignment – Prozessen, kristallisierte sich auch ein Realignment-
Konzept heraus, welches im Folgenden beschrieben werden soll.

3.2 Das Realignment-Konzept

Innerhalb der Überlegungen eines Realignment-Konzeptes wird der Prozess des Dealignments
lediglich als eine zeitlich begrenzte Phase wahrgenommen. Das Realignment- Konzept
Versteht sich im Gegensatz zur Dealignment- Konzeption als eine komplette Neuordnung von
Parteien und Wählern. 29 BÜRKLIN und KLEIN beschreiben in diesem Zusammenhang eine Art
wertebestimmte Trennlinien, die zum einen Träger neuer Werte, wie politische Partizipation,
Umweltschutz oder sexueller Freiheit von traditionellen und religiösen Werten andererseits
abgrenzt.30 Dieser „neuen“ und umstrittenen Wertecleavages, welcher in den siebziger Jahren
seinen Ursprung findet, scheint in Grundelementen bis heute noch vorhanden zu sein.
Es zeigt sich in empirischen Analysen von Bürklin und Klein recht deutlich, dass
insbesondere die „Grünen“, aber auch geringfügig die SPD sich als Repräsentanten dieser
neuen Werte etablieren konnten. Im Gegensatz dazu wird die Union noch heute eher als ein
Symbol für traditionelle und religiöse Werte in der Bevölkerung wahrgenommen. 31

4 Veränderungen durch den Beitritt der fünf neuen Länder

Mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, wurde der gesellschaftliche
Einfluss der Kirchen aktiv zurückgedrängt. Ein strikter Kurs der Säkularisierung des SED-
Regimes äußerte sich beispielsweise in der Einführung der Jugendweihe.32 Die katholischen
Bevölkerungsteile waren traditionell schon vor der Gründung der DDR eine Minderheit in
Ost- Deutschland, jedoch wurden auch die Protestanten in eine Art Opposition zum Staat
gedrängt, was sich beispielsweise auch in der Bevorzugung Konfessionsloser bei der Vergabe
von Studienplätzen und Stipendien äußerte. Mit dem Zusammenbruch des SED- Regime
gehörten etwa 70% der Bevölkerung keiner christlichen Konfession an. Die

29
Vgl. ebenda S.95.
30
Vgl. ebenda S.96-98.
31
Vgl. Bürklin / Klein, 1998, S.97.
32
Vgl. Jacobs, 1999, S.142.
13
Säkularisierungstendenzen äußerten sich jedoch nicht nur in einer starken gesellschaftlichen
Ausgrenzung, sondern auch in einer stark eingeschränkten religiös- kirchlichen Praxis.
Somit scheint es auch kein Zufall zu sein, dass sich opportunistisches Gedankengut besonders
unter dem Dach der Kirchen herausbilden konnte.33
Durch die politische Wende vollzog sich ein deutlicher Einschnitt insbesondere des religiös-
konfessionellen Cleavage. Der Erfolg in Bezug auf die Religionsverdrängung zeigt sich sehr
deutlich in den 70% konfessionsloser Bevölkerung, wobei POLLACK davon ausgeht, dass vor
der Gründung der DDR etwa 90% der ostdeutschen Bevölkerung einer christlichen Kirche
angehörten.34 Jedoch beschreibt MEULEMANN, dass auch nach 1990 die Kirchenaustritte in
Ostdeutschland zunehmen, sie „[…] nähern sich in beiden Landesteilen nach ihrer Religiösität
nicht wieder an, sondern bleiben in konstanter Distanz“ 35 Während die christlichen Kirchen in
der DDR als Zufluchtsstätte oder gar als „Stimme des Volkes“ verstanden wurden, so
verloren sie nach der Wiedervereinigung diesen Status und wurden zu einer Institution unter
Vielen degradiert. So erklären sich für FALTER und SCHOEN die neuen
Säkularisierungsimpulse nach der politischen Wende 1989/90.36
Prinzipiell kann man aber feststellen, dass ein relativ enger Bezug zwischen
Kirchenzugehörigkeit und Parteipräferenz in Ostdeutschland vorherrscht. Bei Katholiken und
Protestanten wird die CDU bei Bundestagswahlen von 1990 bis 1994 favorisiert und erreicht
sogar eine absolute Mehrheit. 37 Meines Erachtens kann man davon ausgehen, dass sich die
bloße Kirchenzugehörigkeit in Ostdeutschland, vergleichbar wie die hohe
Kirchgangshäufigkeit in Westdeutschland, auf die Wahlentscheidung massiv auswirkt. Auf
das Wahlergebnis hat dieser Sachverhalt jedoch vergleichsweise wenig Einfluss, wenn man
den hohen Anteil an Konfessionslosen bedenkt.
Die Anwendung der Cleavage-Theorie auf das Wahlverhalten in den ostdeutschen
Bundesländern scheint also problematisch, da sich nicht zuletzt die in der Bundesrepublik zu
beobachtenden Hauptkonfliktlinien in den Jahren 1949 bis 1990 nur sehr schwach in der
ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik wiederfinden lassen. Dieses scheint auch
nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass das Ziel dieses Staates die Zerschlagung von
Klassenstrukturen und eine dauerhafte Säkularisierung der Gesellschaft darstellte. 38

33
Vgl. Ebenda.
34
Vgl. Pollack, 2000, S.19.
35
Meulemann, 2002, S.12.
36
Vgl. Falter / Schoen, 1999, S.459.
37
Emmert / Jung / Roth, 1998, S.74.
38
Vgl. Gabriel / Brettschneider, 1994, S.30-31.
14
5 Fazit

Nicht nur die bekanntlich zurückgehende Parteibindung verliert an Bedeutung zur Erklärung
von Wahlverhalten und macht den Weg frei für immer mehr kurzfristige Einflussfaktoren.
Auch die religiöse Bindung bezüglich der Katholiken und Protestanten in der Bundesrepublik
nimmt ab und wirkt sich somit auf das Wahlverhalten aus. Zwar scheint man sich einig in der
Annahmen zu sein, dass die „stark überzeugten“ Katholiken mit entsprechender
Kirchgangshäufigkeit in ihrer Bindung an die CDU / CSU sogar zunehmen, jedoch täuscht
dieses nicht über die Tatsache hinweg, dass die Zahl der Katholiken insgesamt abnimmt.
Wenn Autoren, wie beispielsweise GAULY von einer „entkirchlichten Jugendkultur“ sprechen
und die Kirchenbindung als Altersmerkmal bezeichnen, so scheint es hier doch starke
Auflösungstendenzen zu geben, die auch das Wahlverhalten beeinflussen.
Das besondere Phänomen in Ostdeutschland, wo noch stärkere Säkularisierungstendenzen
schon frühzeitig forciert wurden, besteht in der Tatsache, dass hier die Kirchenzugehörigkeit
alleine schon die Wahl beeinflussen kann, wobei in Westdeutschland eher die
Kirchgangshäufigkeit als Maß genutzt wird. Die Gründe für dieses Phänomen mag ich nur zu
vermuten. Vielleicht gibt es eine Vielzahl von Menschen in den westdeutschen
Bundesländern, die den christlichen Deckmantel lediglich nutzen, um gewisse soziale oder
gesellschaftliche Vorteile nutzen zu können. So macht es beispielsweise Sinn, um einen
Kindergartenplatz in München bekommen zu wollen, der katholischen Kirche anzugehören.
Viel naheliegender als diese Spekulation aber beispielsweise ist die Frage nach der
Bequemlichkeit, aus einer Kirche auszutreten oder der Frage nach gesellschaftlicher
Anerkennung. In Ostdeutschland könnte man hingegen vermuten, dass nur diejenigen in der
Kirche von vornerein waren, die auch entsprechende Kirchganghäufigkeiten aufwiesen.
So ist vielleicht die Tatsache zu klären, warum die Kirchgangshäufigkeit besonders in
Westdeutschland als Indikator genutzt werden muss.
Der Vorstoß von Frau von der Leyen (CDU), christliche Werte in die Erziehung zu
integrieren, scheint also nicht nur dem demokratischen Wertespektrum gegenüber
ungebügend, sondern entbehrt auch jeglicher konfessionellen Grundlage, wodurch
letztendlich auch die Wahlentscheidung immer weniger beeinflusst wird.
Der Religiös- konfessionelle Cleavages in der Bundesrepublik scheint sich also nicht nur
einfach in religiöse Konfliktlinien umgewandelt zu haben, sondern weist deutliche
Auflösungstendenzen auf.

15
6 Literaturverzeichnis

Bürklin, W. (1998): Wahlen und Wählerverhalten. Opladen.

Emmert, T. (1998): Zwischen Konstanz und Wandel - die Bundestagswahl


vom 16. Oktober 1994. In D. Kaase, Wahlen und Wähler (S. 45-84). Opladen.

Falter J.W. / Schumann, S. (1990): Erklärungsmodelle Wählerverhalten.


In Aus Politik und Zeitgeschichte B 37-38 (S. 3-13). BPB.

Falter, J. (2005): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden.

Falter, J. (1999): Wahlen und Wählverhalten.


In T. Ellwein, 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland (S. 454-470). Opladen.

Gabriel, O. (1999): Handbuch politisches System der Bundesrepublik Deutschland. Wien.

Gabriel, O. (2002): Stand und Probleme der Wahlforschung in Deutschland.


In U. Andersen, Wahlen in Deutschland (S. S.6-17). Schwalbach.

Gabriel, O. W. (1994): Soziale Konflikte und Wählerverhalten.


In H. Rattinger, Wahlen und politische Einstellungen im vereinigten Deutschland
(S. 7-39). Frankfurt am Main.

Gauly, T. (1991): Konfessionalismus und politische Kultur in Deutschland.


Aus Politik und Zeitgeschichte B20 , S. 11-13.

Holtmann, E. (2000): Politik - Lexikon. München.

Jacobs, J. (1999): Die konfessionell-religiöse Spannungslinie am Beispiel der


Bundestagswahlen 1994 und 1998. In D. Pollack, Religiöser und kirchlicher Wandel
in Ostdeutschland 1989-1999 (S. 1-64). Opladen.

Korte, K.-R. (2003): Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn.

Lipset, S. M. (1967): Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives.


New York.

Meulemann, H. (2002): Werte und Wertewandel im vereinigten Deutschland.


Aus Politik und Zeitgeschichte B37-38 , S. 13-22.

Pappi, F. U. (1985): Die konfessionell-religiöse Konfliktlinie in der deutschen Wählerschaft.


In D. Oberndörfer, wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertewandel
(S. 263-290). Berlin.

Pollack, D. /. (2000). Religiöser und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland 1989-1999.


Opladen.

16
Roth, D. /. (2002): Ablösung der Regierung vertagt.
In Aus Politik und Zeitgeschichte B49-50 (S. 3-17).

Wolf, C. (1996): Konfessionelle versus religiöse Konfliktlinien in der deutschen


Wählerschaft. In Politische Vierteljahresschrift 4 (S. 713-743).

Wüst, A. (2003): Wahlverhalten in Theorie und Praxis.


In L. f. Bildungsarbeit, Parteien und Wahlen in Deutschland (S. 1-36). München.

Zelle, C. (1998): A Thrird Face of Dealignment? A Update of Party Identification in Germany


1971-1994. In C. /. Anderson, Stability and Change in German Elections
(S. S.55). Westport / London.

17

Das könnte Ihnen auch gefallen