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APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte


26 ± 27/2007 ´ 25. Juni 2007

Islam
Karl-Heinz Ohlig
Zur Entstehung und Frçhgeschichte des Islam

Anna Akasoy
Glaube und Vernunft im Islam

Muqtedar Khan
Demokratie und islamische Staatlichkeit

Nina Clara Tiesler


Europåisierung des Islam und Islamisierung der Debatten

Danja Bergmann
Bioethik und die Scharia

Kai Hafez ´ Carola Richter


Das Islambild von ARD und ZDF

Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament


Editorial
Die von Islamisten verçbten Terroranschlåge vom 11. Septem-
ber 2001, die Attentate von Madrid und London sowie unzåhlige
Selbstmordattentate gegen die westliche Besatzung bzw. gegen
westlich orientierte Regierungen im Nahen und Mittleren Osten
haben ¹demª Islam das Image einer ¹Gewaltreligionª einge-
bracht. In den USA und Staaten Europas scheinen Vorurteile
gegençber den muslimischen Mitbçrgerinnen und Mitbçrgern
salonfåhig zu werden. Einzelfålle werden verallgemeinert und
fçr die weltweit zweitgræûte Religionsgemeinschaft als charakte-
ristisch klassifiziert und ihr kollektiv zugeschrieben, sodass be-
reits von ¹Islamophobieª die Rede ist.

Der Islam ist keine irrationale Religion ± Vernunft und Glaube


sind keine Gegensåtze. Auch widerspricht er nicht der Demo-
kratie, wie das Beispiel der Bioethik-Diskussion in der Scharia
zeigt. Islamkritiker behaupten, die Scharia halte Einzug ins deut-
sche Rechtssystem. Tatsåchlich ist diese in Deutschland ebenso
wenig wie die Bibel Grundlage der Rechtsprechung. Begeht ein
Muslim eine Straftat, wird er selbstverståndlich nach dem deut-
schen Strafgesetzbuch verurteilt. Die Diskriminierung der Frau
und andere gesellschaftspolitische Einschrånkungen, die durch
islamisches Recht legitimiert sind, darf eine freiheitliche Rechts-
ordnung nicht akzeptieren.

Bundesinnenminister Wolfgang Schåuble hat mit der Einberu-


fung der Islamkonferenz einen wichtigen Schritt hin zur gesell-
schaftlichen Verfasstheit der heterogenen muslimischen Interes-
sen getan. Was aber noch wichtiger erscheint ± und hier sind
nicht nur die muslimischen Intellektuellen gefordert ±, ist die
Einordnung des Koran und die Øuûerungen und Handlungen
des Propheten Mohammad in ihren historischen Kontext.

Ludwig Watzal
Karl-Heinz Ohlig worden und von einer Kommission unter der
Leitung des Zaid ibn Thabit in den Jahren

Zur Entstehung 650 bis 656, also 18 bis 24 Jahre nach dem
Tod Mohammeds, zur heutigen Ganzschrift
des Koran zusammengestellt worden. Der

und Frçhge- Kalif Osman lieû alle sonstigen Versionen des


Koran verbieten. Von dem 1925 in Kairo ge-

schichte des Islam


druckten Koran (Kairiner Koran), der heute
die Grundlage aller Koranexegese ist, wird
behauptet, er stimme mit dem Koran des
Osman çberein.

D er Islam ist eine dynamisch wachsende


Weltreligion mit mehr als einer Milliar-
de Mitgliedern. Er sieht sich begrçndet durch
Die westliche Koranforschung folgt bis
heute weithin der muslimischen Tradition.
Hans Zirker fasst diesen Konsens zusammen:
den von Gott gesandten Propheten Moham- ¹Im Vergleich mit der Bibel (. . .) hat der
med (muhammad), der nach der Ûberliefe- Koran eine åuûerst knappe und homogene
rung von rund 570 bis 632 n. Chr. auf der Entstehungszeit. (. . .) Etwa 20 Jahre nach
Arabischen Halbinsel gelebt hat. Nach sei- dem Tod Mohammeds lag die Sammlung vor,
nem Tod begann eine militårische und reli- von der alle heutigen Ausgaben im wesentli-
giæse Erfolgsgeschichte. Die Expansionen der chen Kopien sind. Mit wenigen Ausnahmen
muslimischen Krieger hegen auch nichtmuslimische Wissenschaftler
çberwanden die bei- keinen Zweifel daran, daû der Koran die
Karl-Heinz Ohlig Offenbarungsworte weitgehend authentisch
den Groûmåchte in
Dr. theol., geb. 1938; 1978 bis in der von Mohammed vermittelten Gestalt
diesem Raum, das By-
2006 Prof. für Religionswissen- (. . .) wiedergibt.ª 1 Auch Rudi Paret meint:
zantinische und das
schaft und Geschichte des Chris- ¹Wir haben keinen Grund anzunehmen, daû
Sassaniden (Perser)-
tentums an der Universität des auch nur ein einziger Vers im ganzen Koran
Reich. In wenigen
Saarlandes (Philosophische nicht von Mohammed selber stammen wçr-
Jahrzehnten dehnten
Fakultät); zurzeit Leiter der de.ª 2
sie ihre Herrschaft
Arbeitsstelle Religionswissen-
im ganzen Vorderen
schaft an der Philosophischen
Orient bis an die
Fakultät der Universität des
Grenzen Indiens aus, Historische Probleme
Saarlandes und von ¹Inara. Insti-
eroberten Øgypten
tut zur Erforschung der frühen Dieser westliche Konsens beruht allerdings,
und Nordafrika bis
Islamgeschichte und des wie auch die muslimische Tradition, auf
nach Spanien und
Koranª, Postfach 15 11 50, Grundlagen, die von keinem Historiker ak-
stieûen bis nach Sçd-
66041 Saarbrücken. zeptiert wçrden. Die ¹Informationenª zu
frankreich vor.
kh.ohlig@gmx.de dem arabischen Propheten Mohammed sind
Gelenkt wurden erst in vier ¹biographischen Werkenª aus
diese Operationen durch Kalifen, die Moham- dem frçhen 9. und 10. Jahrhundert greifbar;
med in seiner politischen Fçhrung nachfolg- auf Letzteres, die ¹Annalenª des at-Tabari,
ten: zunåchst, bis zum Jahr 661 n. Chr., die ± geht auch die çberlieferte Geschichte der ara-
spåter so genannten ± vier ¹rechtgeleiteten bischen Expansionen, Reiche und Kalifen zu-
Kalifenª, dann, bis 750, die Omaiyaden, wel- rçck.
che die Hauptstadt nach Damaskus verlegten,
und, von der Mitte des 8. Jahrhunderts an, die Diese ¹Biographienª bieten weithin legen-
Abbasiden, die von Bagdad aus regierten. darisches Material: ¹Die wirklich geschichtli-
che Ûberlieferung ist åuûerst gering. Da greift
Mohammed hatte seine Verkçndigungen man zu den Andeutungen des Korans und
nur mçndlich vorgetragen. Diese wurden von
1 Hans Zirker, Christentum und Islam. Theologische
seinen Zuhærern im Gedåchtnis behalten,
Verwandtschaft und Konkurrenz, Dçsseldorf 1989,
aber auch auf Knochen oder Palmblåttern S. 79.
aufgezeichnet. Dieses Material ist nach musli- 2 Rudi Paret, Vorwort, in: Der Koran. Ûbers. und
mischer Ûberlieferung unter dem dritten Ka- hrsg. von Rudi Paret, Stuttgart±Berlin±Kæln±Mainz
lifen Osman (Othman, Uthman) gesammelt (1979), 20049, S. 5.

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spinnt sie aus (. . .).ª 3 Vor allem aber geben mischenª Zeiten, als Sarazenen bezeichnet
sie Auffassungen çber Mohammed und die (Zeltbewohner, Råuber, Nomaden) oder, wie
Anfånge des Islam wieder, die erst zwei- bis schon seit Hieronymus im 4. Jahrhundert çb-
dreihundert Jahre nach der behaupteten Le- lich, anhand biblischer Vorstellungen, die da-
benszeit Mohammeds abgefasst sind; sie sind mals ¹das Wissenª çber die Welt repråsentier-
Zeugnisse fçr das Denken der Autoren im 9. ten, als Ismaeliten oder Hagarener (Nach-
und 10. Jahrhundert, nicht aber Quellen fçr kommen Ismaels, des Sohnes Abrahams mit
die lange zurçckliegende Zeit. Hagar, Gen 16); von diesen berichtet das
Buch Genesis, dass sie ¹in der Wçsteª woh-
Fçr die ersten beiden Jahrhunderte nach nen (Gen 21, 9±21; 25, 12 ±18). Sie werden
dem Tod Mohammeds fehlen zeitgenæssische auch gelegentlich mit ¹Arabienª in Verbin-
islamische literarische Texte. Meist werden dung gebracht, was sich aber auf Arabiya in
diese Sachverhalte nicht erwåhnt. Eine Aus- Mesopotamien oder auf das von den Ræmern
nahme ist Josef van Ess, der in seiner sechs- 106 n. Chr. eroberte Nabatåergebiet, von Da-
båndigen Untersuchung zum 2. und 3. islami- maskus bis zum Roten Meer (provincia Ara-
schen Jahrhundert ausfçhrt, dass es fçr das bia), bezieht, nicht auf die Arabische Halbin-
erste Jahrhundert nur einige Mçnzen und In- sel. Islamische Invasionen werden von diesen
schriften gebe ± deswegen verzichte er darauf, Zeitgenossen nicht erwåhnt. In den Zeiten
es darzustellen; er beginnt mit dem 2. Jahr- des ¹arabischenª Herrschers Mu'awiya wird
hundert, obwohl er auch fçr dieses ¹dasselbe die arabische Herrschaft gelobt, seit dem
Problemª feststellt. 4 Auch die byzantini- Amtsantritt 'Abd al-Maliks aber erscheint sie
schen Kontrahenten der Araber berichten als eine Last und eine Strafe Gottes, in den
nicht, dass diese eine neue Religion vertreten Apokalypsen sogar als Summe des Bæsen, nur
håtten. noch çbertroffen von der noch ausstehenden
Herrschaft des Antichrist.
Die christliche Literatur unter Von einer neuen Religion der Araber aber
islamischer Herrschaft berichten die christlichen Quellen nicht.
Wenn ± ganz selten ± auf ihre Auffassungen
Nun haben aber die Christen unter arabischer Bezug genommen wird, werden sie als Vertre-
Herrschaft ± Syrer, Griechen, Øgypter ± nicht ter einer spezifischen Gottesauffassung ge-
nur in diesen beiden Jahrhunderten zahlrei- schildert: Gott ist einer ohne Beigesellung ±
che Klæster und Kirchen gegrçndet und bis oder Christologie ± Jesus ist nicht Gottes
nach China Mission getrieben, sondern auch Sohn. Deswegen ordnet der Kirchenvater Jo-
eine reichhaltige Literatur hinterlassen: Chro- hannes von Damaskus (gest. um 750), der die
niken, Briefe, Predigten, Synodenbeschlçsse, Araber sehr gut kannte, weil sein Vater und
Apokalypsen und vor allem theologische auch er selbst einige Jahre lang in ihren Diens-
Werke. Diese aber befassen sich mit den ge- ten gestanden hatten, die Religion der Ismaeli-
wohnten Geschåften: mit ihren innerchristli- ten unter die (christlichen) Håresien ein. 5
chen Auseinandersetzungen, Chalkedonier
gegen Monophysiten, Monergeten, Monothe- Die vornizenische syrische
leten und umgekehrt, syrische gegen griechi-
sche christliche Auffassungen usw. Theologie des Koran
Nur sehr selten wird in diesen Schriften Dies entspricht auch den zentralen theologi-
einmal die neue arabische Herrschaft er- schen Aussagen des Koran. Der Begriff mu-
wåhnt. Von den Arabern wird nicht viel er- hammad kommt in ihm nur viermal vor ± nur
zåhlt, meist werden sie, wie schon in ¹vorisla- einmal, an einer spåten Stelle, ist mit Sicher-
heit der arabische Prophet gemeint ±; Jesus
3 Carl Heinrich Becker, Grundsåtzliches zur Leben- wird 24-mal erwåhnt, Maria 34-mal, Mose
Mohammed-Forschung, in: Ders., Islamstudien. Vom
Werden und Wesen der islamischen Welt, Bd. 1, Leip- 5 Vgl. zu diesem Fragenkomplex Karl-Heinz Ohlig,

zig 1924, S. 520 f. Hinweise auf eine neue Religion in der christlichen
4 Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und Literatur ¹unter islamischer Herrschaftª, in: Ders.
3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiæ- (Hrsg.), Der frçhe Islam. Eine historisch-kritische Re-
sen Denkens im frçhen Islam, Berlin, Bd. 1: New York konstruktion anhand zeitgenæssischer Quellen, Berlin
1991, Vorwort VIII. 2007, S. 223±325.

4 APuZ 26 ± 27/2007
136-mal, Aaron 20-mal. In seiner Theologie Der Bischof Paul von Samosata am Euph-
kreist der Koran um die richtige Gottesauf- rat (gest. nach 272) lehnt eine Gættlichkeit
fassung und Christologie. Immer wieder wird Jesu ab; er sagte, ¹zwei Gætter wçrden ver-
betont, dass Allah der eine Gott ist, ohne Bei- kçndet, wenn der Sohn Gottes als Gott ge-
gesellung, d. h. ohne Binitåt oder Trinitåt. predigt werdeª; 7 Paul lehrte, dass Jesus
Sure 112 z. B. betont: ¹1 Sag: Er ist ein Einzi- Christus uns gleich ist ± also Mensch ±, ¹aber
ger, 2 Gott, durch und durch (?), 3 Er hat besser in jeder Beziehungª wegen der
weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden. ¹Gnade, die auf ihm ruhteª. 8
4 Und keiner ist ihm ebenbçrtig.ª Von Jesus
wird im Koran gesagt, dass er nicht Gottes- In der griechischen Kirche dagegen setzte
sohn, sondern Messias, Knecht Gottes, Ge- sich ein Verståndnis Jesu als Sohn Gottes und
sandter und Prophet ist (z. B. Sure 4,171): als inkarniertes Wort Gottes durch; dieses
¹Christus (wærtlich: der Messias) Jesus, der wurde auf dem Konzil von Nizåa im Jahre
Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Gottes 325 zur amtlichen Lehre erhoben: Der Sohn
und sein Wort, das er der Maria entboten hat, ist ¹Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer
und Geist von ihm (. . .) Gott ist nur ein ein- Gott aus wahrem Gott, gezeugt, nicht ge-
ziger Gott (. . .) (Er ist darçber erhaben,) ein schaffenª, und dann heiût es sogar: er ist
Kind zu haben (. . .)ª. ¹gleichwesentlich mit dem Vaterª.

Diese Theologie und Christologie ist aber Die græûere ostsyrische Kirche vom Euph-
nicht neu, sondern wurde schon frçh im syri- rat bis Indien gehærte zum Perserreich und
schen Christentum vertreten. Man weiû, dass war an den Diskussionen im Ræmischen
in der westsyrischen Theologie der so ge- Reich nicht beteiligt. Sie vertrat die oben ge-
nannte ¹Monarchianismusª gelehrt wurde, schilderte vornizenische Theologie: Gott ist
ein unitarischer, vom Machtgedanken gepråg- einer (er allein hat die Herrschaft), Jesus ist
ter Monotheismus. Die biblischen Aussagen sein Gesandter, Knecht, Prophet und Messias.
zum Wort Gottes und zum Geist Gottes wer- Erst im Jahre 410 fçhrte sie ± nach Verfol-
den als Hinweise auf die Wirkungen des gungszeiten ± in der Hauptstadt des Sassani-
einen und selbigen Gottes nach auûen, als denreichs Seleukia-Ktesiphon (ungefåhr dort,
Kråfte ± Dynameis ± Gottes verstanden: der wo heute Bagdad liegt) eine Reichssynode
so genannte dynamische Monarchianismus. durch, in der sie, obwohl sie sich als auto-
Damit verbunden wurde Jesus als Mensch ge- nome ± autokephale ± Kirche verstand, die
sehen, der sich mehr als andere durch die Beschlçsse von Nizåa anerkannte. Es dauerte
Gnade Gottes ethisch bewåhrt hatte, so dass aber in vielen Regionen bis ins 6. Jahrhundert
wir uns in seiner Nachfolge ebenfalls bewåh- hinein, bis die Lehre vom gleichwesentlichen
ren kænnen und mçssen ± die antiochenische Gottessohn und damit auch eine Binitåtslehre
¹Bewåhrungschristologieª. in der ostsyrischen Kirche verbreitet wurde.

Eine Schrift der so genannten Apostoli- Noch der syrische Theologe Aphrahat
schen Våter, die uns auch den åltesten Text (gest. nach 345) wusste nichts von Nizåa und
des eucharistischen Hochgebets çberliefert ± erklårte die neutestamentliche Formel vom
die Didache, im 2. Jahrhundert in Syrien ent- Gottessohn Jesus mit Rçckgriff auf das Alte
standen ±, nennt Jesus ¹Knecht Gottesª, in Testament: ¹Denn der ehrwçrdige Name der
einer anderen Schrift, dem Martyrium des Gottheit wurde auch gerechten Menschen
Polykarp, wird Gott als ¹Vater dieses gelieb- beigelegt und denen, die seiner wçrdig waren.
ten und gelobten Knechtes Jesus Christusª Die Menschen, an denen Gott sein Wohlge-
angeredet (ebenso çbrigens der in Rom im fallen hatte, nannte er ,meine Sæhne` und
Jahr 97 verfasste Erste Klemensbrief). Das ,meine Freunde`ª. Als Beispiele erwåhnt er
Gottesbild ist in dieser Tradition monarchia- Mose, Salomo und auch das ganze Volk Is-
nisch, Jesus ist ¹nurª Knecht Gottes. 6
7 Paul von Samosata, Aus dem Hymenåusbrief, in:

Friedrich Loofs, Paulus von Samosata. Eine Unter-


suchung zur altkirchlichen Literatur- und Dogmenge-
6 Vgl. Ders., Ein Gott in drei Personen? Vom Vater schichte, Leipzig 1924, S. 324.
Jesu zum ,Mysterium` der Trinitåt, Mainz±Luzern 8 Ders., Fragmente aus dem Synodalbrief, 5, in:

20002, S. 40 f. F. Loofs, ebd., S. 331.

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rael, die Sohn Gottes genannt werden. ¹Wir diesen Deportierten waren aramåische, viel-
haben ihn (Jesus) Gott genannt, wie er (Gott) leicht auch arabische Christen, die dann in
auch Mose mit seinem eigenen Namen be- ihrer neuen Heimat, in der Isolation, ihr frç-
zeichnet hat.ª 9 Jesus ist also nach Aphrahats hes Christentum tradiert und weiterentwi-
Meinung nicht mehr oder auf andere Weise ckelt haben. Das Christentum ihrer Anfånge
Gottes Sohn als Mose. behielten sie bei, auch nachdem spåter die
ostsyrische Groûkirche im Perserreich die
Das Glaubensbekenntnis von Nizåa wurde Beschlçsse von Nizåa und bald weiterer Kon-
erst im 5. Jahrhundert auch in der ostsyri- zilien des ræmischen Kaiserreichs angenom-
schen Kirche çbernommen. Der Koran aller- men hatte. Unter den damals Deportierten
dings hålt an dem ålteren Verståndnis Gottes hat man die syrischen Anfånge der korani-
und Jesu fest, wie es in vornizenischer Zeit schen Tradition zu suchen.
vertreten wurde. Heftig bekåmpft er die fal-
sche Gottesauffassung und Christologie der Aus dem Ostiran gelangten die korani-
anderen Schriftbesitzer. schen Materialien ± oder wenigstens ein
Grundstock davon ± nach Westen und wur-
den zur Zeit 'Abd al-Maliks, der aus Marv
Die Rolle der persischen stammte, und seines Sohnes al-Walid zur
Deportationen Basis der Staatsdoktrin und ins Arabische
çbertragen. Von daher wird auch verstånd-
Wie aber kam es dort, in Ostiran, zur Bewah- lich, dass ein Groûteil der Aussagen zu Allah
rung und sogar Verstårkung oder weiteren antibinitarisch ist, weil der Heilige Geist in
Profilierung einer frçhen syrischen Theolo- Nizåa nur am Rande erwåhnt wird. Erst spå-
gie? Die persischen Herrscher, die Parther tere, seltenere Koranstellen bekåmpfen eine
wie die Sassaniden, haben die ererbte meso- trinitarische Gottesvorstellung.
potamische Praxis der Deportationen, die wir
schon aus dem Alten Testament von Assyrern Mit dem koranischen Allah sind also Vor-
und Babyloniern kennen, fortgefçhrt. Zwar stellungen verbunden, die einer frçhen Phase
blieb prinzipiell der Euphrat die Grenze zum des syrischen Christentums entstammen; sie
Ræmischen Reich, aber es kam immer wieder machen den Kern der koranischen Theologie
zu kurzfristigen Eroberungszçgen bis ans aus. Im Lauf der Zeit aber kamen weitere Ma-
Mittelmeer und zu darauf folgenden Depor- terialien hinzu.
tationen der stådtischen Einwohner. Die De-
portierten, darunter auch Christen, wurden Das Zeugnis der Mçnzen
weit im Osten angesiedelt, einmal sogar die und Inschriften
ganze Einwohnerschaft der Stadt Antio-
chien. 10 Fçr eine Rekonstruktion der damaligen Ge-
schichte gibt es als einzige zeitgenæssische
Im Jahr 241 n. Chr. wurde auch die Stadt Quellen die zahlreichen Mçnzfunde und
Hatra am Tigris von den Sassaniden erobert, auch einige Inschriften. 11 Sie dokumentieren,
damals Hauptstadt des Reiches Arabiya, das wenn auch in knapper Form, die damaligen
vom Tigris nach Westen bis zum Euphrat Ablåufe. Die meisten Mçnzen geben die
reichte. Auch ihre Einwohner sowie weitere Mçnzståtte an und sind datiert. Die Datie-
Bevælkerungsgruppen aus Arabiya wurden rung erfolgte zunåchst gelegentlich nach den
verschleppt und weit im Osten angesiedelt; ortsçblichen Zåhlungen, bald aber in einer
anzunehmen ist, dass sie auch in Marv (heute
Sçdturkmenistan) wohnen mussten. Unter 11 Vgl. zum Folgenden vor allem: Volker Popp, Die

frçhe Islamgeschichte nach inschriftlichen und nu-


9 Aphrahatis Sapientis Persae Demonstrationes 17, mismatischen Zeugnissen, in: Karl-Heinz Ohlig/Gerd-
3.4. Deutsch in: Aphrahat, Unterweisungen, aus dem R. Puin (Hrsg.), Die dunklen Anfånge. Neue For-
Syrischen çbersetzt und eingeleitet von Peter Bruns schungen zur Entstehung und frçhen Geschichte des
(Fontes Christiani, Bd. 5.1), Freiburg±Basel±Wien u. a. Islam, Berlin 20073, S. 16±123; Christoph Luxenberg,
1991, S. 419 f. Neudeutung der arabischen Inschrift im Felsendom zu
10 Vgl. Erich Kettenhofen, Deportations II. In the Jerusalem, in: ebd. S. 124± 147; Volker Popp, Von
Parthian and Sasanian Periods, in: Eshan Yarstater Ugarit nach S˜marr˜. Eine archåologische Reise auf
(Ed.), Encylopaedia Iranica, Vol. VII, Fascicle 3, Costa den Spuren Ernst Herzfelds, in: K.-H. Ohlig (Anm. 5),
Mesa, Cal. 1994, S. 298 ±308. S. 13 ±222.

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Zåhlung ¹nach (gemåû) den Arabernª. In den von einem neuen Kaiser verstçmmelt
einer mit einem Kreuz eingeleiteten Inschrift, und verbannt. Jetzt fçhlten sich auch die Ara-
die der arabische Herrscher Mu'awiya im ber der ehemals byzantinischen Gebiete, die
Jahre 42 nach den Arabern (663 n. Chr.) an sich bisher dem Kaiser Heraklius und seiner
den wiederhergestellten Bådern von Gadara Familie gegençber in einem Treueverhåltnis
in Galilåa anbringen lieû, wurden drei Datie- sahen, nicht mehr dem Kaiser verpflichtet
rungen nebeneinander angegeben: Nach den und çbernahmen gånzlich die Herrschaft.
byzantinischen Steuerjahren, nach der Ge-
schichte der Stadt und ¹gemåû den Arabernª. Seit dem Jahr 641 gibt es somit die ersten
Daraus ergibt sich, dass das erste Jahr ¹nach arabischen Mçnzprågungen, die Ausdruck
den Arabernª das Jahr 622 war; gezåhlt wird dieser neuen Souverånitåt sind. Diese Mçnzen
nach Sonnenjahren. sind ihrer Ikonographie nach christliche Prå-
gungen: Sie zeigen Kreuze, Herrscher mit
Wieso war 622 von solch einschneidender Langkreuz oder andere eindeutige Symbole.
Bedeutung? Von einer Hidschra in diesem Offensichtlich gab es keinen Grund, eine neue
Jahr berichten erst Zeugnisse aus dem 9. Jahr- Symbolik aufzuprågen. 12 Der erste arabische
hundert. In den Jahren vorher hatte der Sassa- Herrscher, der zunåchst im Westen, dann auch
nidenherrscher Chosrau II. das Persische im ehemaligen Perserreich regierte, war Mu`a-
Reich ausdehnen kænnen; er hatte die æstli- wiya, ein christlicher Regent. Welcher christli-
chen Provinzen des Ræmischen Reichs er- chen Richtung er zugehærte, ist unbekannt. Er
obert: Syrien westlich des Euphrat, Palåstina, muss aber tolerant gewesen sein; denn er wird
groûe Teile Kleinasiens, die arabische Halbin- auch von den syrischen Christen gelobt. Der
sel und Øgypten. Das byzantinische Reich ostsyrische Patriarch 'Iso'yaw III. (gest. 659)
schien endgçltig aus seinen Gebieten ver- schreibt in einem Brief: ¹Der Glaube ist in
drångt. Aber es kam anders: Im Jahre 622 Frieden und blçht.ª 13
konnte der junge byzantinische Kaiser Hera-
klius einen unerwarteten Sieg gegen die Per- Die erste bisher bekannte Mçnze mit der
ser erringen, der den Beginn einer Reihe wei- Prågung MHMT wurde im Jahr 38 ¹nach den
terer militårischer Erfolge darstellte, sodass Arabernª (659 n. Chr.) in Ostiran, weit æst-
sich die sassanidische Dynastie nur noch lich von Mesopotamien, geprågt. Fortan fin-
kurze Zeit halten konnte. den sich zahlreiche Prågungen mit diesem
Motto, in geographischer und zeitlicher Auf-
Diesen Sieg hatte Heraklius auch mit der einanderfolge von Osten nach Westen; offen-
Unterstçtzung durch Hilfstruppen der so- sichtlich wurden sie auf dem Zug des spåteren
wohl in Westsyrien wie im Perserreich schon arabischen Herrschers 'Abd al-Malik aus dem
seit Langem ansåssigen Araber errungen, die Osten durch Mesopotamien nach Palåstina
er auf seine Seite ziehen konnte. Trotz seines und Jerusalem geprågt. Im Westen angekom-
Sieges verzichtete er aber darauf, die zurçck- men, wird auf bilingualen Mçnzen, die im
gewonnenen, ehemals ræmischen Gebiete sei- Hauptfeld MHMT haben, am Rand in arabi-
ner unmittelbaren Herrschaft zu unterstellen; scher Schrift erlåutert: muhammad. Bald er-
er çberlieû die Verwaltung den dortigen ara- setzt das arabische muhammad gånzlich das
bischen Herrschern, die sich als seine Confoe- bisherige MHMT.
derati (arabisch: Quraisch) verstanden. 622
begann also, zunåchst in den æstlichen Gebie- Wer ist muhammad? 14Arabisch bedeutet
ten des Ræmischen Reichs, die Selbstherr- es ¹der Gepriesene/Gelobteª (benedictus)
schaft der Araber und wurde somit zum Be-
ginn der arabischen Zeitrechnung. 12 Die These, Mçnzprågungen seien konservativ und

verwendeten alte Symbole weiter, gilt nur innerhalb


Eine zweite Zåsur stellt das Jahr 641 dar. fortdauernder Traditionszusammenhånge. Håtte es ei-
Zwei Ereignisse sind wichtig: Das durch He- nen ideologischen Bruch ± den Wechsel vom Chris-
raklius geschwåchte Perserreich brach end- tentum zum Islam ± durch islamische Eroberungen
gçltig zusammen, und nun konnten auch die gegeben, wåren die Mçnzen anders, im Sinne der neuen
Religion, gestaltet worden.
æstlich des Euphrat siedelnden arabischen 13 'Iso'yaw patriarachae III. Liber epistularum
Ståmme die Herrschaft çbernehmen. In By- (CSCO, Vol. 12, Scriptores Syri II, tomus 12), S. 172.
zanz war im gleichen Jahr Kaiser Heraklius 14 Vgl. zu Folgendem Karl-Heinz Ohlig, Vom mu-

gestorben; seine Witwe und sein Sohn wur- hammad Jesus zum Propheten der Araber. Die His-

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oder ¹der zu Preisende/zu Lobendeª. Gemåû Felsendom wird Jesus, der Sohn der Maria,
der christlichen Ikonographie der Mçnzen nicht ausdrçcklich erwåhnt. So werden die
handelt es sich um ein Prådikat fçr Jesus. dortigen Formeln, obwohl von åhnlicher
Dieses Verståndnis wird gestçtzt durch die Theologie wie in Jerusalem, nicht mehr un-
Inschrift, die 'Abd al-Malik innen in dem von mittelbar in ihrem Bezug zu Jesus wahrge-
ihm im Jahre 691 erbauten Felsendom anbrin- nommen. Das Gleiche gilt fçr die Mçnzprå-
gen lieû. Diese beginnt mit einem Bekenntnis gungen, deren Steinsymbolik nicht mehr ±
zu dem einen Gott ohne Teilhaber und kreist wie z. B. bei der Aufprågung von Kreuzen ±
im Folgenden um das richtige Christusbe- ganz von selbst jedem als christlich erschei-
kenntnis; es heiût dort: ¹Zu loben ist (mu- nen musste. Muhammad hatte keinen eindeu-
hammad[un]) der Knecht Gottes ('abd-allah) tigen Bezug mehr; der isolierte Begriff konnte
und sein Gesandter (. . .) Denn der Messias nun auch mit neuem Material ¹gefçlltª wer-
Jesus, Sohn der Maria, ist der Gesandte Got- den.
tes und sein Wort.ª Abgelehnt wird eine Got-
tessohnschaft Jesu. 15 Dies entspricht auch So wurde er, anfånglich schon in der ersten
den koranischen Aussagen. Hålfte des 8. Jahrhunderts, in der Gestalt eines
arabischen Propheten historisiert ± der Kir-
Der Felsendom ist innen nicht planiert; er chenvater Johannes Damascenus spricht
çberdacht die Felsspitze auf dem Sionsberg, schon, er bietet die ålteste Quelle, von dem
der nach syrischer Theologie, so z. B. bei Pseudopropheten Ma(ch)med. Spåter, im 9.
Aphrahat (gest. nach 345), Christus symboli- Jahrhundert, wurde ebenso der christologi-
siert. Er schreibt: ¹Nun hære von dem Glau- sche Titel 'abdallah, Knecht Gottes, histori-
ben, der gestellt ist auf den Felsen, und von siert zum Namen des Vaters Mohammeds:
dem Bauwerk, das aus dem Felsen emporragt Mohammed, Sohn des Abdallah. In dieser Zeit
(. . .) Christus (wurde) Fels genannt von den wurden auch die Anfangsgeschehnisse in die
Propheten (. . .).ª 16 Fortan werden auf den ethnische Heimat der Araber, auf die Arabi-
Mçnzen 'Abd al-Maliks die Kreuzsymbole sche Halbinsel, verlegt. 17 Hierbei war sicher
durch ein Steinidol ± Christus ± ersetzt, Zei- hilfreich, dass die Verbindung der koranischen
chen der arabischen Reichskirche, die sich Materialien mit dem mesopotamischen Reich
von den Byzantinern und den syrischen Arabiya oder der ræmischen provincia Arabia
Christen unterscheidet. erinnert wurde, die es aber zu diesem Zeit-
punkt schon lange nicht mehr gab.
Muhammad war also ursprçnglich ± wie
auch die Prådikate 'abdallah (Knecht Gottes), Die muhammad-Christologie wie auch die
Prophet, Gesandter, Messias ± ein christologi- Anfånge der koranischen Bewegung stammen
scher Titel. Das Prådikat muhammad hat sich aber nach dem Zeugnis der Mçnzen aus Ge-
spåter aber von seinem Bezugspunkt Jesus ge- bieten weit æstlich Mesopotamiens, worauf
læst. Dies låsst sich anhand zweier Entwick- auch die ursprçnglich aramåisch-syrische
lungen beobachten: Die Inschriften an der Textgestalt der Sprçche hinweist.
Omaiyadenmoschee in Damaskus, erbaut
707/708 n. Chr., und am Heiligtum von Me- Zweite Hålfte des 8. Jahrhunderts bis Be-
dina, erbaut 756 n. Chr., sind zwar formal in ginn des 9. Jahrhunderts. Auch çber diese
gleicher Weise aufgebaut wie die im Felsen- Zeit gibt es nur wenige Quellen. Die arabi-
dom: Auf das Lob des einen Gottes folgt das sche Herrschaft war fest etabliert, wenn auch
Bekenntnis zu muhammad, dem Knecht viele Regionen ± zeitweise ± nicht oder nur
Gottes und Gesandten, aber anders als im locker mit der ¹Zentraleª verbunden waren.
Auffallend an den Mçnzprågungen und In-
torisierung eines christologischen Prådikats, in: Ders. schriften dieser Zeit ist der Aufdruck symbo-
(Anm. 5), S. 327±376. lischer Bezeichnungen, die apokalyptisch ge-
15 Ich beziehe mich auf die Dokumentation und fårbten Programmen entnommen zu sein
Ûbersetzung der Inschrift von Christoph Luxenberg,
Neudeutung der arabischen Inschrift im Felsendom zu
Jerusalem, in: K.-H. Ohlig/G.-R. Puin (Anm. 11), 17 So auch Patricia Crone, What do we actually

S. 124 ±147. know about Mohammad?, www.openDemocracy.net


16 Aphrahat (Anm. 9). Er fçhrt noch viele alttes- (31. 8. 2006). Sie nimmt allerdings fålschlich die Ge-
tamentliche Stellen an, in den von Stein/Fels die Rede gend um das Tote Meer als Entstehungsort des Islam
ist; alle diese Stellen deutet er christologisch. an.

8 APuZ 26 ± 27/2007
scheinen; parallel entstehen christlich moti- r oder z, b oder t usw., bedeuten kænnen. Die
vierte mahdi-Vorstellungen von dem Retter Lesung und damit auch der Inhalt der Texte
(Jesus?), der am Ende der Tage kommen soll. ist an vielen Stellen dadurch unbestimmt; erst
In der Literatur des 9. Jahrhunderts werden im Verlauf des 9. Jahrhunderts wurde der
messianische Bezeichungen, die nicht alle Text durch diakritische Punkte und Vokalzei-
auch auf den Mçnzen bezeugt sind, aufge- chen festgelegt. 20
zåhlt und als Namen regierender Kalifen ge-
deutet. Sind diese Symbolbegriffe als Namen Vor allem aber hat eine grçndliche sprach-
von Personen zu interpretieren, oder stehen wissenschaftliche Untersuchung von Chris-
hinter diesen Bezeichnungen anonyme Herr- toph Luxenberg aufgezeigt, dass der heutige
scher? Gegen Ende des 8. Jahrhunderts Koran in einem Sprachumfeld geschrieben
scheint auch Mekka erstmals in den Blick ge- wurde, in dem die syro-aramåische und die
raten zu sein; aus dem Jahre 203 Hidschra arabische Sprache gleichermaûen gelåufig wa-
stammt eine Mçnze aus Mekka, die nåchsten ren. 21 Viele so genannte dunkle Stellen im
folgen 249 und 253 Hidschra. Um diese Zeit Koran ergeben sinnvolle Aussagen, wenn sie
herum ist dann wohl endgçltig der Islam als als mit arabischer Schrift geschriebene syri-
eigenståndige Religion entstanden, die sich in sche Texte gelesen werden. Hierbei ergeben
eine frçhere Zeit rçckprojiziert, wie es auch sich oft gånzlich neue, meist christlich ge-
die Schreiber des Pentateuch gemacht haben, prågte Aussagen des Koran.
und diese mit den Mitteln der iranischen His-
toriographie detailliert schildert. 18 Auch die In seiner neuesten Untersuchung zeigt
nun entstehenden Rechtsschulen scheinen an Christoph Luxenberg ± gewissermaûen empi-
persische Traditionen angelehnt zu sein. 19 risch ± auf, dass dem arabisch geschriebenen
Koran sogar eine syrische Grundschrift zu-
grunde lag. 22 Anhand von Konsonantenzei-
Einige Bemerkungen zum Koran chen, die in der syrischen und in der arabi-
schen Schrift åhnlich und vor allem in Hand-
Die ålteste datierbare Ganzschrift des Koran schriften verwechselbar sind, aber jeweils
stammt aus dem Jahr 870 n. Chr. Erhalten unterschiedliche Konsonanten bezeichnen,
sind aber auch mehr oder weniger umfangrei- weist er nach, dass es Abschreibfehler gab und
che Fragmente von Handschriften, meist aus erst nach der Korrektur dieser Verwechslun-
der zweiten Hålfte des 8. Jahrhunderts. Diese gen sinnvolle Wærter gelesen werden kænnen.
Fragmente, mit zum Teil unterschiedlichen
Surenfolgen und weiteren Besonderheiten, Verbindet man diese Erkenntnisse mit den
zeigen, dass der Koran zu dieser Zeit noch Ergebnissen der theologischen und numisma-
nicht fertig war. Vor allem aber sind sie, wie tischen Untersuchungen, so wird deutlich,
man sagt, ¹defektivª geschrieben: Wie alle se- dass syro-aramåische Gemeinden im Ostiran
mitischen Schriften kennen die Handschriften wohl eine in ihrem genauen Umfang unbe-
keine Vokalzeichen, im Unterschied zu diesen kannte erste Sammlung der spåteren korani-
sind aber auch die Konsonanten nicht eindeu- schen Sprçche zusammengestellt haben. Die
tig. Das Arabische kennt 28 Konsonanten, Funktion dieser Sprçche war es, die Thora
aber nur sieben von ihnen werden mit einem und das Evangelium auszulegen und ihre
eindeutigen Buchstabenzeichen geschrieben. Ûbereinstimmung (islam) aufzuzeigen. Nach
Alle anderen Konsonantenzeichen sind mehr- Jan M. F. Van Reet gab es fçr diese Aufgabe
deutig und werden erst in ihrer Bedeutung in den ostsyrischen theologischen Schulen
festgelegt durch die so genannten Diakriti- sogar spezifische Lehrer. 23
schen Punkte: ein bis drei Punkte çber oder
unter den Buchstabenzeichen. In den åltesten
20 Vgl. Karl-Heinz Ohlig, Weltreligion Islam. Eine
Handschriften aber gibt es keine Vokalzei-
Einfçhrung, Mainz ± Luzern 2000, S. 60 ±67.
chen und so gut wie keine diakritischen 21 Vgl. Christoph Luxenberg, Die syro-aramåische
Punkte, so dass manche Zeichen zwei bis fçnf Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlçsselung der
unterschiedliche Konsonanten, z. B. f oder g, Koransprache, Berlin 20073.
22 Vgl. Ders., Relikte syro-aramåischer Buchstaben in
18 Vgl. Ignaz Goldziher, Islam und Parsismus (Isla- frçhen Korankodizes im higasi- und kufi-Duktus, in:
misme et Parsisme), deutsch in: K.-H. Ohlig (Anm. 5), K.-H. Ohlig (Anm. 5), S. 377 ±414.
S. 418. 23 Vgl. Jan M. F. Van Reet, Le coran et ses scribes, in:
19 Vgl. I. Goldziher, ebd., S. 419 f. Acta Orientalia Belgica (hrsg. von C. Cannuyer), XIX:

APuZ 26 ± 27/2007 9
Diese koranischen Texte wurden von den Anna Akasoy
mittlerweile auch arabischsprachigen Chris-
ten bei ihrem Zug nach Westen mitgebracht
und zur Zeit 'Abd al-Maliks und seines
Nachfolgers al-Walid in einer aramåisch-ara-
Glaube und Ver-
bischen Mischsprache, aber in arabischer
Schrift aufgeschrieben. Schlieûlich ± in einer
letzten Etappe ± wurde dieser defektiv ge-
nunft im Islam
schriebene Koran, zu dem mæglicherweise
noch weitere Sprçche hinzugewachsen sind,
bis zum Ende des 9. Jahrhunderts mit Voka-
len und diakritischen Punkten versehen
(¹Plene-Schreibungª), wobei fçr die Interpre-
E in Ruf, der in Diskussionen çber den
derzeit als desolat empfundenen Zustand
der islamischen Welt oft ergeht, ist der nach
tation des ± relativ unveråndert çbernomme- einer ¹Aufklårungª, einer radikalen Verånde-
nen ± Zeichengerçsts (rasm) jetzt das neue is- rung, die eine Neubestimmung des Verhålt-
lamische Verståndnis maûgebend war. In der nisses von Glaube und Vernunft mit sich
letzten Bearbeitungsstufe ist also der Koran, bringt. Wie aber ist es um dieses Verhåltnis in
von seiner ¹Archåologieª und den unver- der islamischen Religion eigentlich bestellt?
ståndlichen Stellen abgesehen, ein islamisches Welche Konzepte verbergen sich hinter den
Buch. Begriffen ¹Glaubeª und ¹Vernunftª in der is-
lamischen Theologie? 1 Da es sich bei der
Resçmierend kann festgestellt werden, dass Rolle der Vernunft im Islam und ihrem Ver-
die religions- und korangeschichtlichen Ein- håltnis zu Glaube und
sichten, die sich bei der Berçcksichtigung der Wissen um sehr viel- Anna Akasoy
zeitgeschichtlichen Quellen ergeben, Korrek- schichtige Probleme Dr. phil., geb. 1977; wissen-
turen vieler tradierter Positionen mit sich handelt, bedarf es hier schaftliche Mitarbeiterin,
bringen, die in der Islamwissenschaft zu dis- einer breit angelegten Warburg Institute,
kutieren sind. Die Wahrnehmung der histo- Einfçhrung in die is- Woburn Square,
rischen Bedingtheit der Anfangsprozesse lamische Geistesge- London WC1 0AB, UK.
kænnte die Chance eræffnen, Dogmatismen schichte der Frçhzeit. anna.akasoy@sas.ac.uk
aufzulockern und den notwendigen Schritt in
die Moderne, vergleichbar der Wirkung der Als Muhammad,
Aufklårung auf das Christentum, zu ermægli- nach islamischer Tradition der letzte Prophet,
chen. im Jahr 632 christlicher Zeitrechnung starb,
galt die Offenbarung als abgeschlossen. Die
letzte Sure des Korans war offenbart, und die
sunna, das Vorbild des Propheten, war mit
dessen Tod ebenfalls zu einem Ende gelangt.
Mit dem Versiegen der Quellen trat die isla-
mische Religion in eine neue Phase ein: Die
Phase der Kanonisierung und Systematisie-
rung. Etliche Entwicklungen waren zu die-
sem Zeitpunkt noch nicht abzusehen. Erst im
Verlauf der ersten beiden Jahrhunderte isla-
mischer Zeitrechnung (d. h. im siebten und
achten Jahrhundert nach Christi Geburt)
wurden die zentralen Quellen in ihrer heute
gçltigen Fassung zusammengestellt.
1 Den Rahmen dieser Einfçhrung bildet die frçhe is-

lamische Theologie, deren Autoritåten auch fçr mo-


derne religiæse Denker maûgeblich sind. Der Begriff
¹Islamª bezieht sich hier auf die religiæse Lehre und
Les scribes et la transmission du savoir (volume dit ihre Ausdeutung im engeren Sinne, nicht auf die isla-
par C. Cannuyer), Brçssel 2006, S. 67±81. mische Welt oder Kultur im weiteren Sinne. Jahresan-
gaben sind i. d. R. in islamischer und christlicher Zeit-
rechnung.

10 APuZ 26 ± 27/2007
Der Text des Korans selbst soll nach tradi- In vielen Fållen lassen sich die Wurzeln fçr
tioneller islamischer Ansicht unter dem drit- die divergierenden Lesarten der islamischen
ten Kalifen, `Ut-maÅn (23±35 bzw. 644±655), Lehre in der Gegenwart in Entwicklungen
in kanonischer Form festgelegt worden sein, finden, deren erste Weichenstellungen in den
vermutlich aber erst im frçhen achten Jahr- religiæsen und politischen Konflikten der isla-
hundert. Die Kompilatoren der sechs groûen mischen Frçhzeit liegen und die einen weiten
sunnitischen Sammlungen von ah.aÅdõÅ-t (Plural Orientierungsspielraum fçr sehr unterschied-
von h. adõÅ-t = Berichte çber Aussagen und liche Grundçberzeugungen lieûen. In diesen
Handlungen des Propheten) wirkten wåh- ersten zwei, drei Jahrhunderten sind nicht
rend des dritten islamischen, d. h. des neunten nur die kanonischen Quellen und dogmati-
christlichen Jahrhunderts. schen Grundlagen festgelegt worden ± wir
finden hier das, was sich als islamische Theo-
Viele Lehren, Gesetze und Interpretationen logie bezeichnen lassen kann. 3
entwickelten sich erst mit der Zeit. Zwar
waren die Offenbarung und das Beispiel des Prinzipiell kann also festgehalten werden,
Propheten Muhammad offensichtliche Quel- dass viele Autoren des klassischen Islam der
len muslimischen Glaubens und Lebens, aber Vernunft bzw. dem rationalen Wissen in der
wer hatte das Recht, diese Quellen zu inter- Religion eine groûe Bedeutung beimaûen.
pretieren, mit welchen Mitteln und was folgte Die Vernunft (`aql) wurde dem Menschen
daraus? Ein wichtiger Unterschied zum von Gott mit der Maûgabe gegeben, sie zu
Christentum ist hierbei die Abwesenheit von verwenden. So heiût es etwa in der 38. Sure
Institutionen, denen alle Glåubigen unterste- des Koran: ¹(Der Koran ist) eine von uns zu
hen und die çber diese Fragen von rechtem dir hinabgesandte, gesegnete Schrift (und
Glauben und Handeln entscheiden. Freilich wird den Menschen verkçndet), damit sie sich
gab und gibt es in der islamischen Welt ein- çber seine Verse Gedanken machen, und
flussreiche Gelehrte, an deren Meinungen damit diejenigen, die Verstand haben, sich
sich viele Glåubige orientieren, doch ist ihre mahnen lassen.ª (Vers 29, Ûbersetzung Rudi
Autoritåt nicht unbedingt bindend. Ein wich- Paret)
tiger Grund, warum es heute so viele gegen-
såtzliche Interpretationen des Islam gibt, ist An dieser und anderen Stellen im Koran
die Mæglichkeit jedes Glåubigen, sich das fçr wird betont, die Funktion der Offenbarung
die Auslegung der religiæsen Quellen not- sei es, den Menschen die gættliche Wahrheit
wendige Wissen selbst anzueignen. Liberale erkennen zu lassen. Manche haben dies als
Reformer sind daher eine genauso authenti- spirituelles Erkennen gedeutet, viele andere
sche Erscheinungsform des Islam wie radikale jedoch als rationale Einsicht. Uneins waren
Fundamentalisten. sich die Gelehrten hinsichtlich der Frage, auf
welche Gebiete die menschliche Vernunft
Ein weiterer wichtiger Unterschied zum nicht zugreifen konnte und wo der Mensch
Christentum ist, dass die Muslime sehr frçh, sich lieber auf die Offenbarung bzw. Ûberlie-
schon zu Lebzeiten des Propheten, erhebliche ferung (naql) stçtzen sollte, ohne weiter
militårische und politische Erfolge erzielten. nachzufragen. Dieses Problem låsst sich in
Diese brachten Machtverteilungsprobleme unterschiedlichen Disziplinen der islamischen
mit sich, in deren Zusammenhang eine Regu- religiæsen Wissenschaften finden.
lierung der Deutungshoheit der religiæsen
Quellen von entscheidender Bedeutung war. 2
Wåhrend einige Muslime eine privilegierte
Position fçr die Rechtsgelehrten einforderten,
griffen andere bevorzugt auf die Vernunft als 3 Das Standardwerk fçr die theologischen Ent-
individuelles Erkenntnismittel zurçck. Dies wicklungen in der islamischen Frçhzeit ist Josef van
erlaubte es zum Beispiel Herrschern, sich auf Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahr-
ihre eigene Interpretation der religiæsen Texte hundert Hidschra. Eine Geschichte des religiæsen
zu berufen, wie weiter unten am Beispiel des Denkens im frçhen Islam, 6 Bånde, Berlin 1991± 1995.
Darstellungen einzelner Probleme finden sich in den
Kalifen al-Ma'muÅn gezeigt wird.
Sammlungen der Artikel von Richard M. Frank, Phi-
losophy, Theology and Mysticism in Medieval Islam.
2 Vgl. Patricia Crone, Medieval Islamic Political Texts and Studies on the Development and History of
Thought, Edinburgh 2005. KalaÅm, Bd. 1, hrsg. von Dimitri Gutas, Ashgate 2005.

APuZ 26 ± 27/2007 11
Die Grundlagen des Rechts ± einer konservativen Moral oft Hand in Hand,
jedoch nicht immer.
us. uÅl al-fiqh
Selbst bei denjenigen Juristen, die dem Ge-
Der Islam wird håufig als Orthopraxie be- brauch der Vernunft gegençber aufgeschlos-
schrieben, in der das richtige Handeln im sen waren, låsst sich jedoch erkennen, dass
Mittelpunkt steht, im Unterschied zum sich hinter der Vernunft in der klassischen is-
Christentum, das durch eine Orthodoxie ge- lamischen Tradition nicht das Konzept einer
kennzeichnet sein soll, in der es auf die richti- autonomen Instanz verbirgt, das uns heute so
ge Lehre ankommt ± eine Beschreibung, die selbstverståndlich ist. Fçr einen modernen
nicht unberechtigt ist. Fçr einen glåubigen Betrachter steht die Vernunft hier eindeutig
Muslim ist die Teilnahme am Leben in einem im Dienst einer autoritåtsgestçtzten religiæ-
islamischen Gemeinwesen beispielsweise von sen Wahrheit.
groûer Bedeutung, ebenso die Erfçllung der
Rituale. Insbesondere aber kommt der
Rechtswissenschaft (fiqh) eine zentrale Rolle
zu, bei rituellen Fragen ebenso wie bei Pro- Die Grundlagen der Religion ±
blemen des tåglichen Lebens, der æffentlichen us. uÅl ad-dõÅn
Ordnung und bei solchen politischer Autori-
tåt. Das islamische Gesetz (ÉarõÅ`a) haben wir In gewisser Weise mit den Grundlagen des
uns dabei als lebendige Praxis vorzustellen, Rechts verwandt sind die us.uÅl ad-dõÅn, die
nicht als kodifizierten Gesetzestext. Auf- Grundlagen oder Wurzeln der Religion. Ein
grund der enormen Bedeutung der Rechts- weiterer Grund, warum es heiût, der Islam sei
wissenschaft innerhalb der islamischen Reli- vorwiegend eine Orthopraxie und keine Or-
gion ist diese ein wichtiger erster Anhalts- thodoxie, ist, dass es keine Theologie im
punkt fçr die Rolle der Vernunft. Die Sinne einer Dogmenwissenschaft wie im Ka-
entscheidende Frage lautet hier: Auf welche tholizismus gibt. Das bedeutet jedoch nicht,
Quellen stçtzt sich die Rechtswissenschaft dass es keine systematische Wissenschaft von
und mit welchen Mitteln interpretiert sie Gott oder keine klaren Minimalanforderun-
diese? gen an den Glauben eines Muslims gåbe,
deren Details intensiv diskutiert wurden. Mit
Im sunnitischen Islam gibt es vier Rechts- den us. uÅl ad-dõÅn kænnen solche Minimalan-
schulen (mad_aÅhib), deren Entstehung auf das forderungen gemeint sein, von denen auch als
dritte/neunte Jahrhundert zurçckgeht und `aqaÅ'id (¹Glaubenssåtzeª) die Rede ist. Wir
die sich vor allem durch ihre Methoden un- haben es hier mit folgenden Lehren zu tun:
terscheiden sowie dadurch, welchen Quellen
sie welche Bedeutung zumessen. Fçr alle vier ± Das islamische Glaubensbekenntnis: Es
Schulen sind der Koran und die sunna die gibt keinen Gott auûer Gott und Muhammad
wichtigsten Quellen. Die Malikiten orientie- ist Sein Prophet.
ren sich zudem stark an der Rechtspraxis in
Medina, wo sich die historischen Umstånde ± Die Endlichkeit der Welt: Dass die Welt
der Prophetenzeit am besten erhalten haben einen Anfang und ein Ende hat, ist nach isla-
sollen. Die Hanafiten stehen im Ruf, die libe- mischer Tradition eine der groûen Neuerun-
ralste Schule zu sein. Fçr sie ist das individu- gen gegençber den Vorstellungen der vor-isla-
elle Bemçhen bei der Rechtsfindung (igÆtihaÅd) mischen beduinischen Araber. Dasselbe trifft
von groûer Bedeutung. 4 Die Schafiiten sind zu auf:
in dieser Hinsicht ¹konservativerª, und die
Hanbaliten schlieûlich halten sich am stårks- ± Die Geschaffenheit der Welt durch Gott.
ten an eine wærtliche Auslegung der Quellen
und gelten als die konservativste aller Grup- ± Mit dem Ende der Welt gehen die kærperli-
pen. Methodenkonservatismus geht dabei mit che Auferstehung aller Menschen, ihr Urteil
4 Zu der Problematik des ¹geschlossenen Toresª der
und ihr ewiger Verbleib in Paradies oder
individuellen Urteilsfindung vgl. Tilman Nagel, Die
Hælle einher. Hier werden auch die politi-
Festung des Glaubens. Triumph und Scheitern des is- schen Implikationen islamischer Theologie
lamischen Rationalismus im 11. Jahrhundert, Mçnchen offenbar, etwa in der Frage, ob man zur ewi-
1988. gen Hælle verdammte Sçnder schon in dieser

12 APuZ 26 ± 27/2007
Welt erkennen kann und welche Konsequen- meinung oder Zugehærigkeit zu einer be-
zen dies hat, z. B. ob diese çberhaupt noch als stimmten Schule, sondern vielmehr eine Ten-
Muslime bezeichnet werden kænnen. denz zur Anwendung bestimmter Methoden.
Was die mutakallimuÅn gemein haben, ist:
± Andere Fragen betreffen die Theodizee
(der mægliche Konflikt zwischen Gottes All- ± der Stellenwert der Vernunft in der Vertei-
macht und Gerechtigkeit) und die politische digung religiæser Lehren: verwendet werden
Ordnung der islamischen Gesellschaft, vor rationale und autoritåtsgestçtzte Argumente,
allem aber die Attribute Gottes und das Ver- wobei letztere die erstgenannten beståtigen;
håltnis zu seiner Schæpfung. es herrscht eine Harmonie zwischen Reli-
gion/Offenbarung und Vernunft; 5

Von allen Muslimen wird ein Bekenntnis ± die Einheit Gottes, jede Vielheit in der Be-
zu diesen Glaubenssåtzen verlangt. Die Mei- schreibung soll vermieden werden;
nungen gehen jedoch auseinander bei der
Frage, welche Anforderungen dieses Be- ± die Ablehnung anthropomorphischer Ei-
kenntnis zu erfçllen hat. Reicht etwa ein in- genschaften Gottes;
nerliches Bekenntnis ¹mit dem Herzenª,
oder ist auch ein åuûerliches, formales Be- ± die absolute Vollkommenheit Gottes.
kenntnis ¹mit der Zungeª notwendig? Inwie-
weit muss sich ein Glåubiger an die Gesetze Die Methodendiskussionen und inneren
des Islam halten und die Rituale erfçllen? Ist Aufspaltungen im kalaÅm çberschnitten sich
es mæglich, durch groûe Sçnden seinen Status zum Teil mit Tendenzen in der Rechtswissen-
als Glåubiger, d. h. als Muslim zu verlieren? schaft. Die Hanbaliten zum Beispiel waren
Aber auch: Inwieweit muss man wissen, dass der Anwendung der Vernunft bei der Ausle-
ein Glaubenssatz wahr ist, um an ihn glauben gung der Religion insgesamt abgeneigt, was
zu kænnen? In den verschiedenen Tendenzen sich auch in ihren theologischen Ansichten
bei den Antworten auf diese Fragen zeigt sich zeigte. Ein zentrales Problem der islamischen
die ganze Bandbreite islamischer Definitio- Theologie waren etwa die Passagen im
nen des Glaubensbegriffs, die weiter unten im Koran, in denen von Gottes Hand die Rede
Detail ausgefçhrt werden. ist und davon, dass er sieht oder auf einem
Thron sitzt. Einige suchten allegorische Inter-
pretationen dieser Kærperlichkeit. Die Han-
Diskursive Theologie baliten jedoch waren der Ansicht, man solle
diese Beschreibungen hinnehmen, ohne da-
Der arabische Begriff, der çblicherweise als nach zu fragen, wie genau dies mæglich sein
¹Theologieª çbersetzt wird, ist kalaÅm. kænne, da es sich menschlicher Vorstellung
KalaÅm, was auch ¹Redeª oder ¹Øuûerungª entziehe. Dieses Prinzip ist unter dem Stich-
bedeutet, bezeichnet die diskursive Verteidi- wort bi-laÅ kaif bekannt, ¹ohne (zu fragen)
gung der islamischen Glaubenslehren gegen wieª.
Zweifler in den eigenen Reihen und gegen
Nicht-Muslime. Diese Tradition entwickelte Die frçheste Gruppe unter den mutakalli-
sich vor allem wåhrend des zweiten und drit- muÅn waren die Mu`tazila, die heute oftmals
ten Jahrhunderts islamischer Zeitrechnung. als die Vertreter der rationalen Tradition im
Obwohl die diskursive Theologie durch
nicht-islamische Traditionen (Christentum,
griechische Philosophie) beeinflusst wurde, 5 Wåhrend des Mittelalters setzte sich auch unter
beschåftigten sich die mutakallimuÅn, also die Christen die Tendenz zur Verwendung rationaler Ar-
kalaÅm-Praktiker, mit genuin islamischen Pro- gumente in der interreligiæsen Begegnung durch. Mis-
blemen. Die meisten abstrakteren Debatten sionare wie der Katalane Raimundus Lullus (1232±
im Themenkreis Glaube und Vernunft lassen 1316) verstanden, dass sie mit Verweisen auf ihre eigene
sich aus den Schriften dieser Gelehrten re- Heilige Schrift wenig erreichten, da diese von Nicht-
Christen nicht anerkannt wurde. Alleine die Vernunft
konstruieren. konnte als gemeinsame Grundlage dienen. Vgl. Matt-
hias Lutz-Bachmann/Alexander Fidora (Hrsg.), Juden,
Der Begriff kalaÅm an sich sagt noch nicht Christen und Muslime. Religionsdialoge im Mittel-
besonders viel aus. Er impliziert keine Lehr- alter, Darmstadt 2004.

APuZ 26 ± 27/2007 13
Islam par excellence gelten. 6 Die Anfånge pretationshoheit von den religiæsen Gelehr-
dieser Gruppierung liegen in Basra in der ers- ten und unteren sozialen Schichten in die
ten Hålfte des 2./8. Jahrhunderts. Die Thesen Kreise der Måchtigen verlagern. Der Orien-
der Mu`tazila werden çblicherweise in fçnf tierung an den Lehrmeinungen menschlicher
Punkten zusammengefasst: Autoritåten, wie sie unter den religiæsen Ge-
lehrten çblich war, setzte er die Verwendung
± Die Einheit Gottes: Øhnlich wie im kalaÅm der Vernunft entgegen ± eine Ûberzeugung,
çberhaupt, darf Gott nicht mit menschlichen die sich mit der der Mu`taziliten deckte. Ein
Attributen beschrieben werden. gemeinsamer rationaler Zugang erlaubte es
dem Kalifen, die Ûberlegenheit seiner Inter-
± Die Gerechtigkeit Gottes: Gott kann nur pretation zu beweisen.
gut und gerecht handeln und ist dazu ver-
pflichtet, das Bessere zu wåhlen. Der Mensch Unter dem Kalifen al-Mutawakkil kam es
besitzt die Fåhigkeit und Freiheit zu handeln 234/848 zu einer Umkehr und zu einer Reak-
(qudra), die Gott in ihm geschaffen hat. Er tion gegen die Mu`taziliten und ihren Ratio-
handelt frei und wird entsprechend (notwen- nalismus. Unter den Protagonisten der Op-
digerweise gerecht) durch Gott belohnt oder position war Ah.mad ibn H . anbal (gestorben
bestraft. 241/855), der Begrçnder der hanbalitischen
Rechtsschule, der seinerzeit ausgepeitscht
± Glauben impliziert Handeln nach Maûgabe und eingesperrt worden war. Nach diesen Er-
des Koran; Sçnder, die keine Reue zeigen, eignissen stand die rationale Auslegung der
enden in der Hælle. islamischen Quellen nach Art der Mu`tazili-
ten unter keinem guten Stern. Trotzdem
± Ein Sçnder ist weder glåubig noch unglåu- folgte die Blçtezeit erst noch ± sie dauerte
big, sondern nimmt einen Zwischenstatus ein. vom Ende des 3./9. Jahrhunderts bis zur
Mitte des 5./11. Jahrhunderts.
± Das koranische Gebot, Erlaubtes zu befeh-
len und Verbotenes zu verhindern, haben die Die dominierende Schule im kalaÅm waren
Mu`taziliten zunåchst sehr wichtig genom- allerdings die AÉ`ariten (benannt nach AbuÅ
men und streng ausgelegt, da dies auch in al-H. asan al-AÉ`arõÅ, gestorben 324/935), deren
ihrem eigenen Sinn war, spåter verlor dieses Ûberzeugungen den Lehren der Mu`tazila in
Element an Bedeutung. zentralen Punkten diametral entgegenstan-
den. Hauptbestreben der AÉ`ariten war es,
Die Geschichte der Mu`taziliten und ihrer der Allmacht Gottes absolutes Gewicht zu
Ideen ist untrennbar verbunden mit der verleihen. Wåhrend die Mu`taziliten davon
Machtposition, die sie am Hof des bereits er- ausgingen, dass Gott gut handeln muss, ist
wåhnten abbasidischen Kalifen al-Ma'muÅn fçr die AÉ`ariten allein die Tatsache, dass es
(Regierungszeit 204± 218 bzw. 819± 833) in- Gott ist, der handelt, die das Handeln zu
nehatten. Dieser propagierte die Lehre der einem guten Handeln macht. Gott kann alles
Geschaffenheit des Koran. Gelehrte, die dem und darf in seinem Handeln nicht hinterfragt
widersprachen und den Koran als ewig be- werden. Auch in der Frage der Willensfreiheit
trachteten, wurden hart bestraft. Diese Episo- vertraten die AÉ`ariten andere Prinzipien: Da
de der islamischen Geschichte wird als mih.na alles von Gott geschaffen ist und Gott das
(¹Inquisitionª) bezeichnet. Im Hintergrund einzige Wirkprinzip ist, sind auch die
von al-Ma'muÅns Politik stand das Bemçhen, menschlichen Handlungen von Gott geschaf-
die Autoritåt zur Interpretation religiæser fen und werden vom Menschen lediglich er-
Quellen zu zentralisieren, eine Tendenz, die worben. Dasselbe Prinzip von Gott als dem
sich auch auf anderen Gebieten (Verwaltung, einzig Wirkenden fçhrte in Fragen allgemei-
Militår) zeigte. 7 Al-Ma'muÅn wollte die Inter- ner Kausalitåt zum so genannten Okkasiona-
lismus. Nicht Naturgesetze bestimmen, dass
6 Zu den Mu`tazila vgl. Richard C. Martin, Defenders
ein Stein herunterfållt, sondern jeder einzelne
of Reason in Islam. Mu'tazilism from Medieval School Moment des Fallens wird von Gott geschaf-
to Modern Symbol, Oxford 1997.
7 Vgl. Dimitri Gutas, Greek Thought, Arabic Culture.
fen. Wenn Gott wollte, kænnte er den Stein
The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad auch wieder nach oben schweben lassen. Was
and Early `Abb˜sid Society (2nd-4th/8th-10th Centuries), wir in dieser Welt beobachten kænnen, ist
London 1998, S. 79 f. lediglich die Gewohnheit Gottes, die uns

14 APuZ 26 ± 27/2007
davon ausgehen låsst, dass Steine immer nach Einige Gruppen legten groûen Wert auf die
unten fallen. Diese Abwesenheit jeglicher Taten als direkten und integralen Ausdruck
Wirkautonomie und die Leugnung unabhån- des Glaubens. Bisweilen wurde ein bestimm-
giger Naturgesetze kann als Barriere fçr die ter Glaubenskanon definiert. Andere zentrale
Vernunft verstanden werden, Ereignisse in Fragen waren z. B., ob der Glauben ab- und
dieser Welt zu deuten. Es handelt sich jedoch zunehmen kann und ob es Grade des Glau-
nicht um eine absolute Barriere, entscheidend bens gibt. Es gab auch unterschiedliche An-
ist die Erkenntnis, dass letzten Endes Gott sichten von der Verantwortung des Menschen,
die einzige Wirkursache ist. inwieweit dieser als Agens seines Glaubens
gelten kann oder ob der Glaube nicht vielmehr
Viele Kernprobleme der islamischen Theo- direkt durch Gott im Menschen geschaffen
logie lassen sich in den beiden Gegensåtzen wird. Auch hinsichtlich der Konsequenzen
Immanenz und Transzendenz bzw. Einheit gingen die Meinungen auseinander. Die meis-
und Vielheit Gottes ausdrçcken: Inwieweit ten waren davon çberzeugt, dass jemand, der
greift Gott in die Welt ein? Inwieweit låsst auch nur ein wenig Glauben in sich trage, auch
Er sich mit menschlichen Eigenschaften be- ins Paradies kommen wçrde ± was dieses biss-
schreiben? Ist Gott çberhaupt zu beschrei- chen Glaube allerdings bedeutet bzw. ob und
ben, oder steht dem Seine Einheit entgegen? wie es sich erkennbar åuûert, waren ganz an-
Andere Probleme fallen in die Kategorie dere Fragen. Nach Ansicht der meisten Ge-
¹Macht und Autonomie des Menschenª: Ist lehrten (mit Ausnahme der Mu`taziliten)
der Mensch Agens seiner Handlungen, und konnte Gott ohnehin nicht dazu verpflichtet
inwieweit ist er dafçr verantwortlich? Kann sein, glåubige Menschen ins Paradies einzulas-
er entsprechend dafçr bestraft werden, so- sen. Auch dies war ein von den von Menschen
wohl in dieser als auch in der nåchsten Welt? wahrnehmbaren Verhåltnissen gånzlich unab-
Bei allen diesen Fragen spielt die Vernunft hångiger Akt Gottes.
eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die
Herangehensweisen der unterschiedlichen Mægliche Konflikte mit der Vernunft kom-
Gruppierungen zu charakterisieren und ge- men in solchen Debatten seltener vor; im Ge-
geneinander abzugrenzen. Gelehrten, die genteil, die Theologen diskutierten, inwieweit
sich gegen eine starke Verwendung der Ver- sicheres Wissen notwendiger Bestandteil des
nunft wandten, kam es darauf an, die All- Glaubens ist. Bei den Hanafiten findet sich
macht Gottes zu verteidigen. Der Schæpfer etwa zusåtzlich zu den drei oben genannten
sollte nicht dem Zwang ausgesetzt sein, nach Elementen die Notwendigkeit, dass ein Glåu-
Maûgabe eines menschlichen Vernunftbe- biger Wissen um die Wahrheit der Glaubens-
griffs handeln zu mçssen. Das eigentliche såtze im Herzen trågt. Das Gegenteil wurde
Wesen Gottes war dem menschlichen Ver- als taqlõÅd beschrieben, als blinder Gehorsam
stand schlicht und ergreifend nicht zugång- gegençber einer (menschlichen) Autoritåt.
lich. Die Kehrseite davon war, dass einfache Men-
schen den Status eines Glåubigen nicht in An-
Besonders interessant fçr unser Thema ist spruch nehmen konnten (takfõÅr al-`awaÅmm,
die Frage, wer unter welchen Bedingungen d. h. das Bezeichnen einfacher Menschen als
als Glåubiger zåhlen kann. Die Diskussionen Unglåubige) ± åhnliche Probleme ergaben
der mittelalterlichen Theologen kreisten hier sich bei Muslimen, die den Koran nicht im
u. a. um drei Begriffe: imaÅn (Glaube), tas.dõÅq arabischen Original lesen konnten.
(Fçr-wahr-Halten bzw. Als-wahr-Beståtigen)
und taqlõÅd (unkritische Ûbernahme von An- Islamische Philosophie
sichten). Der Begriff des Glaubens umfasste
dabei drei Komponenten, die oben bereits Eine weitere Tradition, die sich wåhrend des
angedeutet wurden: die innere Ûberzeugung, zweiten und dritten Jahrhunderts islamischer
den mçndlichen Ausdruck und das Befolgen Zeitrechnung herausbildete, waren die Philo-
der Gebote. Die verschiedenen Schulen un- sophen (falaÅsifa), die sich vor allem an den
terscheiden sich darin, wie sie diese Elemen- Lehren des Aristoteles orientierten. 8 Diese
te jeweils interpretieren und gewichten, Ausrichtung entstand in Bagdad in dem
wenn es um die Bestimmung geht, ob je-
mand ein Glåubiger, d. h. ein Muslim ist 8 Vgl. Ulrich Rudolph, Islamische Philosophie. Von

oder nicht. den Anfången bis zur Gegenwart, Mçnchen 2004.

APuZ 26 ± 27/2007 15
Milieu, in dem griechische philosophische tische Tradition begann, reagierte er stark auf
Werke, vor allem das aristotelische Korpus, die Argumentationsweise der unterschiedli-
ins Arabische çbersetzt wurden. Gefærdert chen Gegner und bediente sich ihrer Metho-
wurde dies durch die abbasidischen Kalifen, den. Unter dem Einfluss der falaÅsifa nahmen
vor allem al-Ma'muÅn, der das Dogma der Ge- die mutakallimuÅn etwa methodologische Ein-
schaffenheit des Koran propagierte. Der Ruf fçhrungen in ihre theologischen Werke auf.
der Philosophie im Islam sollte unter dieser Weiterhin systematisierten sie ihre Ansichten
Verbindung leiden. Die mih.na hatte zu einer und entwickelten ein theoretisches Fachvoka-
starken Polarisierung unter den Gelehrten ge- bular. So unterschieden sie etwa zwischen Er-
fçhrt. 9 ¹Fremdeª Wissenschaften wurden kenntnissen, welche die Vernunft alleine er-
von Traditionalisten vor allem deshalb abge- reichen kann (`aqlõÅyaÅt = ¹vernçnftige Dingeª
lehnt, weil sie diese mit der rationalistischen bzw. wenn es um Gotteserkenntnis geht, ilaÅ-
Politik al-Ma'muÅns assoziierten. hõÅyaÅt = ¹gættliche Dingeª) und solchen, die
sich nur der Offenbarung entnehmen lassen
Die bekanntesten Vertreter der islamischen (sam`õÅyaÅt = ¹gehærte Dingeª).
Philosophie sind al-KindõÅ (ca. 185±252 bzw.
801±866), al-FaÅraÅbõÅ (gestorben 339 bzw. 950), Wie bereits erwåhnt, waren die mutakalli-
Ibn SõÅnaÅ (= Avicenna, 370±428 bzw. 980± muÅn darum bemçht, ihre autoritåtsgestçtzten
1037) und Ibn RuÉd (= Averroes, 520± 595 Argumente durch rationale zu ergånzen. Die
bzw. 1126 ±1198), deren Werke in lateinischer griechische Philosophie gab ihnen dabei wich-
Ûbersetzung in Westeuropa im Mittelalter re- tige Werkzeuge an die Hand. Die Vernunft
zipiert wurden. Die falaÅsifa waren darum be- stand dabei allerdings im Dienste der religiæsen
mçht, die Lehren der koranischen Theologie Wahrheit. Die Pråmisse, welche die mutakalli-
mit denen der griechischen Philosophie zu muÅn voraussetzten, war die einer grundsåtzli-
harmonisieren. So wurde in einer monotheis- chen Harmonie von koranischer Offenbarung
tisch-neoplatonischen Ûberformung der aris- und rationaler Erkenntnis. Eine Vernunfter-
totelischen Kosmologie zum Beispiel von kenntnis, die besagt, dass es keinen Gott gibt
Gott als dem ersten oder unbewegten Bewe- oder dass Muhammad nicht sein Prophet ist,
ger gesprochen. Den falaÅsifa war dabei be- war damit ausgeschlossen. Nur vereinzelte Au-
wusst, dass der Mehrheit der Muslime in toren, wie AbuÅ Bakr ar-RaÅzõÅ (250±313 oder
ihrer Zeit die Ansichten des Aristoteles fremd 323 bzw. 854±925 oder 935), lehnten die Idee
bleiben wçrden. Einige, darunter al-FaÅraÅbõÅ, der Prophetie ab, ohne dabei aber so weit zu
entwickelten als Antwort auf diese Problema- gehen, auch die Existenz Gottes abzustreiten.
tik hierarchische Modelle von Wissen und Er-
kenntnis, die im Idealfall mit der politischen
Machtpyramide in eins fallen sollten. Wåh-
rend sich das einfache Volk an die Allegorien
Glaube und Vernunft im
der heiligen Schrift halten musste, waren sich gegenwårtigen Islam
die philosophisch verståndigen Herrscher be-
wusst, dass diese religiæsen Ausdrçcke ledig- Wie sich aus dieser kurzen Skizze erkennen
lich Metaphern fçr philosophische Wahrhei- låsst, gab es bereits wåhrend der Frçhzeit des
ten waren, die sich mit entsprechender intel- Islam eine ganze Reihe von Versuchen, die
lektueller Begabung auch rational erkennen Rolle, die Mæglichkeiten und die Grenzen
lieûen. Der andalusische Philosoph Ibn RuÉd, der Vernunft zu bestimmen. Die meisten Au-
der unter dem Einfluss al-FaÅraÅbõÅs stand, ver- toren waren sich einig, dass die Vernunft ein
trat åhnliche Ansichten. Ihm wird die Theorie Geschenk Gottes ist, das der Mensch einzu-
einer doppelten Wahrheit zugeschrieben, wo- setzen hat. Welche Dinge der Mensch mit sei-
nach Religion und Philosophie auf verschie- ner Vernunft allerdings erkennen konnte und
denen Wegen zur selben Wahrheit fçhren. welche ihm verschlossen blieben und, umge-
kehrt, wo eine vernunftgemåûe Erkenntnis
Obwohl es sich bei den Philosophen im en- notwendig war ± bei all diesen Fragen
geren Sinne nur um recht wenige Autoren herrschten groûe Unterschiede unter den
handelte, çbte ihre Tradition einen erhebli- muslimischen Theologen. Diese Unterschiede
chen Einfluss aus. Da der kalaÅm als apologe- bestehen auch in der Gegenwart, wobei sich
in der islamischen Welt inzwischen eine
9 Vgl. D. Gutas (Anm. 7), S. 163. groûe weltanschauliche Vielfalt finden låsst,

16 APuZ 26 ± 27/2007
darunter auch radikal rationalistische, såkula- Muqtedar Khan
re oder atheistische Ansichten.

Unter Denkern, die an die religiæse Tradi-


tionen anknçpfen, gibt es oftmals Versuche,
Demokratie
das rationalistische Erbe des Mittelalters neu
zu beleben, etwa die Tradition der Mu`tazili- und islamische
Staatlichkeit
ten oder die Philosophie Ibn RuÉds. 10 Oft-
mals werden dabei die wissenschaftlichen
Leistungen der Muslime in der Vormoderne
als Beweis dafçr zitiert, dass Religion und
vernunftgestçtzter Fortschritt nicht im Wi-
derspruch stehen, sondern dass rationale Er-
kenntnis aus echter Glåubigkeit erwachsen
kann, teilweise aus sehr praktischen Grçnden.
Ein Beispiel dafçr sind die Entwicklungen in I m Zuge der Globalisierung hat sich die
Demokratie in weiten Teilen der Erde eta-
bliert und ist als rechtmåûigste aller Regie-
der Astronomie, die u. a. mit der Bestimmung
der Gebetsrichtung in Verbindung stehen. 11 rungsformen in Mode gekommen. Die arabi-
sche Welt jedoch weist weiterhin ein enormes
Auch konservative Autoren plådieren oft Demokratiedefizit auf. Dieses wird allenfalls
fçr eine Verwendung der Vernunft, damit die gemildert durch Bestrebungen zur Stabilisie-
muslimische Welt ihren Rçckstand gegençber rung und Demokratisierung in Indonesien,
dem Westen çberwindet. Ihre Grundannah- Malaysia, Pakistan,
me ist dabei erneut die einer grundsåtzlichen Bangladesch, der Tçr- Muqtedar Khan
Harmonie von offenbarungsgestçtzter und kei und Iran, die jedoch Ph.D., geb. 1966; Assistant Pro-
vernunftgestçtzter Erkenntnis. Letztere kann noch in den Kinder- fessor am Department of Politi-
zu einer Korrektur einzelner Interpretationen schuhen stecken. Die cal Science and International
der religiæsen Autoritåten fçhren, den meisten Kommentato- Relations an der Universität von
Grundwahrheiten des islamischen Glaubens ren in der westlichen Delaware, Nonresident Fellow
kann sie allerdings nicht entgegenstehen. Welt ± vor allem in den an der Brookings Institution,
Vereinigten Staaten ± Fellow am Prince Alwaleed bin
sind geneigt, Iran als Talal Center der Georgetown-
totalitåres, von Kleri- Universität in Washington, D.C.
kern gefçhrtes Herr- University of Delaware,
schaftssystem abzutun 347 Smith Hall, Newark,
und ignorieren dabei DL 19716.
die Tatsache, dass sich mkhan@udel.edu
das iranische Regime
trotz zahlreicher Fehl-
entwicklungen und Einschrånkungen als
recht stabil erwiesen hat (tatsåchlich ist es de-
mokratischer als die meisten Regime der Re-
10 Vgl. R. C. Martin (Anm. 6), und zur modernen Re-
gion und ganz sicher demokratischer als der
zeption der Mu`taziliten Thomas Hildebrandt, Waren prowestliche, proamerikanische Iran unter
GÆ amaÅl ad-DõÅn al-AfgÇaÅnõÅ und Muhammad `Abduh
. der Regierung des Schah). Dennoch fållt der
Neo-Mu`taziliten, in: Die Welt des Islams, (2002) 42,
S. 207262, und Neo-Mu`tazilismus? Intention und Mangel an Demokratie in den meisten Lån-
Kontext im modernen arabischen Umgang mit dem dern der arabischen Welt in eklatanter Weise
rationalistischen Erbe des Islam, Leiden 2007. Zur ins Auge, und die Frage der Vereinbarkeit des
modernen Ibn RuÉd-Interpretation Anke von Kçgel- Islam mit der Demokratie ist mit dem Erstar-
gen, Averroes und die arabische Moderne. Ansåtze zu ken des politischen Islam und islamischer
einer Neubegrçndung des Rationalismus im Islam,
Politik in der Region zu einem Thema von
Leiden 1994.
11 Fçr Forschungen zur islamischen Wissen- globaler Bedeutung geworden. 1
schaftsgeschichte vgl. die Publikationen von David
King und des Instituts fçr die Geschichte der arabisch- Ûbersetzung aus dem Englischen: Susanne Laux,
islamischen Wissenschaften in Frankfurt/M. Kænigswinter.
1 Vgl. Noah Feldman, After Jihad: America and the

Struggle for Islamic Democracy, New York 2003.

APuZ 26 ± 27/2007 17
Manche Kommentatoren im Westen und einen Schritt darçber hinauszugehen und
der muslimischen Welt sind gleichermaûen Vorstellungen von einer islamischen Demo-
daran interessiert, die Vereinbarkeit des Islam kratie sowie deren konstituierende Prinzipien
und der Demokratie zu verneinen. Einige und Charakteristika aufzuzeigen. In diesem
westliche Forscher vertreten die Auffassung, Beitrag werde ich versuchen, mich der Demo-
der Islam sei mit der Moderne und insbeson- kratie aus dem islamischen Kontext heraus
dere mit der Demokratie nicht in Einklang zu anzunåhern und die allgemeinen Grundsåtze
bringen und beharren darauf, Muslime mçss- einer islamischen Demokratie aufzuzeigen.
ten sich entweder vom Islam abwenden oder
diesen erst reformieren, um sich zur ¹moder- In der Debatte um die Vereinbarkeit von
nen Weltª zåhlen zu kænnen. 2 Einige musli- Islam und Demokratie wurde das Konzept
mische Gelehrte und militante Islamisten leh- von Demokratie håufig als gegeben vorausge-
nen die Demokratie mit dem Argument ab, sie setzt und als feste und unumstrittene Idee be-
widerspreche den Geboten Gottes, respektive trachtet. Man nåhert sich dem Islam von
der islamischen Scharia. Ebenso wie die west- ¹auûenª und hinterfragt, ob er mit demokra-
liche Dominanz lehnen sie auch die Demokra- tischen Grundsåtzen vereinbar sein kann. In
tie strikt ab und sehen in ihr fålschlicherweise diesem Text werde ich aus innerislamischer
ein spezifisch westliches Produkt. 3 Glçckli- Sicht darlegen, wie die islamische Struktur
cherweise sind diese Argumente sowohl in der eines Regierungssystems meiner Auffassung
Theorie als auch in der Praxis auf ganzer Linie nach beschaffen sein sollte ± die Leser werden
widerlegt worden. Die Vereinbarkeit von erkennen kænnen, dass dieses grundlegend
Islam und Demokratie wird inzwischen nicht demokratischer Natur ist.
mehr in Frage gestellt. Muslimische Wissen-
schaftler haben schlçssig bewiesen, dass der
Islam und demokratische Verfahren durchaus
Der Mythos des Såkularismus
nebeneinander bestehen kænnen: Mit Verweis
In der von der europåischen Aufklårung in-
auf die in einigen muslimischen Låndern exis-
spirierten und beeinflussten Politischen
tierende Demokratie sowie auf Muslime, die
Theorie ist der Såkularismus als notwendige
im Westen und in Låndern wie Indien leben,
und unwidersprochene Bedingung fçr eine
in denen die Demokratie fest verwurzelt ist,
gute Regierungsfçhrung betrachtet worden.
haben sie die Aufmerksamkeit auf die Tatsa-
Dies mag empirisch zutreffend sein oder
che gelenkt, dass der Islam und die Muslime
nicht, jedenfalls beteuern die meisten westli-
sich auch in demokratischen Gesellschaften
chen Vertreter den såkularen Charakter west-
entfalten kænnen. 4
licher Gemeinwesen und halten die Vorteile
des Såkularismus fçr selbstverståndlich. Als
Dass der Islam und die Demokratie mitein-
muslimischer Intellektueller, der im Westen
ander vereinbar seien, stellt keine argumenta-
lebt, forscht, Politische Theorie und Politi-
tive Herausforderung mehr dar ± diese De-
sche Philosophie lehrt, hat mich immer er-
batte ist abgeschlossen, wenngleich ihre
staunt, wie hartnåckig sich die Idee des Såku-
Schlussfolgerungen noch nicht çberall aner-
larismus hålt. Fçr eine Zivilisation, die sich
kannt werden. Fçr muslimische Gelehrte
eines betråchtlichen Entwicklungsstandes in
liegt die Herausforderung vielmehr darin,
den meisten ihrer Bereiche rçhmt, ist die An-
2 Vgl. Bernard Lewis, Islam and Liberal Democracy,
nahme, Politik und Religion seien zwei unter-
schiedliche Sphåren oder die beiden kænnten
in: Atlantic Monthly, 27 (1993) 2, S. 89.
3 Vgl. Abdulwahab El-Affendi, Democracy and its voneinander getrennt werden, uncharakteris-
Muslim Critics: an Islamic alternative to Democracy?, tisch naiv. Dieser Glaube an die Trennbarkeit
in: Muqtedar Khan (Ed.), Islamic Democratic Dis- von Kirche und Staat gehært meiner Meinung
course: Theory, Debates and Philosophical Per- nach zu den langlebigen Mythen der Mo-
spectives, Lanham, MD 2006, S. 227±256. derne und grçndet auf der falschen Annahme
4 Diese Argumentationskette findet sich bei Mumtaz
einer rein politischen und rein religiæsen
Ahmad, Islam and Democracy: The Emerging
Consensus, in: Islamonline.net (6. 5. 2002) sowie Sphåre, die es im wirklichen Leben nicht
www.islamonline.net/english/Contemporary/2002/ gibt. 5
05/Article15.shtml. Vgl. auch die Zusammenstellung
von Essays in: Khaled Abou El Fadl/Joshua Cohen/ 5 Dieses Phånomen wurde in græûerer Aus-
Deborah Chasman, Islam and the Challenge of demo- fçhrlichkeit diskutiert: Muqtedar Khan, The Myth of
cracy, Princeton 2004 und M. Khan, ebd. Secularism, in: E. J. Dionne Jr./Jean Bethke Elshtain/

18 APuZ 26 ± 27/2007
Alle zentralen Fragen sind nicht nur nor- lichen Raum an Legitimitåt, und sie muss
mativer Natur, sondern sie wirken auch auf deshalb verschleiert werden; in der muslimi-
die individuelle und kollektive Identitåt ein. schen Welt leitet sich jegliche Legitimitåt aus
Weder die Vorstellung vom eigenen Ich noch dem Islam ab, und deshalb wird der Islam zur
die Entwicklung einer kollektiven Identitåt Rechtfertigung von Politik herangezogen.
sind frei von politischen oder religiæsen
Ûberlegungen. Das Christentum spielte eine Aus zwei Grçnden sind Religion und Poli-
wichtige Rolle beim Zusammenbruch des tik eng miteinander verwoben. 6 Erstens wer-
Kommunismus in Osteuropa, in der streng den immer håufiger komplexe Erærterungen
såkularen Tçrkei haben Islamisten einen Weg gefçhrt, um die Legitimitåt bestimmter An-
zur Machtausçbung gefunden. Die Zurschau- liegen zu stårken. Heutzutage scheinen alle
stellung religiæser Symbole im æffentlichen Politiker das Diktum Machiavellis zu befol-
Raum ± egal, ob es sich um das muslimische gen, wonach es nicht wichtig ist, gerecht zu
Kopftuch (Hijaab) in den Schulen Frank- sein, sondern gerecht zu erscheinen. Deshalb
reichs oder um die Zehn Gebote in amerika- bringen Politiker, politische Parteien und
nischen Gerichtssålen handelt ± bleibt vor Herrschaftssysteme einen Diskurs in Gang,
allem deshalb umstritten, weil sich kein Kon- mit dem sie ihre Ziele und Strategien rechtfer-
sens darçber findet, die Religion ganz aus tigen. Abhångig vom kulturellen Kontext ist
dem æffentlichen Raum zu verbannen. es dabei entweder die Religion, welche die
politische Logik untermauern soll, oder es
Nicht nur, dass die Religion in die Politik sind politische Beweggrçnde, die religiæs
hineinwirkt ± allenthalben ist auch eine Poli- verbråmt werden.
tisierung der Religion zu beobachten. Dass
die Republikaner die Frage der Eheschlie- Der zweite und wohl wichtigste Grund,
ûung zwischen Homosexuellen im ameri- weshalb Religion in entscheidenden Fragen
kanischen Pråsidentschaftswahlkampf 2004 immer eine Rolle spielen wird, liegt in ihrer
zum Thema machten, unterstreicht, dass Reli- identitåtsstiftenden Eigenschaft. Alle wichti-
gion im modernen Westen immer wieder gen politischen Fragen tangieren letztlich
auch politisch relevant wird. Mir ist aufgefal- auch das individuelle und kollektive Bewusst-
len, dass amerikanische Politiker oft versu- sein und læsen dabei religiæse Empfindungen
chen, ihre religiæsen Beweggrçnde bei der Be- aus. Solange Religion auf die Identitåt von
fçrwortung einer bestimmten Politik in såku- Menschen einwirkt, solange wird sie auch in
lare Begriffe zu kleiden. Ein sehr gutes der Politik von Bedeutung sein. Die zeitge-
Beispiel hierfçr ist die unerschçtterliche Un- næssische europåische Erfahrung mit dem Så-
terstçtzung Israels und der israelischen Beset- kularismus ± und die Besessenheit davon ±
zung der Westbank und des Gazastreifens bei stellt nur eine kleine Abweichung vom Lauf
bestimmten Republikanern, die christlich- der Menschheitsgeschichte dar. Zudem leitet
evangelikale Bindungen haben. Sie unterstçt- sich die europåische Abneigung gegen die
zen Israel aus biblischen Motiven, rechtferti- Verbindung von Religion und Politik nicht
gen dies jedoch damit, dass Israel ¹die einzige aus der Religion sui generis ab, sondern aus
Demokratie im Nahen Ostenª sei. den Erfahrungen mit einer ganz bestimmten
Manifestation von Religion ± der Katholi-
In der muslimischen Welt wiederum speist schen Kirche.
sich Rechtmåûigkeit aus dem Islam, weshalb
viele Politiker materielle Motive mit einem is- Im Gegensatz dazu hat der Islam nach
lamischen Deckmantel rechtfertigen. Wåh- Meinung von Muslimen und vielen nicht-
rend religiæse Politiker im Westen håufig muslimischen Chronisten zur Entstehung
einen såkularen Diskurs zur Legitimation von Pluralismus, religiæser Toleranz und
ihrer Anliegen nutzen, betreiben muslimische eines harmonischen Miteinanders beigetra-
Politiker aus dem gleichen Grund ganz be- gen. Das Goldene Zeitalter der Mauren in
wusst eine ¹Islamisierungª weltlicher Fragen. Andalusien und das Mogul-Reich in Indien
Im Westen mangelt es der Religion im æffent-
6 Eine åhnliche Argumentation findet sich bei Dwitt

Kayla M. Drogosz (Eds.), One Electorate under God? B. Billings/Shaunna L. Scott, Religion and Political
A Dialogue on Religion and American Politics, Legitimation, in: Annual Review of Sociology, 20
Washington, D.C. 2004, S. 134± 139. (1994), S. 173 ±202.

APuZ 26 ± 27/2007 19
sind zwei immer wieder zitierte Beispiele tischer Aktivismus vom Rest der Welt viel-
dafçr, dass der Islam potenziell dazu in der leicht weniger ablehnend aufgenommen, in
Lage ist, die Infrastruktur fçr eine Gesell- ihren eigenen Låndern aber mæglicherweise
schaft zu schaffen, in der Pluralismus und To- als weniger legitim gelten. Dort ist Muslimen
leranz obsiegen. Selbst in der Debatte um den eine prompte Legitimitåt sicher, wenn sie
¹Anti-Terror-Kriegª wird dem liberalen eine islamische Sprache sprechen ± ebenso si-
Islam zugestanden, dass er mit seiner Beto- cher jedoch wie die Unsicherheit und sogar
nung der Aufklårung, des Friedens und der der Widerstand im Ausland, da Nicht-Mus-
Toleranz das Gegenmittel zum Erstarken des lime in aller Welt Furcht vor und Abneigung
Terrorismus und der sektiererischen Gewalt gegen islamistische(n) Regierungen entwi-
in einigen heutigen muslimischen Gesell- ckelt haben (vor allem aufgrund der Erfah-
schaften darstellt. 7 rungen mit den Taliban in Afghanistan, den
Mullahs in Iran und Saudi-Arabien). 8
Folgernd, dass erstens der Såkularismus als
notwendige Bedingung fçr gute Regierungs- Muslimische Staatstheoretiker argumentie-
fçhrung ein eurozentristischer Mythos ist ren, das im Koran beschriebene Prinzip Amr
und zweitens der historische Islam seine Få- bil marouf wa nahy anil munkar (¹Gebiete
higkeit zur Stårkung der gesellschaftlichen das Gute und verbiete das Bæseª) sei die isla-
Harmonie und des Pluralismus unter Beweis mische Rechtfertigung zur Schaffung eines
gestellt hat, werde ich nun Argumente fçr ideologischen Staates, der darauf zielt, die is-
den islamischen Staat ins Feld fçhren. lamische Scharia einzufçhren. Dieser Leitsatz
ist im Grunde dem Koran entnommen:

Die Notwendigkeit eines ¹Es sollte aus euch eine Gemeinschaft wer-
islamischen Staates den, die zum Guten aufruft und das Rechte
gebietet und das Verwerfliche verbietet . . .ª
Die meisten zeitgenæssischen Islamisten argu- (Koran, Sure 3, Vers 104).
mentieren, dass ein islamischer Staat erforder-
lich ist, um den Muslimen jenes Instrument an ¹Ihr seid das beste Volk, hervorgebracht zum
die Hand zu geben, das zur gesellschaftlichen Wohl der Menschheit; ihr gebietet das Rechte
Steuerung und moralischen und kulturellen und verbietet das Verwerfliche . . .ª (Koran,
Reform erforderlich ist. Sie versprechen sich Sure 3, Vers 110).
vom islamischen Staat eine politische Einheit,
die den Muslimen Unabhångigkeit von der ¹Die glåubigen Månner und die glåubigen
westlichen Dominanz und die Freiheit ver- Frauen sind einer des anderen Beschçtzer. Sie
leiht, den Islam zu praktizieren und islamische gebieten das Rechte und verbieten das Bæse
Normen zu institutionalisieren. Fçr viele . . .ª (Koran, Sure 9, Vers 71).
Muslime ist der islamische Staat ein Vehikel
zur muslimischen Selbstbestimmung. Da aber in der Scharia beschrieben wird,
was Gut und Bæse ist und damit Muslime
Ich bin der Ûberzeugung, dass Muslime Menschen zum Rechten auffordern und
eine rechtschaffene Republik entweder auf Bæses verwehren, mçssen Muslime ¹die isla-
der Grundlage universeller Normen oder mische Scharia zur Geltung bringenª. Dies ist
mittels eines auf dem Glauben und islami- die allgemeine Rechtfertigung fçr den islami-
schen Werten beruhenden Musterbeispiels schen Staat und wurde im Grunde bereits
entwerfen und schaffen kænnen. Das mir vor- von Ibn Taymiyyah (661±728 n. Chr.) formu-
schwebende Endergebnis ist das gleiche, da es
kaum Unterschiede zwischen universellen 8 Ein herausragendes klassisches Beispiel fçr einen

Normen und islamischen Werten gibt ± den universellen Ansatz ist das Werk ¹Muqaddimaª des im
Unterschied macht die Politik. Wçrden Mus- 14. Jahrhunderts lebenden Rechtsgelehrten Ibn Khal-
dun. Beispielhaft fçr den islamischen Ansatz steht das
lime in ihrem Streben nach Selbstbestimmung
Werk ¹Ahkam Alsultaniyahª von Abu al-Hassan al-
und guter Regierungsfçhrung eine zeitgenæs- Mawardi (972±1058 n. Chr.). In unserer Zeit sind die
sische Sprache sprechen, dann wçrde ihr poli- Arbeiten des iranischen Philosophen Abdolkarim So-
roush ein gutes Beispiel fçr den universellen Ansatz
7 Vgl. Muqtedar Khan, Radical Islam, Liberal Islam, bzw. die Arbeiten des verstorbenen Maulana Maududi
in: Current History, 102 (2003) 668, S. 417 ±421. aus Pakistan fçr den islamischen Ansatz.

20 APuZ 26 ± 27/2007
liert. 9 Es låsst sich trefflich darçber streiten, Prophet den ersten islamischen Staat der Ge-
ob der Text des Koran die Schaffung eines schichte und war zehn Jahre lang nicht nur
Staates vorschreibt, doch kænnen wir uns der geistiger Fçhrer der entstehenden muslimi-
Tatsache nicht verschlieûen, dass soziale Nor- schen Gemeinschaft in Arabien, sondern
men heutzutage dermaûen mit der Politik des auch das politische Oberhaupt des Stadtstaa-
modernen Staates verflochten sind, dass sie tes von Medina. Als Herrscher von Medina
sich nicht vom Politischen trennen lassen. hatte Mohammed die Gerichtshoheit sowohl
çber Muslime als auch çber Nicht-Muslime
Die Frage, die fçr muslimische Politiktheo- in der Stadt inne. Die Legitimitåt seiner Herr-
retiker zur wichtigsten wird, betrifft das schaft beruhte sowohl auf seinem Status als
Wesen und die Konsequenzen des islami- Prophet des Islam als auch auf der Grundlage
schen Staates. Wird dieser Staat, geschaffen, des Vertrags von Medina.
um das Gute zur Geltung zu bringen und das
Bæse zu bestrafen, zu einer Tyrannei derer Als Gesandter Gottes herrschte Moham-
werden, die das Recht zur Auslegung der med kraft gættlichen Dekrets çber alle Mus-
Scharia fçr sich beanspruchen? Oder wird er lime, kraft des von drei Parteien (den musli-
zu einem gemeinschaftlichen Vorhaben der mischen Einwanderern aus Mekka, den Mu-
Menschen werden, die nach einer rechtschaf- hajirum, den einheimischen Muslims vom
fenen Republik streben, die ein tugendhaftes Stamm der al-Ansar und den in Medina an-
Leben erleichtert? Ich bin davon çberzeugt, såssigen Juden, den Yahud) vereinbarten und
dass muslimische Politiktheoretiker in der unterzeichneten Vertrags herrschte er auch
Lage sind, ein eben solches Regierungssystem çber die Nicht-Muslime. Dass Juden zu den
zu entwerfen, welches das Gute færdern und Vertragspartnern bei der Schaffung des ersten
das Bæse verbieten wçrde und zudem eine islamischen Staates gehærten, ist eine interes-
Kultur der Toleranz und des Mitgefçhls fçr sante Randnotiz. 10
unterschiedliche und sogar vielfåltige Auffas-
sungen hervorbringen kænnte, was dieses Der Vertrag von Medina liefert ein hervor-
Gute sein mag. ragendes historisches Beispiel fçr zwei Ge-
dankengebåude ± einen Gesellschaftsvertrag
Die Grundzçge islamischer und eine Verfassung. Ein Gesellschaftsver-
trag, so wie die Idee spåter von Thomas Hob-
Regierungsfçhrung bes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau
entwickelt wurde, ist eine ideelle Vereinba-
Die Schlçsselmerkmale islamischer Regie- rung zwischen Menschen im so genannten
rungsfçhrung sind eine Verfassung, Konsens, Naturzustand, die zur Grçndung einer Ge-
Konsultationen und Schutz religiæser Freihei- meinschaft oder eines Staates fçhrt. In diesem
ten. Diese Prinzipien mçssen vor dem beson- Naturzustand sind die Menschen frei, nicht
deren sozio-kulturellen Hintergrund unter- an die Befolgung von Regeln oder Gesetzen
schiedlicher Muslimgesellschaften untersucht gebunden und letztlich souveråne Individuen.
und artikuliert werden, doch ist es wichtig zu Durch den Gesellschaftsvertrag jedoch treten
begreifen, in welcher Weise sie von Bedeu- sie ihre individuelle Souverånitåt an das Kol-
tung sind und inwiefern sie aus islamischen lektiv ab und grçnden so die Gemeinschaft
Quellen abgeleitet werden kænnen. oder den Staat.
Die Verfassung
Die zweite Idee, die im Vertrag von Medina
zu Tage tritt, ist die einer Verfassung. In vieler-
Der Vertrag von Medina, zu dessen Unter-
lei Hinsicht ist eine Verfassung das Doku-
zeichnern der Religionsstifter des Islam, der
ment, das die Bedingungen des Gesellschafts-
Prophet Mohammed (pbuh), gehærte, låsst
vertrages enthålt, auf den jede Gemeinschaft
sich bei der Entwicklung einer islamischen
Politischen Theorie in besonderer Weise he-
ranziehen. Nach seiner Flucht von Mekka 10 Eine åhnliche Analyse des Vertrags von Medina
nach Medina im Jahr 622 n. Chr. schuf der findet sich bei Ali Bulac, The Medina Document, in:
Charles Kurzman (Ed.), Liberal Islam: A Source Book,
9 Vgl. Muqtedar Khan, The Islamic States, in: New York 1998. Zum vollståndigen Wortlaut des Ver-
M. Hawkesworth/M. Kogan (Eds.), Routledge Ency- trags von Medina vgl. M. H. Haykal, The Life of Mu-
clopedia of Political Science, London 2003. hammad, Indianapolis 1988, S. 180±183.

APuZ 26 ± 27/2007 21
gegrçndet ist. Der Vertrag von Medina erfçllte von Medina schuf einen pluralistischen Staat
ganz eindeutig eine konstitutionelle Funktion, ± eine Gemeinschaft von Gemeinschaften. Sie
da er das grundlegende Dokument fçr den ers- versprach allen die gleiche Sicherheit und
ten islamischen Staat war. Als feststehendes Gleichheit vor dem Gesetz. Die Grundsåtze
historisches, in seiner Dimension begrenztes der Gleichheit, der Regierungsausçbung mit
Dokument kann der Vertrag von Medina beiderseitigem Einverståndnis und des Plura-
selbst zwar nicht als moderne Verfassung die- lismus sind im Vertrag von Medina auf
nen oder als Werkzeug, das einfach kopiert schæne Weise miteinander verflochten.
werden kann, aber dennoch als Leitsatz, dem
nachzueifern sich lohnt. Das Verfahren des bayah, die Leistung eines
Treuegelæbnisses, war eine wichtige Einrich-
Einfach ausgedrçckt: Der in Medina er- tung, mit der die Zustimmung der Untertanen
richtete erste islamische Staat beruhte auf formell bekråftigt werden sollte. In jenen
einem Gesellschaftsvertrag, hatte konstitutio- Tagen war ein Anfçhrer, dem es nicht gelang,
nellen Charakter, und der Herrscher çbte die Zustimmung der Untertanen çber ein for-
seine Souverånitåt mit der ausdrçcklich nie- males und direktes Treuegelæbnis zu errei-
dergeschriebenen Zustimmung aller Bçrger chen, in seiner Autoritåt und Legitimitåt be-
des Staates aus. Diesem Beispiel des Prophe- eintråchtigt. 13 Dies war ein arabischer Brauch,
ten kænnen zeitgenæssische Muslime in aller der aus der Zeit vor dem Islam stammt, der
Welt folgen und eine eigene Verfassung ausar- wie viele arabische Bråuche jedoch in die isla-
beiten, die den jeweiligen historischen und mische Tradition aufgenommen wurde. Die
zeitlichen Bedingungen entspricht. Gemåû frçhen Kalifen praktizierten das Verfahren des
dem Beispiel des Propheten muss jedes politi- bayah nach ihrer Wahl durch eine Art Wahl-
sche Gemeinwesen, das den Anspruch erhebt, gremium, um ihre Autoritåt zu stårken. Man
ein islamisches Regierungssystem zu sein, muss seine Vorstellungskraft nicht allzu sehr
çber eine Verfassung verfçgen, die ihrem strapazieren, um zu erkennen, dass eine von
Wesen nach pluralistisch ist und Menschen Wahlen begleitete Nominierung in politischen
nicht aufgrund ihrer Religion oder Volkszu- Einheiten, die eher Millionen als hunderte
gehærigkeit voneinander unterscheidet. 11 Bçrger zåhlen, eine notwendige Modernisie-
rung des bayah-Verfahrens darstellen kann.
Das Prinzip der Zustimmung Die Ersetzung des bayah durch Wahlurnen
macht das Treuegelæbnis zu einem einfachen
Ein wichtiges Prinzip der Verfassung von und universellen Verfahren. Wahlen stellen
Medina war, dass der Prophet Mohammed deshalb weder eine Abkehr von islamischen
den Stadtstaat kraft der Zustimmung seiner Prinzipien und Traditionen dar, noch sind sie
Bçrger regierte. Die Herrschaftsausçbung ihrem Wesen nach unislamisch.
wurde ihm angetragen, seine Autoritåt war Auch der Koran erkennt die Autoritåt derer
im Gesellschaftsvertrag verankert. 12 Die Ver- an, die zu Anfçhrern gewåhlt wurden und
fassung von Medina manifestierte den setzt diese einvernehmlichen Fçhrer auf ge-
Grundsatz der Zustimmung und der Zusam- wisse Weise als Vertreter ein. ¹O die ihr
menarbeit bei der Regierungsausçbung. glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem
Gemåû diesem Vertrag waren Muslime und Gesandten und denen, die Befehlsgewalt unter
Nicht-Muslime gleichberechtigte Bçrger des euch haben . . .ª (Koran, Sure 4, Vers 59).
islamischen Staates, Bçrger mit gleichen
Rechten und Pflichten. Gemeinschaften mit
Beratungen
unterschiedlicher religiæser Ausrichtung ge-
nossen religiæse Autonomie. Diese Idee reicht
¹. . . und ziehe sie zu Rate in Angelegenheiten
im Grunde weiter als die moderne Vorstel-
der Verwaltung; wenn du aber dich entschie-
lung von Religionsfreiheit. Die Verfassung
den hast, dann setze dein Vertrauen auf
Allah.ª (Koran, Sure 3, Vers 159)
11 Vgl. M. H. Haykal, ebd., S. 180.
12 Vertreter der in Medina lebenden Ståmme hatten
¹. . . diejenigen, die ihre Angelegenheiten
dem Propheten bereits ein Treuegelæbnis geleistet und
ihn aufgefordert, ihr Anfçhrer zu werden, worauf durch (schura baynahum) gegenseitige Bera-
Historiker als Gelæbnis von Akkaba verweisen. Vgl. tung regeln, . . .ª (Koran, Sure 42, Vers 38)
dazu A. H. Siddiqui, The Life of Muhammad, Des
Plaines 1991, S. 117±132. 13 Vgl. K. A. El Fadl u. a. (Anm. 4), S. 11.

22 APuZ 26 ± 27/2007
Viele derjenigen, die argumentieren, der Aber selbst angenommen, die Schura wird
Islam enthalte demokratische Prinzipien, zur Norm fçr islamische Institutionen, Bewe-
haben dabei insbesondere auf die Schura ver- gungen und Regierungen ± bedeutet dies au-
wiesen. 14 Im Kern ist die Schura ein ± kon- tomatisch auch, dass eine Demokratisierung
sultatives ± Verfahren der Entscheidungsfin- erfolgt? Ich bin in diesem Punkt hoffnungs-
dung, das von islamischen Gelehrten entwe- froh, aber skeptisch. Ich glaube nicht, dass
der als obligatorisch oder als wçnschenswert die Schura und die Demokratie Institutionen
betrachtet wird. Fçr jene Gelehrten, die Ko- gleicher Art sind. Nach meinem Empfinden
ranvers 3:159 betonten (¹. . . und ziehe sie zu unterschieden sich die Schura und die Demo-
Rate . . .ª), ist die Schura obligatorisch; jene kratie in drei grundlegenden Dingen:
Gelehrten, die Vers 42:38 hervorheben, in
dem jene gepriesen werden, ¹die ihre Angele- Erstens erlaubt die Demokratie anders als
genheiten durch Beratung regelnª, erachten die Schura die Abånderung fundamentaler
die Schura als wçnschenswert. 15 In Erinne- Texte. Man kann die Verfassung ergånzen,
rung zu rufen ist, dass sich der erste Vers di- nicht aber den Koran oder die Sunna des Pro-
rekt auf eine bestimmte Entscheidung des pheten. Auf den ersten Blick scheint dies kein
Propheten bezieht und diesen unmittelbar an- Problem darzustellen, da Muslime definiti-
spricht, der zweite Vers aber eher in Form onsgemåû dazu angehalten sind, die Primår-
eines allgemeinen Prinzips gehalten ist. Viel- quellen des Islam anzuerkennen. In der Praxis
leicht ist das der Grund dafçr, weshalb tradi- aber arbeitet man nicht mit diesen Quellen
tionelle Islamgelehrte die Beratung nie als selbst, sondern mit ihren mittelalterlichen In-
notwendiges und legitimierendes Element der terpretationen, und die Schura unterliegt in
Entscheidungsfindung betrachteten. jeder Hinsicht dem frçheren Verståndnis isla-
mischer Texte.
So befinden wir uns noch immer in einer
Zwickmçhle. Ohne Zweifel stellt die Schura Im Gegensatz zu demokratischen Verfah-
die islamische Art der Entscheidungsfindung ren und Gesetzen, die nur durch ein demo-
dar. Aber ist sie notwendig und obligato- kratisches und nicht etwa durch einseitige
risch? Wird eine Organisation oder eine Re- und oligopolistische Verfahren aufgehoben
gierung unrechtmåûig, wenn sie kein Bera- werden kænnen, ist die Schura zweitens nicht
tungsverfahren einleitet? Diese Frage kænnen bindend.
wir nicht mit Bestimmtheit beantworten.
Eines aber ist erkennbar: Immer mehr musli- Drittens scheint mir die Schura, so wie sie
mische Intellektuelle stimmen darin çberein, in islamischen Erærterungen diskutiert wird,
dass eine Regierungsfçhrung, die auf Bera- eine Sache zu sein, die von einem Anfçhrer
tung und Konsens beruht, die beste Art der bzw. Herrscher initiiert und erwartet wird.
Regierungsfçhrung ist. Die muslimischen Bei der Schura konsultiert der Anfçhrer Per-
Rechtsgelehrten hingegen bleiben in dieser sonen, von denen jedoch nicht klar ist, wer
Frage entweder konservativ oder ambivalent. sie sind ± Gelehrte, Verwandte oder die
Viele von ihnen verlassen sich in ihrem Le- gesamte Gemeinschaft der Erwachsenen
bensunterhalt und selbst in ihrem religiæsen (Umma). Werden auch Frauen konsultiert?
Ansehen auf nicht-beratende Kærperschaften Was ist mit Homosexuellen, Lesben und
und beeilen sich nicht, sich jener Vorteile zu Nicht-Muslimen? In einer Demokratie dage-
berauben, die ihnen durch nicht-konsultative gen beraten die Menschen untereinander, wer
Regierungen entstehen. So liegt es in gewisser die Regierungsgeschåfte ausçbt und wie er
Weise auch an ihnen, dass jener Grundsatz dies tut. So gesehen verlåuft die Schura von
noch nicht çberall anerkannt ist, nach dem oben nach unten und die Demokratie von
Regierungen in muslimischen Gesellschaften unten nach oben.
sich beraten mçssen, um ihre Legitimitåt zu
bewahren. Abschlieûend mæchte ich sagen, dass die
Schura wie die Demokratie ein hæchst um-
14 Vgl. zum Beispiel John L. Esposito/John O. Voll,
strittenes Konzept ist. Es ist die erfolgreiche
und gerechte Praxis und Institutionalisierung
Islam and Democracy, New York 1996.
15 Zur umfassenderen Diskussion dieses Themas vgl. dieses Konzepts, die mehr zåhlt als ideologi-
Muhammad S. El-Awa, On the Political System of the sche Finessen. Unglçcklicherweise setzen wir
Islamic State, Indianapolis 1980, S. 89 f. uns mit diesen Fragen nicht ernsthaft ausein-

APuZ 26 ± 27/2007 23
ander. Zudem mçssten immer mehr Muslime Nina Clara Tiesler
in diese Ûberlegungen eingebunden werden,

Europåisierung
um die theoretischen Reflexionen selbst zu
einem Prozess der Schura zu machen. Wir
sollten uns jedoch hçten, die Debatte çber
Øhnlichkeiten und Unterschiede zwischen
der Schura und der Demokratie als Ersatz fçr
eine abschlieûende Bewertung der Frage zu
des Islam und
nehmen, ob die Demokratie und der Islam
miteinander vereinbar sind. Will man çber
die Natur einer guten Regierungsfçhrung
Islamisierung der
und der bestmæglichen Politik reflektieren,
findet sich im Islam mehr als die Schura. Debatten
Schlussfolgerung
In islamischen Quellen und der islamischen
Tradition deutet vieles darauf hin, dass die
Demokratie ein Werkzeug sein kænnte, die
S eit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
wåchst die Zahl der Einwanderer und
Einwanderinnen und postkolonialen Siedler
gewçnschten Resultate islamischer Regie- aus islamisch geprågten Gesellschaften in Eu-
rungsfçhrung zu erzielen: soziale Gerechtig- ropa. In den heutigen Grenzen der Europå-
keit, wirtschaftlicher Wohlstand und religiæse ischen Union (EU) leben mindestens fçnf-
Freiheiten. Dazu jedoch muss innerhalb der zehn Millionen Men-
muslismischen Gemeinschaften intensiver, schen, die aufgrund
Nina Clara Tiesler
ohne Einschçchterung und umfassender çber ihrer religiæsen Ûber-
Dr. phil., geb. 1968; Religions-
die Notwendigkeit einer gedeihlichen Selbst- zeugungen, ihrer so-
wissenschaftlerin, wissenschaft-
verwaltung diskutiert und debattiert werden. zialpolitischen state-
liche Mitarbeiterin am Institut
ments oder zumeist
für Sozialwissenschaften,
Der Demokratie werden in der muslimi- schlicht im Rçck-
Universität Lissabon, Av. Prof.
schen Welt nicht nur durch engstirnige Inter- schluss auf ihre geo-
Aníbal Bettencourt, 9,
pretationen des Islam oder faschistische Ten- graphische Herkunft
1600 ±189 Lissabon/Portugal.
denzen einiger unzeitgemåûer islamischer Be- oder familiåre Ab-
ninaclara.tiesler@ics.ul.pt
wegungen Hindernisse in den Weg gestellt. stammung als Mus-
Auch die herrschenden sozio-politischen Be- lime und Muslimin-
dingungen, das Scheitern von Staaten und die nen gezåhlt werden. 1 Die Zahl deutscher,
negative Rolle fremder Måchte haben zu franzæsischer, britischer etc. Staatsbçrger isla-
einem Umfeld beigetragen, das der Entwick- mischen Glaubens sowie der Anteil der in
lung von Demokratie nicht færderlich ist. Ich Europa geborenen zweiten und dritten Gene-
bin çberzeugt, dass der Islam an sich kein rationen nehmen ståndig zu. Wie entwickelt
Hindernis fçr Demokratie, Gerechtigkeit und sich islamische Religion und Religiositåt
Toleranz in der muslimischen Welt darstellt, unter den neuen Gesellschaftsmitgliedern mit
sondern sie vielmehr erleichtert. Damit dies muslimischem Hintergrund, unter den musli-
aber geschehen kann, mçssen Muslime sich mischen Gemeinschaften und Bewegungen,
auf ihre Wurzeln besinnen und diese im Licht die heute in europåischen Gesellschaften
der zeitgenæssischen Wirklichkeit und Kom- leben?
plexitåt neu verstehen lernen.
Der Artikel enthålt Auszçge aus dem Buch: Muslime in
Europa. Religion und Identitåtspolitiken unter verån-
derten gesellschaftlichen Verhåltnissen, Mçnster 2006,
die mit freundlicher Genehmigung des Lit-Verlages in
diesem Artikel verwendet worden sind.
1 Zugunsten einer besseren Lesbarkeit wird im Fol-

genden nur eine geschlechtliche Form in der Plural-


form personenbezogener Substantive verwendet, die
neutral verstanden wird. Wenn von Muslimen die Rede
ist, bedeutet dies, dass sowohl Frauen wie auch Månner
gemeint sind.

24 APuZ 26 ± 27/2007
Die Frage, ob es sich bei den ehemaligen ¹Religionª und ¹Islamª in neuer
Einwanderern aus islamisch geprågten Lån-
dern und ihren Nachkommen um praktizie- Konjunktur
rende, çberzeugte, religiæse, aktive, moderate,
fanatische, fundamentalistische, gemåûigte Seit der Revolution in Iran 1979 stand der
oder nominelle Muslime, um Islamisten, Islam wieder auf der politischen Agenda, und
Neo-, Herkunfts- oder Kulturmuslime han- spåtestens mit dem Ende des short century
delt, ist relativ jung. Wåhrend der ersten (1914±1991, Eric Hobsbawm) tauchten in
zwanzig bis dreiûig Jahre seit Beginn des De- den verschiedensten Regionen der Welt (auch
kolonisierungsprozesses und der Ankunft der der westlichen) religiæs definierte, moderne
ersten ¹Gastarbeiterª wurde sie in Westeuro- politische Bewegungen auf: vom Erwachen
pa çberhaupt nicht gestellt ± und die zunåchst des amerikanischen bible belt unter US-Pråsi-
hauptsåchlich månnlichen Einwanderer, dent Ronald Reagan, also der protestanti-
deren Aufenthalt von ihnen selbst und von schen Religiæsen Rechten in den USA, çber
auûen als vorçbergehend fehleingeschåtzt die Islamische Heilsfront (FIS) in Algerien
wurde, wurden auch nicht als Muslime wahr- bis zur extremistischen Bewegung Comu-
genommen, sondern meist in ihrer ækono- nione e Liberazione aus katholischen Reihen
mischen Funktion (z. B. als ¹Gastarbeiterª) in Italien. Davon unabhångig war in Euro-
und/oder in nationalen Kategorien. 2 pa Mitte der 1980er Jahre die Zahl islami-
scher Gemeindegrçndungen und Moscheen
Die akademische Forschung sah, von weni- sprunghaft angestiegen. 6 Genaugenommen
gen Vertretern der explizit mit Religion be- waren damit die ersten Anhaltspunkte fçr
fassten Disziplinen abgesehen, keinen Anlass, die etwaige gesellschaftliche Relevanz einer
dem Islam eine besondere Bedeutung in den Neuen Islamischen Pråsenz (NIP) 7 als Kon-
Integrationsprozessen beizumessen; 3 einer- sequenz der Erdælkrise sichtbar geworden:
seits, weil die zu Recht noch nicht religiæs Die Regierungen der Einwanderungslånder
definierte ¹Objektgruppeª keine æffentlich hatten seit 1974 den weiteren Zustrom von
sichtbaren Anzeichen von Religiositåt zeig- Arbeitskråften gestoppt, erlaubten aber die
te, 4 andererseits, weil sich das æffentliche und Familienzusammenfçhrung. Mit der Ankunft
wissenschaftliche Interesse im Nachkriegs- der Frauen und Kinder wurde der Plan zur
und postkolonialen Europa eben nicht auf die Rçckkehr endgçltig zum Mythos. Erste
Religion konzentrierte. Noch in den 1970er Schritte von Institutionalisierungsprozessen
Jahren waren religionsbezogene Fragestellun- waren damit eingeleitet.
gen unmodern, was nicht so bleiben sollte 5 ±
im Gegenteil: Insbesondere im Falle des 6 1961 betrug die Zahl der Gebets- und Gemeinde-
Islam scheinen sie heute zu den brennendsten versammlungsråume, die meist als provisorische (Be-
Fragen in der westeuropåischen Úffentlich- helfs-)Moscheen durch das persænliche Engagement
keit und Sozialforschung zu gehæren. Wie zunåchst loser Interessengemeinschaften gebildeterer
låsst sich der Aufschwung dieses ¹Muslim Arbeiter mit der Unterstçtzung von Studierenden ent-
factorª erklåren? standen waren, in den vierzehn west- und nord-
europåischen Låndern insgesamt nur 32, die sich auf
sieben Lånder verteilten. 1971 waren es 257 ¹Mo-
2 Vgl. K. Duran, Der Islam in der Diaspora: Europa scheenª bei einer Gesamtzahl von knapp viereinhalb
und Amerika, in: W. Ende/U. Steinbach (Hrsg.), Der Millionen Einwanderern und Bçrgern mit musli-
Islam in der Gegenwart, Mçnchen 1984, S. 440± 469; S. mischem Hintergrund. Mitte der 1980er Jahre waren es
Allievi, How and Why ,Immigrants` became ,Muslims`, çber Tausend. Vgl. A. Kettani (Anm. 4).
in: ISIM Review, (2006) 18, S. 18. (ISIM ± international 7 Um die neue Sichtbarwerdung des Islam im heutigen

institute for the study of islam in the modern world.) Europa begrifflich zu fassen, brachten Gerholm/Lith-
3 Vgl. J. Nielsen, Muslims in Western Europe, Edin- man mit ihrem gleichnamigen Buch 1988 das Konzept
burgh 1992, S. 2. der Neuen Islamischen Pråsenz in die Diskussion ein:
4 Vgl. A. Kettani, Challenges to the Organization of T. Gerholm/Y. Lithman (Eds.), The New Islamic Pre-
Muslim Communities in Western Europe. The Poli- sence in Western Europe, London 1988. Zur Er-
tical Dimension, in: W. A. R. Shadid/P. S. van Ko- weiterung des Konzepts und seiner Aktualisierung vgl.
ningsfeld (Eds.), Political Participation and Identities N. C. Tiesler, Muslime in Europa. Religion und Iden-
of Muslims in Non-Muslim States, Kampen, S. 14±35. titåtspolitiken unter verånderten gesellschaftlichen
5 Vgl. D. Pollack, Individualisierung oder Såkularisie- Verhåltnissen, Mçnster 2006, S. 36±72, und dies., No
rung? Zur neueren religionssoziologischen Debatte des Bad News From the European Margin: The New Isla-
Verhåltnisses von Religion und Moderne, in: Berliner mic Presence in Portugal, in: Islam and Christian-
Dialog, 97 (1997) 4, S. 16±18. Muslim Relations, 12 (2001) 1, S. 71±91.

APuZ 26 ± 27/2007 25
Mit dem ersten (medientråchtigen) franzæ- zægerter Institutionalisierungsprozess und
sischen Kopftuchstreit und der çber britische die damit einhergehende Sichtbarwerdung
Grenzen weit hinaus transportierten Rushdie- des Islam in Europa erst Ende der 1980er
Affåre ± der æffentliche Protest von islami- Jahre in voller Blçte stand und dass sich seit-
schen Gemeindevorstehern in Bradford gegen dem eine Stimme der Muslime (Muslim
die Satanischen Verse, der mit einer Bçcher- Voice) çber kommunale und nationale Gren-
verbrennung in Szene gesetzt wurde, und zen hinaus Gehær verschaffte, nur mittels
Khomeinis folgenreicher Ausspruch der so eines ersten, flçchtigen (und positivistischen)
genannten ¹Todes-Fatwaª gegen den Schrift- Blicks auf die Statistik mit einer ¹plætzlichen
steller Salman Rushdie ± im selben Jahr be- Islamisierungª erklåren. Viele Frauen aus isla-
gann auch der Wendepunkt der jungen Ge- misch geprågten Låndern hatten ihr religiæses
schichte der Neuen Islamischen Pråsenz in Wissen respektive ihre Bråuche von Beginn
Europa im Jahre 1989. 8 Die Forschungsper- an fernab der Úffentlichkeit (also in vielerlei
spektiven ånderten sich nahezu schlagartig. Hinsicht der Situation in manchen Her-
Publikationen aus den 1990er Jahren diagnos- kunftslåndern, z. B. des Maghreb zu jener
tizieren im Rçckblick auf die spåten 1980er Zeit, åhnelnd) in der Privatsphåre an ihre
Jahre ein ¹Islamic Revivalª, 9 ¹Islamic Re- Kinder weitergegeben und untereinander aus-
surgenceª oder eine ¹Re-Islamisierungª. 10 getauscht. 12 Die Herausbildung eines ¹offi-
Gleichzeitig scheint sich binnen der letzten ca. ziellenª und æffentlichen Islam, die Installati-
25 Jahre eine renovierte Variante der Dichoto- on islamischer Organisationen, war ein zu-
mie von der ¹christlich geprågtenª, aufgeklår- nåchst rein månnliches Unternehmen. Es
ten, modernen, europåisch-westlichen Gesell- wurde wåhrend der Zeit, als der Mythos der
schaft einerseits und der unaufgeklårten, vor- Rçckkehr noch unbeschådigt war, und vor
modernen ¹islamischen Weltª andererseits der Ankunft der Frauen und Kinder nicht an-
verfestigt zu haben. Allen gegenlåufigen empi- gestrengt. Eine weitere Verspåtung dieser
rischen Argumente zum Trotz, die Familien- Unternehmungen erklårt sich aus dem Man-
biografien von gesellschaftlich wohl integrier- gel an religiæs interessierten Mittelschichten,
ten Muslimen in europåischen Låndern lie- in deren Hånden das Grçndungsmanagement
fern, wird diese Dichotomie in der medialen liegen sollte. Spåt setzten die Institutionalisie-
Úffentlichkeit ausgerechnet in den Emigran- rungsprozesse und eine Muslim Voice insbe-
ten, die eine islamische Mehrheitsgesellschaft sondere dort ein, wo es lokalen, losen Proto-
verlassen haben (oder gar in ihren hier gebore- Gemeinden an Mittelschichten mangelte,
nen Nachkommen), personalisiert und erlangt welche die notwendigen sozialen und intel-
in Selbst- und Fremdzuschreibungen eine ge- lektuellen Kapazitåten und das Organisati-
sellschaftliche Wirkungsmacht. onstalent mit einbrachten. Dabei handelte es
sich çberwiegend um Studierende, die aus
den Groûstådten der Koloniallånder in euro-
Islamisierung der Debatten påische Metropolen gekommen waren, oder
um die frçhesten Vertreter der so genannten
Ûbersehen wird oft, dass es dabei auch zu
zweiten Generation. Deshalb hat sich eine
einer Islamisierung der æffentlichen und aka-
Muslim Voice in den Låndern, die auf eine
demischen Debatten kam, die bis heute in
Kolonialgeschichte zurçckblicken, frçher
einer Eigendynamik z. T. sogar vom konkre-
entwickelt als in jenen, in denen temporåre
ten Material (der Entwicklungsgeschichte des
¹Gastarbeiterª-Vertråge die ersten muslimi-
Forschungsgegenstandes und der Erfahrung
schen Einwanderer aus låndlichen Regionen
der Interviewees) unabhångig voranschrei-
und bildungsfernen Schichten in europåische
tet. 11 So låsst sich die Tatsache, dass ein ver-
Groûstådte gezogen haben.
8 Vgl. N. C. Tiesler (2006), ebd., S. 93±100.
9 A. Kettani (Anm. 4). Und schlieûlich kam das Wort ¹Re-Islami-
10 G. Kepel, Die Rache Gottes. Radikale Moslems, sierungª, das ursprçnglich anti-koloniale, is-
Christen und Juden auf dem Vormarsch, Mçnchen lamische Bewegungen zu Beginn des 20. Jahr-
1991; Ders., Allah im Westen. Die Demokratie und die hunderts charakterisierte (z. B. die von Has-
islamische Herausforderung, Mçnchen 1996, sowie
J. L. Esposito/F. Burgat, Modernizing Islam: Religion
in the Public Sphere in Europe and the Middle East, 12 Vgl. S. Andezian, Migrant Muslim Women in

London 2003, Part III: Re-Islamization in Europe. France, in: T. Gerholm/Y. Lithman (Anm. 7), S. 196±
11 Vgl. N. C. Tiesler (2006) (Anm. 7), S. 122 ±132. 205.

26 APuZ 26 ± 27/2007
san al-Bannah in Øgypten unter britischer wendung zum Islam unter Jugendlichen,
Herrschaft gegrçndete Muslimbruderschaft) Anti-Kriegs-Bewegungen, islamische Aner-
erst Anfang der 1990er wieder auf, als die FIS kennungs- und muslimische Identitåtspoliti-
erstmals die Kommunalwahlen in Algerien ken gemeinhin als Hemmnis oder gar Wider-
gewonnen hatte. Erst als die æffentlichen und stand zum Integrationsimperativ fehlinter-
wissenschaftlichen Debatten begonnen hat- pretiert, als Opposition zur ¹westlichen
ten, sich eines im Maghreb Angst und Kulturª stilisiert ± und dabei der Islam als
Schrecken verbreitenden ¹islamischen Funda- Quelle sozialen Kapitals und zivilen Engage-
mentalismusª anzunehmen, wurden ¹Islami- ments und die Erfolge sozialer Mobilitåt
sierungª oder gar ¹Re-Islamisierungª als Er- unter Muslimen çbersehen. Den meisten For-
klårungsmuster fçr europåische Geschehnisse schern ist bewusst, dass jegliche verfçgbaren
(wie die Gemeindegrçndungswelle) Mitte der Zahlen weder etwas çber die politischen, so-
1980er Jahre herangezogen. Dabei ist gerade zialen und kulturellen Charakteristika und
die Vorsilbe ¹Re-ª im europåischen Kontext Ansichten von Muslimen in Europa noch
irrefçhrend, da es den modernen Charakter çber ihr Selbstverståndnis oder ihre religiæsen
und die neue Qualitåt der Erscheinung unter- Ûberzeugungen und Praktiken aussagen.
schlågt.

In einer allgemeinen Konjunktur des The- Islamisierung versus Europåisierung?


mas Islam wurden von nun an jedoch auch
vermehrt die in den modernen Groûstådten Etwa mit Blick auf das neue sozial-kulturelle
Europas in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation und das politische Engagement muslimischer
sichtbar gewordenen Probleme von Immi- Jugendlicher werden die akademischen Dis-
granten, die aus traditionellen agrarisch ge- kurse heute nach wie vor von der Frage be-
prågten Regionen islamischer Mehrheitsge- stimmt, ob die Muslime in Europa islami-
sellschaften eingewandert waren, nach reli- scher geworden seien ± unter dem promi-
giæsen Mustern gedeutet, obwohl sie mit dem nenten Hilfsbegriff der ¹Islamisierungª. Ihr
Islam wenig zu tun hatten. 13 Der Religions- gegençber steht die aus religionsgeschichtli-
zugehærigkeit gesellschaftlicher Minderheiten cher Perspektive konsequente Frage: Inwie-
wurde fortan in æffentlichen und akademi- fern veråndern sich islamisch definierte Sicht-
schen Diskussionen çber die wirtschaftliche, weisen und Praktiken? Sind sie ¹europå-
soziale und kulturelle Integration insbeson- ischerª geworden?
dere der Muslime eine enorme Wichtigkeit
beigemessen ± sie wurde nun in z. T. noch hæ- Die These von der Europåisierung des
herem Maûe çberschåtzt als wåhrend der ers- Islam und der Islamisierung eines Teiles jener
ten Jahre unterschåtzt. Die aktuellen Trends Gesellschaftsmitglieder, die oder deren Eltern
in den Sozialwissenschaften, insbesondere in aus islamischen Mehrheitsgesellschaften ka-
der Migrationsforschung, leisten der Islami- men, erhellt sich mit Blick auf den histo-
sierung ihrer Debatten Vorschub. risch spezifischen Entstehungszusammen-
hang jenes Phånomens, das wir tatsåchlich
Nicht erst seit dem 11. September 2001 erst seit den 1980er Jahren ± und nicht schon
wird die såkularisierte Mehrheit der NIP in seit der Ankunft der ersten Einwanderer mit
mancher bewegten Debatte nahezu ignoriert muslimischem Hintergrund ± als Neue Isla-
± und werden in der Statistik Europåer, deren mische Pråsenz bezeichnen kænnen: nåmlich
Familien auf Migration zurçckblicken, kom- als ein Bezug auf den Islam sichtbar und insti-
plett als Muslime gefçhrt, ungeachtet dessen, tutionalisiert wurde ± bezeichnenderweise
welche Rolle Religion in ihrem Leben spielt in europåischen Organisationsmustern (z. B.
und ob sie selbst oder ihre Eltern z. B. am Ge- Vereinen, hierarchischen Gemeindestruktu-
meindeleben in Deutschland, England oder ren). Insofern wirkt auch die in der Fachlite-
Frankreich teilnehmen. Gleichzeitig werden ratur gelåufige Formulierung ¹Muslim settle-
zunehmende Tendenzen islamischer Pietåt, mentª irrefçhrend, denn sie setzt die Migrati-
ein wachsendes Engagement muslimischer on und Ankunft jener Individuen mit einem
Interessenvertreter, neues Interesse und Zu- kollektiven Phånomen gleich, das sich von
Beginn an muslimisch oder islamisch defi-
13 Vgl. P. Antes, Der Islam als politischer Faktor, nierte. Ein solcher Handstreich ± wenn in der
Hannover 19973. Rçckschau im Lichte der heute dominanten

APuZ 26 ± 27/2007 27
Diskurse ein Grundcharakteristikum des For- senschaftliche Interpretation erfasst hat: Ver-
schungsgegenstandes umgedeutet wird ± låsst einheitlichung.
die Einflussnahme der sozialwissenschaftli-
chen Forschung auf ihren Gegenstand erah- Muslime, Migranten und ex-koloniale
nen und zeigt die Islamisierung der Debatten. Siedler begegnen in Europa nicht nur unter-
Denn Einwanderer kamen, von wenigen schiedlichen europåischen Kulturen und All-
Ausnahmen abgesehen, nicht aus religiæsen tagsbedingungen und -bråuchen, sondern
Grçnden, also nicht, um sich in ihrer Qualitåt auch jenen, die von Muslimen aus anderen
als Muslime niederzulassen. Das Bewusstsein Herkunftslåndern und -regionen teilweise
ihrer Religionszugehærigkeit entwickelte sich importiert oder renoviert worden sind. Hete-
verstårkt erst in der Emigration, wie einige rogenitåt ist bis heute eines der Grundcharak-
Studien zeigen, die das Wort Islamisierung als teristika der Neuen Islamischen Pråsenz. Die
Erklårung fçhren. ehemaligen Einwanderer erfahren Fremdheit
also auch in der Begegnung mit anderen Mus-
limen. Die Alltagserfahrung und Interaktion
Der Gebrauch des Wortes Islamisierung als
innerhalb dieser Koordinaten sorgt fçr die
Erklårungsmuster fçr neue gemeinschaftliche
Entwicklung sich islamisch artikulierender
Bewegungen und sozialpolitische Statements
Bewegungen und Gemeinschaften vællig
birgt ferner die Gefahr zweier Fehldiagnosen:
neuen Typs.
Kontinuitåt und Homogenitåt. Erstere kon-
struiert Kontinuitåtslinien zwischen den lo-
Denn ein gewisser Homogenisierungs-
kalspezifischen Varianten islamisch geprågter
druck herrschte von Beginn an in nahezu
Alltagskulturen in den Herkunftsregionen
jeder lokalen Gemeinde vor, in der sich nicht
und jenen islamisch definierten Bewegungen,
ausschlieûlich solche Mitglieder versammel-
Praktiken und Perspektiven, die aus der In-
ten, die aus exakt der gleichen Region stamm-
teraktion in den neuen gesellschaftlichen Ko-
ten. 14 Die local communities, welche die zu-
ordinaten entstehen. Ohne die Bemçhungen
nåchst stårkste Organisationsform muslimi-
staatlicher und religiæser Autoritåten in den
scher Gemeinden in Europa waren, wurden
Herkunftslåndern oder gar den Einfluss inter-
bald ergånzt durch Dachorganisationen auf
nationaler Beziehungen, Kommunikation
nationaler Ebene. Hier scheint der Druck zur
und Ereignisse unterschåtzen zu wollen: Es
Vereinheitlichung noch stårker, denn die
sind die europåischen gesellschaftlichen Be-
staatlichen Autoritåten, mit denen um Aner-
dingungen, die den Entwicklungsprozess der
kennung verhandelt wird, verlangen einen re-
Neuen Islamischen Pråsenz entscheidend mit-
pråsentativen Ansprechpartner: eine noch
bestimmen. Das wird im Zusammenhang mit
græûere Herausforderung, wie z. B. anhand
Muslimen oft çbersehen, wenn ¹der Islamª
der Debatten unter deutschen Muslimen um
als etwas Fernes und exotisch Fremdes ange-
islamischen Religionsunterricht (und die De-
sehen wird und seine hiesigen Protagonisten
finitionsmacht der curricula) in æffentlichen
fålschlicherweise als Reproduzenten einer
Schulen deutlich wird.
wie auch immer definierten, bruchlos impor-
tierten und fortgesetzten Tradition interpre-
Am deutlichsten zeigt sich der Trend zur
tiert werden.
Vereinheitlichung in neuen europåisch-isla-
mischen Konzepten, die von Repråsentanten
einer neuen europåisch-islamischen Mittel-
Der Trend zur Vereinheitlichung
14 Eine aus Afghanistan stammende Gespråchs-
Die zweite Fehldiagnose lautet, beim ¹Islam
partnerin, deren Kinder und Enkel schon in Berlin ge-
im heutigen Europaª handele es sich um ein boren wurden, besucht zu besonderen Anlåssen die
homogenes Phånomen, ist zwar noch åuûerst ihrer Wohnung am nåchsten gelegene Moschee, ein
medienwirksam, in den Akademien jedoch von der ¹Tçrkisch-islamischen Union der Anstalt fçr
nicht mehr verfçhrerisch. Doch mit ihr ver- Religionª (DITIB) organisierter Kulturverein. Sie
hålt es sich weitaus komplizierter, wenn man brachte eine Form der Vereinheitlichung, die als Isla-
die Augen nicht verschlieût vor der Tendenz, misierung bezeichnet werden kann, im Zusammen-
hang mit Beerdigungsriten einmal sehr pråzise auf den
die sowohl in den Anerkennungspolitiken Punkt: ¹Frçher haben wir beerdigt, wie es unsere
der europåischen Muslim communities evi- Groûvåter schon getan haben. Hier machen wir es, wie
dent ist als auch als Trend manche sozialwis- es im Koran steht.ª

28 APuZ 26 ± 27/2007
schicht formuliert werden. Die Kinder der zepte erkennen, die Suche nach Orientie-
ersten Einwanderer aus islamischen Mehr- rungsmustern in einer bedingt såkularisierten
heitsgesellschaften erreichten ab den spåten Umgebung, die sich den muslimischen Min-
1980er Jahren ± also zur Zeit des konjunktu- derheiten gegençber oft genug als ¹christlich
rellen Aufschwungs des Themas Islam ± das verwurzeltª artikuliert. Nicht nur der Islam
Universitåtsalter. Mit der Ausbildung europå- als Thema, auch ¹christliche Wurzelnª und
isch-islamischer Mittelschichten, welche die die Rede von einer ¹europåischen Identitåtª
hiesigen Bildungssysteme durchlaufen hatten, standen in hoher Konjunktur, als die zweite
stiegen die Beitråge von Akademikern und Generation und heutige Autorenschaft neuer
Intellektuellen mit muslimischem Hinter- Konzepte das Universitåtsalter erreichte. Sie
grund zum Thema Muslime in Europa an, wuchsen in den europåischen Universitåten
ebenso die innerislamischen Debatten, die in die Postcolonial Studies und die aus den
Minderheitserfahrungen reflektieren. amerikanischen Cultural Studies importierten
Identitåtsdiskurse hinein und gestalten sie in
manchen Låndern (in erster Linie in Groûbri-
Neue Mittelschichten ± tannien) heute entscheidend mit.
neue Perspektiven
Spåtestens seit Tariq Ramadans çberaus er-
Nicht nur der akademische Diskurs zu Musli- folgreicher Veræffentlichung To be a Euro-
men in westlichen Gesellschaften nahm sehr pean Muslim im Jahr 1999 wurde die Ent-
frçh die europåische Perspektive ein, die als wicklung, Bewerbung und Konjunktur euro-
vereinheitlichend verstanden werden kann, påisch-islamischer Konzepte und eines
sondern auch die muslimischen Autoren. entsprechenden Selbstverståndnisses in gebil-
Konferenzen, auf denen sich Muslime aus deten Kreisen populår. 16 Ûberraschend daran
verschiedenen europåischen Låndern zum war zunåchst, dass aus einem so heterogenen
Austausch trafen, fanden schon Anfang der Pool (verschiedener Migrationsmotive, Her-
1980er Jahre statt. Die Debatten um die Ent- kunftslånder, lokalkultureller Varianten und
wicklung und Inhalte islamischer Lehre in unterschiedlicher Perspektiven auf den
Europa bezeugen theologische Revisions- Islam), wie die Neue Islamische Pråsenz ihn
und Aktualisierungsprozesse. Europåische stellt, çberhaupt ein gemeinsames Selbstver-
muslimische Akademiker und Intellektuelle ståndnis entwickelt und beworben wird. Die-
greifen vor dem Erfahrungshintergrund des ses Selbstverståndnis bezieht sich mit Europa
hiesigen Alltags mit den Werkzeugen såkula- zudem auf einen sehr grob gefassten, auf der
rer Bildung versiert klassische Ansåtze isla- Alltagsebene eher abstrakt erscheinenden
mischer Theologie auf, setzen sich davon ab Raum, der recht unterschiedliche Gesell-
oder entwickeln sie weiter, so dass sie in den schaften und nationale Gesetzgebungen, ver-
Koordinaten der neuen sozialen Realitåten schiedene Praktiken von Såkularitåt (oder
tauglich erscheinen. 15 Die meisten der in Laizitåt), Immigrationspolitiken und histori-
europåischen Akademien etablierten Autoren sche Verbindungen zu den Herkunftslåndern
von jenem Wirkungsgrad, der çber ihre lokale (koloniale, militårische, wirtschaftliche oder
Gemeinde hinausgeht, betonen ganz selbst- keine) umfasst. Verschiedene Grçnde spre-
verståndlich den Wert gesellschaftspolitischer chen dafçr, diese Konzepte als europåisch-is-
Konzepte, wie z. B. ein Pluralismusgebot, To- lamisch zu bezeichnen. Zunåchst einmal ent-
leranz, die Trennung von Kirche und Staat, stehen sie nicht in einem von gesellschaft-
die Anerkennung einer demokratischen Zivil- licher Erfahrung und raum-zeitlichen
gesellschaft und individueller Menschenrech- Koordinaten entkoppelten Elfenbeinturm,
te. Sie integrieren sie und werben fçr eine da- der ausschlieûlich traditionell ausgebildeten
hingehende Úffnung ± oder bezeichnen sie islamischen Theologen und Rechtsgelehrten
als ohnehin islamisch verwurzelt, greifen eini- zugånglich wåre. Sondern sie entstehen vor
ge als islamisch-universelle Werte auf oder dem konkreten Erfahrungshintergrund von
konzeptualisieren sie in islamischen Katego- Emigration (erste Generation) oder europå-
rien. Die dennoch in vielen Aspekten kontro- ischer Sozialisation (Folgegenerationen) und
versen Debatten lassen das Bemçhen um die in Reflexion auf die Lage sich als islamisch
Entwicklung neuer, alltagstauglicher Kon-
16 Vgl. T. Ramadan, To be a European Muslim, Leice-
15 N. C. Tiesler (2006) (Anm. 7), S. 100± 122. ster 1999.

APuZ 26 ± 27/2007 29
verstehender Minderheiten im europåischen schaftlichen Mehr- und Minderheiten verhan-
Kontext. Ihre Lage bleibt keineswegs unbe- delt werden und auch Perspektiven fçr die
einflusst vom Rçckbezug auf die Herkunfts- Untersuchung von Muslimen gewonnen wur-
lånder und internationale Ereignisse, Kon- den. Seit dem Ende des Kalten Krieges gera-
flikte und Politiken. Letzteres zeigte sich ten die bekannten Kategorien kollektiver
immer wieder seit der Revolution in Iran Subjektivitåt ± wie z. B. Volk, Nation, Grup-
1979, spåter im Zuge der Rushdie-Affåre pe, Klasse ± stark in Bewegung und bringen
1989, des Bosnienkonflikts und Irakkriegs viele offene Fragen fçr die Sozialwissen-
Anfang der 1990er Jahre, des Israel-Palåstina- schaftler, die sich mit Phånomenen sozialer
Konflikts und im besonderen Maûe seit den Akteure und Bewegungen beschåftigen, in
Terroranschlågen des 11. September 2001 und denen die Suche nach einem historischen Sinn
seinen Folgen in der Macht der medialen Úf- in postmaterialen Bedingungen insbesondere
fentlichkeit. Vor allem aber wird ihre Situati- fçr die Mittelschichten in den Mittelpunkt zu
on bestimmt von Fremdheitserfahrungen und rçcken scheint.
massenmedial formierten Ressentiments, von
den Chancen und Hoffnungen auf wirtschaft- In seinem erwåhnten derzeitigen Haupt-
liche Prosperitåt, auf hæhere Bildung und so- werk formuliert und bewirbt Ramadan ein
ziale Mobilitåt und/oder ihren Enttåuschun- neues Selbstverståndnis, eine ¹europåisch-is-
gen, z. T. von sozialer Marginalisierung, den lamische Identitåtª. Eine seiner prominente-
Grenzen und Mæglichkeiten der Immigra- sten Rollen ist die des Identitåtspolitikers.
tions- und Integrationspolitiken. Jene, die Unter demselben Stichwort formuliert er Læ-
europåisch-islamische Konzepte entwickeln, sungen, die es jungen Europåern mit musli-
machen nicht alle diese Erfahrungen selbst, mischem Hintergrund erlauben, islamischer
formulieren sie aber stellvertretend fçr andere zu werden, ohne dabei weniger europåisch
gesellschaftliche Schichten. sein zu mçssen. Obwohl es eine essentielle,
kollektive muslimische oder europåische oder
Und sie formulieren sie, selbstverståndlich islamisch-europåische Identitåt im ursprçng-
auch koranisch geschult und mit teils zentra- lichen Sinne der Kategorie nicht gibt, hat sie,
len Verweisen auf islamische Kategorien (die wie auch immer konstruiert, eine objektive
in neuer Interpretation erscheinen), in einer Wirkungsmacht. Wer sich auf dem Feld Mus-
såkularen Sprache. Die philosophische, histo- lime in Europa bewegt, muss mit den Prokla-
rische, sozial- und politikwissenschaftliche mationen ¹christlicher, westlicher, såkularer,
Bildung sticht heraus. Intellektuell sozialisiert muslimischer oder islamischer Identitåtenª
in einer såkularen Diskurssprache, die schon umgehen. Dabei handelt es sich nicht um
långer kein exklusiv ¹westlichesª Gut mehr Identitåten, sondern um Identitåtspolitiken
ist, jedoch eine andere Sprache ist als jene der bzw. ¹politics of identificationª, die versu-
traditionellen, religiæsen Autoritåten, wenden chen, gemeinsame Interessenlagen zu formu-
sie sich Fragen zu, die sich ihrer Ansicht nach lieren. Die entsprechenden Konzepte mægen,
der Mehrheit der Muslime in Europa stellen: wie Ramadans, emanzipatorisch klingen und
¹Wo sind wir? Wer sind wir? Wohin/wozu/ fçr Integration und eine harmonische Zusam-
zu wem gehæren wir? Welche Identitåt ist die menfçhrung ¹europåischerª und ¹islamischer
unsere?ª 17 Grundsåtzeª stimmen. Als analytische Kate-
gorie jedoch erweist sich der ¹verbale Contai-
Stichwort Identitåt ner Identitåtª 18 als unbrauchbar. Wenn von
¹islamischerª oder ¹europåisch-islamischer
Mit ihrem wohl entscheidenden diskursiven Identitåtª gesprochen wird, so ist dies kein
Trend seit dem Ende des short century sind es Zeugnis oder Gçtesiegel islamischer Religio-
somit die europåischen Sozialwissenschaften, sitåt im europåischen Kontext, sondern es
die das Zauberwort der Vereinheitlichung lie- handelt sich dabei um eine empirisch kaum
fern: ¹kollektive Identitåtª. Die Suche nach prçfbare Vereinheitlichung auf der Basis einer
¹kollektiven Identitåtenª ist zentral in den
aktuell dominanten Diskursen von Multikul- 18 D. Claussen, Wer ist das Volk? Kritik einer Be-
turalismus bis zu Transnationalitåt, in denen griffsverwirrung: Nation, Volk, Ethnos, Kultur, etc., in:
u. a. die Auseinandersetzungen von gesell- E. KçrsÎat-Ahlers/D. Tan/H.-P. Waldhoff (Hrsg.),
Globalisierung, Migration und Multikulturalitåt,
17 Vgl. ebd., S. viii. Frankfurt/M. 1999, S. 247±255, hier S. 253.

30 APuZ 26 ± 27/2007
såkularen Diskurssprache, die in westlichen men wie Homosexualitåt oder moderne Na-
academies produziert wird. tionen-Theorien anlåsslich einer Fuûballwelt-
meisterschaft.
Fazit und Schlussbemerkungen Mit dem Heranwachsen der zweiten Gene-
ration, bei der es sich mehrheitlich um euro-
In der Retrospektive wird deutlich, dass der
påische Staatsbçrger handelt, welche die
Beginn jener Entwicklung, die spåter zur
europåischen Bildungssysteme durchlaufen
Sichtbarkeit und gesellschaftlichen Relevanz
haben, nahm der Anteil an gebildeten (proto-)
einer Neuen Islamischen Pråsenz in Europa
Mittelschichten innerhalb jener Bevælkerung
fçhrte, eindeutig schon in der Integration
zu, die auf Migration zurçckblickte und die
muslimischer Studenten an den Universitåten
einen anderen Background hatte als die
und Fachhochschulen europåischer Metropo-
Mehrheitsgesellschaft. Die Kinder der Ein-
len lag. Es waren einzelne, junge Månner aus
wanderer erreichten das Universitåtsalter
wohlsituierten Familien, von groûstådtischer
kurz vor und nach 1989 und wuchsen dort in
Sozialisation und såkularer Bildung, die vor
die Identitåtsdiskurse hinein, die nach 1989 in
der Dekolonisierung zu Bildungszwecken
den europåischen Sozialwissenschaften zu-
(zumeist) in die Mutterlånder wie Frankreich,
nehmend an Popularitåt gewannen und seit-
Groûbritannien oder Portugal gegangen
her zentral erscheinen. Heterogenitåt war das
waren. Sie studierten vornehmlich technische
Grundcharakteristikum der NIP, bevor die
und naturwissenschaftliche Fåcher, und spå-
Identitåtsdiskurse in den europåischen Mi-
ter sollte ihnen in vielen Fållen der ersten Ge-
grationsdiskursen und britischen Postcolonial
meindegrçndungen die Schlçsselrolle zukom-
Studies auf fruchtbaren Boden fielen. Neue
men. Wåhrend dieser Wirkungsphase der
gesellschaftliche Bedingungen eræffnen so-
¹ersten Generationª handelte es sich um ein-
wohl die Mæglichkeit als auch die Notwen-
zelne Integrationsfiguren und Anerkennungs-
digkeit fçr neue Konzepte: Eine der am hei-
politiker, die ± oft mit Unterstçtzung der Kir-
ûesten diskutierten Fragen in (europåisch-)
chen ± sich in ihrem jeweiligen Land um die
muslimischen Diskussionszusammenhången
Ausbildung einer zuvor nicht vorhandenen
seit spåtestens Anfang der 1990er Jahre zielt
religiæs-kulturellen Infrastruktur (Gebets-
auf die Definition muslimischer Subjektivitåt,
råume, Moscheevereine) bemçhten. 19
also auf ein kollektives Selbstverståndnis von
¹Muslim-seinª. 20 Die entsprechenden Dis-
Heute begegnen wir immer mehr sozial-
kussionen nehmen nicht nur die Lage interna-
und politikwissenschaftlich ausgebildeten
tionaler Beziehungen und Migration in den
Networkern und Identitåtspolitikern, die sich
Blick, sondern basieren in unserem Fall auf
auf europåischer, internationaler und virtuel-
den Erfahrungen im europåischen Kontext.
ler Ebene austauschen: Sie grçnden u. a. Stu-
Sie markierten nicht den Anfang der jungen
denten- oder Humanitarian Aid-Organisatio-
Geschichte der Neuen Islamischen Pråsenz in
nen, engagieren sich z. T. im European Social
Europa, sondern wuchsen zusammen mit
Forum, fçr internationale Menschenrechte,
einer zweiten Generation, die ihren Aufent-
z. B. gegen saudische oder U.S.-amerikani-
halt nicht als temporår ansah, sondern hier
sche und fçr Frauenpolitik, sind oft einer
geboren und aufgewachsen ist. Aus dem Ent-
linken, såkulariserten Mittelschicht verbun-
stehungszusammenhang solcher neuen euro-
den, richten Muslim Brainstorming Sessions,
påisch-islamischen Konzepte ist die såkulare
Musik- und Empowerment-Veranstaltungen
Diskurssprache nicht wegzudenken, denn
aus, installieren Internetseiten und Chat-
ihre Autoren sind in den Institutionen ausge-
rooms und diskutieren dort u. a. auch The-
bildet, in denen diese intellektuellen Werk-
19 Zu den auf europåischer Ebene viel rezipierten Au- zeuge vermittelt werden. Sie sind græûtenteils
toren der ersten Generation, die auch als Integrations- aber auch religiæs gebildet und wirken in
figuren wirken und wirkten, sind sicherlich Smail Balic ihren communities.
(Ústerreich), Mohammad Arkoun (Algerien, Frank-
reich, USA), Mohammad Anwar (Groûbritannien), M.
S. Abdullah (Deutschland) und Valy Sçleyman Ma-
mede (Portugal) zu zåhlen. Ein weiterer Autor dieser 20 Im Englischen ¹Muslimnessª, vgl. S. Sayyid, Be-

Generation, der aber in erster Linie in akademischen yond Westphalia: Nations and Diasporas ± the Case of
Zusammenhången auftritt, ist Khalid Dur—n (Ma- the Muslim Umma, in: B. Hesse (Ed.), Un/settled
rokko, Spanien, Deutschland, USA). Multiculturalisms, London 2000, S. 33±50.

APuZ 26 ± 27/2007 31
In der Integration der aktuellen Diskurs- Danja Bergmann
sprachen in solche ¹europåisch-muslimi-
schenª Konzepte und community politics
wird der Wandel von traditioneller Religion Bioethik
und die Scharia
zu modernen Ansåtzen erkennbar. Als tradi-
tionell kann hier die ritualistische religiæse
Praxis bezeichnet werden ± religiæses Wissen,
das mçndlich weitergeben wird, ohne reflexi-
ve Auseinandersetzung mit der Schrift, zu der
nur die Eliten Zugang hatten. Der Schlçssel
des Wandels liegt in såkularer Bildung. Eine
Generation, welche die europåischen Bil-
E in drei Tage alter Embryo ist kleiner als
der Punkt am Ende dieses Satzes. Den-
noch kann er mittels bildgebender Diagnostik
dungssysteme durchlaufen hat, entwickelt sichtbar gemacht werden. Moderne Medizin-
eine andere Perspektive auf ihre Religion technik eræffnet dem Betrachter faszinierende
oder jene ihrer Eltern. Mit anderen Werkzeu- Einblicke in die Entfaltung des menschlichen
gen und Zugang zur Schrift tritt diese auch in Lebens in seinen Anfången und nach planvol-
ein anderes, nåmlich herausfordernderes Ver- lem Muster. Doch die technisch gewachsene
håltnis zu den traditionellen religiæsen Auto- Transparenz des Kærpers und der sich darin
ritåten. Das zunåchst aus den Herkunftslån- abspielenden Prozesse gibt nicht nur Anlass
dern importierte religiæse Personal konnte zu Beifall spendender Bewunderung. Sie geht
die Fragen junger Muslime, die sich in einem Hand in Hand mit einer bedrohlichen Verfçg-
neuen Kontext stellten, nicht beantworten. barkeit des Menschen,
An die Stelle der alten Gemeindeleiter tritt die sich je nach Tages-
bald (bzw. trat bereits) eine neue Generation aktualitåt der Feuille- Danja Bergmann
± eine Generation, die in Europa aufgewach- tons in Metaphern wie M.A., geb. 1973; Studium der
sen und zu Hause ist. Såkulare Bildung, Vergleichenden Religionswis-
Schæpfungseingriff,
Kommunikationswege, Organisationsformen, Ûberschreitung des senschaft, Islamwissenschaft
Alltagsbedingungen, politische Strategien, die Rubikons oder pro- und Politischen Wissenschaft,
Sozialisation und auch Exklusionserfahrun- metheische Hybris Redakteurin der Monatszeit-
gen in europåischen Gesellschaften und die niederschlågt und die schrift Die Politische Meinung,
Integration neuer Diskurssprachen in musli- ihren Schatten auf die Rathausallee 12,
mische Debatten deuten auf zwei Tendenzen: alte Frage wirft, wann 53757 St. Augustin.
der Mensch beginnt, danja.bergmann@kas.de
Einerseits auf die Europåisierung des Islam ein Mensch zu sein.
und andererseits auf die Islamisierung von
Europåerinnen mit muslimischem Hinter- Hierzulande verlaufen die bioethischen
grund. Kontrår auf den ersten Blick, kænnen Konfliktlinien im Kontext von hellenistisch-
diese Diagnosen zu einem analytischen In- christlich geprågten Wertvorstellungen. Bio-
strument werden, wenn sie als eine Tendenz medizinische Methoden wie kçnstliche Be-
gedacht werden ± als Tendenz zur Vereinheit- fruchtung, Klontechnik und Stammzellfor-
lichung. Aus dieser Perspektive wird deut- schung rçhren an Grenzziehungen des men-
lich: Die Entwicklungsgeschichte der NIP schlichen Lebens und erschçttern traditionelle
wird ebenso wie der Entstehungszusammen- Wertçbereinkçnfte, in deren Zentrum die Idee
hang dieser neuen islamisch-europåischen der Menschenwçrde steht. Der Rekurs auf die-
Konzepte vorwiegend von internationaler Er- sen Argumentationsmittelpunkt bringt letzt-
fahrung und den hiesigen gesellschaftlichen lich auch das nicht-religiæse Selbstverståndnis
Bedingungen bestimmt. Der ¹Islam im heuti- an die kulturhistorisch gewachsenen Grenzen
gen Europaª ist ein modernes, translokal be- seines såkularen Selbst. Doch gilt es, den Blick
stimmtes, europåisches Phånomen. auch çber den eigenen kulturellen Tellerrand
hinaus zu werfen und nach bioethischen Aus-
einandersetzungen auûerhalb des christlichen
oder christlich geprågten såkularen Selbstver-
ståndnisses zu fragen. Denn die rapide Ver-
breitung biomedizinischer Technologien rund
um den Globus hat bioethische Diskurse in
allen Kulturkreisen in Gang gebracht und

32 APuZ 26 ± 27/2007
Problemfelder aufgeworfen, die das mensch- Zugleich ist ihre Bedeutung aber zu umfas-
liche Dasein ganz existenziell und gewis- send, um auf die Kategorie Ethik begrenzt zu
sermaûen ¹vorkulturellª berçhren. 1 Hinzu werden, denn wie weit man den Gegenstand
kommt, dass in Deutschland etwa 3,3 Millio- der Ethik auch immer auffassen mag ± er er-
nen Muslime leben, was sich auf die medizini- streckt sich nach europåisch-abendlåndischem
sche Praxis im Krankenhausalltag auswirkt. 2 Verståndnis sicher nicht auf Fragen nach der
Es stellt sich die Frage, ob die Religion des richtigen Zeit fçr ein Gebet oder zu den Re-
Islam spezifische Deutungsmuster und ethi- geln der Pilgerfahrt nach Mekka. 3
sche Orientierungslinien etwa im Umgang mit
entstehendem menschlichem Leben bereithålt. Grundlage und Quelle der Rechtsprechung
im sunnitischen Islam bilden zwei Textquel-
Auch in muslimischen Gesellschaften und len: Der Koran ± der als das Wort Gottes die
Staaten werden unter den Rechtsgelehrten wichtigste Grundlage bildet ± und die Sunna
und Theologen kontroverse Diskussionen (¹Gewohnheitª) mit der çberlieferten Le-
çber die Zulåssigkeit von Stammzellfor- benspraxis des Propheten. Der Korantext ent-
schung und Gentechnologie gefçhrt. hålt jedoch nur einen geringen Anteil an Ge-
und Verboten, die sich ausdrçcklich in rechtli-
Von Bedeutung war in diesem Zusammen- che Forderungen umwandeln lassen. Aus die-
hang der Vorschlag Irans bei Verhandlungen sem Grund und auch, um Verånderungen im
der UNO çber ein weltweites Verbot der Wandel der Zeit Rechnung zu tragen, bildeten
Klontechnik im Herbst 2003, die Entschei- die Fuqaha 4 genannten Rechtsspezialisten im
dung zu vertagen, wobei man sich auf das Verlauf der Religionsgeschichte des Islam se-
Rechtsgutachten eines ågyptischen Mufti kundåre Formen der Rechtsentwicklung aus
stçtzte, der sich permissiv zur Technik des und etablierten eine umfassende Rechtsquel-
therapeutischen Klonens geåuûert hatte. In- lenlehre, die sich aus weiteren Aspekten wie
wieweit sich charakteristische Konfliktlinien etwa Konsens-, Analogieschlussbildung und
bei islamischen Bioethikdiskussionen zum Interpretation speist. Diese Fuqaha beziehen
Lebensbeginn abzeichnen, ist also von globa- auch heutzutage Position bei bioethischen
ler Tragweite. Fragestellungen, indem sie sogenannte Fat-
was 5 erteilen. Sie spielen bei der Formulie-
rung einer medizinischen Ethik in muslimi-
Die Bedeutung der Scharia schen Staaten eine bedeutende Rolle.

Um die çberzeitlichen Normen in konkre-


Eine Schlçsselfunktion bei der Frage nach spe- ten Situationen anwenden zu kænnen, wurde
zifisch islamischen Deutungsmustern zum Be- das islamische Recht stets fallorientiert ent-
ginn menschlichen Lebens kommt zunåchst wickelt. Den Hintergrund dafçr bildet ein
dem islamischen Rechtsverståndnis und den Spannungsfeld aus der sich kontinuierlich ver-
Mæglichkeiten rechtlich-ethischer Entschei- åndernden Realitåt gegençber einem çberzeit-
dungsfindung zu. Fçr einen glåubigen Muslim lichen, praktische Umsetzung fordernden
ist die Scharia der Ort zur Bestimmung von Gotteswillen. An der Rechtsentwicklung des
religiæs-ethischen Normen des rechten Ver- sunnitischen Islam war allerdings keine zen-
haltens. Der weithin als ¹islamisches Rechtª tralisierte Institution beteiligt. Der sunnitische
çbersetzte Begriff bedeutet im eigentlichen Islam kennt weder eine mit der påpstlichen
Wortsinn ¹Wegª, im Sinne des Heilsweges zu Kurie vergleichbare Lehrautoritåt noch einen
Gott. Er geht in seiner Bedeutung weit çber
die juristische Vorstellung von Recht oder Ge- 3 Vgl. Tilman Nagel, Das islamische Recht. Eine Ein-
setz hinaus: Die Scharia verkærpert nicht das
fçhrung, Westhofen 2001, S. 4 ff.
Produkt eines fixierten Regelwerkes, sie steht 4 Der zugrunde liegende Begriff fiqh fçr ¹Einsichtª,
vielmehr fçr den dorthin fçhrenden Prozess. ¹Einblickª gibt den von den Fuqaha als ausgebildeten
Rechtsspezialisten abverlangten Erkenntnisprozess
1 Vgl. Thomas Eich/Thomas Særen Hoffmann wieder.
(Hrsg.), Kulturçbergreifende Bioethik. Zwischen glo- 5 Fatwas sind Rechtsgutachten islamischer Gelehrter,

baler Herausforderung und regionaler Perspektive, die in schriftlicher Form ihre persænliche Einschåtzung
Mçnchen 2006. in Bezug auf eine bestimmte Rechtsfrage erlåutern. Sie
2 Vgl. hierzu die Publikationen des Humanmediziners werden traditionell auf die konkrete Anfrage eines
und Islamwissenschaftlers Ilhan Ilkilic, Begegnung und Glåubigen oder Herrschers, in neuerer Zeit auch auf
Umgang mit muslimischen Patienten, Bochum 2006. Antrag einer Institution erstellt.

APuZ 26 ± 27/2007 33
Klerus. Die religiæse Autoritåt liegt in den schungsergebnisse ziehen ihre Schlçsse aus
Hånden von Schriftgelehrten, die zu einer der der Analyse von Rechtsgutachten bedeuten-
vier offiziell anerkannten Rechtsschulen des der islamischer Rechtsgelehrter sowie aus
sunnitischen Islam ± den Hanafiten, Maliki- Verlautbarungen internationaler arabischer
ten, Schafiiten oder Hanbaliten ± gehæren. Bei Organisationen. Hierzu gehæren die Islamic
der rechtlichen Handhabe von Problemen, die Organisation of Medical Sciences (IOMS)
nicht in Koran oder Sunna geregelt werden, mit Sitz in Kuwait, die Islamic Fiqh Acadamy
kænnen diese Schulen, nicht nur untereinan- in Jeddah (IFA), die der Organization of Isla-
der, sondern auch innerhalb, voneinander ab- mic Conferences angegliedert ist, sowie die
weichende Rechtsauffassungen vertreten. Islamic Fiqh Academy der islamischen Welt-
Wenn Repråsentanten des Gelehrtenstandes liga in Mekka.
daher ihrem Anspruch nach im Namen des
Islam auftreten, kænnen ihre Øuûerungen nur Diese Institutionen wurden in den 1970er/
sehr bedingt im Sinne eines paradigmatischen 1980er Jahren gegrçndet, um sich im Lichte
¹Der Islam sagtª aufgefasst werden. Die sun- der Scharia mit Neuerungen der Moderne
nitischem Rechtsdenken immanente Mei- auseinanderzusetzen und das islamische
nungsvielfalt ist eine Folge der kasuistischen Recht in Anbetracht historischer Verånderun-
Natur der Scharia, die auch innerhalb der gen weiterzuentwickeln. Sie haben zwar
Zunft der Rechtsgelehrten problematisiert keine direkte rechtliche Handhabe auf natio-
wird. Der auûen stehende Beobachter jeden- naler Ebene, dennoch kommt ihnen interna-
falls sieht sich einer enormen Vielfalt an ver- tionale Ausstrahlung zu. Ihre Verlautbarun-
schiedenen Meinungen gegençber. Bedenkt gen sind sozusagen als kollektiv autorisierte
man dazu die sprachliche Barriere, schmilzt Fatwas zu werten. Die hier von hochrangigen
von der Spitze des Eisberges dessen, was çber- islamischen Rechtsgelehrten gefçhrten Dis-
haupt interkulturell transferiert oder vermit- kussionen haben daher eine gewisse Reprå-
telt werden kann, ein weiterer Teil dahin. sentativitåt, auf die man sich beziehen kann,
sofern deutlich bleibt, dass eine Gçltigkeit
der Beschlçsse fçr die Gesamtheit der Mus-
¹Kulturçbergreifende Bioethikª lime letztlich nicht bestehen kann.

Dennoch gebçhrt ein bemerkenswertes Ver-


dienst um die Erschlieûung auûereuropå- Umgang mit ungeborenem Leben
ischer Diskussionen zum Thema Bioethik
dem von 2003 bis 2006 an der Ruhr-Univer- Eine Vielzahl bioethischer Themenkreise
sitåt Bochum tåtigen Forschungsverbund nehmen ihren Ausgang von der Frage nach
¹Kulturçbergreifende Bioethikª. 6 Unter Pro- der Schutzwçrdigkeit von ungeborenem Le-
jektleitung des Islamwissenschaftlers Thomas ben. Wann beginnt menschliches Leben? Von
Eich fçr den Bereich Orient und mit einem den verschiedenen Stellen im Koran zur Ent-
Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam ent- stehung menschlichen Lebens bildet Sure
stand hier eine Vielzahl hæchst aufschlussrei- 23,12±14 bis in heutige Bioethikdebatten hin-
cher Publikationen ± beispielsweise der in ein den zentralen Bezugspunkt in der Ausle-
Zusammenarbeit mit Thomas Særen Hoff- gungsgeschichte des sunnitischen Islam: ¹Wir
mann herausgegebene Sammelband Kultur- haben doch den Menschern aus einer Portion
çbergreifende Bioethik. Zwischen globaler Lehm geschaffen. Hierauf machten wir ihn
Herausforderung und regionaler Perspektive, zu einem Tropfen (a) in einem festen Behålter.
die Monografie Islam und Bioethik und der Hierauf schufen wir den Tropfen zu einem
von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Auf- Blutklumpen (b); diesen zu einem Fleisch-
trag gegebene Band Bioethik im christlich- klumpen (c) und diesen zu Knochen. Und wir
islamischen Dialog. 7 Die vorgelegten For- bekleideten die Knochen mit Fleisch. Hierauf
lieûen wir ihn als neues Geschæpf entste-
6 Vgl. www.ruhr-uni-bochum.de/orient/bioethik (3. hen.ª 8 Die Fuqaha der Vormoderne legten
5. 2007) liefert eine detaillierte Projektbeschreibung
sowie Listen nationaler und internationaler islamischer Helmut Reifeld (Hrsg.), Bioethik im christlich-islami-
Organisationen des Bioethik-Diskurses mit Ûber- schen Dialog, Sankt Augustin 2004.
setzungen von offiziellen Dokumenten. 8 Ûbersetzung nach T. Eich (Anm. 6), S. 26. Der hier
7 Vgl. T. Eich/T. S. Hoffmann (Anm. 1); Thomas Eich, verwendete Pluralis maiestatis steht fçr Gott als Ur-
Islam und Bioethik, Wiesbaden 2005; Thomas Eich/ heber allen Lebens.

34 APuZ 26 ± 27/2007
ihren exegetischen Fokus bei dieser Textstelle chen Lebens ab Beginn der Schwangerschaft
unisono auf die Abfolge von drei physischen plådierten, wurde auch hier nicht klar defi-
Entwicklungsstadien (a-c), die mit der Ent- niert, wann diese anzusetzen sei: ob mit der
stehung eines neuen Geschæpfes auf eine spi- Befruchtung oder mit der Einnistung der Ei-
rituale Verånderung hinauslåuft. Diese Verån- zelle (Nidation). Der Bioethik-Diskurs im
derung wird in Sure 32,6 ±9 als gættliche Be- sunnitischen Islam kann daher auf keine ethi-
seelung beschrieben. Zur Bestimmung eines sche Normbildung zurçckgreifen. Dennoch
genauen Zeitpunktes stçtzen sich die Theolo- bilden Rechtsurteile aus der vormodernen
gen auf die Sunna des Propheten, wonach die Zeit håufig die Grundlage von Argumentati-
drei Entwicklungsstufen jeweils 40 Tage um- onslinien fçr Rechtsgelehrte der Gegenwart,
fassen und im Verlauf der Rechtsauslegung ohne dass eine historische Kontextualisierung
die Lehre von der Beseelung am 120. Schwan- vorgenommen wçrde. Entsprechend vielfåltig
gerschaftstag dominierte. Infolge wider- sind die Haltungen innerhalb der islamischen
sprçchlicher Texttraditionen konnten sich Welt zu Methoden der Biomedizin; auch beru-
aber auch alternative Modelle einer Beseelung hen sie zum Teil auf einem unzureichenden
am 40. oder 42. Tag durchsetzen. Einstimmig naturwissenschaftlich-medizinischen Kennt-
ergab sich bei allen vier Rechtsschulen im nisstand. Die Einschåtzung des Lebensbe-
Verlauf der Rechtsentwicklung ein Abtrei- ginns im Rahmen von bioethischen Diskussio-
bungsverbot nach dem Beseelungszeitpunkt. nen im sunnitischen Islam ergibt insgesamt ein
Die Einschåtzungen çber den genauen Zeit- ausgesprochen diffuses Bild.
punkt wie auch çber die Handhabe davor
gehen in den einzelnen Rechtsschulen aller-
dings extrem weit auseinander. Die einzig Schutz von Familie und Abstammung
mægliche Generalisierung besteht in der Aus-
sage, dass ein Schwangerschaftsabbruch nach Das Thema kçnstliche Befruchtung ist in vie-
der Beseelung, spåtestens also ab dem 4. len islamischen Låndern von besonderer Bri-
Monat verboten ist. 9 sanz, da die kulturelle Wertschåtzung von
Eheschlieûung und Familiengrçndung groûen
sozialen Druck ausçben kann. Der soziale
Ethisch-rechtliche Meinungsvielfalt Status muslimischer Frauen, ihre Wçrde wie
auch ihr Selbstwertgefçhl stehen in engem
Es gibt im islamischen Recht also keinen ab- Bezug zu ihrer Fortpflanzungsfåhigkeit.
strakten Status des ¹Embryos an sichª. Dabei Ebenso sind das Familienideal und die Vater-
muss berçcksichtigt werden, dass die Diskus- schaft eng mit dem Wert der Månnlichkeit
sionen der klassischen Rechtsprechung der verknçpft. Im Fall von Unfruchtbarkeit ± die
Vormoderne nicht bei grundsåtzlichen mora- weltweit etwa bei zehn Prozent der Paare
lischen Fragen einsetzten, sondern jeweils bei vorkommt ± suchen die Betroffenen håufig
der praktischen Handhabe von strafrechtli- unter groûem finanziellen Aufwand medizi-
chen Fållen wie etwa Fehlgeburten infolge nische Hilfe. Dies schlågt sich nieder in
von Unfållen oder Gewaltanwendung. Ein einem Boom reproduktionsmedizinischer
Charakteristikum der Scharia ist deren kasu- Unternehmen. Allein in Øgypten gibt es
istische Funktionsweise. Es bildete sich also inzwischen mehr als vierzig Zentren, die
kein normatives Dogma fçr weitergehende sich auf Reproduktionsmedizin spezialisiert
Problemkreise etwa zur Gentechnik oder haben. In fast jedem arabischen Land des
zum Umgang mit Stammzellen aus. Nahen Ostens wird mittlerweile In-Vitro-
Fertilisationstechnologie (IVF) angeboten.
In den 1980er Jahren rçckte die Frage der Eine private IVF-Klinik in Amman, die Ge-
Beseelung bei Diskussionen çber Abtreibung schlechtsselektion an befruchteten Eizellen
und den generellen Umgang mit Embryonen durchfçhrt, zieht nicht nur zahlreiche Paare
zunehmend ins Zentrum. 10 Wenngleich viele aus dem Nahen Osten, sondern auch aus Eu-
Gelehrte fçr eine Schutzwçrdigkeit menschli- ropa an. Vor dem Hintergrund månnlich ge-
9 Vgl. Marion Holmes Katz, The Problem of Abor-
prågter Gesellschaftsstrukturen çberwiegt
tion in Classical Sunni Fiqh, in: Jonathan E. Brockopp
hier håufig der Wunsch nach der Geburt
(Hrsg), Islamic Ethics of Life. Abortion, War and Eu- eines Jungen. Wåhrend die Praxis ge-
thanasia, Columbia 2003, S. 30. schlechtsselektiver Abtreibungen von sunni-
10 Vgl. T. Eich/T. S. Hoffmann (Anm. 1), S. 166 ff. tischen Rechtsgelehrten einhellig abgelehnt

APuZ 26 ± 27/2007 35
wird, sind die Meinungen bezçglich der Be- Schafswolle, das eine Zeit lang in deren Ge-
einflussung des Geschlechts durch das IVF- bårmutter platziert wurde. 13 Sexuelle Pene-
Verfahren geteilt. tration wird in diesem Zusammenhang zwar
als die çbliche, nicht aber als die einzig mæg-
In ihrer Analyse sunnitischer Fatwas zur liche Form der Befruchtung angesehen.
Reagenzglas-Befruchtung auûerhalb der Ge-
bårmutter stellt die Islamwissenschaftlerin
Birgit Krawietz heraus, dass sich ein Verbot Kritikpunkt soziale Folgen
seitens der Rechtsgelehrten in diesem Zusam-
menhang in erster Linie gegen eine Vermi- Bestandteil der meisten Fatwas zur IVF-Me-
schung des Erbgutes von Spendern richtet, thode sind Vorsichtsappelle und genaue Vor-
die nicht durch eine rechtsgçltige Ehe mitein- aussetzungen zur Anwendung, die die Unbe-
ander verbunden sind. 11 Diese Sicht wird denklichkeit des Eingriffes bescheinigen sol-
auch in dem Beschluss zur kçnstlichen Be- len. Der Anwendung der IVF-Methode im
fruchtung von der IFA der Islamischen Welt- ehelichen Kontext scheint also nichts Prinzi-
liga in Mekka von 1984 unterstrichen. 12 Im pielles entgegenzustehen. Dennoch sind die
Umkehrschluss ist in dem Dokument zu Voraussetzungen und Folgen des Verfahrens
lesen, dass die Zusammenbringung von umstritten. Dabei beziehen sich die religions-
Samen und Eizelle zweier miteinander ver- rechtlichen Einwånde der unterschiedlichen
heirateter Eheleute prinzipiell erlaubt ist. Gelehrten vor allem auf einzelne mit der IVF-
Diese rechtliche Akzeptanz gilt allerdings Methode in Verbindung stehende Praktiken
nicht vorbehaltlos: Wegen der negativen Be- und Begleitumstånde wie etwa die Sorge um
gleiterscheinungen sollte eine kçnstliche Be- die Bewahrung sexueller Sittsamkeit. 14 Kri-
fruchtung nur dann erlaubt werden, wenn die tisch sieht man die fçr eine medizinische Un-
Anwendung unumgånglich ist und die allge- tersuchung notwendige Entblæûung der Frau
meinen Voraussetzungen erfçllt sind. Das vor einem månnlichen Arzt.
Hauptproblem besteht in potenziellen Un-
klarheiten bezçglich der genealogischen Ein- In denselben Kontext gehært die Ableh-
ordnung des gezeugten Kindes. Die wesentli- nung gegençber der Stimulation des månnli-
che Voraussetzung dafçr ist das Bestehen chen Sexualtriebes mit dem Zweck der Ge-
eines rechtlich gesicherten Ehevertrages, winnung von Samenflçssigkeit. Groûe Skep-
denn der Schutz klarer Abstammungslinien sis richtet sich auch gegen den mæglichen
(nasab: ¹Herkunftª, ¹Abstammungª) gehært Missbrauch von Antibabypillen als potenziel-
zu den fçnf unumstæûlichen Grundintentio- ler Quelle von sexuell unsittlichem Verhalten.
nen der Scharia (maqasid). Die Verwendung Eine ausfçhrliche Erærterung der medizini-
von Fremdsperma zur Befruchtung einer schen Problematik des IVF-Verfahrens findet
Frau wird daher in verschiedenen Stellung- sich in den islamrechtlichen Stellungnahmen
nahmen analog zu dem als gravierend einge- jedoch nicht ± zum Beispiel mit Blick auf die
stuften Vergehen des Ehebruches gesehen. Steigerung der Erfolgschancen durch die Im-
Allerdings ist der Geschlechtsakt aus der plantation mehrerer befruchteter Eizellen,
Sicht der Scharia ± wohlgemerkt innerhalb was fçr die Frau die Risiken einer multiplen
des ehelichen Rahmens ± nicht der einzige Schwangerschaft birgt. Eine offene Frage ist
Weg zur Zeugung eines Kindes. Dies geht aus auûerdem, welcher Umgang mit den çber-
mittelalterlichen Rechtstexten hervor, die sich schçssigen, nicht implantierten befruchteten
mit einer ¹natçrlichenª Art von kçnstlicher und dann eingefrorenen Eizellen angemessen
Befruchtung befassen: Hier findet sich die ist. In den meisten islamischen Låndern ist
Vorstellung von der Befruchtung einer Frau dies gesetzlich noch nicht geregelt.
durch ein Stçck mit Sperma getrånkter

11 Vgl. Birgit Krawietz, Die Hurma. Schariatrechtli-

cher Schutz vor Eingriffen in die kærperliche Unver- 13 Vgl. Vardit Rispler Chaim, Islamic Medical Ethics

sehrtheit nach arabischen Fatwas des zwanzigsten in the Twentieth Century, Leiden 1993, S. 21.
Jahrhunderts, Berlin 1991, S. 218. 14 Vgl. Art. ¹Ethics and Social Issuesª in: Ency-
12 Vgl. Beschlçsse der IFA in Mekka zur kçnstlichen clopedia of Islam and the Muslim World, hrsg. von
Befruchtung, çbersetzt von Malika Ajouaou und Tho- Richard L. Martin, Vol. 1 A-L, New York 2003,
mas Eich, unter www.ruhr-uni-bochum.de/kbe/ivf- S. 224 ±230. Vgl. auch B. Krawietz (Anm. 11), S. 219±
mekka.pdf (3. 5. 2007). 221.

36 APuZ 26 ± 27/2007
Reproduktives und sich in der heutigen Auseinandersetzung mit
Klontechnik fçr jedes permissive Argument
therapeutisches Klonen aber auch ein entsprechendes Gegenargu-
ment. 16 Angesichts der grundlegenden Plura-
Der arabische Begriff zur Bezeichnung der litåt der sunnitischen Rechtsfortbildung kann
Klonung 15 eines Menschen, istinsah baschari, dies nicht çberraschen. So verbindet sich der
bedeutet ¹menschliche Abschriftª oder mahnende Hinweis auf den Eingriff in die
¹menschliche Kopieª. Er macht sich somit den gættliche Schæpfungsordnung mit dem Ein-
technischen Hintergrund des Verfahrens in di- wand, dass das Klonen eine Bedrohung der
rekter Weise wærtlich zu Eigen, denn beim re- menschlichen Diversitåt sowie der Artenviel-
produktiven Klonen wird nach Entkernung falt in Flora und Fauna bedeute, die sich aus
einer Eizelle der das Erbgut enthaltende Kern Sicht des Korans als gottgewollter Zustand
einer somatischen Spenderzelle implantiert. darstellen ± ein Aspekt, der von naturwissen-
Das hierdurch entstehende Erbmaterial des schaftlicher Seite mit dem Hinweis auf die po-
Embryos ist weitgehend identisch mit den tenziell geringere Resistenz gegençber Krank-
Erbanlagen des Zellkern-Spenders. Anders als heiten durchaus gestçtzt werden kann. Den
bei einer natçrlichen Befruchtung besitzt der Warnungen vor menschlicher Kompetenz-
geklonte Embryo entweder rein ¹våterlichesª çberschreitung und Widernatçrlichkeit wie-
oder ¹mçtterlichesª Erbgut. Bei der Anwen- derum steht das Argument gegençber, dass die
dung des Klonverfahrens auf den Menschen Klontechnik nichts weiter als die Entdeckung
wåre daher die Frage nahe liegend, inwieweit einer bis dato unbekannten Fortpflanzungs-
von einer klassischen Vater- und Mutterschaft form darstelle, die sich mithin im Rahmen
çberhaupt noch die Rede sein kann. In diesem gættlicher Vorsehung bewege. Zudem werde
Punkt wird aus Perspektive der Scharia diesel- fçr das Klonen lediglich auf bereits existente
be Grundproblematik berçhrt wie auch schon Materialien zurçckgegriffen, es kænnte daher
im Fall der kçnstlichen Befruchtung: die Rein- nicht als Schæpfungsakt geltend gemacht wer-
haltung der familiåren Genealogie, denn den, der als die Schaffung von etwas gånzlich
die biologische Verwandtschaftsbeziehung des Neuem aus dem Nichts definiert werde. Ein
Klons zu seinem Erbgut-Spender wird nach weiteres Argument, das 1997 vorçbergehend
den gångigen sozialen Kategorien undefinier- aufkam, wies auf die Geburt Jesu ohne biologi-
bar ± ¹Ist der Klon der Bruder seines Zellspen- schen Vater hin (Koran 19:20±22; 21:91), wo-
ders?ª, titelt Thomas Eich am 5. Februar 2004 nach ungeschlechtliche Fortpflanzung grund-
treffend in der Frankfurter Rundschau. Vor såtzlich mæglich und die Vermischung des
diesem Hintergrund erschlieût sich die Di- Genmaterials zweier Personen nicht die einzig
mension des sozialen Bedrohungspotenzials legitime Art der Fortpflanzung sei. Dem
von kçnstlicher Befruchtung und Klontech- wurde wiederum das Argument gegençberge-
nik. Leihmçtter stellen ein Schreckensbild, stellt, dass die vaterlose Erschaffung von Jesus
Samenbanken als Risiko fçr die gesamtgesell- als ein gættliches Wunder und daher keinesfalls
schaftliche Struktur ein Horrorszenario dar, als ein Pråzedenzfall anzusehen sei. 17
denn soziale Rollen wçrden ebenso wie religi-
æs-ethische Pflichten durch die Verwischung Ein halbes Jahr nach der Geburt des inzwi-
der Abstammungslinien infrage gestellt. schen verstorbenen schottischen Klonschafes
Dolly gab die Fiqh-Academy der Organisati-
Wie bei den Diskussionen zu prånataler on of Islamic Conference (OIC) 1997 bekannt,
Diagnostik und In-Vitro-Fertilisation findet

16 Vgl. Hadi Adanali, Klonen beim Menschen. Ethi-


15 Die von dem koreanischen Stammzellforscher Woo sche Prinzipien und Zukunftsperspektiven, in: T. Eich/
Suk Hwang im Jahr 2004 beanspruchte Pionierleistung H. Reifeld (Anm. 7), S. 47.
der weltweit erstmaligen Klonung menschlicher Em- 17 Nach islamischer Auffassung gilt Jesus als einer der

bryonen ist mittlerweile zu zweifelhaftem Ruf ge- Muhammad vorausgegangenen Propheten ± die so ge-
kommen. 2005 gelang britischen Forschern die Erzeu- sehene ¹Vaterlosigkeitª kann, frei von christologischen
gung eines menschlichen Klons fçr therapeutische Implikationen, als ein rein biologisches Wunder gætt-
Zwecke. In China wurden bereits Embryonen erzeugt, licher Allmacht verstanden werden. Vgl. Thomas Eich,
indem man Kerne menschlicher Hautzellen in die Ei- The Debate on Human Cloning Among Muslim Reli-
zellen von Kaninchen implantierte. Vgl. Rick Weiss, gious Scholars, in: Heiner Roetz (Hrsg.), Cross-Cul-
Stammzellen ± die Quellen aller Heilkraft, in: National tural Issues in Bioethics. The Example of Human Clo-
Geographic Deutschland, Juli 2005, S. 89 ff. ning, Amsterdam±New York 2006, S. 290.

APuZ 26 ± 27/2007 37
dass reproduktives Klonen zu verbieten sei, da An Vielfåltigkeit und Widersprçchlichkei-
es die verwandtschaftlichen Beziehungen auf- ten stehen die islamisch gefçhrten Debatten
læse, wohingegen therapeutisches Klonen zu der Heterogenitåt westlicher Diskussionen
erlauben sei, da es der Menschheit potenziell offensichtlich in keiner Weise nach. Anders
nçtze. Dieser Argumentation folgte auch der als in den westlichen Debatten ± und dies ist
Rechtsgelehrte Ahmad at-Tayyib in einem ein wesentlicher Unterschied ± spielt im isla-
Gutachten fçr das ågyptische Justizministeri- mischen Diskurs das Argument der Men-
um, das wiederum Grundlage fçr den Vor- schenwçrde nahezu keine Rolle, was nicht
schlag Irans auf der UNO-Versammlung 2003 heiût, dass hier prinzipiell keine Vorstellung
gewesen war, die Verhandlungen um ein welt- von der Idee der Menschenwçrde oder den
weites Verbot der Klontechnik beim Men- Menschenrechten existiert. Es wird hier we-
schen zu verschieben. 18 Hierin kommt das niger vom Menschenbild ausgehend proble-
schariatrechtliche Prinzip maslaha zur Gel- matisiert als vielmehr in Bezug auf die sozia-
tung ± die Wahrung des individuellen oder ge- len Risiken. Die Argumentationen werden
sellschaftlichen Nutzens, die in den Stellung- stårker von bestehenden rechtlich-sozialen
nahmen der Rechtsgelehrten eine håufig an- Normen abgeleitet, weniger von einer An-
zutreffende Argumentationsfigur darstellt. thropologie ausgehend, wie etwa in christlich
Allerdings ist im Rahmen des so genannten dominierten Diskussionen.
¹therapeutischen Klonverfahrensª die Gewin-
nung von pluripotenten Stammzellen immer
auch an den Verbrauch eines embryonalen Modernisierungsdiskurs und
Klons geknçpft. Ein Embryo wçrde also fçr
den Zweck eines anderen Menschen benutzt,
kulturelle Identitåt
was in westlichen Diskussionen mit dem Ar-
Ebenso wie die Herausbildung der Islamic
gument der Menschenwçrde kritisiert wird.
Fiqh Akademien oder der Islamic Organisati-
Der Begriff ¹therapeutischª beinhaltet vor on of Medical Sciences im Zeichen des Mo-
diesem Hintergrund ein hæchst kontroverses dernisierungsdiskurses steht, der die arabi-
Diskussionspotenzial, da er einen fundamen- sche Welt in vielen Bereichen konfrontativ er-
talen Unterschied zum ¹reproduktiven Klo- fasst hat, spiegeln håufig auch die Argumente
nenª suggeriert. Auch im Blick auf den arabi- in bioethischen Diskussionen eine Reaktion
schen Begriff fçr ¹therapeutisches Klonenª, auf den als bedrohlich empfundenen Verwest-
istinsah al-a`da, der wærtlich ¹das Kopieren lichungsdiskurs wider. Unmittelbar deutlich
von Organenª bedeutet, existiert diese Pro- wird dies an einem theologischen Verfahren,
blematik und trågt vermutlich ihren Teil zu das unter dem Begriff tafsir ilmi, wærtlich
der håufig permissiven Haltung sunnitischer ¹wissenschaftliche Deutungª, bekannt ist und
Rechtsgelehrter und ihrem Fokus auf den ge- darauf zielt, alle Bereiche menschlichen Wis-
sellschaftlichen Nutzen bei. sens im Koran nachzuweisen. Eine Vielzahl
von Publikationen zieht Parallelen zwischen
In den vergangenen Jahren allerdings meh- Koranversen und modernen wissenschaftli-
ren sich die kritischen Stimmen hinsichtlich chen Erkenntnissen, um den Koran als gættli-
der Zerstærung von Embryonen bei der thera- chen Offenbarungstext theologisch zu bestå-
peutischen Klontechnik auch in der islami- tigen. 20 Unverkennbar liegt solchen Versu-
schen Welt. Die klare Unterscheidung zwi- chen der Harmonisierung von modernen
schen ¹pro therapeutischemª und ¹contra embryologischen Erkenntnissen mit Aussa-
reproduktivemª Klonen wird zunehmend hin- gen der islamischen Rechtstradition eine apo-
terfragt, da dem Embryo in einigen Rechtsgut- logetische Intention zugrunde.
achten bereits ab dem Zeitpunkt der Befruch-
tung Schutzwçrdigkeit zuerkannt wird. 19
20 Exemplarisch hierfçr ist das Werk ¹La Bible, le
18 Die ¹UNO-Fatwaª zum Klonen von Ahmad at- Coran et la Scienceª des franzæsischen, zum Islam
Tayyib, çbersetzt von Malika Ajouaou und Thomas çbergetretenen Mediziners Maurice Bucaille aus dem
Eich, unter: www.ruhr-uni-bochum.de/orient/bio- Jahr 1976. Anschauliche Beispiele fçr die Ûberein-
ethik/dokumente/unoklonfatwa.pdf (4. 5. 2007). bringung von Koran und moderner Wissenschaft fin-
19 Vgl. Thomas Eich, ¹Ist der Klon der Bruder seines den sich unter www.science4islam.com (4. 5. 2007)
Zellspenders?ª, in: Frankfurter Rundschau (FR) vom und www.islamicmedicine.org/embryoengtext.htm
5. 2. 2004. (5. 4. 2007).

38 APuZ 26 ± 27/2007
Einerseits bezeugt die islamische Wissen- Chancen weltweiter Regelung
schaftsgeschichte selbst eine positive, aufge-
schlossene Einstellung gegençber Natur- und Der Wertepluralismus in den Bioethikdebatten
Geisteswissenschaften. So war die Rezeption sunnitischer Rechtsgelehrter und die Verlaut-
der griechischen Wissenschaftstradition in den barungen repråsentativer islamischer Organi-
ersten Jahrhunderten des Islam Grundlage fçr sationen widersprechen dem Bild eines mono-
die Wiederbelebung der Medizingeschichte lithischen Islam. Fçr die Ausbildung von ethi-
des europåischen Mittelalters. Prominente Re- schen Normen und Richtlinien als Grundlage
pråsentanten der Medizin und Naturphiloso- von Reglements im Zuge politischer Willens-
phie des Mittelalters wie Ibn Sina (Avicenna) bildung bedeutet dies einen groûen Diskussi-
oder Ibn Ruschd (Averroes) stçtzten sich vor onsbedarf: In Fragen der Biowissenschaft bil-
allem auf die Kenntnisse von Hippokrates, den die meisten arabischen Lånder eine rechtli-
Aristoteles und Galen. Andererseits aber kolli- che Grauzone. Der enorme IVF-Boom im
dieren islamische Glaubensçberzeugungen seit Nahen Osten hat beispielsweise dazu gefçhrt,
der Moderne zunehmend mit dem såkularen dass in der gesamten Region eine immense
Charakter moderner Wissenschaften. Ilhan Il- Zahl Embryos tiefgekçhlt gelagert wird. Wåh-
kilic sieht in dieser Entwicklung zwei grundle- rend in Europa und den USA Gesetzesbestim-
gend gegensåtzliche Tendenzen am Werk. 21 mungen mit Abschreckung durch hohe Strafen
Die Mehrheit der Ansåtze der ersten Gruppe genau festlegen, wie mit gefrorenen Embryo-
betrachte moderne Naturwissenschaft wertfrei nen umzugehen ist, gibt es in den arabischen
und stelle keinen unmittelbaren Zusammen- Låndern keine staatlichen Regulierungen. Der
hang zwischen westlicher Weltanschauung Bereich reproduktiver Medizin wird in den
und Technik als Anwendung wissenschaftli- meisten arabischen Låndern lediglich von mi-
cher Erkenntnisse fest. Zur zweiten Kategorie nisterialen Direktiven gelenkt, ohne Kontrol-
hingegen gehærten Haltungen, deren Grund- linstrumente und Strafverfahren. Arabische
these die Untrennbarkeit der Wissenschaft von Mediziner weisen in diesem Zusammenhang
der Kultur sei. Methodologie, Zielsetzung und auf die Risiken hin, zu einer Art Freiluftlabor
Anwendung von Wissenschaft wçrden dem- fçr internationale Konzerne zu werden.
nach nicht unabhångig von den soziokulturel-
len Bedingungen betrachtet, unter denen sie Auch dieser Aspekt hebt die Not-
entstanden sind. wendigkeit hervor, çber die christlich-såkula-
re Perspektive hinauszugehen und sich mit
Haltungen dieser Art berçhren das Phåno-
den ethischen und rechtlichen Implikationen
men des Kulturalismus, das in bioethischen
auûereuropåischer Religionen und Weltan-
Diskussionen besonders håufig anzutreffen ist.
schauungen auseinanderzusetzen. Diese bil-
In Form der Berufung auf eine autoritativ ver-
den fçr rechtliche Entscheidungsfindungen
standene kulturelle Identitåt, die zugleich
und Gesetzgebungen auf nationaler Ebene
doch eine schwer zu fassende Græûe sein kann,
ein prågendes Fundament. Die existenzielle
werden auf diese Weise befçrwortende oder
Relevanz, die Risikotråchtigkeit und das
ablehnende Argumentationen untermauert. In
enorme wirtschaftliche Potenzial der Biowis-
vielen Fållen operieren Kultur-Argumente we-
senschaften, von denen hier nur ein geringer
niger in begrifflicher Klarheit als intuitiv oder
Anteil problematisiert wurde, bedeuten eine
sind ¹kulturspezifischeª Argumente weder ex-
groûe weltpolitische Herausforderung. Das
klusiv repråsentativ fçr einen bestimmten Kul-
çbergeordnete Ziel wird letztlich ± wenn-
turkreis noch fçr eine jahrhundertlange Konti-
gleich es sich zum jetzigen Zeitpunkt noch
nuitåt der Anschauung. Eich/Hoffmann geben
um ferne Zukunftsmusik handelt ± ein globa-
in diesem Zusammenhang zu bedenken, ob
ler Konsens in bioethischen Fragen sein. 23
nicht gerade auf dem bioethischen Feld soge-
nannte Kulturdiskurse håufig Stellvertreterdis-
kurse fçr eine offene Auseinandersetzung von
Wertungsgegensåtzen sind. 22
21 Vgl. Ilhan Ilkilic, Modernisierungs- und Verwest- 23 Vgl. Rudolf Dolzer/Matthias Herdegen/Bernhard
lichungsdiskussionen und bioethische Fragen am Bei- Vogel (Hrsg.), Biowissenschaften und ihre vælker-
spiel innerislamischer Diskurse, in: T. Eich/T. S. Hoff- rechtlichen Herausforderungen, Freiburg 2005.
mann (Anm. 1), S. 142 ff.
22 Vgl. T. Eich/T. S. Hoffmann (Anm. 1), S. 8 f.

APuZ 26 ± 27/2007 39
Kai Hafez ´ Carola Richter lambildes der Medien eine wichtige Voraus-
setzung.

Das Islambild Die folgende Untersuchung ist eine Ana-


lyse der Thematisierungsanlåsse des Islams in

von ARD und einschlågigen Magazinsendungen und Talk-


shows sowie Dokumentationen und Reporta-

ZDF
gen von ARD (Das Erste) und ZDF. Unter-
sucht wurde, in welchem thematischen Zu-
sammenhang der Islam in solchen Sendungen
in Erscheinung trat. Das Verfahren ist neutra-
ler als die håufig verwendete Stereotypenana-

D as Islambild deutscher Medien ist seit


mehr als einem Jahrzehnt Gegenstand
zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchun-
lyse, die sich nur auf vorurteilsbeladene Text-
bestandteile konzentriert. Um Verzerrungen
zu vermeiden, die durch kurz- oder mittel-
gen. 1 Der Islam hat sich dabei als eine The- fristige Groûereignisse oder durch eine Kon-
matik erwiesen, çber die erheblich negativer zentration auf einzelne Sendungen auftreten
und konfliktorientierter berichtet wird als kænnen, wurde eine groûe Anzahl von Sen-
çber viele andere Themen. Ausgelæst durch dungen çber einen långeren Zeitraum (1. Juli
die Islamische Revolution in Iran in den Jah- 2005 bis 31. Dezember 2006) untersucht.
ren 1978/79, den Aufstieg des politischen
Fundamentalismus
und massiv verstårkt
Zwischen Islamverdrossenheit und neuer
Kai Hafez Ausgewogenheit
durch die Attentate
Prof. Dr., Lehrstuhl für Kommu-
des 11. September
nikationswissenschaft/Schwer- Insgesamt wurde der Islam in den vorstehen-
2001 hat sich in vielen
punkt Vergleich von Medien- den Sendungen in 133 Sendungen und Einzel-
deutschen Medien
systemen/Kommunikations- beitrågen thematisiert. Im Ergebnis zeigt
eine Berichterstat-
kulturen an der Universität sich, dass 81 % aller Thematisierungen bei
tungskultur etabliert,
Erfurt, Nordhäuser Str. 63, ARD und ZDF negativ konnotierten Themen
die die komplexe Le-
99089 Erfurt. zugerechnet werden kænnen; lediglich 19 %
bensrealitåt von welt-
kai.hafez@uni-erfurt.de
weit etwa 1,2 Milliar-
den Muslimen ± der Dieser Beitrag ist eine erweiterte Version der Unter-
Carola Richter suchung ¹Das Gewalt- und Konfliktbild des Islams bei
zweitgræûten Religi-
M.A., geb. 1977; wissenschaftli- ARD und ZDF. Eine Untersuchung æffentlich-recht-
onsgemeinschaft der licher Magazin- und Talksendungenª, www.kommuni
che Mitarbeiterin am Lehrstuhl
Welt ± in hohem kationswissenschaft-erfurt.deª
für Kommunikationswissen-
Maûe mit Gewalt- 1 Vgl. Kai Hafez, Die politische Dimension der Aus-
schaft/Schwerpunkt Vergleich
und Konfliktthemen landsberichterstattung, Bd. 2: Das Nahost- und Islam-
von Mediensystemen/Kommuni- bild der deutschen çberregionalen Presse, Baden-Ba-
wie dem internationa-
kationskulturen an der den 2002; Verena Klemm/Karin Hærner (Hrsg.), Das
len Terrorismus in
Universität Erfurt. Schwert des ¹Expertenª. Peter Scholl-Latours ver-
Verbindung bringt. zerrtes Araber- und Islambild. Mit einem Vorwort von
carola.richter@uni-erfurt.de
Da die meisten Deut- Heinz Halm, Heidelberg 1993; Detlef Thofern, Dar-
schen wenig direkten stellungen des Islams in ¹Der Spiegelª. Eine inhalts-
Kontakt zu Muslimen oder zur islamischen analytische Untersuchung çber Themen und Bilder der
Welt pflegen, wird ihr Islambild nachhaltig Berichterstattung von 1950 bis 1989, Hamburg 1998;
von den Massenmedien geprågt. Die demo- Dirk Halm, Zur Wahrnehmung des Islams und zur so-
zio-kulturellen Teilhabe der Muslime in Deutschland,
skopische Lage des letzten Jahrzehnts zeigt
Zentrum fçr Tçrkeistudien, Essen 2006, http://
denn auch einen Trend auf, wonach ein www.bastianhofmann.de/UserFiles/File/Endbericht
Groûteil der deutschen Bçrger Angst vor %20_2.pdf (10. 1. 2007).
dem Islam hat. Dies wiederum begçnstigt ein 2 Vgl. exemplarisch Allensbacher Jahrbuch fçr De-

konfliktorientiertes Gesellschaftsklima, in moskopie 1993±1997, Bd. 10, hrsg. von Elisabeth


dem der Islam vor allem als ein Quell steter Noelle-Neumann und Renate Kæcher, Mçnchen u. a.
1997, S. 62; Zusammenleben von Christen und Musli-
Probleme und Gefahren in der Auûen- und men schwierig (Forsa-Umfrage), in: NRZ-online/dpa
Innenpolitik betrachtet wird. 2 Fçr die Auf- vom 27. 9. 2006; Angst vor dem Islam. Die Ein-
rechterhaltung des Gesellschaftsfriedens ist stellungen der Deutschen zum Islam (Allensbach-
also die Reflexion und Diskussion des Is- Umfrage), http://www.SWR.de (9. 1. 2007).

40 APuZ 26 ± 27/2007
ger als ein Fçnftel aller Thematisierungsan-
Thematisierung „Islam“ in Magazin - und Talksendungen
sowie Dokumentationen/Reportagen bei ARD und ZDF 2005/06 låsse dar.
Kultur/Religion
11 % (14) Islamthemen werden im æffentlich-rechtli-
Alltag/Soziales
Terrorismus/ chen Fernsehen wellenartig und motiviert
Extremismus
8 % (11)
23 % (31 Beiträge) durch aktuelle Ereignisse aufgegriffen. Im
Menschenrechtsverl./ Untersuchungszeitraum waren die wichtigs-
Demokratiedefizite
4 % (5)
ten Ereignisse: Juli 2005 ± Anschlåge in Lon-
don, Januar 2006 ± Integrationsdebatte (Ein-
Integrations-
probleme internat. Konflikte bçrgerungstest), Februar 2006 ± Karikatu-
16 % (21) 17 % (22) renstreit, August 2006 ± Kofferbomber in
religiöse Intoleranz
Frauen/Unter-
10 % (13) Deutschland, September 2006 ± Absetzung
drückung/Emanzipation
4 % (6)
Fundamentalismus/ der Idomeneo-Oper in Berlin, Islamkonfe-
Islamisierung
7 % (10) renz und Papstrede in Regensburg, Novem-
ber/Dezember 2006 ± Papstbesuch in der
Angaben in Prozent (gerundet), in Klammern Anzahl der Beitrå- Tçrkei.
ge; Daten vom 1. 7. 2005 bis 31. 12. 2006.
Gesamtzahl der relevanten Sendungen bzw. Beitråge: n=133. Die Ereignisse læsen dabei hauptsåchlich
Quelle: Eigene Darstellung.
Diskurse aus, die mit dem Sicherheitsbedçrf-
nis des Westens zusammenhången. Themen
repråsentieren ein neutrales oder positives des Bereichs Sicherheit und Gewalt werden
Themenspektrum. Themen im Bereich Terro- mit Titeln wie ¹Gefåhrliche Islamistenª,
rismus/Extremismus sind fçr deutsche Maga- ¹Hassprediger in Deutschlandª, ¹Terroristen
zin- und Talksendungen sowie Dokumenta- als Nachbarnª, ¹Nachwuchs fçr die Parallel-
tionen/Reportagen das attraktivste und gesellschaftª vor allem in den Magazinsen-
bedeutsamste Thema in der Auseinanderset- dungen (Frontal21, Kontraste, Monitor,
zung mit dem Islam. In den letzten andert- Panorama, Report etc.) bedient, da diese be-
halb Jahren hat sich etwa ein Viertel der Is- sonderen Wert auf Enthçllungsjournalismus
lambeitråge (23 %) mit diesem Themenfeld legen. In den Talkshows (Sabine Christiansen,
beschåftigt. Auffålliger noch als dieser Be- Menschen bei Maischberger, Johannes B.
fund ist die Tatsache, dass auch die restliche Kerner, Beckmann, Presseclub etc.) findet das
Islamagenda ganz çberwiegend von konflikt- Thema Islam erst dann Einzug, wenn es im
orientierten Themen beherrscht wird, die hier aktuellen Nachrichtenfluss bedeutsam wird.
unter folgenden Themenkategorien zusam- Dabei ist auffållig, dass das Thema im Gegen-
mengefasst wurden: internationale Konflikte satz zu den Magazinen, die auf ganz spezifi-
(17 %), Integrationsprobleme (16 %), reli- sche Fålle fokussieren, hier durchweg breit
giæse Intoleranz (10 %), Fundamentalismus/ und ohne konkrete Fragestellung aufgegriffen
Islamisierung (7 %), Frauen/Unterdrçckung/ wird (¹Brauchen wir mehr Intoleranz?ª,
Emanzipation (4 %) und Menschenrechtsver- ¹Noch eine Chance fçr friedliches Miteinan-
letzungen/Demokratiedefizite (4 %). In die- der?ª, ¹Weltproblem Radikalismus. Das
sen Themenfeldern enthalten sind gewaltfreie Drama der Bevælkerungsexplosionª, ¹Rente,
wie auch gewaltfærmige Konflikte wie der Li- Jobs und Glaubensfragen. Krisenherde vor
banonkrieg oder der Karikaturenstreit (Kate- den Landtagswahlenª). Die ad-hoc-Themati-
gorie internationale Konflikte), die Verfol- sierung und der Zwang zur schnellen Aus-
gung von Christen im Nahen Osten (Kat. re- wahl von passenden Talkgåsten scheint aber
ligiæse Intoleranz), Ehrenmorde und auch dazu zu verleiten, eine ganze Bandbreite
Vergewaltigungen von Frauen (Kat. Frauen/ an national und international aufgetretenen
Unterdrçckung/Emanzipation), Widerstånde Problemen zu diskutieren, die wenig mitein-
gegen Moscheebauten, Asylprobleme oder ander und oftmals nur marginal etwas mit
Integrationswiderstånde junger Tçrken (Kat. dem Islam zu tun haben (¹Atombomben und
Integrationsprobleme). Neutrale oder auch Karikaturenª).
positive Themen, in denen nicht Gewalt und
Gesellschaftskonflikte, sondern regulåre Ge- Die meisten Themen mit Islambezug fin-
sellschaftsablåufe (Kat. Alltag/Soziales 8 %) den sich nach wie vor in den Auslandsma-
bzw. Fragen der Kultur und der Religion gazinen der Sender (Weltspiegel, Auslands-
(11 %) im Vordergrund stehen, stellen weni- journal, Europamagazin). Dort existieren

APuZ 26 ± 27/2007 41
zwei unterschiedliche Szenarien mit Blick Tabelle: Anzahl der Thematisierungen per Sendung/
auf den Islam. Der Islam wird als subtile Negativismus
Bedrohung in Form eines Lageberichts aus
Sendungen Anzahl davon
Kriegsgebieten aufbereitet (¹In der Hæhle Thematisierungen negativ konno-
des Læwen ± Treffen der Terror-Fçrstenª, tierte Themen
¹Afghanistan ± Werbefeldzug der Talibanª, ARD
¹Terrorschmiede oder Elite-Uni? Die Islam-
Beckmann 1 0
schule im indischen Deobandª) bzw. in Be-
Bericht aus Berlin 1 1
richten çber die Intoleranz von Muslimen
gegençber Nichtmuslimen (¹Øgypten ± Mos- Dokumentationen 10 5
und Reportagen
lems als Menschenfångerª, ¹Zwischen den
Stçhlen ± Die jçdische Minderheit im Iranª, Druckfrisch 3 0
¹Zwangskonvertierung und Zwangsheirat ± Europamagazin 7 7
Die Diskriminierung koptischer Christen in Fakt 1 1
Øgyptenª). Oder aber der Islam wird durch Kontraste 2 2
Reportagen çber einzelne Menschen aufge- Kulturweltspiegel 4 4
griffen und personalisiert (¹Wahlkampf mit Menschen bei 3 3
Schleier ± Eine Frau kandidiert fçr die Maischberger
Hamasª, ¹Lust-Ehe auf Zeit ± Prostitution Monitor 3 3
im Iranª, ¹Imam mit Ballgefçhl ± Ein tçr- Neuneinhalb 1 0
kischer Geistlicher und sein Fuûballteamª,
Panorama 2 2
¹Spaû am Spiel ± Die weiblichen Fuûball-
Plusminus 1 1
fans im Iranª, ¹Marokko ± Frauen lehren
den Koranª). Presseclub 2 2
Ratgeber Reise 1 0
Vergleicht man die Anzahl der Thematisie- Report Mainz 5 5
rungen des Islam mit der Zahl derjenigen Be- Report Mçnchen 4 4
richte, die dem negativen Themenspektrum Sabine Christiansen 4 4
entspringen (folgende Kategorien lassen sich Titel Thesen 5 3
dem negativen Themenspektrum zuordnen: Temperamente
Terrorismus/Extremismus; internationale Kon- Weltreisen 1 0
flikte; religiæse Intoleranz; Fundamentalismus/
Weltspiegel 16 14
Islamisierung; Frauen/Unterdrçckung/Eman-
Wort zum Sonntag 4 4
zipation; Integrationsprobleme; Menschen-
rechtsverletzungen/Demokratiedefizite), so Livebericht- 1 1
erstattung
zeigt sich, dass die ARD wegen der græûeren
Anzahl relevanter Sendungen den Islam zwar
Sendungen Anzahl davon
æfter thematisiert als das ZDF, dass bei beiden Thematisierungen negativ konno-
Sendern die Negativagenda des Islam aber tierte Themen
einen åhnlich groûen Anteil hat (siehe Ta- ZDF
belle).
Aspekte 8 6
Auslandsjournal 15 10
Bei kritischer Betrachtung der einzelnen
Genres und Sendungen beståtigt sich, dass Berlin direkt 2 2
insbesondere die allgemeinen politischen Ma- Berlin Mitte 2 2
gazin- und die Talksendungen nahezu aus- Dokumentationen 1 0
schlieûlich çber Negativthemen berichten. Frontal21 7 7
J. B. Kerner 2 2
Der mægliche Einwand, gerade Magazin- Lånderspiegel 1 1
sendungen mçssten sich per definitionem
ML Mona Lisa 7 6
zwangslåufig auf Negativaspekte konzentrie-
Nachtstudio 1 1
ren, resultiert zwar aus der gångigen journa-
listischen Praxis, ist aber nicht begrçndet. Ein Philosophisches 1 1
Quartett
Verståndnis, das die politische Nachricht aus-
schlieûlich als negative Abweichung von der ZDF Reportage 2 2
Realitåt definiert, wird in der Medienwissen- ZDF Expeditionen 2 2

42 APuZ 26 ± 27/2007
schaft seit Jahrzehnten immer wieder allge- kulturellen Ausprågungen findet im Grunde
mein kritisiert. 3 Darçber hinaus ist die ¹Isla- nicht statt. Eine starke Personalisierung und
misierungª politischer Sachverhalte in den Konzentration auf kulturelle ¹Dissidentenª
Magazinsendungen auffållig und problema- (z. B. Orhan Pamuk, Ayaan Hirsi Ali, Akbar
tisch. Diese Thematisierungsentscheidung Ganji) ersetzt einen kulturellen Feature-Jour-
durch die Redaktionen fçhrt zum Aufbau nalismus vor Ort, fçr den die Redaktionen
und Verfestigung eines kulturalistischen unter Umstånden keine Mittel haben.
Weltbildes. Es bleibt beispielsweise fraglich,
warum das Europamagazin ausgerechnet Bei den Auslandsmagazinen zeigt sich deut-
¹den Islamª immer wieder im Zusammen- lich, dass die Sendungen sehr unterschiedliche
hang mit der Tçrkei thematisiert, obgleich Redaktionspolitiken verfolgen. Wåhrend die
dies ein Randthema der EU-Integration der ARD-Sendung Weltspiegel fast ausschlieûlich
Tçrkei ist. eine Negativagenda verfolgt, bemçht sich das
Auslandsjournal des ZDF sichtbar um eine in-
Diese Kulturalisierung politischer Themen terne Differenzierung der Agenda und setzte
und die Fokussierung auf Negativaspekte in im Untersuchungszeitraum in die çbliche
der Berichterstattung çber Muslime birgt Konfliktagenda Themen wie: weibliche Fuû-
ohne jeden Zweifel die Gefahr, eine sehr ein- ballfans in Iran; erster Muslim im amerikani-
seitige æffentliche Debatte und ± in Analogie schen Kongress oder Aufklårungsshows in
zur viel besprochenen ¹Politikverdrossen- Øgypten. Dies ist insofern ungewæhnlich, als
heitª ± eine Art ¹Islamverdrossenheitª beim eine vorherige Untersuchung der Sendung
Publikum zu erzeugen. Weltspiegel in der allgemeinen Auslandsbe-
richterstattung zwar einen stårkeren Hang zu
Unterschiedliche Magazinformate haben Negativismus als dem Auslandsjournal zu-
zudem unterschiedliche Nachrichtenwerte, wies, allerdings auch eine stårkere Tendenz zu
und gerade bei Kulturmagazinen kann ein Erfolgsberichten, insgesamt also einen stårker
¹Zwang zur Negativthematisierungª sicher polarisierenden Berichterstattungsstil. 4 Of-
nicht geltend gemacht werden. Kulturmaga- fensichtlich aber sieht die Weltspiegel-Redak-
zine håtten im Prinzip græûere Berichterstat- tion bei der Islam-Thematik kaum Mæglich-
tungsspielråume, da ihre Interessen sich auf keiten zur neutralen oder positiven Darstel-
langfristige kulturelle Prozesse beziehen lung. Beitråge des Europamagazins zum
kænnten ± aber die Untersuchungsergebnisse Thema Islam fokussierten im Untersuchungs-
zeigen etwas anderes: Wåhrend eine kleinere zeitraum ausschlieûlich auf Integrationspro-
Bçchersendung wie Druckfrisch (ARD) eige- bleme von Muslimen in diversen europåischen
ne Wege geht und sich auf allgemeine kultu- Låndern oder thematisierten eine fortschrei-
relle Werke konzentriert, reproduzieren die tende Islamisierung in der Tçrkei.
groûen Magazinsendungen wie Kulturwelt-
spiegel, Titel Thesen Temperamente (ARD) In der Frauensendung ML Mona Lisa
sowie Aspekte und das Philosophische Quar- (ZDF) treten Musliminnen dann thematisch
tett (ZDF) im Wesentlichen die negative in Erscheinung, wenn sie entweder Opfer
Agenda des politischen Journalismus. Inte- månnlicher Unterdrçckung sind oder aber als
grationsprobleme oder der vorgebliche radikale Islamistinnen auftreten. Im vorlie-
¹Kampf der Kulturenª zwischen dem Islam genden Sample, das auf Beitråge fokussiert,
und dem Westen werden hier aus der Per- die explizit ¹Islamª oder ¹Muslimeª themati-
spektive des Kunst- und Literaturbetriebs du- sieren, sind keine Beitråge enthalten, die
pliziert ± eine eigenståndige Themenfindung Musliminnen unabhångig von ihrer Religion
im groûen Spektrum der zeitgenæssischen pråsentieren (Frauen ohne Kopftuch etc.).
orientalischen Kultur mit ihren zahlreichen Fçr die hier untersuchten Beitråge aber gilt,
Buchmessen, Filmfestspielen und religiæs- dass weder eigenståndige traditionelle Musli-
minnen noch moderate so genannte ¹neue
Musliminnenª im Fokus des Interesses ste-
3 Vgl. Viele Stimmen ± eine Welt: Kommunikation
hen.
und Gesellschaft heute und morgen. Bericht der inter-
nationalen Kommission zum Studium der Kom-
munikationsprobleme unter dem Vorsitz von Sean 4 Vgl. Sylvia Breckl, Auslandsberichterstattung im

MacBride an die UNESCO, Konstanz 1981 (engl. deutschen Fernsehen. Die Dritte Welt in Weltspiegel
Original 1980). und auslandsjournal, Berlin 2006, S. 108 ff.

APuZ 26 ± 27/2007 43
Die Kirchensendung Wort zum Sonntag wissenschaftliche Theorie des Agendasetting
positioniert sich gegençber dem Islam erst behauptet zwar nicht, dass Massenmedien die
dann, wenn der Islam auf der negativen The- Meinung von Rezipienten bis ins Letzte be-
menagenda der Medien steht ± vor allem im einflussen kænnen. Sie geht aber davon aus,
Karikaturenkonflikt war dies der Fall. dass nicht ¹Ereignisseª an sich die Medienbe-
Darçber hinaus ist der Islam kaum Gegen- richte prågen, sondern die Thematisierungs-
stand eines interreligiæsen Dialogs. entscheidungen der Medien, die aus der Viel-
zahl der Weltereignisse nur einige wenige her-
Einen Lichtblick stellen die Dokumentatio- ausgreifen. Die von Medien ¹gesetztenª
nen und Reportagen dar (16 Beitråge inkl. Themen beeinflussen, worçber Menschen
ZDF Expeditionen und Weltreisen, vgl. die nachdenken. 5 Bei dem stark an Konflikt- und
Tabelle). Immerhin sieben Sendungen dieser Gewaltthemen orientierten Islambild der Ma-
Kategorie (44 %) haben kein negatives gazin- und Talksendungen sowie Dokumen-
Thema als Aufhånger, sondern bringen u. a. tationen und Reportagen der æffentlich-
Berichte çber muslimische Beerdigungen, rechtlichen Medien ist daher nicht anzuneh-
christlich-muslimische Hochzeiten oder mo- men, dass diese ein anderes als ein von Angst
derne Stadtportråts çber Istanbul und Kairo. und Unbehagen geprågtes Bild begçnstigen.
In diesem Bereich ist eine neue Ausgewogen-
heit festzustellen, der man Vorbildcharakter Die Untersuchung beansprucht ebenfalls
auch fçr andere Sendungen attestieren nicht, Aussagen çber das gesamte Programm
kænnte. von ARD und ZDF treffen zu kænnen, denn
die Magazin- und Talksendungen sowie Do-
In der Gesamtschau låsst sich sagen, dass kumentationen und Reportagen sind nur ein
sich die Darstellung des Islam in den Maga- Teil des Programms. Keinesfalls wird bestrit-
zin- und Talksendungen sowie Dokumenta- ten, dass es Nischen gibt, die eine ganz andere
tionen und Reportagen des æffentlich-rechtli- thematische Struktur aufweisen kænnten. Al-
chen Fernsehens zu çber 80 % an einem Bild lerdings sind diese Sendeplåtze zumeist in
orientiert, in dem diese Religion als Gefahr den reichweitenschwåcheren dritten regiona-
und Problem in Politik und Gesellschaft in len Fernsehprogrammen oder in den regiona-
Erscheinung tritt. Das Islambild dieser For- len Radioprogrammen der ARD angelegt. In
mate bei ARD und ZDF ist ein zugespitztes den ebenfalls nicht untersuchten Nachrich-
Gewalt- und Konfliktbild, das den Eindruck ten- und Sondersendungen von ARD/ZDF
vermittelt, dass der Islam weniger eine Reli- ist ein noch stårkerer Akzent auf Themen wie
gion als vielmehr eine politische Ideologie Terrorismus und internationale Konflikte zu
und einen gesellschaftlichen Wertekodex dar- erwarten.
stellt, die mit den Moralvorstellungen des
Westens kollidieren. Antizyklisch berichten
ARD und ZDF lediglich in einigen Auslands- Das Islambild bei ARD und ZDF ±
magazinen und in Dokumentationen und Re-
portagen. Der Nachrichtenfaktor ¹Konfliktª
noch kein Vorbildcharakter
dominiert ganz eindeutig, d. h. Themen wer-
Die Untersuchung der Themen, in deren
den begçnstigt, die ein konflikthaftes, in wei-
Kontext der Islam in den Magazin- und Talk-
ten Teilen sogar ein offen gewaltsames Ge-
sendungen von ARD/ZDF im Zeitraum
schehen beinhalten.
2005/2006 in Erscheinung trat, låsst die
Schlussfolgerung zu, dass der Islam ein we-
Die vorliegende Analyse sagt nichts
sentlicher, durch viele Anlåsse geprågter Be-
darçber aus, wie die Islam-Themen bearbeitet
standteil der Medienagenda ist. Der Islam ist
wurden. Es scheint durchaus Tendenzen zu
also kein Minderheitentopos, dem durch ein
geben, zunehmend muslimische Stimmen zu
advokatives Journalistenverståndnis mehr
Wort kommen zu lassen. Offene Stereotype
Aufmerksamkeit verschafft werden mçsste.
werden immer mehr vermieden. Die Unter-
Ganz im Gegenteil. Im Vergleich zu anderen
suchung zeigt aber, dass der Islam in einem
Religionen erhålt der Islam sehr viel Auf-
thematischen Rahmen auftritt, der ein hohes
Potenzial besitzt, das Islambild des Fernseh- 5 Vgl. Patrick Ræssler, Agenda-Setting. Theoretische
zuschauers zu prågen. Die heute als Main- Annahmen und empirischer Evidenzen einer Medien-
stream-Ansatz anerkannte kommunikations- wirkungshypothese, Opladen 1997.

44 APuZ 26 ± 27/2007
merksamkeit, bis zu einem Punkt, an dem vor richtet, sondern die vorhandenen medialen
einer çbertriebenen Islam-Fokussierung der Råume so pluralistisch konzipiert, dass alle
Medienagenda gewarnt werden muss. Viele Bereiche des muslimischen Lebens einge-
der erærterten Probleme gerade im Bereich schlossen werden. Erforderlich sind ein neuer
der strukturellen Gewalt in Familien und ge- Pluralismus und eine neue Ausgewogenheit
gençber Frauen haben ihre Ursachen nur zu des Fernsehens, das neben notwendiger Be-
einem Teil in Doktrinen und Institutionen richte çber Konflikte einen angemessenen po-
des Islam und sind oft in weitaus ålteren, pa- litischen, sozialen und kulturellen Ûberblick
triarchalischen und komplexeren Gesell- çber das Thema Islam bieten sollte. Die be-
schaftspraktiken begrçndet. Auch der Terro- reits vorhandenen etwa 20 % antizyklischer
rismus im Nahen Osten ist ålter als der orga- Berichterstattung çber Soziales, Religion und
nisierte Islamismus. Ein an Aufklårung Kultur sind ein guter Anfang, sie weisen auf
orientierter Journalismus sollte sich bemç- ein vorhandenes journalistisches Potenzial
hen, diese komplexen Hintergrçnde zu ver- hin und sollten gegençber den viel zu zahlrei-
stehen, statt einseitig ¹den Islamª mit seinen chen Gewalt- und Konfliktsendungen ausge-
ohnehin mannigfachigen und widersprçchli- baut werden.
chen Deutungen ins Zentrum der æffentlichen
Aufmerksamkeit zu rçcken. Es ist kein Widerspruch, einerseits zu for-
dern, dass ARD und ZDF weniger konflikt-
Es gibt sicher keine Generalformel zur Ab- orientiert berichten sollten, und andererseits
bildung von Realitåt in den Medien, und es anzumerken, dass bestimmte Gewalterschei-
trifft zu, dass sich die islamische Welt heute nungen in den Magazin- und Talksendungen
in weiten Teilen in einer politischen und ge- sowie Dokumentationen und Reportagen von
sellschaftlichen Krise befindet, die zahlreiche ARD und ZDF fehlen und kaum thematisiert
Gewaltphånomene aufweist. Richtig ist auch, werden. Die etablierten Themen wie islamis-
dass gesellschaftliche Konflikte, die sich um tischer Terrorismus, religiæse Intoleranz und
Integrations- und Wertefragen ranken, auch Gewalt gegen Frauen sind Formen der Ge-
in den Medien ausgetragen werden mçssen, walt, die in Deutschland auf groûes Interesse
da der æffentliche Raum diejenige Sphåre ist, stoûen. Die vergleichende Konfliktforschung
in der ein læsungsorientiertes Handeln vorbe- aber geht beispielsweise davon aus, dass die
reitet werden muss. Im Einklang mit den gro- Hauptursache politischer Gewalt in der isla-
ûen internationalen Studien zur Berichterstat- mischen Welt nicht der Terrorismus ist, son-
tung çber andere Kulturen und Lånder kann dern der autoritåre Staat, gegen den unter an-
aber gesagt werden, dass das Hauptproblem derem Islamisten opponieren. 6 Berichte çber
der Islamberichterstattung von ARD/ZDF Menschenrechtsverletzungen und Gewalt au-
nicht so sehr die Darstellung von Konflikten toritårer islamischer Staaten (Saudi-Arabien
an sich ist, sondern die extrem hohe Konzen- u. a.) tauchen jedoch in der Regel allenfalls in
tration auf dieses Themenspektrum. Nicht Spezialmagazinen der Auslandsberichterstat-
die Darstellung des Negativen ist das Pro- tung auf. Fragen von Menschenrechten und
blem, sondern die Ausblendung des Norma- Demokratie haben mit 4 % eine untergeord-
len, des Alltåglichen und des Positiven. Es nete Rolle gegençber der Beachtung des Ter-
entsteht der Eindruck, als lieûen sich ARD/ rorismus/Extremismus mit 23 %. Bei ARD/
ZDF ungeachtet vieler offizieller Bekundun- ZDF entsteht eine Schieflage des Islambildes
gen des Gegenteils von einem simplifizierten insofern, als vor allem im Westen und fçr den
Bild des ¹Kampfes der Kulturenª zwischen Westen relevante Gewalt erærtert wird. Von
dem Islam und dem Westen leiten, das unge- den Problemen in der islamischen Welt er-
achtet seiner groûen Popularitåt fast keine fåhrt der Rezipient auf diese Weise kaum
Unterstçtzer in der Wissenschaft findet. Vor etwas. Globales Orientierungswissen bleibt
allem der Themenhaushalt der Magazin- und von untergeordneter Relevanz, und der Euro-
Talksendungen sowie Dokumentationen und
Reportagen von ARD/ZDF benætigt im Hin-
6 Vgl. Thomas Scheffler, West-eastern cultures of fear:
blick auf den Islam dringend eine Revision.
Violence and terrorism in Islam, in: Kai Hafez (Ed.),
Es bedarf keiner an vorgefertigten Kulturmo-
The Islamic World and the West, Leiden u. a. 2000,
dellen orientierten Nachrichtenroutine, son- S. 70 ±85; Jochen Hippler, Krieg, Repression, Terroris-
dern eines lebendigen und dynamischen Jour- mus. Politische Gewalt und Zivilisation in westlichen
nalismus, der nicht mehr çber den Islam be- und islamischen Gesellschaften, Stuttgart 2006.

APuZ 26 ± 27/2007 45
zentrismus der Islamagenda ist unverkennbar. und ZDF sind innerjournalistische Mei-
Dabei sind die Opfer von Gewalttaten mit nungsfçhrer, d. h. ihre Medienagenda beein-
Bezug zum Islam immer noch in der islami- flusst die Arbeit anderer Sender und Medien.
schen Welt selbst zu suchen. Auf Grund dieser hervorragenden gesell-
schaftlichen Wirkungspotenziale ist es umso
ARD und ZDF definieren sich selbst als dringlicher, dass eine Auseinandersetzung
Vorbildmedien hinsichtlich der Berichterstat- çber neue Eckwerte der Islamberichterstat-
tung çber Fragen des kulturellen Zusammen- tung von ARD und ZDF stattfindet. Von
lebens. Erst jçngst waren WDR und ZDF einer Revision der Islamberichterstattung bei
Gastgeber einer groûen europåischen Konfe- den æffentlich-rechtlichen Fernsehsendern
renz zum Thema Medien und multikulturelle dçrften erhebliche gesellschaftliche Impulse
Gesellschaft. 7 Zwar kann die vorliegende ausgehen.
Untersuchung keine generellen Aussagen
çber das Erreichen medienpolitischer Zielset- Angesichts der Tatsache, dass die internen
zungen treffen. Zumindest im Bereich der Is- Aufsichtsstrukturen durch Integrationsbeirå-
lamberichterstattung bleibt allerdings frag- te etc. nicht haben verhindern kænnen, dass
lich, ob der Programmauftrag durch die der- das Islambild der æffentlich-rechtlichen An-
zeitige Praxis der Berichterstattung wirklich stalten erhebliche Schieflagen aufweist, sind
erfçllt wird. Statt einen neutralen Informati- jçngst geåuûerte Anregungen etwa des SWR-
onsansatz zu verfolgen, ist die sehr einseitige Intendanten Peter Voû oder der Integrations-
thematische Auswahl in den Magazin- und beauftragten der Bundesregierung Maria
Talksendungen sowie Dokumentationen und Bæhmer, Muslime kçnftig in die Aufsichts-
Reportagen von ARD und ZDF dazu geeig- gremien von ARD und ZDF berufen zu wol-
net, eine in weiten Teilen der deutschen len, wichtige Diskussionsbeitråge. 8 Es muss
Bevælkerung bereits vorhandene Vorurteils- davon ausgegangen werden, dass eine Reprå-
bereitschaft gegençber dem Islam und die sentanz der Muslime als gesellschaftliche
demoskopisch messbare ¹Islamangstª in Gruppe in æffentlich-rechtlichen Gremien
Deutschland weiter zu steigern. An populå- eine wichtige Korrekturfunktion bei der Pro-
ren Themen orientiertes Infotainment ist aber grammplanung und -aufsicht çbernehmen
kein Ersatz fçr einen qualitativ hochwertigen kænnte. Dabei wird allerdings darauf zu ach-
Journalismus. Auch einige positive Gegenbei- ten sein, dass eine Form der personellen Ro-
spiele einzelner Sendungen oder der multi- tation gefunden wird, die eine Usurpation
kulturellen Nischenprogramme der regiona- dieser Positionen durch einzelne islamische
len Tochtersender der ARD kænnen nicht Organisationen unmæglich macht. Die beson-
entkråften, dass die reichweitenstarken Maga- dere Organisationsstruktur des Islam, der
zinsendungen des Hauptprogramms von keine Groûkirchen kennt, macht eine einfa-
ARD und ZDF und damit die thematische che Kopie der Rundfunkbeauftragten christli-
Grundstruktur der çberregionalen æffentlich- cher Kirchen in Verwaltungs- und Rundfunk-
rechtlichen Sender islamophob sind. råten von ARD/ZDF unmæglich und erfor-
dert neue Formen der Konsultation.
Die Rezeption der Berichterstattung zu
den Anschlågen des 11. September 2001 hat
deutlich gemacht, dass das æffentlich-recht-
liche Fernsehen in Deutschland ein erhebli-
ches Ansehen genieût. Gerade in akuten ge-
sellschaftlichen Krisensituationen vertrauen
viele Rezipienten ± auch diejenigen, die sonst
privaten Sendern zuneigen ± den æffentlich-
rechtlichen Anstalten und insbesondere ihren
bundesweiten Programmangeboten. ARD

8 Bisher in ZDF und ARD keine Muslime/Intendant


7 Vgl. Migration und Integration ± Europas groûe Peter Voû, Der Islam gehære ins Programm und in
Herausforderung. Welche Rolle spielen die Medien, Verwaltungs- und Rundfunkrat, http://islam.de/
Konferenz in Essen, 23. ± 24. November 2006, http:// 7296.php (15. 11. 2006).
www.integration-media.eu/de/programm_inhalte.php
(7. 1. 2007).

46 APuZ 26 ± 27/2007
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Hauptschulen und Gewalt ± Deutschlandweite Schçlerbefragungen in Aus Politik und Zeitgeschichte
stellen keine Meinungsåuûerung
Aribert Heyder ´ Anna Kaczmarek der Herausgeberin dar; sie dienen
Auswirkungen von Bildung auf gesellschaftliches Miteinander der Unterrichtung und Urteilsbildung.

Ben Bachmair Fçr Unterrichtszwecke dçrfen


Migrantenkinder, ihr Leserisiko und ihre Mediennutzung Kopien in Klassensatzstårke herge-
stellt werden.
Christina Anger ´ Axel Plçnnecke ´ Susanne Seyda
Bildungsarmut ± Auswirkungen, Ursachen, Maûnahmen ISSN 0479-611 X
Islam APuZ 26 ± 27/2007

Karl-Heinz Ohlig
3-10 Zur Entstehung und Frçhgeschichte des Islam
Die muslimische Tradition und die Islamwissenschaft gehen davon aus, dass der
Islam von dem Propheten Mohammed auf der Arabischen Halbinsel begrçndet
wurde und danach im Gefolge dynamischer Expansionen Groûreiche schuf.
Neueste Forschungen legen eine gånzlich andere Entstehungsgeschichte nahe.

Anna Akasoy
10-17 Glaube und Vernunft im Islam
Die Rolle der Vernunft in der islamischen Religion ist ein komplexes Problem.
Vor dem Hintergrund der einzelnen Traditionen zeigt sich, welche unterschiedli-
chen Aufgaben und Grenzen der Vernunft zugeschrieben wurden und in wel-
chem Verhåltnis sie zu Glaube und Offenbarung steht.

Muqtedar Khan
17-24 Demokratie und islamische Staatlichkeit
Die arabische Welt weist nach wie vor ein enormes Demokratiedefizit auf. Einige
westliche Kommentatoren sind daran interessiert, die Vereinbarkeit von Islam
und Demokratie zu verneinen. In diesem Beitrag wird die Position vertreten,
dass der Islam kein Hindernis fçr Demokratie, Gerechtigkeit und Toleranz ist.

Nina Clara Tiesler


24-32 Europåisierung des Islam und Islamisierung der Debatten
Erst Jahrzehnte nach der Ankunft der ersten Einwanderer aus islamischen Ge-
sellschaften wurden Muslime in Europa als sozialpolitisch relevante Græûe wahr-
genommen. Wåhrend muslimische Diskurse europåische Realitåten in den Blick
nehmen, kommt es in Europa zu einer Islamisierung æffentlicher Debatten.

Danja Bergmann
32-39 Bioethik und die Scharia
Reproduktionsmedizinische Verfahren werden auch in der islamischen Welt kon-
trovers diskutiert. Die Meinungsvielfalt sunnitischer Rechtsgelehrter resultiert
aus der besonderen Eigenart der Scharia, die weniger das Produkt eines fixierten
Korpus von Regeln als vielmehr den dorthin fçhrenden Prozess repråsentiert.

Kai Hafez ´ Carola Richter


40-46 Das Islambild von ARD und ZDF
Eine aktuelle Analyse der Themenstruktur von ARD und ZDF ergab, dass der
Islam in den Magazinsendungen und Talkshows sowie Dokumentationen und
Reportagen des æffentlich-rechtlichen Fernsehens hauptsåchlich im Zusammen-
hang mit Gewalt- und Konfliktthemen vorkommt.

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