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I. Klassiker vor der Klassik.

Signaturen der Schiller’schen Ästhetik


I. Klassiker vor der Klassik
„An ihren Metaphern sollt ihr sie erkennen!“
(Gottfried Benn)1

1. Klassizität und ästhetisches Provisorium


1. Klassizität und ästhetisches Provisorium
1.1. Hofmannsthal feiert Schiller

„Das Große feiert sich selber“ – mit dieser doppelsinnigen Sentenz er-
öffnet Hugo von Hofmannsthal einen Artikel, der aus Anlass des 100.
Todestages Friedrich Schillers in der Wiener Zeitschrift Zeit am
23.4.1905 erscheint.2 Auf den ersten Blick wird hier „ironisch“3 das
Pathos jenes Schiller-Bildes gebrochen, das noch die Feiern zum 100.
Geburtstag im Jahr 1859 bestimmt und „zu einem nationalen Ereig-
nis“4 mit zahllosen Festumzügen und Großveranstaltungen gemacht
hatte, an denen in Hamburg 17 000, in Berlin sogar 40- bis 50 000
Menschen teilnahmen. Die Schiller-Feiern 1905 waren dagegen „nur
noch eine sentimentale Reminiszenz an das Nationalfest von 1859.“5
Gerade für die intellektuelle und künstlerische Avantgarde der Jahr-
––––––––––––––
1 Benn, Gottfried: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. 4 Bde. Hg. von
Bruno Hillebrand. Bd. 2, Frankfurt/Main 1984, S. 141.
2 Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Auf-
sätze (1-3). Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Bd. 1: Reden und
Aufsätze I (1891-1913). Frankfurt/Main 1979, S. 351-355, hier S. 351; dazu vgl. Ham-
mer, Stephanie B.: Hofmannsthals Essay on Schiller. The Myth of Greatness. In: Mo-
dern Austrian literature 22 (1989), S. 97-108, der jedoch widersprochen werden muss,
wenn sie den Aufsatz als „spectacular failure“ beschreibt und den „gulf that separates
the modern author’s age from that of Schiller“ (S. 97) betont. Die Einstufung des
Aufsatzes als „ironic exercise“ geht an der großen Geste der Identifizierung vorbei,
mit der Hofmannsthal sich Schiller nähert. Eine einlässliche Studie zu Hofmanns-
thals Schiller-Rezeption, die sich z.B. auch auf die Zürcher Beethoven-Rede erstreckt,
fehlt.
3 Hammer: Hofmannsthal’s Essay on Schiller, S. 99.
4 Gerhard, Ute: Schiller im 19. Jahrhundert. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Schiller-
Handbuch. Stuttgart 1998, S. 758-771, hier S. 770f.
5 Albert, Claudia: Schiller im 20. Jahrhundert. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch,
S. 773-792, hier S. 773.

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2 I. Klassiker vor der Klassik

hundertwende war das vermeintlich „durch Schiller geweihte Natio-


nalgefühl“6 ein problematisches Erbe geworden. Nietzsches Philister-
kritik, zumal sein Verdikt vom „Moral-Trompeter von Säckingen“7,
sowie die seit 1880 einsetzende „Schiller-Demontage“8 durch eine an-
tiidealistische und antibürgerliche Moderne hatten die Topik von
Schillers heldenhafter Autorschaft in ein diffuses Licht gerückt.
Hofmannsthals Essay inszeniert vor diesem Hintergrund ein sub-
tiles Verwirrspiel. Auf der einen Seite steht das offizielle, noch immer
auf das Heroische abhebende Schillerbild, auf der anderen eine sehr
persönliche Annäherung an die künstlerische Größe des Klassikers,
die Hofmannsthal noch keineswegs zu verabschieden geneigt ist. Zu
viel Faszination geht aus von den „starke(n) Wellenschwünge(n)“ und
dem „Nie-Auslassen einer sehr großen Kraft“, das er in Schillers
Werken findet. Auf der einen Seite der „arme Militärzögling, öd,
dumpf, von Gott und der Welt verlassen, dürftig gehalten wie nicht
der Lehrling im Handwerk, nicht der Hirte hinterm Vieh“, auf der
anderen der Dichter, der „in seiner Brust das Weltall herauf [ruft], die
ewigen Mächte ... ‚Acheronta movebo!’“9 Dass Hofmannsthal den
Schlachtruf der Freudschen Traumdeutung auf Schiller bezieht, ist be-
zeichnend: in Schiller, dem empirischen Psychologen, erkennt er den
Mann der psychoanalytischen Stunde.10
––––––––––––––
6 Carrière, Moritz: Schiller der Künstler. In: Oellers, Norbert (Hg.): Schiller – Zeitge-
nosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland, Bd. 1:
Frankfurt/Main 1970, S. 429-439, hier S. 439.
7 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio
Colli und Mazzino Montinari. München 1999 (zuerst 1967ff.), Bd. 6, S. 111 (Götzen-
Dämmerung / Streifzüge eines Unzeitgemäßen).
8 Albert: Schiller im 20. Jahrhundert, S. 773.
9 Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 1, S. 351. Das Vergil-Zitat rückt Schiller in
die Nähe Freuds, der den Aeneis-Vers (7, 312) seiner Traumdeutung als Motto voran-
gestellt hatte. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. von
Anna Freud u.a. Frankfurt/Main 1999 (zuerst London 1948) (= GW), Bd. 2/3, S. VI:
„Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.“ Zu diesem Komplex Traverso, Pao-
la: „Psyche ist ein griechisches Wort …“ Rezeption und Wirkung der Antike im
Werk von Sigmund Freud. Frankfurt/Main 2003, S. 78-112, hier S. 88: „Als gründli-
cher Kenner der Äneis und begeisterter Leser der Odyssee“ hatte Freud „in den
Unterweltsgängen (Katabasen) Homers und Vergils“ das Prinzip seiner Psychoanalyse
„wiedererkannt.“
10 Die Affinität der psychoanalytischen Schule zu Schiller ist vom ersten Moment an
bedeutsam. Freud selbst zählt Schiller zu seinen großen Wegbereitern. Weissberg, Li-
liane: Freuds Schiller. In: Hinderer, Walter (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die
Moderne. Würzburg 2006 (= Stiftung für Romantikforschung 40), S. 421-435; wichti-
ge Werke der Freud-Schüler gehen exemplarisch von Schiller-Analysen aus. Otto
Ranks Buch: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des
dichterischen Schaffens. Leipzig u.a. 1926 (zuerst 1912; Ndr. Darmstadt 1974) liest sich
über weite Strecken wie eine Schiller-Monographie; Hanns Sachs entwickelt am Geis-
terseher eine Theorie des Fragments und der ästhetischen Sublimierung. In diesen

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1. Klassizität und ästhetisches Provisorium 3

Für Hofmannsthal ist Schiller „ein Anwalt und ein Konquista-


dor“.11 Zeitgemäß scheint ihm weniger der Autor des Don Karlos mit
seinen rhetorischen Tiraden als der Autor der Fragment gebliebenen
See- und Seeräuberstücke (Das Schiff, Die Flibustiers, Seestück), in de-
nen – so Schiller selbst – „alle interessante(n) Motive der Seereisen,
der außereuropäischen Zustände und Sitten, der damit verknüpften
Schicksale und Zufälle geschickt verbunden werden“.12 Das Bild des
Seefahrers und „esprit envahisseur“ spürt sensibel Schillers ethno-
anthropologisches Interesse am Exotischen13 und am „kriegerische(n)
Leben auf dem Ocean“14 auf, wendet es jedoch ins Symbolische. Schil-
ler habe „die Weltanschauungen [durchstürmt]“ und sich in ihnen
eingerichtet „wie in unterjochten Provinzen“.15 Es ist eine ruhelose
Suchbewegung, die Schiller durch „die Welt Kants, die Welt der Al-
ten, die Welt des Katholizismus“ hindurchgeführt habe und das Fort-
schreiten zum Inbegriff seines Daseins habe werden lassen. So stehen
„Goethe und er zueinander wie der Gärtner und der Schiffer“.16
In einem zweiten Schiller-Artikel, der nur eine Woche später
(1.5.1905) im Berliner Tagblatt Nr. 18 erscheint, greift Hofmannsthal
das Bild des Eroberers auf. Deutlicher als im ersten zeichnet sich nun
die tagespolitische Aktualität des Topos vom Schreiben als Seefahrt 17
ab. Was die Deutschen der Gegenwart „immer wieder zu Schiller zu-
rück[treibt]“, sei eine Sehnsucht nach der imperialen Eroberung, die
Hofmannsthal sarkastisch mit dem Pathos der offiziellen Schiller-
Feiern kurzschließt: „Nun da sie Schiffe bauen, tun sie vielleicht zum
erstenmal etwas, das ihn wirklich feiert“.18 Die ironische Anspielung
gilt dem Ausbau der Kriegsmarine, der seit der Ernennung Alfred
von Tirpitz’ zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes (1897) und
seit den Flottengesetzen von 1898 und 1900 vorangetrieben wurde. Er
––––––––––––––
Kontext ist auch Kommerells Essay „Schiller als Psychologe“ zu stellen, der 1934/35
erscheint und – kein Zufall – wiederum besonders auf die Fragmente und „Herzens-
phantasien“ wie Polizey, Kinder des Hauses, Demetrius) eingeht. Max Kommerell:
Schiller als Psychologe. In: Dame Dichterin und andere Essays. Hg. von Arthur Hen-
kel. München 1967 (zuerst 1934/35), S. 65-115, hier S. 109.
11 Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 1, S. 351.
12 NA 12, 305.
13 Guthke, Karl S.: Zwischen ‚Wilden‘ in Übersee und ‚Barbaren‘ in Europa. Schillers
Ethno-Anthropologie. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität.
Hg. von Reto Luzius Fetz / Roland Hagenbüchle / Peter Schulz. 2 Bde. Berlin/New
York 1998, Bd. 2, S. 844-871.
14 Aus dem Dramenfragment Die Maltheser. NA 12, 35.
15 Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 1, S. 351.
16 Ebd. S. 352.
17 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübin-
gen/Basel 111993 (zuerst 1948), S. 138-141.
18 Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 1, S. 356.

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4 I. Klassiker vor der Klassik

sollte, weitgehend am Parlament und den „gebildete(n) und ungebil-


dete(n) Sozialdemokraten“ vorbei, die Großmachtstellung Deutsch-
lands ausbauen, dessen Seeinteressen bis dahin, wie Tirpitz schrieb,
lediglich den „Charakter der Parasitenexistenz“ hatten.19 Die Flotten-
hysterie, die durch „neue imperialistische Agitationsverbände“20 wie
den Alldeutschen Verband oder den Deutschen Flottenverein weite Tei-
le der Bevölkerung erfasste, steht als zeithistorische Folie hinter der
marinen Metaphorik der Essays. Schiller, der selbst ein Gedicht über
eine „unüberwindliche Flotte“21 – die spanische Philipps II. – verfasst
hatte, bildet den Antityp eines deutschen Kaisers, der am 31.3.1905,
nur einen Monat vor der Publikation des ersten Schiller-Essays, auf
dem Höhepunkt der ersten Marokko-Krise in Tanger gelandet war.22
Solchen Eroberergesten im Gefolge des von Reichskanzler Bülow aus-
gerufenen Kampfes um einen „Platz an der Sonne“23 stellt Hof-
mannsthal Schillers Bühnenvisionen und Eroberungszüge durch die
Weltanschauungen entgegen.
Hofmannsthals Würdigung bietet jedoch auch Aspekte eines neu-
en Schiller-Bildes, an das erst die jüngere Forschung anknüpfen sollte.
Deutlicher zeichnet es sich in einem dritten Schiller-Projekt ab, das
Hofmannsthal mehr als zwanzig Jahre später in Angriff nimmt. Es
handelt sich um eine Sammlung von Selbstzeugnissen, die er im
Rückgriff auf eine ältere Anthologie24 zusammenstellt. Sie trägt den
Titel „Schillers Selbstcharakteristik“ und erscheint 1926 im Insel-Ver-
lag.25 Unter dem Eindruck der von Julius Petersen besorgten Ausgabe
der Gespräche hebt nun auch Hofmannsthal „das Heroische als die

––––––––––––––
19 Brief von Tirpitz, zitiert nach Bruch, Rüdiger vom / Hofmeister, Björn (Hg.): Deut-
sche Geschichte in Quellen und Darstellung. Bd. 8: Kaiserreich und Erster Weltkrieg
1871-1918. Stuttgart 2000, S. 279.
20 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demo-
kratie. München 1992, S. 649.
21 NA 1, 173f.
22 Schmidt, Gustav: Der deutsche Imperialismus. München/Wien 1989, S. 100; Craig,
Gordon Alexander: Deutsche Geschichte 1866-1945 vom Norddeutschen Bund bis zum
Ende des Dritten Reiches. München 1980, S. 269-278; Nipperdey: Deutsche Geschichte
1866-1918, Bd. 2, S. 629-670.
23 Aus einer Reichstagsrede Bernhard von Bülows vom 6. Dezember 1897. Nach
Mommsen, Wolfgang J.: Imperialismus. Seine geistigen, politischen und wirtschaftlichen
Grundlagen. Ein Quellen- und Arbeitsbuch. Hamburg 1977, S. 130: „Mit einem Worte:
wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an
der Sonne.“
24 Döring, Heinrich: Schiller’s Selbstcharakteristik. Stuttgart 1853.
25 Hofmannsthal, Hugo von: Schillers Selbstcharakteristik. Aus seinen Schriften nach ei-
nem älteren Vorbild neu hg. von Hofmannsthal, Hugo von. München 1926. Neu hg.
und mit einem Nachwort versehen von Joachim Seng. München 2005.

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1. Klassizität und ästhetisches Provisorium 5

Grundhaltung seines Lebens“26 hervor, lässt aber unter Berufung auf


Stifter auch die „Gefahr“ durchscheinen, die „von Schillers Phrasen
für das Phrasenzeitalter“ ausgehe, deren – mit Stifters Worten – „fal-
sche(r) Glanz viel zu dem nachfolgenden Übel beigetragen“ habe27.
Wieder kommt das Heterogene und Disparate, Unvollendete und
Ungereimte in den Blick, all das, „was in den Figuren nicht ganz in
sich übereinstimmend, oft zweideutig“ scheint, z.B. das Verfehlen der
„mimische(n) Einheit der Figuren“, mit dem Schiller hinter Shakes-
peare zurückfalle: „Seine Werke bei all ihrem Glanz und ihrer szeni-
schen Schlagkraft erscheinen uns manchmal fast provisorisch und
überhastet“.28
Was den späten Hofmannsthal an Schiller anzieht, ist nicht die
geschlossene und abgeschlossene Form des Klassischen, sondern das
Offene und Unfertige, das sich vor allem in den Fragmenten (Demet-
rius, Seestücke, Geisterseher) artikuliert. Daher gilt sein Interesse be-
sonders jenen Zeugnissen, in denen Schiller brieflich seine Psycholo-
gie des Schaffensprozesses entwirft. Hofmannsthal verfolgt sie mit
spürbarer Empathie und zitiert sie vielfach auch andernorts. Vor al-
lem spiegelt sich in Schillers Fragmenten eine eigene Poetik des Frag-
mentarischen. „Der dramatische Text ist etwas Inkomplettes und
zwar um so inkompletter, je größer der dramatische Dichter ist“,
schreibt Hofmannsthal im Essay Max Reinhardt (1924), und belegt
dies mit Schiller: „Schiller, auf der Höhe seines Lebens, schreibt ein-
mal hin: er sehe ein, daß der wahre Dramatiker sehr viel arbeiten,
aber immer nur Skizzen verfertigen sollte, – aber er traue sich nicht
genug Talent zu, um in dieser Weise zu arbeiten“.29

1.2. Fragment

Hofmannsthals Schiller-Essays zeichnen um 1900 ein neues Schiller-


Bild – das des unklassischeno Klassikers, dessen moderne Potentiale
––––––––––––––
26 Ebd. S. 15.
27 Ebd. S. 12.
28 Ebd. S. 13.
29 Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 2, S. 312. Schiller hat die Überzeugung mehr-
fach geäußert. Zunächst in einem Brief an Körner vom 16.11.1801, in dem er seine
Entscheidung erläutert, Gozzis Turandot in Jamben zu bearbeiten. Der korrekte
Wortlaut ist folgender: „Solche Stücke gewinnen oft am meisten, wenn sie nur
Skitzen sind.“ NA 31, 71. Die von Hofmannsthal aus dem Gedächtnis zitierte Stelle
ist wohl der Brief an Goethe vom 6.7.1802: „Ich glaube selbst, daß unsere Dramen
nur kraftvolle und treffend gezeichnete Skizzen sein sollten, aber dazu gehörte dann
freilich eine ganz andre Fülle der Erfindung, um die sinnlichen Kräfte ununterbro-
chen zu reizen und zu beschäftigen.“

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6 I. Klassiker vor der Klassik

gegen die Maske seiner offiziellen Rezeption rehabilitiert werden sol-


len. Besonders faszinieren Hofmannsthal die Reflexionen über das
Werden des Kunstwerks, den kreativen Prozess in seiner Verwurze-
lung im Un- und Vorbewussten. Im Hintergrund steht die Psycho-
analyse, die im Psychologen Schiller ihren Ahnherrn und zugleich ihr
bedeutendstes Exempel findet. Außerhalb der Fachphilologie wird
hier ein neues Bild des Klassikers entworfen, dessen Grundzüge
Hofmannsthal teilt.30 Schiller wird nun von den Rändern seines Wer-
kes, den „Störungen und Hemmungen“ her, neu entdeckt. Aus den
„Bruchstücken und zusammenhanglosen Äußerungen [gilt es,] das
Geheimnis [zu] entziffern, das der zur künstlerisch geformten Rede
sich öffnende Mund niemals verrät“.31
Dieser „Abschied von der Klassizität“32, wie ihn die Psychoanaly-
tiker der ersten Stunde einleiten, wird von der Schiller-Philologie erst
ein gutes halbes Jahrhundert später aufgegriffen. Das Ziel ist ähnlich:
Wieder wird es darum gehen, den Klassiker gegen seine verstellende
Rezeptions- und Kanonisierungsgeschichte zu retten. Der Akzent hat
sich nun jedoch von der Psychologie auf die Soziologie, von Freud
auf Adorno verschoben. Das Fragment wird – etwa bei Herbert Kraft
– zur Form der Hoffnung, in der die „utopische Intention“ gegenüber
dem „ideologischen Substrat“33 bewahrt wird. Im ‚falschen‘ Schiller –
d.h. dem des offiziellen Schillerbildes – bleibt der ‚richtige‘, in der
entstellten die andere Werkgeschichte zu entdecken. Umgekehrt wird
Vollendung zur illegitimen Versöhnung; das geschlossene Werk be-
quemt sich in seiner „Stimmigkeit“ der „entfremdeten Praxis“34 und
dem Konsum an. Ästhetische Homogenität nähert sich dem Trivia-
len, dem Kitsch. Es ist diese Rezeption, die uns ‚um Schiller betrogen
hat‘.
Ausgangspunkt für die neue Sicht war Adornos Ästhetik der Ne-
gation, die zugleich eine Theorie der Unvollendung als der verweiger-
ten Affirmation enthielt: „Kunst obersten Anspruchs“, ist in der Äs-
––––––––––––––
30 Vgl. oben Anm. 9.
31 Sachs: Schillers Geisterseher. In: Imago 4 (1915/16), S. 69-95; wieder abgedruckt in:
Ders.: Gemeinsame Tagträume. Leipzig/Wien/Zürich 1924 (= Imago 5), S. 41-129,
hier S. 43. Insofern führt die Entschlüsselung des Geheimnisses über das Abgelegte
und Unklassische, ja Triviale, bei Hanns Sachs z.B. über den Geisterseher, oder über
die Entwürfe und Fragmente, die „ein deutlicheres Durchschlagen der verdrängten
Regungen und Phantasien als im vollendeten Werk“ verraten, sofern hier die „unbe-
wußte Besitzergreifung und Durchtränkung des Stoffes mit den eigenen erotischen
Phantasien, sowie die diesen Rohstoff künstlerisch sublimierende Idealisierung“ sinn-
fälliger zu Tage tritt. Rank: Das Inzest-Motiv, S. 81.
32 Kraft, Herbert: Um Schiller betrogen. Weinsberg 1978, S. 9.
33 Ebd. S. 10.
34 Ebd.

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1. Klassizität und ästhetisches Provisorium 7

thetischen Theorie (1970) zu lesen, „drängt über Form als Totalität


hinaus, ins Fragmentarische“.35 Das geschlossene Kunstwerk reprä-
sentiert entfremdete Wirklichkeit statt ihr kritisch gegenüberzutre-
ten. „Die Kategorie des Fragmentarischen [...] ist nicht die der kon-
tingenten Einzelheit: das Bruchstück ist der Teil der Totalität des
Werkes, welcher ihr widersteht“.36 Moderne Kunst setzt für Adorno
auf das Offene, sie verweigert Versöhnung: „Die Fragwürdigkeit des
Ideals einer geschlossenen Gesellschaft teilt sich auch dem des ge-
schlossenen Kunstwerks mit“.37 Eher beiläufig entwickelt Adorno
dabei eine Theorie des Fragmentarischen: „Einmal der Konvention
ledig, vermag offenbar kein Kunstwerk mehr überzeugend zu schlie-
ßen“.38 Klassizismus und ‚geschlossene‘ Form sind Verrat am Kritik-
und Korrektivauftrag moderner Kunst. Für Adorno ist das Fragmen-
tarische keine poetologische oder editionsphilologische Kategorie,
sondern eine ästhetisch-philosophische Utopie. Schiller selbst, dem
„Hofpoet(en) des deutschen Idealismus“39, steht er ambivalent gegen-
über. Das autonomieästhetische Programm des Wallenstein-Prologs –
„Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“ – wird in den Noten zur Li-
teratur zum Anlass einer vernichtenden Kritik an einer Position, die
auf die „allbeliebte Zweiteilung zwischen Beruf und Freizeit“ hinaus-
zulaufen scheint, damit aber die Kunst ihrer negierenden Kräfte be-
raubt40. Autonom geworden, wird Kunst zum Spielball einer „Kultur-
industrie, die „Kunst als Vitaminspritze für müde Geschäftsleute ver-
ordnet“.41
Das utopische Pathos dieser Ideologiekritik, die selbst schon wie-
der Ideologie bzw. Ideologiegeschichte ist, muss hier nicht weiter er-
örtert werden.42 Bemerkenswert und anschlussfähig bleibt die Ador-

––––––––––––––
35 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiede-
mann. Frankfurt/Main 111992 (zuerst 1970), S. 221.
36 Ebd. S. 74.
37 Ebd. S. 236.
38 Ebd. S. 221.
39 Adorno, Theodor W.: „Ist die Kunst heiter.“ In: Noten zur Literatur. In: Gesammelte
Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 11, S. 599-606, hier S 599.
40 Ebd.: „Gerade durch ihre erbauliche Unverbindlichkeit wird die Kunst dem bürgerli-
chen Leben als dessen ihm widersprechende Ergänzung eingefügt und unterworfen.“
41 Ebd. S. 599f.: Im Gegenzug freilich findet Adorno in der „Platitude von der Heiter-
keit der Kunst“ doch ihr „Entronnensein aus den Zwängen von Selbsterhaltung“ wie-
der. „Sie verkörpert etwas wie Freiheit inmitten der Unfreiheit“ (S. 600), ihr „Spiel“
ist „Kritik des tierischen Ernstes“ (S. 600f.).
42 Zur Kritik des Kraftschen Ansatzes vgl. etwa Suppanz, Frank: Person und Staat in
Schillers Dramenfragmenten. Zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen
Verhältnisses. Tübingen 2000 (= Hermaea 93), S. 13-15.

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8 I. Klassiker vor der Klassik

no-Kraftsche Strategie43, weil sie den Versuch unternimmt, gegen das


modische Schlagwort von der „Klassik-Legende“44 den Klassiker vor
seiner eigenen Wirkungsgeschichte zu retten. Dazu musste eine „an-
dere Werkgeschichte“45 konstruiert werden, die zur eigentlichen und
unterschlagenen erklärt wurde. Tatsächlich bot die Kategorie des
Fragmentarischen und näherhin das Korpus der Fragmente ein Text-
reservoir und eine Methode an, auch das reduktionistische Schiller-
(Feind-)Bild der marxistischen Literaturwissenschaft zu überwinden
und den kritisch-utopischen Impuls nicht nur gegen die ‚bürgerliche‘,
sondern auch gegen die wissenschaftliche Rezeption zu restituieren,
die unermüdlich gegen die „unausrottbar“ scheinende, in Wirklich-
keit längst brüchige „normative Kulturfunktion der deutschen Klas-
sik“46 zu Felde zog.
Diese Arbeit teilt mit der psychoanalytischen wie mit der von
Adorno und Kraft ausgehenden Schiller-Philologie die Überzeugung,
dass sich eine andere Genealogie der Klassik entwerfen lässt, die nicht
die Normativität des Klassischen voraussetzt, sondern ihr Geworde-
nes und Provisorisches, ihre „Verlegenheiten“ und „produktiven In-
stabilitäten“.47 Ziel ist es, den Experimentalcharakter der Studien und
Schriften zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption als einen „alchy-
mistische(n) Proceß“48 der Ideenentwicklung mit Brüchen und Repri-
sen zu beschreiben, ein Prozess, der nicht teleologisch auf das zuläuft,
was in der Tat im 19. Jahrhundert als „Weimarer Klassik“ zum Medi-
um nationaler Selbstfindung wurde. Freizulegen ist auf diese Weise
jene spezifische Methodik des Schiller’schen Idealismus, die Ernst
Cassirer als dramatisch-dialektische bestimmt hat.49 In eminenter
––––––––––––––
43 Fortgesetzt bei Mirjam Springer: ‚Legierungen aus Zinn und Blei‘. Schillers dramatische
Fragmente. Frankfurt/Main u.a. 2000 (= Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen
Literatur 10).
44 Symptomatisch der Beitrag von Berghahn, Klaus L.: Von Weimar nach Versailles.
Zur Entstehung der Klassik-Legende im 19. Jahrhundert. In: Grimm, Reinhold /
Hermand, Jost (Hg.): Die Klassik-Legende. Frankfurt/Main 1971 (= Schriften zur Li-
teratur 18), S. 50-78, der die Geburt des „nationalen Mythos“ (S. 52) einer „Weimarer
Klassik“ „aus nationalem Wunschdenken“ (S. 75) nachvollzieht.
45 Kraft: Um Schiller betrogen, S. 9.
46 Berghahn: Von Weimar nach Versailles, S. 77.
47 Diesen Aspekt hat insbesondere Helmut Pfotenhauer betont: Würdige Anmut. Schil-
lers ästhetische Verlegenheiten und philosophische Emphasen im Kontext bildender
Kunst. In: Ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik.
Tübingen 1991 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 59), S. 157-178,
hier S. 169.
48 Körner an Schiller, 4.2.1793, NA 34/I, 225.
49 Cassirer, Ernst: Idee und Gestalt. Goethe – Schiller – Hölderlin – Kleist. Berlin 21924
(Ndr. Darmstadt 1994), S. 103: „Schillers Theorie tritt uns hier selbst in der Art und
Form eines Dramas gegenüber.“

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1. Klassizität und ästhetisches Provisorium 9

Weise beschreibt sie Schillers Denken und Schreiben vor der Klassik,
d.h. Schillers „Lehr- und Wanderjahre“50 vor der Aufnahme des Brief-
wechsels und „Commerciums“ mit Goethe. Neben der „weltanschau-
liche(n) Gemengelage“51 erweist sich das Fortschreiten als ein Grund-
element der Schiller’schen Arbeit. Diese läuft nämlich keineswegs
zielsicher auf die „Krone der Klassizität“52 zu. Vielmehr reiht Schiller,
um noch einmal Hofmannsthal zu zitieren, „fast provisorisch und
wie überhastet“ Projekt an Projekt, schreibt gleichsam ins Offene
hinein, von ökonomischen Anforderungen getrieben, häufig simultan
an verschiedenen Projekten. Die Produktion des frühen und mittle-
ren Schiller bildet somit ein dynamisches Gefüge kommunizierender
Fragestellungen, einen Reflexionsraum für fortgesetzte, oft aporeti-
sche Ideenarbeit. Prozessualität, Parallelismus und thematische Clus-
terbildung kennzeichnen die Struktur dieser frühen und mittleren
Schaffensperiode.

1.3. Klassik

Klassik hat damit keinen normativen, sondern einen rein chronologi-


schen Sinn. Gemeint ist eine Periode, die sich von den Anfängen des
Karlsschülers bis zur ersten eingehenden Auseinandersetzung mit
Kants Kritik der Urteilskraft in den Kallias-Briefen an Körner (abge-
brochen im Februar 1793) erstreckt. Klassik steht für „eine Episode in
der Schaffensgeschichte einer Gruppe deutscher Schriftsteller um
1800, deren Gemeinsamkeiten aber nicht als Ausdruck tendenziöser
Parteiung zu verstehen sind“.53 Vor der Klassik bezeichnet einen ter-
minus ante quem, der weder die des Normativen noch die einer Erfül-
lungsgeschichte der deutschen Literatur und des deutschen Geistes
einschließt. Auch wird nicht der Versuch unternommen, die „Klas-
sik-Legende“ ihrerseits als Legende zu dekonstruieren oder den My-
thos „Weimarer Klassik“, wie ihn die nationalphilologische Germa-
nistik zwischen 1835 und 1883 „aus nationalem Wunschdenken“54

––––––––––––––
50 Schings, Hans-Jürgen: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Il-
luminaten. Tübingen 1996, S. 14.
51 Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit. 2 Bde. München 2000, Bd. 2, S. 262.
52 NA 22, 259 (Bürger-Rezension).
53 Schulz, Gerhard: Klassik 2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2
(2000), S. 270-274, hier S. 271.
54 Berghahn: Von Weimar nach Versailles, S. 75.

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10 I. Klassiker vor der Klassik

prägte, zu reanimieren. Dass Klassiken „Konstruktionen post festum“


sind, ist auch im Hinblick auf Weimar nicht zu bezweifeln55.
Die Schwierigkeiten mit der Klassik bzw. dem Klassischen sind
schon terminologischer Natur. Im Wesentlichen konkurrieren im
historischen Feld vier Bedeutungen von ‚klassisch‘56:
1. Im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts bedeutet das Adjektiv
‚klassisch’ schlicht „antik“, „auf die Antike bezogen“. Hier schwingt
immer schon
2. eine normative Komponente mit. Die antiken Autoren und
Künstler besitzen zugleich auctoritas, weil sie Normen der „Klassizi-
tät“ erfüllen. Sie besitzen Appellcharakter, weil sie eine „Ausfode-
rung“57 an die Epigonen zur Nachahmung darstellen.
3. Klassik in Entgegensetzung zu Romantik (erst bei Goethe) und
4. Klassik im Sinne einer nationalen Blütezeit der Kunst und Lite-
ratur.
Als Epochenbegriff ist ‚Klassik‘ eine späte Prägung; zum ersten
Mal ist er bei Friedrich Schlegel belegt, hier im stiltypologischen Sin-
ne und bezogen auf Winckelmann.58 ‚Klassisch sein‘ und ‚Klassizität‘
sind schon den Autoren um 1800 zweifelhafte Forderungen. Goethe
rät im Aufsatz Literarischer Sansculottismus (1795), „die Ausdrücke:
klassischer Autor, klassisches Werk höchst selten zu gebrauchen“.59
Jean Paul schreibt in der Vorschule der Ästhetik (1804): „Keine Begriffe
werden willkürlicher verbraucht (sic) als die von Einfachheit und von
Klassizität“.60 Seit Mitte der 1790er Jahre wird das Wortfeld des Klas-
sischen zum bevorzugten Ort der literarischen Selbstreflexion, gerade
weil der Begriffskomplex changiert zwischen einem älteren normati-
ven, d.h. auf imitatio abstellenden Gebrauch, wie er bei Winckel-
mann vorliegt und einem neueren, der die Idee des Klassikers ent-
schieden ablöste von den klassischen, d.h. antiken Autoren. Jean Paul
lehnt ein solches klassizistisches Verständnis von Klassischsein als
Verwechslung „mit grammatischer Regelmäßigkeit oder mit rhetori-
––––––––––––––
55 Thomé, Horst: Klassik 1. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2,
2000, S. 266-270, hier S. 267.
56 Vgl. Barner, Wilfried: Anachronistische Klassizität. Zu Schillers Abhandlung Über
naive und sentimentalische Dichtung. In: Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Klassik im Ver-
gleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990.
Stuttgart/Weimar 1993 (= Germanistische Symposien, Berichtsbände 13), S. 62-80,
hier S. 76.
57 NA 20, 106 (Brief eines reisenden Dänen).
58 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KFSA). Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung
von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe.
München u.a. 1958 ff., hier Bd. 18, S. 23 (Philosophische Fragmente).
59 HA 12, 241.
60 Jean Paul: Werke, 1. Abt., Bd. 5, S. 353.

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1. Klassizität und ästhetisches Provisorium 11

scher“ strikt ab. Dies käme einer unzulässigen Übertragung, einem


„Sprung von Werken in toten Sprachen, wo jedes Wort entscheidet
und befiehlt, auf Werke in lebendigen“ gleich.61
Auch Schiller vermeidet „fast ostentativ“62 den Begriff ‚klassisch’.
Die „Anachronizität des Klassischen“ bleibt auch während seiner
‚klassischen‘ Phase eine unhintergehbare Tatsache. Dies hat zur Fol-
ge, dass Schiller den Begriff des Klassischen „sukzessiv von seinen an-
tiken Bezüglichkeiten löst und in die Nähe eines prinzipiell anthro-
pologisch-ästhetischen Ideals rückt“.63 Die großen Abhandlungen ver-
treten einen Klassizismus ohne klassische Muster und imitatio-Befehl.
Diese Entwicklung zeigt sich erstmals in der Bürger-Rezension. Hier
werden am Ende Winckelmanns Schlagworte zitiert („sittliche Gra-
zie“, „männliche Würde“, „Größe“), dabei jedoch von den exemplaria
Graeca entkoppelt und zur anthropologischen wie poetologischen
Forderung universalisiert. Der Essay Ueber naive und sentimentalische
Dichtung wiederum nimmt zwar die Querelle-Thematik auf („Verglei-
chung zwischen alten und modernen Dichtern“64). Er verleibt sie je-
doch einer Typologie ein, bei der die historische Unterscheidung von
antiqui und moderni nicht mehr bruchlos aufgeht in der Differenz
von ‚naiv‘ und ‚sentimentalisch‘, gibt es doch „auch in neuern ja sogar
in neuesten Zeiten naive Dichtungen in allen Klassen“.65 Hinzu
kommt, dass in Schillers Begriffsdialektik die Polarität der „Empfin-
dungswiesen“ eine nur scheinbare ist, das Naive mit anderen Worten
eine sentimentalische Kategorie ist („das Naive ist das Sentimentali-
sche“66). Wilfried Barner hat demgegenüber darauf hingewiesen, dass
das Sentimentalische der einzig historisch angemessene Lebens- und
––––––––––––––
61 Ebd. S. 355. Kant fordert diesen Sprung dagegen in einer Fußnote der Kritik der Ur-
teilskraft: „Muster des Geschmacks in Ansehung der redenden Künste müssen in einer
toten und gelehrten Sprache abgefaßt sein.“ Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden.
Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 51983, Bd. 8, S. 313 Anm.
62 Barner: Anachronistische Klassizität, S. 65.
63 Ebd. S. 64.
64 NA 20, 437. Dazu Jauss, Hans Robert: Schlegels und Schillers Replik auf die
„Querelle des Anciens et des Modernes.“ In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation.
Frankfurt/Main 1970 (= edition suhrkamp 418), S. 67-106; Behler, Ernst: Einleitung.
In: Ders (Hg.): Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie 1795-1797.
Paderborn u.a. 1982, S. 13-132, S. 51-76; Alt: Schiller, Bd. 2, S. 219-224.
65 NA 20, 437f. Anm. Hier zeigt sich die Ambivalenz des Begriffspaars naiv vs. senti-
mentalisch. Drei Bedeutungsebenen zeichnen sich ab: 1. eine anthropologisch-psycho-
logische, 2. eine gattungskonstituierende Empfindungsweise (im Falle der satirischen,
elegischen und idyllischen Dichtungsarten), 3. eine geschichtsphilosophische. Zelle,
Carsten: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Luserke-Jaqui, Matthias
(Hg.): Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2005, S. 451-478, S. 453f.
66 Szondi, Peter: Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers
Abhandlung. In: Euphorion 66 (1972), S. 174-206.

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12 I. Klassiker vor der Klassik

Gefühlshabitus des modernen Menschen sei. Dafür spricht nachhaltig


Schillers Bemerkung, wonach „Dichter von dieser naiven Gattung
[…] in einem künstlichen Weltalter nicht so recht mehr an ihrer Stel-
le“ bzw. „in demselben kaum mehr möglich“ seien, es sei denn, dass
„sie in ihrem Zeitalter wild laufen“.67 Mögen also die antiken Autoren
– und hier nur die Griechen, nicht mehr die proto-sentimentalischen
Römer (zumal Horaz) – als Klassiker auch „naiv“ sein, so bedeutet
Klassizität doch immer „das Naive im Sentimentalischen“.68
Die typologischen Überlegungen des Essays Ueber naive und sen-
timentalische Dichtung stellen den Endpunkt einer Entwicklung dar,
in deren Verlauf sich Schillers Verhältnis zur Antike wie zur Klassizi-
tät grundlegend wandelt. Nimmt man die Vorgeschichte der klassi-
schen Theorie der Klassik, also den Essay von 1795/96, in den Blick,
werden die tentativen und postulativen Züge dieses Wegs zur Klassi-
zität deutlich. Das Apodiktische der großen Abhandlungen sowie der
beiden Rezensionen über Bürger und Matthisson ist nur scheinbar
Ausdruck legislatorischer Selbstgewissheit. In der „Entschiedenheit
ihrer Setzungen und Bewertungen [lassen sie] oft vergessen […], aus
welchen krisenhaften Umständen sie hervorgegangen“ sind.69 Krisen-
haft ist dieser Klassizismus, gerade weil ihm die Anachronizität des
Normativen aufgeht. So lebt auch Schillers Theoriebildung aus einer
merkwürdigen Spannung zwischen dem Wissen um das Ende der
normativen Systeme von Rhetorik und Poetik70 und einer Sehnsucht
nach festen Fundamenten. Die Suche gilt einem neuen „Gesetzbuch“
der Ästhetik oder einem „objectiven Begriff des Schönen, der sich eo
ipso auch zu einem objectiven Grundsatz des Geschmacks quali-
ficirt“.71 Es ist diese Sehnsucht nach Objektivität, welche das Unbe-
hagen an der eigenen und an der Kantischen Ästhetik auslöst. Schil-
lers Kunstphilosophie entzündet sich am „Regelvakuum“72, das durch
den Kollaps der frühneuzeitlichen, im Späthumanismus gründenden

––––––––––––––
67 NA 20, 435.
68 Barner: Anachronistische Klassizität, S. 67. Carsten Zelle hat diesen Typus von Gleich-
setzung um die Variante „Das Sentimentalische ist das Erhabene“ erweitert. Ders.:
Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 464-471.
69 Barner: Anachronistische Klassizität, S. 74.
70 Till, Dietmar: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der
Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004 (= Frühe Neuzeit 91).
71 21.12.1792; NA 26, 170. Vgl. an Fischenich, 11.2.1793, NA 26, 188: „Wirklich bin ich
auf dem Weg […] seine Behauptung, daß kein objektives Princip des Geschmacks
möglich sey, dadurch anzugreifen, daß ich ein solches aufstelle.“
72 Urban, Astrid: Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätauf-
klärung bis zur Romantik. Heidelberg 2004, S. 116.

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1. Klassizität und ästhetisches Provisorium 13

Aufklärungspoetik älterer Spielart73 entstanden war. Schiller sucht


dieses Vakuum durch eine neue, wiederum objektive und universale
Kunsttheorie zu füllen, in die nun gleichberechtigt die induktiv-
empirische Form der Literarkritik (vor allem Lessings) eingeht. Sie ist
immer auch der Versuch, eine „praktische Theorie“74 der Dichtkunst
zu entwerfen und also die Ästhetik als Geschmackslehre wieder stär-
ker um eine Poetik als „Gesetzbuch“ des Schönen zu ergänzen.75 Die
neue Objektivität bleibt auf den Weg der Empirie verwiesen. Neben
der Kritik schließt dies Formen ‚übenden‘ Schreibens ein. Der mittle-
re Schiller erschreibt sich durch „analysierendes Lernen im großen
Stil“76 seine Klassizität. Studium und Übertragung des Euripides oder
des Vergil folgen dem Antrieb, die „dunklen Ahnungen von Regel
und Kunst in klare Begriffe verwandel(n)“ zu können.77 Der entschie-
dene Ton des Rezensenten wiederum ist Folge der Unentschiedenheit
des ästhetischen „Gesetzbuches“, das er zugleich entwirft und anwen-
det – daher die Zweiteilung der Rezensionen in einen theoretischen
und einen praktischen, einen deduktiven und einen induktiven Teil.
Dieses Schema einer empirischen Annäherung an die Objektivität
der Kunst kennzeichnet auch den Essay Ueber naive und sentimentali-
sche Dichtung, der im Verhältnis von allgemeinem und besonderem
Teil (Ueber das Naive vs. Ueber sentimentalische Dichter) die Struktur
der Rezensionen aufnimmt und wie eine ausgedehnte Überblicks-
oder Sammelrezension, wenn schon nicht als „Geschichte der deut-
schen Dichtkunst“78, konzipiert ist. Schillers Philosophie des Schönen
und der Kunst ist somit eine Theorie unter Vorbehalt, eine Ästhetik
par provision, deren Ergebnisse „oft zwiespältig, hintergründig, ja ab-

––––––––––––––
73 So Helmut Koopmann: Dichter, Kritiker, Publikum. Schillers und Goethes Rezensi-
onen als Indikatoren einer sich wandelnden Literaturkritik. In: Barner, Wilfried u.a.
(Hg.): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1984, S. 79-
106. Vgl. Misch, Manfred: Schiller als Rezensent. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Hand-
buch, S. 711-728, S. 714: „Ursache dieser Krise der Kritik war das Fehlen allgemein
akzeptierter Kunstregeln, eines verbindlichen Normensystems, auf das der Kunstrich-
ter sein Urteil stützen konnte.“
74 Wilm, Marie-Christin: Die Jungfrau von Orleans. Tragödientheoretisch gelesen. Schil-
lers ‚Romantische Tragödie‘ und ihre praktische Theorie. In: Jahrbuch der deutschen
Schillergesellschaft 42 (2003), S. 141-170.
75 NA 27, 40.
76 Frick, Werner: Schiller und die Antike. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S.
91-116, hier S. 101.
77 26.11.1790 an Körner, NA 26,58; vgl. an Körner, 10. bzw. 12.3.1789: „Es rollen
allerley Ideen darüber in meinem Kopfe trüb durcheinander, aber es wird sich noch
etwas Helles daraus bilden.“
78 NA 20, 458.

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14 I. Klassiker vor der Klassik

gründig“ erscheinen.79 Klassizität begegnet beim vorklassischen Schil-


ler nur als Arbeits- und Projektbegriff, als regulatives Ziel, etwa in der
Forderung der Bürger-Rezension, die „höchste Krone der Klassizität
zu erringen“.80 Im Umkehrschluss bedeutet dies: Klassizität wird dort
gefordert, wo der Klassizismus (als imitatio-Forderung) seine Geltung
einbüßt, da die historische Festlegung des Klassischen auf die Werke
der klassischen, d.h. antiken Kunst brüchig geworden ist und der äs-
thetische Eigenwert und Anspruch der modernen Literatur gegen die
normative Geltung der alten behauptet werden muss. Klassizität wird
– nur scheinbar paradox – zum Schibboleth gerade der moderni.

1.4. Klassizität in der Modernität

Der begriffsgeschichtliche Befund unterstreicht dies. So sehr Schiller


Begriffe des Klassischen oder der klassischen Autoren meidet, so sehr
rückt seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die Kategorie der
„Klassizität“81 in den Mittelpunkt. Ihre wiederum klassische Formu-
lierung findet sich in einem Brief an Körner vom 20.8.1788, der eine
echte Konversion ankündigt: „In den nächsten 2 Jahren, habe ich mir
vorgenommen, lese ich keine moderne Schriftsteller mehr“. Schiller
wagt die Voraussage: „Du wirst finden, daß mir ein Vertrauter Um-
gang mit den Alten äuserst wohl thun – vielleicht Classicität geben
wird“.82 Die Stelle belegt, dass Schiller sich hier noch nicht vom Kon-
zept der imitatio gelöst hat. Der „vertraute Umgang mit den Alten“
realisiert sich daher in der Form der Übersetzung (interpretatio), die
im rhetorischen Stufenschema den ersten und untersten Grad inter-
textueller Relation, den des aneignenden Lernens und An-Lesens, dar-
stellt.83 Im Hintergrund stehen also „Brauch und Erwartung der alten
Humanisten“84, durch transformierenden Nachvollzug (imitatio) und
––––––––––––––
79 Pfotenhauer, Helmut: Vorbilder. Antike Kunst, klassizistische Kunstliteratur und
‚Weimarer Klassik‘. In: Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität
und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Stuttgart 1993 (= Ger-
manistische Symposien. Berichtsbände 13), S. 42-61, hier S. 47.
80 NA 22, 259.
81 Einen – freilich unvollständigen Abriss des Konzepts – bietet Barner: Anachronisti-
sche Klassicität, S. 63-65. Diese Beobachtung korrigiert das Urteil Horst Thomés:
„Klassizität als Zugehörigkeit zum Klassischsein scheint erstmals in Jean Pauls ‚Vor-
schule der Ästhetik’ (1804)“ verwendet zu sein. Thomé: Klassik 1, S. 267.
82 NA 12, 375.
83 Reiff, Arno: Interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Ab-
hängigkeit bei den Römern. Diss. Köln 1959.
84 Storz, Gerhard: Schiller und die Antike. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-
Gesellschaft 10 (1966), S. 189-204, hier S. 198.

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1. Klassizität und ästhetisches Provisorium 15

Umschrift die „Schönheit der alten Klassiker“ für die eigenen Aus-
druckspotentiale (copia) zu gewinnen. Zwischen Herbst 1788 und
Frühjahr 1789 eignet sich Schiller die Euripideische Iphigenie in Aulis
und ausgewählte Szenen der Phönizierinnen an.85 Die Übertragung
dient dem „Lernen und Aneignen alles dessen, was [Schiller] so deut-
lich als ‚Mangel’ spürte“.86 Sie soll „in den Geist der Griechen hinein“
führen, „unvermerkt ihre Manier“ mitteilen.87
Vor 1800 ist Schiller einer der ambitioniertesten Theoretiker der
Klassizität. Er war es auch, der das Schlagwort aus dem Französischen
entlehnte (nach Analogie von simplicité / Simplizität, ein Begriff, der
ja um 1800 weithin der Semantik des Klassischen angehörte). In die-
sem Sinne ist ‚classicité‘ bereits seit der französischen Klassik, dem
„âge classique“ geläufig. Der früheste deutsche Beleg findet sich in ei-
nem Brief vom 18.12.1786 an den Schauspieler und Theaterdirektor
Friedrich Ludwig Schröder, der den Don Karlos in Hamburg zur Auf-
führung angenommen hatte: „Ausserdem glaube ich überzeugt zu
seyn“, schreibt Schiller, dass „ein Dichter, dem die Bühne, für die er
schreibt immer gegenwärtig ist sehr leicht versucht werden kann, der
augenbliklichen Wirkung den daurenden Gehalt aufzuopfern, Classi-
cität dem Glanze“.88 So verstanden, bezeichnet der Begriff ganz all-
gemein ein Überschreiten des Bedingten und Begrenzten – sei es des
„Localen“89, des Individuellen oder des Ephemeren – zum Unbeding-
ten, Überzeitlichen und Überregionalen. An prominenter, eben zi-
tierter Stelle begegnet es dann in der Bürger-Rezension. Von hier aus
wird ‚Classicität‘ zum Schlagwort der ästhetischen Debatten vor der
Jahrhundertwende. Schiller hat also mit der Unterscheidung von nai-
ver und sentimentalischer Dichtung nicht nur das Schema geliefert,
das in der Frühromantik den „generellen Gegensatz zwischen klassi-
scher (antiker) und romantischer (moderner) Kunstübung zu postu-
lieren“ hilft.90 Er hat auch das Schlagwort vorweggenommen, dem die
romantische als „progressive Universalpoesie“91 im 116. Athenäum-
Fragment entgegenstrebt, nämlich der „Aussicht auf eine grenzenlos
wachsende Klassizität“.92 Idee wie Begriff einer progressiven und da-
her immer schon provisorischen, noch zu erringenden Klassizität
––––––––––––––
85 Frick: Schiller und die Antike, S. 99.
86 Storz: Schiller und die Antike, S. 195.
87 An Körner, 20.10.1788; NA 25, 121.
88 NA 25, 74.
89 Ebd.
90 Allemann, Beda: (das) Klassische. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4.
Basel 1976, Sp. 853-856, hier Sp. 854.
91 KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 182.
92 Ebd. S. 183.

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16 I. Klassiker vor der Klassik

dürfte Schlegel unmittelbar der Bürger-Rezension entnommen haben,


die im Kreis der Schlegels intensiv und kontrovers rezipiert wurde.93
Man sollte über dem „programmatische(n) Dissens“ nicht die
Schnittmengen beider Entwürfe übersehen; diese liegen vor allem im
Bewusstsein einer „anachronistischen Klassizität“94 und im daraus re-
sultierenden Bemühen um eine Klassizität ohne bzw. jenseits des Klas-
sizismus95. Hinzu kommt ein gemeinsames Interesse an den „senti-
mentalischen“ Literaturen Roms und der Romania, das etwa in der
Synkrisis von Ariost und Homer in Ueber naive und sentimentalische
Dichtung programmatische Bedeutung erhältt.96 Einig ist man sich,
dass die Vereinigung des „Wesentlich-Modernen mit dem Wesentlich-
Antiken“97 nur zu den Bedingungen der Modernität, d.h. nicht „ohne
die höchste Selbständigkeit“ möglich war.98 Bei aller – von Schiller
beargwöhnten – „Gräkomanie“ wusste Schlegel um das Unzeitgemä-
ße eines reinen Nachahmungsklassizismus, den er als „unechtes Phan-
tom“ der „eigentliche(n) Klassizität“99 gegenüberstellte. Harold
Blooms ‚Einflussangst‘ vorwegnehmend100 hatte Schlegel von der
Nachahmung als einer „Gewalttätigkeit“ gesprochen, „welche die
starke und große Natur an dem Ohnmächtigen ausübt“.101 Dass
Nachahmung vielmehr auf den „Geist des Ganzen – die reine Griech-

––––––––––––––
93 Vgl. die Dokumente in Fambach, Oscar (Hg.): Ein Jahrhundert deutscher Literaturkri-
tik. Bd. 3: Der Aufstieg zur Klassik. Berlin 1959, S. 468-470 Während August Wilhelm
ein Spottpoem (An einen Kunstrichter) verfasst, nimmt Friedrich die Rezension zum
Ausgangspunkt zu einer Reflexion über ‚öffentliche‘ und ‚geheime‘ Dichtkunst, die
Schillers Popularitätskonzept weiterdenkt. Fambach: Aufstieg zur Klassik, S. 470.
94 Barner: Anachronistische Klassizität.
95 Oesterle, Günter: Friedrich Schiller und die Brüder Schlegel. In: Monatshefte für
deutschsprachige Literatur und Kultur 97 (2005), S. 461-467; Behler, Ernst: Die Wir-
kung Goethes und Schillers auf die Brüder Schlegel. In: Ders.: Studien zur Romantik
und zur idealistischen Philosophie. Bd. 1. München u.a. 1988, S. 264-282; Grimm, Sieg-
linde: Von der sentimentalischen Dichtung zur Universalpoesie. Schiller, Friedrich
Schlegel und die „Wechselwirkung“ Fichtes. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesell-
schaft 43 (1999), S. 159-187; Oberembt, Gert: Die Literaturdebatte um Schillers Horen
oder Poeten auf Kriegspfad. Die Brüder Schlegel reizen Schiller und werden darüber
zu Romantikern. In: Hegewald, Wolfgang (Hg.): Gegen die Zeit. Schiller & Co. Die
Klassiker als Zeitgenossen. Bremerhaven 2005, S. 73-97; Schmidt, Benjamin Marius:
Denker ohne Gott und Vater. Schiller, Schlegel und der Entwurf von Modernität in den
1790ern. Stuttgart 2001.
96 NA 20, 434f.
97 KFSA, Bd. 23, S. 185.
98 KFSA, Abt. 1, Bd. 1, S. 274.
99 Ebd. S. 345.
100 Bloom, Harold: Einfluß-Angst. Eine Theorie der Dichtung. Frankfurt/Main 1995 (engl.
zuerst 1973).
101 KFSA, 1. Abt. Bd. 1, S. 274.

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1. Klassizität und ästhetisches Provisorium 17

heit“102, zielen musste, war zwischen den Parteiungen unstrittig. Das


Ziel konnte nur Klassizität in der Modernität heißen, und gerade hie-
rin hatte, wie Schlegel selbst einräumt, „Schillers Abhandlung über die
sentimentalen (sic) Dichter […] über die Gränzen des Gebiets der klas-
sischen Poesie ein neues Licht gegeben“.103 Neben ihr war es die Bür-
ger-Rezension, auf die sich der Studium-Aufsatz in ambivalenter Hal-
tung bezog – bis hin zur polemischen Rehabilitierung Bürgers und
seines Konzepts von „Popularität“.104
Ob Schlegel die Abhandlung Ueber naive und sentimentalische
Dichtung zum Zeitpunkt der Abfassung des Studium-Aufsatzes kann-
te oder nicht: Schiller war mit seinen vor-Kantischen Schriften der
entscheidende Anreger einer Idee von Klassizität in der Modernität,
die auf spannungsvolle Synthesen des Antiken und des Modernen105,
des Klassischen und des Romanischen, setzte. Die Vergil-Übertragung
in Ottaverime und mithin die Kreuzung von antikem und Ritterepos
belegt dies ebenso wie die Verarbeitung antiker Stoffe in der moder-
nen Balladenform (Der Taucher, Die Bürgschaft etc.). Man könnte die-
se Mischungsstrategie mit einer Wendung Schillers charakterisieren,
die im Briefwechsel mit Goethe auf den Helena-Akt von Faust II be-
zogen wird. Schiller spricht dort von „verbarbarisieren“ bzw. vom
„Barbarischen der Behandlung“.106 Lange vor Goethes „klassisch-
romantischer Phantasmagorie“ war Schiller an seiner Auseinanderset-
zung mit Vergil und Ariost bzw. Tasso die Notwendigkeit einer hyb-
riden Klassizität aufgegangen. Die Schwäche für solche – im ur-
sprünglichen Sinne – ‚romantische‘ Stoffe und Traditionen, die Schil-
ler als „sentimentalische“ der Moderne zuschlug, stellte ein gemein-
sames Interesse zwischen Jena und Weimar dar. Es beförderte wiede-
rum Abgrenzungstendenzen, wirkte mithin nicht weniger repulsiv als
sachliche Divergenzen im Poetologischen und Formalen (Fragment-

––––––––––––––
102 Ebd. S. 347.
103 Ebd. S. 209.
104 Ebd. 1. Abt. Bd. 1, S. 366: „Auch Bürgers rühmlicher Versuch, die Kunst aus den en-
gen Büchersälen der Gelehrten, und den konventionellen Zirkeln der Mode in die
freie lebendige Welt einzuführen, und die Ordensmysterien der Virtuosen dem Volke
zu verraten, ist nicht ohne den glücklichsten bleibenden Einfluß gewesen.“
105 Dazu erhellend Alt, Peter-André: Die Griechen transformieren. Schillers moderne
Konstruktion der Antike. In: Hinderer, Walter (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg
in die Moderne. Würzburg 2006 (= Stiftung für Romantikforschung 40), S. 339-363.
106 „Es ist ein sehr bedeutender Vorteil“, schreibt er an Goethe, „von dem Reinen mit
Bewußtsein ins Unreinere zu gehen, anstatt von dem Unreinen einen Aufschwung
zum Reinen zu suchen wie bei uns übrigen Barbaren der Fall ist.“ MA Bd. 8, 1, S.
813. Nr. 767.

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18 I. Klassiker vor der Klassik

theorie, Ironie, Poetik der Arabeske, des dunklen Stils, der „offenen
Form“ mit Digressionen107).
Diese Ambivalenz von Nähe und Distanz wird in Friedrich
Schlegels Rezension des von Schiller herausgegebenen Musen-Alma-
nachs für das Jahr 1796 offensichtlich. Sie enthielt Wendungen, deren
herablassender Ton Schiller verletzte und das Verhältnis nachhaltig
eintrübte.108 Von „Unvollendung“ war da die Rede, die „zum Theil
aus der Unendlichkeit seines Ziels“ entspringe. Beinahe erscheint
Schiller dabei als progressiver Universalpoet avant la lettre, dem es
Schlegel zufolge „unmöglich“ ist, „sich selbst zu beschränken und un-
verrückt einem endlichen Ziele zu nähern“. Halb anerkennend, halb
denunzierend schrieb Schlegel von der „erhabnen Unmäßigkeit“, mit
der sich „sein rastlos kämpfender Geist immer vorwärts (drängt)“.109
Schiller mag die Schlegelsche Kritik schon deshalb als denunziatorisch
empfunden haben, weil sie mit der „Unvollendung“ einen Aspekt in
den Vordergrund stellte, der für die Frühromantik programmatisch,
für Schiller dagegen traumatisch war. Schillers Fragmente waren nicht
als „litterarische Sämereyen“110 oder „fermenta cognitionis“111 inten-
diert. Ihre offene Form war eine offene Wunde, die zunehmend dem
Ideal der scharfen Kontur und der Begrenzung widersprach. Auch
wenn es Schiller war, der den modernen Dichter auf jene „Kunst des
Unendlichen“112 festgelegt hatte, die schließlich von den Frühroman-
tikern poetologisch beim Wort genommen wurde, befremdet an de-
ren poetischen Elaboraten dann doch das Exzentrische und Spekula-
tive. Schlegels Fragmenten wird „Dürre, Trockenheit und sachlose
Wortstrenge“ attestiert, die Lucinde (1798) ist für Schiller der „Gipfel
moderner Unform und Unnatur“.113

1.5. Ästhetik par provision

Ziel der folgenden Studien ist es, in einer ‚dichten‘ Beschreibung der
vorklassischen Produktionen jenen Weg zu rekonstruieren, den Schil-
––––––––––––––
107 Alt: Schiller, Bd. 2, S. 320.
108 Ebd. S. 315.
109 Fambach, Oskar: Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik (1750-1850). Bd. 2: Schiller
und sein Kreis. Berlin 1957, S. 268.
110 Blüthenstaub Nr. 114. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich Hardenbergs.
Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard
Samuel. Darmstadt 1999, hier S. 285.
111 KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 209.
112 NA 20, 440.
113 NA 30, 73

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1. Klassizität und ästhetisches Provisorium 19

lers Auffassung von Funktion und Faktur der Kunst zwischen Karls-
schule und Kantrezeption – also im Zeitraum von 1780 bis 1795 –
nimmt. Sie greifen dazu über die ästhetischen Abhandlungen im en-
geren Sinne hinaus und beziehen das gesamte Gattungs- und Diskurs-
spektrum zwischen Medizin und Philosophie ein. In der systemati-
schen Durchsicht einer Ästhetik vor der Ästhetik, d.h. vor den gro-
ßen Abhandlungen, liegt der Neueinsatz der folgenden Untersu-
chung. Wie der Ethnologe steht der Literaturwissenschaftler hier vor
einer disparaten „Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder
ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und
verborgen sind und die er zunächst einmal irgendwie fassen muss“.114
Dies geschieht in unserem Fall durch die Annahme, 1. dass das Text-
ensemble zwischen Karlsschule und Kant-Begegnung eine dynamische
Einheit bildet, deren Zentrum 2. eine kontinuierliche Auseinander-
setzung mit ästhetischen Grundfragen im weiteren Sinne darstellt, die
teils explizit (z.B. im Schaubühnen-Aufsatz) teils auch implizit (z.B. in
den Dissertationen, in der Lyrik oder im Geisterseher) geführt wird.
So wird im ersten Abschnitt zu zeigen sein, dass „Gleichursprüng-
lichkeit“115 und „Verschwisterung“116 von Ästhetik und Anthropolo-
gie im 18. Jahrhundert nicht nur eine Anthropologisierung der Äs-
thetik und Literatur zur Folge hat, sondern auch eine literarische
Durchdringung der Anthropologie, und dies nicht nur in dem be-
kannten Sinn, dass „Anthropologie sich Unterstützung von den äs-
thetischen Praktiken erwartet“117 und so etwa Roman oder Krimi-
nalerzählung zur narrativen Experimentalanordnung werden lässt.
Neben diese Laborsituation und –simulation literarischer Anthropo-
logie, die für Schillers Erzählungen, die Historiographie wie auch die
Dramen längst bekannt und gut dokumentiert ist, tritt ein gegenläu-
figer Vorgang. Die poetische Durchdringung auch der medizinischen
und anthropologischen Schriften. Nimmt man die „Verbindung von
Anthropologie und Literatur als wechselseitige Ermutigung, Reflexi-
on, Kritik“118 ernst, gilt es in der Frage der Poetizität bzw. „Poetik

––––––––––––––
114 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme.
Frankfurt/Main 1987 (= sw 696), S. 15.
115 Vgl. Zelle, Carsten: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Äs-
thetik und Anthropologie um 1750. In: Ders. (Hg.): Vernünftige Ärzte. Hallesche Psy-
chomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklä-
rung. Tübingen 2001 (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 19), S. 5-24.
116 Pfotenhauer, Helmut: Literarische Anthropologie: Selbstbiographien und ihre Geschichte
– am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987 (= Germanistische Abhandlungen 62), S. 1.
117 Ebd.
118 Ebd.

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20 I. Klassiker vor der Klassik

des Wissens“119 nicht nur epistemologische, sondern auch literarisch-


ästhetische Vorprägungen in den Blick zu nehmen. So wird, um ein
Beispiel zu geben, Fieber zur pathologischen wie poetologischen Leit-
kategorie des Frühwerks, zum Inbegriff der verlorenen metriopathi-
schen Temperatur, an der Schiller zwischen Anthologie und Räubern,
Fieberschrift und Versuch ueber den Zusammenhang kontinuierlich
und in diskursiver „Vieläugigkeit“120 arbeitet. Der Austausch von an-
thropologischem Wissen und poetischer Praxis ist demnach nicht so
einsinng, wie es scheinen könnte. Nicht nur die Dichtung wird von
Fachwissen durchdrungen, wie das Beispiel der „Inversionen des
Franz Moor“ in den Räubern belegt121, auch die Sachtexte ruhen wie-
derum auf einem literarischen, in diesem Fall dramatischen Substrat –
etwa wenn Schiller den Gegensatz zwischen „hitzigem“ und „Faul-
fieber“ in personifizierenden Sprachgebärden beschwört, die das
Handlungsgerüst der gleichzeitig entstehenden Räuber durchscheinen
lassen.
Neben die Verschwisterung von Literatur und Anthropologie
tritt der Aspekt der Kontinuität: das Fortbestehen eines anthropolo-
gisch-medizinischen Bild- und Struktursubstrats in Schillers „klassi-
scher“ Ästhetik und weit darüber hinaus. Dies gilt z.B. für das typo-
logische, klassifikatorische Denken in „Stufenleitern“ und Tableaus,
das Schiller aus der medizinischen Nosologie seiner Fieberlehre über-
nimmt und zur Strukturierung ästhetischer Fragestellungen noch
nach der Begegnung mit Kant verwendet. Medizinisches im engeren
Sinne bleibt als Folie ästhetischer Bestimmungen erhalten, etwa wenn
im späten Aufsatz Ueber das Erhabene das Pathetische als „Inokulation
des unvermeidlichen Schicksals“ bezeichnet wird, durch welche „es
seiner Bösartigkeit beraubt, und der Angriff desselben auf die starke
Seite des Menschen hingeleitet wird.“122 Die Metapher der ästheti-
schen Impfung, in der die „Einsicht in die immunitäre Verfassung des
Menschenwesens“123 formuliert ist, lässt sich nach mehreren Seiten
––––––––––––––
119 Vogl, Joseph (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999; Brandstetter,
Gabriele: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800.
Würzburg 2004 (= Stiftung für Romantikforschung 26); Renneke, Petra: Poesie und
Wissen. Poetologie des Wissens der Moderne. Heidelberg 2008.
120 Oesterle, Günter: Exaltationen der Natur. Friedrich Schillers Semele als Poetik tödli-
cher Ekstase. In: Braungart, Georg / Greiner, Bernhard (Hg): Schillers Natur. Leben,
Denken und literarisches Schaffen. Hamburg 2005 (= Zeitschrift für Ästhetik und all-
gemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 6), S. 209-220, hier S. 213.
121 Riedel, Wolfgang: Die Aufklärung und das Unbewusste. Die Inversionen des Franz
Moor. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 198-220.
122 NA 21, 51.
123 Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt/Main
2009, S. 13.

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1. Klassizität und ästhetisches Provisorium 21

ableiten: kulturhistorisch aus der Diskussion um die Blatternimpfung,


die um 1800 zu den umstrittenen medizinischen Praktiken gehört
und daher als Metapher vielfach Verwendung findet; poetologisch aus
Lessings Bestimmung des Theaters als praeparatio dramatica und Me-
dium „pragmatischer Anthropologie“ im Sinne Kants.124 Schließlich
biographisch aus dem Umstand, dass Schiller seinen Sohn Ernst am
4.4.1797 einer „Blatterninoculation“125 unterzog, im Mai 1800 auch
Caroline Schiller, die sogar unter einer langwierigen Impfreaktion zu
leiden hatte. Man erkennt an dieser Stelle die biographische und „per-
sönliche Dimension der Theorie“126, die neben der diskursiven kei-
neswegs zu übersehen ist. Schon der junge Schiller weiß: „die Philo-
sophie schlägt um, wie unsre Pulse anders schlagen“.127
Diese biographische Dimension wird bei der Rekonstruktion der
Schiller’schen Ästhetik eine gewisse Rolle spielen, weil Schiller selbst
sie immer wieder psychologisch reflektiert hat – z.B. im berühmten
Brief an Reinwald vom 14.4.1783128, der das Verhältnis zwischen Au-
tor und Text als erotisches und narzisstisches, als Spiegelung und Pro-
jektion entwirft. Signatur und Spezifik der Schiller’schen Ästhetik
sind von den kontingenten, bisweilen auch anekdotischen Daten der
inneren wie äußeren Biographie nicht abzulösen. Insofern wird eine
Genealogie der Schiller’schen Ästhetik nicht einseitig auf Verabschie-
dung des Autors zugunsten des oder der Diskurse drängen, sondern
immer auch seine „Rückkehr“129 in einem einerseits kultur- und litera-
turwissenschaftlich, andererseits psychoanalytisch reflektierten Sinn
bedenken müssen.

––––––––––––––
124 In der Definition der Komödie im 29. Stück der Hamburgischen Dramaturgie: „Die
Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen […] Ihr wahrer
allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit das
Lächerliche zu bemerken.“ Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert in Zusam-
menarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von
Schirnding und Jörg Schönert. 8 Bde. München 1970ff., hier Bd. 4, S. 363.
125 An Goethe, 17.2.1797; NA 29, 51.
126 Zelle, Carsten: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. In:
Luserke (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 364-374, hier S. 366. Cassirer: Idee und Gestalt, S.
101 spricht von der notwendigen „Betrachtung des persönlichen Moments in Schil-
lers Methodik.“
127 NA 1, 86 (An einen Moralisten; v. 38f.).
128 NA 23, 78-82.
129 Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard / Martinez, Matias / Winko, Simone (Hg.): Rück-
kehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999 (= Studien
und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71).

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22 I. Klassiker vor der Klassik

2. Methoden und Perspektiven


2. Methoden und Perspektiven
2.1. Diesseits und jenseits von Kant

„Der Gang unseres Geistes wird oft durch zufällige Verkettungen be-
stimmt“, schreibt Schiller im Rückblick auf den hier zu betrachten-
den Zeitraum im Jahr 1801.130 In der Tat: Der Weg von der Karls-
schule zu Kant ist eine solche Folge von Begegnungen, Kraftfeldern
und Konstellationen, die Schillers Weg entscheidend beeinflussen.
Seit langem ist gesehen worden, dass Schillers „ästhetische Erzie-
hung“131 durch Figuren wie Wieland oder Moritz und durch den lang-
jährigen, kritischen Dialog mit Körner ebenso geprägt ist wie durch
die Auseinandersetzung mit Kant, auf die sich die Forschung zu den
großen Abhandlungen beginnend mit den Kallias-Briefen immer kon-
zentriert hat.132 Umstritten waren allenfalls die Folgen, die sich aus
dieser Begegnung für den Dichter Schiller ergaben. Dass Schiller aus
Kant „wie aus einer Kaltwasseranstalt herausgetreten sei“ 133, ist schon
bei Nietzsche ein Topos. Nietzsche ist es auch, der Schillers großen
Abhandlungen „Affectation der Wissenschaftlichkeit“ unterstellt und
sie als „Muster“ abfertigt, „wie man wissenschaftliche Fragen der Aes-
thetik und Moral nicht angreifen dürfe.134 Dass sich hier eine „Mesal-
––––––––––––––
130 An den Leipziger Musikkritiker Johann Friedrich Rochlitz. NA 31, 72.
131 Hinderer, Walter: Beiträge Wielands zu Schillers ästhetischer Erziehung. In: Jahrbuch
der deutschen Schiller-Gesellschaft 18 (1974), S. 348-387; Wielands Beiträge zur deut-
schen Klassik. In: Conrady, Karl Otto (Hg.): Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik.
Stuttgart 1977, S. 44-64; zu Moritz und Schiller vgl. Schneider: Die Schwierige Sprache
des Schönen.
132 Einige der wichtigsten neueren Studien seien hier genannt: Stachel, Thomas: Der
Ring der Notwendigkeit. Friedrich Schiller nach der Natur. Göttingen 2010 (= Manhat-
tan Manuscripts 4); Macor, Laura Anna: Il giro fangoso dell’umana destinanzione.
Friedrich Schiller dall’illuminismo al criticismo. Florenz 2008 (Edizione ETS 50);
Beiser, Frederick: Schiller as Philosopher. A Re-Examination. Oxford 2005; Feger,
Hans: Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers. Heidelberg
1995; Muehleck-Müller, Cathleen: Schönheit und Freiheit. Die Vollendung der Moderne
in der Kunst; Schiller – Kant. Würzburg 1989; Tschierske, Ulrich: Vernunftkritik und
ästhetische Subjektivität. Studien zur Anthropologie Friedrich Schillers. Tübingen 1988
(= Studien zur deutschen Literatur 97); Mein, Georg: Die Konzeption des Schönen.
Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik: Kant – Moritz – Hölderlin
– Schiller. Bielefeld 2000; Schaarschmidt, Peter: Die Begriffe ‚Notwendigkeit‘ und ‚All-
gemeinheit‘ bei Schiller und Kant. Diss. Zürich 1971.
133 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, 181.
134 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 605. Hier mag Heine im Hintergrund stehen,
für den Schiller „ein gewaltsamer Kantianer“ ist, dessen „Kunstansichten […] ge-
schwängert [sind] von dem Geist der Kantischen Philosophie.“ Heinrich Heine: Wer-
ke und Briefe in zehn Bänden. Hg. von Hans Kaufmann. Berlin/Weimar 21972, Bd. 5,
S. 272. Zu Schiller und Nietzsche vgl. Merlio, Gilbert: Schiller-Rezeption bei Nietz-

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2. Methoden und Perspektiven 23

liance“135 entspann, schien Schillers eigene rückblickende Skepsis na-


hezulegen, etwa das Bekenntnis gegenüber Goethe, es sei „hohe Zeit,
daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe. Das Herz
schmachtet nach einem betastlichen Objekt“.136 An Christian Gottlob
Voigt schreibt Schiller, er habe sich „aus der metaphysischmephiti-
schen Luft in den freyen und warmen Himmel der Poesie heraus ge-
rettet“.137 Gegenüber Johann Friedrich Rochlitz ist ironisch von der
„metaphysisch-critisch(en) Zeitepoche“ die Rede, welche „das Be-
dürfnis“ geweckt habe, „nach den letzten Principien der Kunst“ zu
greifen. Seine ästhetischen Schriften sind ihm, so im letzten Brief an
Wilhelm von Humboldt, nicht mehr als „Versuche, denen ich keinen
höheren Werth geben kann und will, als daß sie ein Stück meines
Nachdenkens und Forschens bezeichnen, und eine vielleicht noth-
wendige Entladung der metaphysischen Materie sind, die wie das
Blatterngift in uns allen steckt, und heraus muß“.138
Schiller hat, dies legen solche Metaphern nahe, den kompensato-
rischen Zug der Kunstmetaphysik deutlich erkannt. Erst die Rekon-
struktion der vorkantischen Ästhetik öffnet den Blick für Funktio-
nen und Signaturen der spekulativen Ästhetik zwischen Kallias-Brie-
fen und Ueber naive und sentimentalische Dichtung. Hier, im Vorfeld
der Kant-Rezeption, vollzieht sich ein Gärungs- und Klärungsprozess.
Er mündet in eine Trennung der Bereiche von Ästhetik und Meta-
––––––––––––––
sche. In: Bollenbeck, Georg / Ehrlich, Lothar (Hg.): Friedrich Schiller. Der unter-
schätzte Theoretiker. Köln u.a. 2007, S. 191-213; Seggern, Hans-Gerd von: Nietzsche
und die Weimarer Klassik. Tübingen 2005; Ulrichs, Lars-Thade: Braucht ein Über-
mensch noch Bildung? Nietzsches Bildungskonzept vor dem Hintergrund von Schil-
lers Ästhetischen Briefen. In: Nietzscheforschung 12 (2005), S. 111-124; Martin, Nicho-
las: Nietzsche and Schiller. Untimely Aesthesis. Oxford 1996; Riedel, Wolfgang: Homo
natura. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin/New York 1996 (= Quellen und
Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 7 (241), S. 188-192. In neuerer Zeit
hat Helmut Koopmann: Denken in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil. In:
Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 30 (1986), S. 218-250, hier S. 236 die These
vertreten, „daß die Begegnung mit der kantischen Philosophie […] Schiller um die Ei-
gentümlichkeit seines Schreibens gebracht habe […] Schiller hat das offenbar alles
aufgegeben, zurückgelassen, beiseitegedrängt, als er mit den kantischen Schriften be-
kannt wurde“ und zwar „zugunsten einer „philosophische Einteilungslust und Ab-
grenzungswut“ (ebd. S. 239), die einer „Bilderstürmerei großen Stils gleichkommt.“
Am Ende stehe „der Bankrott der Phantasie, das absolute Ende der Imaginations-
kraft“ (ebd. S. 240), ja der „Bildschwund“ (ebd. S. 242). In dieselbe Richtung argu-
mentiert Helmut Pfotenhauer: Würdige Anmut, S. 171: „Die Zeit der Kantlektüre seit
1791 war die der Bilderlosigkeit.“ Die Durchsicht von Schillers Bildgebrauch wird
diese radikale Zäsur des Kant-Erlebnisses jedoch gerade nicht bestätigen.
135 Naumann-Beyer, Waltraud: Kant und Schiller – eine Mesalliance? In: Impulse 5
(1982), S. 111-148.
136 17.12.1785; NA 28, 132.
137 13.9.1795; NA 28, 52.
138 NA 31, 72.

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24 I. Klassiker vor der Klassik

physik, die vor 1793 noch miteinander verschränkt sind. Auf Schil-
lers Wendung von der Theosophie zur Ästhetik trifft Nietzsches Dik-
tum zu: „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlas-
sen“.139 Erst Schillers Verzicht auf metaphysische Gewissheiten lenkt
die spekulativen Energien von der Philosophie auf Kunst und Kunst-
philosophie um. Nach der Resignation wird Schönheit für Schiller
zur promesse de bonheur. Als „Bürgerin zweier Welten“140 wachsen ihr
soteriologische Dimension und Funktion zu. Schönheit wird zur
Mittlerin und Mittelkraft in metaphysicis, mit Hegels Worten zu(m)
„erste(n) versöhnende(n) Mittelglied zwischen dem bloß Äußerlichen,
Sinnlichen und Vergänglichen und dem reinen Gedanken“.141 Die
Kallias-Briefe, das erste Dokument der Auseinandersetzung mit Kant,
zeigen denn auch die Verbindung der Kritik der Urteilskraft mit pla-
tonischen Elementen aus Schillers Jugendphilosophie. Sie verleihen
dem Diskurs um das Schöne eine religiöse Anmutung, welche die
Kunst auf den (mit Hegel) „gemeinschaftlichen Kreis mit Religion
und Philosophie“142 verweist. Aus der „transzendentalen Ästhetik“
wird eine Ästhetik als Transzendenzersatz, in der die Evidenz der Er-
scheinung über die Entzogenheit des Göttlichen hinwegtrösten soll.
Im Schönen und seiner sinnlichen Epiphanie findet Schiller seine äs-
thetische Theodizee, einen ästhetischen Gottesbeweis durch das
„sinnliche Wunder“143 der Kunst. Sind Ästhetik und Metaphysik
beim vorklassischen Schiller noch untrennbar miteinander verbun-
den, so unternehmen die großen Abhandlungen eine säkularisierende
Ersetzung und kontrafaktische Verschiebung, bei der christliche bzw.
christologische Denkfiguren und Bilder aus ihrem ursprünglichen
––––––––––––––
139 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, 144 (Menschliches, Allzumenschliches I, 4, Nr. 150).
140 NA 20, 260.
141 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. Auf der Grundlage
der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und
Karl Markus Michel. 3 Bde. Frankfurt/Main. 1979 (= Theorie-Werkausgabe, 13-15).
hier Bd. 1, S. 21.
142 Ebd. S. 20.
143 Der Begriff nach Kommerell, Max: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik.
Frankfurt/Main 31982 (zuerst russ. 1928), S. 232, der jedoch die sinnlichen und
kunstreligiösen Emphasen der theoretischen Schriften unterschätzt: „Schiller war na-
he daran in der Schönheit das fleischgewordene Nichts zu verehren“; erst als er aus
den „Zwängen des Denkens“ herausgetreten sei, habe er das Schöne als „ein sinnliches
Wunder“ beschreiben können. An dieser Stelle, am „sinnlichen Wunder des Schö-
nen“, wird Hegel anschließen, nicht nur mit seiner berüchtigten Definition des
Schönen als „sinnlichem Scheinen der Idee“ – die unmittelbar den Kallias-Briefen
entnommen sein könnte – sondern auch mit seiner Würdigung Schillers in den Vorle-
sungen zur Ästhetik, Bd. 1, S. 89: „Es muß Schiller das große Verdienst zugestanden
werden, die Kantische Subjektivität und Abstraktion des Denkens durchbrochen und
den Versuch gewagt zu haben, über sie hinaus die Einheit und Versöhnung denkend
als das Wahre zu fassen und künstlerisch zu verwirklichen.“

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2. Methoden und Perspektiven 25

Kontext gelöst und im Spannungsfeld von Anthropologie, ästheti-


schem Kritizismus und Klassizismus neu konfiguriert werden.144
Kants unbestrittene Bedeutung für die Schiller’sche Kunst- und
Tragödientheorie darf nicht dazu führen, jene älteren Bestandteile an
ihr zu übersehen, die auf alternative ideen- und kulturgeschichtliche
Traditionen verweisen. Schiller selbst hat diesem Missverständnis da-
durch Vorschub geleistet, dass er sich selbst lediglich als Ausleger,
Kommentator oder Kontinuator der Kritik der Urteilskraft dargestellt
hat. Dies mag allenfalls auf den Essay Vom Erhabenen zutreffen, der
weithin Exzerptcharakter aufweist und tatsächlich über weite Stre-
cken eine „weiter(e) Ausführung einiger Kantischen Ideen“ dar-
stellt.145 Schillers Hochschätzung für Kant ist ungebrochen; er bleibt
ein „Reicher“, der „viele Bettler in Nahrung / setzt“.146 Daher demen-
tiert Schiller ausdrücklich den Topos von der „anscheinende(n) Un-
fruchtbarkeit“147 der Kantischen Ästhetik, den Körner im Vorfeld des
Kallias-Projekts aufgreift. In den Kallias-Briefen ist gerade von der
„ungemeine(n) Fruchtbarkeit“148 Kantischer Ideen die Rede. Dabei
sieht Schiller durchaus Kants Kunstferne. Ungenügend erscheint des-
sen „empirischer“ und „subjectiv-rational(er)“149 Kunstbegriff. Er
weckt den Impuls, einen „objectiven Begriff des Schönen“ zu suchen,
„an welchem Kant verzweifelt“ sei.150 Die Kallias-Briefe zeigen, dass
Schiller nicht nur ein objektives Prinzip des Schönen vermisst, son-
dern auch eine Theorie des Kunstwerks bzw. des Kunstschönen, die in
der abschließenden Beilage über Das Schöne der Kunst151 nachgereicht
wird. In ihr überschreitet Schiller den Kreis der „Kantischen Grund-
sätze“ zu einer Reflexion über die „Medien“ der Kunst, die nun ver-
sucht, die allgemeine Frage des Schönen auf das Spezifische der ein-
zelnen Künste, insbesondere die Sprachkunst zu beziehen. Der Kanti-
sche Rahmen wird gesprengt, indem Schiller eigene Denkfiguren
(Mittelkraft) mit Themen der Aufklärungsästhetik (Darstellung) und
––––––––––––––
144 Solche christlich-heilsgeschichtlichen Kontrafakturen sind nur sporadisch untersucht
worden. Vgl. Brelage, Manfred: Schillers Kritik an der Kantischen Ethik oder Gesetz
und Evangelium in der philosophischen Ethik. In: Brelage, Manfred: Studien zur
Transzendentalphilosophie. Hg. von Aenne Brelage. Berlin 1965, S. 230-244; Hartwich,
Wolf-Daniel: Apokalyptik der Vernunft. Die eschatologische Ästhetik Kants und
Schillers. In: Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes. Würzburg 2001, S. 181-
192.
145 So im Untertitel NA 20, 171.
146 NA 1, 315 (Kant und seine Ausleger).
147 Körner an Schiller, 6.1.1792; NA 34/I, 123.
148 NA 26, 209.
149 NA 26, 176.
150 21.12.1792; NA 26, 170.
151 NA 26, 222-231.

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26 I. Klassiker vor der Klassik

der Sprachphilosophie („Genius der Sprache“) zu einer im Kern poe-


tologischen Reflexion verbindet.
Bekannt sind schließlich Schillers Widerstände gegen Kants Mo-
ralphilosophie, vorgetragen vor allem in Ueber Anmut und Würde.
Die „Idee der Pflicht“ sei bei Kant „mit einer Härte vorgetragen, die
alle Grazien davon zurückschreckt“.152 Schiller spricht von einer
„finstern und mönchischen Ascetik“, von einer „Rigidität“, die „nur
in eine rühmliche Art von Knechtschaft“ ausufere.153 Kant sah sich in
seiner Religionsschrift zu einer Entgegnung gegen Schillers „Rehabili-
tierung der Sinnlichkeit“154 in der Ethik veranlasst, die das Unter-
scheidende bei aller Einigkeit „in den wichtigsten Prinzipien“ beton-
te: „Diese Begleiterinnen der Venus Urania sind Buhlschwestern im
Gefolge der Venus Dione, sobald sie sich ins Geschäft der Pflichtbe-
stimmung einmischen und die Triebfedern dazu hergeben wollen“.155
Hier wie in den Kallias-Briefen resultiert der Abstand zu Kant daraus,
dass Schiller älteren Traditionen der Aufklärungsphilosophie – z.B.
Shaftesbury, vermittelt durch Wieland – verpflichtet blieb, die nun zu
„Kritik und Revision“156 des Kritizismus im Namen einer rehabilitier-
ten Neigung und „versöhnten“ Totalität des Menschen antrieb. Hier
wie in der kryptochristlichen Signatur des Schönen als „versöhnen-
de(s) Mittelglied“ wird Hegel unmittelbar an Schiller anschließen157,
––––––––––––––
152 NA 20, 284.
153 NA 20, 285.
154 Der Topos geht zurück auf Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen
3
1973 [zuerst 1932], S. 475 („Emanzipation der Sinnlichkeit“); danach Kondylis, Pana-
jotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002 (zu-
erst 1981), bes. S. 42ff.
155 Kant: Werke, Bd. 8, S. 670 Anm.
156 Tschierske: Vernunftkritik, S. 17. Zur Kritik der kritischen Philosophie insgesamt
ebd. S. 17-48.
157 Die Bedeutung Schillers für die Entfaltung der idealistischen Philosophie scheint –
insbesondere von der Philosophiegeschichtsschreibung – kaum realistisch erfasst.
Hier setzen sich disziplinäre Grenzen fort, die im Grunde zurückreichen bis in die
exemplarische Auseinandersetzung zwischen Schiller und Fichte. So zieht es Dieter
Henrich, der bedeutendste Kenner der idealistischen Philosophie, vor, deren Genese
aus den kleinräumigen „Konstellationen“ und Denkkonfigurationen des Tübinger
Stiftes und seines Lehrpersonals abzuleiten statt aus dem persönlichen wie publizisti-
schen Einfluss Schillers auf die ‚heroische’ Trias Hegel, Hölderlin und Schelling, von
dem die ältere Philosophiegeschichte noch wusste, dass er in seiner Bedeutung für
den nachkantischen Idealismus „nicht wohl überschätzt“ werden kann. Vgl. Georg
Lasson in seiner Vorrede zur Ausgabe von Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie
des Geistes. Hg. von G.L. Leipzig 1923 (= Philosophische Bibliothek 114), S. 30. Vgl.
Cassirer: Idee und Gestalt, S. 111: „Wie viel ferner Hegel Schiller verdankt, konnte
nach seinen eigenen Äußerungen und nach der dankbaren Bewunderung, mit der er
überall von ihm spricht, niemals fraglich sein.“ Ohne Hinweis auf Schiller dagegen
Dieter Henrich: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idea-
lismus. Tübingen/Jena (1790-1794). 2 Bde. Frankfurt/Main 2004. Vgl. vorläufig:

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2. Methoden und Perspektiven 27

stets im Bewusstsein, dass die Eschataologie und Soteriologie des


Schönen „für uns ein Vergangenes“ ist, weil im Kontext der Moderne
„der Gedanke und die Reflexion […] die schöne Kunst überflügelt“
hat.158 Dieses ‚Ende der Kunst‘159 bedeutet den Aufgang der Philoso-
phie, welche die Kunst als „die höchste Weise […], sich des Absoluten
bewußt zu sein“160, ablöst. Hegel entscheidet den Streit der Diszipli-
nen für sich, indem er Versatzstücke der Schiller’schen Ästhetik
epitomiert und in ein posthistorisches Präteritum setzt.161 Im Übrigen
aber knüpft er, wiewohl dialektisch-überbietend, an Schillers ge-
schichtsphilosophische Diagnosen zu Status und Funktion der Kunst
an.
Nimmt man diese Beobachtungen zusammen, wird man den kon-
servativen Zug und die ideengeschichtliche Beharrlichkeit der Schil-
ler’schen Ästhetik in und über die Kant-Erfahrung hinaus hervorhe-
ben müssen. Wenn Schiller noch im ersten ästhetischen Brief davon
spricht, dass „es größtenteils Kantische Grundsätze sind, auf denen
die nachfolgenden Behauptungen ruhen werden“162, so liegt darin ge-
radezu eine Verkennung der eigenen Wurzeln. In ihr spiegelt sich
Schillers Selbstwahrnehmung als Kantianer, in der ihn die nachfol-
gende Generation bestätigte, ohne die älteren Sedimente seiner Kunst-
philosophie zu beachten, die sich etwa bei Hegel als anschlussfähig
erweisen werden. Der Dialog auf dem Höhenkamm des deutschen
Idealismus schien daher von Anfang an eine Auseinandersetzung um
––––––––––––––
Eldridge, Richard: Hegel, Schiller, and Hölderlin on Art and Life. In: Ästhetik und
Philosophie der Kunst. Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 4 (2006), S. 152-
178; Pott, Hans-Georg: Die Ästhetik Schillers mit Bezug auf Hegel. In: Ders.: Schiller
und Hölderlin. Studien zur Ästhetik und Poetik. Frankfurt/Main 2002, S. 29-47;
Ghasempour, Morteza: Die Theorie des ästhetischen Scheins bei Schiller und Hegel. Diss.
Köln 1995; Durst, David C.: Zur politischen Ökonomie der Sittlichkeit bei Hegel und
der ästhetischen Kultur bei Schiller. Eine Studie zur politischen Vernunft. Wien 1994;
Kain, Philip J.: Schiller, Hegel, and Marx. State, Society, and the Aesthetic Ideal of An-
cient Greece. Kingston u.a. 1982 (= MacGill-Queen's studies in the history of ideas 4).
158 Hegel: Vorlesungen, Bd. 1, S. 25 bzw. 24.
159 Zu diesem Komplex vgl. die klassischen Aufsätze von Oelmüller, Willi: Hegels Satz
vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel. In: Phi-
losophisches Jahrbuch 73 (1965/66), S. 75-94. Henrich, Dieter: Kunst und Kunstphilo-
sophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel). In: Immanente Ästhe-
tik und ästhetische Reflexion. Hg. von Wolfgang Iser. München 1966 (= Poetik und
Hermeneutik 2), S. 11-32; Gadamer, Hans-Georg: Ende der Kunst? Von Hegels Lehre
vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Anti-Kunst von heute. In: Friedrich,
Heinz (Hg.): Ende der Kunst – Zukunft der Kunst. München 1985, S. 16-33.
160 Hegel: Vorlesungen, Bd. 1, S. 24.
161 Am deutlichsten in der Don Karlos-Anmutung des zentralen Satzes (ebd.): „Die schö-
nen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späten Mittelalters sind vo-
rüber.“
162 NA 20, 309.

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28 I. Klassiker vor der Klassik

die Deutungshoheit innerhalb des ästhetischen Feldes zu sein, ein


Streit der Fakultäten, den die Kontroverse mit Fichte um den „schö-
nen Stil“ archetypisch begründet.163
Eine der wichtigsten Aufgaben der Schiller-Forschung besteht da-
rin, ihren Autor wieder aus der reflexhaften Ausrichtung auf Kant zu
lösen und die ideengeschichtliche und diskursive Ambivalenz der
Auseinandersetzung mit der philosophischen Ästhetik nach 1791 zur
Kenntnis zu nehmen. Sie bringt es mit sich, „dass ältere, aufkläreri-
sche Anschauungen im Artikulationsmedium des Kantianismus refor-
muliert werden“.164 Dies gilt insbesondere für die anthropologischen
Lösungen, die auch dort, wo „Kantische Grundsätze“ prätendiert
werden, untergründig, oft zu Begriffen und Metaphern verdichtet,
fortbestehen. So ist Schillers „transzendentaler Weg“ in den ästheti-
schen Briefen (11. bis 15. Brief) doch letztlich ein „Weg durch die
Anthropologie“.165 Indem Schiller die Ableitung der „reinen Ver-
nunftbegriffe“ des Schönen triebpsychologisch unterfüttert, argumen-
tiert er „im Grunde immer, auch wo er sich ‚transzendental’ gibt, ge-
gen Kant“.166 Eine weitere Spannung bedeutet das „Zugleich zweier
Anthropologien“ (des Schönen und des Erhabenen), das in eine
„schismatisierende, in Widersprüchen endende Argumentation“ mün-
det, die sich ausschließlich auf die „Mittellagenanthropologie“167 und
mithin die Kallistik richtet, während die zweite Komponente der
„doppelten Ästhetik“168 – das Erhabene – ausgespart bleibt. Als Kom-
pensation für diesen fehlenden zweiten Teil platziert Schiller daher in
der Werkausgabe von 1801 den Essay Ueber das Erhabene vor, den
Ueber das Pathetische hinter die Ästhetischen Briefe.169
Das Spiel der Widersprüche und Doppelungen ließe sich fortset-
zen. Zur Spannung zwischen Trieblehre und „reine(m) Vernunftbe-

––––––––––––––
163 Görner, Rüdiger: Poetik des Wissens. Zur Bedeutung der Kontroverse zwischen
Schiller und Fichte über ‚Geist und Buchstab‘ sowie die ‚Grenzen beim Gebrauch
schöner Formen‘. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51 (1999), S. 342-
360; Waibel, Violetta L.: Wechselbestimmung. Zum Verhältnis von Hölderlin, Schil-
ler und Fichte in Jena. In: Schrader, Wolfgang H. (Hg.): Fichte und die Romantik.
Hölderlin, Schelling, Hegel und die späte Wissenschaftslehre. Amsterdam u.a. 1997, S. 43-
69; Wildenburg, Dorothea: ‚Aneinander vorbei‘. Zum Horenstreit zwischen Fichte
und Schiller. In: Ebd., S. 27-41.
164 Zelle, Carsten: Über den Grund des Vergnügens, S. 374.
165 Riedel: Kommentar, SW, Bd. 5, S. 1222.
166 Ebd. S. 1223.
167 Zelle, Carsten: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Brie-
fen (1795). In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 409-445, hier S. 429.
168 Zelle, Carsten: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau
bis Nietzsche. Stuttgart u.a. 1995.
169 Ebd. S. 437.

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2. Methoden und Perspektiven 29

griff der Schönheit“170 und zur ‚doppelten‘, aber nur halb eingelösten
Ästhetik gesellt sich eine doppelte Anthropologie, die nun neben der
physiologischen jene pragmatischen Aspekte einschließt, die Kant in
seiner 1798 gedruckten Vorlesung auf die „Erkenntnis des Menschen
als Weltbürgers“ bezieht.171 Ihre „Quellen“ und „Hülfsmittel“ sind
Schillers ureigene Domäne: „Weltgeschichte, Biographien, ja Schau-
spiele und Romane“.172 Hier weiß sich Kant einig mit Schiller, der
schon 1784 die Schaubühne eine „Schule der praktischen Weißheit“
und „ein(en) Wegweiser durch das bürgerliche Leben“ nennt.173 Die
ästhetischen Briefe sind auch in dieser Hinsicht als Integrationsversuch
zu lesen: Sie wollen aus der physiologischen Anthropologie Platner-
scher Observanz eine pragmatische Anthropologie ableiten, die in der
Idee des „ästhetischen Staates“ als einer Enklave des „guten Tones“ ih-
ren Mittelpunkt findet.174 Es geht nicht um das Kunstschöne, sondern
um Lebenskunst, die den „vollendeten Weltmann“ ausmacht.175 Hier,
im alteuropäischen Traditionszusammenhang von civilitas und
prudentia politica, von sozialen Kompetenzen und höfischen Kom-
munikationsidealen erweist sich Schiller nicht nur als Philosoph,
sondern als Soziologe des Schönen176.

2.2. Commercium und Kommunikation

Dass Schillers klassische Abhandlungen zur Ästhetik und Anthropo-


logie ein widersprüchliches Ensemble ideengeschichtlicher und dis-
kursiver Einflüsse darstellt, das weniger Lösungen als Aporien und
Suchbewegungen hervortreibt, hat schon Ernst Cassirer betont. Für
ihn stellen die großen Abhandlungen ein unerreichtes Muster dar,
„weil hier nicht bestimmten abstrakten Gedanken nur äußerlich eine
künstlerische Form gegeben wird, sondern weil sie selbst von Anfang
an und schon ihrer ersten Konzeption nach eine neue und selbständi-
ge Form sind.“177 Cassirer spricht von einem „klassische(n) Stil“ und
––––––––––––––
170 NA 20, 340 (10. Brief).
171 Kant: Werke, Bd. 10, S. 400.
172 Ebd. S. 401.
173 NA 20, 95.
174 NA 26, 216 (Kallias-Brief vom 23.2.1793).
175 Ebd.
176 Vgl. vorerst den klassischen Aufsatz von Heinz Otto Burger: Europäisches Adelsideal
und deutsche Klassik. In: Ders.: „Dasein heißt eine Rolle spielen.“ Studien zur deutschen
Literaturgeschichte. München 1963, S. 211-252 sowie Göttert, Heinz: Kommunikati-
onsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988, hier
S. 157-162.
177 Cassirer: Idee und Gestalt, S. 80.

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30 I. Klassiker vor der Klassik

von einem „neuen Typus“ des Philosophierens, der „eine ganz per-
sönliche, scheinbar individuell-bedingte und individuell-begrenzte
Aneignung der Kantischen Grundideen“ bedeute.178 Dies gilt jedoch
nicht nur für die Kant-Rezeption. Der viel beschworene Schiller’sche
„Eklektizismus“179 bestimmt vor allem das Frühwerk und bietet sich
von jeher ideengeschichtlichen Rekonstruktionen in besonderer Wei-
se an. Schiller selbst tendiert, wie oben gesehen, eher dazu, das Dis-
kontinuierliche seiner Entwicklung zu betonen. Dies gilt nicht nur
für seine Einschätzung als Kantianer, sondern auch für die poetische
Produktion: „im Poetischen habe ich seit 3, 4 Jahren einen völlig
neuen Menschen angezogen“180, schreibt er 1796 unter dem Eindruck
der Wiederaufnahme des Wallenstein.
Ebenso stark sind jedoch die Kräfte der Kontinuität – auch und
gerade jenseits von Kant. Beinahe Punkt für Punkt wird sich zeigen,
dass die kardinalen Themen der klassischen Ästhetik eine gleichsam
autochthone, mitunter verdeckte Vorgeschichte in Schillers vor-
klassischer Ästhetik besitzen, die dann wieder nach der Kant-Periode
in ihrer Eigenart aufgenommen wird. So stößt Schiller, um ein Bei-
spiel zu geben, auf das Problem des „doppelten“, d.h. des legitimen
„ästhetischen“ und des betrügerischen Scheins vortheoretisch im Geis-
terseher, der in der Gestalt des Illusionisten und Lichtmagiers den
dunklen Bruder des Schaubühnendichters als Großmeister der Täu-
schung entwirft. Der Roman wird zum metapoetischen Gleichnis für
die prekäre Genealogie der Schaubühne aus der Schaulust und ihren
trivialen Medien wie Guckkasten und Zauberlaterne, die metapho-
risch oder modellhaft auch in Schillers purgierter Ästhetik gegenwär-
tig bleiben und tragende Konzepte wie das der Projektion begründen.
Andere zentrale Themen idealistischer Ästhetik, etwa das Problem
der Autonomie der Kunst gegenüber der Philosophie, gehen Schiller
anlässlich der Künstler im Gespräch mit Wieland auf, dem auf diese
Weise das Verdienst zufällt, die prekäre Frage nach dem Ende der
Kunst erstmals als Kardinalproblem der Kunstphilosophie benannt zu
haben.181 Der Dynamik der Ideenentwicklung entspricht so eine be-
merkenswerte Kontinuität in den Tiefenstrukturen. Schon 1788 weist
Schiller gegenüber Körner auf das ökonomische Prinzip seines Schrei-
bens hin: „Meiner Kenntniße sind wenig. Was ich bin, bin ich durch
eine oft unnatürliche Spannung meiner Kraft. Täglich arbeite ich
––––––––––––––
178 Ebd. S. 85.
179 Ebd. S. 86
180 NA 27, 38.
181 Brief an Körner vom 9.2.1789; NA 25, 199f.: „Wieland nämlich empfand es als sehr
unhold, daß die Kunst nach dieser bisherigen Vorstellung doch nur die Dienerin ei-
ner höhern Kultur sei.“

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2. Methoden und Perspektiven 31

schwerer – weil ich viel schreibe. Was ich von mir gebe, steht nicht in
proportion mit dem, was ich empfange. Ich bin in Gefahr mich auf
diesem Wege auszuschreiben.“182 Schiller löst diese Disproportion
durch eine Arbeitsweise auf, die den Lern- in den Schreibprozess ein-
lagert. Mit diesen drei Operationen – Variation, Verschiebung, Über-
tragung – scheint die Methode und Evolutionsstruktur der Schil-
ler’schen Theoriebildung zureichend erfasst.
Nirgends wird dies deutlicher als in jenem Problemkomplex, an
dem sich die Anthropologie des jungen Schiller konstituiert. Die Fra-
ge nach dem Verhältnis von Geist und Körper („commercium mentis
et corporis“183) war mit der cartesischen Trennung des Menschen in
zwei distinkte Substanzen („res cogitans“ – „res extensa“) zur Provo-
kation der Philosophie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts ge-
worden. Dies forderte Kompensationen heraus. Gegen Descartes’
Abwertung wird in Anthropologie und Ästhetik die Sinnlichkeit re-
habilitiert. Der „ganze Mensch“ in seiner leibseelischen Totalität wird
zum Leitbild.184 Ein einziges Mal, nämlich in der zweiten Dissertation
über den Unterschied von entzündungsartigen und Faulfiebern (De
discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum), erwähnt Schiller
das commercium-Problem in seiner lateinischen Fassung. Es ist eine
bezeichnende Stelle, die den Zusammenhang von Geist und Körper
sogleich von seiner Grenze und Auflösung her in den Blick nimmt:
So sehr wird die enge Verbindung zwischen Geist und Körper bewahrt, so
sehr wohnt ein tyrannischer Mahner dem allzu anmaßend über sich selbst
bestimmenden Menschen inne, welcher unablässig den aus Erde Geschaffe-
nen selbst mahnt – ihn, der wieder zu Erde zerfallen wird.185
Der Versuch ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des
Menschen mit seiner geistigen, Schillers dritte Dissertation, stellt dann
den „merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele,
den grossen und reellen Einfluß des thierischen Empfindungssystemes
––––––––––––––
182 Brief an Körner 18.1.1788; NA 25, 5.
183 Noch einmal sei dazu an die Arbeiten von Hans-Jürgen Schings: Melancholie und
Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des
18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie und
Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller passim erinnert.
184 Specht, Rainer: Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Carte-
sianismus. Stuttgart/Bad Cannstatt 1966; Gerabek, Werner: Naturphilosophie und
Dichtung bei Jean Paul. Das Problem des commercium mentis et corporis. Stuttgart 1988
(= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 202); Kondylis: Aufklärung, S. 9-19; zum
größeren Kontext Borsche, Tilman u.a.: Leib-Seele-Verhältnis. In: Historisches Wör-
terbuch der Philosophie. Bd. 5. Basel 1980, Sp. 185-206.
185 SW, Bd. 5, S. 1110 (§ 23): „Adeo strictum inter animam et Corpus servatur
commercium; adeo tyrannicus homini arroganter nimis de se ipso statuenti monitor
inest, qui continuo ipsum hortetur ab humo progenitum, in humum relapsurum.“

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32 I. Klassiker vor der Klassik

auf das Geistige“ ausdrücklich ins Zentrum.186 Schon hier zeichnet


sich ab, wie sich das commercium-Problem nach Facetten auffächern
wird.
1. Als Theorie der leibseelischen Totalität und Harmonie des
Menschen, der „innigste(n) Vermischung dieser beiden Substan-
zen“187, die Schiller immer als Projekt und Imperativ versteht, als
Auftrag, den „ganzen Menschen in uns wieder her(zu)stell(en)“.188
2. Als Wahrnehmungstheorie, die sich dem Subjekt-Objekt-Pro-
blem stellt und den Übergang von materiellen Sinnesreizen zur im-
materiellen Seele zu klären hat. Das commercium-Problem begründet
hier eine Wahrnehmungspsychologie. Diese Lehre von der Aisthesis
mündet
3. in die Ästhetik als Theorie der Kunstwahrnehmung, deren Ef-
fekte im Horizont einer Rezeptionsästhetik nicht grundsätzlich von
denen anderer Sinneseindrücke geschieden werden können.

Die enge Wechselwirkung der beiden zuletzt genannten Spielarten ist


offensichtlich. In der Kategorie der Wirkung sind Natur- und Kunst-
rezeption nur Spielarten desselben psychologischen Weltverhältnis-
ses. Schiller spricht im Hinblick auf ersteres ausdrücklich vom „Kreis
der Wirkung“, vom „Uebergang von Seele zu Welt, von Welt zu See-
le“.189 Auch dieser Übergang wird jedoch ausschließlich von seiner
problematischen Seite her in den Blick genommen. Schon in der ers-
ten, nur fragmentarisch erhaltenen Dissertation hatte Schiller die
operative Schließung des psychischen Systems gegenüber der Umwelt
betont, mit der commercium und Kommunikation zwischen Geist
und Außenwelt zum Rätsel werden: „Die Welt muß auf ihn wirken“,
andererseits sind wir „unabhängig von der Welt. Sie ist unabhängig
von uns“.190
An dieser Stelle offenbart sich jener „Riß zwischen Welt und Be-
wußtsein“191, der sich in Variation und Verschiebung durch Schillers
weiteres Schreiben und Denken ziehen wird. In ihm ist vorbereitet,
was in den Entwürfen seit dem Ende der achtziger Jahre verstärkt ins
Blickfeld der Kunstreflexion rückt. Der Graben zwischen Mensch
und Natur, Subjekt und Welt wird ästhetisch produktiv. Die Leider-
fahrung trennender Vereinzelung in physiologicis wie in metaphysicis
wird zum Vorzug ästhetischer Freiheit geadelt. Wenn Schiller in der
––––––––––––––
186 NA 20, 41.
187 NA 20, 64.
188 NA 22, 245.
189 NA 20, 49 (Versuch ueber den Zusammenhang, § 7).
190 NA 20, 13.
191 Ebd.

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2. Methoden und Perspektiven 33

Vorrede zur Braut von Messina den Chor als „lebendige Mauer“ be-
zeichnet, „die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der
wirklichen Welt rein abzuschließen“192, so verschiebt dies unter Bei-
behaltung von Wortlaut und Struktur das Wahrnehmungsverhältnis
von Ich und Welt auf das Verhältnis von Idealismus (der Kunst) und
Realität. Schiller, der Denker der Kluft und des „Sprunges“, wird zum
Begründer einer Ästhetik der Distanz.193 Es wäre ein lohnendes
metaphorologisches Unterfangen, die Bildlichkeit der liminalen Tren-
nung, der unerbittlichen Demarkationen und der verweigerten Über-
gänge in Schillers Werk einmal systematisch zu verfolgen. Sie begeg-
net in zahlreichen Varianten: Neben „Riß“, „Mauer“194, „Abgrund“195,
„Sprung“ oder „Ferne“196 wäre noch der „Damm“197 zwischen Welt
und Gott zu nennen, der im Philosophischen Gespräch des Geistersehers
als undurchdringliche „Decke der Zukunft“ wiederkehrt, die zur Pro-
jektionsfläche für „Gaukler“ oder „Dichter, Philosophen und Staaten-
stifter“ (!) wird, die sie „mit ihren Träumen bemal(en)“.198 Aus dieser
Decke wird schließlich der Schleier der Isis (Das verschleierte Bild zu
Sais), an dem die „Forschbegierde“ des curiösen Jünglings zu Schan-
den wird wie im Taucher die Hybris des Menschen, der sich wissend
in die Tiefe stürzt.199 Schillers Wende von der Enthüllung zur Hülle,
zur ästhetischen Affirmation von Decke und Schleier als Medien-
metaphern spiegelt eine moderne Wende in der Geschichte der Schlei-
er-Metapher: „Mit der Wende zum Ästhetischen ist das Geheimnis
aus den semantischen Tiefenschichten in die Textur der Dichtung
übergetreten, wo es sich als unablösbar und unlösbar zeigt“.200
––––––––––––––
192 NA 10, 13.
193 Wilkinson, Elizabeth M.: Über den Begriff der künstlerischen Distanz. Von Schiller
und Wordsworth bis zur Gegenwart. In: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung
(1957), S. 69-88.
194 Auch in einem räumlichen Sinn, etwa bei der Belagerung der Malteser-Festung durch
die Türken in den Malthesern (NA 12, 25), bei der „die Communication zwischen
Elmo und La Valette Stadt aufgehoben ist.“
195 An Goethe; 27.2.1798; NA 29, 212.
196 In der gegen Bürger erhobenen Forderung, der Dichter müsse „aus der fernenden Er-
innerung“ (NA 22, 256) schreiben, also aus einem Moment der zeitlichen wie affekti-
ven Distanz und „Freiheit des Geistes“ gegenüber dem nötigenden Affekt.
197 NA 20, 124: „Gefiel es der Allmacht dereinst, dieses Prisma zu zerschlagen, so stürzte
der Damm zwischen ihr und der Welt ein, alle Geister würden in einem Unendlichen
untergehen, alle Akkorde in einer Harmonie ineinanderfließen, alle Bäche in einem
Ozean aufhören.“
198 NA 16, 166.
199 Kaiser, Gerhard: Sprung ins Bewußtsein. In: Oellers, Norbert (Hg.): Gedichte von
Friedrich Schiller (= RUB 9473). Stuttgart 1996, 201-216.
200 Assmann, Aleida: Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit. Esoterische
Dichtungstheorien in der Neuzeit. In: Assmann, Aleida / Assmann, Jan (Hg.): Schlei-

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34 I. Klassiker vor der Klassik

Tatsächlich führt Schiller in der Philosophie der Physiologie die Fi-


gur einer ‚Mittelkraft‘ ein, um den unversöhnlichen „Riß zwischen
Welt und Geist“ zu heilen.201 Diese Mittelkraft ist eigentlich „un-
denkbar“, wenngleich die „Erfahrung [sie] beweist“.202 Der Versuch
gibt zwar den Terminus auf, postuliert jedoch weiter eine „eigene
Klasse mittlerer organischer Kräfte“203 und sucht physiologisch wie
ästhetisch nach Agenten des leibseelischen „Konsensus“, dieses Mal
bereits mit langen Exkursen in die Literatur, die eigene (Räuber) und
die fremde (Macbeth).204 Statt einer physiologisch und neurologisch
bestimmbaren Kraft kommen Koppelungsinstanzen wie die Sympa-
thie ins Spiel; sie verweisen auf hermetische Traditionen magischer
Fernwirkung, die ja schon die Newtons Gravitationstheorie grundie-
ren.205 Die Idee einer unkörperlichen actio in distans, die wissenschaft-
lich längst in die „obskuren Randzonen der Episteme“ abgedrängt
war206, wird zur Grundfigur der Poetik des jungen Schiller. Indem sie
immer wieder die magisch-hypnotische Wirkung des ästhetischen
Zaubers beschwört, deutet sie die prekäre genealogische Beziehung
und Familienähnlichkeit zwischen Dichter und Scharlatan an.207
In der Grundfigur einer vis media tritt das Problem der Vermitt-
lung und Mitteilung in den Vordergrund, das Schiller vor allem an
Kants Theorie des Geschmacksurteils fasziniert. Auch dies ist ein Er-
gebnis des Resignationsprozesses. Das Grundgefühl des frühen und
mittleren Schiller ist das Leiden am Individuationsprinzip oder plato-
nisch gewendet: an der Entfremdung von der Ideenwelt, die den

––––––––––––––
er und Schwelle. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. München 1997 (= Archäologie
der literarischen Kommunikation 5), S. 263-280, hier S. 278.
201 Zur Ideengeschichte der ‚Mittelkraft’ vgl. Riedel: Die Anthropologie des jungen Schil-
ler, S. 61-100.
202 NA 20, 14.
203 NA 20, 42.
204 NA 20, 60 bzw. 61.
205 NA 20, 119: „Liebe ist […] eine Anziehung des Vortreflichen, gegründet auf einen
augenbliklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.“ Riedel:
Anthropologie, S. 121-142.
206 Ebd. S. 128.
207 Dies gilt zumal für den Dichter in Zeiten ‚zerdehnter‘ Kommunikation. „Ein ganz
eigenthümliches UnterscheidungsZeichen der neueren Welt von der Alten [...] daß
der Schriftsteller gleichsam unsichtbar und aus der Ferne auf den Leser wirkt, daß
ihm der Vortheil abgeht, mit dem lebendigen Ausdruck der Rede und dem accom-
pagnement der Gesten auf das Gemüth zu wirken, daß er sich immer nur durch abs-
trakte Zeichen, also durch den Verstand an das Gefühl wendet, daß er aber den
Vortheil hat, seinem Leser eben deswegen eine größere Gemüthsfreyheit zu lassen,
als im lebendigen Umgang möglich ist.“ Brief an Christian Garve, 25.1.1795; NA 27,
126f.

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2. Methoden und Perspektiven 35

Wunsch nach Teilhabe (methexis) weckt208, sei es in der Frage der


Gotteserkenntnis bzw. -offenbarung (Theosophie des Julius, Götter
Griechenlandes), in der Liebe als kosmologischer Gravitationskraft
(ebd., Laura-Gedichte) oder in der Reflexion über Kunst und Kom-
munikation, die sich als Sprachskepsis zunächst in den Dramen, theo-
retisch in der Beilage zum letzten Kallias-Briefe ausprägt. Wie kein
anderer Autor hat Schiller alle Aspekte des commercium-Themas aus-
geleuchtet; dabei lässt sich eine sukzessive Verlagerung und Übertra-
gung von der anthropologischen auf die ästhetische und schließlich –
in den Ästhetischen Briefen – auf die politische Sphäre beobachten, in
der sich nun der Staatskörper als ebenso dissoziiert erweist wie der
individuelle Körper in den Klagen über den geteilten Menschen.
Die genannten Vermittlungs- und Übertragungsprobleme sind
Variationen einer Grundfigur, bei deren Entfaltung Schiller zuneh-
mend das Problem des commercium als ein Problem der ästhetischen
Kommunikation auffasst. Hier eröffnet sich ein doppelter ‚Riß‘. Ei-
nerseits die Kluft zwischen Signifikant und Signifikat, andererseits die
zwischen den Kommunizierenden selbst. Solche Distanz weckt das
Verlangen nach ästhetisch-kommunikativen Operationen der Ab-
standsminimierung. Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit heißen
auch bei Schiller die Leitbegriffe einer Ästhetik der sinnlichen Prä-
senz, die doch stets um ihre Verstrickung in Repräsentation, d.h. in
die Medialität und Materialität des Zeichens weiß.209 Im Zentrum von
Schillers Ästhetik und Anthropologie steht – so die hier vertretene
These – eine allgemeine Theorie der Kommunikation. Sie steht in
engstem Zusammenhang mit jenem Phänomen, das bei Albrecht Ko-
schorke unter dem Begriff einer „Mediologie des 18. Jahrhunderts“210
firmiert. Die historischen und diskursiven Unterschiede sind jedoch
nicht zu übersehen. Wo Koschorkes neue Mediologie die Quellmeta-
pher einer „Zirkulation sozialer Energie“211 zu verzweigten, heuris-
tisch durchaus wertvollen Bildtopologien erweitert („Körperströme“,
„sympathetische Ströme“, „Schriftverkehr“ usw.), lässt Schiller stets
––––––––––––––
208 Diese platonische Perspektive hat David Pugh verfolgt: Dialectic of Love. Platonism in
Schiller’s Aesthetics. Montreal u.a. 1996, S. 205-238; Schiller als Platonist. In: Colloquia
Germanica 24 (1991), S. 273-295.
209 Dies die Leitthese der Arbeit von Sabine Schneider: Die schwierige Sprache des Schö-
nen.
210 Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts.
München 1999.
211 Greenblatt, Stephen: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in
Renaissance England. Berkeley/Los Angeles 1988, S. 1-20; programmatisch aufgenom-
men in Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 15: „Die großen Umwälzun-
gen des 18. Jahrhunderts lassen sich als Veränderung der Zirkulationsweise sozialer
Energien“ begreifen.

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36 I. Klassiker vor der Klassik

durchblicken, dass er um das Uneigentliche seiner Bildlichkeit weiß.


Die Notwendigkeit metaphorischer Rede erwächst aus dem Um-
stand, dass es unmöglich ist, „in die Oekonomie des unsichtbaren
[d.h. die Welt der Nerven; J.R.] einzudringen“. Daher habe man „die
unbekannte Mechanik durch die bekannte zu erklären gesucht, und
den Nerven als einen Kanal betrachtet, der ein äusserst feines flüchti-
ges und wirksames Fluidum führet“.212 Was Schiller hier beschreibt,
ist ein „Medium“ im physikalischen Sinne, ein „äußerst feines flüchti-
ges und wirksames Fluidum […], das an Geschwindigkeit und Fein-
heit Aether und elektrische Materie übertreffen soll.“213 Beides – die
Metapher des Kanals wie die Grundfigur der (neuronalen) Übermitt-
lung, die an die Stelle der Mittelkraft tritt – wird von Schiller schon
wenig später in die Sphäre der Kunst übertragen. „Die Schaubühne“,
schreibt Schiller mit einem in jeder Hinsicht hybriden Bild, „ist der
gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern
Theile des Volks das Licht der Weißheit herunterströmt“.214 In beiden
Fällen kommt der Metapher epistemologischer Wert zu, indem sie in
Bereiche vorstößt, die sich – wie das Geschehen der Nervenfasern –
den Blicken entziehen.

2.3. Metaphorologie

Damit ist ein weiterer Aspekt an Schillers Kunstphilosophie und Poe-


tik benannt. Neben dem Theoretiker von commercium und Kommu-
nikation, dem Mediologen avant la lettre steht der Metaphorologe.
Schon in den Philosophischen Briefen wird das Bild vom „Buch der Na-
tur“ zeichen- und symboltheoretisch aufgegriffen. Die Welt findet die
Aufmerksamkeit des Schwärmers Julius, „weil sie vorhanden ist, mir
die mannigfachen Aeußerungen jenes [denkenden; J.R.] Wesens sym-
bolisch zu bezeichnen“.215 Weiter heißt es: „Jeder Zustand der
menschlichen Seele hat irgend eine Parabel in der physischen Schöp-
fung“. Das Buch der Welt ist ein orbis pictus, ein „reiches Magazin“,
aus dem „nicht allein Künstler und Dichter, auch selbst die abstrak-
testen Denker“ schöpfen.216 Die Stelle wirft ein Schlaglicht auf den
Bildgebrauch der frühen Lyrik. Hier werden Traditionen der früh-
neuzeitlichen Emblematik aufgegriffen: Der Zirkel als Symbol für

––––––––––––––
212 NA 20, 42.
213 Ebd.
214 NA 20, 97.
215 NA 20, 115f.
216 NA 20, 116.

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2. Methoden und Perspektiven 37

Ewigkeit nimmt z.B. das Hieroglyphensymbol der Ouroboros-Schlan-


ge auf.217 Der Passus aus der Theosophie unterstreicht, wie sehr sich
beim frühen Schiller Ästhetik und Metaphysik verschränken. Die
Symboltheorie erwächst aus einer Reflexion über die Gotteserkennt-
nis, die Hermeneutik des Bildes ist eingebettet in die Frage nach der
„Lesbarkeit der Welt“.218
Im Zuge des erwähnten Resignationsprozesses werden sich die
Gewichte verschieben. Je undurchsichtiger die Zeichen der Natur
werden, je mehr Widerstände diese der Lektüre entgegenbringen, des-
to mehr wird Schiller die Perspektive umkehren. Die metaphysische
Resignation schlägt Ende der achtziger Jahre um in ein Unbehagen an
der Natur; diese wird fortan mit den stereotypen Attributen „leb-
los“219 bzw. „unbelebt“220 bedacht. Die Natur ist nicht mehr autono-
mes Zeichenmagazin und Symbolarsenal einer spontanen, in die Din-
ge eingelassenen göttlichen Verlautbarung. Die stumme, mortifizierte
Natur – Schiller spricht vom „tote(n) Buchstabe(n) der Natur“221 – ist
endgültig zum Anderen des Menschen geworden. Das Buch der Natur
ist kein göttliches mehr, sondern ein wirrer Setzkasten von symboli-
schen Lettern, die der Mensch kombiniert, um das Unheimliche in
vertraute „Kreise der Menschheit“222 zu ziehen. Die Autorschaft geht
von Gott auf den Dichter als alter deus und second maker über, der
nun in einer schweigenden Welt das Palimpsest des großen Buches
schreiben muss. Aus dem großen Lesesaal der Natur, in das der junge
Schiller nur mehr eintreten muss, wird ein Projektionsraum, den sich
der Mensch durch allerlei psychopoetologische Verfahren zu Recht
macht.
Die klassische Fassung dieser Poetik der Übertragung223 findet
sich in der Matthisson-Rezension, die zugleich den Schlusspunkt des
gesamten ästhetischen Projekts bezeichnet. Ziel ist es, die landschaft-
liche Natur „durch eine symbolische Operation in die menschliche zu
verwandeln.“224 Andere Metaphern dieses Vorgangs, den die Ethnolo-
––––––––––––––
217 Voßkamp, Wilhelm: Emblematisches Zitat und emblematische Struktur in Schillers
Gedichten. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 388-406.
218 Zur Stelle Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/Main 52000 (= stw
592) (zuerst 1981), S. 71-80.
219 NA 20, 427.
220 NA 22, 265.
221 NA 20, 273.
222 NA 22, 271.
223 Riedel, Wolfgang: Theorie der Übertragung. Empirische Psychologie und Ästhetik
der schönen Natur bei Schiller. In: Bauereisen, Astrid / Pabst, Stephan / Vesper,
Achim (Hg.): Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie
im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg 2009, S. 121-138.
224 NA 22, 271.

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38 I. Klassiker vor der Klassik

gie und Psychoanalyse um 1900 als Projektion bezeichnen wird, hei-


ßen: „leyhen“225, „beylegen“226 oder „zuschreiben“.227 „Symbolische
Operation“ sucht, mit Nietzsches Worten, „die Metamorphose der
Welt in den Menschen“. Der Mensch „ringt nach einem Verstehen
der Welt als eines menschenartigen Dinges und erkämpft sich besten
Falls das Gefühl einer Assimilation“.228 Dieser Animismus weiß stets
um seine sentimentalisch begründete Künstlichkeit. Die Genese der
Dichtung ist eine Art Galvanisation, bei der die leblose Materie der
Natur – wie Galvanis elektrisch induzierte Frösche – künstlich re-
animiert wird. Wie die tierelektrischen Versuche der Zeit zielt „sym-
bolische Operation“ auf eine „Spiritualisierung der Natur“229, deren
„entgötterte“ Leblosigkeit schon die Götter Griechenlandes als Signum
einer mechanistischen Schöpfung erkannt hatten, durch die keine
„Lebensfülle“230 mehr fließt231.
Poetische Übertragung kompensiert diese Verlusterfahrung, in-
dem sie der Natur ein Schein- und Sprachleben einhaucht, das die
Kommunikation mit dem Menschen wieder möglich macht. Dies je-
doch um den Preis, dass der Mensch sich in der Natur narzisstisch be-
spiegelt, einen Monolog mit sich selbst führt. Die Natur gehört der
„unendlichen Reihe des Nichtssagenden und leeren“232 an. Der
Mensch findet sich in ihr, wie die Ballade Der Taucher zeigt, in einer
amorphen, in jeder Hinsicht leeren Welt ohne Licht („in purpurner
Finsterniß“), Leben („unter Larven die einzige fühlende Brust“) und
Laut der Sprache („tief unter dem Schall der menschlichen Rede“233)
wieder. Die unbesetzte Natur ist zur Dystopie, zur Unterwelt („Höl-
––––––––––––––
225 NA 26, 181.
226 NA 20, 427: „So legen wir öfters einem Thiere, einer Landschaft, einem Gebäude, ja
der Natur überhaupt, im Gegensatz gegen die Willkühr und die phantastischen Be-
griffe des Menschen, einen naiven Charackter bey.“
227 NA 26, 182.
228 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 873-890, hier S. 883 (Über Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne).
229 Engelhardt, Dietrich von: Naturwissenschaft und Medizin im romantischen Umfeld.
In: 200 Jahre Heidelberger Romantik. Heidelberger Jahrbücher 51 (2008), S. 499-518,
hier S. 510.
230 NA 1, 190.
231 In diesem Zusammenhang ist an die Bedeutung des Konzepts „Lebenskraft“ um 1800
zu erinnern. Arz, Maike: Literatur und Lebenskraft. Vitalistische Naturforschung und
bürgerliche Literatur um 1800. Stuttgart 1996; Botsch, Walter: Die Bedeutung des Be-
griffs Lebenskraft für die Chemie zwischen 1750 und 1850. Diss. Stuttgart 1997. Vgl.
Humboldts Essay Die Lebenskraft oder Der rhodische Genius, der 1795 in den Horen
erscheint. Hey’l, Bettina: Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens.
Alexander von Humboldt als Schriftsteller. Berlin u.a. 2007, hier S. 140-158.
232 NA 26, 201 (Kallias-Briefe).
233 NA 1, 375.

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2. Methoden und Perspektiven 39

lenraum“) geworden. Der descensus, den der Dichter seinen Helden


unternehmen lässt, fördert nur ihre absolute Alterität zu Tage.
Ohne die Weiterungen dieser Theorie der Übertragung vorweg-
zunehmen, lassen sich doch ihre heterogenen Quellen und ihre we-
sentliche Stoßrichtung benennen. 1. Die eigenen Überlegungen zur
„Hieroglyphik“ der Natur, die in verändertem Zusammenhang im
Essay Die Sendung Mose – jetzt bezeichnenderweise im Horizont der
Priesterbetrugsthese – aufgenommen werden. 2. § 59 von Kants Kri-
tik der Urteilskraft, der von der „Schönheit als Symbol der Sittlich-
keit“ handelt234, in diesem Rahmen jedoch eine allgemeine Theorie
der „Versinnlichung“ und der symbolischen „Analogie“ durch „Bei-
spiel“, „Schema“ und „Hypotypose“ bietet235. Schiller schließt in den
Kallias-Briefen an diese Überlegungen an, indem er das Prinzip der
praktischen Vernunft („Freiheit“) zum uneigentlichen (symbolischen,
d.h. metaphorischen) Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils –
„Freiheit in der Erscheinung“ – macht.236 Dass dies eine unangemes-
sene Bezeichnung ist, bleibt im Begriff der „Freiheitähnlichkeit“237
noch markiert. Die praktische Vernunft „leyht dem Gegenstand […]
ein Vermögen, sich selbst zu bestimmen“.238 Der Blick in die Welt
produziert nur Metaphern, sucht nach Analogien in der „Regel der
Reflexion“239, die das Unaussprechliche behelfsweise und dolmet-
schend dem Menschen verfügbar machen. Diesen Sinn der „symboli-
schen Operation“ hatte Schiller bereits im Versuch ueber den Zusam-
menhang reflektiert. Es ist – wie oben zitiert – der Versuch, die „un-
bekannte Mechanik“ durch die „bekannte“ zu ersetzen, kurz: „in die
Oekonomie des unsichtbaren einzudringen“.240 Entscheidend ist, dass
Schiller nicht unvorbereitet in die Auseinandersetzung mit Kant geht.
Die Übertragungstheorie der Kallias-Briefe steht an einem Schnitt-
punkt zwischen rhetorischer Metapherntheorie („Verpersönli-

––––––––––––––
234 Kant: Werke, Bd. 8, S. 458-463.
235 Ebd. S. 461. Kant verweist auf die Analogie zwischen monarchischem Staat und „be-
seelte(m) Körper“ und auf das Problem des „Anthropomorphism“ („alle unsere Er-
kenntnis von Gott [ist] bloß symbolisch“).
236 Dies gilt auch für den umgekehrten Übertragungsvorgang – den von der Schönheit
auf die Moral: „Indeßen wird der Begriff der Schönheit doch auch in uneigentlichem
Sinn auf das moralische angewendet, und diese Anwendung ist nichts weniger als
leer. Obgleich Schoenheit nur an der Erscheinung haftet, so ist moralische Schönheit
doch ein Begriff, dem etwas in der Erfahrung correspondirt.“ NA 26, 195.
237 NA 26, 183.
238 NA 26, 181.
239 Kant: Werke, Bd. 8, S. 460.
240 NA 20, 43.

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40 I. Klassiker vor der Klassik

chung“241), Mythen- und Religionskritik („Anthropomorphism“) und


Kantischer Symboltheorie.242 In den Kallias-Briefen stellen sich die
Dinge so dar, dass Schiller von einer Rhetorik der Metapher ausgeht,
um diese zu einer Philosophie auszubauen – ähnliches ließe sich für die
Theorie des Epitheton in der Matthisson-Rezension sagen, die zu ei-
ner regelrechten Rezeptions- und Assozationstheorie des Lesens auf
empiristischer Grundlage umgeschrieben wird.243
Schon Kant weist in § 59 der Kritik der Urteilskraft darauf hin,
dass das „Geschäft“ der Versinnlichung und symbolischen Darstel-
lung „bis jetzt noch wenig auseinander gesetzt worden [sei], so sehr es
auch eine tiefere Untersuchung verdiene“.244 Hans Blumenberg hat
von hier, wohl im Umweg über Nietzsche245, den Impuls für sein
Projekt einer Metaphorologie gewonnen, das auf eine Rehabilitation
der heuristischen Leistungen der Metapher zielt.246 Metaphern wären
demnach nicht nur auszumerzende „Restbestände [und] Rudimente
auf dem Wege vom Mythos zum Logos“ (wie in der cartesischen Tradi-
tion), sondern „Grundbestände der philosophischen Sprache“. Dies
gilt vor allem dort, wo sich Übertragungen „nicht ins Eigentliche, in
die Logizität zurückholen lassen“247, also im Falle jener „absolute(n)
Metaphern“, die der rhetorischen Tradition als „notwendige Meta-

––––––––––––––
241 Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Litera-
turwissenschaft. Stuttgart 31990 (zuerst 1960), S. 287.
242 Diese Transformation rhetorischer Bestände in semiotische betont Wellbery, David
E.: Lessing’s Laokoon. Semiotics and Aesthetics in The Age of Reason. Cambrid-
ge/London/New York 1984, S. 70: „The rhetorical terms are reinterpreted from the
standpoint of Enlightenment semiotics.“
243 Vgl. die Überlegungen in meinem Beitrag: Die Kunst der Natur – Schillers Land-
schaftsästhetik und die anthropologische Revision von Lessings Laokoon. In: Braun-
gart, Georg / Greiner, Bernhard (Hg): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches
Schaffen. Hamburg 2005 (= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissen-
schaft. Sonderheft 6), S. 139-154.
244 Kant: Werke, Bd. 8, S. 460.
245 Gemeint ist der Nachlass-Essay Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
(In: Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 873-890), in dem der Begriff bereits als „Re-
siduum einer Metapher“ bezeichnet wird (S. 882). Nietzsche bestreitet kategorisch je-
den Gegensatz von Begriff und Metapher: „Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches
Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von
menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, ge-
schmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und
verbindlich dünken: die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass
sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind“ (ebd.
S. 880f.).
246 Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/Main 1998 (zuerst
1960) (= stw 1301); fortgesetzt in Ders.: Theorie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt/Main
2007.
247 Blumenberg: Paradigmen, S. 10.

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2. Methoden und Perspektiven 41

phern“248 oder Katachresen bekannt sind.249 Sie sind Symptome einer


Ausdrucksnot und „logischen Verlegenheit“.250 Auch Schillers Be-
stimmung der Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung“ ist ein sol-
cher notwendig-uneigentlicher Terminus, der das begrifflich-objektiv
Unerkennbare und Unbenennbare – das schöne Objekt – approxima-
tiv, durch das grobe Werkzeug des als-ob zu greifen vermag.
Die Pointe gegenüber Kant und der philosophischen Ästhetik
liegt darin, dass die „logische Verlegenheit“ des Geschmacksurteils
nun mit Nachdruck ein poetisch-rhetorisches Verfahren zur Rettung
der Philosophie der Kunst und des Schönen aufbietet. Dass die Meta-
pher „ein urtümliches Relikt der magischen Identifizierungsmöglich-
keit [darstellt]“, das seines „religiös-magischen Charakters entkleidet
[…] und zum poetischen Spiel geworden ist“251, wurde seit der Ethno-
logie und Psychoanalyse um 1900 immer wieder betont.252 Die Spezi-
fik des mythischen Denkens ist bei Schiller als Spezifik des poetischen
vorbereitet. Wie die Plastiken und Kunstbilder, die Schillers Abhand-
lungen durchziehen, so sind auch die Begriffsbilder und Bildbegriffe
Symptome einer „ästhetischen Verlegenheit“. Sie erscheinen als Syn-
thesen einer „begrifflich nie ganz fixierbaren Vermittlung, einer Still-
stellung jener Bewegung der Gegensätze im Moment höchster Gestal-

––––––––––––––
248 Lausberg: Handbuch, S. 288.
249 Schon Lausberg: Handbuch, S. 290 macht auf die existentielle und anthropologische
Dimension der Katachrese aufmerksam: „Die wirkliche oder durch den Menschen so
gesehene Analogie der Seinsschichten bringt es mit sich, daß die Katachrese eine sehr
häufige, weil für die Seinserkenntnis und –gliederung nützliche und notwendige se-
mantische Erscheinung ist […] so ist etwa ‚Gott Vater’ eine Katachrese aus dem Fami-
lienleben.“
250 Blumenberg: Paradigmen, S. 10.
251 Ebd. S. 286.
252 Hier ist vor allem an eine Eigenart des „mythischen Denkens“ zu erinnern, die Clau-
de Lévi-Strauss als „bricolage“ – „intellektuelle Bastelei“ – bezeichnet hat. Sie steht für
die Notwendigkeit, „sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammenset-
zung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben; dennoch muß
es sich ihrer bedienen, an welches Problem es auch immer herangeht, denn es hat
nichts anderes zur Hand.“ Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt/Main
1973 (zuerst 1962) (= stw 14), S. 29. Die Metapher ließe sich in diesem Sinne als
Form der semantischen Improvisation und als rhetorische Bastelei begreifen. Zum
Konnex von wildem Denken und Metapherndiskurs um 1900 vgl. Wolfgang Riedel:
Arara ist Bororo oder die metaphorische Synthesis. In: Zymner, Rüdiger / Engel,
Manfred (Hg.): Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale
Handlungsfelder. Paderborn 2004 (= Studien und Texte zur empirischen Anthropo-
logie der Literatur 2), S. 220-241; ders.: Archäologie des Geistes. Theorien des wilden
Denkens um 1900. In: Barkhoff, Jürgen / Carr, Gilbert / Paulin, Roger (Hg.): Das
schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von
Eda Sagarra im August 1998. Vorwort von Wolfgang Frühwald. Tübingen 2000
(= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 77), S. 467-485.

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42 I. Klassiker vor der Klassik

tung“.253 Die Verknüpfung des Primitiven mit dem Poetischen ist da-
bei keine Erkenntnis der Ethnologien des ausgehenden 19. Jahrhun-
derts. Bereits in Hamanns Weckrufen „Poesie ist die Muttersprache
des menschlichen Geschlechts“254 und „Sinne und Leidenschaften re-
den und verstehen nichts als Bilder“255, ist sie angelegt. Poesie ist
schon bei Hamann das Andere der Vernunft, mit einem Wort: Na-
tur.256 Die Rehabilitation der Sinnlichkeit bedeutet literarisch eine
Rehabilitation der Bilder als Medien einer archaischen Erkenntnis.
Dies bedeutete eine dreifache – logische, ethnologische und theologi-
sche – Rebellion gegen das Weltbild des aufgeklärten Rationalismus:
Logisch als Verstoß gegen das cartesische Ideal von Bestimmtheit und
Klarheit, ethnologisch gegen die Erkenntnisse der aufgeklärten Religi-
ons- und Mythenkritik (Hume), theologisch gegen das jüdisch-protes-
tantische Bilderverbot, dessen Abstinenzneurosen – wie im Geisterse-
her und im Mortimer der Maria Stuart vorgeführt – zu kunstreligiö-
sen Exzessen der Sinnlichkeit und zur „Libertinage des Geistes und
der Sitten“257 führen. Wie kein anderer Autor um 1800 hat Schiller
diese dreifache Provokation des Bildes gegen den Denkcomment der
protestantisch Aufklärung auf die Spitze getrieben. In der Geschichte
der französischen Unruhen schreibt Schiller:
Im Lager dieser [d.h. der reformierten; J.R.] Partey erblickte man nichts la-
chendes, nichts erfreuliches; alle Spiele, alle geselligen Lieder hatte der fins-
tre Eifer verbannt. Psalmen und Gesänge ertönten an deren Stelle […]. Eine
Religion, welche der Sinnlichkeit solche Martern auflegte, konnte die Ge-
müter nicht zur Menschlichkeit einladen; der Karakter der ganzen Partey
mußte mit diesem düstern und knechtischen Glauben verwilldern.258
Beinahe wörtlich wird dieses Ressentiment gegen einen kunst- und
bilderfeindlichen Protestantismus in Maria Stuart der Figur Morti-
mers in den Mund gelegt, der jedoch – Dialektik der rehabilitierten
Sinnlichkeit – der physischen Attraktion der schottischen Königin
verfällt, in der Schiller prägnant die beiden Naturen der Frau – Eva
bzw. Helena und Maria – zusammenbringt.

––––––––––––––
253 Pfotenhauer: Würdige Anmut, S. 164.
254 So am Beginn der Aesthetica in nuce. Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwür-
digkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar hg. von Sven-Aage Jørgensen.
Stuttgart 1968 (= RUB 926), S. 81.
255 Ebd. S. 83.
256 Ohne Bezug auf Poetik und Ästhetik das grundlegende Werk von Hartmut und Ger-
not Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen
am Beispiel Kants. Frankfurt/Main 1985 (= stw 542).
257 NA 16, 106.
258 NA 19/I, 113.

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2. Methoden und Perspektiven 43

Das Projekt einer rehabilitierten Sinn- und Bildlichkeit wird von


Schiller Ende der achtziger Jahre parallel an mehreren Fronten ver-
fochten. Immer geht es darum, den theologischen Sachverhalt der
Gottesferne durch eine Art ästhetischen Gottesbeweis zu kompensie-
ren. Dazu eröffnen sich zwei Sphären, die jedoch beide mit dem Ma-
kel des Aberglaubens behaftet sind: 1. die des antiken Polytheismus,
der klassischen Mythologie und ihrer Dichtung, 2. die Bilderwelten
der katholischen Kunst samt ihren Zeremonien und Riten, deren Fas-
zination für Schiller in dem Maße zunimmt, wie die neo-konfessiona-
listische Hysterie der achtziger Jahre nachlässt. Angesichts der Fülle
der Stellen, welche dieses ästhetische Kokettieren mit dem Katholi-
schen belegen, lässt sich die These wagen, dass Schiller hier Aspekte
jener Kunstreligion vorwegnimmt, die dann in der Frühromantik –
unter Kürzung der kritischen Vorzeichen – beginnend mit Wacken-
roder und Tieck ausgebaut werden. Man könnte, eine Formulierung
Wolfgang Braungarts aufnehmend, von Schillers ästhetischem Katho-
lizismus sprechen.259 In der Rehabilitation der Bilder liegt das fortge-
setzte Skandalon der Schiller’schen Ästhetik und Poetik. Es betrifft
die „babylonische(n) Turmbauten im Bildlichen“260, die in der frühen
Lyrik errichtet werden, die Legitimität der allegorischen „Begriffsbil-
der“261 im Fall der Künstler, vor allem aber den Bildgebrauch der phi-
losophischen Schriften. Bekannt ist Schillers Selbstcharakteristik ge-
genüber Goethe: „Mein Verstand wirkt eigentlich mehr symbolisie-
rend, und so schwebe ich als eine ZwitterArt, zwischen dem Begriff
und der Anschauung, zwischen der Regel und der Empfindung, zwi-
schen dem technischen Kopf und dem Genie“.262 Erinnert wurde be-
reits an die Auseinandersetzung mit Fichte im Nachgang zu dessen
Aufsatz Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie. Gegen Schillers
Kritik an den „abstruseste(n) Abstraktionen“ und „Tiraden“263 Fichtes
hatte dieser eine „Popularität“ der Darstellung abgelehnt, die sich aus
einem „unermeßlichen Vorrath von Bildern“ speise. Dies führt zu der
bekannten Feststellung: „Sie feßeln die Einbildungskraft, welche nur
––––––––––––––
259 Braungart, Wolfgang: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur.
Tübingen 1997 (= Communicatio 15). Diese Tendenz zeigt sich etwa in den mariani-
schen Signaturen und Ikonographien der Venus-Figur in den Künstlern, in der drama-
tischen Reflexion über die Konfessionen in der Maria Stuart oder in der „romanti-
schen“ Bilderwelt der Johanna mit ihren Erscheinungen, Aufzügen und finalen Apo-
theosen.
260 Dyck, Joachim: Die Gedichte Schillers. Figuren der Dynamik des Bildes. Bern/München
1967, S. 8.
261 Dazu die grundlegende Studie von Alt, Peter-André: Begriffsbilder. Studien zur litera-
rischen Allegorie. Tübingen 1995 (= Studien zur deutschen Literatur 131).
262 NA 27, 32.
263 NA 27, 202f.

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44 I. Klassiker vor der Klassik

frei seyn kann, und wollen dieselbe zwingen, zu denken. Das kann sie
nicht.“264 Schiller reagiert mit einem Traktat Von den nothwendigen
Grenzen des Schönen besonders im Vortrag philosophischer Wahrheiten,
der im 9. Stück der Horen im September 1795 erscheint (in den Klei-
neren prosaischen Schriften unter dem Titel: Ueber die nothwendigen
Grenzen beim Gebrauch schöner Formen) und der eine vorsichtige
Apologie des eigenen „gemischten Stils“ darstellt, den Schillers eigene
Studien zeigen.265 Er nimmt dazu Fichtes Popularitätsvorwurf auf
und betont, dass sich „der populäre Unterricht“ durchaus mit der
„Freyheit“ des Lesers vertrage.266

2.4. Schöne Diktion

Das „Denken in Bildern“267 als Spezifikum der „schönen“ bzw. „po-


pulären“ Schreibart ist nur ein Aspekt jener Bildkritik, die von der
Warte der Philosophie gegen Schiller geltend gemacht wurde – im
Grunde bis heute. Der andere liegt in der Offenheit des Sprach-Bildes,
seiner semantischen Unabgeschlossenheit und Assoziationsbedürftig-
keit, die Schillers Terminologie nicht nur ästhetisch „fesselnd“ macht,
wie Fichte moniert, sondern eben auch ambivalent und „vieldeu-
tig“.268 Einerseits ist diese Unschärfe charakteristisch für die gesamte
wissenschaftliche Terminologie um 1800, die noch nicht „definito-
risch eingeschmolzene geschichtslose Begrifflichkeit [ist]“.269 Anderer-
seits drückt sich in der „verwirrenden semantischen Vielfarbigkeit“270
auch der Schiller’schen Theoriesprache ein rhetorisches Kalkül aus.
In der Ökonomie der „schönen Schreibart“ ist die Polychromie der
Begriffe geradezu erwünscht. Soll das „Kettensystem“271 der Einbil-
dungskraft stimuliert werden, bedarf es Wörtern mit „Wallungs-

––––––––––––––
264 NA 35, 231f.
265 Alt: Schiller, Bd. 2, S. 186.
266 NA 21, 7. Es war zugleich die Neuauflage eines Problems, das sich in der Matthisson-
Rezension gestellt hatte. Der Dichter müsse „unsre Einbildungskraft frei spielen und
selbst handeln lassen“, andererseits aber „seiner Wirkung gewiß sein und eine bestimm-
te Empfindung erzeugen.“ NA 22, 267.
267 Koopmann: Denken in Bildern.
268 Sayce, Olive: Das Problem der Vieldeutigkeit in Schillers ästhetischer Terminologie.
In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 6 (1962), S. 149-177.
269 Nowitzki, Hans-Peter: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im
Widerstreit. Berlin/New York 2003 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und
Kulturgeschichte 25), S. 28.
270 Ebd.
271 NA 20, 23.

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2. Methoden und Perspektiven 45

wert“272, die spontane Assoziationen („Ideenverbindungen“) provo-


zieren. Die Sprache muss sich semantisch offen und unabgeschlossen
halten, um dem Spiel der Einbildungskraft ausreichende Freiräume
und Leerstellen zu sichern. Ambiguität, „Vieldeutigkeit“ bzw. „Be-
deutungsfülle“273 gehören zum Kalkül des Autors – auch in der philo-
sophischen Prosa und ihrer ästhetischen Terminologie.274 Aus der
„großen Mannigfaltigkeit der Bedeutung“ erklärt sich das Bedürfnis
nach terminologisch-lexikographischer Klärung, bis hin zum aktuel-
len Projekt eines Schiller-Wörterbuches.275 Die Liste der polyvalen-
ten, gleichwohl für Schillers Ästhetik zentralen Begriffe ist lang: Ob
„Schatten“ und „Spiel“, „Schein“ und „Erscheinung“, „Idee und Ide-
al“, „Stoff und Form“, „Staat“ und „Reich“ – sie alle belegen, wie sehr
die Dynamik des Schiller’schen Denkens aus der semantischen Eigen-
dynamik von Begriffen hervorgeht, die entweder selbst zweideutig
sind oder im Laufe ihrer terminologischen Entfaltung in wechselnden
Konstellationen wechselnde semantische Bestimmungen aufnehmen.
Andererseits weiß Schiller um die legislatorische Kraft der Definition.
Seine Theoriebildung ist daher frühzeitig von einer Vorliebe für
prägnante, oft irritierende, paradoxe oder antithetische Begriffskons-
tellationen geprägt.276 Auch als aestheticus setzt Schiller ganz auf seine
Poetik der Assoziation und die Efffekte der gelenkten Ideenverbin-
dung. Die Fachprosa übernimmt Prinzipien der Kunstprosa.277 Was
für den Volksdichter gilt, wird nun auf den „Volksredner oder Volks-
schriftsteller“278 übertragen. Am sinnfälligsten wird dies in Schillers
Definition von „schöner Diktion“. Ihre „Zauberkraft“ verweist auf
die Spannung zwischen prätendierter Freiheit des Lesers und „ver-
steckter“279 Lenkung durch den Autor.
––––––––––––––
272 Benn: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 178f.
273 Sayce: Vieldeutigkeit, S. 149.
274 Hofmannsthal bemerkt als Kennzeichen für „Schillers hohe Kunstsprache, wie er sie
in seinen Ästhetischen Schriften anwendet“, die Tatsache, dass „der Gebrauch des
Wortes [sc. „Idee“] kein scharf gesicherter […] ist.“ Rede auf Grillparzer; Hof-
mannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 2, S. 98.
275 Wernly, Julia: Prolegomena zu einem Lexikon der ästhetisch-ethischen Terminologie
Friedrich Schillers. Leipzig 1909 (Ndr. Hildesheim 1975) (= Untersuchungen zur neu-
eren Sprach- und Literaturgeschichte; N.F. 4), S. 14. Künftig Lühr, Rosemarie (Hg.):
Schiller-Wörterbuch. 5 Bde. Berlin/New York (ersch. 2012).
276 Dabei lässt sich oft beobachten, dass Schiller von geprägten Begriffen (Reiz, Form,
Anmut, Spiel u.ä.) ausgeht, die er dann in seinem Sinn umdeutet oder kombiniert.
277 Im Kontext der Fach- und Sachprosaforschung ist Schillers ohnehin im Schatten ste-
hender Beitrag kaum wahrgenommen worden. Vgl. Robert, Jörg: Fachprosa. In: En-
zyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger u.a. Bd. 3. Stuttgart 2006, Sp. 756-
762.
278 NA 21, 7.
279 NA 20, 8.

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46 I. Klassiker vor der Klassik

„An ihren Metaphern sollt ihr sie erkennen!“ Dieser hermeneuti-


sche Imperativ aus Gottfried Benns Prosastück Weinhaus Wolf280 eig-
net sich daher gut als Motto für die folgenden Kapitel. Tatsächlich
sind Bild und Metapher Ausdruck für Stil und Gehalt der Schil-
ler’schen Ästhetik zentrale Größen. Es sind die Bilder, die für Anstoß
sorgen – im Doppelsinn von Ärgernis und Impuls. Die folgenden
Überlegungen setzen daher gerade dort an, wo für den Philosophen
das Zwielichtige der Schiller’schen Theorie, ihre „Affectation der
Wissenschaftlichkeit“ beginnt281: Bei der „Poetizität“, den Unschär-
fen, begrifflichen Verlegenheiten und absoluten Metaphern, die im-
mer wieder die sedimentierten „Restbestände“ ihrer ursprünglichen
Kontexte mit sich führen. Die folgenden Kapitel umkreisen immer
wieder ambivalente Begriffe und Metaphern, beiläufige wie tragende,
in denen sich paradigmatisch Durchblicke auf mitschwingende, asso-
ziativ eingeholte „Sinn-horizonte und Sichtweisen“282 einstellen. Auch
hier gilt: „Metaphorische Unstimmigkeiten sind metaphorologische
Einstiege“.283 Metaphern sind in diesem Sinne Fenster zu Diskursen,
die in der unabgegoltenen Latenz hinter bzw. unter der manifesten
Oberfläche der begrifflichen Argumentation ihr semantisches Unwe-
sen treiben. Der Blick ins Bild bzw. in die Bilder der Sprache gibt ei-
nen Schlüssel in die Hand, den ideengeschichtlichen wie kulturhisto-
rischen Hintergrund der Schiller’schen Theorie, ihr kollektives Un-
bewusstes auszuleuchten bzw. zu rekonstruieren. Als das Andere der
Begriffe eignet der Bildlichkeit dabei eine Widerständigkeit, die ihr
autonomen Status innerhalb der Theorieökonomie verleiht. Schillers
Wissenspoetik ist Poetik im vollen Eigensinn des Wortes. Im dialekti-
schen Spiel zwischen Bild und Begriff wiederholt sich auf der Ebene
des Textes das bis zuletzt ungeklärte Verhältnis von Kunst und Philo-
sophie, Schönheit und Wahrheit.

2.5. Morellis Methode

Schiller selbst war die Eigendrift der Bilder wie der Imagination
durchaus suspekt. Er perhorresziert die regellos schweifende Einbil-
dungskraft und setzt auf die kalkulierte Assoziation oder die Unter-
ordnung der Metaphern „unter einem höhern Begriff“.284 Das Indivi-

––––––––––––––
280 Vgl. Anm. 1.
281 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 605.
282 Blumenberg: Paradigmen, S. 13.
283 Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, S. 221.
284 NA 21, 10.

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2. Methoden und Perspektiven 47

duelle muss mithin immer wieder auf das vom Autor bestimmte und
kontrollierte Allgemeine zielen. Die literaturwissenschaftliche Annä-
herung kehrt diese Unterordnung um. Sie ist gehalten, gegen die In-
tention des Autors am sinnlich Konkreten, am „einzelnen Falle“285,
anzusetzen, der einer einfachen Subsumtion widersteht. Hier lagern
die semantischen Residuen jener Felder, die als Bildspender der Über-
tragung dienen und im Transfer ihr Eigenrecht geltend machen. Zu-
gleich bedeutet dies eine Wette gegen Schiller selbst und seine Bild-
theorie, die sich im Vergleich zu seiner Bilderpraxis weitaus konserva-
tiver auf die Kontrolle des Uneigentlichen durch das Eigentliche be-
ruft. Freiheit der Einbildungskraft gibt es – der Theorie nach – im-
mer nur in den Grenzen der Logizität. Ein Ziel dieser Studie ist es,
diesen Widerspruch produktiv zu nutzen. Sie unternimmt den Ver-
such, Metaphern nicht als semantische Erfüllungsgehilfen eines vo-
rausberechneten Sinns zu unterschätzen, sondern als prinzipiell offe-
ne und zweideutige fermenta associationis zu begreifen. Schillers The-
orie des Sprach- oder Begriffsbildes stellt dabei eine weitere poeto-
logische Entfaltung jener anthropologischen Grundfigur des „Zu-
sammenhangs“ der beiden Naturen des Menschen dar, nunmehr in
charakteristischer Variation und Verschiebung, als eine Theorie des
doppelten Textes, der – so Schiller in Ueber die nothwendigen Grenzen
– aus einem „materiellen Theil oder Körper“286 und einem „geistigen
Theil“, eben der „Bedeutung“ besteht.287 Die Theorie der Metapher ist
damit selbst Metapher, d.h. Übertragung: vom doppelten Menschen
auf den doppelten Text. Einmal mehr erweist sich die Metapher nicht
nur als Thema, sondern als argumentatives Instrument des Schil-
ler’schen Denkens, das – wie eingangs gesagt – aus wiederholten Ver-
schiebungen und Übertragungen ein- und desselben cartesischen
Grundproblems hervorgeht. Durch diese Übertragung wird der
Substanzendualismus nun auch als poetologisches Problem des Logo-
zentrismus sichtbar.
Die Harmonisierung von materiellem und geistigem Gehalt, von
Stil und Bedeutung stellt vor Probleme, wie sie die Figur des „ganzen
Menschen“ insgesamt kennzeichnen. Entscheidend ist dabei, dass
Schiller die logozentrische Position nicht einfach aufkündigt. Wie
noch auf der Stufe der Künstler besteht das integumentum-Denken
fort, wird die Form als disponible, bald verrätselnde bald didaktische
Hülle verstanden. Noch in Ueber die Grenzen wird daher betont, dass
die Unterschiede zwischen wissenschaftlicher, populärer und schöner
––––––––––––––
285 NA 21, 9.
286 NA 21, 8.
287 NA 21, 9.

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48 I. Klassiker vor der Klassik

Rede letztlich nur didaktische Modalitäten sind, abgestellt auf den


„Einweihungsgrad“ eines Publikums, das hier in seiner Disparität
erstmals reflektiert wird. Dass es eine semantisch stabile „Materie“ –
also einen vorgängigen „Gehalt“ – gibt, der in „allen drey(en) zu einer
Erkenntniß“ verhilft, reduziert das Eigenrecht der schönen Diktion
auf ein Minimum. Schiller bleibt bei aller Apologie der Anschauung
immer Substantialist des Sinns, der vor dem influxus physicus, d.h. von
einem Einfluss der Materialität der Bilder auf den Gehalt, zurück-
schreckt, obwohl dies gerade in der Konsequenz des anthropologi-
schen Denkmodells der Sprache läge. Am Primat des Sinns über den
sinnlichen Körper der Rede ist so wenig zu rütteln wie am Primat der
Vernunft über die Physis. Autorschaft heißt daher auch in semanti-
schem Sinn „Werkherrschaft“.288 Die Unordnung der Phantasie wird
geduldet, soweit sie berechenbar ist, der Leser bleibt am sanften
„Gängelband“ des Autors – auch dies eine bezeichnende pädagogische
Lieblingsmetapher der Zeit. Die „republikanische Freiheit des Lesers“
gerät spätestens mit der Wendung der Französischen Revolution voll-
ends unter Ochlokratie-Verdacht.289
Die Republikanismusmetapher deutet an, wie Schillers Leserpoe-
tik nicht nur einer anthropologischen, sondern zunehmend auch ei-
ner politischen Bildlogik verpflichtet ist, die wiederum in der Rede
vom „politischen Körper“290 auf die anthropologische ausgerichtet ist.
Das Verhältnis zwischen Autor und Publikum wird wie das zwischen
Form und Stoff in politischen Kategorien, mithin als Herrschaftsver-
hältnis aufgefasst. Dies hat Folgen für die prätendierte Freiheit des
Lesers. Die regellose Phantasie wird als „Aufkündigung des Gehor-
sams gegen den rechtmäßigen Oberherrn“291 gewertet. Schillers Le-
serpoetik folgt der Matrix seiner politischen Auffassungen und be-
vorzugt daher ein Modell, das „zwischen dem gesetzlichen Druck und
der Anarchie mitten inne liegt“.292 Der Geist der Gesetze bestimmt
den Geist der Ästhetik, die sich das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit
und Vernunft nur in der Unterscheidung zwischen monarchischer, li-
beraler und ochlokratischer Verfassung denken kann. Schiller spricht

––––––––––––––
288 Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts
aus dem Geist der Goethezeit. München u.a. 1981 (= UTB 1147).
289 Eine neue Würdigung der Schiller’schen Wirkungsästhetik in toto bietet Stachel:
Ring der Notwendigkeit, S. 122-150. Stachel datiert diese Wende präzise auf den Essay
Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), der eine „systema-
tische Revision des Konzepts eines notwendigen Wirkungsmechanismus“ (S. 141) zu-
gunsten der freien Ausübung der Gemütskräfte im Zuschauer biete.
290 NA 20, 314 (3. Brief).
291 NA 20, 282 (Ueber Anmut und Würde).
292 Ebd.

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2. Methoden und Perspektiven 49

in Ueber Anmut und Würde in diesem Zusammenhang ausdrücklich


von einer „bildliche(n) Vorstellung“, bei der die politische Sphäre
scheinbar nur „erläutern(d)“293 auf die ästhetische bezogen wird.
Tatsächlich jedoch darf angenommen werden, dass die ästhetische
sich im Bann der politischen erst entfaltet. Wie sich die Freiheit des
Lesers vor dem Autorwillen als Scheinfreiheit erweist, so die Freiheit
des Individuums in der „liberale(n) Regierung“ des aufgeklärten Abso-
lutismus, jener Staatsform, die Schiller nach der Eintrübung der revo-
lutionären Ereignisse privilegiert. Diese Staatsform zeichnet aus, dass,
„obgleich alles nach eines Einzigen Willen geht, der einzelne Bürger
sich doch überreden kann, daß er nach seinem eigenen Sinne lebe und
bloß seiner Neigung gehorche.“294 Ersetzt man die Positionen der Be-
teiligten durch die von Autor und Leser, so ergibt sich daraus in nuce
die Poetik des klassischen Schiller. Von Versöhnung zwischen Geist
und Sinnlichkeit lässt sich hier nur bedingt sprechen, eher von libera-
lem Laissez-faire – solange die Ordnung gewahrt bleibt. Unumwun-
den spricht Schiller denn auch wenige Zeilen nach unserer Stelle vom
„Regiment des Geistes“ über die „von ihm abhängende sinnliche Na-
tur“.295 Alles kommt darauf an, dass „ein Volk unter dem Zwang ei-
nes fremden Willens sich frey fühlt“ – also nicht notwendig frei ist.
Schönheit beruht auf der „sittlichen Beschaffenheit des sie diktieren-
den Geistes“, wie alles im politischen Körper von der „Gesinnung ei-
nes Herrschers“ abhängt.296
Eine metaphorologische Annäherung an Schillers Ästhetik ist
somit ein heikles Unterfangen. Sie muss sich immer auch gegen logo-
zentrische Vorannahmen vom Regiment des Geistes über den Körper
der Rede stemmen, gegen die Behauptung einer eingehegten, gelenk-
ten Kommunikation, die der Imagination nur den Schein von Frei-
heit lässt. Methodisch ist daher die Rehabilitation der Bilder – Schil-
lers Bilder – gefordert. Gegen den influxus psychicus des diskursiven
Sinns gilt es den influxus physicus der Sinnbilder aufzuwerten, deren
physischer Eigensinn keinesfalls so akzessorisch ist, wie Schiller dies
im Banne einer allegorischen Hüllenästhetik in den Künstlern dar-

––––––––––––––
293 NA 20, 278.
294 Ebd.
295 NA 20, 279.
296 Ebd. Vgl. Diana Schilling: Über Anmut und Würde. In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller
Handbuch, S. 388-398, hier S. 392: „Es ist das Dilemma Schillers: Die Brüche erschei-
nen überall dort, wo er für sein Anliegen – die Versöhnung von Neigung und Pflicht,
von Sinnlichkeit und Sittlichkeit – die Sphäre des Abstrakten verlässt; an der Konkre-
tion verrät sich am deutlichsten, wie das Denken an die gesellschaftlichen Bedingun-
gen geknüpft ist.“

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50 I. Klassiker vor der Klassik

stellt.297 Was den hier eingeschlagenen Weg von Blumenbergs Anre-


gung absetzt, ist der Versuch, die Genealogie der Grund- bzw. Rest-
bestände des Sinnlichen nicht nur in einer ideen- und philosophiege-
schichtlichen Perspektive anzulegen, sondern über die Bildlichkeit
der Schiller’schen Ästhetik einen Zugang auch zu Sachverhalten und
Phänomenen der kulturellen Wirklichkeit bzw. der materiellen Kul-
tur der Zeit zu gewinnen. Die Metapher der nackten Wahrheit etwa,
an die Schillers Venus-Figurationen in den Künstlern anschließen,
müsste dann nicht nur ideen- und philosophiegeschichtlich betrachtet
werden, sondern immer auch vor dem Hintergrund zeitgenössischer
Codierungen von Nacktheit und Scham.
In diesem Sinne stehen die folgenden Überlegungen am Schnitt-
punkt von Ideen- und Begriffsgeschichte, von Metaphorologie und
Kulturwissenschaft. Es ist dies ein Standpunkt, der um die „Macht“298
bzw. „Verheißungen der Philologie“299, die Bedeutung der konkreten
Formen und Bilder des Textes weiß, die „als Elemente seiner künstle-
rischen Wirkung in ihrer formalen wie reflexiven Eigenlogik zu be-
schreiben“ sind300. Die Rehabilitierung der Sinnlichkeit und der Bil-
der muss eine Rehabilitierung des Wörtlichen, der Oberfläche des
Diskurses nach sich ziehen, deren Verflechtungen mit biographischen
und kulturellen Kontexten es immer wieder zu bedenken gilt. Schiller
selbst hat mehrfach auf die unbewussten Anteile seines Schreibens
hingewiesen, auf dessen Ausgang von einer „dunkle(n), aber mächti-
ge(n) Totalidee“301 etwa. Das Verhältnis der Bilder zur Logizität des
Sinnes ist daher keineswegs so einsinnig, wie Schiller dies in seiner
Theorie der „Begriffsbilder“ glauben machen will. Es entspricht we-
niger dem Gegensatz von verhüllter und nackter Wahrheit als dem
zwischen manifestem und latentem Trauminhalt. Was hier Not tut,
ist eine behutsame Analyse, die – mit Freud gesprochen – auf den
––––––––––––––
297 Gerade dieses Gedicht belegt, wie die Freisetzung des Erotischen, ja Inzestuösen auf
der Bildebene der behaupteten Selbsterziehung der Künstler zum „keuschen Dienst“
zuwiderläuft. Hier wird etwas Grundsätzliches berührt: Das prekäre Verhältnis von
ästhetischen und asketischen Idealen, von legitimer Lust am Schönen und libertiner
Wollust bildet ein unsichtbares Zentrum der vorklassischen Ästhetik. Der Geisterse-
her etwa zeigt, dass zwischen dem Schönen und dem Angenehmen (in Kantischer
Terminologie) feinere Graustufen und Übergänge denkbar sind als die strikten theo-
retischen Grenzziehungen es verlangen. Die konfessionelle Umerziehung des Prinzen
bedient sich denn auch des Mittels der ästhetischen Erziehung, die Sensibilität für äs-
thetische Phänomene wächst in dem Maße, in dem der Prinz der „Libertinage des
Geistes und der Sitten“ verfällt. Die Rehabilitierung der Sinnlichkeit läuft immer
auch Gefahr, übers Ziel hinaus zu schießen.
298 Gumbrecht, Hans Ulrich: Die Macht der Philologie. Frankfurt/Main 2003.
299 Alt, Peter-André: Die Verheißungen der Philologie. Göttingen 2007.
300 Ebd. S. 28.
301 27.3.1801; NA 31, 24.

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2. Methoden und Perspektiven 51

„Abhub der Erscheinungswelt“, das Unscheinbare und


Unabgegoltene setzt. Der Metaphorologe nähert sich Bildern wie
dem „Gängelband“, der „Kraft und Schwerkraft“, dem „Medium“
oder der „nackten Wahrheit“ als ein „Kriminalbeamter“, wie Freud
schreibt, der es sich zur Aufgabe macht, „die kleinen Anzeichen nicht
[zu] unterschätzen“, um „von ihnen aus Größerem auf die Spur zu
kommen“.302
In seiner 1914 erschienenen Studie Der Moses des Michelangelo hat
Freud die Technik der Psychoanalyse, „aus gering geschätzten oder
nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub („refuse“) der Beobachtung,
Geheimes zu erraten“303, aus der Beschäftigung mit der Kunst, näm-
lich aus der Methode des italienischen Kunsthistorikers Giovanni
Morelli (1816-1879) alias Ivan Lermolieff abgeleitet. Morelli war es ge-
lungen, eine Fülle von Bildern werkkritisch neu zuzuordnen, „indem
er vom Gesamteindruck und von den großen Zügen eines Gemäldes“
absah und die „charakteristische Bedeutung von untergeordneten De-
tails hervorhob“.304 Der Metaphorologe kann von Morellis Methode
profitieren, und dies um so mehr, als sie in Schiller, dem Arzt und
Anthropologen, dem Theoretiker der Aufmerksamkeit und des
durchdringenden Blicks ihren historischen Vorläufer hat – nicht um-
sonst verkörpert der Prinz im Geisterseher, wo er Scharfsinn und
„Scharfsichtigkeit“305 gegen die unsichtbaren Mächte zeigen darf, in
Personalunion die Rolle des Literaturkritikers (gegenüber der „No-
velle“ des Sizilianers), des Detektivs (in seiner Suche nach den Grün-
den der Intrige) und des Arztes (in der Erklärung der prophetischen
Voraussage des Armeniers). Mutatis mutandis lässt sich die von Ginz-
burg für das ausgehende 19. Jahrhundert herausgearbeitete diskursive
Allianz zwischen Kriminalistik, Psychoanalyse und Medizin306 bereits
auf das ausgehende 18. Jahrhundert, d.h. auf den „philosophischen
Arzt“ und Psychologen Schiller rückdatieren, dessen Vorliebe für
kriminalistische Strukturen und Themen, etwa die Frage nach der
Genealogie von Identitäten und Individualitäten, ja das ganze Werk –
buchstäblich bis zur letzten Zeile des Demetrius – durchzieht.307
––––––––––––––
302 Freud: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 20 (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoana-
lyse): „Im Gegenteil, ihren Beobachtungsstoff bilden gewöhnlich jene unscheinbaren
Vorkommnisse, die von den anderen Wissenschaften als allzu geringfügig bei Seite
geworfen werden, sozusagen der Abhub der Erscheinungswelt.“
303 Freud: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 185.
304 Ebd.
305 So Körner (15.5.1788; NA 16, 416).
306 Ginzburg, Carlo: Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes. In: Vogt, Jochen
(Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München 1998, S. 274-296.
307 Pfotenhauer, Helmut: Genealogie der Identität. Schillers späte dramatische Fragmen-
te. In: Ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tü-

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52 I. Klassiker vor der Klassik

Wir haben damit den Punkt erreicht, an dem die metaphorologi-


sche in die genealogische Methode übergeht. Hinter Freuds Betonung
des „refuse“ stehen ja nicht nur Kriminalistik und Kunstgeschichte,
sondern auch die Entlarvungspsychologie des mittleren Nietzsche.
Auch sie plädiert bereits für die „kleinen unscheinbaren Wahrheiten“
gegen die „beglückenden und blendenden Irrthümer, welche meta-
physischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstam-
men“.308 Die genealogische Methode wird zur philologischen, wo sie
zu erklären versucht, wie „etwas aus seinem Gegensatz entstehen“
kann, also etwa „interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wol-
len“.309 Es ist dies die Kernfrage der Schiller’schen Ästhetik vor der
Ästhetik, vor Kant, vor der Klassik. Schiller hat sie sich implizit im
Geisterseher gestellt, der sich doppelt lesen lässt: einerseits als Erzäh-
lung über eine verfehlte ästhetische Erziehung, nämlich als Erziehung
zum „begehrlichen Wollen“; andererseits als Geburt des ästhetischen
Scheins aus dem falschen, d.h. aus dem Spiel mit der gemeinen Illusion
und Projektion der Zauberlaterne, das sich metapoetisch als eine „Pa-
rabel über die Dichtung“ lesen lässt.310 Hier gilt uneingeschränkt das
Gesetz der genealogischen Inversion. Kein echter ohne falschen Schein,
keine ästhetische Erziehung ohne die verdächtige Pädagogik der Illu-
minaten, Freimaurer und Jesuiten, denen Schillers Erziehungsprojek-
te – Dialektik der Aufklärung – doch bisweilen zum Verwechseln
ähnlich sehen. Keine Freiheit schließlich ohne die Mauern der Karls-
schule, keine Schaubühnen-Ästhetik ohne die ganz realen, panopti-
schen Räume und Maschinerien der Hohen Karlsschule, der Zucht-
und Erziehungshäuser usw.
Die Evolution des Schiller’schen Denkens folgt solchen Logiken
genealogischer Umkehrung und psychodynamischer Kompensation.
Sie kennt Strategien der Verschiebung und Variation sowie der Sub-
limierung des Niedrigen und Gemeinen zum Hohen. Auf sie lässt
sich daher Nietzsches Diktum beziehen, wonach „die herrlichsten
Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind“.311 Was
––––––––––––––
bingen 1991, S. 179-199; Robert, Jörg: Selbstbetrug und Selbstbewusstsein. Demetrius
oder das Spiel der Identitäten. In: Ders. (Hg.): Würzburger Schiller-Vorträge 2005.
Würzburg 2007, S. 113-141.
308 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 25.
309 Ebd. S. 23.
310 Schmitz-Emans, Monika: Zwischen wahrem und falschem Zauber: Magie und
Illusionistik als metapoetische Gleichnisse. Eine Interpretation zu Schillers Geisterse-
her. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996). Sonderheft: Klassik, modern. Für
Norbert Oellers zum 60. Geburtstag. Hg. von Georg Guntermann, Jutta Osinki und
Hartmut Steinecke, S. 33-43, hier S. 38.
311 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 24 (Menschliches, Allzumenschliches). Schiller
selbst betont die Ambivalenz der Kunst in den ästhetischen Briefen (10. Brief): „Die

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2. Methoden und Perspektiven 53

auf diese Weise erscheint, ist eine unterschätzte und ungeschriebene


Ästhetik, die immer wieder selbst über die Genealogie des Ästheti-
schen reflektiert. Ihr auf die Spur zu kommen schließt die Anstren-
gung ein „to look less at the presumed center of the literary domain
than at its borders, to try to track what can only be glimpsed, as it
were, at the margins of the text“.312

––––––––––––––
Reize des Schönen können in guten Händen zu löblichen Zwecken wirken, aber es
widerspricht ihrem Wesen nicht, in schlimmen Händen gerade das Gegentheil zu
thun, und ihre seelenfesselnde Kraft für Irrthum und Unrecht zu verwenden.“ NA
20, 338.
312 Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 4.

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