Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
– sektoraler Wandel
– Häufung technischer Neuerungen
– starkes Wirtschaftswachstum
Erstes Kennzei- Das erste Kennzeichen von Industrialisierung ist der sektorale
chen: Sektoraler Wandel der Gesellschaft. In jeder Gesellschaft lassen sich die
Wandel Berufstätigen einem von drei Sektoren zuordnen: dem primären,
dem sekundären oder dem tertiären. Zum primären Sektor wer-
den alle gezählt, die in der Landwirtschaft arbeiten. Auch deren
nicht berufstätige Familienmitglieder gehören dazu. Der primäre
oder landwirtschaftliche Sektor einer Gesellschaft besteht also aus
allen, die in der Landwirtschaft arbeiten oder von landwirtschaft-
licher Arbeit leben – den landwirtschaftlichen „Berufszugehö-
rigen“. Früher wurde auch noch der Bergbau zu diesem Sektor
gezählt, weil in ihm wie in der Landwirtschaft die „Urproduktion“
von Rohstoffen betrieben wird. Zum sekundären Sektor gehören
dementsprechend diejenigen, die ein weiter verarbeitendes Ge-
werbe betreiben. Auch hier werden die nicht selbst berufstätigen
Familienmitglieder mitgezählt. Der sekundäre Sektor wird eben-
so als gewerblicher oder industrieller bezeichnet. Unter dem ter-
tiären Sektor versteht man schließlich alle Berufszugehörigen von
Dienstleistungsbranchen, die keine sicht- und greifbaren Pro-
dukte erzeugen, wie zum Beispiel Handel oder Bildung.
Im 18. Jahrhundert gab es in ganz Europa und tatsächlich in
der ganzen Welt kein Land, in dem nicht der primäre Sektor die
meisten Berufszugehörigen hatte. Es gab nur landwirtschaftlich
geprägte Agrargesellschaften. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts
zulässig.
wiegende Industrienationen.
Industrie im weiteren Sinne gab es dabei schon vor der Indus-
trialisierung. Denn darunter wurde zunächst jedes Gewerbe ver-
standen, das landwirtschaftliche Produkte weiter verarbeitet. Dazu
gehören etwa Müller, die Getreide in ihrer Mühle mahlen, oder
Gerber, die Tierhäute bearbeiten, ebenso wie Schuhmacher,
Schneider und so weiter. In diesen Gewerben würden wir heute
allerdings keine Industrie im engeren Sinn sehen, sondern sie als
„Handwerk“ von der eigentlichen „Industrie“ trennen. Was aber
ist Industrie im engeren Sinn?
Die Entstehung von Industrie im engeren Sinn wird häufig als Zweites Kennzei-
Folge technischer Neuerungen oder Innovationen gesehen. Diese chen: Technische
gelten deshalb als zweites Kennzeichen der Industrialisierung. Neuerungen
Die wohl wichtigste, wenn auch keineswegs einzige dieser tech-
nischen Innovationen, die zum Kennzeichen von Industrialisie-
rung geworden sind, ist der Einsatz von Maschinen. Allerdings Einsatz von
nicht irgendwelcher Maschinen – auch der Korkenzieher ist Maschinen ...
schließlich eine Maschine.
Welche Art von Maschinen auf welche Weise für die Industri-
alisierung eine Rolle spielten, lässt sich am Beispiel der Verar-
beitung von Baumwolle gut verdeutlichen. Bis zur Mitte des 18.
Jahrhunderts wurde Baumwolle auf der ganzen Welt mit einem
einfachen Spinnrad gesponnen. Das Rad wurde per Hand ange- ... zur Steigerung
trieben, und es ließ sich damit jeweils nur ein einziger Faden der Produktivität
auf einer Spindel verarbeiten. Solche einfachen Spinnräder be- menschlicher
Arbeitskraft
nutzte man in vielen Teilen der Welt noch bis ins 20. Jahrhun-
dert hinein. In Großbritannien aber wurde während der 1760er
Jahre eine wesentliche komplexere Maschine erfunden, die so-
genannte „spinning jenny“. Mit dem ersten Modell ließen sich
zulässig.
Wenige Jahre später erfand der Brite Richard Arkwright eine ... zum Ersatz
Spinnmaschine, die anders als noch die „spinning jenny“ ganz menschlicher
Arbeitskraft
ohne Handantrieb auskam. Stattdessen lieferte Wasserkraft die
nötige Energie zum Antrieb des Spinnrads. Die Kombination von
„spinning jenny“ und Arkwrights Wasserantrieb erhöhte die Pro-
duktivität noch einmal. Menschen waren in den Baumwollfabriken
jetzt nur noch mit der Materialversorgung und Reparatur der
Maschinen beschäftigt.
Allerdings war die Steigerung der Produktivität menschlicher
Arbeitskraft durch technische Neuerungen zumindest nichts
grundsätzlich Neues. Zwar können die Steigerungsraten während
der Industrialisierung wohl als einmalig gelten. Aber schon die
Erfindung des Spinnrads, das im 13. Jahrhundert die freihängende
Spindel ablöste, hatte einen wenigstens prinzipiell ähnlichen Pro-
duktivitätsschub bedeutet. Auch der Ersatz menschlicher Arbeits-
zulässig.
Wachstum von Auch für ganze Volkswirtschaften gibt es Zahlen, die darauf
Volkswirtschaften hindeuten, dass die Industrialisierung mit einem Quantensprung
im Wachstum verbunden ist. Volkswirtschaftliches Wachstum
wird gemessen an der Entwicklung des Sozialprodukts. Das Sozi-
alprodukt ist die Menge aller Güter und Dienstleistungen, die in
einem Staat während eines Jahres produziert bzw. erbracht wer-
den. Errechnet wird es aus den für die Güter und Dienstleistungen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 137.250.129.186 aus dem Netz der USEB UB Augsburg am
06.12.2019 um 18:04 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht
Der Begriff der Industriellen Revolution hat gegenüber dem der Attraktivität des
Industrialisierung einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Er ist, Begriffs „Industri-
wenn auch leider nur im übertragenen Sinn, erotischer. Das elle Revolution“
schlägt sich in den Titeln von Büchern über das Phänomen klar
nieder. Offensichtlich sind Revolutionen in Buchtiteln ungleich
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 137.250.129.186 aus dem Netz der USEB UB Augsburg am
06.12.2019 um 18:04 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht
Dazu kam noch die Erschließung von Neuland, vor allem durch
Trockenlegung mittels neuer technischer Hilfsmittel, und die in-
tensivere Nutzung des bereits erschlossenen Landes durch Auf-
gabe der traditionellen Dreifelderwirtschaft.
Freisetzung von All diese technischen Neuerungen zusammen erhöhten die
Arbeitskräften Produktivität des Agrarsektors gewaltig und setzten Menschen für
eine Tätigkeit in der Industrie frei. Vor dem 18. Jahrhundert hatte
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 137.250.129.186 aus dem Netz der USEB UB Augsburg am
06.12.2019 um 18:04 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht
ter voran, so dass noch mehr Arbeitskräfte und Kapital dort frei-
gesetzt wurden.
kleiner Ort an der Straße von Düsseldorf nach Essen war. Die
frühen industriellen Fabriken siedelten sich also häufig gerade
nicht in bestehenden größeren Städten an. Sie wurden aber dann
oft zur Keimzelle von neuen städtischen Ballungszentren.
„Humankapital“ Das Beispiel der 1784 gegründeten Ratinger Baumwollspinne-
rei illustriert schließlich noch eine wichtige Voraussetzung der
Industrialisierung, das sogenannte „Humankapital“. Besitzer der
Ratinger Fabrik war der findige Textilhändler Johann Gottfried
Brügelmann. Brügelmann stammte aus Elberfeld im Wuppertal.
Das dortige Textilhandwerk litt zunehmend unter der überle-
genen Konkurrenz aus England, in dessen Fabriken Baumwolle
besser und billiger verarbeitet wurde. Im Gegensatz zu vielen
anderen im Wuppertal, die dennoch an der traditionellen Produk-
tionsweise festhielten, sah Brügelmann die Lösung des Problems
in der Kopie des englischen Erfolgsrezepts. Das finanzielle Kapital
zum Bau seiner Fabrik in Ratingen verschaffte er sich durch die
Heirat mit einer reichen Erbin. Das „Humankapital“ dagegen war
zulässig.
Abb. 2.8: Facharbeiter der Ratinger Baumwollfabrik präsentieren stolz ihre Bärte
und Arbeitsutensilien (um 1886)
52 Industrialisierung | 2
ser des englischen Pioniers seit dem späten 18. Jahrhundert in-
dustrialisierten, setzte eine vergleichbare Entwicklung auf ande-
ren Kontinenten – wenn überhaupt – erst wesentlich später ein.
Und diese Entwicklung wurde dann meist von der Konfrontation
mit Europäern ausgelöst. Was also erklärt das „europäische Wun-
der“? Welche Vorbedingungen für Industrialisierung waren hier
und insbesondere in Großbritannien gegeben, die es anderswo
nicht gab?
Ausbeutung Die wohl umstrittenste Interpretation des „europäischen Wun-
europäischer ders“ sieht dessen Ursachen gerade in den Beziehungen Europas
Kolonien? zum Rest der Welt. Demnach sei eine Ausbeutung der Bevölke-
rung anderer Kontinente Grundlage für die Industrialisierung der
europäischen Gesellschaften gewesen. Das durch die Europäisie-
rung der Welt in der Neuzeit unzweifelhaft geschaffene Machtge-
fälle ermöglichte es den Europäern, wirtschaftliche Beziehungen
einseitig zu ihren Gunsten zu gestalten. Den Bewohnern der an-
deren Kontinente seien ihre Rohstoffe geraubt, dafür aber euro-
päische Fertigwaren zu überteuerten Preisen aufgedrängt wor-
den. Der daraus entstandene gewaltige Profit habe industrielle
Entwicklung in Europa finanziert, anderswo die Grundlagen da-
für jedoch entzogen.
Die annähernde Gleichzeitigkeit von so umstürzenden Ent-
wicklungen wie der Ausbreitung europäischer Herrschaft über
den Globus einerseits, der Industrialisierung andererseits gibt
dieser These eine auf den ersten Blick große Überzeugungskraft.
Bei näherer Betrachtung ist sie aber deutlich weniger plausibel.
Denn erstens waren die frühesten europäischen Kolonialmächte
Spanien und Portugal. Beide Staaten industrialisierten sich aber
erst sehr spät – und nachdem sie ihre wichtigsten Kolonien ver-
zulässig.
loren hatten. Die ohne Zweifel riesigen Werte, die Spanier und
Portugiesen in Süd- und Mittelamerika seit dem 16. Jahrhundert
zusammenraubten, stimulierten ebenso wenig industrielle Ent-
wicklung auf der iberischen Halbinsel wie die brutale Ausbeutung
kolonialer Arbeitskräfte.
Zweitens ging die Industrialisierung in den meisten anderen
europäischen Ländern dem Erwerb von Kolonien voraus. Deutsch-
2.4 | Vorbedingungen industrieller Entwicklung 53
land, Belgien und auch die USA hatten schon Jahrzehnte indus-
trieller Entwicklung hinter sich, als sie Kolonialmächte wurden.
Frankreich verlor nahezu alle seine Kolonien am Ende des 18.
Jahrhunderts gerade zu dem Zeitpunkt, als es sich zu industriali-
sieren begann, und baute ebenfalls erst danach langsam ein neu-
es Kolonialreich auf. Zeitlich zusammen fielen koloniale Expan-
sion und Beginn der Industrialisierung höchstens im Fall
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 137.250.129.186 aus dem Netz der USEB UB Augsburg am
06.12.2019 um 18:04 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht
unternehmerische Initiative.
trielle Importe von der Insel in ihrer Existenz bedroht. Auch die
frühen kontinentaleuropäischen Industrieunternehmen konnten
oft nur in Marktnischen gedeihen, in der sie keine überlegene
Konkurrenz aus Großbritannien fürchten mußten. Manche
Volkswirtschaften vor allem in Südeuropa ließen sich von der
überlegenen englischen Konkurrenz sogar mehr als ein Jahrhun-
dert lang in die Rolle reiner Rohstofflieferanten drängen.
2.5 | Varianten industrieller Entwicklung 61
tener Führungssektor, der für die Produktion von Waffen aller Art
zentrale Bedeutung hat: die Metallverarbeitung.
Die Industrialisierung Europas vollzog sich also im nationalen Regionale
Vergleich sehr unterschiedlich. Noch bunter wird das Bild, wenn Unterschiede
man Industrialisierung nicht wie bisher hauptsächlich geschehen
als nationale, sondern als regionale Entwicklung untersucht. Tat-
sächlich ist letzteres dem Gegenstand eher angemessen. Wenn
von „der“ englischen oder deutschen Industrialisierung die Rede
ist, geschieht das weniger aus sachlichen Gründen als aus dem
Bedürfnis nach Vereinfachung. Denn Industrialisierung begann
in Regionen – in England etwa in Lancashire, in Deutschland im
Rheinland und in Sachsen. Als das Deutsche Reich um 1890 nach
Ausweis der auf den Gesamtstaat bezogenen Statistik den Schritt
zur Industriegesellschaft getan hatte, waren sein Osten und auch
Bayern noch ganz überwiegend landwirtschaftlich geprägt. In Ita-
lien standen sich noch Mitte des 20. Jahrhunderts ein weitgehend
industrialisierter Norden und ein agrarisch gebliebener Süden
gegenüber, und für Frankreich galt ähnliches.
Lancashire, das Rheinland, Sachsen, der italienische und fran- Industrielle
zösische Norden zeigten den großen europäischen Ländern ihre Führungsregionen
Zukunft. Sie waren industrielle Führungsregionen. Wie industri-
elle Führungssektoren als Motoren der gesamten Entwicklung
einer Volkswirtschaft dienten, so strahlten auch die Führungsre-
gionen in andere, noch landwirtschaftlich strukturierte Gegenden
aus. Wie Großbritannien für die industrielle Entwicklung Konti-
nentaleuropas, so spielten auch die Führungsregionen für die
Industrialisierung ihrer Länder eine wichtige Rolle. Auch sie wa-
ren gleichzeitig bewunderte Vorbilder und lästige Konkurrenten.
Ihre Entwicklung demonstrierte den Weg zum möglichen Erfolg,
zulässig.
Ende des In Europa gilt Industrialisierung heute als eine Sache der Vergan-
Industriezeitaltersgenheit. Industrielle Expansion findet woanders statt. In jedem
im späten 20. Jahr- europäischen Land ist seit den 1980er Jahren der Anteil der In-
hundert?
dustriebeschäftigten an der Zahl der Arbeitnehmer gesunken. Für
die große Mehrheit der Beschäftigten des Kontinents hat das Büro
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 137.250.129.186 aus dem Netz der USEB UB Augsburg am
06.12.2019 um 18:04 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht
Literatur
gereist – wie wäre er dort zurecht gekommen? Wohl sehr gut und
ohne größere Probleme. Cäsar hätte mit Genugtuung festgestellt,
dass die Generäle des 18. Jahrhunderts seinen Bericht über die
Feldzüge in Gallien lasen, um daraus etwas zu lernen, hatte sich
doch das Kriegshandwerk in seinen Grundzügen in fast zwei Jahr-
tausenden kaum verändert. Für die Medizin galt das gleiche: Hät-
te der antike Zeitreisende sich im 18. Jahrhundert von einem Arzt
behandeln lassen, wären ihm dort nicht nur im Bücherschrank
die Werke des Griechen Hippokrates aus dem 6. Jahrhundert vor
Christus und des Galen aufgefallen, der im 2. Jahrhundert un-
serer Zeitrechnung Leibarzt des römischen Kaisers Marc Aurel
war. Man hätte ihn dort auch nach den Methoden des Hippokrates
und des Galen geheilt.
Die Mathematik des 18. Jahrhunderts baute im Wesentlichen
noch auf den Prinzipien des Archimedes auf. In der Architektur
hatten sich zwar die Baustile verändert. Doch die Bauprinzipien
waren dieselben geblieben, und das Gleiche galt für den Transport
von Baustoffen. Am Ende des 18. Jahrhunderts ließ die russische
Zarin Katharina einen riesigen monolithischen Steinblock aus
Finnland nach St. Petersburg schaffen, als Sockel für ein Denkmal
ihres Vorgängers Peter. Der Monolith wurde auf dieselbe Art
transportiert wie Tausende von Jahren zuvor die Steinblöcke für
die ägyptischen Pyramiden, nämlich mit Muskelkraft von Tieren
und Menschen. Auch die Materialien, mit denen gebaut wurde
– Stein, Kalk, Ziegel – hatten sich kaum verändert. Ein Römer aus
der Antike, der eine Zeitreise in seiner Heimatstadt gemacht hät-
te, hätte festgestellt, dass der Petersdom nicht nur nach der glei-
chen Technik gebaut war wie das Colosseum, sondern auch aus
denselben Tuffsteinen – denn man hatte das Colosseum teilweise
zulässig.