Sie sind auf Seite 1von 38

Intersexualität

Leben zwischen den Geschlechtern

Seminararbeit aus dem Heilpädagogischen Institut


der Universität Freiburg / Schweiz

Eingereicht in 2 Exemplaren am 17. Dezember 2007


zur Erwerbung des Lizentiats in Heilpädagogik

von Bucher, Franziska


geb. am 26. April 1979
von Rapperswil, St. Gallen
Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG ...................................................................................... 3
1.1 Problemstellung ................................................................................................... 3

1.2 Zielsetzung ........................................................................................................... 4

1.3 Vorgehen............................................................................................................... 4

1.4 Begriffsklärung..................................................................................................... 4

2. HAUPTTEIL........................................................................................ 6
2.1 Die Geschichte von Bruce/Brenda/David Reimer............................................. 6

2.2 Ausbildung biologischer Geschlechtsunterschiede: Embryonale


Entwicklung des äusseren und inneren Genitals ............................................. 7
2.2.1 Das Modell der somatosexuellen Differenzierung ............................................. 7
2.2.2 Das anatomische Geschlechtermodell .............................................................. 8

2.3 Geschlecht und Identität ..................................................................................... 9


2.3.1 Faktoren der Geschlechtsbestimmung.............................................................. 9
2.3.2 Geschlechtsidentität ........................................................................................ 11
2.3.3 Geschlechtszuschreibung und Rollenverhalten .............................................. 13

2.4 Formen der Intersexualität................................................................................ 14

2.5 Einschätzung des Phänomens Intersexualität ............................................... 17


2.5.1 Das medizinische Konzept von Intersexualität ................................................ 18
2.5.2 Reaktionen der Gesellschaft............................................................................ 19
2.5.3 Intersexueller Mensch...................................................................................... 20

2.6 Intersexualität aus der Sicht von Betroffenen ................................................ 22


2.6.1 Was wird in den Erfahrungsberichten erzählt?................................................ 22
2.6.2 Körperliche Auswirkungen der Intersexualität ................................................. 24
2.6.3 Psychische Auswirkungen der Intersexualität ................................................. 26

2.7 Empfehlungen für die Behandlung intersexueller Menschen ....................... 27


2.7.1 Medizinische Behandlung gleich sexuelle Verstümmelung............................. 27
2.7.2 Erstgespräche.................................................................................................. 28

2.8 Intersexualität – ein Thema für die Heilpädagogik?....................................... 29

3. SCHLUSS......................................................................................... 32
3.1 Zusammenfassung ............................................................................................ 32

3.2 Glossar................................................................................................................ 34

3.3 Literaturverzeichnis ........................................................................................... 36

3.3 Abbildungsverzeichnis...................................................................................... 38

2
1. Einleitung
1.1 Problemstellung
Die wenigsten Menschen werden den Begriff „Intersexualität“ jemals ge-
hört haben, manchen ist er unter „Hermaphrodit“ oder „Zwitter“ bekannt.
Intersexualität ist eines der letzten Tabus und beschreibt das Vorhanden-
sein von körperlichen Merkmalen beider Geschlechter in einer Person.
Intersexuelle sind Menschen, die nach medizinischen Normen nicht in die
Zwei-Klassen-Gesellschaft Mensch passen, bei der nämlich eine Klasse
für Frauen und eine für Männer vorenthalten ist.
Weltweit gibt es und gab es zu allen Zeiten Intersexuelle. Menschen, die
bei ihrer Geburt die Hebamme in Verwirrung bringen, weil sie auf die Fra-
ge nach dem Geschlecht nur antworten kann, dass es ein gesundes Kind
ist. Ob Mädchen oder Junge, weiss sie nicht so recht. Es wird geschätzt,
dass jedes 1000. bis 2000. Neugeborene mit uneindeutigen Genitalien zur
Welt kommt. Eine weitere Gruppe von Intersexuellen lebt bis zur Pubertät
unauffällig. Dann setzten Veränderungen ein, mit denen kaum jemand ge-
rechnet hätte: Manche Mädchen entwickeln sich nicht zu Frauen weiter,
andere scheinen sich in Jungen zu verwandeln. Plötzlich steht das ganze
Leben für diese Kinder und Jugendlichen in Frage.
Intersexuelle untereinander sind so unterschiedlich wie alle Menschen.
Den typischen Intersexuellen gibt es also nicht. Eine Vielzahl von Ursa-
chen kann dazu führen, dass das körperliche Geschlecht eines Menschen
sich nicht in die Richtung entwickelt, die seine genetische Ausstattung o-
der die seiner Keimdrüsen vermuten lassen. Die Entwicklungen sind un-
terschiedlich, die Auswirkungen auch, die Lebenswege ebenfalls. Die
Traumatisierungen durch medizinische Einstellungen, Ein- und Übergriffe
ähneln sich allerdings oft.
Wie Medizin und Gesellschaft mit Intersexuellen umgehen, hat schlimme
Folgen für deren Lebensqualität. Der Körper der Betroffenen, besonders
ihre Geschlechtsorgane, erfährt grosse Aufmerksamkeit, die Psyche wird
ausser Acht gelassen. Die Operationen in der Kindheit, das auferlegte
Schweigegebot, die überforderten Eltern, die meist keine angemessene
Unterstützung erhielten, all das sind traumatische Erfahrungen. Intersexu-
elle Menschen haben daher ein erhöhtes Risiko, psychische Probleme zu
bekommen, und zwar nicht durch ihre individuelle Eigenart, sondern durch
den Umgang der Gesellschaft damit.
Seit Mitte der neunziger Jahre bilden sich vermehrt Selbsthilfegruppen
Intersexueller, die auf ihre Situation hinweisen und ein Umdenken in Me-
dizin und Gesellschaft fordern. Dadurch kam der mangelhafte und oft auch
skandalöse Umgang der Medizin mit Intersexuellen an die Öffentlichkeit.
Allmählich scheint sich die Situation für Intersexuelle zu verändern, was
mit einer zunehmenden Offenheit gegenüber Abweichungen von Norm-
vorstellungen zu tun haben könnte. Endlich beginnt die Wissenschaft, Be-
troffene zu befragen, wie es ihnen geht, wie sie sich sehen und wie sie
behandelt werden wollen.
Da es ein gesellschaftliches Tabu ist, intersexuell zu sein, verbergen die
meisten Betroffenen diesen Teil ihres Lebens. Intersexuelle haben in un-

3
serer Gesellschaft keinen sozialen Raum. Mit dieser Arbeit möchte ich auf
das Tabu Intersexualität aufmerksam machen. Intersexuelle sollen als
normale Menschen wahrgenommen werden. Mit dieser Arbeit trete ich ein
für ihre ganz besondere Individualität und für ihr Recht, so sein zu können,
wie sie wollen. Manche sehen sich als Frauen, andere als Männer, einige
finden sich irgendwo dazwischen ein.

1.2 Zielsetzung
Ich nehme die Geschichte von Bruce/Brenda/David Reimer als Beispiel,
mich mit dem Thema Intersexualität auseinanderzusetzen. Diese Ge-
schichte ist der Aufhänger für die vorliegende Arbeit.
Folgende Fragestellungen werden in dieser Arbeit geklärt:
• Was ist Intersexualität und welche Formen von Intersexualität gibt es?
• Welche körperlichen und psychischen Auswirkungen hat Intersexualität
für die betroffenen Menschen?
• Ist Intersexualität überhaupt ein Thema für die Heilpädagogik?

1.3 Vorgehen
Ausgehend von der Geschichte von Bruce/Brenda/David Reimer wird das
Thema Intersexualität bearbeitet. Bruce war ein Junge mit XY-Chromoso-
men, ein gesundes, ganz „normales“ Baby, kein intersexuelles Kind. Den-
noch prägte die weitere Entwicklung seiner Geschichte den Umgang mit
intersexuellen Kindern in aller Welt über Jahrzehnte hin. Wegen dieser
Folgen wird die Geschichte in dieser Arbeit ausführlich dargestellt.
Darauf aufbauend wird erarbeitet, wie sich Geschlechtsunterschiede im
Mutterleib entwickeln, was Identität ausmacht, welche Formen von Inter-
sexualität es gibt. Es folgt ein Kapitel zur Einschätzung des Phänomens
Intersexualität, eines über Intersexualität aus der Sicht von betroffenen
Personen und eines über Empfehlungen zur Behandlung von intersexuel-
len Menschen. Im letzten Kapitel wird geschaut, ob Intersexualität ein
Thema für die Heilpädagogik ist und aus welchen Gründen.
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Literaturstudie. Da
zum Thema „Intersexualität“ ein Informations- und Forschungsdefizit be-
steht, greife ich auch auf Beiträge aus dem Internet zurück.

1.4 Begriffsklärung
Unter dem Sammelbegriff „Intersexualität“ wird eine Vielzahl von unter-
schiedlichen Syndromen zusammengefasst. Gemeinsames Merkmal aller
Erscheinungsformen ist, dass nicht alle geschlechtsdeterminierenden und
geschlechtsdifferenzierenden Merkmale des Körpers einem Geschlecht
entsprechen oder einem Geschlecht klar zugeordnet werden können
(Huschka 2005, 35). Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem chromo-
somalen Geschlecht, den inneren Geschlechtsorganen und dem Erschei-
nungsbild der äusseren Geschlechtsorgane (Thyen 2005; Auszug aus
dem Internet, 29.01.2006). So kann es beispielsweise vorkommen, dass
eine Person einen männlichen Chromosomensatz hat, ihr Aussehen je-
doch weiblich ist und die Person sich auch als Frau erlebt. Bei anderen

4
intersexuellen Personen sind Merkmale beider Geschlechter mehr oder
weniger ausgeprägt. Ein Beispiel hierfür ist eine Person mit männlichem
Erscheinungsbild und männlicher Geschlechtsidentität, bei der in der Pu-
bertät ein Brustwachstum einsetzt. Ebenso gibt es Personen, die einen
weiblichen Chromosomensatz haben, äusserlich weiblich sind und sich
eindeutig als Frauen erleben, deren Klitoris jedoch bis zur Grösse eines
männlichen Penis vergrössert sein kann (Richter-Appelt 2005; Auszug aus
dem Internet, 16.06.2007).
Laut Lang (2006, 100-101) wird der Begriff „Intersexualität“ als gemeinsa-
me Kategorie für eine Reihe von Syndromen innerhalb des medizinischen
Diskurses kritisiert. Zur genaueren Spezifizierung wird statt „Intersexuali-
tät“ der Begriff „sexuelle“ oder „somatosexuelle Differenzierungsstörung“
vorgeschlagen. „Intersex“ ist ein Begriff, der aus der englischen Medizin
kommt. „Intersex“ als „Zwischen-Geschlechtlichkeit“ ist im Englischen
sinnvoll, während die Bestandteile „sex“ beziehungsweise „sexualität“ im
Deutschen irreführenderweise auf Sexualität und nicht auf das körperliche
Geschlecht hinweisen; eine Begriffskritik, die auch von einigen intersexu-
ellen Menschen so geäussert wird.
Trotz dieser Kritik verwende ich in dieser Arbeit dennoch den Begriff „In-
tersexualität“, da er in der öffentlichen Diskussion der bekannteste ist.

5
2. Hauptteil
2.1 Die Geschichte von Bruce/Brenda/David Reimer
In diesem Kapitel wird der Natur-Kultur-Diskurs der Geschlechterfor-
schung dargestellt. Im Kern geht es im Natur-Kultur-Diskurs um die Frage,
ob der Mensch bei seiner Geburt eine geschlechtliche tabula rasa darstel-
le oder ob nicht vielmehr die Geschlechtsidentität in naturwissenschaftlich
erfassbaren biologischen Prozessen angelegt sei. Ist also Geschlechts-
identität ein reines Produkt der Geschlechtszuschreibung eines Menschen
und der entsprechenden Sozialisation oder entwickelt sich Geschlechts-
identität und Geschlechtsrolle relativ unabhängig von äusseren Einflüs-
sen? Der Diskurs um die Prävalenz des biologischen Geschlechts versus
das Erziehungsgeschlecht wird am Körper von Menschen, die im Sinne
der Zweigeschlechtlichkeit mit uneindeutigen Genitalien geboren werden,
ausgetragen. Das bedeutet, intersexuelle Menschen erfahren die konkre-
ten Auswirkung des jeweiligen Paradigmas am eigenen Körper (Lang
2006, 162). Ein einziger Fall, bei dem es sich noch dazu nicht um Interse-
xualität handelte, wurde zum ideologischen Schlachtfeld des Natur-Kultur-
Gegensatzes und führte zu einem Paradigmenstreit im medizinischen
Umgang mit Intersexualität: die Geschichte von Bruce/Brenda/David Rei-
mer. Die Schilderung der Geschichte ist dem Buch „Der Junge, der als
Mädchen aufwuchs“ von John Colapinto entnommen.
Bruce Reimer wurde 1965 als Zwilling in Kanada geboren. 1966 sollte an
den eineiigen Zwillingen eine Vorhautbeschneidung durchgeführt werden.
Bruce war der erste. Durch ärztliches Versagen wurden bei seiner Vor-
hautbeschneidung Blutbahnen und Nerven so verschmort, dass darauf
sein Penis abfiel. Diese Katastrophe beschädigte nicht nur einen gesun-
den kleinen Körper, sondern die seelische Gesundheit der gesamten Fa-
milie Reimer. Den anderen Zwilling, Brian, nahmen die Eltern unbeschnit-
ten wieder nach Hause. Zehn Monate nach dem Unfall sahen die unglück-
lichen Eltern von Bruce und Brian in einer Fernsehsendung den bekann-
ten Sexualforscher Dr. John Money vom John Hopkins Hospital in Balti-
more. Er sprach über operative Geschlechtsumwandlungen an Transse-
xuellen. In der Diskussion äusserte Money, dass das Geschlecht, mit dem
Babys geboren werden, keine Rolle spiele, man könne das Geschlecht
eines Babys umwandeln. In ihrer Verzweiflung wandten sich Bruces Eltern
an John Money, der eine Geschlechtsumwandlung für Bruce befürwortete.
Diese müsse aber bald geschehen, denn innerhalb der ersten zweieinhalb
Lebensjahre sei die psychosexuelle Orientierung eines Kindes leicht be-
einflussbar. Er konnte die Eltern dazu bewegen, eine Geschlechtsum-
wandlung durchführen zu lassen, da Bruce als Mann ohne Penis als sozial
nicht überlebensfähig galt, worauf Bruce 1967 operativ in Brenda umge-
wandelt wurde. Ihm wurden die Hoden und die Samenleiter entfernt und
aus der verbleibenden Hodenhaut eine Art äussere Vagina geformt. Bren-
das Eltern erhielten die strikte Anweisung, ihrem Kind niemals die Wahr-
heit zu sagen, um jegliche Zweifel im Entstehen zu ersticken. In der Folge
wurde der Fall Reimer, der als Junge geboren, als Mädchen erzogen und

6
im unmittelbaren Vergleich mit seinem genetisch identischen Zwillingsbru-
der als endgültiger Beweis der Erziehung über die Natur gefeiert. Brenda
wurde von Money als perfektes Mädchen mit lauter mädchenhaften Ei-
genschaften beschrieben. Sie sei schüchtern, zurückhaltend und lächle
häufig. Der Zwillingsbruder Brian entwickle sich entsprechend dominant
männlich. Für Money war Bruce/Brenda der Beweis, dass Weiblichkeit und
Männlichkeit soziale Konstrukte sind. Bruce/Brenda selbst berichtete je-
doch, mit der weiblichen Rolle und mit Money immer weniger zurechtge-
kommen zu sein. Die Wahrheit sah also anders aus. Brenda verbrachte
eine unglückliche und unangepasste Jugend, blieb in der Schule weit hin-
ter ihrem Zwillingsbruder Brian zurück und wurde weder von den anderen
Kindern noch von sich selbst als Mädchen anerkannt. Als Brenda 1979 die
Umstände ihrer Zuschreibung zum weiblichen Geschlecht erfuhr, liess sie
sich operativ und hormonell zurückbehandeln, wechselte das Geschlecht
und ihren Namen in David und lebte seit 1990 verheiratet mit einer Frau
und drei adoptierten Kindern zusammen. 2004 beging David Reimer Sui-
zid. Die Natur-Seite verbuchte die Verzweiflungstat Reimers als Zeichen
der endgültigen Widerlegung von Moneys These der sozialisatorischen
und medizinischen Machbarkeit von Geschlecht.
Heute zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, von der möglichst optima-
len Erscheinung eines Menschen hin zu einer möglichst grossen Lebens-
zufriedenheit und Lebensqualität.

2.2 Ausbildung biologischer Geschlechtsunterschiede:


Embryonale Entwicklung des äusseren und inneren
Genitals
2.2.1 Das Modell der somatosexuellen Differenzierung
Beim menschlichen Embryo sind bis zur fünften Schwangerschaftswoche
die Gonaden und die inneren Geschlechtsanlagen und bis zur neunten
Schwangerschaftswoche das Genitale bei beiden Geschlechtern gleich.
Die Kaskade der geschlechtlichen Differenzierung beginnt mit der Be-
fruchtung, bei der entweder ein Y- oder ein X-Chromosom des Spermiums
mit einem X-Chromosomen der Eizelle verschmilzt, woraufhin das chro-
mosomale Geschlecht männlich (XY) oder weiblich (XX) ist. Für die Ent-
wicklung in die männliche Richtung sind viele zusätzliche Faktoren nötig,
ohne die sich der Embryo in die weibliche Richtung entwickelt. Die männ-
liche Entwicklung wird als ein aktiver, die weibliche als ein passiver Pro-
zess verstanden. Diese Konzeption entspricht dem konventionellen Ver-
ständnis von Männern als eher aktiv und Frauen als eher passiv. Aller-
dings ist dieses Modell mittlerweile in Teilen überholt. Denn nach neues-
ten biologischen Erkenntnissen erfordert auch die Entwicklung in die weib-
liche Richtung eine Aktivität von bestimmten Faktoren, die auf dem X-
Chromosom angesiedelt sind (Kasten 2003, 15-16).
Liegt der auf dem Y-Chromosom angesiedelte SRY-Faktor oder Testisde-
terminierende Faktor vor, entwickelt sich die Gonade zum Hoden. Fehlt
dieser Faktor, erfolgt die Entwicklung zum Eierstock, der zur normalen
Entwicklung zwei X-Chromosomen benötigt. Der Hoden bildet zwei ver-

7
schiedene Zellen, die Sertoli- und die Leydigzellen. Die Sertolizellen pro-
duzieren das Anti-Müller-Hormon, das die Bildung der Müllerschen Gänge,
spätere Eileiter und Uterus, unterdrückt. Die Leydigzellen synthetisieren
Testosteron. Durch Bindung an einen speziellen Androgenrezeptor entwi-
ckelt sich ein männliches Genitale. Fehlen all diese Faktoren, entwickelt
sich ein weibliches Genitale (Fröhling 2003, 125).

Abbildung A: Entwicklung der weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane

2.2.2 Das anatomische Geschlechtermodell


Auf all diesen im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Stufen kann es
zu Variationen, im medizinischen Diskurs „Störungen“, kommen, welche
die Ausdifferenzierung des Geschlechts in zwei dimorphe Formen verhin-
dern. Weil die Medizin streng am Zweigeschlechtermodell festhält, werden
die „Störungen“ unterteilt in Störungen der männlichen und der weiblichen
Entwicklung (Lang 2005, 70-71).
Innerhalb des Modells der geschlechtlichen Differenzierung von weibli-
chen und männlichen Körpern und der Einordnung von Variationen als
„Störungen“ kann die Annahme einer biologischen Zweigeschlechtlichkeit
aller Menschen aufrechterhalten werden (Lang 2005, 72). Die folgende
schematische Darstellung legt aber vielmehr die Vorstellung eines Konti-
nuums der Geschlechter nahe, dessen Extrempunkte ein idealtypisches
männliches und weibliches Genitale darstellen. Dabei geben die Prader-
Stufen 1 bis 5 den Grad der Virilisierung des äusseren Genitales wider.

8
Abbildung B: Verschiedene Ausprägungen intersexueller Geschlechtsorgane (Einteilung nach Prader)

Lamarque formuliert den Unterschied zwischen einem weiblichen und


männlichen Genitale so: „Wenn man das männliche äussere Genital an-
guckt und das weibliche parallel, sieht man, dass beide dieselben Organe
haben, nur mehr oder weniger ausgebildet“ (2002, zitiert nach Lang 2006,
74). Aufgrund der geringen Bedeutung der Klitoris, die man ihr für die
weibliche Sexualität zumass, wurde die Klitoris intersexueller Menschen
jahrelang bereits im Säuglingsalter komplett entfernt. Erst die konzeptio-
nelle Verbindung mit dem männlichen Penis und die entsprechende Aner-
kennung ihrer sexuellen Sensibilität bildet die Grundlage zum einen für die
Kritik erwachsener intersexueller Menschen an Klitorektomien und Klitoris-
reduktionen, zum anderen auch für heutige chirurgische Versuche, die
Sensibilität der Klitoris bei der heute üblichen chirurgischen Praxis der
Reduktion beziehungsweise Versenkung der Klitoris soweit wie möglich zu
erhalten (Lang 2006, 74-75).

2.3 Geschlecht und Identität


2.3.1 Faktoren der Geschlechtsbestimmung
Das Wort „Geschlecht“ bedeutet ursprünglich „Art“ und weist darauf, dass
es zwei Arten von Menschen gibt, nämlich weibliche und männliche. Jeder
Mensch gehört zu einer dieser Gruppen. In einigen Fällen genügt diese
simple Zweiteilung jedoch nicht, bei manchen Menschen ist die Zuordnung
zum einen oder anderen Geschlecht sehr schwierig, weil sie sowohl weib-
liche als auch männliche Merkmale haben, sogenannt intersexuelle Men-
schen (Haeberle 2005, 9).
Heute unterscheidet man nach Haeberle (2005, 8-9) bei der Geschlechts-
zuordnung mindestens sieben Faktoren, die entweder zum körperlichen
oder zum psychosozialen Geschlecht gehören. Das körperliche Ge-
schlecht ist definiert als die Weiblichkeit oder Männlichkeit eines Men-
schen. Es wird auf der Grundlage von fünf körperlichen Kriterien bestimmt:

9
• Das chromosomale Geschlecht: Die Zellen des weiblichen Körpers
enthalten zwei X-Chromosomen, die des männlichen ein X- und ein Y-
Chromosom. In seltenen Fällen treten Unregelmässigkeiten auf und
führen zu Kombinationen wie XXY, XYY oder XXX.
• Das gonadale Geschlecht: Der weibliche Körper hat Eierstöcke, also
weibliche Gonaden oder Keimdrüsen, der männliche hat Hoden. In sel-
tenen Fällen finden sich Eierstock- und Hodengewebe im selben Kör-
per.
• Das hormonale Geschlecht: Die in den Gonaden produzierten Hor-
mone spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Körpers, und
zwar besonders vor der Geburt und in der Pubertät. Ein Zuviel oder
Zuwenig an weiblichen oder männlichen Sexualhormonen kann einen
entscheidenden Einfluss auf die weibliche oder männliche körperliche
Funktion und Erscheinung haben.
• Die inneren Geschlechtsorgane: Der weibliche Körper hat Eileiter,
eine Gebärmutter und eine Scheide. Der männliche Körper hat Samen-
leiter, Samenbläschen und eine Prostata. In seltenen Fällen sind diese
Organe unterentwickelt oder fehlen ganz.
• Die äusseren Geschlechtsorgane: Der weibliche Körper hat eine Kli-
toris und grosse und kleine Scheidenlippen. Der männliche Körper hat
einen Penis und einen Hodensack. In seltenen Fällen sind diese Orga-
ne unterentwickelt oder fehlen ganz.
Das psychosoziale Geschlecht oder auch die Geschlechtsrolle ist definiert
als die Femininität oder Maskulinität eines Menschen. Die Geschlechtsrol-
le wird auf der Grundlage bestimmter psychosozialer Eigenschaften be-
stimmt, die beim einen Geschlecht gefördert und beim anderen unter-
drückt werden. Menschen sind in dem Grade feminin oder maskulin, in
dem sie mit ihrer Geschlechtsrolle übereinstimmen. Die meisten Men-
schen übernehmen die ihrem körperlichen Geschlecht entsprechende Ge-
schlechtsrolle (Haeberle 2005, 8-9).
• Das anerzogene Geschlecht: Ein Kind mit weiblichem Körper wird
normalerweise als Mädchen erzogen, ein Kind mit männlichem Körper
als Junge.
• Die geschlechtliche Selbstidentifizierung: Ein Kind mit weiblichem
Körper, das als Mädchen erzogen wird, identifiziert sich gewöhnlich
auch selbst als weiblich. Ein Kind mit männlichem Körper, das als Jun-
ge erzogen wird, identifiziert sich normalerweise auch selbst als männ-
lich.
Nach Haeberle (2005, 8-9) gibt es aber noch einen dritten Grundaspekt
des Geschlechtlichen, nämlich das sexuelle Interesse eines Menschen am
weiblichen oder männlichen Körper. Dies wird heute oft mit dem Begriff
sexuelle Orientierung bezeichnet und ist definiert als Heterosexualität oder
Homosexualität eines Menschen, wird also auf der Grundlage der Vorliebe
für sexuelle Partner bestimmt. Auf die sexuelle Orientierung werde ich hier
nicht weiter eingehen.
Für Haeberle (2005, 11) ist es wichtig, dass die hier genannten drei
Grundaspekte von Geschlecht voneinander unabhängig sind und daher in
jeder denkbaren Kombination auftreten können.

10
Fröhling (2003, 11) nimmt Geschlechter nicht als zwei Extreme wahr, son-
dern als ein Kontinuum, in dem viele Zwischenformen möglich sind. Auch
Kunze (Fuchs/Roedig 2002; Auszug aus dem Internet, 22.01.2006) geht
davon aus, dass männlich und weiblich nur die Endpunkte auf einer Ge-
schlechterskala sind, zwischen denen es unendlich viele Varianten gibt.
Intersexualität zu verstehen erfordere daher die Bereitschaft, sich vom
überkommenen polaren Denken zugunsten pluraler Geschlechterdifferen-
zen zu lösen.
Eine Zuordnung zu einer Geschlechterkategorie findet unmittelbar nach
der Geburt statt. Die Annahme, es gäbe nur zwei und sich gegenseitig
ausschliessende Genitalien und darauf aufbauende Geschlechter, er-
scheint als natürlich. Obwohl wahrgenommen wird, dass einige Neugebo-
rene uneindeutige Genitalien haben, gibt es in unserem Geschlechtermo-
dell keine dritte Geschlechterkategorie für diese Menschen. Der interse-
xuelle Körper ist folglich ein Geschlechtskörper, für den es keine ge-
schlechtlichen Kategorien gibt (Lang 2005, 12). Die zunehmende Rigidität
des Zweigeschlechtermodells als essentielle Unterscheidung zwischen
den beiden Geschlechtern führt nach Lang (2005, 50) zur Marginalisierung
von Gruppen, die nicht in die Norm passen. Entsprechend dem binären
Raster Mann und Frau werden immer wieder Individuen abgelehnt. Reiter
(2000; Auszug aus dem Internet, 26.01.2006) untermauert dies mit einer
Aussage: „Als Mensch, der trotz oder wegen massiver medizinischer In-
terventionen immer Aussenseiter war, einen Monsterstatus gut kennt, dem
Hass und Ekel entgegengebracht wurden, der stets für unwert erklärt wur-
de, dem Einsamkeit zum Lebensprinzip wurde und um ähnliche Biogra-
phien anderer weiss, kann ich abschliessend folgendes mitteilen: Eine As-
similation Intersexueller in eines der beiden Geschlechter funktioniert
nicht.“ In unserem Geschlechtermodell ist aber ein drittes Geschlecht oder
die Möglichkeit, kein Geschlecht zuzuweisen, nicht vorgesehen. Zusätzlich
gilt das Geschlecht als von Natur aus gegeben, an bestimmten körperli-
chen Geschlechtsmerkmalen ablesbar und bis zum Lebensende unverän-
derbar (Lang 2006, 103). Man würde aber dem einzelnen Menschen, ob
intersexuell oder nicht, am ehesten gerecht werden, wenn man von einer
stufenlosen und wertfreien Skala zwischen den konventionellen Polen
ausgehen würde, die eine individuelle Selbsteinschätzung ermöglicht, der
dann mit Achtung zu begegnen ist (NGBK 2005, 22).

2.3.2 Geschlechtsidentität
In der deutschen Sprache gibt es nur ein Wort für das Geschlecht, im Eng-
lischen aber ist man wesentlich genauer und unterscheidet zwischen sex
und gender. Während sex das biologische Geschlecht bezeichnet, geht es
beim gender-Begriff um das psychosoziale und kulturell bedingte Ge-
schlecht. Weitgehend unabhängig von den beiden Komponenten sex und
gender ist die sexuelle Orientierung. Bei den meisten Menschen stimmt
das Wissen um die körperlichen Merkmale (sex) mit dem Wunsch überein,
als Frau beziehungsweise als Mann wahrgenommen zu werden (gender).
Es gibt aber auch Menschen, bei denen sex und gender nicht zusammen-
passen (Hertzer 1999, 17).

11
Die Geschlechtsidentität ist ein Konzept, das in den 1950er Jahren im Zu-
sammenhang mit der Transsexuellen- und Intersexuellenforschung von
amerikanischen Wissenschaftlern entwickelt wurde. Der Sexualwissen-
schaftler John Money konzipierte die Geschlechtsidentität zusammen mit
der Geschlechterrolle im Gegensatz zum biologischen Geschlecht (sex)
als die beiden Bestandteile des sozialen Geschlechts (gender) (Lang
2006, 112).
Money gilt als der Erfinder des modernen medizinisch-psychologischen
Behandlungskonzepts Intersexueller. Er entwickelte ab den späten sech-
ziger Jahren die sexualwissenschaftlichen Theorien dafür. Im Wesentli-
chen sind das die Thesen von der Dominanz des Erziehungsgeschlechts
über die Natur, einer geschlechtlichen tabula rasa bei der Geburt, der
Entwicklung der Geschlechtsidentität ab dem 18. Lebensmonat, der ent-
scheidenden Rolle der Genitalien für die Entwicklung einer eindeutigen
Identität als Mädchen oder Junge und der unausweichlich psychischen
Traumatisierung durch die Beibehaltung von uneindeutigen Genitalien.
Nicht die Natur, sondern allein die Umwelt bestimme die geschlechtliche
Identität eines Kindes, denn der Mensch komme gewissermassen als
Neutrum zur Welt. Nur mit einem „normalen“, also unauffälligen Genital
könnten sie die gewünschte eindeutige Gender-Identität entwickeln und
frei von Stigmatisierungen aufwachsen, so seine Theorie. Insbesondere
wurde dazu geraten, Kinder mit Mikropenis im weiblichen Geschlecht zu
erziehen, da angenommen wurde, dass ein zu kleiner oder für vaginalen
Geschlechtsverkehr unzureichender Penis die Identifikation mit einer
männlichen Geschlechtsrolle unmöglich mache und zur sozialen Stigmati-
sierung führe. Dieses Vorgehen erspare den Eltern Ungewissheit und
vermittle ihnen Sicherheit in der Erziehung des Kindes. Money begreift die
Geschlechtsidentität zwar als Produkt der Sozialisation und damit als so-
zial hergestellt, verlegt ihre Begründung jedoch gleichwohl auf eindeutig
männlich oder weiblich aussehende Genitalien. Grundlage dieser These
ist die konzeptionelle Trennung von biologischem und sozialem Ge-
schlecht, von sex und gender. Um eine ungestörte psychosexuelle Ent-
wicklung zu gewährleisten, müsse der intersexuelle Körper Money zufolge
entstört und genital vereindeutigt und normalisiert werden. Dieses Be-
handlungskonzept wurde schon sehr bald von der Medizin weltweit über-
nommen (Klöppel 2002, 169-171). Die Annahme, die „Krankheit“ Interse-
xualität könne bereits bei Geburt in ihrer Symptomatik behandelt und ein
normales Aufwachsen als Mädchen oder Junge durch Verheimlichung der
Intersexualität ermöglicht werden, führte zu deren Leugnung und Tabuisie-
rung. Aus einem Arztbericht: „Um psychische Komplikationen zu vermei-
den, haben wir es für richtig gehalten, die Patientin nicht über ihre wahre
Geschlechtszugehörigkeit und ihre Kastration zu unterrichten.“ Die Eltern
wurden also dazu gedrängt, ihrem intersexuellen Kind die Diagnose aus
sozialen und gesellschaftlichen Gründen nicht mitzuteilen, denn so werde
das Kind ohne grosse Probleme eine stabile sexuelle Identität entwickeln
und sich in die ihm zugewiesene Geschlechterrolle fügen (Fröhling 2003,
34).

12
Die Geschlechtsidentität, so Moneys These, entwickle sich bei intersexuel-
len Menschen in Übereinstimmung mit dem zugewiesenen Geschlecht
und dem Aussehen der Genitalien um den 18. Lebensmonat herum, ist
entweder männlich oder weiblich und bleibe das Leben lang die gleiche.
Das Bemühen richtete sich darauf, dass bessere Geschlecht für das Kind
zu ermitteln (Lang 2006, 112).
Mittlerweile vollzieht sich jedoch in der medizinischen Zuweisungspraxis
von Intersexualität wieder ein Paradigmenwechsel. Dabei wird heute den
biologischen Faktoren eine massgebliche Rolle in Bezug auf die Heraus-
bildung der Geschlechtsidentität zugeschrieben. Ende der neunziger Jah-
re wurde der Fall Bruce/Brenda/David Reimer wieder aufgegriffen. Der
Biologe Milton Diamond präsentierte Reimer als Opfer der konstruktivisti-
schen Ideologie, dessen wahres Geschlecht sich entgegen aller Versuche,
ihn zur Frau zu machen, durchgesetzt und sich als das Natürliche gegen
das sozial Aufgezwungene behauptet habe (Gilbert 2004, 30). Aus dem
Scheitern des Versuchs, Reimer das andere Geschlecht anzuerziehen,
wurde der Rückschluss auf intersexuelle Menschen gezogen. Diamond
fordert daher ein Moratorium für geschlechtszuweisende Operationen an
intersexuellen Kindern, bis sich das wahre Geschlecht durchsetze. In die-
sem Ansatz wird das Aufwachsen mit uneindeutigen Genitalien entdrama-
tisiert, allerdings keineswegs die Idee einer natürlichen Zweigeschlecht-
lichkeit aufgegeben. Nicht medizinische Machbarkeit und Funktionalität
soll den Ausschlag für eine Geschlechtszuweisung geben, sondern das
wahre Geschlecht. Dieser Auffassung vom wahren Geschlecht zufolge
setzt sich das Natürliche gegen das Soziale durch. Soziales Verhalten,
sexuelle Präferenzen und die Geschlechtsidentität gelten fortan als bereits
vorgeburtlich angelegt und durch die Sozialisation nur schwer beeinfluss-
bar. Diamonds Plädoyer für ein Moratorium chirurgischer Geschlechtsan-
gleichung und für das Selbstbestimmungsrecht intersexueller Menschen
über ihr Geschlecht hat ihm viel Ansehen und Ehre innerhalb der Intersex-
Bewegung gebracht (Fröhling 2003, 19).

2.3.3 Geschlechtszuschreibung und Rollenverhalten


Wie kann beurteilt werden, ob die geschlechtliche Zuweisung zum Mäd-
chen oder Jungen bei einem intersexuellen Kind richtig war? Entwickelt
sich die Geschlechtsidentität mehrheitlich in Übereinstimmung mit dem
zugewiesenen Geschlecht, so wird darin die Bestätigung für die entspre-
chenden körperlichen Geschlechtsmarker gesehen. Eine Erfüllung der
gesellschaftlich erwarteten Geschlechterrollenvorstellungen beweist auf
jeden Fall die richtige Entscheidung. Ein Mädchen, das mit Puppen spielt
und sich gerne schminkt und schönmacht, ein Junge, der mit männlich
konnotiertem Spielzeug wie Bausteinen und Autos spielt, bestätigt die Ärz-
te in ihrer Entscheidung. Somit gelten Spiele, Spielkameraden, Verhal-
tensweisen und Tätigkeiten als Indizien für eine mehr oder weniger starke
Identifizierung mit der Geschlechterrolle. Ein weiteres Kennzeichen der
Identifizierung mit dem zugewiesenen Geschlecht ist eine heterosexuelle
Orientierung, die sich in verheiratet sein oder einen Freund beziehungs-
weise eine Freundin haben manifestiert (Lang 2006, 115).

13
Viele Eltern beobachten, mit was und wem ihr intersexuelles Kind spielt
und wie es sich verhält, um zu sondieren, ob das Zuweisungsgeschlecht
richtig oder falsch war. Dabei kommen immer dann Unsicherheiten und
Ängste auf, wenn sich das Kind geschlechtsuntypisch verhält. Bei man-
chen Eltern geht die Angst vor Geschlechterrollen-Nonkonformität so weit,
dass sie in einer Abwehrreaktion alles, was gesellschaftlich dem anderen
Geschlecht zugeordnet wird, von ihrem Kind fernhalten, auch um sich
selbst die Illusion zu geben, es wäre ein typisches Mädchen oder ein typi-
scher Junge. „Ich bin heim und habe alles, was irgendwie nach Jungen
aussieht, Kleidung, Spielzeug und alles, weggeschmissen. (…) Alles, was
blau war, was mir nicht feminin genug war. Es war dann nur noch rosa,
Rüschen, Spitzen, Kleidchen, nur noch Mädchen pur. (…) Aber ich habe
so die fixe Idee gehabt, wenn sie schon nicht ein richtiges Mädchen ist
und wir sollen sie als Mädchen aufziehen, dass muss ich mir optisch noch
selber bestätigen“ (Lang 2006, 183).

2.4 Formen der Intersexualität


Wenn Chromosomensatz, Fortpflanzungsorgane und Geschlechtsorgane
nicht in der üblichen Weise übereinstimmen oder wenn die Geschlechts-
teile bei der Geburt nicht eindeutig sind, spricht man von Intersexualität. In
manchen Fällen, insbesondere wenn das Genitale auffällig ist, entdeckt
man das gleich nach der Geburt, in anderen erst in der Zeit der Pubertät,
wenn die typischerweise auftretenden sekundären Geschlechtsmerkmale
des Körpers wie Geschlechtsbehaarung, Brustwachstum und Menstruati-
on entweder nicht auftreten oder in einer ungewöhnlichen Form (Huschka
2005, 34).
In diesem Kapitel werden die wichtigsten Formen der Intersexualität aus
medizinischer Sicht vorgestellt. Dadurch wird nicht nur das medizinische
Verständnis von Intersexualität deutlich. Die medizinische Diagnose ist
auch für sehr viele intersexuelle Menschen wichtig für das Verständnis
und die Deutung ihres eigenen Körpers und für die Entwicklung einer mit
ihrem Körper in Einklang stehenden verkörperten Identität. Die medizini-
sche Beschreibung und Einteilung der verschiedenen Syndrome wird da-
bei von den Betroffenen meist als Faktum übernommen, auch wenn die
Klassifizierung als „Krankheit“ oder „Störung“ oft abgelehnt wird (Lang
2006, 88-89).

Klinefelter-Syndrom
Als Klinefelter-Syndrom werden die Auswirkungen einer Chromosomen-
fehlverteilung bezeichnet, bei der zusätzlich zum normalen männlichen
Chromosomensatz 46 XY ein weiteres X-Chromosom 47 XXY vorliegt.
Diese Chromosomenstörung führt zu einer Unterentwicklung der Hoden
und folglich zu Unfruchtbarkeit. Damit einhergehend ergibt sich eine unzu-
reichende Produktion des männlichen Geschlechtshormons Testosteron,
was zu verzögerter oder ausbleibender Pubertät, ausbleibendem oder
spärlichem Bartwuchs sowie in der Spätpubertät zu übermässiger Brust-
entwicklung und zu Hochwuchs führen kann. Auch im geistigen Bereich
können sich Auswirkungen ergeben. Es gibt mehrere Möglichkeiten, dem

14
Körper zusätzliches Testosteron zuzuführen, um die Pubertät künstlich
einzuleiten (Deutsche Klinefelter-Syndrom Vereinigung 2005; Auszug aus
dem Internet, 18.12.2005).

Ullrich-Turner-Syndrom
Beim Ullrich-Turner-Syndrom handelt es sich um eine Chromosomenfehl-
verteilung, die nur Mädchen und Frauen betrifft. Bei den Betroffenen fehlt
eines der beiden X-Chromosomen 45 X0. Ein Hauptsymptom ist der
Kleinwuchs mit einer durchschnittlichen Erwachsenengrösse von 1,46 Me-
ter. Infolge einer Unterentwicklung der Eierstöcke bleibt meistens eine
spontane Pubertätsentwicklung aus. Bis auf sehr seltene Ausnahmen sind
alle Frauen mit Ullrich-Turner-Syndrom unfruchtbar. Die Pubertät wird
durch die Gabe von weiblichen Hormonen eingeleitet (Dressler/Zink 2003,
554-555).

AIS
Das Androgen Insuffizienz Syndrom ist eine Störung der fötalen Entwick-
lung der Fortpflanzungsorgane. Bei AIS wird das Kind mit normalen männ-
lichen XY-Chromosomen gezeugt. Embryonale Hoden entwickeln sich im
Körper und beginnen, männliche Hormone auszuschütten. Aber diese
männlichen Hormone können die männliche genitale Entwicklung nicht
bewirken aufgrund einer seltenen Unempfänglichkeit des fötalen Gewebes
gegenüber Androgenen. Folglich geschieht die äussere genitale Entwick-
lung nach dem weiblichen Muster. Die Entwicklung von weiblichen inneren
Organen wird jedoch durch ein Hormon der fötalen Hoden verhindert. Es
gibt zwei Formen von AIS, eine komplette Form (CAIS), bei der das Ge-
webe vollkommen unempfänglich gegenüber Androgenen ist und eine par-
tielle Form (PAIS), bei der das Gewebe teilweise sensibel gegenüber An-
drogenen ist, so dass ein Spektrum von genitalem Aussehen möglich ist.
Bei PAIS kann das genitale Aussehen auf einer Skala also von ganz weib-
lich über weiblich/männlich gemischt bis ganz männlich liegen. CAIS wird
manchmal als „klassische testikuläre Feminisierung“ bezeichnet. Die Be-
troffenen nennen sich selber aber bevorzugt XY-Frauen. Sowohl in der
kompletten als auch in der partiellen Form haben die Betroffenen keine
Eierstöcke, keine Eileiter und keine Gebärmutter. Die Vagina endet blind
und ist möglicherweise verkürzt oder fehlt ganz. Die nicht heruntergewan-
derten Hoden können im Babyalter zu einem Leistenbruch führen. So
kann das Syndrom bei einem ganz weiblich aussehenden Baby entdeckt
werden. Sonst wird CAIS erst in der Pubertät entdeckt, wenn die Menstru-
ation ausbleibt (Lang 2006, 91-92).

Gonadendysgenesien
Das Swyer-Syndrom oder die reine Gonadendysgenesie ist eine fehlende
oder mangelhafte Entwicklung der Gonaden bei einem XY-Chromosomen-
satz. Der Grund dafür liegt unter anderem darin, dass das auf dem Y-
Chromosom liegende SRY-Gen, das die Ausbildung von Hoden veran-
lasst, nicht arbeitet. Daher haben die Betroffenen anstelle der Gonaden
bindegewebeartige weisse Stränge, so genannte Stranggonaden, die kei-

15
ne Keimzellen enthalten und keine Hormone erzeugen. Da der nicht ent-
wickelte Hoden keine Anti-Müller-Hormone bilden kann, haben die Betrof-
fenen eine normale Vagina und eine Gebärmutter. Ohne Hormon-Ersatz-
Therapie entwickeln sich bei diesen Menschen in der Pubertät keine se-
kundären Geschlechtsmerkmale wie Brustwachstum und Geschlechtsbe-
haarung. Das Swyer-Syndrom wird meist erst in der Pubertät durch das
Ausbleiben der Menstruation entdeckt (Lang 2006, 92-93).
Die gemischte Gonadendysgenesie ist die zweithäufigste Ursache für ein
intersexuelles Genitale. Die Betroffenen haben auf der einen Seite eine
Stranggonade und auf der anderen Seite einen mehr oder weniger ausdif-
ferenzierten Hoden. Dadurch ist das äussere Genitale in unterschiedlicher
Weise vermännlicht mit phallusartiger Klitoris, die in der Pubertät weiter-
wachsen kann (Lang 2006, 93).

AGS
Das Adrenogenitale Syndrom ist die häufigste Form der Intersexualität
und wird durch einen Defekt der 21-Hydroxylase in der Nebennierenrinde
verursacht. AGS kann bei XX- und bei XY-Karyotyp vorkommen, aber nur
bei Menschen mit XX-Chromosomen bedeutet AGS Intersexualität. Meis-
tens wird AGS als eine Form von Intersexualität beschrieben, teils aber
auch als rein endokrine Erkrankung. Das medizinische Problem beim AGS
ist der Salzverlust, der zum Schock und letztendlich zum Tod führen kann.
Im Falle des AGS bewirkt ein fehlendes Enzym, dass nicht genügend Hor-
mone produziert werden. Durch den Rückkoppelungsmechanismus mit
der Hypophyse wird die Nebennierenrinde stärker stimuliert, was zur ver-
mehrten Bildung von Androgenen führt. Da diese vermehrte Androgensyn-
these bereits intrauterin entsteht, kommt es zu einer Vermännlichung des
äusseren Genitales. Die Klitoris ist leicht bis stark vergrössert und die äus-
seren Scheidenlippen können wie ein Skrotum zusammengewachsen
sein, wodurch der Eingang zur Vagina verdeckt sein kann. Ohne hormo-
nelle Behandlung würden die Betroffenen zunehmend virilisieren, es wür-
den Bartwuchs, Stimmbruch und männliche Geschlechtsbehaarung eintre-
ten. Die Pubertät würde ohne hormonelle Behandlung schon zwischen
vier und sieben Jahren eintreten, die Kinder würden in der Kindheit sehr
gross, insgesamt jedoch durch vorzeitiges Aufhören des Knochenwachs-
tums eher klein bleiben (Fröhling 2003, 164-165).

Enzymdefekte
5 alpha-Reduktasemangel ist bei einem XY-Chromosomensatz ein Man-
gel an dem Enzym 5 alpha-Reduktase, welches Testosteron umwandelt
und somit die Vermännlichung des äusseren Genitales mit sich bringt. Bei
einem Mangel dieses Enzyms kommen Kinder mit intersexuellen bis eher
weiblichen Genitalien auf die Welt, vermännlichen aber aufgrund der er-
höhten Testosteronausschüttung in der Pubertät, was zu einem männli-
chen Phänotyp, zu Bartwuchs, Wachstumsschub, maskuliner Muskelent-
wicklung und Stimmbruch führt. Bei einem weiteren Enzymmangel, dem
17 beta-Hydroxysteroid-Dehydrogenase-Mangel, wird die Testosteron-
Vorstufe Androstendion nicht ausreichend in Testosteron umgewandelt,

16
um eine komplette männliche Entwicklung zu bewirken. Die Betroffenen
kommen mit weiblich aussehenden Genitalien zur Welt, erfahren aber in
der Pubertät eine Vermännlichung wie bei 5 alpha-Reduktasemangel
(Lang 2006, 94).

Hermaphroditismus verus
Echt ist der Hermaphroditismus entsprechend der Konzeption der Gona-
den als Essenz des Geschlechts dann, wenn ein Individuum sowohl testi-
kuläres als auch ovariales Gewebe aufweist. Der Karyotyp ist entweder
nur XX oder ein Chromosomenmosaik. Hermaphroditismus verus geht fast
immer mit „uneindeutigen“ Genitalen einher, die aber unterschiedlich aus-
geprägt sein können. Die sekundären Geschlechtsmerkmale reichen von
fast weiblich über androgyn bis hin zu fast männlich. Die Medizin spricht
entsprechend dem Karyotyp auch von männlichem und weiblichem Her-
maphroditismus verus (Lang 2006, 94).

Hypospadien
Bei einer Hypospadie sieht das Genitale intersexuell aus, die Harnröhre
mündet nicht an der Spitze des Penis, sondern entlang des unteren
Schafts. Die Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter ist nicht sofort
klar. Je nach Geschlechtszuschreibung als männlich oder weiblich wird
das Genitale als gespaltener Penis mit Skrotum oder als Klitoris mit zu-
sammengewachsenen Scheidenlippen klassifiziert (Lang 2006, 96).

Das sind nur einige der vielen biologischen Erscheinungsformen, die sich
in der Entwicklung von Fortpflanzungs- und Geschlechtsorganen ausprä-
gen. All diese Beispiele zeigen, dass das Verständnis bestimmter körperli-
cher Variationen ein Ergebnis medizininterner Verhandlung ist. Die Klassi-
fikation hängt dabei von der Gewichtung der Merkmale eines Syndroms
ab (Lang 2006, 100). Die Häufigkeit der verschiedenen Formen von Inter-
sexualität ist wegen der grossen klinischen Heterogenität, der Vielfalt ätio-
logischer Faktoren und der Betreuung durch verschiedene Fachdiszipli-
nen, die kaum einen Austausch pflegen, nicht zu präzisieren (Huschka
2005, 34).

2.5 Einschätzung des Phänomens Intersexualität


Es gibt medizinische Phänomene, über die man leicht sprechen kann, an-
dere stellen eine wahre Herausforderung dar. Intersexualität wirkt sich auf
die Entwicklung der Geschlechts- und Fortpflanzungsorgane aus, hat eini-
ge unbequeme Fragen über die Geschlechtsidentität zur Folge und ist
schwer in Worte zu fassen. Daher wird Intersexualität nach wie vor tabui-
siert. Es ist zwingend notwendig, die öffentliche Aufmerksamkeit für dieses
tabuisierte Thema zu wecken und eine Akzeptanz für die geschlechtliche
Vielfalt mitten unter uns zu fördern (NGBK 2005, 5). Wir leben heute in
einer Zeit, in der über Sexualität offen in den Medien diskutiert wird. Diese
Freiheit eröffnet die Chance, die Öffentlichkeit darüber zu informieren,
dass es Intersexualität gibt und was es ist. Die Menschen werden unge-
wöhnliche medizinische Phänomene besser verstehen und akzeptieren,

17
wenn sie darüber Bescheid wissen (Warne 1997, 4). In diesem Kapitel
wird Intersexualität aus dem Blickwinkel der Medizin, der Gesellschaft und
der Betroffenen dargestellt.

2.5.1 Das medizinische Konzept von Intersexualität


Zwitter oder Hermaphroditen als Menschen mit Merkmalen beider Ge-
schlechter waren schon in der Antike bekannt. Während der Hermaphrodit
in antiken Mythen als Prinzip der vollkommenen Vereinigung von Mann
und Frau in einer Person verehrt wurde, erging es real existierenden Zwit-
tern in der griechischen und römischen Antike nicht gut. Sie wurden im
Römischen Reich als Monster so schnell wie möglich vernichtet. Ihre Exis-
tenz erschien beseitigungswürdig. In den darauf folgenden fast zwei Jahr-
tausenden wurde die Praxis milder (Lautmann 2002, 404). Im Allgemeinen
Preussischen Landrecht von 1794 zum Beispiel konnte der Zwitter im ent-
scheidungsfähigen Alter frei wählen, welchem der beiden Geschlechter er
zugehören wollte. Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts traten Mediziner als
Experten auf den Plan. Intersexualität wurde zwar noch nicht chirurgisch
und hormonell behandelt, galt aber mit der Übernahme durch die Medizin
zuerst als Missbildung, später als Krankheit, Fehlbildung oder Störung der
normalen dichotomen Geschlechtsentwicklung (Plett 2002, 31-32).
Unter Intersexualität versteht die Medizin körperliche Gegebenheiten mit
entweder einem nicht eindeutig der männlichen oder weiblichen Kategorie
zuordenbaren Genitale oder die Nichtübereinstimmung dessen, was als
körperliche männliche beziehungsweise weibliche Geschlechtsmerkmale
gilt. Im Einzelnen sind das das chromosomale, das gonadale, das hormo-
nelle und das innere und äussere genitale Geschlecht (Lang 2006, 81). Im
medizinischen Diskurs wird Intersexualität als Fehler der Natur, als Stö-
rung begriffen, durch dessen Behandlung und Korrektur die natürliche
Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit wieder hergestellt wird. Die Genitalien
werden als nicht richtig oder nicht vollkommen entwickelt beschrieben,
und entsprechend muss der Natur ein wenig nachgeholfen werden. Inter-
sexualität wird als psychologisches Problem gesehen, das medizinisches
Eingreifen erfordert (Lang 2006, 83-85). Sinnecker (2002; Auszug aus
dem Internet, 20.01.2006) ist der Meinung, dass die rasche und sichere
Festlegung des Geschlechts, in dem ein Kind mit ambivalentem Genitale
aufwachsen soll, für seine weitere Entwicklung von entscheidender Be-
deutung sei. Das äussere Genitale solle folglich also bis zum Abschluss
des ersten Lebensjahres operativ so gestaltet werden, dass es eindeutig
männlich oder weiblich aussieht. Auch Wünsch und Leriche (2005, 300)
plädieren für eine Genitalkorrektur gegen Ende des ersten Lebensjahres,
da normales Aussehen beruhige und die Identifikation mit der eigenen
Geschlechtsrolle gefördert werde. Innerhalb der westlichen Medizin ist es
deshalb gegenwärtig gängige Methode, Neugeborene, die bei ihrer Geburt
nicht eindeutig einer der beiden Geschlechtskategorien Mann oder Frau
zugeordnet werden können, möglichst bald an eines dieser Muster anzu-
passen. Es gilt also gemeinhin, möglichst schnell mit Hilfe chirurgischer,
psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung ein eindeutiges
Geschlecht festzulegen. Ziele der Operation sind ein mit dem zugewiese-

18
nen Geschlecht kompatibles Aussehen der Genitalien, (hetero)sexuelle
Funktion, das beinhaltet Penetrierbarkeit im Falle einer weiblichen Zu-
schreibung und Penetrationsfähigkeit bei einer männlichen Zuschreibung
sowie den Erhalt der sexuellen Sensibilität und eventuell Reproduktions-
fähigkeit, und eine ungehinderte Urinentleerung ohne Inkontinenz und In-
fektionen. Bis heute gilt immer noch, dass eine feminisierende Operation
technisch einfacher und Erfolg versprechender ist. Denn es gilt in der plas-
tischen Chirurgie die Regel, dass es einfacher ist ein Loch zu graben als
einen Mast zu bauen, sprich ein Penis ist schwerer herzustellen als eine
Vagina. Also wird aus einem Kind mit unklarem Geschlecht meistens ein
Mädchen (Lakotta 2002, 210).
Intersexualität ist in unserer Kultur medikalisiert und pathologisiert. Sie
wird als eine Krankheit, eine Störung und eine Fehlentwicklung betrachtet.
Ziel der Medizin ist es, diese Störung zu erkennen, zu erklären und zu be-
handeln. Die Medizin besitzt die Definitionsmacht und bislang das Deu-
tungsmonopol über Körper zwischen den beiden Geschlechtern (Lang
2005, 64-65). Die Frage, welchem Geschlecht ein intersexuelles Neuge-
borenes zugeordnet werden soll, ist Gegenstand heftiger Diskussionen in
der Medizin. Die Geschlechtsfestlegung läuft aber nicht nach einem gleich
bleibenden und verbindlichen Schema ab. Nicht nur die geschlechtliche
Zuweisungspraxis, sondern auch die Merkmale, die als Evidenz für das
weibliche oder männliche Geschlecht herangezogen werden, erscheinen
willkürlich (Lang 2006, 111). Die Kritik vieler erwachsener Intersexueller an
der medizinischen Behandlungspraxis als Verstümmelung intakter Genita-
lien wird im medizinischen Diskurs oft missverstanden und verkürzt als
Kritik an der geschlechtlichen Zuweisung. Die Kritik an der medizinischen
Geschlechtszuweisung richtet sich in den meisten Fällen aber nicht gegen
eine falsche Zuweisung als Mädchen oder Junge, sondern dagegen, dass
überhaupt eine Geschlechtszuweisung innerhalb des Modells der Ge-
schlechterbinarität und entsprechende operative Massnahmen stattfinden
(Lang 2006, 116). Kritiker werfen der Medizin auch vor, die korrigierenden
oder rekonstruierenden Operationen bei Intersexualität seien rein kosme-
tische, also von Schönheits- und Geschlechtsnormen motivierte Eingriffe,
und keine medizinisch notwendige Heilbehandlung. Es ist daher sinnvoll,
echte medizinische Indikationen, also eine Lebens- oder Gesundheitsge-
fährdung jenseits der postulierten psychischen Traumatisierung durch un-
eindeutige Genitalien streng von kosmetischen Indikationen zu trennen
(Lang 2006, 127).

2.5.2 Reaktionen der Gesellschaft


Intersexuelle Menschen sind gesellschaftlich weithin unbekannt. Nur we-
nige wissen über die Existenz dieser Menschen, die körperlich weder ein-
deutig Frau noch eindeutig Mann sind. Intersexuelle Menschen sind oft
Menschen am Rande der Gesellschaft, die als solche jedoch meist nicht
auffallen. Sie leben mitten unter uns, als Frau oder seltener auch als Mann
(Lang 2006, 11-12). Die breite Öffentlichkeit ist sich der Existenz von In-
tersexualität nicht bewusst. So ist ein Mangel an Verständnis für interse-

19
xuelle Menschen mehr auf Unwissenheit als auf Vorurteile zurückzuführen
(Warne 1997, 19).
Intersexuelle Menschen haben in unserer Gesellschaft keinen sozialen
Raum. Es gibt kein Modell eines solchen Lebens, das man ihnen vermit-
teln könnte. Sie sind also eine Art von Geschlecht, welches in Folge feh-
lender gesellschaftlicher Kategorien als Frau oder Mann klassifiziert und
körperlich dementsprechend korrigiert wird. Als das, was sie sind, besitzen
sie keine Existenzberechtigung. Viele intersexuelle Menschen bekommen
daher irgendwann in ihrem Leben das Gefühl, etwas Unklassifizierbares
und Abnormes, ja ein Monster zu sein, da eine intersexuelle Existenzwei-
se kulturell und gesellschaftlich nicht angeboten oder akzeptiert wird (Lang
2006, 298-299).
Intersexualität stellt heute eine legale Legitimation für Abtreibung dar. Vie-
le intersexuelle Menschen befürchten, dass die Frage der gesellschaftli-
chen Existenz intersexueller Menschen sich für die Zukunft von selbst er-
ledigen werde, da keine intersexuellen Menschen mehr geboren werden,
weil die Praxis der Abtreibung von nicht der geschlechtlichen Norm ent-
sprechenden Kindern mit medizinischer Hilfe von Eltern mit dem Wunsch
nach einem perfekten Kind zunehmend aufgegriffen werde (Lang 2006,
303-304).

2.5.3 Intersexueller Mensch


Viele Intersexuelle Menschen fordern heute auf ganz unterschiedliche
Weise das Recht, gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Sie begreifen sich
als Personen, die männliche und weibliche Anteile in sich vereinen oder
nicht hundertprozentig Frauen oder Männer, sondern irgendwo dazwi-
schen beziehungsweise ein eigenes Geschlecht sind. Sie fordern primär
die Akzeptanz der naturgegebenen Vielfalt von Körpern (Lang 2006, 257).
Die Vielfalt der Geschlechter übersteigt die Klassifikation nach männlich
und weiblich bei weitem. Medizin, Recht und die Gesellschaft sollten damit
aufhören, den Betroffenen das Gefühl der Abnormität, der Missbildung
und der Unzulänglichkeit zu geben, das ihnen suggeriert, sie seien „un-
vollkommene“ Männer beziehungsweise Frauen. Jeder Mensch hat das
Recht auf Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit. Durch
die Zwangszuweisung zu einem Geschlecht werden diese Grundrechte
intersexuellen Menschen verwehrt (NGBK 2005, 5).
Die meisten intersexuellen Menschen verbergen ihre Besonderheit und
sprechen kaum darüber (Fröhling 2003, 15). Bei einem so tabubesetzten
Thema gibt es sehr viele, die nicht oder noch nicht bereit sind, über ihre
Intersexualität zu sprechen, da eine solche Öffnung einen gewissen Ver-
arbeitungsprozess voraussetzt (Lang 2005, 18). Für viele intersexuelle
Menschen ist es hilfreich, andere Betroffene zu treffen. „Andere Menschen
zu treffen, die das gleiche durchgemacht haben, und das erste Mal einen
Freundeskreis zu haben, der weiss, womit ich zu kämpfen habe, war für
mich ein wahnsinnig grosser Gewinn. Ich sehe Intersexualität und alles
was damit zusammenhängt jetzt viel gelassener“ (Warne 1997, 26). In
Selbsthilfegruppen können sich intersexuelle Menschen damit auseinan-
dersetzen, dass sie nicht ohne weiteres in das gängige Mann-Frau-

20
Schema hineinpassen. Intersexuelle Menschen haben sich zusammenge-
schlossen, um die Isolation aufzubrechen, zu der die Gesellschaft sie ver-
dammt (Guhde 2002, 45).
Die Definition von Intersexualität als Krankheit finden die Betroffenen nicht
angemessen. Daher fordern sie eine Abkehr vom bisherigen Krankheits-
denken, um den Menschen an sich wahrzunehmen mit seiner individuellen
Körperlichkeit und jenseits von starren Geschlechtseinordnungen (Guhde
2002, 45). Der Begriff Intersexualität wird jedoch für viele Betroffene im-
mer bedeutender. So begreifen sich viele intersexuelle Menschen heute
als intersexuell, ohne jedoch die pathologische Bedeutung zu überneh-
men. Intersexualität wird somit zu einer positiven Identitätskategorie, die
die körperliche Gegebenheit zwischen Mann und Frau nicht mehr als
Mangel, sondern als Besonderheit oder einfach als normal auffasst. Als
Bezeichnung von Identität wird Intersexualität wörtlich verstanden als eine
geschlechtliche körperliche Gegebenheit zwischen den Geschlechtern.
„Das Wort bezieht sich auf meinen Körper, nicht auf das Gefühl, dass man
sich irgendwie dazwischen fühlt“ (Lang 2006, 153-155). „Intersexuell zu
sein, stellt für mich einen Mosaikstein von vielen anderen dar, die meine
körperliche und seelische Identität ausmachen. Intersexualität gehört zu
meinem individuellen Ganzen dazu“ (Guhde 2002, 49).
Geheimhaltung als Strategie im Umgang mit intersexuellen Kindern zieht
sich durch die Lebensläufe der meisten Betroffenen. Das entsprach der
medizinischen Lehre. Für die Betroffenen war das mit fatalen Folgen ver-
bunden. Es entstanden zwei Realitäten, eine medizinische, in die die El-
tern halbwegs eingeweiht wurden, und eine Fantasiewelt in den Köpfen
der Kinder. Aus Teilwahrheiten, Lügen und bedeutsamem Schweigen
reimten sie sich ihre eigene Geschichte zusammen, die sich manchmal
weit von der Realität entfernte. Einige Kinder glaubten, sie seien an Krebs
erkrankt und müssten bald sterben. Was sonst könnte so schlimm sein,
dass sie immer wieder ins Krankenhaus mussten, man ihnen aber nie den
Grund dafür sagte (Fröhling 2003, 96). Folglich machen nur das umfang-
reiche, lückenlose Wissen und das daraus automatisch resultierende
Selbstbewusstsein einen offenen Umgang zwischen Eltern und intersexu-
ellen Kindern, zwischen Familien und Medizinern, Betroffenen und ihrer
Umgebung möglich, der wegführen muss von Scham und Schuldgefühlen.
Die medizinische Diagnose des eigenen intersexuellen Körpers als Le-
benswahrheit wird zu einem wichtigen Baustein des individuellen Selbst.
Viele beschreiben trotz elterlicher und medizinischer Verheimlichung ein
jahrelang empfundenes tiefes Wissen, dass irgendetwas anders ist oder
nicht stimmt. Die körperliche Erklärung für dieses Gefühl des Andersseins
wird dabei für viele als befreiend empfunden. Die medizinische Diagnose
der eigenen atypischen körperlichen Entwicklung kann wie eine Losspre-
chung von eigener Schuld wirken. „Die Last der Wahrheit ruhte allein auf
den Schultern meiner Eltern. Sie trugen dieses Gewicht an meiner Stelle,
wo es schwerer und schwerer wurde, je mehr ich heranwuchs. Und es
belastete sie. Mir dagegen fehlte ein Stück meiner eigenen Lebenswahr-
heit, ein Teil meiner selbst, ohne den ich mich natürlich nicht zu mir hin,
sondern nur von mir weg entwickeln konnte“ (Lang 2006, 168).

21
2.6 Intersexualität aus der Sicht von Betroffenen
2.6.1 Was wird in den Erfahrungsberichten erzählt?
In diesem Kapitel kommen intersexuelle Menschen in Form von Zitaten
selber zu Wort. Die Zitate sprechen für sich und brauchen keine Kommen-
tare meinerseits. In den Zitaten geht es darum, was in den jeweiligen Ge-
schichten erzählt wird und wie Betroffene im Laufe ihres Lebens mit ihrer
besonderen Situation zurechtkommen.
„Anfangs hielt man mich für einen Jungen und taufte mich auf den Namen
Jürgen. Zwei Jahre und viele Untersuchungen später befanden Ärzte, man
solle mich als Mädchen aufziehen, da ich mich nie in männliche Richtung
entwickeln würde. Mit sechs Jahren amputierte man mir meinen Penis und
mit zehn meine Hoden. Dass mit mir etwas nicht ganz stimmte, wusste ich
eigentlich von klein auf. Es gab mir zu denken, warum man ständig mit mir
ins Krankenhaus fuhr und man mir dauernd zwischen die Beine schauen
wollte. Als ich aber mit zwölf herausfand, dass ich keine Scheide hatte,
verzweifelte ich völlig. (…) Irgendwie dachte ich damals, ich sei eine Miss-
geburt. Mit 14 bekam ich weibliche Hormone und erst dann entwickelte ich
mich, wie es sich für ein Mädchen gehört. (…) Ein paar Jahre später wur-
de mir bewusst, dass ich nicht länger als Frau leben will und begann mei-
ne Transformation zum männlichen Geschlecht. Nicht weil ich ein Mann
sein wollte, sondern weil ich keine Frau sein will. Und was bleibt einem da
anderes übrig. Ich liess mir die von Östrogen erzeugten Brüste amputieren
und änderte meinen Personenstand auf männlich. Mein neues Leben be-
gann. (…)“ (Jürgen 2005; Auszug aus dem Internet, 05.02.2006).
„Ich habe gelernt, mich nicht mehr darüber zu definieren, was mir angeb-
lich fehlt, wo mich doch so viel mehr ausmacht als meine Intersexualität.
Die Diagnose Intersexualität birgt die grosse Gefahr, dass sie das kreative
und menschliche Potential eines einzigartigen Individuums überschattet.
In den letzten Jahren habe ich gelernt, meinen Körper zu lieben, und ich
bin dankbar für das Geschenk meines Lebens“ (NGBK 2005, 17).
„Ein Teil meines Traumas durch medizinische Misshandlung ist die Ab-
spaltung von meinem Körper, vor allem das Verhältnis zur Sexualität. Ins-
besondere seit ich die Wahrheit über meine frühere Behandlung heraus-
gefunden hatte, fühlte ich stärker, dass mein Körper das Ergebnis von Pa-
thologisierung und Experimenten war“ (NGBK 2005, 40).
„Nach aussen muss alles ganz normal gewirkt haben. Aber meine Schwie-
rigkeiten, mit meinem Körper zu leben, wurden immer schlimmer. Ich fand
mich weiterhin hässlich und unweiblich. (…). Ich rutschte immer tiefer in
eine schwere Depression. Schliesslich hatte ich einen Nervenzusammen-
bruch. Nichts ging mehr. (…) Trotzdem blieb das gebrochene Verhältnis
zu meinem Körper, zu meinem Frausein. Immer wieder Zeiten der De-
pression. Ich lebte oft mit dem Gefühl, mein Ich sei von meinem Körper
irgendwie abgeschnitten. (…)“ (Intersexuelle Menschen 2005; Auszug aus
dem Internet, 04.02.2006).
„Solange ich denken kann, hatte ich tief in mir ein Gefühl von Anderssein
– unerklärlich, unbestimmt, unaussprechlich. (…) Ich ahnte mehr als ich
wusste, dass meine Andersartigkeit mit Sex und Geschlecht zu tun hatte,

22
und dieses Thema war in meiner Familie ein absolutes Tabu, von Aufklä-
rung keine Spur. (…) Das Ergebnis war, dass ich mich völlig zurückzog
und den Leidensweg des Forschens auf eigene Faust einschlug. (…) Und
niemand, mit dem ich darüber reden konnte. Auch in der Familie nur
Schweigen. Offensichtlich war mein Defekt ein unaussprechliches Myste-
rium, ich das einzige Wesen, dem etwas so Entsetzliches widerfuhr. (…)“
(Intersexuelle Menschen 2005; Auszug aus dem Internet, 04.02.2006).
„Zu Beginn der Pubertät kam es zu einer schleichenden Virilisierung –
Körperbehaarung, starke Akne, Kopfhaarverlust, Stimmbruch, fehlendes
Brustwachstum – und die Periode, Initiationsritus aller Mädchen auf dem
Weg zur Frau, blieb aus. Alles das trieb mich immer tiefer in die Isolation
und Verzweiflung. (…) Mit erwachender Sexualität wurden die Probleme
jedoch bedrängender, die Hoffnungslosigkeit unausweichlicher, die Ver-
zweiflung Existenz bedrohender. Schliesslich – mit 16 – konnte meine
Mutter meine Probleme nicht länger ignorieren, die sie bis dahin unter der
Rubrik Spätentwickler abgelegt hatte, und brachte mich zur Frauenärztin.
(…) Ein erklärendes Wort gab es nicht, nur eine Überweisung in die Uni-
klinik. Dort musst ich drei Monate lang intimste Untersuchungen über mich
ergehen lassen, wurde fotografiert, auf dem Gynäkologiestuhl von Studen-
tenscharen begutachtet, in Hörsälen herumgereicht – alles ohne hinrei-
chende Erklärung oder gar psychologische Unterstützung. (…)“ (Interse-
xuelle Menschen 2005; Auszug aus dem Internet, 04.02.2006).
„Die Pubertät verbrachte ich, wie wohl viele andere XY-Frauen auch, mit
dem Verbergen meines Körpers. Ich ging nicht mehr zum Sport, (…), aber
Sammelumkleiden war ein Graus für mich. Ausgerechnet ich war umge-
ben von Freundinnen, die es liebten in epischer Länge und Breite über
ihre Menstruation zu berichten, (…). Ich wollte nie lügen, daher schwieg
ich, immer in der Angst lebend, eines Tages enttarnt zu werden. (…)“ (In-
tersexuelle Menschen 2005; Auszug aus dem Internet, 04.02.2006).
„Meine Weiblichkeit habe ich in all den Jahren nie in Frage gestellt. Ich
sehe aus wie eine Frau, ich fühle wie eine Frau und wollte mein ganzes
Leben nichts anderes sein als eine normale, vollständige Frau. (…) Beim
letzten Treffen sagte jemand aus der Gruppe zu mir, du bist eine Frau, nur
eben mit einer kleinen Besonderheit. Das gefällt mir, ich denke damit kann
ich leben“ (Intersexuelle Menschen 2005; Auszug aus dem Internet,
04.02.2006).
„Um mich herum standen sieben Ärzte, die interessiert dem Professor
lauschten und mir zwischen die Beine schauten. Die Untersuchungen wa-
ren schmerzhaft und ich wollte nur noch sterben vor Scham. Noch nie in
meinem Leben fühlte ich mich so ausgeliefert und verletzlich wie an die-
sem Tag. Ich kam mir regelrecht vergewaltigt vor. (…)“ (Intersexuelle Men-
schen 2005; Auszug aus dem Internet, 04.02.2006).
„Diese Tatsache, gekoppelt mit dem Tuscheln der aufgescheuchten Eltern
und Ärzte überzeugte mich davon, dass ich Krebs habe und dass niemand
mir die Wahrheit sage. Nach der OP hiess es, die Eierstöcke wurden ent-
fernt, ich könne keine Kinder bekommen. Das war ein furchtbarer Schock.
(…)“ (Intersexuelle Menschen 2005; Auszug aus dem Internet,
04.02.2006).

23
„Ich bin heute noch zutiefst empört, wenn ich daran denke, wie ich mit of-
fenen Beinen im Bett lag und die Medizinstudenten in Scharen in das
Zimmer drängten, um einen besseren Blick zu bekommen. Oder wie unter
schrecklichen Schmerzen ohne Narkose Schläuche in alle Öffnungen ge-
schoben wurden und am Bildschirm geschaut wurde, wie diese verlaufen.
Und die medizinischen Nacktfotos, bei denen man sich wie ein ausgestell-
tes Monster im Zirkus fühlt. (…)“ (Intersexuelle Menschen 2005; Auszug
aus dem Internet, 04.02.2006).
„Die Kinderlosigkeit war ein schwerer Brocken, aber ich habe intensiven
Kontakt zu vielen Kindern. Inzwischen fühle ich mich in meinem Frausein
dadurch nicht mehr beeinträchtigt. Nicht die Annahme eines Mannes
macht mein Frausein aus, sondern mein tiefstes inneres Gefühl für mich
selbst. (…)“ (Intersexuelle Menschen 2005; Auszug aus dem Internet,
04.02.2006).
„Damals sagten mir die Ärzte immer, was sie haben ist so selten, sie wer-
den nie einer anderen Betroffenen begegnen. Die Vorstellung, wie viele
AIS Frauen (…) in dieser irrigen Meinung von ihren Ärzten gehalten wer-
den, macht mich ganz wütend. (…)“ (Intersexuelle Menschen 2005; Aus-
zug aus dem Internet, 04.02.2006).
„Ausserdem bekam ich noch den Ratschlag mit auf den Weg, niemandem
ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen, denn das würde mir nur Prob-
leme bereiten und niemand könne damit umgehen. (…) Nun begann die
Zeit des absoluten Spiessrutenlaufs. Niemand durfte erfahren, dass ich
meine Tage nicht bekam, (…), niemand durfte wissen, warum ich noch
immer so wenig Scham- und Achselbehaarung und irgendwie einen Kin-
derkörper hatte. (…) Ich fand immer mehr Dinge an mir anormal, komisch,
auffällig. (…) Ich wusste ja nur, dass irgendetwas ganz Schlimmes mit mir
nicht stimmen konnte und reimte mir daher alles Mögliche zusammen,
konnte mich damit aber nie auseinandersetzen. (…)“ (Intersexuelle Men-
schen 2005; Auszug aus dem Internet, 04.02.2006).

2.6.2 Körperliche Auswirkungen der Intersexualität


Intersexualität hat also, wie in den oben aufgeführten Zitaten ersichtlich,
viele körperliche Auswirkungen. So bleibt zum Beispiel die Pubertätsent-
wicklung aus oder ein bis dahin „unauffälliges“ Mädchen beginnt plötzlich
zu virilisieren mit Peniswachstum, Stimmbruch oder Körperbehaarung.
Das Einsetzen der ersten Monatsblutung bedeutet in unserer Kultur eine
Initiation vom Mädchen zur Frau. Das Ausbleiben der Menstruation stellt
daher einen wichtigen Topos vieler Lebensgeschichten von intersexuellen
Frauen dar. Die Entwicklung eines Körpers, der nicht den gesellschaftli-
chen und den eigenen Erwartungen entspricht, führt besonders in der Pu-
bertät bei sehr vielen zu Praktiken des Versteckens des Körpers, zum Vor-
täuschen normaler Körperprozesse, zu Selbstzweifeln sowie zu einem
gestörten Selbstbild (Lang 2006, 307-308). „Es ist wenig erfreulich, dass
Ärzte und manchmal auch Eltern die Schwierigkeiten übersehen, denen
eine junge Frau ausgesetzt ist, die keine Menstruation oder Geschlechts-
behaarung hat. Aus einem Blickwinkel betrachtet, scheinen das nur ge-
ringfügige Beeinträchtigungen zu sein, doch für uns, die davon betroffen

24
sind, ist diese Besonderheit eine dauernde Quelle der Angst. Ich erinnere
mich an die Zeit, als meine Freundinnen über ihre erste Periode sprachen
und ich mich dabei ausgeschlossen fühlte und voller Angst war, sie wür-
den erfahren, dass ich anders war. Bis zum heutigen Tage ist es mir un-
angenehm, wenn Leute mich unten herum nackt sehen, aus Angst, sie
könnten über meine fehlende Geschlechtsbehaarung schockiert sein“
(Warne 1997, 25).
Wichtig ist auch zu schauen, welche Folgen die körperverändernden Ein-
griffe auf das Empfinden des eigenen Körpers haben.
Die Operationen haben oftmals in sehr frühen Lebensjahren ohne die Zu-
stimmung oder ohne jegliche Aufklärung der betroffenen Personen statt-
gefunden und im späteren Leben zu erheblichen Komplikationen im Be-
reich der Sexualität geführt. Genitalkorrekturen haben auch heute noch
häufig zur Folge, dass das sexuelle Lustempfinden und die sexuelle Sen-
sibilität verloren gehen, oder dass sexuelle Erregung als schmerzhaft
wahrgenommen wird (Huschka 2005, 35). Das Bougieren, also das Wei-
ten einer künstlich angelegten Vagina, wird ebenfalls als ein sehr
schmerzhaftes Verfahren beschrieben, das viele intersexuelle Kinder und
Jugendliche traumatisiert hat (Fröhling 2003, 161).
Die Wahrnehmung einiger erwachsener intersexueller Menschen, durch
Klitorisreduktion oder Gonadektomie eines wichtigen Teils ihrer selbst be-
raubt worden zu sein, deutet darauf hin, dass die entsprechenden Organe
durchaus als zum Selbst gehörig wahrgenommen werden können. Auch
die von einigen geschilderte Erfahrung der Entfremdung vom medizinisch
hergestellten Körper zeigt, dass das Selbst im ursprünglichen und ganzen
Körper festgemacht wird. Ausserdem werden intersexuelle Menschen
durch die Entfernung ihrer Gonaden in einen Zustand chronischer Krank-
heit versetzt, denn sie sind nach der Gonadektomie auf Hormonersatzthe-
rapie und lebenslange Kontrolluntersuchungen angewiesen. Die Gonadek-
tomie wird heute von vielen intersexuellen Menschen als unnötige Entfer-
nung von gesunden Organen begriffen. Darüber hinaus führt die operative
Behandlung oft zu Problemen und damit zu Folgeoperationen (Lang 2006,
125-126). „Durch die medizinischen Eingriffe wurde mein Körper massiv
manipuliert und ist ein anderer geworden als wenn man der Natur ihren
freien Lauf gelassen hätte. Wie ich heute aussehen würde, wenn sich
mein Körper so entwickeln hätte dürfen, wie es die Natur vorgesehen hat-
te, kann ich nicht sagen“ (Lang 2006, 170). „Ich wurde umgebaut. Ich
weiss ja heute nicht mal, ob ich der Mensch bin, der ich eigentlich hätte
werden sollen. (…) Dieses Endergebnis sagt ´Ich bin ein fehlgeschlagenes
Experiment medizinischer Forschung´. (…) Das eigentliche Wesen, was
mir von Natur aus mitgegeben wurde, ist regelrecht vergewaltigt worden.
(…)“ (Lang 2006, 169).
Wenn der Körper als Wirkung von künstlich zugeführten Hormonen, und
bestimmte Körperteile als Ergebnis eines operativen Eingriffs wahrge-
nommen werden, so kann dies zu einem Gefühl der leiblichen Desintegra-
tion und der Entfremdung führen. Dazu kommt, dass viele intersexuelle
Menschen die Veränderungen am Körper als Ergebnis eines alltäglichen
Aufwands wahrnehmen. Gerade bei der Einnahme von Hormonen fühlen

25
sich viele an die medikamentöse Herstellung ihres Frauseins beziehungs-
weise Mannseins erinnert. „Ich kann nicht ausdifferenzieren, was ich bin
und was an den Hormonen liegt, die ich nehmen muss. Ich weiss nicht,
inwieweit meine Hormone das beeinflussen“ (Lang 2006, 176-177).
Genitalien, Gonaden und Hormone sind demnach Manifestationen des
eigentlichen Wesens, ebenso wie die Psyche. Greift man in den Körper
ein, führt das auch zu Veränderungen in der Psyche.

2.6.3 Psychische Auswirkungen der Intersexualität


Der Fokus der Problematik intersexueller Menschen ist nach Lang (2006,
17) ihre Identität. Viele leiden unter Bindungs- und Beziehungsstörungen,
Angstzuständen, Vereinsamung und Depressionen (Wohlfahrt 2003, 7).
Solange das Thema Intersexualität nicht öffentlich, sondern als Frage me-
dizinischer Machbarkeit hinter verschlossenen Türen verhandelt wird, ha-
ben weder intersexuelle Kinder noch ihre Eltern greifbare Zukunftsalterna-
tiven. Eine totale Individualisierung und Tabuisierung bis hin zur lebens-
langen Geheimhaltung der vorgenommenen geschlechtsverändernden
Behandlungen sind die Regel. Diese Umstände führen oft zu schweren
Traumata, zu Verunsicherungen, zu einem Leben in Isolation und enden
manchmal in tiefer Depression oder Suizid (NGBK 2005, 4).
Viele intersexuelle Menschen erleben als Säugling und im Kindes- und
Jugendalter häufige Arztbesuche, Untersuchungen und mehrere Operati-
onen im Genitalbereich, oft ohne die Gründe dafür zu erfahren. Dies führt
zu einem Gefühl, anders zu sein als andere. So kann weder der Körper
noch die eigene geschlechtliche Existenz gedeutet werden (Lang 2005,
57). Die Entwicklung vom Kind zur Frau oder zum Mann konfrontiert die
meisten intersexuellen Menschen mit einer Vielzahl von Problemen und
Nöten. Diese Probleme, die fast alle in einem brüchigen Selbstbild als
Folge verstörender Reaktionen der Umwelt wurzeln, beginnen meist in der
Pubertät, wenn die Besonderheiten offenkundig werden. „AIS hat mich
dazu gezwungen, meine eigene Identität als Frau auf Charakterstärke und
Geisteswärme zu gründen und nicht auf oberflächliche körperliche Attribu-
te“ (Warne 1997, 26). Die Erarbeitung einer positiven Selbstdefinition jen-
seits von Mangel und Pathologie stellt eine zentrale Aufgabe im Leben
vieler intersexueller Menschen dar. Eine Identität, die sie nicht mehr dazu
zwingt, möglichst konform mit der Norm zu sein, kann grosse Freiheitsge-
winne für den Einzelnen bedeuten (Lang 2006, 145).
Viele intersexuelle Menschen mussten extreme Gefühle von Angst und
Scham erleiden und meinten, es sei besser, ihre Gefühlsaufruhr zu ver-
bergen. Wenn man den Eindruck hat, von keiner Seite unterstützt zu wer-
den, dann entsteht ein geringes Selbstwertgefühl, auch in Bezug auf die
eigene Sexualität. Es ist wichtig, genau über die eigenen körperlichen Be-
sonderheiten aufgeklärt zu werden und informiert zu sein. Die Wahrheit ist
oft leichter zu akzeptieren als all die Halbwahrheiten und unbeantworteten
Fragen. Man sollte intersexuellen Menschen aber die Gelegenheit bieten,
über die komplexen Gefühle zu sprechen, die durch die Aufklärung un-
ausweichlich entstehen (Warne 1997, 3-4). Eine betroffene Frau berichtet
hierzu: „Wie viele Frauen mit CAIS, die in einer weniger aufgeklärten Zeit

26
aufwuchsen, wurde mir nicht die Wahrheit über meine Körperlichkeit ge-
sagt. (…) Aus heutiger Sicht denke ich, dass dies nicht gut war, denn ich
habe emotional mehr unter der Tatsache gelitten, dass meine Familie mir
nicht die Wahrheit gesagt hat als unter meinen Hoden oder meinem
Chromosomensatz. Ich glaube, dass es bei angemessener Unterstützung
durch die Familie und Beratung keinen Grund für eine junge Frau mit AIS
gibt, von diesem Wissen zerstört zu werden. Doch bin ich mir auch dar-
über im Klaren, dass jede junge Frau, der man die Wahrheit sagt, eine
Zeit der Trauer durchleben wird. Meiner Meinung nach ist das ein natürli-
cher und gesunder Prozess bei der Verarbeitung einer solchen Diagnose“
(Warne 1997, 25). Eine andere Frau mit CAIS sagt dazu: „Eine einschnei-
dende Erfahrung war für mich allerdings der Verlust des Vertrauens in
meine Eltern. Obwohl sie über die Diagnose informiert waren, hatten sie
mir über viele Jahre hinweg trotz meiner wiederholten Nachfragen, wann
denn nun zum Beispiel die Geschlechtsbehaarung wachsen und die Mo-
natsblutung beginnen würde, nicht die Wahrheit gesagt“ (Guhde 2002,
47).
Intersexuelle Menschen klagen auch über die permanente Verletzung des
Schamgefühls durch die Mediziner und deren Eindringen in die Intimsphä-
re ihrer Patienten. Das Gefühl, der machtvollen Medizin ausgeliefert zu
sein, beispielsweise bei den häufigen Untersuchungen im Genitalbereich
oder bei den medizinischen Fotografien der Genitalien wird auch mit se-
xuellem Kindsmissbrauch und Vergewaltigung verglichen. Auch die Mus-
terungen durch interessierte und lernbegierige Ärzte wird als Gewalt be-
schrieben (Klauda 2002; Auszug aus dem Internet, 26.01.2006). Viele in
ihrer Kindheit aufgrund ihrer geschlechtlichen Uneindeutigkeit behandelten
Menschen beschreiben grosse Angst vor der gesamten medizinischen
Institution. Sie vermeiden den Kontakt mit Ärzten oft so weit es geht (Lang
2006, 255).

2.7 Empfehlungen für die Behandlung intersexueller Men-


schen
2.7.1 Medizinische Behandlung gleich sexuelle Verstümmelung
Sowohl die geschlechtszuweisenden Genitaloperationen als auch die me-
dizinischen Untersuchungen werden von vielen intersexuellen Menschen
als Formen von Gewalt thematisiert (Lang 2005, 16). Betroffene kritisieren
die an ihnen in der Kindheit vorgenommenen schwersten operativen Ein-
griffe und langwierigen Behandlungen als Folter und als Verletzung ihres
Rechts auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Es gibt in-
tersexuelle Menschen, die eine medizinische Zurichtung überlebt haben,
andere, die ihre chirurgischen Veränderungen zufriedenstellend finden,
und andere, die diesem Schicksal entgangen sind, weil sie durch die Ma-
schen der Medizin hindurchgeschlüpft sind (Fröhling 2003, 11). Die medi-
zinischen Eingriffe werden von vielen nicht als Korrektur von Fehlbildun-
gen oder als Rekonstruktion des eigentlich weiblichen oder männlichen
Körpers interpretiert, sondern als Umbau und Zerstörung des eigentlichen
Körpers. Hier zeigt sich der Unterschied zum medizinischen Diskurs in

27
aller Deutlichkeit. Im medizinischen Diskurs wird die Behandlung als Her-
stellung eines gesunden ganzen Körpers interpretiert, mittels der der Na-
tur ein wenig nachgeholfen wird. Im Gegensatz dazu ist es für viele inter-
sexuelle Menschen gerade die medizinische Behandlung, die die ur-
sprüngliche Ganzheit und Integrität intersexueller Körper zerstört (Lang
2006, 171).
Es gibt bisher keine Behandlungsleitlinien wie in anderen Bereichen der
Medizin. Es gibt nur wenig Wissen über eine gute und umfassende Be-
handlung und Betreuung. Während aber frühere Behandlungsansätze da-
von ausgingen, durch Zuweisung eines Erziehungsgeschlechts unmittel-
bar nach der Geburt und frühzeitige Operation die Geschlechtszugehörig-
keit eindeutig festzulegen, sind heutige Empfehlungen zurückhaltender.
Genitalkorrigierende Massnahmen sollen erst dann erfolgen, wenn die
Eltern zu einem wahren informierten Konsens in der Lage sind. Denn nur
Eltern, die sich mit den Ängsten und Bedrohungen auseinandergesetzt
haben, die eine solche Abweichung von der symbolischen Ordnung für
ihre eigene Identität bedeutet, können eine qualifizierte Entscheidung für
oder gegen eine Operation treffen (Thyen 2005; Auszug aus dem Internet,
29.01.2006). Ein zunehmender Trend ist, dass die Kinder nicht operiert
werden und später selber entscheiden können, ob sie als Frau oder Mann
leben möchten. Eine hormonelle und operative Anpassung ist nur dann
legitim, wenn das Leben des intersexuellen Menschen medizinisch be-
droht ist oder sich der intersexuelle Mensch selbst zu einer „Normierungs-
anpassung“ entscheidet. Es sollte abgewartet werden, bis das Kind selbst
ein stabiles Bewusstsein seiner sexuellen Identität erlangt hat und frei ent-
scheiden kann, ob und welche chirurgischen Korrekturen es wünscht
(Lightfoot-Klein 2003, 49). Kunze meint hierzu: „Angesichts der massiven
Identitätsprobleme, die im Nachhinein auftreten können, ist es aber bei
einem eindeutig zweideutigen Kind wohl das Klügste, es so aufwachsen
zu lassen, wie es zur Welt gekommen ist. Es kann dann zu gegebener
Zeit selbst entscheiden, welchem Geschlecht es sich näher fühlt und wie
es seine Identität leben will“ (Fuchs/Roedig 2002; Auszug aus dem Inter-
net, 22.01.2006). Auch die Selbsthilfe Intersexualität (2005, 2) setzt sich
dafür ein, dass intersexuelle Menschen selber entscheiden sollen, wie sie
leben möchten, also das Recht auf Selbstbestimmung gewahrt wird. Es
sollen keine Operationen nur aus kosmetischen Gründen durchgeführt
werden. Ebenso sollen die Gonaden nicht aus Furcht vor einer möglichen
Tumorentwicklung entfernt werden. Aufmerksames Warten mit Entwick-
lungskontrollen ist viel vernünftiger und ermöglicht dem intersexuellen
Menschen einen eigenen Hormonhaushalt. Diamonds Vorschlag weist in
die gleiche Richtung. Nach Diamond sollen alle geschlechtskorrigierenden
Massnahmen ohne vitale Indikation zurückgestellt werden, bis die Kinder
einwilligungsfähig seien (Ude-Koeller/Wiesemann 2005, 308).

2.7.2 Erstgespräche
Elternzufriedenheit hängt wesentlich von der Qualität der Erstinformation
ab. Die Erstinformation bestimmt die Krankheitsbewältigung in der Familie.
Für Eltern bedeutet die Nachricht einer besonderen Geschlechtsentwick-

28
lung bei ihrem neugeborenen Kind eine schlagartige Veränderung der Re-
alität. Eine ruhige und empathische Diagnosemitteilung ist zentral für den
weiteren Umgang der Eltern mit der besonderen Geschlechtsentwicklung
des Kindes. Wichtige Aspekte sind hierbei Ehrlichkeit und das Vermeiden
von Spekulationen. Wenn kein medizinischer Notfall vorliegt, muss eine
Trennung von Eltern und Kind vermieden werden, um die frühe Eltern-
Kind-Beziehung zu unterstützen. Eltern sollte zudem der Zugang zu psy-
chologischer Betreuung und zu Selbsthilfegruppen ermöglicht werden. Es
sollte vermieden werden, das Kind als „aussergewöhnlichen Fall“ zu be-
handeln. Alle Untersuchungen dürfen nur mit dem Einverständnis der El-
tern durchgeführt werden (Thyen u.a. 2005, 294). Nach dem Informed
Consent müssen sowohl die betroffenen Kinder und Jugendlichen als
auch die Eltern verstärkt in den Behandlungsprozess miteinbezogen wer-
den. Auch Kinder sind als Partner in der Behandlung ernstzunehmen und
an medizinischen Prozessen zu beteiligen (Ude-Koeller/Wiesemann 2005,
306).
Eltern müssen vollständig und tabufrei über die Intersexualität ihres Kin-
des aufgeklärt werden. So ist es den Eltern eher möglich, ihr Kind mit sei-
ner besonderen Körperlichkeit so anzunehmen, wie es ist. Auf dieser
Grundlage können sie ihr Kind in seiner Entwicklung dahingehend unter-
stützen, dass es seine intersexuelle Realität als etwas Natürliches erlebt
und damit ein gutes Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein entwickelt,
statt sich als falsch, anders oder gar krank zu empfinden (Guhde 2002,
51-52).
Sobald Eltern glauben, dass sie mit ihrem Kind über seine besondere
Körperlichkeit und die daraus entstehenden Gefühle sprechen können,
sollten sie ihm nach und nach helfen, Intersexualität zu verstehen. Letzt-
endlich kann das die Eltern-Kind-Beziehung stärken. Wenn Eltern die In-
tersexualität ihres Kindes akzeptieren, dann ist damit der Grundstein für
Akzeptanz auch im sozialen Umfeld gelegt. Ein intersexuelles Kind hat
das Recht, alles zu erfahren. Die Weitergabe von Informationen sollte all-
mählich geschehen, wobei der Entwicklungsstand und die Fähigkeit, das
Gesagte zu verstehen, berücksichtigt werden sollte. Die Pubertät ist eine
Lebensphase, die mit Gruppen- und Anpassungszwang verbunden ist. Es
ist ratsam, dass intersexuelle Kinder über ihre Besonderheit im Vergleich
zu anderen erfahren, bevor sich dieser Zwang einstellt (Warne 1997, 21).

2.8 Intersexualität – ein Thema für die Heilpädagogik?


Um herauszufinden, ob Intersexualität ein Thema für die Heilpädagogik
ist, muss zuerst kurz dargestellt werden, mit was sich Heilpädagogik be-
fasst, beziehungsweise was das Arbeitsgebiet von Heilpädagogen ist.
Nach Fornefeld (2000, 14) befasst sich die Heilpädagogik in Praxis und
Theorie mit Behinderungszuständen von Kindern, Jugendlichen und Er-
wachsenen sowie deren Auswirkungen auf die personale Entwicklung und
das soziale Leben der Betroffenen und ihrer Familien. Heilpädagogik
nimmt also Behinderungen unterschiedlichster Genese in den Blick und
subsumiert eine Fülle verschiedenartigster erzieherischer, unterrichtlicher,
therapeutischer, sozialberatender und rehabilitativer Massnahmen.

29
Aus der Definition von Fornefeld geht heraus, dass sich Heilpädagogik
sowohl mit den von Behinderung betroffenen Personen als auch mit deren
Eltern befasst. Um die Eingangs des Kapitels gestellte Frage zu klären,
werde ich daher den Fokus auf diese beiden Personenkreise richten. Ich
übernehme die Definition von Fornefeld für intersexuelle Menschen, ob-
wohl es sich bei ihnen nicht um behinderte Menschen im klassischen Sin-
ne handelt. Dennoch denke ich, dass sich Intersexualität wie in der Defini-
tion erwähnt auch auf die personale Entwicklung und das soziale Leben
der Betroffenen auswirkt.
Eine Menge medizinischer Aktivität erweckt den Eindruck, dass Intersexu-
alität etwas ganz Schreckliches ist. Dermassen furchtbar, dass zur Abtrei-
bung eines intersexuellen Fötus geraten wird, da es sich hierbei angeblich
um lebensunwertes Leben handelt (NGBK 2005, 20). Meiner Meinung
nach braucht man pränatale Diagnostik nicht. Ich sehe keinen Grund, wa-
rum Menschen mit besonderen Entwicklungswegen nicht leben dürfen.
Aber Selektionsprobleme aufgrund vorgeburtlicher Untersuchungen haben
wir schon lange. Die Diagnose Intersexualität allein ist schon Indikation
genug für einen Schwangerschaftsabbruch. Bei der Pränataldiagnostik
sehe ich daher ein Arbeitsfeld der Heilpädagogik. Eltern, die nach einer
vorgeburtlichen Untersuchung eine negative Nachricht erhalten, brauchen
Unterstützung diese zu verarbeiten. Ein Heilpädagoge könnte die Eltern
dahingehend aufklären und unterstützen, dass auch ein Kind mit einer
Behinderung oder einer Krankheit, in diesem Fall mit einem intersexuellen
Genitale, ein lebenswertes Leben vor sich hat, und dass sie ihr Kind so
annehmen wie es ist. Anschliessend an dieses Arbeitsfeld ergibt sich mit
der Geburt eines Kindes mit intersexuellem Genitale ein weiteres heilpä-
dagogisches Arbeitsfeld.
Die psychische Situation, in der sich Eltern nach der Geburt eines interse-
xuellen Kindes befinden, wird als psychologischer Notfall und als Trauma
begriffen (Lang 2006, 85). Die Reaktion der Eltern auf die Intersexualität
ihres Kindes ist immer erschütternd. Sie beschreiben ihr Erleben ange-
sichts des intersexuellen Befundes als Hölle und oft sehen sie in ihrem
Kind ein Monster. Viele Eltern würden die Intersexualität ihres Kindes am
liebsten gegen eine gesellschaftlich anerkannte und existente Krankheit
eintauschen, weil sie dann wenigstens darüber reden könnten und wüss-
ten, woran sie sind (Hassel 2003, 17). Die Eltern müssen Wege finden,
um mit ihren starken Gefühlsregungen fertig zu werden, zu denen oft
Schmerz, Trauer und Zorn zählen. Es ist unvermeidlich, dass Eltern im
Gewöhnungsprozess an eine solche Diagnose Phasen der Verletzlichkeit
durchlaufen werden. Hierbei brauchen die Eltern von Anfang an eine Be-
gleitung (Warne 1997, 19). Eltern, die ein intersexuelles Kind bekommen,
müssen sich früh von der Illusion des perfekten Kindes verabschieden. Sie
brauchen Zeit und Begleitung, bis sie die Diagnose begriffen und ange-
nommen haben, und bis sie verstanden haben, worauf es bei der Beglei-
tung und Aufklärung ihres Kindes ankommt (NGBK 2005, 24). Eine Auf-
gabe der Heilpädagogik könnte hier sein, die Eltern bei ihrem Lernprozess
im Umgang mit Intersexualität zu unterstützen. Ich finde es wichtig, die
Eltern zu unterstützen, damit diese ihren Kindern besser zur Seite stehen

30
können und ihnen das Gefühl geben können, dass sie so wie sie sind in
Ordnung sind. Die Eltern müssen sich darüber im Klaren sein, dass ihr
intersexuelles Kind etwas Besonderes ist, vor oder nach der Pubertät das
Leben als ein Junge oder ein Mädchen akzeptiert, das soziale Geschlecht
ganz wechseln könnte oder als intersexueller Mensch anerkannt werden
will. Daher muss den Eltern von Anfang an eine ausführliche und kompe-
tente Beratung zur Verfügung gestellt werden.
Alle körperlichen Besonderheiten rufen bei betroffenen Menschen und ih-
rer Familie stets komplexe Gefühle hervor. Zwischenmenschliche Bezie-
hungen können gelegentlich belastet werden, da jedes Familienmitglied
mit den Problemen unterschiedlich umgeht (Warne 1997, 22). Auch hier
finde ich eine heilpädagogische Begleitung sinnvoll, denn nur Familien mit
intersexuellen Kindern, in denen nicht Ängste, Tabus und Traumata regie-
ren, stellen die notwendige Bedingung dafür dar, dass die Gesellschaft
Abweichungen von der geschlechtlichen Norm verkraften kann. Intersexu-
elle Menschen und ihre Familien sollen ermutigt werden, offen über Inter-
sexualität zu sprechen. Sie sollen Intersexualität anerkennen und akzep-
tieren und das Recht des Kindes auf Selbstbestimmung wahren. Eine
Möglichkeit ist hier auch, den Kontakt zu anderen Betroffenen oder zu
Selbsthilfegruppen herzustellen.
Es zeigt sich, dass Erfahrungen von Anderssein, Geheimhaltung, Sorgen
und Ängste der Angehörigen und unsensibler Umgang mit der Problematik
im Gesundheitssystem zu erheblichen Belastungen führen können. Ver-
ständlicherweise ist es für viele intersexuelle Menschen schwierig, die
körperlichen Umstände, die ihr Leben und ihre Beziehungen zu anderen
Menschen beeinträchtigen können, zu akzeptieren (Warne 1997, 22). Für
intersexuelle Kinder, Jugendliche und Erwachsene ist eine kontinuierliche
und langfristige Begleitung sinnvoll, um zum einen die durch die medizini-
sche Behandlung selbst entstandenen Traumata aufzuarbeiten und zum
anderen einen selbstbewussten Umgang mit der eigenen körperlichen Be-
sonderheit zu erlernen (Lang 2006, 87). In der Arbeit mit intersexuellen
Menschen selber sehe ich auch ein wichtiges Feld der Heilpädagogik.
Heilpädagogik befasst sich laut Fornefeld ja auch mit Entwicklungsstörun-
gen in sozialen Beziehungen. Hier kann mit intersexuellen Menschen er-
arbeitet werden, wie sie Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen
können. Dies fusst auf einem positiven Selbstbild und auf Selbstvertrauen,
zwei zentralen Persönlichkeitsmerkmalen, die ebenfalls in der heilpädago-
gischen Begleitung aufgebaut und weiterentwickelt werden können.
Das Thema Intersexualität muss aus der Tabuzone heraus. Ich finde, dass
die Heilpädagogik allmählich beginnen sollte, sich mit Intersexualität zu
befassen. Viele Heilpädagogen sind beim Thema Intersexualität ahnungs-
los. Der erste Schritt wäre hier, sich Informationen zu beschaffen und sich
mit dem Thema auseinanderzusetzen.

31
3. Schluss
3.1 Zusammenfassung
Seit einiger Zeit stösst das Thema Intersexualität auf zunehmendes Inte-
resse, wobei vor allem die bisherigen medizinischen und chirurgischen
Behandlungen von verschiedenen Seiten kritisch hinterfragt werden. Die-
se Bedenken haben zu einer breiten Diskussion innerhalb der Medizin und
in der Öffentlichkeit geführt.
Als Intersexualität wird die fehlende Übereinstimmung der körperlichen
Geschlechtsmerkmale eines Menschen verstanden. Dies bedeutet, dass
bei intersexuellen Menschen gleichzeitig Geschlechtsmerkmale vorkom-
men, die sich typischerweise entweder bei Frauen oder bei Männern fin-
den lassen. Unter den Begriff Intersexualität werden viele sehr unter-
schiedliche Phänomene mit jeweils speziellen Ursachen subsumiert. Zu-
sammenfassend kann aber gesagt werden, dass es bei all diesen Phäno-
menen während der pränatalen Differenzierung des Körpergeschlechts zu
einer untypischen Entwicklung gekommen ist. Während das chromosoma-
le Geschlecht im Augenblick der Befruchtung der Eizelle durch die Sa-
menzelle festgelegt wird, vollzieht sich die Entwicklung der Gonaden über
verschiedene Entwicklungsschritte hin zu Eierstöcken oder Hoden. Die
Entwicklung der äusseren Geschlechtsmerkmale wird über komplizierte
Mechanismen hormonell gesteuert. Bei jedem einzelnen Entwicklungs-
schritt kann es zu Abweichungen vom typischen Verlauf kommen, woraus
sich dann jeweils sehr unterschiedliche Ausprägungen der Geschlechtsor-
gane ergeben können. Es kann also vorkommen, dass Neugeborene hin-
sichtlich ihrer äusseren Geschlechtsorgane eindeutig männlich oder weib-
lich erscheinen, während sie einen davon abweichenden Chromosomen-
satz aufweisen. In anderen Fällen kommt es zur Herausbildung eines in-
tersexuellen Genitales. Bei einem intersexuellen Genitale wird die Interse-
xualität oftmals gleich nach der Geburt festgestellt. Bei anderen intersexu-
ellen Menschen wird die untypische Geschlechtsentwicklung erst im Laufe
der Kindheit oder in der Pubertät festgestellt, wenn die Entwicklung der
sekundären Geschlechtsmerkmale ausbleibt oder untypisch verläuft.
Intersexualität hat oft massive körperliche und psychische Auswirkungen
zur Folge. So sind zum Beispiel intersexuelle Mädchen, die in der Pubertät
zu virilisieren beginnen, enormen psychischen Belastungen ausgesetzt.
Ihr bis dahin relativ normales und unauffälliges Leben als Mädchen wird
oftmals von einem Tag auf den anderen, nämlich ab dem Zeitpunkt der
Diagnose, in Frage gestellt. Sie berichten von grossen Ängsten bezüglich
ihrer körperlichen Veränderungen, von Ängsten, zu einem „Monster“ zu
werden, da sie nicht verstehen können, was mit ihnen passiert und warum
sie so anders sind als ihre Freundinnen. Oder Mädchen, bei denen im
Vergleich mit ihren gleichaltrigen Freundinnen die weibliche Pubertätsent-
wicklung ausbleibt, fühlen sich oft unsicher, verlieren an Selbstbewusst-
sein oder suchen die Schuld für ihre fehlende Entwicklung bei sich selbst.
Bei allen intersexuellen Menschen stellt sich in unserer Gesellschaft die
Frage, welchem Geschlecht diese Personen zugeordnet werden sollen.

32
Nach der bisherigen Behandlungspraxis wurden die betroffenen Kinder
oftmals sehr früh operativen und hormonellen Behandlungen unterzogen,
um ein möglichst eindeutiges Erscheinungsbild zu erreichen. Dieser Be-
handlungsansatz geht auf Richtlinien zur Behandlung und Erziehung von
Kindern mit nicht eindeutigen Genitalien zurück, die John Money in den
60er Jahren entwickelt hat. Darin plädiert er unter anderem für genitalkor-
rigierende Massnahmen vor dem 24. Lebensmonat. Des Weiteren sieht er
die Geheimhaltung der Diagnose und der erfolgten operativen Massnah-
men vor, da seiner Meinung nach die psychosexuelle Gesundheit nur
möglich sei, wenn das Kind und seine soziale Umgebung nichts von den
Behandlungen in der frühen Kindheit erfahren. Während frühere Behand-
lungsansätze also davon ausgingen, durch schnelle Zuweisung eines Er-
ziehungsgeschlechts und frühzeitige angleichende Operationen eine „un-
gestörte Entwicklung“ zu garantieren, wird diese Doktrin heute durch aktu-
elle Forschungsergebnisse und Selbsthilfeinitiativen in Frage gestellt. Ins-
besondere die Geheimhaltung der Besonderheit, wiederholte chirurgische
Eingriffe ohne Aufklärung der Kinder und Jugendlichen und fehlende Un-
terstützung bei der Verarbeitung der besonderen Entwicklung, insbeson-
dere in der Pubertät, führen unter Umständen zu erheblichen emotionalen
und psychosozialen Problemen. Neuere Forschungsergebnisse zeigen,
dass das Geschlechtsrollenverhalten nicht nur durch die Erziehung be-
stimmt wird, sondern auch durch pränatale Hormonwirkungen beeinflusst
wird. Der heutige Trend in der Behandlung intersexueller Menschen geht
dahin, dass Kinder nicht operiert werden und später selber entscheiden
können, ob und welche chirurgischen Korrekturen sie wünschen.
Es ist von enormer Wichtigkeit, dass intersexuelle Menschen über ihre
Situation vollständig aufgeklärt werden und Tabuisierung und Verheimli-
chung der Diagnose und der Behandlungsmassnahmen der Vergangen-
heit angehören müssen. Intersexuelle Menschen sollten vollständig in die
Behandlung und die einzelnen Behandlungsschritte integriert sein und
selbst entscheiden, ob und welche Form der medizinischen und psycho-
therapeutischen Behandlung sie in Anspruch nehmen wollen.
Es gibt einige Arbeitsfelder in Bezug auf Intersexualität, in denen Heilpä-
dagogen tätig sein könnten. Zu nennen sind hier die Begleitung der Eltern
nach der Geburt eines intersexuellen Kindes und die Begleitung von inter-
sexuellen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Die Begleitung der
Eltern besteht unter anderem darin, sie dahin zu führen, dass sie ihr inter-
sexuelles Kind so akzeptieren und lieben wie es ist. Das Angenommen-
sein durch die Eltern erleichtert betroffenen Menschen, mit ihrer Interse-
xualität umzugehen. Schwerpunkte in der Begleitung von intersexuellen
Menschen sind die Entwicklung eines positiven Selbstbilds, die Stärkung
des Selbstbewusstseins und der Aufbau von Beziehungen.
Mit dieser Arbeit wollte ich auf ein Phänomen blicken, das immer noch ein
grosses Tabu darstellt, nämlich Intersexualität. Ich denke, dass mir mit
dieser Arbeit ein Stück weit gelungen ist, intersexuellen Menschen eine
Stimme zu geben. Meiner Meinung nach muss das Ziel sein, für jeden in-
tersexuellen Menschen individuelle Lösungen zu finden, damit jeder ein

33
möglichst körperlich integeres und glückliches Leben führen kann, egal ob
er als Intersexueller, als Mann oder als Frau leben möchte.

3.2 Glossar
Die Begriffsdefinitionen sind von Fröhling (2003, 223-228) übernommen.

Androgene: Vermännlichende Hormone, die bei Jungen für das Wachs-


tum des Penis, die Entwicklung von Gesichts- und Körperbehaarung, das
Wachstum von Muskeln und Knochen sowie für das Tieferwerden der
Stimme verantwortlich sind. Aber auch Frauen bilden Androgene.

Autosomen: Alle Chromosomen, die nicht als Geschlechtschromosomen


definiert sind. Beim Menschen sind es 44 Stück, von denen immer zwei
die Informationen für die gleichen Gene enthalten.

Bougieren: Dehnen und Weiten der Vagina.

CAIS: Engl. Complete Androgen Insensitivity Syndrom.

Chromosom: Fadenförmiges Gebilde im Zellkern, das das Erbgut eines


Lebewesens trägt.

Dysgenesie: Fehlentwicklung.

Enzyme: In lebenden Zellen gebildete Eiweisskörper, die Stoffwechsel-


prozesse ermöglichen.

Gen: In den Chromosomen liegender Erbfaktor, Erbanlage.

Gonadektomie: Operative Entfernung der Gonaden.

Gonaden: Keimdrüsen, Vorstufe von Hoden und Eierstöcken.

Gonadendysgenesie: Fehl- oder Nichtentwicklung der Gonaden.

Hermaphrodit: Zweigeschlechtliches Fabelwesen in der griechisch-


römischen Sagenwelt.

Hormone: Chemische Botenstoffe des menschlichen Körpers, die an ei-


ner Stelle des Körpers in Drüsen produziert werden und an anderer Stelle
im Körper wirken.

Hypospadie: Spaltung des Penis am unteren Schaft und Mündung des


Penis am Schaft statt an der Spitze.

Informed Consent: Engl. In der Medizin die wissentliche Einwilligung des


über alle Risiken einer Operation gut informierten Patienten.

34
Karyotyp: Anzahl und Form der Chromosomen, in diesem Zusammen-
hang der Geschlechtschromosomen.

Klitorektomie: Operative Entfernung der Klitoris.

Klitorisreduktion: Operative Verkürzung der Klitoris.

Müllerscher Gang: Embryonaler Geschlechtsgang, entwickelt sich bei


Frauen zu Eileiter, Gebärmutter und oberem Teil der Vagina.

Östrogene: Sammelbezeichnung für weibliche Geschlechtshormone.

Ovarien: Eierstöcke.

Ovotestis: Gonade mit männlichen und weiblichen Keimzellen.

PAIS: Engl. Partial Androgen Insensitivity Syndrom.

Phänotyp: Äusseres Erscheinungsbild des Menschen.

Praderstufen: Einteilung des Übergangs von weiblichen zu männlichen


Erscheinungsformen der äusseren Geschlechtsorgane bei Intersexuellen.
Benannt nach dem Schweizer Arzt Andrea Prader.

Skrotum: Hodensack.

Somatisch: Körperlich.

SRY: Sex-determining Region of the Y-Chromosome, geschlechtsbestim-


mender Teil auf dem Y-Chromosom. Gen, das die Entwicklung von Tes-
tosteron in den Hoden aktiviert.

Stranggonade: Unausgereifte Gonade.

Testis: Hoden.

Testosteron: Männliches Sexualhormon, das hauptsächlich in den Ley-


digzellen der Hoden gebildet wird.

Virilisierung: Vermännlichung.

Wolffscher Gang: Embryonaler Geschlechtsgang, entwickelt sich bei


Männern zu Nebenhodengang, Samenleiter und Samenblase.

35
3.3 Literaturverzeichnis
Colapinto, John (2002): Der Junge, der als Mädchen aufwuchs. München:
Goldmann Verlag

Deutsche Klinefelter-Syndrom Vereinigung e.V. (2005): Das Klinefelter-


Syndrom. In: www.klinefelter.org/contents/1_das_k-s.php, 18.12.2005

Dressler, Stephan; Zink, Christoph (Hrsg.) (2003): Pschyrembel. Wörter-


buch Sexualität. Berlin: Walter de Gruyter

Fornefeld, Barbara (2000): Einführung in die Geistigbehindertenpädago-


gik. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag

Fröhling, Ulla (2003): Leben zwischen den Geschlechtern. Intersexualität


– Erfahrungen in einem Tabubereich. Berlin: Links Verlag

Fuchs, Christian; Roedig, Andrea (2002): Sieben Geschlechter hat der


Mensch. In: www.freitag.de/2002/44/02441701.php, 22.01.2006

Gilbert, Susan (2004): Typisch Mädchen! Typisch Junge! Praxisbuch für


den Erziehungsalltag. München: Deutscher Taschenbuch Verlag

Guhde, Helen (2002): Körper – Gefühl. Leben in einer intersexuellen Rea-


lität. In: Polymorph (Hrsg.): (K)ein Geschlecht oder viele? Transgender in
politischer Perspektive. Berlin: Querverlag, 45-52

Haeberle, Erwin (2005): dtv-Atlas Sexualität. München: Deutscher Ta-


schenbuch Verlag

Hassel, Sarah Luzia (2003): Ausblicke auf ein neues Beratungsfeld: Inter-
sexualität. In: vfp-forum 1, 17-18

Hertzer, Karin (1999): Mann oder Frau – wenn die Grenzen fliessend wer-
den. München: Ariston Verlag

Huschka, Lisa (2005): Leben zwischen Mann und Frau. In: ÄP Gynäkolo-
gie 3, 34-36

Intersexuelle Menschen e.V. (2005): XY-Frauen. In: http://www.xy-


frauen.de, 04.02.2006

Jürgen, Alex (2005): Willkommen bei Intersex.at. In: http://www.intersex.at,


05.02.2006

Kasten, Hartmut (2003): Weiblich – Männlich. Geschlechterrollen durch-


schauen. 2. Auflage. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag

36
Klauda, Georg (2002): Fürsorgliche Belagerung. In: http://gigi.x-berg.de/
texte/belagerung, 26.01.2006

Klöppel, Ulrike (2002): XX0XY ungelöst. Störungsszenarien in der Drama-


turgie der zweigeschlechtlichen Ordnung. In: Polymorph (Hrsg.): (K)ein
Geschlecht oder viele? Transgender in politischer Perspektive. Berlin:
Querverlag, 153-180

Lakotta, Beate (2002): Ihre Tochter ist ein Sohn. In: Der Spiegel
04.11.2002, 210

Lang, Claudia (2006): Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlech-


tern. Frankfurt: Campus Verlag

Lautmann, Rüdiger (2002): Soziologie der Sexualität. Erotischer Körper,


intimes Handeln und Sexualkultur. Weinheim/München: Juventa Verlag

Lightfoot-Klein, Hanny (2003): Der Beschneidungsskandal. Berlin: Orlanda


Verlag

Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, NGBK (Hrsg.) (2005): 1-0-1 [one ´o
one] intersex. Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverlet-
zung. Berlin: NGBK Verlag

Plett, Konstanze (2002): Intersexualität aus rechtlicher Perspektive. In:


Polymorph (Hrsg.): (K)ein Geschlecht oder viele? Transgender in politi-
scher Perspektive. Berlin: Querverlag, 31-42

Polymorph (Hrsg.) (2002): (K)ein Geschlecht oder viele? Transgender in


politischer Perspektive. Berlin: Querverlag

Reiter, Michel (2000): Medizinische Intervention als Folter. In: http://


www.gigi-online.de/intervention9.html, 26.01.2006

Richter-Appelt, Hertha (2005): Allgemeine Infos zur Intersexualität. In:


http://www.intersex-forschung.de/informationen.html, 16.06.2007

Selbsthilfe Intersexualität (2005): Zwischen zwei Geschlechtern. Von der


Selbsthilfegruppe Schweiz zur Verfügung gestellte Materialien

Sinnecker, Gernot (2002): Ethische Fragen der Intersexualität. In:


www.kindergynaekologie.de/html/dggg_abs1.html, 20.01.2006

Thyen, Ute; Jürgensen, Martina; Kleinemeier, Eva (2005): Die Geburt ei-
nes Kindes mit uneindeutigen Genitalien. Richtiges Management in einer
kritischen Situation. In: Kinderärztliche Praxis 5, 292-297

37
Thyen, Ute (2005): Intersexualität. Besonderheiten in der Geschlechtsdif-
ferenzierung. In: http://www.netzwerk-is.uk-sh.de, 29.01.2006

Ude-Koeller, Susanne; Wiesemann, Claudia: Ethik und Informed Consent.


Empfehlungen für die Behandlung intersexueller Kinder und Jugendlicher.
In: Kinderärztliche Praxis 5, 305-310

Warne, Garry (1997): Komplete Androgen Resistenz (CAIS). Broschüre

Wohlfahrt, Rainer (2003): Er, sie, es. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung
15. Januar 2003, 7

Wünsch, Lutz; Leriche, Clothilde (2005): Kinderchirurgische Möglichkeiten


bei Störungen der somatosexuellen Differenzierung. In: Kinderärztliche
Praxis 5, 299-302

3.3 Abbildungsverzeichnis
Abbildung A: Entwicklung der weiblichen und männlichen Geschlechtsor-
gane. In: Haeberle, Erwin (2005): dtv-Atlas Sexualität. München: Deut-
scher Taschenbuch Verlag, 12

Abbildung B: Verschiedene Ausprägungen intersexueller Geschlechtsor-


gane. In: Dressler, Stephan; Zink, Christoph (Hrsg.) (2003): Pschyrembel.
Wörterbuch Sexualität. Berlin: Walter de Gruyter, 244

38

Das könnte Ihnen auch gefallen