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JÖRG SALAQUARDA, BERLIN

DER ANTICHRIST

Friedrich Nietzsche hat nicht nur auf den Stil seiner zur Veröffent-
lichung bestimmten Werke, sondern audi auf die Wortwahl viel Sorgfalt
verwandt. Er hat vor allem die zentralen Themen und Motive seines Den-
kens durch Wendungen bezeichnet, die schon als solche Interesse und Auf-
merksamkeit erregen: Umwertung aller Werte, Wille zur Macht, Über-
mensch, Ewige Wiederkunft des Gleidnen etc. Aber selbst wenn die gemein-
ten Sachverhalte nicht von solchem Gewicht für ihn waren, wie es bei den
hier beispielsweise angeführten der Fall war, widmete er ihrer Benennung
viel Überlegung. Besonders im Zarathustra hat er eine Vielzahl neuer
Wörter oder neuer Bedeutungen schon gebräuchlicher Wörter kreiert, von
denen einige sich inzwischen in der deutschen Sprache eingebürgert haben.1
Den Ausdruck „Bildungsphilister", mit dem er in seiner ersten Unzeit-*
gemäßen Betrachtung David Fr. Strauß und dessen Geistesverwandte
charakterisierte, hat er zwar nicht geprägt, wie er irrtümlich annahm2 — er
ist aber durch ihn bekannt und sozusagen ,geflügeltc geworden3.
Was von den Wörtern im allgemeinen gilt, das trifft in besonderem
Maße auf Buch- und Abschnittstitel zu. Nietzsche hat ja sogar die einzelnen

1
Am bekanntesten ist wohl „Hinterweltler"; vgl. Za I, Von den Hinterweltlern; KGW
VI l, 31 ff.
2
In der 1886 verfaßten Vorrede zum 2. Band von Menschliches, Allzumenschliches
sagt Nietzsche, er „mache Anspruch auf die Vaterschaft des jetzt viel gebrauchten und
missbrauchten Wortes ,Bildungsphilister'a (MA II, Vorrede 1; KGW IV 3, 4); er hat
diesen Anspruch später wiederholt (vgl. an Brandes vom 19. 2.1888; GBr III, 286 und
vor allem EH, Die Unzeitgemässen 2; KGW VI 3, 315). — Andler, Joel und andere
haben darauf hingewiesen, daß das Wort schon vor Nietzsche von Rudolf Haym,
Bettina von Arnim u. a. verwendet worden ist (vgl. die zusammenfassende Darstellung
bei K. Gründer, „Bildungsphilister", in: Histor. Wörterbuch der Philosophie, ed.
J. Ritter, Bd. I, Darmstadt 1971, Sp. 937 f.).
8
Ich stimme Walter Kaufmann zu, der ausführt, das Wort ,Bildungsphilister* „had
been known before, though not prominently, and Nietzsche only gave the term a
new and lasting meaning" (Nietzsche, Philosopher, Psychologist, Antichrist; Princeton
New Jersey, 1968s, 219).
92 Jörg Salaquarda

Aphorismen mit Überschriften versehen4, wobei nicht selten das Ironisch-


Paradoxe oder schlagartig Erhellende des Titels viel zur Wirkung des ge-
samten Aphorismus beiträgt5. Noch wichtiger war für Nietzsche verständ-
licherweise die Entscheidung hinsichtlich der Buchtitel, wofür es viele Zeug-
nisse, vor allem in seinen Briefen an Peter Gast gibt6. In einem Fall hat
Nietzsche ausdrücklich beschrieben, wieviel Überlegung und Sorgfalt er auf
die Formulierung und Auswahl von Titeln verwendet hat. Seine Beschrei-
bung ist zugleich eine Aufforderung an die Leser, es sich bei der Lektüre
und Interpretation nicht zu einfach zu machen. Nietzsche schreibt im Ecce
homo über seinen Zarathustra, wobei er den Buchtitel und den Namen
seines Protagonisten zugleich im Blick hat: „Man hat mich nicht gefragt,
man hätte mich fragen sollen, was gerade in meinem Munde, im Munde des
4
Cosima Wagner hat im Ärger über den, wie sie empfand, , Verrat* Nietzsches an
Wagner den sublimen Reiz übersehen, der sich schon im ersten Band von Menschliches,
Allzumenschliches aus der Spannung von Überschrift und Text ergibt. Sie schreibt,
einen Vermittlungsversuch von Nietzsches Schwester zurückweisend: „Den Dünkel ganz
unerwähnt lassend, welcher sich durch das Betiteln eines jeden, noch so nichtssagenden
Satzes kund giebt..." (zitiert nach M. Montinari, Das Leben Fr. Nietzsches in den
Jahren 1875—1879 Chronik, in: KGW IV 4, 9 ff., hier 63. — Vgl. auch E.Förster-
Nietzsche, Das Leben Fr. Nietzsches, Bd. II l, Leipzig 1897, 313).
5
Vgl. z.B. Überschriften wie die folgenden: „Inwiefern der Thätige faul ist" (
286; KGW IV 2, 237), „Moral für Häuserbauer« (WS 335; KGW IV 3, 336), „Die
Hinzu-Lügner" (FW 29; KA V, 70) u. v. a.
6
Sehr aufschlußreich ist z. B. die allmähliche Herausbildung des Titels Götzendämme-
rung. In einem Nachlaßfragment hat Nietzsche eine Reihe Variationen notiert, für den
Haupttitel z. B. „Götzen-Hammer", womit sicherlich auf den berühmten Hexen-
Hammer angespielt ist (Nachlaß September—Oktober 1888, 22 [6]; KGW VIII 3,
394). — Der schließlich bevorzugte Titel ist vielschichtig. Er bringt Nietzsches Einsicht
zum Ausdruck, daß die bisherigen »Wahrheiten* und »Ideale* auf tönernen Füßen stan-
den, also bloße ,Götzene waren — „Götzen (mein Wort für Ideale)" heißt es an
anderer Stelle (EH, Vorwort 2; KGW VI 3, 256) — und daß es daher jetzt mit ihnen
zuende gehe. Es klingt aber noch anderes an. ,Götze' erinnert polemisch an ,Gott', mit
welchem Ausdruck nach Nietzsches Meinung bisher das höchste Ideal, sozusagen der
,Ober-Götzec bezeichnet worden ist; im Vorwort sagt Nietzsche, er kämpfe diesmal
gegen „ewige Götzen", gegen Götzen, die man „zumal im vornehmsten Falle, durchaus
nicht Götze(n)" nenne (GD; KGW VI 3, 52). Außerdem parodiert der Titel natürlich
Wagners Götter-Dämmerung. Nietzsche schreibt darüber an Gast: „Uebrigens warnt
midi Gersdorif ganz ernsthaft vor den Wagnerianerinnen. — Auch in diesem Sinne
wird der neue Titel Götzen-Dämmerung gehört werden, — also noch eine Bosheit
gegen Wagner..." (27.9.1888; GBr IV, 407). — Nietzsche wollte der Schrift zuerst
den Titel „Müßiggang eines Psychologen" geben (an Gast vom 12.9.1888; GBr IV,
401), ließ ihn aber wieder fallen, wozu wahrscheinlich Gasts Einspruch beitrug (vgl.
Gast an Nietzsche vom 20. 9.1888; Die Briefe P. Gasts an Fr. Nietzsche, ed. A. Mendt,
2 Bände, München 1921, hier II, 153). Gasts Äußerung, Nietzsche habe in der Götzen-
dämmerung jSchwere Geschütze auffahren lassen', dürfte eines der Motive für die
Auswahl des schließlichen Untertitels „Wie man mit dem Hammer philosophirt" ge-
wesen sein (so zuerst an Gast vom 27.9.1888; GBr IV, 406); auch dieser Untertitel ist
freilich in sich mehrdeutig, z. B. insofern, als er zugleich den Charakter der vorsichtig-
mißtrauischen Analyse und die Gewaltsamkeit der »neuen Philosophie* Nietzsches
anklingen läßt.
Der Antichrist 93

ersten Immoralisten, der Name Zarathustra bedeutet..."; er schließt seine


diesbezüglichen Erläuterungen mit den Worten: „Die Selbstüberwindung
der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in
seinen Gegensatz — in mich — das bedeutet in meinem Munde der Name
Zarathustra."7
In der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts
hat Nietzsche mehrfach ein Wort verwendet und schließlich sogar zum Titel
einer Schrift erhoben, das merkwürdigerweise bis jetzt keine seiner Bedeu-
tung angemessene Untersuchung erfahren hat: das Wort ,Antichrist*. Der
Klärung und Erläuterung dessen, was Nietzsche mit diesem Wort aus-
drücken will, dienen die folgenden Ausführungen. Sie gehen von der Ver-
mutung aus, daß Nietzsche für seine Spätschrift Der Antichrist, von der er
eine gewaltige Wirkung erwartete8, den Titel mit nicht geringerer Sorgfalt
ausgesucht haben kann, als er es sonst gewohnt war. Sein Schwanken und
Überlegen, die mehrmalige Änderung von Konzeption und Titel, bestärkt
diese Vermutung. Als Nietzsche die Absicht aufgegeben hatte, ein unter
dem Titel Der Wille zur Macht geplantes theoretisches Hauptwerk fertig-
zustellen und zu veröffentlichen9, trat an ihre Stelle der Plan zu einer vier-
teiligen Abhandlung mit dem Haupttitel Umwerthung aller Werthe™,
deren erstes Buch, den Entwürfen zufolge, den Titel Der Antichrist. Ver-
such einer Kritik des Christentums tragen sollte.11 Nach verschiedenen
Änderungen hat Nietzsche schließlich die Schrift, die wir unter dem Titel

7
EH, Warum ich ein Schicksal bin 3; KGW VI 3, 365.
8
Aus einer Reihe von brieflichen Äußerungen geht hervor, daß Nietzsche den Anti-
christ in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzen lassen und in Millionen-
auflage herausbringen wollte. Das Ecce homo hat er eigens zu dem Zweck verfaßt, die
Wirkung des Antichrist, den er noch eine Zeitlang zurückhalten wollte, vorzubereiten
und sicherzustellen (vgl. vor allem an Brandes vom 20.11.1888; GBr III, 321 f., an
Strindberg vom 7.12.1888; in: K. Strecker, Nietzsche und Strindberg, München 1921,
78 f., auch in SA III, 1136 f. abgedruckt, u. a.).
9
Die Problematik der unter diesem Titel veröffentlichten Nachlaßkompilation kann
hier nicht diskutiert werden. Nietzsches ,Wille zur Macht', nämlich sein bedeutendster
und am weitesten gediehener Versuch, Notizen und Fragmente auszuwählen und den
geplanten vier Teilen zuzuordnen, ist jetzt erstmals in seiner authentischen Gestalt
veröffentlicht worden (in KGW VIII 2).
10
Umwerthung aller Wer the sollte zunächst der Untertitel des Willen zur Macht lauten
(vgl. GM III 27; KGW VI 2, 427). Die Wendung selbst gebraucht Nietzsche in
der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre häufig, z. B. in den Vorreden von 1886, in
Briefen und Nachlaßaufzeichnungen.
11
Vgl. z.B. Nachlaß September 1888, 19 [8]; KGW VIII 3, 347f. (auch im Anhang
zum Willen zur Macht; KA XVI 436). Ähnliche Entwürfe, denen zufolge das erste
Buch der Umwerthung aller Werthe den Titel Der Antichrist. Versuch einer Kritik des
Christenthums oder ähnliche Untertitel tragen sollte, finden sich im Nachlaß von
September und Oktober 1888 mehrfach, z.B. 22 [14] und 22 [24]; KGW VIII 3,
397 und 402.
94 Jörg Salaquarda

Der Antichrist kennen, mit der ganzen jUmwertung* identifiziert12 und ihr
den Untertitel Fluch auf das Christentum gegeben.
Wieso konnte Nietzsche statt Umwerthung aller Werthe einfach Der
Antidorist setzen? Durch den gegenstandslosen Streit über angeblich ver-
lorengegangene Manuskripte ist diese sachlich wichtige Frage lange Zeit in
den Hintergrund gedrängt worden. Sie ist allerdings nicht ganz übersehen
worden und hat, wenn ich recht sehe, bis jetzt zwei verschiedene Antworten
gefunden. Einige Autoren meinten, Nietzsches ^Umwertung* habe sich so
sehr auf die Auseinandersetzung mit dem Christentum konzentriert, daß er
sie schließlich mit dieser in eins setzen konnte. Diese These hat z. B. Ernst
Horneffer vorgetragen: „Das Christliche steht so im Vordergrunde bei
Nietzsche, daß es durchaus natürlich erscheint, wenn Nietzsche den Ent-
schluß faßt, seine umfassende, und, wie er glaubt, auch durchdringende und
entscheidende Kritik des Christentums, wie er sie im Antichrist niedergelegt
hatte, schlechthin als ,Umwerthung aller Werthe' zu bezeichnen. Hiermit
war wirklich das Entscheidende geleistet."13 Von diesem Verständnis ist nur
ein kleiner Schritt zu der Konsequenz, Nietzsche sei letztlich in der Nega-
tion steckengeblieben. Horneffer selbst hat sie zwar nicht gezogen, wohl
aber andere nach ihm.14

12
Über die Frage, ob Nietzsche den Antichrist zuletzt als die ganze ,UmWertung' ver-
standen habe, hat dessen Schwester eine willkürliche Kontroverse vom Zaun ge-
brochen, in der sie wider besseres Wissen Overbeck beschuldigte, durch sträflichen
Leichtsinn weitere schon ausgearbeitete Bücher der ,Umwertung' der Vernichtung an-
heim gegeben zu haben. Vgl. dazu jetzt Mazzino Montinari, Ein neuer Abschnitt in
Nietzsche „Ecco homo", in: Nietzsche-Studien l, 1972, 380 ff. Montinari hat
nicht nur die Kontroverse und ihre Hintergründe dargestellt, sondern sie durch die
erstmalige Veröffentlichung dokumentarischer Beweise auch endgültig aufgeklärt (vgl.
a. a. O. 397—401). Zwar haben schon andere Autoren vor ihm den Sachverhalt selbst
weitgehend richtig gesehen, z. B. Bernoulli, E. Horneffer und Podach, ihnen fehlte aber
der letzte Beweis. Dieser ist in einem Brief Nietzsches an Deussen vom 26.11.1888 zu
finden, wo es heißt: „Meine Umwerthung aller Werthe mit dem Haupttitel ,der Anti-
christ' ist fertig". Dieser Brief, den E. Förster-Nietzsche zusammen mit anderen vom
Adressaten zwischen 1896 und 1901 — also lange vor der Kontroverse — als Ge-
schenk bekommen hatte, „wurde vom Nietzsche-Archiv nie veröffentlicht, sonst hätte
Frau Förster-Nietzsche auf eines ihrer Hauptargumente in der gehässigen Kampagne
gegen Franz Overbeck, den besten Freund ihres Bruders, verzichten müssen." (Monti-
nari, a. a. O. 398, Anm. 33).
13
Ernst Horneffer, Nietzsches letztes Schaffen, Jena 1907, 19 f. — Horneffer hat in
dieser Schrift E. Förster-Nietzsches gegen Overbeck vorgebrachte Unterstellungen mit
sachlich richtigen Argumenten zurückgewiesen (vgl. die vorige Anm. und Montinari,
a. a. O. 398 f. Anm. 33). Sein Eintreten für Overbeck nötigt Respekt ab. Der Autor
einer Replik auf seine Schrift, Ernst Holzer (Antichrist und Umwertung, in: Süd-
deutsche Monatshefte V, 1908, 163 ff.) verhält sich in der Frage dieses Rufmords*
ziemlich charakterlos. In der hier zur Diskussion stehenden Sache hat Holzer gleich-
wohl recht, wenn er das im Text aufgeführte Zitat der Übertreibung zeiht (a. a. 0.165).
14
Z. B. Karl Barth; vgl. dessen Kirchliche Dogmatik III 2, 276 ff., bes. 282 f. — Vgl.
Der Antidirist 95

Andere Nietzsche-Forscher bezweifeln, ob Titel und Untertitel der uns


vorliegenden Schrift überhaupt noch angemessen sind. Ihr herausragender
Exponent ist Erich F. Podach, der den Sadiverhalt wie folgt sieht: „Nietz-
sche begann den Antichrist zu schreiben unter einem der Titel von der Art,
wie er sie routinemäßig immer wieder Büchern gab, bevor er sie überhaupt
noch in Angriff genommen hatte. Was er sich gedacht hat, was er alles noch
schreiben würde, als er an den Antichrist heranging, hat nichts zu sagen.
... Antichrist, richtiger das Manuskript des Antichrist, hatte einen falschen
Titel, was insofern nichts besagt, da die Schrift erst nach Jahresfrist in
Druck gehen sollte. Der erste Titel war nicht der endgültige. Antichrist hat
aber auch einen zweiten Titel. Man könnte ihn als maßgebend ansehen,
stammte er nicht aus einer Zeit, in der bei Nietzsche von schriftstellerischen
Überlegungen nicht mehr die Rede sein konnte. ,Fluch auf das Christen-
thumc als Untertitel ist dem Antichrist völlig unangemessen. Abgesehen
davon, daß Nietzsche viel geschimpft, aber nie geflucht hat, widerspricht
der Titel der ganzen Tendenz der Schrift. ... Der erste Titel wurde nieder-
geschrieben, als es die Schrift noch nicht gab, der zweite, als der Verfasser
nicht mehr er selbst war."15
Es trifft weder zu, daß sich Nietzsches ,Umwertung aller Werte* in der
Bekämpfung des Christentums erschöpft, noch, daß Titel und Untertitel
der uns vorliegenden Schrift nicht angemessen wären. Die beiden so ver-
schiedenen Thesen stimmen in einem Punkt überein: sie setzen die Bedeu-
tungen sowohl von ,Antichristc als auch von ,Fluchc als selbstverständlich
feststehend und bekannt voraus. Diese Voraussetzung ist falsch und impli-
ziert daher mit Notwendigkeit irrige Thesen. Die im folgenden schrittweise
entwickelte Klärung des Titels jAntichrist' und des dem Antichrist zuge-
hörigen ^luchs* wird in eine plausiblere These münden.

II.

Noch bevor wir die spezifische Bedeutung ins Auge fassen, die Nietz-
sche dem Wort ,Antichristc gegeben hat, ist die Doppeldeutigkeit dieses
Wortes herauszustellen. Zum einen bezeichnet es >den Antichrist", den im

dazu Vf., Barths „Nietzsche", Eine Beobachtung zum Thema: der Weltbezug des
Glaubens, in: Festschrift für W. Dantine (in Vorbereitung).
15
Erich F. Podach, Fr. Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, Heidelberg 1961, 69.
96 Jörg Salaquarda

Neuen Testament angekündigten endzeitlichen Widersacher Jesu Christi16,


zum anderen Deinen Antichristen*, einen Gegner des Christentums. Im einen
Fall hat sich das Wort zu einem singulare tantum entwickelt und meint eine
einzige (mythologische) ,Personc, im anderen Fall kann man von ihm einen
Plural bilden und es kann zur Bezeichnung einer unbestimmten Vielzahl
von Personen verwendet werden. Daß die beiden verschiedenen Sachver-
halte durch ein und dasselbe Wort ausgedrückt werden, ist eine Eigentüm-
lichkeit der deutschen, bzw. genauer: der neuhochdeutschen Sprache. Alle
anderen europäischen Sprachen haben, dem lateinischen ,Anti-Christusc und
,anti-christianusc folgend, zwei verschiedene Wörter. Die Zweideutigkeit
kennzeichnet im Deutschen übrigens nicht erst das Kompositum ,Antidiristc,
sondern schon die Grundform ,Christ', fällt bei dieser aber nicht auf, da für
(Jesus) Christ in aller Regel die lateinische Form ,Christusc gebräuchlich
ist.17 Man kann annehmen, daß dem Sprachvirtuosen Nietzsche die beiden
Doppeldeutigkeiten, vor allem die des Wortes jAntichrist', bewußt und ge-
läufig waren.18 Ich vermute, daß dies dazu beitrug, das Wort für ihn inter-
essant zu madien.
Natürlich läßt sich auch im Deutschen ,der Antichrist* von Deinem Anti-
christ* unterscheiden, und zwar dadurch, daß man, wie hier, den bestimmten
oder den unbestimmten Artikel vor das Wort ,Antichristc setzt.19 Diese
Unterscheidung ist aber schon vor Nietzsche nicht streng gehandhabt wor-
den; es war schon lange beliebt, einen Antichristen allegorisch als ,den
Antichrist* zu bezeichnen.20 Die meisten Nietzsche-Interpreten haben wohl
aus dieser ,Erfahrung* heraus Nietzsches ausdrückliche Rede von ,dem Anti-
16
findet sich in dieser Form nur in den Johanneischen Briefen: 1. Joh.
2,18.22; 4,3; 2. Joh. 7 und bezeichnet dort den oder die Leugner der Identität Jesu mit
dem Christus. Das Wort »Antichrist* wurde sehr früh zur Bezeichnung des ,kosmischen'
Widersadlers Christi, von dem die Johannes-Apokalypse und die synoptische Apoka-
lypse berichten, ohne dafür diesen Titel zu gebrauchen (vgl. dazu die Artikel „Anti-
christ" von E. Lohse im Histor. Wörterbuch der Philosophie, Bd. I, a. a. O. Sp. 381 und
von R. Schütz, W. Maurer und E. Schlink in Die Religion in Geschichte und Gegen-
wart, Bd. P, Sp. 431 ff.).
17
Vgl. dazu die Artikel „Christ" (Sp. 619 ff.) und „christlich" (Sp. 625) im Deutschen
Wörterbuch der Gebrüder Grimm, Bd. 2, Leipzig 1862.
18
Es ist nicht auszuschließen, daß Nietzsche die in der vorigen Anmerkung genannten
Artikel gekannt hat. Seine Kenntnis des Grimmschen Unternehmens bezeugt eine
Äußerung in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung, Nietzsche moniert die Wendung
„zur Ansprache kommen", die er bei Strauß gefunden hatte und schreibt ironisch: „die
Gebrüder Grimm bleiben, auf diese Art von »Ansprache* angesprochen, stumm wie das
Grab" (DS 12; KGW III l, 232).
18
So wird generell auch im folgenden verfahren.
20
Es sei z. B. an Bruno Bauers satirisch-kritische Schrift · Die Posaune des jüngsten
Geri<hts über Hegel den Atheisten und Antidnristen. Ein Ultimatum von 1842 erinnert,
in der >der Antichrist* und ,ein Antichrist* in einander übergehen (vgl. dazu Karl
Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, 19645, 367 ff.).
Der Antichrist 97

christ' nicht im strengen Sinn des Gesagten genommen, sondern auch in


diesem Fall .ein Antichrist' gehört. Von der Logik der Sprache her — und
bei Nietzsche ist es durchaus angebracht, immer auch darauf zu achten21 —
ist aber das Umgekehrte plausibler: ,der Antichrist', was immer man sich
konkret darunter vorstellt, ist jedenfalls auch yein Antichrist', aber nicht
jeder ,Antichristc ist eo ipso ,der Antichrist'.
Einige wenige Autoren waren zwar aufmerksam genug zu registrieren,
daß Nietzsche an einigen Stellen dezidiert von ,dem Antichrist' spricht; da
sie aber unter ,Antichrist' in diesem absoluten Sinn nur den endzeitlichen
Widersacher Christi verstehen konnten, verwiesen sie Nietzsches Anspruch,
yder Antichrist' zu sein, in die Krankheitsgeschidite. Dazu einige Beispiele:
„In der Bibel steht die Prophezeiung, daß einst ein persönlicher Bestreiter
Jesu Christi kommen werde. Es ist deutlich: Nietzsche fühlte sich dazu
berufen, dieser Bestreiter des Christentums zu sein. Er wollte der Antichrist
sein. ... Die Paralyse zeigt sich bei ihm als Größenwahn."22 „,Der Anti-
christ'! so heißt das letzte Werk, das Nietzsche selbst für den Druck fertig
stellte. Der Antichrist — das ist der große kommende Gegner des Christen-
tums, von dem in der Offenbarung Johannis die Rede ist, und es kann kein
Zweifel sein, daß Nietzsche sich gegen Ende seines Lebens immer leiden-
schaftlicher in diese Rolle hineingedacht hat."23 „Nietzsche ist dem Dämon
unterlegen, der ihn in die Wüste und in die Einsamkeit trieb. Sein Wahnsinn
ist ein Ereignis von unheimlicher Folgerichtigkeit. ... Nietzsche war nicht
der Antichrist. Er war ein dämonischer Mensch, er war nicht der Dämon.
Der Antichrist wird nicht wahnsinnig."24
Die Verfasser dieser Überlegungen kommen zu dem Ergebnis, daß man
den von der Paralyse gezeichneten Anspruch Nietzsches zurückschrauben
muß. Von der Sache her kann Nietzsche nur als ,ein Antichrist' verstanden
werden. Die meisten Autoren setzen dieses Verständnis von vornherein und
ohne Diskussion an. Schon Nietzsches Schüler und Freund Peter Gast be-
zeichnet den Philosophen als einen „der ausgemachtesten Antichristen und
Atheisten"25. Friedrich Rittelmeyer nennt ihn den entschlossensten und
leidenschaftlichsten Gegner des Christentums und insofern einen Anti-
Christen26. Julius Wilhelm spricht von ihm als von dem „konsequente(n),
21
Vgl. dazu die instruktiven Ausführungen von Eugen Biser, denen ich weitgehend zu-
stimme (Gott ist tot. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins, München
1962, bes. 21 ff.).
22
Paul Brückner, Fr. Nietzsche und das Christentum, Elberfeld 1929, 19.
23
Friedrich Rittelmeyer, Fr. Nietzsche und die Religion, Ulm 1904, 24.
24
Fritz Dehn, Der Mensch des Aufstandes, in: Die Furche 16, 1937, 538 ff.; hier 545.
25
Zitiert nach: Erich F. Podach, Der kranke Nietzsche. Briefe seiner Mutter an Franz
Overbeck, Wien 1937, 244.
26
Fr. Nietzsche und die Religion, a. a. O. 1.
98 Jörg Salaquarda

geradezu brutale(n) Antichrist", als der er in Frankreich zur Wirkung ge-


langt sei27, Karl Seher erhebt ihn, nach Aufzählung verschiedener ,Anti-
diristenc seit Celsus, gar zum „grimmigsten Feind, der dem Christentum je
entstanden ist."28
Es ließen sich mühelos noch viele ähnlichlautende Zitate beibringen.
Und nicht nur die ,niederec Nietzsche-Literatur macht aus ,dem Antichrist*
Friedrich Nietzsche Deinen Antichristen*, sondern auch Verfasser bedeuten-
derer Arbeiten verfahren so. Karl Löwith z. B. setzt Nietzsche in Kontrast
zu Goethe, welcher seiner Meinung nach „kein Anti-Christ und eben darum
der echtere Heide" war, dessen „,Gott c ... es nicht nötig (hatte), gegen einen
anderen zu sein, weil er überhaupt seiner positiven Natur nach jedem Ver-
neinen abgeneigt war."29 Für Walter Kaufmann bedeutet das Wort „anti-
christ", das er im Titel seines Nietzsche-Buches neben „philosopher" und
„psychologist" zur Charakterisierung von Nietzsche verwendet, wesentlich
,ein Antichrist*, ein Bestreiter des Christentums.30 Gerd-Günther Grau
nennt Nietzsche einen „Anti-Christen" und macht schon durch diese
Schreib weise deutlich, was dann auch der Kontext ausweist: daß es haupt-
sächlich Nietzsches Kampf gegen das Christentum ist, was er in diesem Titel
ausgedrückt sieht.31
Daß eine große Zahl von Nietzsche-Interpreten, die sonst fast nichts
verbindet, deren Nietzsche-Auffassungen in Sache und Niveau zum Teil
aufs Äußerste differieren, hinsichtlich der Identifizierung von Nietzsches
Titel ,der Antichrist* mit >ein Antichrist* übereinstimmen, kann kein Zufall
sein. Daß beide Sadiverhalte durch ein und dasselbe Wort bezeichnet wer-
den, erleichtert die Identifizierung zwar, würde aber, für sich genommen,
nicht ausreichen. Schwerer wiegt, daß Nietzsche die Wortgruppe ,Anti-
dirist*, vor allem das Adjektiv ,antichristlich* und das substantivierte Adjek-
tiv ,das Antichristliche*, selbst des öfteren in einer Weise verwendet, die
kaum Zweifel zuzulassen scheint, daß er die Bedeutung von yein Antichrist*
im Auge hat. Um deutlich machen zu können, in welcher Weise dies ge-
schieht und welche Bedeutungsnuancen ,Antichrist* etc. dabei annehmen,

27
Fr. Nietzsche und der französische Geist, Hamburg 1939, 63.
28
Fr. Nietzsche als Mensch, Denker, Antichrist; Chemnitz 1912, 3.
29
Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, a. a. O. 196. — Wie der Nietzsche-Kenner
Löwith eine ,positive Natur*, die als solche nicht verneint, so vorbehaltlos positiv
bewerten kann, ist nicht recht einsichtig (vgl. dazu die Punkte l u. 4 in Abschnitt VI
dieser Untersuchung).
30
Walter Kaufmann, Nietzsche; vgl. bes. a. a. O. 333 ff.
31
Gerd-Günther Grau, Christlicher Glaube und intellektuelle Redlichkeit. Eine religions-
philosophische Studie über Nietzsche, Frankfurt/Main 1958, 133 u. ö.; ders., Nietzsche
Kierkegaard. Wiederholung einer Unzeitgemäßen Betrachtung, in: Nietzsche-Studien l,
1972, 297 ff.; hier 298 u. 319.
Der Antichrist 99

muß zumindest in Umrissen Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Chri-


stentum thematisiert werden. Die diesbezüglichen Ausführungen des näch-
sten Abschnitts bleiben auf das Ziel einer Erläuterung des Titels >der Anti-
christ* ausgerichtet und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

III.

Bekanntlich hat Nietzsche, besonders in seinen letzten Schriften und


Aufzeichnungen32 zwei jChristentümer' unterschieden, worauf viele Auto-
ren hingewiesen haben, insbesondere Karl Jaspers33 und Ernst Benz34: das
Christentum Jesu und das spätere Christentum der Kirche, als dessen
Schöpfer er Paulus ansieht. In diesem Zusammenhang kann Nietzsche das
erste ,Christentumc gegen das zweite ausspielen, bis zu der Konsequenz, daß
er dieses im Vergleich zu jenem ,antichristlich* nennt. „Die Kirche gehört so
gut zum Triumph des Antichristlichen, wie der moderne Staat, der moderne
Nationalismus."35 Nietzsche kann auch „das gerade, was im kirchlichen Sinn

82
Besonders im Antiarist und einer Reihe ziemlich später Nachlaßaufzeichnungen. Die
im 2. Buch des Willen zur Macht zusammengefaßten Fragmente und Aphorismen
(Nr. 158—252; KA XV, 259 ff.) entstammen zum überwiegenden Teil der zweiten
Hälfte des Jahres 1887 bzw. dem Jahr 1888, wie die Konkordanzen in den Bänden
VIII 2 und 3 der KGW ausweisen.
33
Besonders in: Nietzsche und das Christentum, München 19522, 23 f.: „Christlich und
antichristlich haben... bei Nietzsche einen wechselnden Sinn. Heißt Jesus christlich,
dann sind für Nietzsche die Urgemeinde und die spätere Kirche schon ganz und gar
antichristlich. Unter Christentum meint Nietzsche jedoch gewöhnlich gerade dieses
Christentum der Apostel und der Kirche. Nietzsche selbst ist also antichristlich in einer
durchaus verschiedenen Betonung: gegen Jesus (mit Respekt vor dessen Wahrhaftigkeit)
und gegen Apostel und Kirche (mit Verachtung für deren UnWahrhaftigkeit), gegen
beide aber als gegen Symptome eines niedergehenden Lebens."
34
Vgl. Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche, Leiden 1956,
28: „Wie das Wort Christentum bei Nietzsche in einem zweifachen völlig entgegen-
gesetzten Sinn verwendet werden kann, so geschieht dies auch mit dem Wort ,Anti-
christ*. Während er gewöhnlich unter dem Antichrist seinen eigenen Ruhmestitel, den
Titel des Vernichters... (der) Kirche versteht", ist in anderem Zusammenhang der
„Antichrist... niemand anders als die christliche Kirche selbst, welche das ursprüng-
liche Christentum in sein Gegenteil verkehrt hat."
35
Nachlaß November 1887 — März 1888, 11 [364]; KGW VIII 2, 403 (= WM 213). —
Nietzsche dürfte diese Argumentation von Dostoevski] übernommen haben bzw. von
dem russischen Autor mindestens in ihr bestätigt worden sein, indem er dessen Vorwurf,
die römische Kirche sei ,der Antichrist', auf das ,kirdiliche Christentum* überhaupt
ausdehnte. Dies legt ein Vergleich der im Text zitierten Passage mit der folgenden
Notiz nahe, die sich unter Nietzsches Exzerpten aus Dostoevskijs ,Dämonen' findet:
„Rom predigte einen Christus, der der dritten Versuchung nachgegeben hat; es hat
erklärt, daß er eines irdischen Reiches nicht entrathen könne und hat ebendamit den
Antichrist proklamirt../* (Nachlaß November 1887 — März 1888, 11 [345]; KGW
VIII 2, 393).
100 Jörg Salaquarda

das Christliche ist" als „das Antichristliche von Vornherein" bezeichnen36.


Wenn Nietzsche selbst gegen ,das Christentum< zu Felde zieht, hat er freilich
das spätere, das ,kirchliche Christentum* im Blick, allerdings in der Weise,
daß die Unterschiede nicht mehr groß in Betracht kommen.37 Nietzsches
Polemik entspringt nicht antireligiöser Einstellung38, sondern ist vorwiegend
antimoralisch motiviert. Das zeigt sich schon daran, daß erst dann, als
Nietzsche sein eigentliches Thema gefunden und formuliert hatte — das
Problem der Moral39 — massive ,antichristlichec Invektiven in seinem Werk
auftauchen. jChristentum' ist für Nietzsche wesentlich ein Moralsystem, nur
ein, wenn auch der mit Abstand geschiditswirksamste Ausdruck der Skla-
ven- oder Herdenmoral. Das jAntichristlidie* ist für Nietzsche daher
wesentlich etwas yAnumoralischesf — ,Moral· immer als ^erdenmoral*
gefaßt. Nietzsche schreibt daher: „Man hat bisher das Christenthum immer
auf eine falsche... Weise angegriffen. So lange man nicht die Moral des
Christenthums als Capital-V'erbrechen am Leben empfindet, haben dessen
Vertheidiger gutes Spiel. Die Frage der bloßen ,Wahrheitc des Christen-
thums, sei es in Hinsicht auf die Existenz seines Gottes oder die Geschicht-
lichkeit seiner Entstehungslegende, gar nicht zu reden von der christlichen
Astronomie und Naturwissenschaft — ist eine ganz nebensächliche Ange-
legenheit, solange die Werthfrage der christlichen Moral nicht berührt ist."40
Der Kampf gegen die (Herden-)Moral wird für Nietzsche schließlich zu
seinem wichtigsten, im Grunde zu seinem einzigen Kampf. „Hat man midi
verstanden?", so schreibt er gegen Ende des Ecce homo, „Was mich ab-

36
Ebd., 11 [365]; KGW VIII 2, 404 (= WM 159).
87
Vgl. das in Anm. 33 gebrachte Zitat. Jaspers hat m. E. in dieser Sache gegenüber Benz
recht.
88
„Die neuere Philosophie, als eine erkenntnistheoretische Skepsis, ist, versteckt oder
offen, anticbristlicb: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös." (JGB
54; KGW VI 2, 71) — Nietzsches Verhältnis zur Religion ist des öfteren thematisiert
worden. Von den älteren Arbeiten verdient nach wie vor Beachtung: W. Trillhaas,
Seele und Religion. Das Problem der Philosophie Fr. Nietzsches, Berlin 1931. Neuer-
dings hat W. Müller-Lauter (Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die
Gegensätze seiner Philosophie, Berlin — New York 1971, 143 ff.) im Zusammenhang
einer Interpretation der , Wiederkunftslehre' wichtige Ausführungen zu diesem Thema
gemacht.
89
Nietzsches Moralkritik und die durch sie aufgeworfenen Probleme sind zuletzt um-
fassend von I. Heidemann thematisiert worden; vgl. ihre beiden Aufsätze: Nietzsches
Kritik der Moral, in: Nietzsche-Studien l, 1972, 95 ff. und Der Antagonismus
der Ideale und das Problem der Sinneinheit in Nietzsches Entwurf der Moralkritik von
1886 und 1887, in: Kant-Studien 62, 1971, 427ff. Heidemann stellt zurecht heraus, daß
Nietzsches Angriff auf die Ressentiment-Moral nur die Kehrseite der Ausarbeitung und
Verkündung einer neuen, aus der ,Stärke* erwachsenden Moral darstellt. — Vgl. zu
diesem Problemkreis auch die Bonner Dissertation von A. Dustdar, Metaphysik der
Moral (Diss.-Druck 1971).
40
Nachlaß Frühjahr 1888, 15 [19]; KGW VIII 3, 211 (= WM 251).
Der Antichrist 101

grenzt, was midi bei Seite stellt gegen den ganzen Rest der Menschheit, das
ist, die christliche Moral entdeckt zu haben... Die Entdeckung der christ-
lichen Moral ist ein Ereigniss, das nicht seines Gleichen hat, eine wirkliche
Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist eine force majeure, ein Schicksal, —
er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke/*41
Als jantichristlich', weil anamoraliscb, empfindet Nietzsche unter be-
stimmten Umständen die Kunst, die (große) Politik, geschichtliche Erschei-
nungen und Ereignisse, wie die Renaissance, große Menschen, allen voran
Napoleon, aber auch Alexander, Caesar, Goethe u. a. Als die historische
Quelle, aus der sich diese Phänomene speisten und speisen, nennt er zumeist
die Kultur und die Werte des vorsokratischen Griechentums. Denn in „der
alten Welt... herrschte... eine andere, eine herrschaftlichere Moral als
heute; und der antike Mensch unter dem erziehenden Banne seiner Moral,
war ein stärkerer und tieferer Mensch als der Mensch von heute, — er war
bisher allein ,der wohlgerathene Mensch'. Die Verführung aber, welche vom
Alterthum her auf wohlgerathene, d. h. auf starke und unternehmende
Seelen ausgeübt wird, ist auch heute noch die feinste und wirksamste aller
antichristlichen: wie sie es schon zur Zeit der Renaissance war."42
Wenn die Kunst diese Verführung aufnimmt, dann könnte sie „das
Antichristliche... par excellence" sein.48 Von den Staatsmännern seiner
Zeit, wobei er wohl primär an Bismarck denkt, nimmt Nietzsche an, daß sie
41
EH, Warum ich ein Schicksal bin 7 und 8; KGW VI 3, 369 u. 371.
42
Nachlaß, WM 957; KA XVI, 339 f.
43
Nachlaß Mai — Juni 1888, 17 [3]; KGW VIII 3, 319. — O.Weiß hat diese Auf-
zeichnung (VIII 17 [3]) zusammen mit einer etwas früher verfaßten (Nachlaß Novem-
ber 1887 — März 1888, 11 [415]; KGW VIII 2, 435) zu einem vierteiligen Aphorismus
kompiliert und diesen als Nr. 853 in den ,Willen zur Macht* aufgenommen. Im Nach-
bericht (KA XVI, 492) gab er als Fundstelle das Ms. W XI an, das nach der neuen,
von H. J. Mette eingeführten Beschriftung (vgl. den Sachlichen Vorbericht Mettes in:
BAW I, XXXI ff., hier CXXV) die Signatur W II 3 trägt. Dort steht allerdings nur
ein Teil des Aphorismus, nämlich der jetzt als Nr. 11 [415] in KGW VIII 2 veröffent-
lichte Text. Obwohl Nietzsche aber selbst das Ms. W XI = W II 3 erst von November
1887 an beschrieben hat, das andere, aus dem oben zitiert wurde, noch später, nämlich
ab Mai 1888, behauptete Weiß, der gesamte von ihm zusammengestellte Aphorismus
(dem die von P. Gast stammende Überschrift „Die Kunst in der ,Geburt der Tragödie*"
vorangestellt worden war), sei „das Fragment einer Vorrede zur Geburt der Tragödie**
und stamme „vermutlich aus dem Herbst 1886** (KA XVI, 512). In Wahrheit handelt
es sich um einen erneuten, gegenüber der Vorrede von 1886 selbständigen Versuch
Nietzsches, seine Frühschrift zu interpretieren. — In der Gehurt der Tragödie selbst
hatte Nietzsche der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß Wagner eine ,antichristliche
Kunst* heraufführen werde. Die spätere Enttäuschung dieser Hoffnung und die Ein-
sicht, daß Wagners Werke nicht der Stärke, sondern der d cadence entsprangen und
dem ,christlichen Ideal* verwandt waren, konnten Nietzsches Hoffnung auf eine
,starke Kunst* nicht beseitigen, wie die Vorrede von 1886 und auch die neueinsetzenden
Überlegungen von 1887/1888 deutlich machen. Nietzsche erwartete die Heraufführung
einer solchen Kunst zwar nicht mehr von Wagner, hielt aber daran fest, daß er sich bei
seiner früheren positiven Beurteilung Wagners nicht völlig geirrt habe. Noch im Herbst
102 Jörg Salaquarda

„eine... sehr unbefangne Art Menschen und Antichristen der That durch
und durch" seien.44
Überblickt man derartige Äußerungen im Zusammenhang, dann läßt
sich folgende These aufstellen: »antichristlich' bzw. ,das Antichristliche' oder
,(der) Antichrist' ist für Nietzsche primär der .wahlgeratene Mensch', der
Starke, der die Mittelmäßigkeit und den decadence-Ursprung der (Her-
den-)Moral durchschaut. ,Antidiristlidi' etc. im sekundären Sinn ist alles,
was dieser Mensch schafft und was als das von ihm Geschaffene eo ipso der
(Herden-)Moral feindlich gegenübertritt, also z. B. Kunst- oder Staatswerk.
Schließlich kann Nietzsche in einem übertragenen Sinn auch das als ,anti-
christlich' bezeichnen, was das Gedeihen des Starken in irgendeiner Weise
fördert, etwa, wenn er von seiner vergeblichen Suche nach einer „antichrist-
liche(n) Gegend" berichtet, die dem Schöpfer des Zarathustra angemessen
wäre.45
Schon hier ist zu bemerken, daß Nietzsche mit der Wortgruppe Anti-
christ' etc. offensichtlich nicht einen gleichsam statisch-eindeutigen Sachver-
halt im Blick hat, eine bloße Verneinung, sondern eher ein ,Geschehen', das
ein , Von woher' hat (nämlich den , wohlgeratenen Menschen'), ein , Womit'
(nämlich das von dem Starken geschaffene Werk und die in dieses aufgenom-
menen , Verführungen' des Griechentums) und schließlich auch ein ,Wogegen'
(nämlich das ,Christentum' im Sinne von ,christlicher' Moral). Eine Anzahl
von Äußerungen Nietzsches artikulieren freilich einseitig den dritten
Aspekt; die beiden anderen fehlen in diesen Fällen nicht, aber für den, der
diesen Zusammenhang nicht schon erkannt hat, werden sie nicht sichtbar.
Hier dürfte der entscheidende Grund dafür liegen, daß Nietzsches Titel
.der Antichrist' von der bisherigen Forschung im Sinne von .ein Antichrist'
verstanden worden ist. In einer erst vor kurzem veröffentlichten Nachlaß-
aufzeichnung sagt Nietzsche beispielsweise, „der Antichrist" sei die „For-

1887 notierte er: „das was ich an W(agner schätzte) war das gute Stück Antichrist, das
er mit seiner Kunst und Art vertrat" (9 [65]; KGW VIII 2, 34. — In der GA wurde
diese Notiz nicht veröffentlicht, weil E. Förster-Nietzsche sie als Baustein für einen
gefälschten Brief benutzte: Nietzsche an die Schwester vom 3.5. 1888; GBr V, 775 ff.,
hier 777).
44
AC 38; KGW VI 3, 209. — Im Kontext heißt es: „Jede Praktik jedes Augenblicks,
jeder Instinkt, jede zur That werdende Werthschätzung ist heute antichristlich" (ebd.);
jantichristlich' meint demzufolge: dem »Christentum* Jesu entgegengesetzt und ent-
sprechend werden die im Text zitierten „Antichristen der That" zunächst auch diejeni-
gen meinen, die durch ihr Tun die lebensverneinende Weltflucht des Buddhistischen
Christentums* bestreiten. Der Sache nach will Nietzsche m. E. aber mehr aussagen,
wenn er gerade die Politiker als „Antichristen der That" bezeichnet, nämlich ein
konkretes Beispiel für die Opposition der Starken und Wohlgeratenen gegen alles
Herdenhafte geben.
45
EH, Also sprach Zarathustra 4; KGW VI 3, 358.
Der Antichrist 103

mel", mit der er seinen „Krieg(e) mit dem Christenthum" bezeichne46. Das
entspricht dem, was wir schon aus den Plänen zur vierteiligen Umwerthung
aller Wer the kennen; diesen zufolge sollte das erste Buch den Titel Der
Antichrist und den Untertitel Versuch einer Kritik des Christentums tra-
gen. Auch in der folgenden Passage — sie stammt aus der endgültigen, schon
für die Veröffentlichung bestimmten Schrift Der Antichrist — ist primär
das ,Wogegen* ,des Antichrist' betont: „In der That, man ist nicht Philolog
und Arzt, ohne nicht zugleich auch Antichrist zu sein. Als Philolog schaut
man nämlich hinter die ,heiligen Bücher', als Arzt hinter die physiologische
Verkommenheit des typischen Christen. Der Arzt sagt ,unheilbarc, der
Philolog ,Schwindel f .. ,"47.
Die solcherart akzentuierten ^ntichrist'-Stellen Nietzsches weisen auf
seine Reaktion auf die erste Rezension des ersten Teils von Also sprach
Zarathustra zurück48, die er in zwei fast gleichlautenden Briefpassagen for-
muliert hat. Er schreibt an Gast, diese Rezension mache ihm „Muth, inso-
fern ... da sofort die populäre Position, die einzig an mir begriffen werden
kann, eben meine Stellung zum Christenthum, gut und scharf begriffen ist.
yAut Christus, aut Zarathustra!* Oder auf deutsch: es handelt sich um den
alten längstverheißenen Antichrist — so empfinden es die Leser."49 Der ent-
sprechende Bericht an O verbeck hat folgenden Wortlaut: „Ich lege Dir ...
bei... die erste öffentliche Äußerung über Zarathustra I; ... Was mir Ver-
gnügen macht, das ist zu sehen, daß gleich dieser erste Leser ein Gefühl da-
von hat, worum es sich hier handelt: um den längst verheißenen , Anti-
christ'."50

IV.

Im Werk Nietzsches finden sich eine Reihe von ^ntichrist'-Stellen51,


die im Unterschied von den meisten bisher herangezogenen primär das,
,Vonwoherc ydes Antichrist* akzentuieren. In ihnen wird der Titel nicht
46
Nachlaß Okt.—Nov. 1888, 24 [1]; KGW VIII 3, 434.
47
AC 47; KGW VI 3, 224.
48
Die Rezension ist verschollen. Schon P. Gast wußte bei der Veröffentlichung von
Nietzsches Briefen an ihn nicht oder nicht mehr, wer sie verfaßt habe und wo sie
erschienen sei. Im Apparat versah er ihre Erwähnung durch Nietzsche mit einem
Fragezeichen und notierte: „Vielleicht in der »Antisemitischen Correspondenz'?" (GBr
IV, 469).
49
An Gast vom 26. 8.1883; GBr IV, 173.
50
An Overbeck vom 28.8.1883; Nietzsches Briefwechsel mit Overbeck, hg. von
R. Oehler und C. A. Bernoulli, Leipzig 1916, 227.
51
Eine Übersicht über Nietzsches ,Antichrist'-Stellen gibt M. Kaempfert, Säkularisation
und neue Heiligkeit. Religiöse und religionsbezogene Sprache bei Fr. Nietzsche, Berlin
1971, 326 f., vgl. auch 26 f. Kaempfert kennt allerdings die beiden in Abt. VIII der
104 Jörg Salaquarda

mehr, jedenfalls nicht mehr nur, zur Bezeichnung einer Negation oder Be-
streitung verwendet. Dies ist im folgenden darzulegen.
In Jenseits von Gut und Böse kommt Nietzsche auf Wagner und seine
Verwandtschaft zur französischen Spätromantik zu sprechen. Er beurteilt
ihn und die herausragenden französischen Romantiker ein Stück weit posi-
tiv, da sich in ihnen das Entstehen eines ,höherenc Menschen, eines euro-
päischen Menschen der Zukunft, ankündige. Indem die Genannten freilich
der Romantik verhaftet bleiben, dringen sie letztlich nicht zu einer neuen
Bejahung vor. Ihr ,Rückfallf hat zur Konsequenz, daß sie „allesamt zuletzt
an dem christlichen Kreuz zerbredien(d) und vor ihm niedersinken(d)";
Nietzsche fügt hinzu, daß das ganz folgerichtig sei, „denn wer von ihnen
wäre tief und ursprünglich genug zu einer Philosophie des Antiarist ge-
wesen?"52 Die Formulierung „Philosophie des Antichrist" läßt vermuten,
daß Nietzsche hier an mehr als an eine bloße Bekämpfung des Christentums
denkt. Diese Vermutung findet Bestätigung durch eine andere Passage, die
Nietzsche fast gleichzeitig abgefaßt hat. Im Versuch einer Selbstkritik, der
1886 geschriebenen Vorrede zur Geburt der Tragödie, erörtert Nietzsche
ebenfalls das Problem der Romantik und nimmt dabei einen naheliegenden
Einwand gegen seine Frühschrift auf: „Aber mein Herr, was in aller Welt
ist Romantik, wenn nicht Ihr Buch Romantik ist?" So weit das der Fall
ist — Nietzsche streitet es nicht schlechthin ab und zitiert sogar einige Sätze,
die zweifellos romantische Ideen wiedergeben —, distanziert Nietzsche sich
von dem früher Gesagten. Was er einst geschrieben hat, ist nun für ihn nur
insofern richtig, als es beschreibe, „wie Romantiker enden", nämlich
»christlich". Die eigentliche Intention der Geburt der Tragödie sei vielleicht
nicht auf den ersten Blick sichtbar, ein geschultes Auge könne sie aber trotz
der äußerlichen Akkomodation an (Wagners) Romantik nicht übersehen.
Diese Intention ist dieselbe wie die des späteren Nietzsche. »Gegen die
Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen Buche, mein
Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine
grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens, eine rein arti-
stische, eine antichristlicbe. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der
Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit — denn wer wüsste den rech-
ten Namen des Antichrist? — auf den Namen eines griechischen Gottes: ich
hiess sie die dionysische. —"5S
KGW erstmals veröffentlichten Stellen nodi nicht (11 [345]; VIII 2, 393 und 24 [1];
VIII 3, 434); er hat außerdem einige Stellen übersehen oder für nicht hierher ge-
hörend erachtet, die m. E. mit aufgenommen werden sollten: GM III 24; KGW VI 2,
416 f. — GD, Moral als Widernatur 3; KGW VI 3, 78 — Nachlaß Nov. 1887 — März
1888, 11 [364] und 11 [365]; KGW VIII 2, 403 f. = WM 213 und 159.
62
JGB256;KGWVI2,211.
53
GT, Versuch einer Selbstkritik 7 und 5; KGW III l, 15 f. u. 13.
Der Antichrist 105

Es würde die Konzeption dieser sich vor allem mit der philologischen
Problematik befassenden Untersuchung über Gebühr ausweiten, wenn allen
Themen nachgegangen würde, die in den beiden Zitaten anklingen, etwa
dem Problem von Nietzsches Verhältnis zur Romantik.54 Hier interessiert
vor allem dies: Nietzsche bewertet die Romantik, auch seine eigene ,roman-
tisdie Tendenz' in der Geburt der Tragödie, ein Stück weit positiv: insofern
sie Anzeichen eines höheren Menschentums ist und sich als solches gegen das
Christentum und dessen Moral wendet. Es signalisiert für Nietzsche aber
eine entscheidende Schranke der Romantik, daß sie über eine bloße Ver-
neinung nicht hinausgelangt, was dazu führt, daß sie schließlich dem Ver-
neinten, der christlichen Moral, wieder verfällt. Nietzsches darin zum Aus-
druck kommende Einsicht läßt sich in einem, obwohl paradox klingenden,
keineswegs paradoxen Satz ausdrücken: wer nur ,ein Antichrist* ist, kann
auf die Dauer kein Gegner der christlichen Moral bleiben, weil sich sein
,Anti-c vom Verneinten her speist; ein solcher ist jedenfalls nicht >der Anti-
christ. Nietzsche ehrt und anerkennt diejenigen, die noch in einer ,Zwi-
schenstellung' verharren, macht aber darauf aufmerksam, daß dies nur eine
begrenzte Zeit möglich ist. Hier erhellt der tiefere Sinn des oben aus Nietz-
sches Brief an Gast zitierten „Aut Christus, aut Zaratbustra!"55 Die ,höhe-
ren Menschen' im Stadium vor der Entscheidung kann Nietzsche auch wie
folgt schildern: „Diese Verneinenden und Abseitigen von Heute, diese
Unbedingten in Einem, im Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit, diese
harten, strengen, enthaltsamen Geister, welche die Ehre unserer Zeit aus-
machen, alle diese blassen (!) Atheisten, Antichristen, Immoralisten, Nihili-
sten, diese Skeptiker.. ,"56. Diesen in der Verneinung verharrenden, nicht
zu einer positiven „Philosophie des Antichrist" vordringenden ,Antichristen'
stellt Nietzsche seine Hoffnung auf denjenigen entgegen, der sich mit Recht
54
Allen kritischen, zum Teil polemischen Äußerungen Nietzsches gegen die Romantik
zum Trotz hat K. Joel die These verfochten, daß Nietzsches Denken nur von der
Romantik her und im Zusammenhang mit dieser angemessen verstanden werden könne
(Nietzsche und die Romantik, Jena und Leipzig 1905, bes. in der ersten in diesem
Band abgedruckten Abhandlung, deren Titel mit dem Gesamttitel identisch ist). — Die
Diskussion über diese These ist hier nicht im einzelnen zu verfolgen. Ich stimme
W. Kaufmann (vgl. Nietzsche, a. a. O. 354 Anm. 10 und öfter) und R. Pfeffer (Nietz-
sche: Disciple of Dionysus, Lewisburg 1972, 46) zu, die Joels These mit plausiblen
Gründen bestreiten.
55
S. oben S. 103 und Anm. 49.
" GM III 24; KGW VI 2, 416. — Das „!" nach „blassen" und die Kursivsetzung von
„Antichristen" stammen vom Vf. — Zu vergleichen ist eine Passage, in der Nietzsche
die englischen Psychologen bespricht. So uninteressant er ihre Bücher findet, so sehr ist
er an ihnen als Menschen psychologisch interessiert; es scheint ihm, als ob sie „von
Allem Etwas" an sich hätten, „ein wenig Gemeinheit, ein wenig Verdüsterung, ein
wenig Antichristlichkeit, ein wenig Kitzel und Bedürfniss nach Pfeifer" (GM I 1;
KGW VI 2, 272).
106 Jörg Salaquarda

als »Antichrist* wird verstehen können. „Dieser Mensch der Zukunft, der
uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm
wachsen musstey vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilis-
mus, dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der
den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine
Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger
Gottes und des Nichts — er muss einst kommen .. ,"57
Der so angesprochene und beschworene jAntichrist* wird eine neue
,Moralc bringen und durchsetzen und von dieser aus die ^ristliche' Moral
erfolgreich überwinden. Er wird sein Antidiristentum nicht so handhaben,
als sei es das Entscheidende und Primäre. „Die Kirche wollte zu allen Zeiten
die Vernichtung ihrer Feinde", sagt Nietzsche zu seinen wahren Lesern, den
Philosophen der Zukunft. Fügen wir hinzu, was er hier nicht sagt, wohl
aber meint: die bloß verneinenden Antichristen* wollten zu allen Zeiten die
Vernichtung des Christentums, um dasjenige zu beseitigen, an das sie nega-
tiv fixiert blieben und dessen Antriebe, ihnen vielleicht verborgen, selbst
ihrer Kritik und Verneinung zugrundelag. Ganz anders steht es mit den
von Nietzsche Angesprochenen: „Wir, wir Immoralisten und Antichristen,
sehen unsern Vortheil darin, dass die Kirche besteht.. ,"58.
Aber müssen wir wirklich auf das Erscheinen dieses Antichrist' im
neuen Sinn warten? Kurz vor der zuletzt zitierten Stelle schreibt Nietzsche:
„Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedene Art wir (— ich sage
höflicher Weise wir ...) das Problem ... in's Auge fassen"59 und gibt damit
zu erkennen, daß das „wir" der Spätschriften nur noch einen meint: Fried-
rich Nietzsche, den Schöpfer des Zarathustra. Es verwundert daher nicht,
wenn wir im Ecce homo — der Vorbereitungsschrift für den Antichristl —
den Titel als Selbstprädikation Nietzsches wiederfinden: „Wir wissen Alle,
Einige wissen es sogar aus Erfahrung, was ein Langohr ist. Wohlan, ich
wage zu behaupten, dass ich die kleinsten Ohren habe. ... Ich bin der Anti-
esel par excellence und damit ein welthistorisches Unthier, — ich bin, auf
griechisch, und nicht nur auf griechisch, der Antichrist.. ."60.
57
GM II 24; KGW VI 2, 352.
58
GD, Moral als Widernatur 3; KGW VI 3, 78. — Die oft geäußerte These, Nietzsdie
sei ,dem Christentum verhaftet' geblieben, ist m. E. von dieser Äußerung und ihrem
,Hintergrund' her zu überdenken und zu korrigieren. R. Okodii (Nietzsdies Amor fati
im Lichte von Karma des Buddhismus, in: Nietzsche-Studien l, 1972, 36 ff.,
hier 52) behauptet z.B.: »Im Sinne des ,Anti-c ist Nietzsche noch im Christentum
befangen, gehört er ihm noch zutiefst an, obwohl er ihm so heftig, fanatisch und
verzweifelt den Krieg erklärt, obgleich er es so radikal bekämpft." Nietzsche faßt aber
das ,Anti-' im wesentlichen gerade nicht so, wie Okodii meint; die folgenden Aus-
führungen werden das noch deutlicher machen.
w GD, Die „Vernunft« in der Philosophie 5; KGW VI 3, 71.
80
EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 2; KGW VI 3, 300. — Zur Interpretation
Der Antichrist 107

Es ist unverkennbar, daß Nietzsche in diesen Äußerungen mit dem


Titel ,(der) Antichrist zuerst den Träger einer neuen positiven Haltung
bezeichnet, der eine andere, nicht aus der decadence erwachsende Moral
propagiert; erst sekundär, nämlich in Konsequenz seiner Bejahung, ist ,der
Antichrist" auch ,ein Antichrist*. Es verhält sich mit diesem Titel also ähnlich,
wie mit dem des Jmmoralisten", mit dem Nietzsche letztlich auch eine
Position und dann erst eine Verwerfung bezeichnet. Im 1886 verfaßten
fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft hat Nietzsche dieser Fundierung
der Verneinung in einer Bejahung mehrfach deutlichen Ausdruck gegeben.
„Wer sind wir doch?*, fragt er seine fiktiven Gesprächspartner61, um zu
antworten: „Wollten wir uns einfach mit einem älteren Ausdrucke Gottlose
oder Ungläubige oder auch Immoralisten nennen, wir würden uns damit
noch lange nicht bezeichnet glauben: wir sind alles Dreies in einem zu
späten Stadium, als daß man begriffe, als daß ihr begreifen könntet, meine
Herren Neugierigen, wie es einem dabei zu Muthe ist."62 Etwas später
führt Nietzsche aus, daß die ,freien Geister", wie ihre christlichen Vor-
fahren, bereit seien, alles zum Opfer zu bringen. „Wofür doch? Für unsern
Unglauben? Für jede Art Unglauben? Nein, das wißt ihr besser, meine
Freunde! Das verborgene Ja in euch ist stärker als alle Nein's und Viel-
leicht's, an denen ihr mit eurer Zeit krank seid .. ."e3.
Daß er selbst ,der Antichrist" in diesem positiven Sinn sei, ist kein
späterer Einfall Nietzsches, wie man vielleicht aus der Abfolge der Zitate
bis hin zur Ecce homo-Stelle folgern könnte. Dies erhellt aus einer brief-
lichen Äußerung, in der, so weit bisher bekannt, Nietzsche das Wort Anti-
christ" zum ersten Mal gebraucht.64 Der Brief — Adressatin war Malwida
von Meysenbug, Nietzsches mütterliche Freundin — wurde kurz nach Fer-
tigstellung des ersten Teils von Also sprach Zarathustra geschrieben, einige
Monate vor den beiden Briefen, in denen Nietzsche unter Verwendung des
Wortes jAntichrist" Gast und Overbeck von der ersten Rezension dieser
Schrift berichtet. Als Nietzsche aus dem von ihm wie eine Inspiration!
empfundenen Sdiaffensrausdi ,erwachte", gewann er die Überzeugung, daß
dieser Stelle vgl. auch Vf., Zarathustra und der Esel. Eine Untersuchung der Rolle des
Esels im vierten Teil von Nietzsches Also sprach Zarathustra, in: Theologia Viatorum
XI, 1966—72 (im Druck).
81
Man erinnere sich an die Interpretation des „wir" als »ich" in der Götzendämmerung;
vgl. oben S. 106 und Anm. 59.
62
FW346;KAV,278f.
63
FW 377; KA V, 337.
64
Nietzsche hat das Wort zwar einmal schon viel früher verwendet, nämlich in seiner
Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung; die Formulierung „sichtbar greift der Antichrist
weiter und weiter um sich" (HL 9; KGW III l, 311) ist aber Zitat aus E. von Hart-
manns Philosophie des Unbewußten*. M. W. hat diese Verwendung des Titels ,der
Antichrist* bei Nietzsche keine weiteren Folgen gehabt.
108 Jörg Salaquarda

er nun seinen »entscheidenden Schritt gethan" habe.65 Diese Stimmung,


seine Freude und zugleich sein Erstaunen über das eigene Werk, hat Nietz-
sche später, im Ecce homo, im Blick auf den ganzen Zarathustra wie folgt
zusammengefaßt: „Das Werk steht durchaus für sich... Dass ein Goethe,
ein Shakespeare nicht einen Augenblick in dieser ungeheuren Leidenschaft
und Höhe zu athmen wissen würde, dass Dante, gegen Zarathustra gehal-
ten bloss ein Gläubiger ist und nicht Einer, der die Wahrheit erst s c h a f f t . . . ,
dass die Dichter der Veda Priester sind und nicht einmal würdig, die
Schuhsohlen eines Zarathustra zu lösen, das ist alles das Wenigste und giebt
keinen Begriff von der azurnen Einsamkeit, in der dies Werk lebt."66 In
diesem Überschwang klingt vielleicht noch etwas von dem nach, was Nietz-
sche Jahre zuvor von Peter Gast gehört hatte. Gelegentlich der Lektüre der
Korrekturfahnen von Zarathustra I hatte dieser geschrieben, das Buch ge-
höre seines Eraditens unter die Rubrik der heiligen Schriften.67 Nietzsche
nahm diese Huldigung mit Freude auf. „Es ist eine wunderschöne Ge-
schichte", schreibt er, Gasts Karte beilegend, an Malwida, „ich habe alle
Religionen herausgefordert und ein neues ,heiliges Budic gemacht! Und in
allem Ernste gesagt, es ist so ernst als irgendeines, ob es gleich das Lachen in
die Religion mit aufnimmt."68 Inwiefern und mit welchem Recht Nietzsche
seine im Zarathustra verkündeten Gedanken als ,Religionc bezeichnen kann,
spielt für die hier behandelte Thematik keine Rolle69; es ist aber von Inter-
esse, daß er sie durch diese Bezeichnung sicherlich nicht primär als Bestrei-
tungen oder Verneinungen, sondern als Ausdruck ,positiver Lehrenc, als
,Positionc verstanden haben will. Im Blick nun auf seine neue ,Position',
nicht zuerst im Blick auf die damit zugleich gesetzte Verwerfung des Chri-
stentums', hält Nietzsche es für angebracht, seine Bedeutung als Krisis und
Wendepunkt der Geschichte durch einen angemessenen Titel zu unter-
streichen. „Wollen Sie einen neuen Namen für mich? Die Kirchensprache
hat einen: ich bin — der Antichrist"™
Bevor Nietzsche also das Wort ,Antichristc in seiner verneinenden,
,antidiristlidienc Bedeutung im üblichen Sinn verwendet, kennt und ge-

85
So in demselben Brief an Gast vom 26. 8.1883, der audi Nietzsches Reaktion auf die
Rezension des ersten Zarathustra enthält (GBr IV, 173).
EH, Also sprach Zarathustra 6; KGW VI 3, 341.
67
Brief vom 6. 4.1883; Die Briefe P. Gasts an Fr. Nietzsche, a. a. O. I, 303. — Vgl. auch
E. Förster-Nietzsches Kommentar zu Nietzsches Briefwechsel mit M. von Meysenbug;
GBr III, 602.
e8
An M. von Meysenbug von Anfang April 1883; GBr III, 604 f.
69
„Die Grundconception des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke" (EH, Also
sprach Zarathustra l; KGW VI 3, 333) wird von Nietzsche in einer Nachlaß-Notiz als
die „Religion der Religionen" bezeichnet (KA XII, 415).
70
An M. von Meysenbug von Ende März 1883; GBr III, 603.
Der Antichrist 109

braucht er es in der Bedeutung von: Träger einer neuen, die ,Umwertung


aller Werte' vollziehenden Position. Diese Bedeutung bleibt für seinen
Gebrauch des Wortes grundlegend. Das zeigen bei genauerem Zusehen auch
die Stellen, die man zunächst, durch ein unbefragtes Vorverständnis ver-
führt, anders zu verstehen geneigt ist. Ich ziehe als Exempel die beiden
schon genannten Briefstellen (an Gast und an Overbeck) heran, weil sie dem
ersten Anschein nach deutlich für die Gleichung >der Antichrist' = ,ein Anti-
christ' sprechen. Nietzsche schreibt: „... es handelt sich um den alten längst-
verheißenen Antichrist — so empfinden es die Leser". Die verschiedenen
Bedeutungen des Wortes ,Antichristc sind darin derart ineinander ver-
woben, daß es genauer Interpretation bedarf, um das Gemeinte sichtbar zu
machen. Wie seine Äußerung gegenüber der Meysenbug zeigt, weiß Nietz-
sche sich als ,der Antichrist', als der Bringer und Verkünder einer positiven
Lehre. Die Leser verstehen das nicht. Sie sind lediglich dazu in der Lage,
Nietzsches „populäre Position" wahrzunehmen, nämlich seine an die Wur-
zeln gehende Bestreitung des ,Christentums'71. Da die Leser, hier repräsen-
tiert durch den ,diristlich'-antisemitisdien Rezensenten, daran gewöhnt sind,
für ,ein Antichrist' übertreibend ,der Antichrist* einzusetzen, treffen sie
allerdings im Wortlaut mit Nietzsches Selbstprädikation zusammen. Weder
Nietzsche noch sein Rezensent wollen durch die Metapher ,der Antichrist*
das bezeichnen, was man als die nädistliegende Bedeutung erwarten würde:
den endzeitlichen Widersacher Christi. Für den Rezensenten bzw. für die
Leser ist Nietzsche sozusagen ,weniger', nämlich ,ein Antichrist'; Nietzsche
drückt mit der Selbstprädikation dagegen eher ,mehr' aus, nämlich keine
bloße Anti-Haltung und Bestreitung und sei es auch die des großen Wider-
sachers Christi, sondern die ursprünglich und in sich positive Haltung der
un-moralischen Bejahung des Lebens.

V.

Daß Nietzsche den Titel >der Antichrist' in einer Bedeutung versteht,


die bisher ziemlich allgemein als Träger einer neuen, aus der Umwertung
aller Werte entspringenden Position beschrieben wurde, mag trotz der guten
Belege für diese These befremden. Es verliert einiges von seiner Befremd-
lichkeit, wenn wir sehen, daß er diesen Sprachgebrauch nicht willkürlich
und ohne Anknüpfungspunkte einführt. Nietzsches Sprachgebrauch ist pri-
mär bestimmt durch Aufnahme der Schopenhauersdien Definition des ,Anti-
dirist' und gewinnt seine Präzision in ständiger Auseinandersetzung mit

71
Vgl. oben S. 96 und Anm. 17.
HO . Jörg Salaquarda

dieser. Schopenhauer gibt seine Definition im Rahmen einiger nachträglicher


Bemerkungen zu seiner Ethik72. Die Stelle lautet: „Daß die Welt bloß eine
physische, keine moralische, Bedeutung habe, ist der größte, der verderb-
lichste, der fundamentale Irrthum, die eigentliche Perversität der Gesin-
nung, und ist wohl im Grunde auch Das, was der Glaube als der Antichrist
personificirt hat."73 Diese in der bisherigen Nietzsche-Forschung kaum be-
achtete Stelle74 hat Nietzsches Verständnis des Wortes ,Antidiristc geprägt.
Die folgenden Ausführungen werden dies im einzelnen nachweisen.
Auch Nietzsches Verhältnis zu Schopenhauer kann im Rahmen der
vorliegenden Untersuchung nicht in aller Ausführlichkeit behandelt werden,
was freilich weniger problematisch ist als im Fall der Auseinandersetzung
mit dem Christentum, da die Forschung in dieser Frage einen gewissen
Konsensus erreicht hat. Die frühe Überschätzung von Schopenhauers Ein-
fluß ging meist Hand in Hand mit polemischer Abwertung von Nietzsches
eigenständigem Denken75; demgegenüber haben schon die ersten der ernst-
zunehmenden Nietzsche-Interpreten die Maßstäbe zurechtgerückt, z. B.
72
Schopenhauers Werke werden zitiert nach der von Arthur Hübscher besorgten Aus-
gabe, die im großen und ganzen mit der ersten Gesamtausgabe von Frauenstädt über-
einstimmt (7 Bände, Leipzig 1937 ff.). — Zur Ethik hat Schopenhauer zwei ,Preis-
schriften' verfaßt, die er unter dem Titel Die beiden Grundprobleme der Ethik
zusammengefaßt hat (IV, 2. Hälfte). Außerdem sind die ethischen Partien der beiden
Bände seines »Hauptwerks' (Die Welt als Wille und Vorstellung 7, $$ 53 ff.; II, 319 ff.
und 77, Kap. 40 ff.; III, 527 ff.) und der Parerga und Paralipomena (bes. 77, Kap. 5
und 8; VI, 105 ff. und 214 ff.) heranzuziehen.
78
Parerga II, §109; VI, 214. — In einem Brief an Frauenstädt vom 31.10.1856
schreibt Schopenhauer, eine von ihm zurückgewiesene und kritisierte ethische Theorie
laufe „darauf hinaus, daß moralisch es bloß auf die physische Tat ankomme, gleich-
viel aus welchen Motiven sie geschehe"; er fährt fort: „Sehen Sie, dies ist der niedrige,
infame Realismus, der, von dem ich rede Parerga II § 109." (Briefwechsel, hg. von
Brahn, S. 295).
74
Erst nach Konzipierung der Grundgedanken dieser Untersuchung habe ich Schopen-
hauers ,Antichristc-Stelle in der Nietzsche-Literatur zitiert gefunden, nämlich bei
Peter Heller, „Chemie der Begriffe und Empfindungen". Studie zum ersten Aphorismus
von „Menschliches, Allzumenschliches I", in: Nietzsche-Studien l, 1972, 210 ff.;
hier: 211, Anm. 5. — Die folgenden Nachweise können, wiewohl nicht durch Heller
angeregt, als eine konkrete Durchführung seiner von mir geteilten Forderung genom-
men werden, man müsse „jeweils nicht nur die Punkte an(zu)geben, in denen Nietzsche
sich von Schopenhauer distanziert, sondern auch die weiterhin bestehenden Affinitäten"
(ebd.).
75
Es sei beispielsweise an die besonders drastischen Äußerungen Adelbert Düringers
erinnert. Obwohl Nietzsche „schon frühzeitig an seinem Meister Kritik übte", ist er
nach Meinung dieses Autors „aus dem Banne der Schopenhauerschen Philosophie ... nie
mehr herausgekommen"; er verdanke dieser alles, was an seiner Lehre diskutabel sei.
Denn „überall da, wo dieser unvollkommene Denker sich von dem Gängelbande seines
Lehrers und Meisters losmacht und eigene Wege zu gehen versucht", komme „etwas
ganz unmögliches und unbrauchbares, jeder Realität und jedem Vernunftgebot wider-
streitendes, aller historischen Entwicklung zuwiderlaufendes, allem gesunden, sittlichen
und ästhetischen Empfinden direkt konträres" heraus (Nietzsches Philosophie und das
Der Antichrist 111

Hans Vaihinger, Raoul Richter, Georg Simmel76 u. a. Im Gegenzug neigen


Jaspers und Heidegger dazu, den Einfluß Schopenhauers völlig herunterzu-
spielen. Obwohl es sich dabei um eine der wenigen Gemeinsamkeiten dieser
so verschiedenen, je auf ihre Weise eindringlichen Nietzsche-Interpreta-
tionen handelt, ist auch diese Extremposition nicht überzeugend. Weder das
Beiseitelassen des Problems durch Jaspers77 noch Heideggers aus seiner Ab-
neigung gegen Schopenhauer erwachsende Denunzierung des Einflusses78
werden dem Sachverhalt gerecht. Einleuchtender ist, was schon frühere
Interpreten dazu ausführten, die, indem sie Nietzsches Entwicklungsgang in

heutige Christentum, Leipzig 1907, 9 und 21). — Die Vertreter der ,Schulphilosophie'
qualifizierten Nietzsche, sofern sie überhaupt von ihm Notiz nahmen, sarkastisch als
eine Art ,übergesdmappten Schopenhauerianer* ab. Ein anschauliches Beispiel dafür
findet sich in Kuno Fischers Schopenhauer-Darstellung, in der Nietzsche mit Max Stir-
ner in eins gesehen wird (Geschichte der neuern Philosophie, Band 8: Arthur Schopen-
hauer, Heidelberg 1893, 483 f.).
76
Georg Simmels Vortragszyklus Schopenhauer und Nietzsche, München und Leipzig
1907, 19202, ist insofern bedeutsam, als in ihm Nietzsches Philosophie von einem
jFachphilosophen* ernst genommen wurde. Es ist außerdem positiv hervorzuheben, daß
Simmel sogleich zum Kern von Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauer, zur
Ethik überhaupt und zum Problem des , Wertes des Daseins* im besonderen, vordringt.
Sein Verständnis der Philosophie Nietzsches bleibt freilich ziemlich oberflächlich und ist
in einigen Punkten, z. B. was die Bewertung des Lebens als solchen betrifft, sogar
falsch. Seine Darstellung leidet vor allem daran, daß er Nietzsches direkte Äußerungen
über Schopenhauer kaum berücksichtigt.
77
Jaspers findet es nicht einmal der Mühe wert, Schopenhauers Einfluß zu bestreiten. In
seiner Nietzsche-Monographie (Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philo-
sophierens, Berlin 19503) taucht der Name Schopenhauer im biographischen Teil einige
Male schlagwortartig auf, etwa, wenn er von der Nietzsche und Rohde gemeinsamen
„Liebe zu Schopenhauer und Wagner" spricht (48). Im eigentlich philosophischen Teil
des Buchs taucht ,Schopenhauer' nur noch zwei Male auf (256 und 350); beide Male
gelegentlich einer Polemik Nietzsches gegen Schopenhauers Willensbegriff, ohne daß
Jaspers diese Problematik zum Anlaß einer weiteren Erörterung nähme.
78
Heidegger hat sich vor allem in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst
(Nietzsche, 2 Bände, Pfullingen 1961, hier: I, 11 ff.) über Schopenhauer geäußert. Er
verurteilt das „maßlose(n) und geschmacklose (n) Geschimpfe, mit dem Schopenhauer
Zeit seines Lebens Hegel und Schelling bedacht hat" (44), vor allem schon deswegen,
weil Schopenhauer seiner Meinung nach „inhaltlich... von denen (lebt), die er be-
schimpft" und diejenigen, die er nicht beschimpft, nämlich Plato und Kant, „von
Grund aus... mißversteht" (127, vgl. 182). Infolgedessen faßt Heidegger Schopen-
hauers späten , ' über die Denker des Deutschen Idealismus nach 1848 ganz
anders auf als Schopenhauer selbst. Dieser kam seines Erachtens „in der Philosophie
um diese Zeit nicht deshalb obenauf, weil seine Philosophie den deutschen Idealismus
philosophisch besiegte, sondern weil die Deutschen vor dem deutschen Idealismus
erlagen, seiner Höhe nicht mehr gewachsen waren" (75). — Heidegger leugnet nicht
völlig, daß Nietzsche durch Schopenhauer angeregt worden sei (vgl. z. B. 44), aber er
beurteilt sein Denken, solange und sofern es in den von Schopenhauer vorgezeichneten
Bahnen bleibt, negativ (vgl. 126 f.). Man könnte sagen, daß er die These Düringers
(vgl. oben Anm. 75) genau umkehrt, wobei ich mir allerdings nicht nur des Unter-
schieds, sondern der völligen Unvergleichlichkeit des Niveaus der beiden »Interpreten*
bewußt bin.
112 Jörg Salaquarda

die bekannten drei Phasen unterteilten, sein Verhältnis zu Schopenhauer


dialektisch deuteten. Ich führe beispielsweise einige Äußerungen Vaihingers
an79, in denen das Verfahren besonders deutlich zum Ausdruck kommt.
„Nietzsches Lehre" ist für Vaihinger „positiv gewendeter Sdiopenhaueria-
nismus", zu dem der Philosoph im Durchgang durch eine zunächst ziemlich
unkritische Schopenhauer-Verehrung (Thesis) und durch eine sich anschlie-
ßende intellektualistische Bestreitung seines ,Lehrersc (Antithesis) vorge-
drungen sei. Das Resultat (die Synthesis) dieser Entwicklung beschreibt
Vaihinger wie folgt: „in der dritten Periode kehrt Nietzsche... wieder zu
Schopenhauer zurück", indem er „wieder dessen Willenslehre annimmt.
... Damit haben wir nun den innersten Kern der spezifischen Nietzsdie-
schen Lebensanschauung gefunden: es ist dies eben die Schopenhauersche
Willenslehre, aber mit positivem Vorzeichen versehen.. ,<<8°. Diese Nietz-
sche-Deutung ist zwar in vielen Zügen problematisch oder sogar falsch;
Nietzsche hat natürlich nicht die Schopenhauersche Willensauffassung ein-
fach übernommen und nur anders bewertet. Problematisch ist auch die
oberflächliche Periodisierung von Nietzsches Entwicklungsgang81 und ihre
an Hegel orientierte dialektische Deutung82. Vaihinger sieht aber richtig,
daß Nietzsche einerseits zeitlebens Schopenhauers Denken vor Augen hatte
und sich fast ständig, positiv oder negativ, auf es bezog, daß er andrerseits
aber nie bloßer Schopenhauerianer war. In diesen beiden Punkten stimmen
die meisten heutigen Interpreten überein. Die ausführlichste Darstellung
von Nietzsches erster Aufnahme des Schopenhauerschen Werks, von seiner
Begeisterung und seinem ,Missionseiferc, zugleich aber von seiner fast zur
gleichen Zeit einsetzenden Kritik hat Karl Schledita gegeben.83 Er konnte
dabei zum Teil auf bis dahin wenig bekanntes Material zurückgreifen, zum
Teil hat er schon Bekanntes zusammengefaßt. Den zweiten Aspekt, daß
Nietzsche in Zustimmung und Auseinandersetzung bis zum Ende seines
79
Ähnlich Raoul Richter, Alois Riehl, Richard H. Grützmacher u. a.
80
Hans Vaihinger, Nietzsche als Philosoph, Berlin 19164, 32, 37 und 39.
81
Ich stimme darin Müller-Lauter zu, der ausführt: „Versuche der entwicklungsgeschicht-
lichen Betrachtung Nietzsches stehen angesichts eigentümlicher Diskrepanzen zwischen
Niederschriften und Notizen, die teilweise in spätere Veröffentlichungen eingegangen
sind, und dem zur Zeit solcher Niederschriften Veröffentlichten vor ganz ungewöhn-
lichen Schwierigkeiten" (Nietzsche, a. a. O. 36, Anm. 13).
82
Das Interesse an der Geschichte der Philosophie und in seinem Gefolge an der Dar-
stellung philosophiegeschichtlicher Zusammenhänge ist bekanntlich am nachhaltigsten
durch Hegel angeregt und motiviert worden. Bis in unser Jahrhundert hinein haben
selbst Gegner und Kritiker Hegels (z. B. Rudolf Haym und Richard Kroner) ihren
philosophiegeschichtlichen Darstellungen dessen dialektisches Schema zugrundegelegt.
Daß eine sich an Nietzsches Verständnis von Geschichte und Philosophie orientierende
Darstellung ganz anders vorgehen müßte, bedarf keines Nachweises.
83
Karl Schlechta, Der junge Nietzsche und Schopenhauer, in: Schopenhauer-Jahrbuch
XXVI, 1939, 289 £F.
Der Antidirist 113

Schaffens auf Schopenhauer bezogen blieb, hat in überzeugender Form,


nämlich ohne in irgendwelche Schematisierungen zu verfallen, Michael
Landmann herausgearbeitet.84 Dieser Autor hat auch Simmels Einsicht, daß
Nietzsches ,Diskussionc mit seinem philosophischen Lehrmeister sich zwar
nicht nur, aber zu einem wesentlichen Teil auf dem Feld der Ethik ab-
spielt85, wieder zur Geltung gebracht.
Schopenhauers Interpretation des neutestamentlichen ,Antichristc ist
aus dem Zusammenhang seiner Ethik und seiner moralischen Deutung des
Christentums86 heraus verständlich und einleuchtend. Im Christentum
haben sich seiner Meinung nach zwei heterogene Momente lose und jederzeit
voneinander ablösbar ,verbundenc: der durch Gesetzlichkeit und Optimis-
mus gekennzeichnete Judaismus des Alten Testaments und ein eigentüm-
liches jdiristliches' Moment, dessen Kern eine quietistische Moral darstellt.
Während Schopenhauer den Judaismus (mit der einzigen Ausnahme der
Sündenf alls-Lehre) toto coelo ablehnt, beurteilt er das jeigentlidie' Christen-
tum positiv, wofür die christlichen Dogmen allerdings nicht ihrem Wortsinn
nach, sondern allegorisch aufzufassen sind. Wenn die Dogmen auch „an sich
der Philosophie fremd sind"87, so zeigen sie, richtig verstanden, auf den
selben Sachverhalt, den auch die philosophische Ethik (Schopenhauers) her-
auszustellen bemüht ist und der auch in den fernöstlichen Religionen im
Zentrum steht: auf Askese und schließlich Verneinung des Selbst. Die
„Verbindung des Neuen Testaments mit dem Alten ist im Grunde nur eine
äußerliche, eine zufällige, ja erzwungene... In Wahrheit ist nicht das
Judenthum, ... sondern Brahmanismus und Buddhaismus sind dem Geiste
und der ethischen Tendenz nach, dem Christenthum verwandt. Der Geist

84
Michael Landmann, Nietzsches Schopenhauer-Erlebnis, in: ders., Geist und Leben.
Varia Nietzscheana, Bonn 1951, 9 ff. — Außerdem sei auf die in Anm. 74 zitierte
Äußerung Peter Hellers verwiesen. Beachtenswert ist, was Joan Stambaugh zu diesem
Thema bemerkt (Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, Den Haag
1959). Ihre ständige Bezugnahme auf Grundgedanken Schopenhauers „soll Zeugnis
dafür ablegen, wie sehr Nietzsche mit ihnen sein Leben hindurch rang. Seiner Wahr-
haftigkeit und seiner ganzen Art entsprechend waren diese Grundgedanken nicht mit
einer schlüssigen , Widerlegung* als ,falsch*... abzutun, Nietzsche geht es nicht um ein
,wahres* oder falsches* System der Philosophie, sondern um reale Möglichkeiten des
Lebens. Die Metaphysik Schopenhauers bleibt für ihn eine dieser Möglichkeiten" (8). —
Das zuletzt Gesagte gilt m. E. freilich nur in dem Sinn, daß Nietzsche einen ,euro-
päischen Buddhismus* propagiert, der Lebensmöglichkeiten für die »Schwachen1 offeriert,
aus denen keine Denunziation der Lebensbejahung der »Starken* resultiert.
85
Vgl. den Abschnitt IV von Nietzsches Schopenhauer-Erlebnis, a. a. O. 26 ff. — Ich
setze im folgenden bei diesem Problemkreis ein.
86
Schopenhauers Äußerungen über das Christentum sind vorwiegend in den folgenden
Passagen zu finden: Die Welt als Wille und Vorstellung I, §68 und II, Kap. 48; II,
446 ff. und III, 692 if., insbes. 707 ff.; Parerga II, 15; VI, 343 ff.
87
Welt als Wille und Vorstellung I; II, 483.
114 Jörg Salaquarda

und die ethische Tendenz sind aber das Wesentliche einer Religion, nicht die
Mythen, in welche sie solche kleidet."88
Wörtlich genommen ist die neutestamentlidie Rede von ,dem Anti-
christ' für Schopenhauer natürlich bloße Mythologie. Indem er sie aber, dem
wesentlichen Grundzug des Christentums folgend, allegorisch interpretiert,
bekommt sie einen plausiblen Sinn. ,Der Antichrist" bestreitet nicht dies oder
das im Christentum, sondern dessen wesentlichen Kern, also die Moral und
deren Zusammenhang mit der Welt im Ganzen. ,Der Antichrist leugnet also
jede moralische Bedeutung der Welt und faßt diese als lediglich physisches
Geschehen. Das ist für Schopenhauer offenkundiger Nihilismus. „Physika-
lische Wahrheiten können viel äußere Bedeutsamkeit haben", heißt es kurz
vor der jAntichrist'-Passage, „aber die innere fehlt ihnen. Diese ist das Vor-
recht der intellektuellen und moralischen Wahrheiten"89. Und in zum Teil
wörtlicher Übereinstimmung mit der Statuierung der eigentlichen Bedeu-
tung des Wortes jAntichrist', allerdings ohne Verwendung dieses Wortes,
sagt Schopenhauer an anderer Stelle: „Der heut zu Tage oft gehörte Aus-
druck ,die Welt ist Selbstzweck' läßt unentschieden, ob man sie durch Pan-
theismus oder durch bloßen Fatalismus erkläre, gestattet aber jedenfalls nur
eine physische, keine moralische Bedeutung derselben, indem bei Annahme
dieser letzteren, die Welt allemal sich als Mittel darstellt zu einem höheren
Zweck. Aber eben jener Gedanke, daß die Welt bloß eine physische, keine
moralische Bedeutung habe, ist der heilloseste Irrthum, entsprungen aus der
größten Perversität des Geistes."90
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Nietzsche von einer ganzen
Reihe Schopenhauerischer Gedanken und Motive nachhaltig und bleibend
beeinflußt wurde. Schopenhauerisdies Erbe sind jedenfalls die moralische
Deutung des Christentums, die Identifizierung des ,weltflüditigenc Christen-
tums (nach Nietzsche des Christentums Jesu) mit dem Buddhismus, die
Identifizierung beider mit den Moralvorstellungen Schopenhauers91 etc.
Noch wichtiger ist, daß Nietzsche in Schopenhauers ethischen Schriften und
Aufzeichnungen das Problem kennenlernte, das er selbst als sein zentrales
Problem bezeichnete. In der Vorrede zur Genealogie der Moral weist
Nietzsche die Meinung zurück, er habe sich bei Abfassung der Aphorismen
zu Menschliches) Allztimenschliches I von Paul Ree beeinflussen lassen,
88
Welt als Wille und Vorstellung II; III, 713, 716.
89
Parerga II; VI, 214.
90
Parerga II; VI, 108.
91
Für die beiden ersten Behauptungen ist Absdmitt III dieser Untersuchung heranzu-
ziehen. Zur Identifizierung von Schopenhauers Ethik mit der des Buddhismus vgl.
z. B. JGB 56, wo Nietzsche ausführt, er wolle „jenseits von Gut und Böse, und nicht
mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral" philosophieren;
KGW VI 2, 72.
Der Antichrist 115

bzw. sich auch nur mit diesem auseinandergesetzt. Es verhielt sich anders,
wie er rückblickend ausführt: „Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel
Wichtigeres am Herzen... Es handelte sich für midi um den Werth der
Moral, — und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem grossen Lehrer
Schopenhauer auseinanderzusetzen, an den, wie an einen Gegenwärtigen
jenes Buch, die Leidenschaft und der geheime Widerspruch jenes Buchs sich
wendet."92 Im Rückblick wird Nietzsche selbst seine Geburt der Tragödie
schon zu einem ersten Versuch, in Auseinandersetzung mit Schopenhauer
eine neue, unmoralische Interpretation der Welt zu erstellen.93 Diese erst
im Versuch einer Selbstkritik veröffentlichte Einsicht hatte Nietzsche schon
wesentlich früher gewonnen. In einem Nachlaßfragment aus dem Jahre
1880 heißt es: „Versuche einer außermoralischen Weltbetrachtung früher zu
leicht von mir versucht — eine aesthetische (die Verehrung des Genies —)"94.
Es ist zweifellos das Problem einer ,Umwertung aller Werte', das
Nietzsche in diesen Selbstinterpretationen faßt und in engen Zusammen-
hang zu seiner Auseinandersetzung mit Schopenhauer, vor allem mit dessen
Ethik, bringt. Es ließen sich noch viele ähnliche Zitate anführen95. Für die
Absicht dieser Untersuchung mag das bisher Gesagte genügen: es sollte den
Rahmen abstecken, innerhalb dessen sich der folgende philologische Nach-
weis bewegt.
Daß Nietzsche Schopenhauers Ausführungen zur Ethik gekannt hat,
bedarf keines Nachweises. Neben den bekannten biographischen Nachrich-
ten96 geben seine zahlreichen Äußerungen zu diesem Thema in den ver-
öffentlichten Schriften wie im Nachlaß davon deutliches Zeugnis. Ob er
eine bestimmte einzelne Stelle genau kannte und im Gedächtnis hatte, dies
ist natürlich nicht so einfach vorauszusetzen. Den besten Nachweis dafür
gibt ein direktes Zitat. Zitate aus den ethischen Schriften Schopenhauers
finden sich bei Nietzsche in der Tat häufig, allerdings hat Nietzsche längst
nicht alle als solche ausgewiesen.97 Manchmal, wie z. B. in der folgenden
92
GM, Vorrede 5; KGW VI 2, 263 f.
93
Die dazu gehörende jAntichrist'-Stelle wurde bereits zitiert (vgl. oben S. 104 und
Anm. 53). — Auf den Versuch einer Selbstkritik komme ich in späterem Zusammen-
hang noch ausführlicher zu sprechen.
94
l [120]; KGW V l, 361. — In einer etwas später zu Papier gebrachten Aufzeichnung
heißt es: „Gehurt der Tragödie ... gegen Schopenhauer und die moralische Deutung des
Daseins, — ich stellte darüber die ästhetisdae, ohne die moralische zu leugnen oder zu
ändern." (Nachlaß 1881/82; KA XII, 212 = 1. Hälfte, Nr. 445).
95
Z.B. FW 357; KA V, 301 ff., Nachlaß Herbst 1887, 9 [42]; KGW VIII 2, 18 (eine
gekürzte Fassung: WM 1005; KA XVI, 362 f.), Nachlaß Herbst 1887, 10 [150]; KGW
VIII 2, 205 f. (eine gekürzte Fassung der ersten Hälfte: WM 411; KA XV, 439 f., der
zweiten Hälfte entspricht WM 17; KA XV, 153 f.) u. a.
96
Vgl. bes. den in Anm. 83 genannten Aufsatz Schlechtas, ferner Richard Blunck, Fr.
Nietzsche. Kindheit und Jugend, München/Basel 1953, bes. 136 ff.
97
Einen Eindruck davon vermittelt der von Mazzino Montinari verfaßte Kritische
116 Jörg Salaquarda

Nachlaß-Notiz, die auch inhaltlich für unser Thema interessant ist, hat
Nietzsche sozusagen , vollständig* zitiert, also den Text in Anführungen ge-
setzt und Schrift und Seite (nach der Frauenstädt-Ausgabe) notiert. „Die
philosophischen wie die religiösen Systeme sind darüber einig, dass die
ethische Bedeutsamkeit der Handlungen zugleich eine metaphysische sein
müsse u.s.w. Schopenhauer, Grundprobleme der Moral p. 261. Perikles
vor dem Tode: die Gedanken nehmen eine moralische Richtung."98 Weniger
vollständige Zitierweise, nämlich Fehlen der Angabe von Schrift und Seite
oder selbst Fehlen der Anführungen, sehr häufig natürlich Paraphrasierung,
finden sich in allen Schriften und in vielen Nachlaßfragmenten. Ich gebe
dazu einige Beispiele. Der Satz „ist Schadenfreude teuflisch, wie Schopen-
hauer sagt?" ist Paraphrase mehrerer Äußerungen Schopenhauers zu diesem
Thema." Bei „pereat mundus, dum ego salvus sim!" hat Nietzsche Schopen-
hauers Text zwar umgestellt, im übrigen aber wörtlich und korrekt
zitiert.100 In der folgenden Passage sind sowohl ein wörtliches Zitat als auch
eine Paraphrase zu finden: „Schopenhauer macht jene treffliche Unterschei-
dung, mit der er viel mehr Recht behalten wird, als er sich selber eigentlich
zugestehen durfte: ,die Einsicht in die strenge Notwendigkeit der mensch-
lichen Handlungen ist die Gränzlinie, welche die philosophischen Köpfe von
den anderen scheidet/ Dieser mächtigen Einsicht, welcher er zu Zeiten offen-
stand, wirkte er bei sich selber durch jenes Vorurtheil entgegen, welches er
mit den moralischen Menschen (nicht mit den Moralisten) noch gemein hatte
und das er ganz harmlos und gläubig so ausspricht: ,der letzte und wahre
Aufschluß über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muss nothwendig
eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des mensch-
lichen Handelns', — was eben durchaus nicht ,nothwendigc ist.. ,"101. Diese
Auswahl verschiedener Zitierweisen mag genügen. Daß bei dieser ziemlich
willkürlichen Auswahl zwei Zitate thematisch stark an das hier verhandelte
Problem anklingen, ist ein erster Hinweis dafür, wie sehr Nietzsche gerade

Apparat zur Abteilung IV der KGW (IV 4, 109 ff.)· Der Herausgeber hat eine Viel-
zahl von Belegen beigebracht, die deutlich machen, mit welcher Selbstverständlichkeit
Nietzsche damals Wagner, Burckhardt, Goethe und Schopenhauer zitierte, zumeist
ohne ausdrückliche Kennzeichnung der Zitate.
98
Nachlaß; GA XIII, 96 (Nr. 229).
99
MA I 103; KGW IV 2, 98. Vgl. dazu Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der
Ethik; IV, 2. Hälfte, 200 und 225 sowie Parerga II; VI 231. — Die Zitatnachweise
sind hier wie in den folgenden Anmerkungen dem Kritischen Apparat zur Abteilung
IV der KGW entnommen (vgl. Anm. 97).
100
VM 26; KGW IV 3, 27. Vgl. dazu Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der
Ethik; IV, 2. Hälfte, 266 sowie Parerga II; VI 236.
101
VM 33; KGW IV 3, 31. Vgl. dazu Sdiopenhauer, Die beiden Grundprobleme der
Ethik; IV, 2. Hälfte, 182 und 109.
Der Antichrist 117

die Position beschäftigte, die Schopenhauer als die des ,Antichristc bezeich-
net hat.
Hat Nietzsche die jAntidirist'-Definition Schopenhauers so gekannt,
daß seine Kenntnis sich in bestimmten Äußerungen niedergeschlagen hat
und aus diesen nachweisen läßt? Die Frage läßt sich meiner Überzeugung
nach mit ja beantworten.102 Nietzsche hat zwar nirgends die ganze Stelle
zitiert; aber er hat zwei Wendungen, die dort stehen, wiederholt ,zitiertc,
wobei die jeweilige Art des Zitierens, der oben erläuterten Gewohnheit
Nietzsches entsprechend, variiert. Es handelt sich um die Wendungen „Per-
versität (der Gesinnung)" und „moralische Bedeutung". Die m. E. über-
zeugendste und durchschlagende Belegstelle findet sich in der späteren Vor-
rede zur Geburt der Tragödie, in der Nietzsche die beiden genannten Wen-
dungen und auch das Wort ,Antichristc gebraucht. — Das hier vorweg-
nehmend Angedeutete soll im folgenden ausführlich dargelegt werden.
Die früheste Bezugnahme, die ich eruieren konnte, hat Nietzsche
1876/77 zu Papier gebracht. Sie nimmt die Wendung „Perversität der Ge-
sinnung" auf.103 „Schopenhauer hat seine Position vielfach mit Flüchen und

102
In Nietzsches Exemplar der Parerga ist die Stelle zwar nicht unterstrichen; Nietzsche
hat aber den oberen Rand der Seite ein wenig eingeknickt, was er häufig tat, wenn er
auf eine Stelle später zurückkommen wollte (ich verdanke die Kenntnis dieser Tat-
sache sowohl als ihrer Interpretation Mazzino Montinari).
103
Das Wort ,Perversität* kommt bei Schopenhauer m. W. drei Male vor: neben „Perver-
sität der Gesinnung" findet sich in gleicher Bedeutung, nämlich als Leugnung der
moralisch-metaphysischen Bedeutung der Welt, „Perversität des Geistes" (Parerga II,
§69; VI 108, vgl. oben S. 114 und Anm. 90). Ein paar Seiten nach der ,Antichrist*-
Stelle heißt es schließlich „Perversität des Herzens" (Parerga II, § 114; VI 223). —
Nietzsches Verwendung des Wortes ist deutlich erkennbar an der Schopenhauers orien-
tiert. „Perversität der Gesinnung" findet sich außer an der oben zitierten Stelle noch
im Versuch einer Selbstkritik (dazu später). An zwei Stellen verwendet Nietzsche nur
„Perversität", im einen Fall derart, daß er das Wort im Rahmen einer immanenten
Kritik gegen Schopenhauer kehrt. Dieser habe aus seiner metaphysischen Grund-
position eine Konsequenz gezogen, die ihr eigentlich widerspreche. „Das Mitleiden, wie
es Schopenhauer schildert, ist, von seinem Standpunkte aus, die eigentliche Perversität,
die gründlichste aller möglichen Dummheiten" (Nachlaß Frühjahr 1880, 3 [102]; KGW
V l, 405). Im ändern Fall verwendet Nietzsche das Wort schon ,umgewertet*, indem
er es auf Sokrates anwendet: „... die Entnatürlichung der Moralwer the hatte zur
Consequenz, einen entartenden Typus des Menschen zu schaffen, — ,den Guten', ,den
Glücklichen*, ,den Weisen*. Sokrates ist ein Moment der tiefsten Perversität in der
Geschichte der Menschen" (Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [111]; KGW VIII 3, 81. Eine
leicht veränderte Fassung, am Schluß steht z.B. „Werthe" statt „Menschen": WM 430;
K A XV, 458 f.). — In der Genealogie sagt Nietzsche, daß Wagner bei der Einfühlung
in das Problem des ,Parsifal* „eine Art intellektueller Perversität... ebensowenig
erspart (blieb) als einem schwangeren Weibe die Widerlichkeiten und Wunderlichkeiten
der Schwangerschaft" (GM III 4; KGW VI 2, 361). — Eine frühe Verwendung des
Wortes ,Perversität* findet sich im Zusammenhang von Nietzsches Charakterisierung
des Parmenides in seiner unvollendet und unveröffentlicht gebliebenen Philosophie im
tragischen Zeitalter der Gried)en\ „Die einzige Form der Erkenntniß aber, der wir so-
118 Jörg Salaquarda

Verwünschungen und fast überall mit Pathos verschanzt; ohne diese Mittel
würde seine Philosophie vielleicht weniger bekannt geworden sein (z. B.
wenn er die eigentliche Perversität der Gesinnung es nennt, ,an keine Meta-
physik zu glauben')."104 Es ist eigenartig, daß Nietzsche das offensichtliche
Zitat „die eigentliche Perversität der Gesinnung" ohne Anführungen, die
Wendung „an keine Metaphysik zu glauben" dagegen in Anführungen
notiert. Das von ihm als Zitat behandelte Diktum konnte ich in dieser Form
bei Schopenhauer nicht finden, wenn es auch die Quintessenz verschiedener
Äußerungen formuliert, vor allem dessen, was Schopenhauer gegen Ende
seiner zweiten ,Preissdiriftc über die „metaphysische(n) Auslegung des ethi-
schen Urphänomens" sagt.105 Daraus läßt sich schließen, daß Nietzsche aus
dem Gedächtnis zitiert. Die Formulierung „die eigentliche Perversität der
Gesinnung" kann Nietzsche aber nur von seiner Lektüre des § 109 des
zweiten Bandes der Parerga her im Gedächtnis gehabt haben; sie findet sich
in dieser Form nur dort.
Für das Thema dieser Untersuchung ist von großem Interesse, daß
Nietzsche aus Schopenhauers im Wortlaut doch recht maßvollen Formulie-
rungen „Flüche(n) und Verwünschungen" heraushört. Die ,negativenc Be-
griffe jAntidirist' und jPerversität' müssen ihm als solche gegolten haben. Es
findet sich auch schon relativ früh eine Stelle, die deutlich macht, daß Nietz-
sche diesen jFludi' Schopenhauers bewußt auf sich nimmt, daß er sich also
dazu bekennt, jene „Perversität der Gesinnung" zu vollziehen, die ihn zu
,dem Antichrist" stempelt. „Ich habe die Verachtung Pascals und den Fluch
Schopenhauer's auf mir! Und kann man anhänglicher gegen sie gesinnt sein
als ich! Freilich mit jener Anhänglichkeit eines Freundes, welcher aufrichtig
bleibt, um Freund zu bleiben und nicht Liebhaber und Narr zu werden!"106
Sagt Nietzsche mit diesen Worten nicht genau dasselbe, was wir schon in
anderem Zusammenhang gehört haben: „Wollen Sie einen neuen Namen
für mich? Die Kirchensprache (sc. in der Interpretation, die ihr Schopen-
hauer gegeben hat, Zusatz des Vfs.) hat einen. Ich bin — der Antichrist"?107

fort ein unbedingtes Vertrauen schenken und deren Leugnung dem Wahnsinne gleich-
kommt, ist die Tautologie A = A. Aber eben diese tautologisdie Erkenntniß rief
unerbittlich ihm zu: was nicht ist, ist nicht! Was ist, ist! Plötzlich fühlte er eine un-
geheure logische Sünde auf seinem Leben lasten; hatte er doch ohne Bedenken immer
angenommen, daß es negative Eigenschaften, überhaupt Nichtseiendes gäbe, daß also,
formelhaft ausgedrückt A = nicht A sei: was doch nur die volle Perversität des Den-
kens aufstellen könne. Zwar urtheilt, wie er sich besann, die ganze große Menge der
Menschen mit der gleichen Perversität: er selbst hatte nur am allgemeinen Verbrechen
gegen die Logik theilgenommen." (KGW III 2, 313 f.).
104
Nachlaß Ende 1876 — Sommer 1877, 23 [38]; KGW IV 2, 513.
105
Die beiden Grundprobleme der Ethik; IV, 2. Hälfte, 260 ff.
106
Nachlaß Ende 1880, 7 [191]; KGW V l, 686.
107
Vgl. oben S. 108 und Anm. 68.
Der Antichrist 119

Nietzsches Kenntnis der Schopenhauerischen ,Antichristc-Stelle bezeu-


gen, wie gesagt, auch einige andere Stellen, an denen er die Wendung
„moralische Bedeutung" aufnimmt und reflektiert. Da sich diese Wendung
bei Schopenhauer freilich häufiger findet108 als „Perversität der Gesinnung"
und da Nietzsche diese Wendung, wie Schopenhauer selbst, stark variiert109,
haben die im folgenden angegebenen Stellen eine geringere Beweiskraft.
„Sittlich leben und sichs dabei sauer werden lassen mag gut sein, aber wenn
daraus immer, wie es scheint, die Forderung entsteht, daß das Leben durch-
aus einen ethischen letzten Sinn haben müsse, so müßte man es sich ver-
bitten, denn es wäre dann die Quelle der größten Unverschämtheit."110 In
der Morgenröte steht der folgende, „Alles hat seine Zeit" übersdiriebene
Aphorismus: „Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte er
nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben: — den un-
geheuren Umfang dieses Irrthums hat er sich sehr spät und jetzt vielleicht
noch nicht ganz eingestanden. — Ebenso hat der Mensch Allem, was da ist,

108
Daß die Welt nicht nur eine physische, sondern auch und vor allem eine moralische
bzw. metaphysische Bedeutung habe, sagt für Schopenhauer imgrunde dasselbe, wie die
These, daß die Welt Wille und Vorstellung sei. Als Vorstellung oder physisch be-
trachtet, folgt sie dem Satz vom Grund, ist nezessitiert und läßt keinen Raum für
moralisches Handeln. Als Wille oder moralisch-metaphysisch betrachtet, ist die Welt
die sich im Ganzen ausgleichende Abfolge von Schmerz und Lust, Verbrechen und
Sühne, Vergehen und Werden etc. des einen Willens. Im ersten Band seines Haupt-
werks hat Schopenhauer diese Problematik wie folgt zusammengefaßt: „die Welt selbst
ist das Weltgericht. Könnte man allen Jammer der Welt in eine Waagschale legen und
alle Schuld der Welt in die andere, so würde gewiß die Zunge einstehen" (Welt als
Wille und Vorstellung I, § 63; II, 415 f.). Im ergänzenden zweiten Band der Welt als
Wille und Vorstellung (Kap. 47; III, 677) nimmt Schopenhauer diesen Gedankengang
in einer Formulierung auf, die der hier thematischen schon näher kommt: „Die Kraft,
welche das Phänomen der Welt hervorbringt, mithin die Beschaffenheit derselben be-
stimmt, in Verbindung zu setzen mit der Moralität der Gesinnung und dadurch eine
moralische Weltordnung als Grundlage der physischen nachzuweisen, — dies ist seit
Sokrates das Problem der Philosophie gewesen." In der zweiten ,Preisschrift* ist von
der „ethische(n) Bedeutsamkeit der Handlungen" und der „unleugbaren ethisch-meta-
physischen Tendenz des Lebens" die Rede (Die beiden Grundprobleme der Ethik; IV,
2. Hälfte, 261 und 262). In den Partien des zweiten Bandes der Parerga, die Ethik und
Religion behandeln, finden sich ähnlich lautende Formulierungen des öfteren; außer an
der ,Antichrist'-Stelle und ihrer Parallele im § 69 heißt es z. B. im 108: „Physikalische
Wahrheiten können viel äußere Bedeutsamkeit haben; aber die innere fehlt ihnen"
(VI, 214). Und im § 111 steht, das Christentum habe „die Grundtendenz des Lebens als
eine moralische nachgewiesen" (VI, 219).
109
Nietzsche spricht von ethischem Sinn, ethischer Bedeutung oder Bedeutsamkeit, von
sittlicher oder moralischer Bedeutung bzw. Bedeutsamkeit etc. — Unter ausdrücklichem
Verweis auf Schopenhauer verwendet Nietzsche eine derartige Formulierung schon in
der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen: „.. .wer, wie Schopenhauer, auf
den ,Höhen der indischen Lüfte* das heilige Wort von dem moralischen Werthe des
Daseins gehört hat..." (KGW III 2, 290).
110
Nachlaß Frühjahr 1880, 2 [3]; KGW V l, 364.
120 Jörg Salaquarda

eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine ethische Bedeutung
über die Schulter gehängt. Das wird einmal ebenso viel und nicht mehr
Werth haben, als es heute schon der Glaube an die Männlichkeit oder Weib-
lichkeit der Sonne hat."111 Eine andere Passage lautet: „Wie Viele schliessen
immer noch: ,es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn es keinen Gott
gäbe!* (oder, wie es in den Kreisen der Idealisten heisst: ,es wäre das Leben
nicht auszuhalten, wenn ihm die ethische Bedeutsamkeit seines Grundes
fehlte!') — folglich müsse es einen Gott (oder eine ethische Bedeutsamkeit
des Daseins) geben!" Diese Notiz ist deswegen besonders interessant, weil
Nietzsche sie stärker als die anderen zum Anlaß nimmt, seine Kritik zu
formulieren und damit zum Problem der »Umwertung' überzuleiten: „In
Wahrheit steht es nur so, dass, wer sich an diese Vorstellungen gewöhnt hat,
ein Leben ohne sie nicht wünscht: dass es also für ihn und seine Erhaltung
nothwendige Vorstellungen sein mögen, — aber welche Anmaassung, zu
decretiren, dass Alles, was für meine Erhaltung nothwendig ist, auch wirk-
lich da sein müsse! Als ob meine Erhaltung etwas Nothwendiges sei! Wie,
wenn Andere umgekehrt empfänden! wenn sie gerade unter den Bedingun-
gen jener beiden Glaubensartikel nicht leben möchten und das Leben dann
nicht mehr lebenswerth fänden! — Und so steht es jetzt!"112 Nietzsche ver-
steht sich als derjenige, der diesen Übergang zum ,jetztc befördert und zu-
spitzt. Da er die noch in einem moralisch-metaphysischen Schlummer Lie-
genden aufwecken will, hat er dem folgenden Aphorismus den Titel „Vom
Traume erwachen" gegeben: „Edle und weise Menschen haben einmal an die
Musik der Sphären geglaubt: edle und weise Menschen glauben noch immer
an die ,sittliche Bedeutung des Daseins*. Aber eines Tages wird auch diese
Sphärenmusik ihrem Ohre nicht mehr vernehmbar sein! Sie erwachen und
merken, dass ihr Ohr geträumt hatte."113
Etwa zur selben Zeit, der die zuletzt gebrachten Zitate entstammen,
hat Nietzsche auch eine Bemerkung niedergeschrieben, die noch einmal deut-
lich herausstellt, wie sehr alle diese Überlegungen durch seinen früheren
Meister und nunmehrigen Antipoden angeregt wurden: „Schopenhauer, der
111
M 3; KGW V l,15 f.
112
M 90; KGW V l, 79 f. — Im Nachlaß zur Morgenröte findet sidi eine Aufzeichnung,
die eine Vorstufe zu dem im Text zitierten Aphorismus sein dürfte. Nietzsche schreibt,
daß viele geglaubt hätten und daß einige immer noch glaubten, „es müsse einen Gott
geben, weil die Menschen ihn nötbig haben" und nennt paradigmatisch M. von Meysen-
bug, deren ,Memoiren einer Idealistin' sie als Vertreterin der von ihm nunmehr ver-
worfenen Weltsicht ausweisen. Für sie „wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn alles
nur eine letzte physische Bedeutung hätte." Nietzsche fügt hinzu: „In Wahrheit ist es
umgekehrt: weil man an Gott oder an die ethische Bedeutung des Daseins gewöhnt ist
zu glauben, vermeint man, ,der Mensch* habe sie nöthig, es sei sonst nicht zu leben
möglich" (Nachlaß Sommer 1880, 4 [57]; KGW V l, 443).
118
M 100; KGW V l, 87 f.
Der Antidirist 121

letzte der die ethische Bedeut(ung) des Daseins vertritt: er fügt seine
triftigen Trümpfe bei, ohne welche er uns nichts schenkt und welche in den
Augen der einen Gattung seiner Leser seine Glaubwürdigkeit ebenso ver-
stärken als sie dieselbe in den Augen einer anderen Gattung verringern."114
Nietzsche, der sich zu der zweiten Gattung zählt, gelangt durch die Ausein-
andersetzung mit Schopenhauers Ethik zu der Erkenntnis: „Mit der mora-
lischen Interpretation ist die Welt unerträglich."115 Daher ist seiner Mei-
nung nach nicht „der Pessimismus... die große Gefahr..., sondern die
Sinnlosigkeit alles Geschehens! Die moralische Auslegung ist zugleich mit
der religiösen Auslegung hinfällig geworden: das wissen sie freilich nicht,
die Oberflächlichen! Instinctiv halten sie, je unfrommer sie sind, mit den
Zähnen an den moralischen Wertschätzungen fest. Schopenhauer als Atheist
hat einen Fluch gegen den ausgesprochen, der die Welt der moralischen
Bedeutsamkeit entkleidet."116 Dieses zuletzt gebrachte Zitat ist übrigens
nicht nur durch die Wendung ,moralische Bedeutsamkeit* der Schopen-
hauerischen ,Antidiriste-Stelle sehr nahe; es enthält außerdem noch das
,Fluchc-Motiv, das schon oben anklang und das sich als Verständnishorizont
für den Untertitel von Nietzsches Spätschrift Der Antiarist herausstellen
wird.
Die Behauptung oder Leugnung einer „moralischen Bedeutung" der
Welt bzw. der Weltentwicklung und -geschichte117, wurde für Nietzsche zu
dem entscheidenden discrimen, mit dessen Hilfe er eine Lehre als aus der
decadence erwachsend zurückwies oder als eine aus Wohlgeratenheit und
Stärke resultierende begrüßte. Nietzsche hat in diesem Zusammenhang eine
große Zahl pauschaler Verwerfungen (sozusagen ,Flüdiec) notiert, in denen
er, mit oder ohne ausdrückliche Nennung Schopenhauers, ethische Theorien
wie die Herbert Spencers und anderer englischer Utilitaristen, Eduard von
114
Nachlaß Anfang 1880, l [82]; KGW V l, 355. — Schopenhauers »triftige Trümpfe'
sind die von ihm behauptete Übereinstimmung seiner Ethik mit der christlidien und
der fernöstlichen. Schopenhauer hat dies mit besonderer Deutlichkeit im ersten Band
der Welt als Wille und Vorstellung ausgesprochen (§ 71; II, 483). Seine Ethik sei zwar
„dem Ausdrucke nach... neu und unerhört", „dem Wesen nach" stimme sie aber völlig
überein „mit den ganz eigentlich christlidien Dogmen"; noch eindeutiger lasse sich die
Übereinstimmung konstatieren „mit den wieder in ganz anderen Formen vorgetragenen
Lehren und ethischen Vorschriften der heiligen Bücher Indiens." — Es ist einsichtig, daß
für ,den Antichrist* Nietzsche eine derartige Übereinstimmung keine Bestätigung, son-
dern eine Widerlegung von Schopenhauers Ethik darstellte.
"5 Nachlaß, WM 845; KA XVI, 262.
118
Nachlaß 1885/86; GA XIII, 90 (Nr. 228).
117
Nietzsche ist bekanntlich nicht bei der ungeschichtlichen Weltsicht Schopenhauers
stehengeblieben, sondern hat in seinem Denken dem Werden, der Entwicklung und der
Geschichte große Bedeutung beigemessen. Den entscheidenden Anstoß dazu hat er wohl
von Heraklit empfangen; später hat er in diesem Zusammenhang mitunter auch auf
Hegel verwiesen, dessen Werke er freilich nie ernsthaft zur Kenntnis genommen hat.
122 Jörg Salaquarda

Hartmanns, Darwins und der Darwinisten etc. zurückweist. Dem ist hier
nicht im einzelnen nachzugehen. Eine derartige Auseinandersetzung ist
jedoch auch für den hier vorgelegten Nachweis von Interesse. Nietzsche las
1887 Jean Marie Guyaus Buch Esquisse d'une Morale sans Obligation ni
Sanction und fand darin die Lehre von der „moralischen Bedeutung" der
Welt sozusagen in klassischer Weise formuliert. Nach der Lektüre notierte
er auf dem Titelblatt: „Dies Buch hat einen komischen Fehler: in dem Be-
mühen, zu beweisen, dass die moralischen Instincte ihren Sitz im Leben
selbst haben, hat Guyau übersehen, dass er das Gegentheil bewiesen hat, —
nämlich dass alle Grundinstincte des Lebens unmoralisch sind, eingerechnet
die sogenannten moralischen."118 Mit einer Art liebevollen Ironie nahm
Nietzsche zur Kenntnis, daß Guyaus Beschreibung der Weltwirklichkeit des
öfteren seiner Auffassung nahe kommt, daß der Franzose aber, im Banne
des ,christlichenc (oder Schopenhauerischen) Ideals, zu entgegengesetzten
Wertungen kommt. In einer von Guyau als möglich beschriebenen, aber
verworfenen Position, erkennt Nietzsche seine Position, die Position ydes
Antichrist* wieder. Er hat die im folgenden zitierte Stelle zum Teil unter-
strichen und am Rand „moi" notiert. „Im tiefsten Grunde des universellen
Monismus kann man eine Art sittlichen Atomismus annehmen, den Kampf
einer Unzahl von Einzelbestimmungen. In diesem Falle würde es in der
Natur soviel Zentren wie Atome geben, soviel Zwecke wie es Einzelwesen
oder wenigstens soviel Zwecke wie es bewußte Gemeinschaften gibt; alle
diese Zwecke könnten einander widersprechen, und der Egoismus wäre dann
das allgemeine Grundgesetz der Natur. Dann fiele die normale Willens-
richtung aller Wesen mit dem zusammen, was man beim Menschen ,un-
moralisch' nennt. Das wäre vielleicht der tiefste moralische Skeptizismus."119
Nietzsches Aufnahme von Schopenhauers ^ntidirist'-Definition und
seine Auseinandersetzung mit der darin gemeinten Sache ist jetzt so weit
nachgezeichnet worden, daß der formale Sinn der ,Umwertung aller Werte'
deutlich herausgetreten ist. Nietzsche kommt zu der Einsicht, daß mit Be-
hauptung oder Bestreitung einer „moralischen Bedeutung" der Welt die
wesentliche und grundlegende philosophische Entscheidung fällt. Gegenüber

118
Nadilaß, GA XIII, 112 f. (Nr. 254). — Die Passage ist audi im Anhang der 1909
erschienenen deutschen Übersetzung von Guyaus Buch abgedruckt (Sittlichkeit ohne
Pflicht, Leipzig 1909, 279).
119
In der in der vorigen Anm. zitierten deutschen Übersetzung auf S. 63. — Guyaus
Beschreibung des ,tiefsten moralischen Skeptizismus* trifft in frappierender Weise
Nietzsches Lehre von den unmoralischen, in beständigem Kampf und in zeitweiliger
Koalition die eine Weltwirklichkeit konstituierenden Machtwillen (vgl. dazu W. Müller-
Lauter, Nietzsche, a. a. O. 26 ff.; erst durch Müller-Lauters nicht-metaphysische Inter-
pretation ,des' Willens zur Macht ist das tatsächliche Maß der Übereinstimmung voll
zutage getreten).
Der Antichrist 123

der breiten Front von, dem ersten Anschein nach zwar sehr verschiedenen,
von dieser entscheidenden Grundlage her aber übereinstimmenden ethischen
,Systemenc, die die moralische Bedeutung bejahen, vollzieht Nietzsche die
entscheidende ,Umwertungc: für ihn ist die Welt und ihre Entwicklung ein
,bloßc physisches Geschehen. Diese grundlegende Umwertung' läßt nichts
unverändert — von ihr her müssen yalle Werte* umgewertet werden. Nietz-
sche versteht sich als ,der Antichristf im Sdiopenhauerisdien Sinne und
nimmt als solcher alle negativen Kennzeichnungen, Verwünschungen und
,Flüchef seines ,Antipodencl2° und aller mit ihm im Grunde Übereinstim-
menden auf sich. ,Umwertungc ist aber keine bloße Umkehrung. Indem
Nietzsche das bisher Verneinte und Verworfene als das Positive bejaht und
das bisher Hochgehaltene, die „moralische Bedeutung", bekämpft und ver-
neint, verändern sich ihm beide ,Positionen* auch in sich. Er verneint nicht
aus Lust am Verneinen, sondern er verneint, und zwar mit zunehmender
Heftigkeit, weil ein in sich Nichtiges allenthalben herrscht und durch seine
Herrschaft das in sich Positive denunziert und an der Entfaltung hindert.
Nietzsche sieht sich aus der Logik der ,Umwertungc heraus gezwungen, die
,Flüchec zurückzugeben.121 In einer schon in anderem Zusammenhang ge-
nannten Passage benutzt Nietzsche sogar die Schopenhauerische Wendung
„Perversität (der Gesinnung)", um einen ,Fluche gegen denjenigen zu schleu-
dern, der seines Erachtens einer der entscheidenden Promotoren der mora-
lischen Ausdeutung der Welt war, nämlich gegen Sokrates. „ . . . die Ent-
natürlichung der Moralwerthe hatte zur Consequenz, einen entartenden
Typus des Menschen zu schaffen... Sokrates ist ein Moment der tiefsten
Perversität in der Geschichte der Menschen."122 Indem Nietzsche den zu-
nächst auf sich genommenen ,Fluchc zurückgibt, ist Entscheidendes gesche-
hen; in nur scheinbarer Paradoxie kommt gerade darin zum Ausdruck, daß
aus dem ,Antic ,des Antichrist" das ,Proc des Exponenten eines dionysischen
Weltverständnisses geworden ist.123
Was im letzten Absatz in schematisierender Zusammenfassung vorweg
genommen wurde, findet einen deutlichen Ausdruck in Nietzsches Arbeiten
aus dem Jahre 1886 — in Jenseits von Gut und Böse und im fünften Buch
120
Nietzsche trug sich eine Zeit lang mit dem Gedanken, die Götzendämmerung ins Eng-
lische übersetzen zu lassen. Als Übersetzerin versuchte er Heien Zimmern zu gewinnen,
die vorher schon Werke Schopenhauers übersetzt hatte. Er schrieb über sie an Gast
(vom 9.12.1888; GBr IV, 427): „sie hat Schopenhauer den Engländern entdeckt:
warum nicht erst recht dessen Antipoden?"
121
Von daher ist der Untertitel zu verstehen, den Nietzsche zuletzt dem Antichrist
gegeben hat. Ich komme darauf im Abschnitt VI der Untersuchung zurück.
122
S. Anm. 103.
128
Vgl. den aufschlußreichen Dialog in M 477: „B: Du hast eben aufgehört, Skeptiker zu
sein! Denn du verneinst! — A: ,Und damit habe ich wieder Ja-sagen gelernt* (KGW
V l, 288).
124 Jörg Salaquarda

der Fröhlichen Wissenschaft, vor allem aber in den neuen Vorreden zu den
älteren Büchern Nietzsdies. Für das Hauptthema dieses Abschnitts, also für
den Nachweis von Nietzsdies Kenntnis und Reflexion von Schopenhauers
^ntichrist'-Definition, kommt dem Versuck einer Selbstkritik, der Vorrede
zur Geburt der Tragödie, die größte Bedeutung zu. Diese Vorrede enthält
nicht nur eine übersichtliche Darstellung der ^mwertungs'-Problematik; in
ihr finden sich sowohl Zitate aus dem § 109 der Parerga II als auch das
Wort ,Antichristc.124
Nietzsche meint, im Rückblick konstatieren zu können, daß er seine
Frühschrift zwar unter dem beherrschenden Einfluß von Vorstellungen und
Begriffen Schopenhauers verfaßt habe, daß er sich aber schon in ihr im
Grundsätzlichen von Schopenhauer abgewandt und gegen dessen morali-
sches Weltverständnis gestellt habe.125 „Bereits im Vorwort an Richard
Wagner wird die Kunst — und nicht die Moral — als die eigentlich meta-
physische Thätigkeit des Menschen hingestellt. .. .Die Welt, in jedem
Augenblicke die erreichte Erlösung Gottes, als die ewig wechselnde, ewig
neue Vision des Leidendsten, Gegensätzlichsten, Widerspruchsreichsten, der
nur im Scheine sich zu erlösen weiss: diese ganze Artisten-Metaphysik mag
man willkürlich, müssig, phantastisch nennen —, das Wesentliche daran ist,
dass sie bereits einen Geist verräth, der sich einmal auf jede Gefahr hin
gegen die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre
setzen wird. Hier kündigt sich, vielleicht zum ersten Male, ein Pessimismus
Jenseits von Gut und Böse' an, hier kommt jene ,Perversität der Gesinnung*
zu Wort und Formel, gegen welche Schopenhauer nicht müde geworden ist,
im Voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern, — eine
Philosophie, welche es wagt, die Moral selbst in die Welt der Erscheinung
zu setzen, herabzusetzen... unter die ,Täuschungene, als Schein, Wahn,
Irrthum, Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst."126 Die sich anschließenden
Äußerungen Nietzsches zeigen noch einmal, daß er Schopenhauers These,
derzufolge dessen Ethik mit der recht verstandenen christlichen völlig über-
einstimmt, vorbehaltlos übernimmt. Der die ,Umwertung' vollziehende
124
Wie im folgenden ausgeführt wird, zitiert Nietzsdie im Absdmitt 5 ausdrücklich (in-
dem er Anführungen setzt) „Perversität der Gesinnung" und zitiert in Paraphrase
(ohne Anführungen) „moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins". Das
Wort jAntichrist* kommt auch im selben Abschnitt und im selben Duktus des Gedan-
kens vor; Nietzsche selbst setzt es aber nicht in direkten Zusammenhang mit dem vor-
her Zitierten. Im Absdmitt 5 des Versuch(s) einer Selbstkritik findet sich somit zwar
der eindeutigste philologische Beleg für die hier entfaltete These, aber auch hier han-
delt es sich, strenggenommen, um einen Indizienbeweis.
125
In diesem Sinne heißt es zu Ende der Götzendämmerung (Was ich den Alten ver-
danke 5; KGW VI 3, 154), die Geburt der Tragödie sei Nietzsches „erste Umwerthung
aller Werthe" gewesen!
126
GT, Versuch einer Selbstkritik 5; KGW III l, 11 f.
Der Antidirist 125

Kampf gegen Schopenhauer ist deswegen zugleich ein Kampf gegen das
,Christentumc und vice versa. Es ist wichtig, sich dies vor Augen zu halten,
wenn man zu einem angemessenen Verständnis von Nietzsches später
,Kampfschriftc Der Antichrist kommen will. Nietzsche schreibt: „Vielleicht
läßt sich die Tiefe dieses widermoralischen Hanges am besten aus dem be-
hutsamen und feindseligen Schweigen ermessen, mit dem in dem ganzen
Buche das Christenthum behandelt ist, — das Christenthum als die aus-
schweifendste Durchfigurirung des moralischen Thema's, welche die Mensch-
heit bisher anzuhören bekommen hat." Indem Nietzsche ,im Grunde* anders
wertet als Schopenhauer und indem er das , Christentum* mit feindseligem
Schweigen übergeht, hat er, wenn auch vielleicht noch nicht in voller Deut-
lichkeit, sein entscheidendes Thema gefunden. „Gegen die Moral also kehrte
sich damals, mit diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als ein für-
sprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche
Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens, eine rein artistische und anti-
christliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich
sie, nicht ohne einige Freiheit — denn wer wüsste den rechten Namen des
Antidirist? — auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hiess sie die
dionysische. —"127 Die „Philosophie des Antidirist", von der Nietzsdie zur
gleidien Zeit in Jenseits von Gut und Böse spricht128, ist eine positive, aus
dem „fürsprediende(n) Instinkt des Lebens" erwachsende Lehre, eine ,dio-
nysische Weitsicht. Sie erscheint nur dem als negativ, der sie vom Boden der
in sidi negativen jdiristlidien* (Sdiopenhauerisdien etc., also überhaupt:
decadence-)Moral aus abschätzt: „denn vor der Moral (in Sonderheit
christlichen, das heisst unbedingten Moral) muss das Leben beständig und
unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmorali-
sdies ist... .«129
Diese gesamte Problematik wird auch in den anderen Vorreden und im
fünften Buch der Tröhlichen ^Wissenschaft ausführlich behandelt, ohne daß
sich vergleichbar deutlidie Rückverweise auf Schopenhauers jAntidirist'-
Stelle fänden. Ich führe noch eine Passage an, da sie Aufnahme und Um-
prägung Sdiopenhauerisdier jBegriife* an einem anderen Beispiel demon-
striert, nämlich anhand des Stidiworts ,Teufelcl3°. Im Rückblick auf sein

127
Ebd.; KGW III l, 12 f.
128
JGB 256; KGW VI 2, 211.
129 GT, Versuch einer Selbstkritik 5; KGW III l, 13.
180
Schopenhauer identifiziert an vielen Stellen die Welt mit dem Teufel, bzw. die Welt mit
der Hölle und die Menschen in ihr mit Teufeln, freilich mit ,Teufeln' die immer auch
die Opfer ihrer eigenen ,Teufelei' sind (z.B. Welt als Wille und Vorstellung I; II, 383
und II; III, 663, 666; Parerga I; V, 433 und II; VI, 107, 319, 391). Auch hierin meint
Schopenhauer nur die ,Wahrheit' der ,christlichene (und der persischen) Mythologie
formuliert zu haben (vgl. Welt als Wille und Vorstellung II; III, 717 f.) und er zitiert
126 Jörg Salaquarda

erstes Aphorismenbuch schreibt Nietzsche, er habe gehört, daß man aus


dessen Lektüre „nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die
Moral" hervorgehe, und er fügt bestätigend hinzu: „In der That, ich selbst
glaube nicht, dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die
Welt gesehn hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, son-
dern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer
Gottes.. .*131.

VI.

Das Hauptziel dieser Untersuchung, die Klärung und Erläuterung


dessen, was Nietzsche mit dem Wort Antichrist' bezeichnet, ist jetzt er-
reicht. Um dahin zu gelangen, mußten verschlungene Wege eingeschlagen
und mußten eine Reihe wichtiger Aspekte der Philosophie Nietzsches

etwa zustimmend Joh. 12,32, wo der Teufel „Fürst dieser Welt" genannt wird. — Für
Nietzsche dürften einige andere Stellen noch aufschlußreicher und ,anstößiger* zugleich
gewesen sein, an denen Schopenhauer konkreter wird und den /Teufel* als die personifi-
zierte Verlockung zum Leben ansieht (Welt als Wille und Vorstellung I; II, 464), bzw.
ihn, noch spezieller, mit dem Geschlechtstrieb in eins setzt (Parerga I; V, 524). In
Entsprechung zu der zuletzt genannten Stelle heißt es im zweiten Band der Parerga
(S 166; VI, 335): „der Beischlaf ist sein (sc. des Teufels) Handgeld und die Welt ist
sein Reich."
Nietzsche hat auch das Wort ,Teufel* von Schopenhauer übernommen und im Zu-
sammenhang der Umwertungsproblematik verschiedentlich benutzt. Wie er den Anti-
christ* ins Positive wendet, so auch den ,Teufel*. Er will nicht bloß „Anwalt des Teu-
fels", sondern auch dessen „Ehrenretter" sein (Nachlaß Herbst 1887, 10 [105]; KGW
VIII 2, 180). Im Kontext eines oben gebrachten und erörterten Zitats heißt es folge-
richtig, im Blick auf Schopenhauers Ethik: „Populär geredet: Gott ist widerlegt, der
Teufel nicht" (Nadilaß 1885/86, GA XIII, 90 f., Nr. 228; vgl. oben S. 21 und Anm.
116). — In Jenseits hat Nietzsche diesen Gedanken weitergeführt. Zunächst heißt es
auch dort im Anschluß an eine Beschreibung der Welt als „,Wille zur Macht* und
nichts ausserdem" (JGB 36; KGW VI 2, 51, vgl. dazu den Schluß von Nadilaß, WM
1067; KA XVI, 402): „,Wie? Heisst das nicht, populär geredet: Gott ist widerlegt, der
Teufel aber nicht —?*" Da diese Folgerung jedoch nur dann Gültigkeit besäße, wenn
die Schopenhauersche Wertung gültig bliebe, Nietzsche aber von der schon vollzoge-
nen ,Umwertung* her denkt, fährt er fort: „Im Gegentheil, meine Freunde! Und, zum
Teufel nicht" (Nadilaß 1885/86, GA XIII, 90 f., Nr. 228; vgl. oben S. 121 und Anm.
Eine wichtige Rolle spielt der ,Teufel* in Also sprach Zarathustra, was hier nicht weiter
verfolgt werden soll. — Nietzsches sich steigernde Empörung über die Denunzierung
und ,Verteufelung* der Geschlechtlichkeit durch das Christentum*, die sich besonders
prägnant im vierten Satz des »Gesetzes wider das Christentum* niedergeschlagen hat,
dürfte zu einem beträchtlichen Teil aus seiner fraglosen Identifizierung von christlicher
und Schopenhauerscher Ethik erwachsen sein: „Die Predigt der Keuschheit ist eine
öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens,
jede Verunreinigung desselben durch den Begriff »unrein* ist die eigentliche Sünde wider
den heiligen Geist des Lebens" (AC; KGW VI 3, 252).
181
MA I, Vorrede l; KGW IV 2, 7.
Der Antichrist 127

wenigstens ein Stück weit thematisiert werden. Im ersten Abschnitt wurde


dargelegt, daß Nietzsches Gebrauch des Wortes jAntichrist* und vor allem
die Erhebung dieses Wortes zum Titel einer von Nietzsche selbst für ent-
scheidend angesehenen Schrift Probleme aufwirft, die von der bisherigen
Nietzsche-Forschung entweder gar nicht gesehen oder völlig unzulänglich
behandelt worden sind. Der zweite Abschnitt arbeitete die Vorurteile her-
aus, die diesen merkwürdigen consensus in falso bedingt und erleichtert
haben und der dritte Abschnitt trug eine Reihe von Äußerungen Nietzsches
zusammen, die sich auf den ersten Blick dem bisherigen Verständnis fügen.
Diese Analyse machte es nötig, einige Grundprobleme von Nietzsches
,Kampf gegen das Christentum* in den Blick zu nehmen. Schon in diesem
Abschnitt zeigte sich schließlich das Unzureichende des bisherigen Verständ-
nisses, da Nietzsche das Wort jAntichrist* offensichtlich primär zur Bezeich-
nung einer in sich positiven Haltung, erst sekundär einer Negation und
Verwerfung verwendet. Diese Einsicht wurde anhand der wichtigsten ,Anti-
christ'-Stellen im vierten Abschnitt breiter entfaltet und erhärtet, wobei das
Problem der ,Umwertung aller Werte* und sein Zusammenhang mit dem im
Wort ,Antichrist* Ausgedrückten in den Blick kam. Der fünfte Abschnitt
nahm die erzielten Ergebnisse und die durch sie aufgeworfenen Fragen auf
und führte das Problem einer Lösung zu. Es wurde gezeigt, daß Nietzsche
seine Grundproblematik der ,Umwertung aller Werte' in ständiger Ausein-
andersetzung mit Schopenhauer entfaltet und bedenkt und daß sein zu-
nächst von Schopenhauer übernommenes, dann allmählich umgewertetes"
Verständnis des ,Antichrist* ganz in diesen Sachzusammenhang einbehalten
war. Kernstück dieses Abschnittes war der philologische Nachweis von
Nietzsches Kenntnis der Schopenhauerschen ,Antichrist*-Definition, einer
,Kenntnis*, die von vornherein kritische Diskussion und Polemik einschloß.
Nietzsches ,Aufnahme* von Schopenhauers ,Antichristc-Definition wurde so-
mit zu einem konkreten und anschaulichen Beispiel für sein Verhältnis zu
Schopenhauer überhaupt.
Es würde den Rahmen eines Aufsatzes sprengen, nun auch nur die
wichtigsten Konsequenzen der hier vorgelegten Untersuchung für die Inter-
pretation vor allem von Nietzsches Spätwerk ausführlich darzulegen. Ich
muß mich darauf beschränken, einiges anzudeuten:
1. Wenn Nietzsche ,Antichrist* oder gar ,der Antichrist* sagt, dann hat
er primär den Träger einer positiven, aus der (physiologischen) Wohl-
geratenheit resultierenden Weltsicht im Blick. ,Antichrist* meint im Grunde
dasselbe, was Nietzsche auch durch die Namen Zarathustra oder Dionysos
signalisiert. In der letzten Phase seines Schaffens hat Nietzsche das Wort
jAntichrist* immer häufiger verwendet. Einige wichtige Stellen wurden
im Abschnitt IV vorgestellt und interpretiert. Dazu kommen noch drei
128 Jörg Salaquarda

Unterschriften132 und der Buchtitel, von dem diese Untersuchung ihren


Ausgang nahm. Die Unterschriften dürfen als solche, also abgesehen vom
Zusammenhang, zweifellos nicht als Indizien für beginnende geistige Um-
nachtung genommen werden. Sie gehören in die Reihe der Ankündigungen,
Pläne und Maßnahmen Nietzsches, die zeigen, daß er im letzten Drittel des
Jahres 1888 seine bisherige einsiedlerische Existenz weise aufgeben und die
Phase einer direkten Wirksamkeit beginnen wollte.
Es ist auch verfehlt, wenn man aus Titel, Untertitel und Inhalt der uns
vorliegenden Schrift Der Antidorist folgern wollte, Nietzsche sei ganz und
gar in der Verneinung steckengeblieben, er sei allen Ankündigungen und
Bemühungen zum Trotz nicht zu einer ,Positionc vorgedrungen.133 Daß
diese These jedenfalls von dem Titel der Schrift nicht bestätigt wird, ist nach
den bisherigen Ausführungen wohl nicht zu bestreiten. Entgegen dem ersten
Anschein wird die These auch durch den Untertitel nicht bestätigt. Das
Christentum', gegen das Nietzsche seinen ,Fluchc schleudert, ist nur vor-
geschobener Exponent für die in sich nichtige, das Leben und seine Ent-
faltung vergiftende ^ristlich'-Sdiopenhauerisdie (also letztlich decadence-)
Moral, die >der Antichrist* als der ,Umwerter aller Werte' besiegt und über-
wunden hat. Der ,Fludi' selbst ist als die ,Umwertung' von Schopenhauers
,Fluchc gegen ,den Antichrist' zu verstehen134. Wie schon angedeutet wurde
und wie im folgenden noch deutlicher zu entfalten sein wird, bedeutet
»Umwertung* für Nietzsche nicht nur Umkehrung. Seine das Leben be-
jahende dionysische Weltsicht ist als solche zwar immer auch Negation und
Verwerfung, nämlich dessen, was von dem sich entfaltenden Leben aus je
als das zu Überwindende ausgelegt wird; sie ist aber zunächst und ,in sich*
kein ,Fludic. Dagegen ist die Ressentiment-Moral nach Nietzsches Einsicht
von vornherein etwas in sich Negatives, das, um überhaupt bestehen zu
können, der vorgegebenen Wertung der ,Starkenc bedarf. Die Ressentiment-
132
Sie stammen aus der Zeit um die Jahreswende von 1888 zu 1889. Das „Gesetz wider
das Christentum" ist unterzeichnet „Der Antichrist" (AC; KGW VI 3, 252), welche
Unterschrift die frühere „Friedrich Nietzsche" ersetzte (diese Angabe beruht auf einer
Information von M. Montinari; E. F. Podach, Nietzsches Werke des Zusammenbruchs,
a. a. O. 158, hat die gestrichene Unterschrift irrtümlich als „Nietzsche — Antichrist"
entziffert). — Der Entwurf zu einem Brief an Cosima Wagner, den Nietzsche dieser
zusammen mit dem Ecce homo übersenden wollte, trägt ebenfalls die Unterschrift „Der
Antichrist" (Podach hat, a. a. O. 166, eine nicht ganz richtige, Fehler und Lücken auf-
weisende Entzifferung dieses Briefentwurfs veröffentlicht. Den korrekten Text bietet
jetzt M. Montinari, Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo", a. a. O. 395 und
Anm. 28). — Schließlich hat Nietzsche einen weiteren Briefentwurf mit der Doppel-
unterschrift „Der Antichrist/Friedrich Nietzsche" versehen (Adressat sollte Otto von
Bismarck sein; mitgeteilt bei Podach, a. a. O. 167).
133
Ich erinnere an die im Abschnitt I (S. 94 und Anm. 14) erwähnte These von Barth, die
dem, was viele Autoren nur andeutungsweise sagen, unverblümten Ausdruck gibt.
134
Vgl. oben S. 119 und Anm. 109.
Der Antichrist 129

Moral äußert sich daher notwendig und primär als ,Fluchc. Gegen diesen
Fluch nun und nur gegen ihn ist Nietzsches ,Fluch auf das Christenthum',
der umgewertete, nicht bloß umgekehrte Fluch gerichtet. Daß schließlich der
Inhalt des Antichrist sich keineswegs in Negationen, vor allem nicht in der
Bekämpfung des , Christentums' erschöpft, ist schon des öfteren erkannt und
erörtert worden. Es ist von Bedeutung, daß hier gezeigt werden konnte, daß
derartige ,positivec Tendenzen keineswegs dem Titel ujid dem Untertitel der
Schrift widersprechen.
Daß Nietzsche den Antichrist zuletzt als die ganze Umwerthung aller
Werthe verstanden hat, steht fest, wie zu Beginn unter Berufung auf
die von Mazzino Montinari veröffentlichten Dokumente herausgestellt
wurde.135 Die hier vorgelegte Klärung und Erläuterung des Wortes ,Anti-
christ' kann als eine wichtige Ergänzung des dokumentarischen Beweises
angesehen werden; macht sie doch deutlich, daß für Nietzsche der Sache
nach die beiden Titel Umwerthung aller Werthe und Der Antichrist aufs
engste zusammengehörten.
2. Nietzsche hat das Wort ,Antichristc von Schopenhauer aufgenom-
men; sein spezifisches Verständnis des durch dieses Wort bezeichneten Sach-
verhalts wird nur verständlich, wenn man von der Philosophie seines philo-
sophischen Lehrmeisters ausgeht und seine nie abgeschlossene Auseinander-
setzung mit diesem berücksichtigt. Der philologische, die einzelnen Schritte
nachzeichnende Nachweis hat somit an einem konkreten Beispiel gezeigt,
daß es in gleicher Weise verfehlt ist, entweder Schopenhauers Einfluß auf
das Denken des reifen Nietzsche ganz zu bestreiten oder zu behaupten*
Nietzsche sei über eine bloße negative Wendung gegen Schopenhauer nie
hinausgekommen. Die Untersuchung hat damit auch die folgende bekannte
Äußerung Nietzsches verständlich werden lassen, die er in einem Brief an
Gast formulierte: „Ueber die dritte und vierte Unzeitgemäße werden Sie
im Ecce homo eine Entdeckung lesen, daß Ihnen die Haare zu Berge stehn,
mir standen sie auch zu Berge. Beide reden nur von mir, anticipando ...
Weder Wagner, noch Schopenhauer kamen psychologisch drin vor... Ich
habe beide Schriften erst seit 14 Tagen verstanden. —"136 Das Schlüsselwort
zum Verständnis dieser Passage heißt ^psychologisch*. Nietzsche bezeichnet
185
Vgl. Abschnitt I, bes. S. 93 f. und Anm. 12.
138
An Gast vom 9.12.1888; GBr IV, 428. Die Aussage bezieht sich auf: EH, Die Unzeit-
gemässen 3; KG W VI 3, 317 f., vgl. bes.: „Dass die mit den Namen Schopenhauer
und Wagner abgezeichneten Unzeitgemässen sonderlich zum Verständniss oder auch nur
zur psychologischen Fragestellung beider Fälle dienen könnten, möchte ich nicht be-
haupten, ... Dergestalt hat sich Plato des Sokrates bedient, als einer Semiotik für
Plato. ... zugegeben ..., dass hier im Grund nicht »Schopenhauer als Erzieher', sondern
sein Gegensatz, »Nietzsche als Erzieher* zu Worte kommt." Vgl. auch Nachlaß Frühjahr
1880,3 [124];KGWV1,417.
130 Jörg Salaquarda

mit ihm die Abschätzung von ,Stärke' oder jSdrwäche' höherer Organisa-
tionen, vor allem der Menschen. Die Psychologie erkennt die Kongregation
der Triebe oder Wohlgeratenheit, bzw. die Disgregation der Triebe oder
decadence. Schopenhauer kommt in der dritten Unzeitgemäßen Betrach-
tung zwar jlogisch' vor — seine Fragestellungen und Probleme werden in
von ihm geprägten Begriffen verhandelt; er kommt aber nicht psycholo-
gisch' vor — der Autor der Schrift hat seine „erste Umwerthung aller
Wer the", nämlich die Geburt der Tragödie137 schon hinter sich und wertet
von einer anderen, ,umgewerteten' Grundlage aus als sein ,Titelheldf.
3. Indem Nietzsche Schopenhauers Problemstellung aufnimmt und sich
mit ihr auseinandersetzt, gewinnt er die Einsicht von der Notwendigkeit
einer ,Umwertung aller Werte'. Im ,positiven Gebrauch' von dem Wortlaut
nach ,negativen* Begriffen — hier besonders anhand des Wortes Antichrist'
exemplifiziert — ist die ,Umwertung' bereits vollzogen und vorausgesetzt.
Man darf sich über das Ausmaß der Konsequenzen, die dieser Vorgang nach
sich zieht, keiner Täuschung hingeben. Nietzsches ,umgewertete Position' ist
nicht einfach identisch mit der vorher verworfenen. ,Umwertung' ist nicht,
mathematisch zu reden, Vertauschung der Vorzeichen, Setzung eines ,plus'
anstelle eines ,minus'. Die Abschaffung der metaphysischen ,wahren Welt'
läßt z. B. nach Nietzsches Einsicht die ,Ersdieinungswelt' keinesfalls unver-
ändert138 etc. Nietzsches zentrale Gedanken und Themen, vor allen die
durch die Stichworte Wille zur Madnt, Übermensch und Ewige Wiederkunft
des Gleidoen bezeichneten, müssen von der so verstandenen ,Umwertung'
her interpretiert werden, wenn man ihren Sinn nicht von vornherein ver-
fehlen will.139 Die ,Umwertung' ist sozusagen in jedem einzelnen Fall nach-
zuvollziehen, nicht bloß die veränderte Bewertung ist zu konstatieren, son-
dern die Veränderung ist darzustellen, die das Bezeichnete durch die ,Um-
wertung' in sich erfährt.
4. Im Lauf der Untersuchung erwies es sich als nötig, auch Nietzsches
Auseinandersetzung mit ,dem Christentum' in den Blick zu nehmen. Dabei
konnte dieses komplexe und vielbehandelte Thema natürlich nur in seinen
Umrissen bedacht werden. Trotzdem ist mindestens ein Punkt deutlich zu-
tage getreten, nämlich die Einsicht, daß dieser Auseinandersetzung im Gan-

137
GD, Was idi den Alten verdanke 5; KGW VI 3, 154.
138
Den wichtigsten Beleg dafür gibt der Abschnitt „Wie die ,wahre Welt* endlich zur
Fabel wurde" in der Götzendämmerung (KGW VI 3, 74 f.). Der entscheidende Satz
lautet: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare
vielleicht?... Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare ab-
geschafft!" (a. a. O. 75).
189
Müller-Lauter hat überzeugend herausgearbeitet, wie wenig die im Text genannten
Konzeptionen und auch andere, wie z. B. ,Wahrheit', in Nietzsches Philosophie noch
den gängigen Vorstellungen entsprechen, die ,vor' der JJmwertung' liegen.
Der Antichrist 131

zen der Denkbewegung Nietzsches nur sekundäre Bedeutung zukommt.


Nietzsches ,antichristliche Polemik'140 ist zum einen schon deswegen sekun-
där, weil sie sich nicht direkt am Christentum und an dessen Selbstverständ-
nis entzündet hat, sondern an Schopenhauers Ethik. Nietzsche hat Schopen-
hauers These, derzufolge der wesentliche Kern des jChristentums' in einer
Morallehre bestehe, die mit seiner — Schopenhauers — lebensverneinender
Moral übereinstimme, nie in Zweifel gezogen. Als er durch seine vertiefte
Einsicht in das Problem und im Zuge seiner Überwindung des (Schopen-
hauerschen) schwachen" Pessimismus zum entschiedenen Gegner der Ethik
seines einstigen Lehrmeisters wurde, war es prinzipiell für ihn gleich-gültig,
in welcher Gestalt er sie bekämpfte. Um der besseren Verständlichkeit und
der größeren Wirkung willen richtete sich seine Polemik mehr und mehr
gegen die ,diristliche Gestalt' der weltverneinenden, aus der Schwäche ent-
springenden Moral.
Nietzsches ,antichristliche Polemik* ist zum zweiten auch deswegen
sekundär, weil sie überhaupt Polemik, Verneinung und Bestreitung ist.
Denn die Negation ist für Nietzsche immer das Sekundäre, sie kann seiner
Einsicht nach nur dann kräftig sein, wenn sie in einer positiven Haltung ver-
wurzelt ist, wenn sie, wie hier gezeigt wurde, in der ,Philosophie des Anti-
christ* gründet. Daß das Positive, die Weltbejahung, das erste ist und die
sich aus ihr ergebende Verneinung zwar nicht fehlen darf, aber immer das
zweite bleibt, ist ein entscheidend wichtiges Merkmal der neuen, ,umgewer-
teten* Moral und zugleich das Hauptargument für sie und gegen die Ressen-
timent-Moral. Mit letzterer steht es ja nach Nietzsches Einsicht genau um-
gekehrt: bei ihr ist die Verneinung, der ,Fludic auf die aus der Stärke er-
wachsende Lebensbejahung, das Primäre, aus dem reaktiv eine ,Position' —
in Wahrheit die Pervertierung einer Position — gewonnen und entwickelt
wird.141
5. Ein Ergebnis dieser Untersuchung soll zum Abschluß etwas ausführ-
licher dargelegt werden. Es betrifft Nietzsches Auffassung von der Sprache.
Es ist bekannt, daß Nietzsche schon ziemlich früh ein begriffliches Verständ-
140
Mit ,Polemik' meine ich die bekannten heftigen Angriffe der Achtzigerjahre, besonders
in den Schriften von 1888 und dem dazugehörigen Nachlaß. Nietzsches frühere, im
Verhältnis zu den genannten Äußerungen sehr maßvoll formulierte kritische Ana-
lysen des »Christentums' können und müssen hier außer Betracht bleiben.
141
Nietzsche hat diese seine These vor allem in der ersten Abhandlung der Genealogie
dargelegt („Gut und Böse", „Gut und Schlecht"; KGW VI 2, 269 ff.). — Die Ressenti-
ment-Moral unterscheidet sich seiner Meinung nach von der Weltbejahung der Wohl-
geratenen nicht dadurch, daß sie keinen ,Krieg' führt, sondern dadurch, daß ihr »Krieg'
sowohl selbstzerstörerisch ist als auch vergiftend auf die Wohlgeratenen wirkt. Die
Ressentiment-Moral befindet sich in einem fundamentalen, unaufhebbaren Widerspruch,
indem sie das Fundament verwirft, von dem sie als in sich nichtige Verneinung ab-
hängig bleibt, mit dessen völliger Vernichtung sie auch sich selbst vernichtet hätte.
132 Jörg Salaquarda

nis der Sprache zurückgewiesen hat. Die durch Begriffe ausgedrückten


, Wahrheiten' im Sinne einer adaequatio intellectus et rei enthüllen sich ihm
als ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphis-
men", als „eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und
rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem
Gebrauch einem Volk fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahr-
heiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind,
Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die
ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in
Betracht kommen."142 Nietzsche hat die in diesen Sätzen ausgedrückte Er-
kenntnis zeitlebens festgehalten und sie in einer Fülle von — veröffent-
lichten wie nachgelassenen — Aufzeichnungen entfaltet, vertieft und aus-
geweitet. Er hat, generell gesehen, das Streben nach sprachlich-logischer
Eindeutigkeit als Ausdruck von Schwäche und decadence zurückgewiesen.
Seine diesbezüglichen Einwände und sein , Verdacht* haben nicht einmal vor
der Grammatik haltgemacht, die er auf „physiologiscbe(r) Werthurteile und
Rassebedingungen" zurückführen zu können meinte. Als schematisierter
Ausdruck einer bestimmten Weltsicht liege allen expliziten philosophischen
,Systemenc des indogermanischen Sprachraums eine „gemeinsame(n) Philo-
sophie der Grammatik" zugrunde.143 Daß man „in Indien wie in Griechen-
land ... den gleichen Fehlgriff gemacht" habe, deutet nach Nietzsches Mei-
nung darauf hin, daß die moralischen Vorurteile tief verwurzelt sind und in
der Grammatik eine bleibende Stütze haben. Er befürchtet daher, daß wir
„Gott nicht los (werden), weil wir noch an die Grammatik glauben"144.
Wie der Intellekt überhaupt, so ist natürlich auch die Logik für Nietz-
sche etwas Gewordenes, hinter dem bestimmte (Lebens-)Interessen stehen.
Nietzsche führt die Logik auf einen Willen zum Gleichsetzen des in Wahr-
heit bloß Ähnlichen zurück, der eine wesentliche Erleichterung des Lebens
mit sich bringt. „Vor der Logik, welche überall mit Gleichungen arbeitet,
muss das Gleichmachen, das Assimiliren gewaltet haben: und es waltet noch
fort, und das logische Denken ist ein fortwährendes Mittel selber für die
Assimilation, für das Sehen-wollen identischer Fälle."145 Nietzsche stößt in

142
Über Wahrheit und Lüge 1; KGW III 2, 352 f. — Vermutlich steht auch hinter dieser
Einsicht Nietzsches ein Schopenhauerischer Gedanke, nämlich der vom sekundären
Charakter des Intellekts gegenüber dem Willen. Man vergleiche z. B. die Anfangs-
passage von Über Wahrheit und Lüge mit dem Beginn des zweiten Bandes der Welt
als Wille und Vorstellung („Zur idealistischen Grundansicht"; WW III, 3 f.).
145
JGB 20; KGW VI 2, 29 und 28.
144
GD, Die „Vernunft" in der Philosophie 5; KGW VI 3, 72. — Vgl. J. Simon, Gramma-
tik und Wahrheit, in: Nietzsche-Studien l, 1972, l ff.
145
Nachlaß, GA XIII, 236 (Nr. 571). — Zum Problem der Genealogie der Logik vgl.
Müller-Lauter, Nietzsche, a. a. O. 11 ff.
Der Antichrist 133

diesem Zusammenhang freilich auf eine Schwierigkeit. Er durchschaut zwar


das Gewordensein von Grammatik und Logik und die hinter beiden wir-
kenden (Lebens-) Interessen, er erkennt, daß Grammatik und Logik keines-
wegs , Wahrheit' garantieren, sondern nur eine bestimmte Perspektive ein-
seitig absolut gesetzt haben. Diese Einsichten befreien ihn aber nicht von
dem Zwang, sich bei der Mitteilung seiner Gedanken und Lehren im Rah-
men der vorgegebenen Grammatik zu halten und sich der Logik zu be-
dienen. „Daß die Logik wirklichkeitsinadäquat ist, läßt sie keineswegs
entbehrlich werden"146, und Entsprechendes ist von der Grammatik zu
sagen147. Nietzsche bedient sich beider, indem er sie in Analogie zu Kants
regulativen Ideen versteht. Was Grammatik und Logik betrifft, so unter-
scheidet er sich von früheren Philosophen nur durch die bessere Erkenntnis
von deren , Wesen', nicht durch den Gebrauch.
Anders verhält es sich hinsichtlich der Verwendung der Wörter. Hierin
hat Nietzsche sich seiner Meinung nach am stärksten von der bisherigen
Praxis abgesetzt — wobei er freilich im wesentlichen Plato, Aristoteles und
die rationale Metaphysik der Neuzeit im Blick hat, während er vor allem
die Philosophie des Deutschen Idealismus kaum aus eigener Lektüre kennt.
Nietzsches Intention und die aus ihr erwachsende Sprachpraxis sind nun in
der Tat mindestens der rationalen Metaphysik genau entgegengesetzt. Er
will ,klare und deutliche Begriffe* vermeiden, da diese, je eindeutiger sie
werden, sich desto weiter von der , Wirklichkeit* entfernen, die sie aus-
drücken sollen. Denn ,Wirklidikeitc ist nichts statisch Vorgegebenes, keine
wenigstens in ihrer Grundlage klar und deutlich als solche erkenn- und
fixierbare Größe, sie ist weder dem Denken zugängliche ,wahre Weltc, noch
den Sinnen zugängliche Erscheinungswelt. , Wirklich' ist für Nietzsche je
das, was von einer abschätzenden Perspektive als wirklich ,erlebtc und ,er-
fahren* wird, welche beiden Ausdrücke dabei nicht passivisch zu verstehen
sind; , erleben' und ,erfahren' heißt so viel wie: allererst das, was erlebt*
bzw. ,erfahren' wird, als ,Erlebbares' oder ,Erfahrbares' konstituieren. Das
jeweils ,Erfahrene' im Sinne von: als ,erfahrbar Konstituierte" ist es nun,
was die Wörter der Sprache ausdrücken sollen. Da die Grade des ,Erfahrens'
je nach Stärke oder Schwäche des Konstituierenden höchst verschieden sind,
ist es unvermeidlich, daß gleiche Wörter höchst Verschiedenes aussagen.148
Von einer solchen Weltsicht aus muß sich zwangläufig das Streben nach
140
Müller-Lauter, Nietzsche, a. a. O. 13.
147
Simon, Grammatik und Wahrheit, a. a. O. 10 if.
148
Aus einer Vielzahl möglicher Belegstellen seien hier einige wenige herausgestellt, in
denen Nietzsche das im Text kurz Zusammengefaßte zu besonders deutlichem Ausdruck
bringt. In der Morgenröte (502; KGW V l, 299) zeigt er am Beispiel des Wortes
göttlich', wie verschiedene Empfindungen durch ein und dasselbe Wort ausgedrückt
134 Jörg Salaquarda

,klaren und deutlichen Begriffen* erstens als Illusion enthüllen, da das darin
Erstrebte wesenhaft nie erreicht werden kann; zum zweiten — und dies ist
für Nietzsche entscheidender — enthüllt sich solches Streben als Ausdruck
von Schwäche und d cadence, da in ihm der Wille zu Auseinandersetzung
und Überwältigung nicht mehr offen, sondern in seiner das Leben vergiften-
den Ressentiment-Form auftritt.
Nietzsche schlägt zwei einander ergänzende Wege ein, um nicht seiner-
seits in eine begriffliche Fixierung von Wörtern, zumal von Grundwörtern
seines Denkens zu verfallen. Zum einen vermeidet er es, Wörter zu ver-
wenden, die im bisherigen Philosophieren eine eindeutige begriffliche Fest-
legung erfahren haben bzw., wenn er solche Wörter nicht ganz vermeiden
kann, wie z. B. im Falle von ,Dingc, ,Wahrheitc u. a., dann schickt er
ihrer Verwendung meist eine ausdrückliche Destruierung ihres begrifflich-
fixierenden Charakters voraus. Wenn man diese Problematik beachtet, dann
lösen sich eine Reihe von scheinbaren Widersprüchen im Werk Nietzsches
auf. „Nietzsche verwirft... alle ... Worte, sofern mit ihnen der Anspruch
des Begriffs erhoben wird, und gebraucht sie lediglich als ^Zeichen'. Sie sollen
auf Sachverhalte nur hinweisen. Man muß diesem ihren Hinweisungscha-
rakter folgen, man darf sich nicht auf sie versteifen, man muß das ,Begriff-
lichec hinter sich lassen, um zu dem zu gelangen, was ,wirklich vorhanden"
ist."149 Nietzsche bevorzugt es allerdings, neue Wörter zu schaffen bzw.
bisher wenig beachtete und daher auch nicht allzusehr festgelegte zu philo-
sophischer Dignität zu erheben.
Was diesen ersten Aspekt von Nietzsches Vorgehen anlangt, so treffen
für das Wort ,Antichrist' imgrunde beide Möglichkeiten zu: es hatte durch
die christliche Theologie und durch Schopenhauers philosophische Interpre-
tation eine gewisse begriffliche Fixierung erfahren, die Nietzsche destruierte;
es war andrerseits im allgemeinen philosophischen Sprachgebrauch so gut

werden können, und gibt dem Aphorismus daher den Titel „Ein Wort für drei ver-
schiedene Zustände". In der Fröhlichen Wissenschaft kommt Nietzsche mehrmals auf
den Problemkreis Empfindung — Gedanke — Wort zu sprechen, etwa in den folgen-
den Ausführungen, denen er den Titel „Seufzer" gegeben hat: „Ich erhaschte die Ein-
sicht unterwegs und nahm rasch die nächsten schlechten Worte, sie festzumachen, damit
sie nicht wieder davonfliege. Und nun ist sie mir an diesen dürren Worten gestorben
und hängt und schlottert in ihnen" (FW 298; KA V, 228). — Das in diesem Zu-
sammenhang auftauchende hermeneutische Problem beschreibt Nietzsche einmal wie
folgt: „Worte sind Tonzeichen für Begriffe; Begriffe aber sind mehr oder weniger be-
stimmte Bildzeichen für oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen,
für Empfindungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass
man die selben Worte gebraucht: man muss die selben Worte auch für die selbe
Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander
gemein haben." (JGB 268; KGW VI 2, 231).
149
Müller-Lauter, Nietzsche, a. a. O. 21.
Der Antichrist 135

wie unbekannt.150 Audi dieses Wort kann natürlich mißverstanden werden,


aber weniger in Richtung auf abstrakte Begrifflichkeit, eher schon in eine
von Nietzsche gewünschte Richtung.151 Die Analysen haben gezeigt, wie
vielschichtig Nietzsche selbst das Wort verwendet. Es gehört zu dem von
ihm bejahten metaphorischen Charakter, daß das Wort verschiedene, unter-
einander zusammenhängende Sachgehalte bezeichnet und dementsprechend
verschiedenen Lesern, je nach dem Grad ihrer Verständnismöglichkeiten,
Verschiedenes sagt. ,Der Antichrist' ist in der Tat and) ein Gegner des
Christentums* in allen seinen Erscheinungsformen, und viele werden beim
Hören des Titels ,Antichrist' nur das verstehen. Ein solches Verständnis
bleibt zwar oberflächlich, ist aber dem von Nietzsche Gemeinten nicht gänz-
lich inadäquat. Man könnte vielleicht sagen, daß es ein — Nietzsche nicht
unerwünschtes — Af/ßverständnis, aber kein \alsdnes Verständnis ist. Leser,
die schon ein wenig von Nietzsche gehört oder gelesen haben, werden viel-
leicht ,mehrc verstehen: nämlich daß dieser ,Antichrist* primär die christliche
Moral verneint, vielleicht sogar, daß sein Kampf der christlichen Moral nur
insofern gilt, als diese der mächtigste Ausdruck der aus dem Ressentiment
erwachsenden Moral darstellt. Nur wenige, z. B. die zu Beginn des Anti-
dnrist angesprochenen „Hyperboreer" 152 werden zunächst dafür ,Ohren
habenc, daß ,der Antichrist* Friedrich Nietzsche der Exponent einer neuen
lebensbejahenden ,Moralc ist, in der alle seine Verneinungen und fluche*
ihren sachlichen Grund und ihr conditio sine qua non haben.
Damit ist freilich nur der eine Aspekt der Sache sichtbar gemacht wor-
den, derjenige, der sich bei sorgfältiger Lektüre und methodischer Arbeit
philologisch ohne allzu große Schwierigkeiten nachweisen und herausstellen
läßt. Dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen, und er ist wohl die Voraus-
setzung dafür, daß der andere überhaupt in angemessener Weise themati-
siert werden kann — nicht ohne Grund hat Nietzsche gefordert, seine
Schriften müßten mit der gleichen Sorgfalt gelesen und interpretiert wer-
den, die die Philologen den Texten des griechischen und römischen Alter-
tums angedeihen lassen.158 Der andere Aspekt ist aber der grundlegendere
150
Schopenhauers Sprachgebrauch hat m. W. auch keine weiteren Auswirkungen gehabt.
151
Aus gutem Grund wurden in der gesamten Untersuchung die "Wendungen ,das Wort
Antichrist* bzw. der ,Titel Antichrist', aber nicht ,der Begriff Antichrist* gebraucht. —
Buchtitel wie: Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen (O. Ewald, Berlin 1903) oder
Nietzsches „System" in seinen Grundbegriffen (E. Heintel, Leipzig 1939) sollten den
Leser von vornherein mißtrauisch stimmen — nicht, weil Nietzsches Denken keinen
systematischen Grundzug* aufwiese, sondern weil es sich bestimmt nicht in ,Begriffenc
mitteilt.
152
AC1;KGWVI3,167.
158
„Man ist nicht umsonst Philologe gewesen**, schreibt Nietzsche 1886, „man ist es
vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: — endlich schreibt man
auch langsam. ... Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommene
136 Jörg Salaquarda

und wichtigere. Nietzsche hat aus dem Ganzen seiner Weltsicht heraus be-
tont, daß alle Wörter, zumal seine Grundwörter, jedem nur so viel sagen
und sagen können, als er selbst ,erfahren', nämlich nach dem Grad seiner
Stärke oder Schwäche als erfahrbar konstituiert hat. Nietzsche sagt daher
über seinen Zarathustra, er gelange „nur zu den Auserwähltesten; es ist ein
Vorrecht ohne Gleichen hier Hörer zu sein; es steht Niemandem frei, für
Zarathustra Ohren zu haben.. ,"154. Er meint damit selbstverständlich
nicht) nur einige wenige Menschen könnten den Zarathustra lesen und in
einem philologischen' Sinne verstehen.155 Er bestreitet aber, daß mit einem
derartigen Verstehen schon das Entscheidende geschehen sei. Wesentliches
Verstehen heißt für ihn: überwinden, d. h. aus einer ,stärkerenc, nämlich
umfassenderen Perspektive heraus das in den Grundwörtern anderer Den-
ker Aufbewahrte neu und ,besser' erfassen und zur Sprache bringen.
Es wurde auf der Ebene philologischen Verstehens herausgearbeitet,
daß Nietzsche mit dem Wort ,Antidiristc primär eine positive, das un-
moralische Leben in dionysischer Lust bejahende Haltung benennt. Das
solcher Benennung zugrundeliegende ,Erlebnisc aus eigenem ,Erlebenc erneut
und wirksam zur Sprache zu bringen, ,der Antichrist" zu sein, statt über ihn
zu schreiben, dies ist die philosophische Aufgabe, die Nietzsche von den
,Philosophen der Zukunft' erwartet und die er ihnen zumutet.

Leser und Philologen: lernt mich gut lesen! — (M, Vorrede 5; KGW V l, 9). — In
der Vorrede zur Genealogie verleiht Nietzsche diesem Motiv schärferen Ausdruck:
„Wenn diese Schrift irgend Jemandem unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht,
so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht nothwendig an mir. Sie ist deutlich genug,
vorausgesetzt, was ich voraussetze, dass man zuerst meine früheren Schriften gelesen
und einige Mühe dabei nicht gespart hat" (GM, Vorrede 8; KGW VI 2, 267). — Vgl.
zu dieser Thematik auch Vf., Zarathustra und der Esel, a. a. O., bes. Anm. 18.
154
EH, Vorrede 4; KGW VI 3, 258. — Ähnlich in einigen brieflichen Äußerungen.
155
Als Beleg dafür kann z. B. G. Naumanns Zarathustra-Commentar (4 Bände, Leipzig
1899—1901) genommen werden. Dieser Kommentar weist zwar im einzelnen viele
Schwächen auf, ist aber, aufs Ganze gesehen, von keinem späteren überholt worden.
Naumann hat das Für und Wider einer ,bloß* philologischen Nietzsche-Interpretation
erörtert und sich, unter Markierung der Grenzen eines solchen Vorgehens, zurecht
dafür entschieden (vgl. bes. die Vorrede, a. a. O. I, 3 f.).

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