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116 JÖRG H.

GLEITER

ligt, wie im Fall jenes anamorphotischen Objektes in Hans Holbeins Gemälde Die REINHOLD GÖRLING
Botschafter (1533), das nur bei geeignetem, schrägem Blickwinkel als ein frei im
Raum schwebender) menschlicher Schädel sichtbar wird oder wie in der trompe- Die Schreckensseite der Sichtbarkeit: Traumabilder
l'oei!-Ausmalung der Kuppel von S. Ignazio (1685-94) in Rom durch Andrea Poz-
zo, wo es nur von einem Punkt aus gelingt, dass der malerische Illusionismus in
einen architektonischen Realismus umschlägt. Gleichwohl ist der Betrachter in der
Anamorphose und im trompe-l'oei! der Generator der Wirkungsmacht der Bilder,
ohne aber im eigentlichen Sinne ihr Urheber zu sein. Es bleibt hier trotz allem die
leibliche Anwesenheit des Betrachters dem Wahrnehmungsereignis äußerlich. 1. Gewalt und Bild
Dagegen gilt für den Betrachter im Panorama in Altötring das, was Merleau-
Ponty für den Maler postulierte, dem wie "auf einer Kreuzung" sein Sehen zur Es gibt Bilder der Gewalt, es gibt eine Gewalt der Bilder, es gibt eine Gewalt gegen
"Begegnung aller Aspekte des Seins" (AG 314) wird: "Die äußere Wahrnehmung Bilder, und es gibt, hoffentlich, auch Bilder gegen die Gewalt. Pablo Picassos
und die Wahrnehmung des eigenen Leibes variieren miteinander, weil sie nur zwei "Guernica" ist ein evidentes Beispiel, dass Bilder oft auch alles zugleich sind. Es ist
Seiten ein und desselben Aktes sind", was sich aber nicht nur dem Maler beim ein Bild, das schon von seiner Größe her sich mit Gewalt im Sinne der Kraft an den
Malen eines Bildes, sondern auch dem Betrachter bei der Betrachtung des Panora- Betrachter adressiert, das aber Gewalt wohl auch in dem Sinne ausübt, dass nie-
mas offenbart. Letztendlich heißt das, dass wir nicht etwa etwas verloren haben, mand, der es gesehen hat, es wohl ganz wird vergessen können. 1 Es ist ein Bild
wenn wir heute durch die totale Manipulierbarkeit der digitalen Bilder nicht mehr über die Gewalt des Krieges und die Zerstörung, das von Picasso ganz zweifellos als
an ihre Beweiskraft und sprichwörtliche Abbildhaftigkeit glauben; im Gegenteil, visuelle Reflexion über Gewalt und als Bild gegen die Gewalt verstanden wurde.
die Erfahrung des Panoramas lehrt uns, dass wir dabei vom Wesen der Bilder erwas Und es ist ein Bild, das wiederholt Objekt von Gewalt wurde. So sprühte im New
wiedergewinnen können, was sich uns als ihr magisches Gegenstandsversprechen Yorker Museum of Modern Art 1974 Tony Shafrazi, ein junger Künstler iranischer
in der Verschränkung von Bildwelt und leiblichem Sein unverstellt zeigen mag. Herkunft, aus Protest gegen den Vietnamkrieg die Worte "Kill Lies All" auf das
Die Kreuzigung ist geschehen, die römischen Soldaten rücken ab. Auf dem Gemälde. Als das Bild 1981 im sich konsolidierenden Prozess der Demokratisie-
. Rückweg, auf dem nun leicht ansteigenden tunnelartigen Gang, kommt man wie- rung in Spanien nach Madrid kam, schützte man es zunächst durch eine Wand aus
der an der· halb offenen Tür vorbei. Mit ihr verbindet sich jetzt eine Einladung zur Panzerglas vor gefürchteten Angriffen, Attentaten, wie man sagt. Und Ende Januar
Erkundung der Unterbühne und Lüftung des Geheimnisses des Gemachtseins der 2003 behängte man einen Wandteppich, der das Gemälde reproduziert, im Foyer
Illusion. Unvermittelt steht man in der Unterkonstruktion aus unbehandelten, zum Sitzungssaal des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mit einem riesigen
rauen Balken, ringsum die Leinwand, die überall dort grob und unbeschnitten blauen Tuch, als der damalige US-amerikanische Außenminister Colin Powell in
endet, wo sie nicht mehr einsehbar ist für den Besucher oben. In nachlässigen Zü- einer Pressekonferenz eine Invasion in den Irak verlangte, die die USA dann auch
gen läuft die Farbe aus. Was oben noch Materialität, Stoffiichkeit und Lichtreflex wenige Wochen später begannen. Doch lässt sich diese Überkreuzung der Eigen-
war, wird hier als einfacher und grober Pinselstrich entblößt. Und dennoch, trotz schaften von Bildern auch an vielen anderen Beispielen nachweisen, auch solchen
der verzerrenden Untersicht und der Sichtbarkeit des Gemachtseins stellt sich der der dokumentarischen Fotografie. Die Aufnahmen der brennenden Twin Tower, in
Effekt der Desillusionierung nicht ein. Welche Selbstsicherheit tritt einem hier un- die am 9. September 2001 jeweils ein Passagierflugzeug raste, stehen als ein solches
ten entgegen! Sie ist vielleicht nur vergleichbar mit den Krypten der großen Kathe- Bild im Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie waren ein Bild, das zum Objekt eines
dralen. Das Gemachtsein der Illusion wird hier mit der Gewissheit offenbatt, dass Angriffes wurde, der darin, dass er das Bild zerstörte, eines seiner folgenreichen
jede Wahrheit, wenn sie nur eine solche ist, sich vom Schein der Illusion, von ih- Ziele hatte, vermutlich sogar ein direkteres als den Tod der vielen Menschen, die
rem Medium trennen lässt, ja um ihrer selbst willen davon getrennt werden muss. dabei starben. Die Attentate waren zugleich ein geplante Produktion eines Bildes
Das offene Herzeigen des Gemachtseins geschieht in der Hoffnung, dass sich dem der Zerstörung. Die Fotografien dieses Attentats schließlich üben eine Gewalt auf
Besucher (wie beim Kainszeichen) die Wahrheit längst im Vollzug des Bildes ein- die Betrachter aus, sie sind aber auch immer wieder zum Gegenstand von Bearbei-
verleibt hat .. tungen geworden, bildlichen und diskursiven, mit dem Ziel, aus diesem Bild der
Gewalt ein Bild gegen die Gewalt zu machen.

Zum Verhältnis von Bild und Gewalt siehe: Nancy, Jean Luc, "Bild und Gewalt", in:Am Grund der
Bilder, Zürich-Berlin 2006, S. 31-50.
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Diese Transfurmationen sind nicht selbstverständlich, auch wenn sie keineswegs hen 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Das gilt auch für das senkrechte Auge, das
neu sind. Sie haben kaum mit subjektiven Perspektiven zu tun, aus denen die Bilder ebenso auch eine Wunde darstellen kann und das sich vom Betrachter aus gesehen
betrachtet werden, sondern mit den Ambivalenzen des Verhältnisses von Bild und etwas links von der Mitte des Bildes befindet. Es nimmt den Platz der schwarzen
Gewalt selbst. Bilder sind Sichtbarkeiten, die uns in eine Beziehung mit anderen und Fläche ein, die in verschiedenen Tuschezeichnungen von 1932 das Schwarz des
mit der Welt bringen und uns eine Repräsentation des Selbst, auch des eigenen Kör- Isenheimer Altarbildes aufnimmt und das mit den Wunden des Körpers korreliert.
pers, erlauben. In diesem Sinne sind Bilder ein Zwischen. Aby Warburg sprach von Es zitiert zugleich die Seitenwunde Christi, die in verschiedenen Darstellungen der
ihrer "Doppelheit zwischen antichaotischer Funktion [... ] und det augenmäßig von frühen Neuzeit als vom Körper abgetrennte Wunde, in einer "Poly-Organizität
Beschauet erforderten, kuldich erheischten Hingabe an das geschaffene Idolon"2 dieses umsäumten klaffenden Risses" erscheint, wie George Didi-Huberman tref-
Das Bild schafft Mustet und stellt Gestalten bereit, die eine Distanz zwischen Selbst fend formuliert. 6
und Außenwelt schaffen, diese Distanz ist aber immer auch eine Gewalt gegen ein so Es gibt eine Schreckensseite der Sichtbarkeit, die sicher nicht die Unsichtbarkeit
etst geschaffenes Außen. Es gibt jedoch auch Bilder, die selbst wieder ein Außen bedeutet, wie auch das Unaussprechliche und das Unvorstellbare ja eine Weise der
werden oder in einem Außen auftauchen: Bilder des Unaussprechlichen und Unvor- Sichtbarkeit beschreiben, die in diesem Bildern als Wechsel zwischen Auge und
stellbaren, die wir kennen oder erahnen, aber nicht sehen wollen, Bilder des Horrors Wunde dargestellt wird. Aber lassen sich der Riss, der eine Kontur in die Leinwand
und des Alptraumes. 3 Wir betrachten solche Bilder mit Faszination, ja wir sind es einprägt, und der Riss der Wunde wirklich so klar unterscheiden?
auch, die Andere so misshandeln können, dass sie solchen Bildern entsprechen. Die
Entstellung des Gesichts des Anderen gehört zur Geschichte der europäischen Visu-
alität. 4 Von der Folter, wie sie im ausgehenden Mittelalter auf dem europäischen 2. Gewalt und Geschichte
Kontinent präsent wird, bis hin zur Zerstörung der Sichtbarkeit des Anderen in den
Konzentrations- und Vernichtungslagern lässt sich dieser Konflikt im Zentrum der ,,[ ... ] es gibt nicht eine Pluralität von Subjekten, sondern eine Intersubjektivität,
Bilder zeigen. Vom Vasenbild der griechischen Antike bis zur gegenwärtigen Kon- und daher ein gemeinsames Maß für das Übel, das man Einem antut, und das
junktur von Horror"": und Folterszenen in Filmen und Fernsehserien haben wir sie Gute, das man für die Anderen daraus zieht. "7 Dieser Sarz, gut ein Jahr nach Ende
reproduziert. Keine andere Kultur dürfte so zentral und so kontinuierlich das Bild des Zweiten Weltkrieges geschrieben und im zweiten Band von Humanismus und
e'ines zerschundenen und gemarterten Körpers in ihrem Zentrum haben wie die Terror publiziert, deutet an, wie weit Merleau-Pontys Philosophie und ihre Ent-
~hrisdiche. Insoweit der Körper auch ein Bild ist, ist diese Gewalt immer beides: wicklung als eine Reflexion über die gewaltsamen Ereignisse des vergangenen Jahr-
Gewalt gegen das Bild und gegen den Körper. hunderts verstanden werden kann, sicher schon des Ersten Weltkrieges, insbeson-
Als Picasso im Mai 1937 in Reaktion auf die Meldungen über die Zerstörung dere aber des Faschismus, des Stalinismus, des Zweiten Weltkrieges und des Geno-
des baskischen Stadt Guernica durch die deutsche Luftwaffe sein Bild für die Welt- zids an den europäischen Juden, schließlich auch der Prozesse der Kolonisierung
ausstellung in Paris malte, griff auch er vielfach auf diese christliche Bildlichkeit und der Dekolonisierung. Der Weg dieses Nachdenkens ist, wie bei vielen anderen
zurück. .Ein Zeugnis einer ganz direkten Auseinandersetzung mit ihr ist eine Reihe Denkern auch, oft eher indirekt. Doch gibt es einen Fluchtpunkt, in dem sich
von Arbeiten, in denen er 1932 das Isenheimer Altarbild von Matthis Grünewald viele dieser Reflexionen begegnen. Er lässt sich vielleicht als Punkt beschreiben, in
interpretiert. 5 Die Bildkomposition der aus dem konturlosen Dunkel heraustre- dem das Übel und das Gute, der Wahn und die Vernunft, aber wohl auch, und das
tenden, fast schwebenden Figuren nimmt Picasso ebenso auf wie einzelne Bildele- ist noch einen entscheidenden Schritt radialer, die Gewalt und die Liebe, ja auch
rnente. So lässt sich etwa der zum hohlen schwarzen Halbkreis geöffnete Mund des Ding und Mensch in eine große Nähe oder sogar einen Bereich der Ununterscheid-
Schreis in "Guernica" direkt auf diese Interpretationen des Gemäldes aus dem frü- barkeit kommen. Sicher gehen die Reflexionen, die wir in den späten Schriften
Merleau-Pontys finden, in etwas anderer Weise auf diesen Punkt zu, aber er ist
schon in den Konfinien der politischen Fragestellungen von Humanismus und Ter-
2 Warburg, Aby, "Mnemosyne. Einleitung", in: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000, s. 3-6, hier ror deutlich.
S.3.
Die Reflexion über das Verhältnis von Geschichte und Gewalt, die Merleau-
3 Ich nehme hier Argumente von W J. Mitchell auf: MitchelI, WJ.T., "Das Unaussprechliche und
das Unvorstellbare. Wort und Bild in einet Zeit des Terrors", in: Bild und Einbildungskraft, hg. von Ponty 1946/47 in Humanismus und Terror unternimmt, beginnt mit der Aporie
Bernd Hüppaufl Christoph Wulf, München 2006, S. 327-344. zwischen dem Yogi und dem Kommissar, dem an Werten festhaltenden, aber we-
4 Groebner, Valentin, Ungestalten. Die visuelle Kultur im Mittelalter, München/ Wien 2003.
5 Lesjak, Andrea, "Das Bild als Speicher der Emotion. Picassos Reaktion auf Grunewalds Kreuzi-
gung des Isenheimer Altars", in: Grünewald in der Moderne. Die Rezeption Matthis Grünewalds im 6 Didi-Huberman, Georges, "In den Falten des Offenen", in: Phasmes, Köln 2001, S. 218.
20. Jahrhundert, hg. von Brigitte Schad und Thomas Ratzka, Köln 2003, S. 63-71, siehe auch die 7 Merleau-Ponry, Maurice, Humanismus und Terror, 2 Bände, Frankfurt am Main, 1968 (2. Aufla-
Abbildungen S. 140f. ge), Bd. 11, S. 16.
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gen der Kontingenz der Geschichte zum Zuschauen und zur Kontemplation verur- Jahrzehnten in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften zunehmend als ein
teilten Moralisten und dem politische Mittel zweckrational einsetzenden Pragma- Konzept durchgesetzt, in dem die Herausbildung von Mustern und Strukturen aus
tiker, der eine Ethik auf einer Teleologie der Geschichte zu gtünden vetsucht. Was komplexen Beziehungsgeflechten bezeichnet wird. Es umschreibt als transdiszipli-
Merleau-Ponty gegenüber dieser an Arthut Koestler und Michail Bucharin aufge- näre Figur des Denkens einen ursprungslosen Ursprung. 8 Die Differenz zwischen
zeigten Aporie zu entfalten beginnt, ist das Konzept einer radikalen Immanenz der dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, wie sie Merleau-Ponty entfaltet und von
Geschichte, einer Theorie der Praxis, die weder an einem Wertekonzept noch an überkommenen seinsphilosophischen Differenzen wie dem zwischen Wesen und
einer das eigene Handeln übetschreitenden Sinnhaftigkeit ihren Halt und ihte Erscheinung und auch noch zwischen An- und Abwesenheit absetzt, entspricht
Rechtfertigung finden kann. Damit ist aber auch das Konzept der Geschichte ein sehr weitgehend der zwischen einer Vielfältigkeit oder auch chaotischen Mannig-
anderes: Sie lässt sich weder als kollektiver Prozess der je besonderen Intersubjekti- faltigkeit von Relationen, dem "Fleisch der Welt", und den Mustern und Struktu-
vität konfrontieren, noch eigentlich als von der Natur abzutrennender Prozess ver- ren, die aus diesen Relationen emergieren. Vor allem Francisco Varela, dessen zu-
stehen. !'Jimmt man dieses Konzept der Immanenz ernst, lassen sich auch Subjekt sammen mit Humberto Maturana entwickeltes Konzept der Autopoieses die Idee
und Objekt nicht mehr in einer Gegenüberstellung fassen. So heißt es dann auch der Emergenz erneut in die Diskussion gebracht hat, hat diese Nähe zur Philoso-
in einet (oft zitierten) Notiz vom Juli 1959 über die 1945 erschienene Phänomeno- phie von Merleau-Ponty ja immer wieder aufgegriffen und reflektiert'. Solche
logie der Wahrnehmung: "Die Probleme, die ich in der Ph. P. gestellt habe, sind Muster und Strukturen besitzen wohl eine Schwerkraft oder sogar eine Trägheit,
unlösbar, weil ich dort von der Unterscheidung ,Bewusstsein' - ,Objekt' ausgehe die aber aus der Intensität von Kreuzungsbewegungen entsteht und deshalb nicht
[... ]." (SU257) Weil eine Philosophie der Geschichte "zu unmittelbar mit der in- Starre, sondern Bewegung ist. Die Emergenz des Sichtbaren muss deshalb auch als
dividuellen Praxis und mit der Innerlichkeit verbunden" ist (SU 325), denkt Mer- Bewegung oder Prozess des In-Erscheinung-Kommens verstanden werden, nie als
leau-Ponty daran, ihr eine "Philosophie der Struktut" gegenüber zu stellen, "die abgeschlossene Vergegenständlichung. Wir haben es eher mit Dingen in einer ste-
sich allerdings eher in Kontakt mit der Geographie als im Kontakt mit der Ge- ten Bewegung des Auftauchens als mit Gegenständen zu tun.
schichte entwickeln wird." (SU 325) Der Grund füt diese Präferenz der Geografie Das Subjekt ist emergenter Teil eines Prozesses. Es lässt sich von daher auch kei-
vor der Geschichte dürfte wohl, ähnlich wie bei dem Argument zuvor, mit einer nem Objekt und keiner Welt gegenüber stellen, es ist eine Faltung des Fleisches, die
. Verbundenheit des Begriffs der Geschichre mit dem Chronologischen zu tun ha- ein Ineinander mit seiner Umwelt bleibt, seiner äußeren wie auch seiner inneren
ben. Die Geografie denkt Geschichte eher in einer Gleichzeitigkeit, so wie "die Umwelt. Das Sichtbare, sagt Merleau-Ponty, ist "Bindegewebe der äußeren und der
sichtbare Landschaft vor meinen Augen nicht äußerlich und synthetisch mit ". den inneren Horizonte - als dem Fleisch dargebotenes Fleisch hat das Sichtbare seine
anderen Momenten der Zeit und der Vergangenheit verbunden ist, sondern diese Aseitas und gehört doch zu mir [... ]." (SU 173) Und mit einer gewissen Verschie-
wirklich hinter sich hat, in Simultaneität, drinnen bei sich und nicht beide Seite an bung der Perspektive heißt es in dieser Texteinfügung: "Die Öffnung dutch Fleisch:
Seite ,in' der Zeit". (SU 336) Die Philosophie der Struktur, die Merleau-Ponty im die 2 Blattseiten [feuillets] meines Leibes und die Blattseiten der sichtbaren Welt
Auge hat, ist demnach keineswegs ahistorisch) sie ist aber auf eine Simultaneität der [ ... ]. Zwischen diesen eingeschobenen Blattseiten gibt es Sichtbarkeit." (SU 173) Es
Geschichte gerichtet, auf eine unmittelbar wirkende) nicht eine erst über das erin- sind immer wieder neue Formulierungen, in denen Merleau-Ponty dieses Ineinander
nernde handelnde Subjekt (oder auch ein kulturelles Gedächtnis) praktisch wer- beschreibt, das eigentlich nur eines voraussetzt, nämlich, dass der Leib "empfindsam
dende Geschichte. Struktur ist für Merleau-Ponty etwas, das aus der Kreuzungsbe- für sich" (SU 178) ist. Diese Empfindsamkeit selbst ist aber schon immer in der
wegung zwischen Innen und Außen) zwischen Mensch und Welt emergiert) einer Bewegung der Textur des Fleisches, nicht außer ihr, sie ist Dichte des Fleisches und
Kreuzungsbewegung, aus der auch diese Differenzierungen selbst entstehen. Struk- Nähe: "Denn die Dichte des Fleisches zwischen dem Sehenden und dem Ding ist
turen sind Muster, keine Entitäten: "Der Andere ist ein Relief, wie ich es bin, nicht konstitutiv für die Sichtbarkeit des einen wie für die Leiblichkeit des anderen; sie ist
absolut vertikale Existenz." (SU 338)

8 Weitere Angaben siehe mein Aufsatz: Görling, Reinhold, ",Eine Maschine, die nächstens von sel-
ber geht': Über Nachträglichkeit und Emergenz", in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre
3. Sichtbarkeit und Sensibilität Anwmdungm, Jg. 55, H 6, 2001, S. 560-576.
9 Varela, Francisco ]., Evan Thompson und Eleanor Rosch, Der mittlere Weg der Erkenntnis, Bern
Der Begriff der EmergeJ1!' (I'tmergence), von Merleau-Ponty im Kontext seinet Re- 1992; sowie Roy, lean-Michel! Petitot, leanl Pachoud, Bernardl Varela, Franscisco l. "Beyond the
flexionen über den Naturbegtiff und auch in Wendungen wie "I' "mergence de la Gap: An Intruduction to Naturalizing Phenomenology", in: Naturalizing Phenonenology. lssues in
Contemporary Phenomenology and Cognitive Science, hg. von lean Peritm: u.a., Stanford 1999, 1-82.
chair comme expression" (VI 190) benutzt, in den deutschen Übersetzungen der Siehe auch: Hansen, Mark B. N., "The Embryology of the (In)visible", in: The Cambridge Compa-
Texte Merleau-Pontys aber in der Regel nur durch den der Entstehung (VL I 109) nion toMerleau-Ponty, hg. von Taylor Carmen und Mark B. N. Hansen, Cambridge 2005, S. 231-
oder den des ,,Auftauchens" (SU 189) wieder gegeben, hat sich in den vergangenen 264.
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kein Hindernis zwischen beiden, sondern deren Kommunikationsmittel." (SU 178) sinnlichen Reizen, den Antworten der Hände und der Augen auf diese Reize und
Die Empfindsamkeit ist also nicht eine Selbsthezogenheit des Subjekts, sondern eine eine in der Kreuzungsbewegung sich herausbildende Intentionalität sedimentiert
des Sichtbaren oder des Fleisches selbst, das, wenn es nicht als "Vereinigung oder hat. Doch hat die Spule für Freuds Enkelkind noch weitere Sichtbarkeiten. Die
Bestandteil zweier Substanzen, sondern eigenständig denkbar ist", dann auch einen Differenz von An- und Abwesenheit und der Rhythmus, in dem das kindliche
"Selbstbezug des Sichtbaten" impliziert, "der auch mich durchdringt und mich zum Spiel dies inszeniert, gehören dazu. Sie bilden ein zeitliches Muster. Und, folgt man
Sehenden macht" (SU 185). Dieser "Kreislauf, den ich nicht hervorbringe, sondern der Freudschen Interpretation, gehört schließlich dazu, dass die Spule eine Reprä-
der mich hervorbringt, dieses Einrollen des Sichtbaten ins Sichtbate" (SU 185) muss sentation der Eigenschaft der Mutter ist, das Kind zeitweilig zu verlassen und dann
denkbar sein als intersubjektiver Zusammenhang ebenso wie als ein visueller, also als zu ihm wiederzukehren. Das setzt die Möglichkeit voraus, dass die Sichtbarkeit
sozialer ebenso wie als bildlicher. dieser Erfahrung in der Stellvettretung sich herausbilden kann, dass die Spule also
Die Anmerkungen, die sich in diesen späten Notizen Merleau-Pomys zur Psy- zum Bild für eine wichtige Eigenschaft der Mutter werden .kann. Sichtbarkeit ist
choanalyse finden, zeigen deutlich, dass Merleau-Pomy diese Spannbreite des Gel- hier also mindestens das Ergebnis der Wahrnehmung der rätselhaften, in Relation
tungsbereichs seiner Formulierung, die von einem Konzept der Ökologie bis hin zu zu der des Körpers des Kindes stehenden Materialität der Spule; die Gesraltung
einem Denken der Intersubjektivität reicht, auch suchte: "Eine Psychoanalyse der dieser Spule, die Möglichkeit dieser Spule, in einem spielerischen Verhältnis von
Natur machen: sie ist das Fleisch, die Mutter." (V1321, SU 335) "Mutter" steht hier An- und Abwesenheit zu stehen und schließlich die Möglichkeit, an ihr Intensitä-
nicht für eine Person, auch nicht für eine Phantasie der Verschmelzung, sondern für ten einer subjektiven Relation stellvertretend sichtbar zu machen. Die Kreuzungs-
eine vielfältige Matrix der Verflechtung. So versteht Merleau-Ponty dann auch bewegung, aus der Sichtbarkeit entsteht, kann in diesem Sinne als eine sich vielfäl-
Freuds Theorie nicht als eine Reflexion über die innere Natur des Menschen, nicht tig wiederholende beschrieben werden. Wenn man dazu den Charakter der Ver-
als Reflexion über seine Körperlichkeit, sondern eben über das vom Zwischen und flechtung als Bewegung ernst nimmt, bedeutet es wohl auch, dass diese Verdich-
dessen Eigenständigkeit ausgehende Ineinander von Innen und Außen: "Die Philo- rungen der Sichtbarkeit keineswegs fixiert sind, dass sie sich immer wieder neu
sophie von Freud ist also nicht Philosophie des Körpers, sondern Philosophie des ver- und entmischen, ver- und entkreuzen, ver- und entknoten.
Fleisches - Das Es, das Unbewusste, - und das Ich (Korrelate) vom Fleisch aus zu
. begreifen.',' (SU 338f) Das bedeutet aber nichts anderes, als die Instanzen der Freu-
dschen Theorie der Subjektivität nicht als vorgängig, sondern vom Zwischenraum 4. Sichtbarkeit und Gewalt
der Beziehung her, als emergente Korrelate der Intersubjektivität zu verstehen. Das
Subjekt endet nicht an den Grenzen seiner Leiblichkeit, im Gegenteil, es bildet sich Wenn man das, was Merleau-Ponty in seinem Spätwerk Fleisch und Fleisch der
in einem primären Raum der Intersubjektivität, es bildet sich aus dieser Intersubjek- Welt nennt, die Verflechtungen in ihrer Potentialität und in ihrer Dichte, als ei-
tivität, ihrer Bewegung der Ansprache, der Gemeinsamkeit und der Differenz. nen gemeinsamen, verbindenden und zugleich das verbundene hervorbringenden
Und wenn wir diese Spannbreite des Arguments wieder zurückgehen, wäre auch Raum der Intersubjektivität versteht und auf jenes gemeinsame Maß zurück be-
zu fragen, in welchen Korrelaten wir Merleau-Pontys Theorie der Visualität zu zieht, in dem der zitierten Passage aus Humanismus und Terror zufolge das Übel
beschreiben hätten, wenn wir sie in den Begriffen der Psychoanalyse denken. Das und das Gute aufeinander bezogen sind, stellt sich die Frage, wie diese Differenz im
Es, das Unbewusste und das Ich geben ja so etwas wie Qualitäten der Beziehung gemeinsamen Maß der Unentschiedenheit des Fleisches sich bestimmen lässt. Ist es
der Strukturen der Inrersubjektivität an, die Sichtbarkeit aber zunächst eher Mus- in dem Sinne von Emmanuel Levinas zu verstehen, dass die Vorgängigkeit des an-
ter, Figuren, Profile der Intersubjektivität. Nehmen wir das bekannte Beispiel von deren dem Subjekt eine Verantwortung aufzwingt, die als Nähe und zugleich als
Sigmund Freuds Beschreibung und Analyse des Spulespiels seines Enkelkindes. lo Verfolgung und Trauma beschrieben wird?ll Oder wäre das Traumatische damit
Es gibt eine Materialität und eine Form der Spule und des Fadens, in der sich eine verbunden, dass die scheinbare Unmöglichkeit der gleichzeitigen Repräsentation
lange kulturelle Geschichte der Bearbeitung von Holz und der Hersrellung von des Sehens und des Gesehenwerdens zur Scheidung von Sehen und Blick fühtt, wie
Kleidung eingeschrieben hat. Das Holz der Spule, das als Material immer schon in es Jacques Lacan bestimmt?12 Mir scheint, dass Merleau-Ponrys Idee einer gegen-
Relation zu den Sinnen meines Körpers und seines Materials steht, dann die Form seitigen Hervorbringung von Subjekt und Welt, Subjekt und Ding ebenso wie
der Spule, die Gestaltung des Verhältnisses von Rand und Wickelfläche zum Bei- Subjekt und Objekr, beide Richtungen des Denkens offen lässt, dass sie aber ei-
spiel: all dies ist schon eine komplexe Sichtbarkeit, in der sich eine vielfältige Kreu- gentlich einen anderen Weg zu gehen begonnen hatte. Gegenüber Lacans Annah-
zungsbewegung zwischen den Eigenschaften und den vom Material ausgehenden me der Scheidung von Sehen und Blick ließe sich erwidern, dass für Merleau-

10 Freud, Sigmund, "Jenseits des Lustprinzips", in: Gesammelte Werke XIII, Frankfurt am Main 1972 11 Levinas, Emmanud, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburgl München 1992.
(7. Aufl"lle), S. 1-71, hiec S. 9-15. 12 Lacan, Jacques, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim (3. Auflage) 1987, S. 73ff.
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Ponty Sichtbarkeit aus der Dichte der Beziehungen entsteht, diese Dichte aber eine in einer sehr weitgehenden Weise erneuert worden. Gemeinsam ist beiden wissen-
Gleichzeitigkeit von Sehen und Gesehenwerden voraussetzt: "Das Fleisch =: die schaftlichen Entwicklungen, dass sie diese Herausbildung als Prozess verstehen, der
Tatsache, dass mein Leib passiv-aktiv (sichtbar-sehend) ist, Masse an sich und Ges- in einem mannigfaltigen und multipolaren Raum der Intersubjektivität oder des
te [ ... ]." (VI 324, SU 339) Die Trennung von Sehen und Blick wäre demnach als originären Dazwischen entsteht. Das macht es möglich, sie mit den Denkfiguren
Störung und Verlust von Sichtbarkeit zu verstehen. Und gegenüber Levinas' Denk- in eine Relation zu bringen, in welchen Merleau-Ponty diesen Raum beschreibt.
figur ließe sich vielleicht einwenden, dass die von ihm angenommene Vorgängig- Das Bild, das die Psychologie über Neugeborene besitzt, hat sich seit Mitte der
keit des Anderen auf eine bipolare Gegenüberstellung von Selbst und Anderem 1980er Jahre grundlegend verändert. Genauere Beobachrung und die Möglichkeit,
hinausläuft, dass diese aber weniger ursprünglich ist als die Intersubjektivität, also mittels Verfahren zur Messung der Hirnaktivität Aussagen über die Wahrnehmung
die Gemeinsamkeit eines geteilren Fleischs der Welt, die mannigfultig und multi- schon von Neugeborenen zu machen, haben dazu geführt, dass das Bild vom pas-
polar ist. Die uneinholbare Vorgängigkeit des anderen wäre dann eher ein Bild, das siven, in einer primärnarzisstischen Welt versunkenen Säugling durch das eines
aus den multipolaren Kreuzungsbewegungen im intersubjektiven Raum eine bipo- sozial hoch aktiven, auf seine Betreuungspersonen bezogenen Menschen ersetzt
lare Struktur abstrahiert, in der ein nach Autonomie strebendes Selbst sich ein an- wurde. Merleau-Ponty hätte die Erkenntnis sicherlich als Bestätigung erfahren ha-
deres gegenüberstellt. 13 ben, dass schon das Neugeborene unmittelbar empfindsam für Augenkontakt ist
Andererseits bietet Merleau-Pontys Vorstellung des Fleisches wenig Anhalts- und seine Gehirnaktivität sehr schnell einen Unterschied zeigt, ob sich Blicke auf
punkte für ein Verständnis der Prozesse, in denen sich das Subjekt der Welt gegen- das Kind richten oder ob der Blick der Bezugspersonen sich abwendet. 15 Kleine
überzustellen beginnt und die zu der von Merleau-Ponty immer wieder kritisierten Kinder, so eine andere Untersuchung, folgen im Alter von vier Monaten den Bli-
Illusion des Solipsismus führen. Es wäre ebenso danach zu fragen, wie die Strukru- cken eines Erwachsenen in eine neue Richtung nur dann, wenn es zuvor einen
ren des Selbst in der Matrix des Fleisches emergieren. Und es wäre also danach zu Augenkontakt zu ihm gegeben hat. 16 "Establishing a link, a joining 0/minds is then
fragen, wie das, was Merleau-Ponty das übel und das Gute nennt, auf der Ebene des an essential prerequisite for sharing the interest of another. "17 Peter Fonagy und
gemeinsamen Maßes bestimmt werden kann, was es also im Sinne des Sichtbaren Mary Target betonen die Bedeutung dieses gemeinsamen interpersonellen Raumes
Lmd des Unsichtbaren bedeutet. Oder anders gesagt: Was bedeutet Gewalt, wenn für die Entwicklung des Selbst. Die kindliche Wahrnehmung ist nicht selbstbezo-
wir sie als etlyas beschreiben wollen, das in der Verflechrungsbewegung des Fleisches gen, wie von Jean Piaget und andren in seiner Nachfolge angenommen wurde, sie
wirksam ist? Ist sie etwas, das eine Lücke in die Verflechtung reißt? Aber wo hinter- ist auf eine gemeinsame interpersonelle Welt bezogen. Dabei darf dem Blick als
lässt Gewalt dann die Spuren ihres W"kens? Es scheint daher kaum denkbar, dass Verflechtung von Sehen und Gesehenwerden eine leitende Rolle zugeschrieben
die Verflechtung nur das Gute aufnähme. Eher doch müssen wir Gewalt als eine werden. So haben Versuche gezeigt, dass ein Kind, das im Alter von 6 Monaten von
besonders intensive Verflechtung denken, als Verknotung oder als zur Wunde Ver- einer ihm unbekannten Person, nachdem diese einige Zeit mit dem Kind gespielt
zerrtes. Die Differenz zwischen dem Guten und dem übel muss folglich in den hatte, über zwei Minuten mit einem ausdruckslosen Gesicht angesehen wird, dieses
Prozessen sichtbar werden, die zur Emergenz des Selbst führen. Psychoanalytisch Gesicht für mindestens 12 Monate wiedererkennt und meidet. 18 Das Kind sucht
gesprochen, sie müssen etwas mit den Prozessen zu tun haben, in denen psychische also eine interpersonelle Welt und erfährt es als extreme negativ, wenn diese mit
Repräsentationen der Kreuzungs- und Verflechtungsbewegungen entstehen. dem anderen geschaffene Welt auseinander bricht.
In der Psychoanalyse - und parallel dazu auch in den Neurowissenschaften 14 _ Für Fongay und Target entsteht der interpersonelle Raum einer psychischen Be-
sind in den vergangenen Jahren die Erkenntnisse über die Herausbildung des Selbst gegnung über die Kontingenz von Verhalten. Mit Kontingenz ist die gegenseitige
Berührung der Bewegungen gemeint, aber auch die Differenz. Kinder im Alter von
13 Unter den Titel "Über die Subjektivität" hat Levinas ,,Anmerkungen zu Merleau-Pomy" gestellt.
Es ist interessant zu sehen, dass Levinas hier Merleau-Pontys Beispiel fur die Empfindsamkeit des nalyse unter dem Gesichtspunkt des geteilten Raumes der Intersubjektivität unternehmen. VgL
Leibes für sich, nämlich die Doppelberührung der einen Hand durch die andere Hand (AG 52, vor allem: Siegel, Daniel, WIe wir werden die wir sind. Neurobiologische Grundlagen subjektiven Er-
SU 194), als Händedruck mit dem Anderen versteht. Wird damit nicht die Dimension der Selbst- lebens und die Entwicklung des Menschen in Beziehungen, Paderborn 2006, sowie Schore, Allan N.,
apperzeption einfach übersprungen und die Gedoppeltheit der Sphären des menschlichen Körpers AfJektregulation und die Reorganisation des Selbst, Stuttgart 2007.
zu schnell zum Maßstab für ein soziales Verhältnis? V gl. Emmanue1 Uvinas: "Über die Intersub- 15 Fonagy, Peterl Target, Mary, "Playing with Reality: IV. A Therory of External Reality rooted in In-
jektivität. Anmerkungen zu Merleau~Ponty", in: Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys tersubjectivity", in: InternationaljournalofPsychoanalysis, Jg. 88, H.4, London 2007, S. 917-937,
Denken, hg. von Alexandre Metraux und Bernhard Waldenfels, München 1986, S. 48~55. hier: 920. Die Autoren beziehen sich auf eine Untersuchung von Teresa Farroni und anderen: "Eye
14 Hier sind vor allem die neueren Arbeiten von Vittorio Gallese, einem der Entdecker der Spiegel- Contact Detection in Humans from Birth", in: PNAS,]g. 99, H. 14,2002, S. 9602~9605.
neuronen zu nennen, vor allem: Gallese, Vittorio, "The Manifold Nature of Interpersonal Rela- 16 Farroni, Teresa U.a., "Infants Pervieving and Acting with Eyes. Tests of an Evolutionary Hypothe-
tions. The Quest for a Common Mechanism", in: The Philosophical Transactiom ofthe Royal Socie- sis", in: Journal ofExperimental Child Psychology, Jg. 85, S. 199-212.
ty, London 2003, S. 517~528. Ihre Würdigung muss ebenso an einen anderen Ort verschoben 17 Fonagy, "Playing", a.a.O., S. 920.
werden wie die solcher Arbeiten, die eine Verbindung zwischen Neurowissenschaft und Psychoa- 18 Fonagy, "Playing", a.a.O., S. 924.
126 REINHOLD GÖRLING DIE SCHRECKENSSEITE DER SICHTBARKEIT: TRAU:N1ABILDER 127

vier bis runf Monaten suchen keine genaue Spiegelung im anderen mehr, aber sie dem Kind und der Person einen Spielraum besitzen, die es dem Kind erlauben,
suchen nach einer Reaktion des anderen auf das eigene Handeln. Durch die Diffe- eine mentale Repräsentation des eigenen im Wechsel der Bewegung des Mit und
renz entsteht eine Markierrheit, die es dem Kind erlaubt, in und aus der interperso- Gegen aufzubauen. Mentalisierung bedeutet vereinfacht gesagt, dass es möglich ist,
nellen Welt erste psychische Repräsentationen zu bilden, aus denen wiederum das die mentale Repräsentation des Eigenen und des Anderen zugleich zu denken.
Selbst sich bilden kann. Es kann eine Differenz des Affektes erfahren und sich selbst Der mentale Raum ist also ein durchaus vielstimmiger, von Kopräsenz geprägter
als Akteur. Das Beispiel der Negativerfahrung des Angesehenwerdens durch ein aus- Ort. In ihm wäre Empathie anzufinden, versteht man Empathie nicht als eine die
drucks- und reaktionsloses Gesicht zeigt, dass auch ein Kind im Alter von 6 Mona- Differenz zum anderen verwischende Identifikation, sondern als nicht identifizieren-
ten diese Erfahrung eines individuellen Anderen mittels einer psychischen Reprä- de Aufnahme der mentalen Repräsentation des anderen im Selbst. Die Fähigkeit zur
sentation in sein Gedächtnis aufnimmt, aber es als etwas, das vermieden werden Empathie ist also sehr stark von der Fähigkeit zur Mentalisierung abhängig. Aber
muss" nur als Negatives integriert. Diese experimentell gewonnene Einsicht lässt auch das ist kein linearer Vorgang. Empathie kann als soziale Beziehung und Bin-
erahn~n, was es für ein Kind bedeuten muss, wenn solche Brüche des interpersonel- dung wirken, sie kann aber, gewissermaßen unter Zurückweisung der ihr zugrunde
len Raums in der Interaktion mit vertrauten und engen Bezugspersonen entstehen. liegenden Kreuzungsbewegung, auch zusammenbrechen und zum Beispiel in Vor-
Fonagy und Target sprechen von einem interpersonellen und noch nicht von gänge projektiver Identifizierung regredieren. Gewalttäter zeigen oft eine hohe Sen-
einem intersubjektiven Raum um hervorzuheben, dass dieser Raum wohl ein ge- sibilität für die psychische Situation ihrer Opfer, weisen aber diese Kreuzungsbewe-
teilter, aber noch kein subjektiv perspektivierter Raum ist. Diese Perspektivierung gung wie ein fremdes Selbst in einer projektiven Identifizierung zurück und nutzen
entsteht erst in dem vielschichtigen Prozess der Mentalisierung. Sie bedeutet, dass diese Sensibilität als Mittel der Herrschaft und Instrument der Gewalt2 !
das Kind zwischen der inneren und der äußeren Welt ebenso zu differenzieren be- In seinem Essay "The Structure of Evil" beschreibt Christopher Bollas den ab-
ginnt wie zwischen den psychischen Repräsentationen des Selbst und des Anderen. rupten Wechsel von der einfühlenden, ja verfiihrenden Herstellung eines potenti-
Auf dem Weg zu dieser Mentalisierung gibt es zwei wichtige Vorstufen: den Modus ellen Raumes für das Opfer zum Missbrauch und Mord als eine immer wieder
der psychischen Äquivalenz und den der Vorgegebenheit oder des "als-ob". Der kehrende Struktur in den Taten von Serienmördern. In dem Sinne, dass "one of ehe
erste Modus beinhaltet, dass das Kind die eigene Erfahrung der Welt als selbstver- functions of perversion is to transform an infantile trauma into a form of
ständlich von den anderen geteilte voraussetzt und damit als wahr und wirklich excitement",22 agieren die Täter an ihren Opfern einen selbst traumatisch erfahre-
erlebt. Es ist wichtig, dass gerade dann, wenn diese Erfahrung als bedrohlich erlebt nen Bruch des potientiellen Raumes aus. Die Folter ist eine theatrale Inszenierung
wird, die markierte Erfahrung einer interpersonell geteilten Welt möglich ist, um der Gewalt, in der der Täter diese Struktur des Bösen ausnutzt, aber auch im Ter-
die Bedrohlichkeit relativeren und mit den eigenen Ängsten und Nöten umgehen rorismus sieht Bollas diese eingesetzt. Jeder Staat "is a derivate of the parenting
zu können. Der andere Modus ist der des Spiels, in dem eine intersubjektiv geteil- world that exists in the mind of its citizens",23 und diese Struktur wird von Ge-
te Welt von einer äußeren Welt unterschieden werden kann. "In this intermediate waltherrschaft ausgenutzt, indem sie auf die subjektive Norwendigkeit der Verleug-
phase, it is essential that other people play a1ong, so that the child has the compro- nung der Gewalt setzt. Oppositioneller politischer Terrorismus ist der willkomme-
mise ofshared and not shared."19 ne Mitspieler in diesem Prozess.
Das Selbst, so Fonagy u. a. "ist ursprünglich eine Erweiterung der Wahrneh- Die Darstellung von Gewalt in vielen Genre des Films führt diese Struktur des
mung des Anderen (zunächst der Mutter) durch den Säugling. "20 Das bedeutet, Bösen immer wieder vor. Und es wäre zu fragen, ob nicht die Faszination, die diese
dass das Subjekt in seiner frühen EnnvickIung sich in seiner Bezugsperson in einer Filme ausüben. und vor allem die Konjunktur, die filmische Darstellungen von Fol-
Weise spiegelt, dass es deren mentale Repräsentation, also gewissermaßen deren ter haben, von einer tiefen Verunsicherung gegenüber der Möglichkeit der Annahme
Bild des Kindes, in sich aufnimmt, bevor es ein eigenes Selbstbild besitzt. Diese eines verlässlichen gemeinsamen Raumes zeugen. Es ist, als ob wir in den Szenen
Spiegelung wird zu einer markierten Spiegelung in dem Maße, wie mentale Bilder einer plötzlichen Durchbrechung eines als potentiellen oder intersubjektiven menta-
als dem Selbst oder dem anderen angehörig differenziert werden. Aber auch der len Raum erlebten Bildes immer wieder neu das Gefühl der Unzuverlässigkeit sozia-
markiert~ Spiegel liefert nur ein isoliertes Bild. weshalb sich projektive Vorgänge ler Beziehungen verhandeln. Wir alle haben solche Erfahrungen. "Every child will
auf dieser Ebene leicht einstellen. Für die Frage, wie weit der darauf aufbauende now and then be shocked by the failure of parental love. "24 Wenn das Selbst aus dem
Prozess der Mentalisierung gelingt, ist es nun entscheidend, inwieweit diese intro- mit anderen geteilten mentalen Raum emergiert, dann ist auch die Erfahrung seines
jizierte mentale Reprä~entation eine Kohärenz und die Interaktionen zwischen

21 Fonagy, Affektregulierung, ebd., 5.19.


19 Fonagy, "Playing", a.a.O., 5. 928. 22 Bollas, Christopher, Cracking Up. The Work o[the Unconscious Experience, New York 1995, 5. 210.
20 Fonagy, Peterl Gergely, Györgyl Jurist:, Eliot L.I Target, Mary, Affektregulierung, Mentalisierung 23 Bollas, Cracking, ebd., S. 214.
und die Entwicklung des Selbst, 5tuttgart 2004, 5.16. 24 Bollas, Cracking, ebd., 5. 215.
128 REINHOLD GÖRLING DIE SCHRECKENSSEITE DER SICHTBARKEIT, TRAUMABILDER 129

Zusammenbruchs immer von einer Dimension der Nihilierung begleitet. Das kann, Präventive Gefahrenabwehr ist eines der Schlagworte der Politik des Krieges ge-
so Bollas, zu dem Gefühl führen, dass die Seele zeitweilig aus dem Körper wandere. gen den Terrorismus. Der Begriff ist dem des Präventivschlags (preemptive strike)
Wird vielleicht genau diese Trennung in Bildern der Gewalt adressiert, vor allem in oder des Präventivkrieges (preemptive war) analog gebildet und hat in der deut-
solchen, in denen der Körper zum Opfer von Verletzungen wird?25 schen Diskussion sogar zu Vorstellungen wie der der Präventivfolter geruhrt. Das
immer dichrer werdende Netz an Überwachung und Kontrolle, das hiermit poli-
tisch legitimiert wird, kann denn auch als Versuch verstanden werden, eine nicht
5. Bild und Objektauflösung mehr bestimmbare Bedrohung, eine Bedrohung, die keinen Ort und keine be-
stimmbare Zeit mehr hat und die deshalb nur in vollkommen schematischen figu-
Mit dem Begriff des potentiellen Raumes knüpft Bollas an D.W Winnicotts Über- ren vorgestellt werden kann, irgendwie sinnlich greifbar und fassbar zu machen.
legungen Zljm Übergangsraum an, von denen selbstverständlich auch Fonagys The- Auch die seit Beginn der 1990er Jahre sich abzeichnende Relativierung des Folter-
orie des gemeinsamen mentalen Raumes ihren Ausgang nimmt. Die weitere Diffe- verbotes folgt dieser Logik der Abwehr: Im Körper des Gefolterten bekommen
renzierung in der Analyse der Prozesse der Mentalisierung, die letzterer vornimmt, bildlose Bedrohungen einen projektiven Fixpunkt, können sie räumlich und zeit-
führen ihn dazu, in den Formen der Gewalt "two kinds of violence" zu unterschei- lich fixiert werden. Deshalb sind diese Relativierungen auch so oft mit der narrati-
den, die eine nennt er "representational violence", die andere "violence in the nega- ven Fiktion verbunden, es gäbe irgendwo eine mit einem scharfen Zeitzünder be-
tive", also eine gegenständliche und stellvertretende Gewalt und eine Gewalt im stückte Bombe, über deren Ort und Zeit der oder die Verdächtige vielleicht Aus-
Negativen, eine negierende Gewalt. 26 Erstere, die gegenständliche Gewalt, kann als kunft geben kann. 28 Dieses Szenario ist eine erzählerische Technik zur Verdich-
eine Fehlleistung der Mentalisierung verstanden werden, in der eine bedrohliche tung von Zeit. Es geht gewissermaßen um eine präventive Vernichtung des Objek-
Repräsentation nach außen projiziert wird und dort dann Objekt der Aggression tes, um eine Vernichtung von etwas, das noch gar nicht Objekt ist.
wird. Die zweite, die negierende Gewalt, ist nicht als Fehlleistung, sondern eher als Ausweitung der eignen Macht, Weltgewinnung auf Seiten des Täters, Zerstö-
Abwehr der Mentalisierung zu verstehen. Die Abwehr richter sich auf die Existenz rung des Bezugs zur Welt auf Seiten des Opfers: das sind die Grundlinien der
eines anderen, cl.h. genauer, auf einen inneren Zustand, in dem die Wahrnehmung Analyse der Folter, wie sie Elaine Scarry in Der Körper im Schmerz so eindrücklich
eines Objektes vor aller Differenzierung oder Konturierung des Objektes als hoch geleistet hat. 29 Der vollständige Abzug der Empathie gegenüber dem Opfer kann
beunruhigend ·und bedrohlich empfunden wird. Diese Gewalt ist nicht als projekti- auch als eine Auflösung des Objekts verstanden werden. Fonagy hat diesen Begriff
ve Leistung verstehbar, weil sie das Objekt der Aggression gar nicht zum Signifikan- der "disobjectalisation" von Andre Green übernommen." Das Objekt im psycho-
ten macht, sondern das Signifikat direkt negiert, den anderen, das Ding, das mich analytischen Sinne ist eine Repräsentation, an der eine libidinöse Bindung stattge-
anspricht. Es gibt kein Bild für die Bedrohung, die das Selbst von Innen erfährt. funden hat. Es ist Teil des "shared space", es ist den gemeinsamen Raum schaffen-
Und doch ist sie als Bruch des mentalen Raumes erlebt und erinnert, aber ungebun- des Bild. Die Auflösung des Objektes - als Ziel wie als Prozess - im Akt der Gewalt
den. Deshalb kann das Subjekt auch kein Bild für es finden, um eine Distanz zu der gegen den Anderen richtet sich daher zum einen gegen diesen gemeinsam geteilten
drängenden Unruhe zu finden und die Erfahrung zu binden, zu mentalisieren. Und Raum, zum anderen aber errichtet sie die Illusion eines eigenen entgrenzten Rau-
deshalb kann auch das Objekt, auf das sich die Gewalt dann richtet, nicht als Bild mes ohne "störenden" Anderen. Die Zerstörung des einen schafft gewissermaßen
gelesen und verstanden werden. In Fonagys Worten: This "violence is preemptive: it den Sog zur illusionären Schaffung des anderen Raumes, was die Dynamik solcher
is aimed at destroying the object that threatens to create a representation in the Prozesse der Gewalt teilweise erklärt. Wenn aber die Entstellung des Anderen, das
mind that the mind has no capacity to regulare or contral." 27 "defacement", wie es im Englischen heißt, dieser doppelten Handlung von Objekt-
nihilierung und illusionärer Weltgewinnung dient, dann gibt es eine genuin visuel-

25 In der sehr erfolgreichen Fernsehserie ,,24", in der Folterbilder wie ein kontinuierlicher dramatur-
gischer Trick eingesetzt werden und deren als positive Indentifikationsfigur angebotenet Held Jack 28 Es war Niklas Luhmann, der 1993 mit einer Rede vor Juristen diese Diskussion in Deutschland
Bauer in seinem Kampf gegen den Terrorismus selbst immer wieder seine Gegner foltert, gibt es mit dem Verweis auf das Ticking Bomb Szenario ins Rollen gebracht hat: Luhmann, Niklas, Gibt
eine Folge, in der dies auf den Punkt gebracht wird: Der Verteidigungsminister übergibt seinen es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, Heidelberg 1993. Was man dem Systemthe-
unter Verdacht geratenden Sohn dem ausgebildeten Folterer. "Dad, das meinst Du doch nicht oretiker dabei vorhalten muss, ist, dass er das Genre der Fiktion mit dem der Rechtsprechung ver-
ernst", sagt der verzweifelte Sohn, aber der Vater verlässt wortlos den Raum. (4. Staffel, zwischen mengt.
12 und 13 Uh,J. 29 Scarry, Elaine, Der Körper im Schmerz. Die Chiffien der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur,
26 Fonagy, Peter, "The Violence in Our Schools. What Can a Psychoanalytically Informed Approach Frankfun am Main 1992.
Contribute?", in:}ournal 0/Applied Psychoanalytic Studies, Bd 5, H. 2, 2003, S. 223-238. 30 Green, Andre, Die tote Mutter. Psychoanalytische Studien zu Lebensnarzissmus und Todesnarzissmus,
27 Fonagy, "Violence", a.a.O., S. 234. Gießen 2004.
130 REINHOLD GÖRUNG DIE SCHRECKENSSEITE DER SICHTBARKEIT: TRAUMABILDER 131

le Problematik der Gewalt, ja eine Dimension der Gewalt, die sich primär als ein vation ausgesetzt sind. Alltagsdinge werden zu diesem Zweck benutzt: Die Männer
Akt der Zersrörung des Bildes des Anderen realisiert. tragen Kleidung in orangener Signalfarbe und verdunkelte Schutzbrillen, die ihre
Seitdem forografische Techniken die Fixierung der Entstellung des Anderen er- Träger vermutlich in vollsrändige Blindheit versetzen; dicke Filzhandschuhe, ge-
lauben, sind sie in die visuelle Dynamik der Zerstörung einbezogen. Zu den ersten polsterte Schuhe, dicke Ohrschützer. Atemmasken, die vermutlich Erstickungs-
Beispielen gehören einige Aufnahmen der Rache an den Aufständischen der Pariser ängste hervorrufen. Sogar eine Mütze ist über ihren Kopf gezogen. Hände und
Commune oder die Forografien und Postkarten, die bei Lynchmorden an Angehö- Füße sind, vermurlich mit Handschellen und Elektrodrahtbindern, eng gefesselt,
rigen der afroamerikanischen Bevölkerung der USA geschossen und verbreitet wur- so dass die Menschen zu einer knienden Haltung gezwungen sind. Bei längerer
den. _Wenn die Täter in die Kamera schauen oder sogar vor der Kamera neben ei- Betrachtung wird deutlich, dass der sonst erdige und mit etwas Gras bewachsene
nem erhängten und misshandelten Opfer posieren, dann wird deutlich, dass die Boden an dieser Stelle mit spitzem Steinbruch bedeckt ist, der sehr schnell scherz-
Anwesenheir der Kamera nicht ohne Einfluss auf das Geschehen geblieben ist.'! hafte Eindrücke an den Knien verursachen wird.
Ein anderes Beispiel sind die Fotografien, die deutsche Soldaten während des Zwei- Bei mehreren der Männer sitzt die Hose sehr tief Sie scheint nicht an der Hüfte
ten Weltkrieges von den Misshandlungen und Morden gemacht haben, die sie zi- zu halren, zugleich macht es die Fesselung den Männern unmöglich, den Intimbe-
vilen und militärischen Personen in Osteuropa zugefügt haben. 32 Die Anwesen- reich vor Enrblößung zu schützen. Vor dem Hintergrund der Bilder aus Abu Gh-
heit des amerikanischen Forografen Eddi Adams bei der Exekurion eines mutmaß- raib ist die homophobe Dimension dieser Peinlichkeit deutlich. Auch sie wirkr als
lichen Angehörigen der Vietcong am 1. Februar 1968 in Saigon durch General Entstellung. Zwei Soldaten mit Gummihandschuhen bewachen die Gefangenen.
N guyen N gac· Loan ist zwar nicht als Ursache dieser Gewalttat zu werten, doch Einer von beiden beugt sich etwas vor, als kontrolliere er einen der Gefangenen
wurde ihre provokative und auf offener Straße vollzogene Form davon beeinflusst. besonders. Vielleicht spricht er ihn auch an, schreit ihn an, ist man geneigt zu ver-
Einige aktuelle Beispiele: Jungen verprügeln ihre Mitschüler vor laufenden Handy- muten. Die Opfer dieser Folterungen sind jedem Ausrausch mit der Welr entzogen,
kameras und versenden den Film oder stellen ihn in ein Netzportal. 33 Ein Mann ja sogar der Möglichkeit, sich mit ihren Händen selbst zu berühren oder frei zu
wird vom Landgericht Kassel für schuldig befunden, seine Ehefrau vor laufender atmen. Der Entzug des interpersonellen Raumes ist zugleich eine Nihilierung oder
Videokamera brutal vergewaltigt zu haben." Andere Bilder finden eine globale Auflösung der Objekrqualirät dieser Menschen. Das alles geschieht mit einem er-
Öffentlichkeit: Entführer präsentieren den Medien ein Video, das die Enrhaup- staunlichen Aufwand an bildlicher Inszenierung. Die Bilder sollen ausstellen, dass
tung ihres Opfers zeigt. Und selbstverständlich sind auch die sexuell hoch aufgela- der amerikanische Staat die Macht hat, dem Anderen jedwede Selbstrepräsentation
,denen Inszenierungen, die Angehörige der US-amerikanischen Armee mit ihren zu entziehen, ihn aus dem Austauschverhältnis herauszunehmen, ihn in ein Lager
Folteropfern durchgeführt und fotografiert haben, hierfür ein Beispiel. Der New zu verbringen, aus ihm ein eigenschaftsloses Wesen zu machen, zoe in Differenz zu
Yotker Psychoanalytiker Donald B. Moss spricht von Trophäen, durch die sich ihre bios, wie Agamben in seiner Untersuchung über das Lager-analysiert. 36
Besitzer in einen Zustand der Souveränität versetzt glauben. 35
Das Gefährliche an diesen Mechanismen der Entstellung und fiktiven Weltge-
winnung ist, dass sie nicht nur auf individueller Ebene funktionieren, sondern 6. Sichtbarkeit und Bindung
auch als kollektive und mediale Inszenierung. Während die Publikarion der Foto-
grafien aus Abu Ghraib den US-amerikanischen Behörden vermutlich nicht will- Merleau-Pontys Denkfigur, dass Sichtbarkeit aus der Dichte der Kreuzungsbewe-
kommen war, hat das Verreidigungsminisrerium im Januar 2002 selbst Bilder aus gung von Sehen und Gesehenwerden entsteht, dass das Bild in diesem Zwischen
dem damals noch Camp X-Ray genannte Lager in Guantanmo, die Entstellung und zugleich als dieses Zwischen emergiert, das Bild des eigenen Körpers ebenso
und Folter ausstellen, in Umlauf gebracht. In einern der bekanntesten Dokumente, wie des anderen oder die Sichtbarkeit der Dinge, lässt sich sehr weitgehend in die
forografiert von Obermaat Shane McCoy von der US-Marine, wird eine Szene aus psychoanalytische Theorie einer Mentalisierung und der sie bestimmenden Prozes-
I dem Bereich für Neuaufnahmen in das Lager gezeigt. Zu sehen sind Menschen, die se der Entwicklung einer psychischen Repräsentarion und ihrer Bindung übertra-
I, in demütigende Haltungen gezwungen und zugleich extremer sensorischer Depri- gen. Das Unsichtbare im Merleau-Pontys Sinne ist dabei gerade nicht das als Ob-
jekt Negierte, Entbundene, aus der Mentalisierung Ausgeschlossene, sondern zu-
31 Allen, James, Without Sanctuary. Lynching Photography in America, Santa Fe 2000. nächst einmal das, was potentiell zum Bild werden könnte. Die Kreuzungsbewe-
32 Hoffmann-Curtius, Kat!uin, "Trophäen und Amulette. Die Fotografien von Wehrmachts- und gung des Sehens, das Fleisch der Welt, so könnte man in einem Versuch der Ver-
SS-Verbrechen in den Brieftaschen der Soldaten", Fotogeschichte, Jg. 20, H.78, 2000, S. 63-76. bindung beider Theorien sagen, setzt darauf, dass das Selbst vom Blick des anderen
33 Nm, Rhdn Zdtung (NRZ), 12.6.2007, S. 3.
34 Frankfo"" Rundschau (FR), 16.6.2007, S. 5.
35 Moss, Donald B., "On Thinking and Not Being Able to Think: Reflections on Viewing theAbu 36 Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main
Ghraib Photos", Psychoanalytic Quarterly, Jg. 76, 2007, S. 515-545. 2002.

J
132 REINHOLD GÖRLING DIE SCHRECKENSSEITE DER SICHTBARKEIT, TRAUMABILDER 133
I
auch gesehen und nicht negiert wird. Ihr Bruch, der Riss oder Knoten im Fleisch figure of relational difference in co-emergence. "40 Lichtenberg-Ettinger versteht die
der Welt, ist der Ausfall von Empathie. Eine der erschütterndsten Dokumente dazu Arbeit der Künstlerin explizit darin, die traumatischen, entbundenen Erfahrungen
sind vielleicht die Worte Prima Levis, die er in Ist das ein Mensch? über seine Begeg- durch die Aufnahme in das auftauchende Bild zu binden. "Death drive ehat arises
nung mit dem deutschen Chemiker Dr. Pannwitz in Auschwitz schrieb: "Denn at the horizon of visbility in ehe tableau is linked to the experience of co-emer-
zwischen Menschen hat es einen solchen Blick nie gegeben. Könnte ich mir aber gence", heisst es in ihrem Essay "Art as the Transport-Station ofTrauma".41
bis ins letzte die Eigenart jenes Blickes erklären, der wie durch die Glasvvand eines Einer der Zyklen des künstlerischen Werkes von Lichtenberg-Ettinger trägt den
Aquariums zwischen zwei Lebewesen ausgetauscht 'WUrde, die verschiedene Ele- Titel "Eurydike". Der Erzählung nach kommen Orpheus und Eurydike zusammen
mente bewohnen,. so hätte ich damit auch das Wesen des großen Wahnsinns im aus der Untenvelt, aus der Welt der Schatten. Persephone war so ergriffen vom
Dritten Reich erklärt. "37 Trauergesang des Orpheus, dass sie Eurydike freigelassen hatte unter der Bedin-
Noch einmal: wie sind in der Ununterscheidbarkeir des Fleisches der Welt das gung, dass Orpheus sich nicht zur ihm folgenden Eurydike umsehen dürfe. Or-
Gute u~d das Übel zu markieren? Wie ist das in der Nichtrepräsentation gehaltene pheus hält dieses langsame gemeinsame Auftauchen, diesen Aufschub eines identi-
einer be-drohlichen noch nicht Repräsentation zu unterscheiden von einem Noch- fizierenden Blickes nicht aus, sei es, weil ihm die Ungewissheit zu groß, sei es, weil
Nicht der Sichrbarkeit? Die Frage wird in ihren Konturen klarer, wenn wir das als ihm die Passivität des Angesehenwerdens durch die hinter ihm gehende Eurydike
Objekt negierte Bedrohliche in seiner Zeitstruktur und in seinem Drängen verste- unheimlich ist. Und er verliert Eurydike wieder an die Welt der Schatten.
hen. Freud sah im Wiederholungszwang immer beides: den Zwang, der das Ich Wie Schatten, die auf einer unsauberen Trommel einer Fotokopiermaschine haf-
einschränkt, und die Chance, dass das in ihm Ausagierte vom Subjekt bearbeitet ten und sich als Schemen in die Blätter einschreiben, erscheinen in den Blättern
und eben in seiner Objekrhaftigkeit akzeptierr werden kann." Schaffung einer Ob- von "Eurydike" Fotografien von Frauen, die wir in unserem visuellen Gedächtnis
jekthaftigkeit im Sinne der Psychoanalyse würde gerade nicht bedeuten, erwas zu haben: Charcots Fotografien von Hysterikerinnen, nackte, getriebene Frauen in
fixieren, sondern durch die libidinöse Bindung in eine Prozessualität oder in ein Auschwitz, Einwanderinnen in Israel. Fast ebenso schattenhaft sind Texte wie eine
Werden aufzunehmen. Und deshalb wird auch kein Unterscheiden zwischen der Seite aus einem hebräisch-englischen Wörterbuch oder Landkarten des Gebiets des
disobjectalisation der traumatiserenden Relation und dem Noch-Nicht der Negati- heutigen Staates Israel auf die Blätter kopiert. Farben treten aus den Schatten wie
, vität des Unsichtbaren im Sinne Merleau-Pontys möglich sein, solange wir nicht Solarisationen hervor. Andere Farbflächen überdecken die Schemen. Der Umriss
die Sichtbarkeit, ja das Bild als ein auftauchendes, im Werden begriffenes verste- einer Gazelle verbindet die Bilder vielleicht mit der Flüchtigkeit der Begegnung der
hen, als etwas, wie Bernhard Waldenfels sagt, das "in den Schwellenerfahrungen beiden Liebenden aus dem Hohelied, die sich immer nur erscheinende, nie fixierte
hervortritt und in der Erfahrung der Schwelle bestimmte Gestalten annimmt. "39 Bilder sind.
Diese Emergenz der Sichtbarkeit trifft alle Bilder, die Bilder der Kunst aber sind
Bilder, die diesem Auftauchen der Sichtbarkeit intensiver sich widmen als wir es im
Alltag tuen. In seinen Arbeiten zu Cezanne hat Merleau-Ponry dies beschrieben.
Die in Tel Aviv geborene und in Israel und Frankreich lebende Künstlerin Bracha
Lichtenberg-Ettinger, die auch als Psychoanalytikerin praktiziert, har über die psy-
choanalytische Rezeption von Merleau-Ponty durch Lacan und Pierre Fedida diese
Qualität der Kunst explizit mit der Artikulation traumatischer Erfahrung verbun-
den. Ihr kritisch gegen Lacans Verständnis gewenderer Begriff des "matrixial gaze"
lässt sich mit dem hier vorgeschlagenen Verständnis von Merleau-Pontys Begriff
des Fleisches sehr weitgehend verbinden. "In the matrix, [... ] the emergence of
meaning is not related to absence or even to the rhythmic movement of presence
and absence, but to shareability and to changes in distance in proximity." Das Ob-
jekt, das im matrixia! gaze erscheint, das auftauchende Bild ist in diesem Sinne "a

37 Levi, Primo, Ist das ein Afensch? Ein autobiographischer Bericht, München (10. Auflage) 20021,
S.128.
38 Freud, Sigmund, "Der Mann Moses und die monotheistische Religion", in: Gesammelte Werke
XVI, a.a.ü., S. 101-246, hier S. 180. 40 Lichtenberg-Ettinger, Bracha, The Matrixial Gaze, Leedsl UK 1995, S. 30.
39 Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenologie, 41 Lichtenberg-Ettinger, Bracha, "Art as the Transport-Station ofTrauma", in: Artworking 1985-
Frankfurt am Main 2002, S. 276. 1999. Ghent-Amsterdam 2000, S. 91-115, hier 5.113.
Antje Kapust . Bernhard Waldenfels (Hrsg.)

KUNST. BILD.
WAHRNEHMUNG. BLICK.
MERLEAU-PONTY ZUM
HUNDERTSTEN

Wilhe1m Fink
Umschlagabbildung:
Rene Magritte: rEmpire des Lurnieres, 1958 Inhalt
© VG Bild-Kunst, Bann 2010

ANT)E KApUST
Kunst im Zeichen signifikativer überschüsse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1. BILD DENKEN

BERNHARD WALDENFELS
Bildhaftes Sehen. Merleau-Ponty auf den Spuren det Malerei. . . . . . . . . . .. 31

JEAN-Luc NANCY
Fremdartige Fremdkörper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 51

GEORGES DIDI-HuBERMAN
Abdruck und Staub. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 61

ANTjE WUST
Metamorphose, Metensomarose und Morphogenese in der Kunst. . . . . . . .. 79
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
EVA SCHÜRMANN
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Möglichkeitsspielräume des Sichtbaren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 97
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
. http://dnb.d-nb.deabrufbar.
1I. BILD RÄUME
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen
Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung
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andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.
REINOLD GÖRLING
© 2010 Wilhelm Fink Verlag, München Die Schreckensseite der Sichtbarkeit: Traumabilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 117
Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG,Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn

Internet: www.fink.de
HANs- DIETER HUBER
Überkreuzte Blicke. Merleau-Ponty, Lacan, Becket!, Spencer-Brown ....... 135
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Herstellung: Ferdinand Schäningh GmbH & Co KG, Paderborn JÖRG HUBER
Leibhaftigkeit - Autofiguration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 147
ISBN 978-3-7705-4619-0

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