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Phänomenal

von

Robert Todd Carroll


Robert T. Carroll ist Professor für Philosophie am Sacra-
mento City College in Kalifornien. Er ist der Verfasser des
"Skeptic's Dictionary".
In der MorgenWelt-Reihe "Phänomenal" setzt sich Carroll mit
Sachkenntnis - und zumeist einer gehörigen Portion Ironie und
Polemik - mit allen Spielarten der Esoterik und Pseudowissen-
schaften auseinander.

In diesem E-Book habe ich die deutschen Artikel von Carrol


zusammengestellt die auf der Webseite
http://www.Morgenwelt.de erschienen sind.
Dort erscheint jeweils monatlich ein neuer Artikel ☺
Warthog2000
Akupunktur
Akupunktur funktioniert - aber was bedeutet das? Die
meisten der wahrgenommenen Wirkungen der Akupunk-
tur sind der Macht der Suggestion zuzuschreiben.

Akupunktur ist eine traditionelle chinesische medizinische


Technik zur Beeinflussung des Chi (ch'i oder qi) und damit zur
Balancierung der gegensätzlichen Kräfte Yin und Yang. Chi,
eine angebliche "Energie", die alle Dinge durchdringt, fließt
nach dieser Überzeugung durch den Körper entlang von 14
Hauptwegen namens Meridianen. Wenn Yin und Yang in
Harmonie zueinander stehen, fließt das Chi frei durch den
Körper und der Mensch ist gesund. Ist er krank, verletzt oder
infiziert, so geht man davon aus, dass ein Hindernis an einem
der Meridiane das chi blockiert. Akupunktur besteht darin,
dass Nadeln in bestimmte Teile des Körpers gestochen wer-
den, die dann - so sagt man - ungesunde Blockaden des chi
entfernen und die Verteilung von Yin und Yang wiederher-
stellen. Manchmal sind die Nadeln erhitzt oder einer leichten
elektrischen Spannung, Ultraschall oder bestimmten Wellen-
längen des Lichts ausgesetzt. Ganz gleich, wie man es genau
macht: Der wissenschaftlichen Forschung ist es nicht gelun-
gen, nachzuweisen, dass Akupunktur gegen irgendeine Er-
krankung hilft.
Eine Variante traditioneller Akupunktur nennt sich Auriku-
lotherapie oder Ohr-Akupunktur. Es ist eine Diagnose- und
Behandlungsmethode, die auf dem unbestätigten Glauben
beruht, das Ohr sei die Landkarte der inneren Organe. Ein
Problem mit einem Organ wie beispielsweise der Leber wird
behandelt, indem man eine Nadel in einen bestimmten Punkt
am Ohr sticht, der mit dem betreffenden Organ korrespondie-
ren soll. Ähnliche Ideen von Körperteilen als Organlandkarten
werden von Iridologen (die Iris als Karte des Körpers) und
Reflexologen (der Fuß ist die Karte) vertreten. Eine Abart der
Aurikulotherapie ist die "Klammerpunktur", eine Behand-

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lungsmethode, die Klammern in bestimmte Teile des Ohrs
heftet - in der Hoffnung, wunderbaren Effekte zu erzielen wie
etwa, dass der Patient das Rauchen aufgibt. Es gibt keine wis-
senschaftlichen Belege für irgendeine dieser Theorien oder
Praktiken.
Akupunktur wird in China seit mehr als 4000 Jahren ver-
wendet, um Schmerzen zu lindern und Krankheiten zu heilen.
Traditionelle chinesische Medizin basiert nicht auf dem Wis-
sen von moderner Physiologie, Biochemie, Ernährungswissen-
schaft, Anatomie oder irgendeines bekannten Heilverfahrens.
Sie basiert ebensowenig auf der Kenntnis von Zellchemie,
Blutkreislauf, Nervenfunktionen, der Existenz von Hormonen
oder anderer biochemischer Substanzen. Es gibt keine Verbin-
dung zwischen den Meridianen der traditionellen chinesischen
Medizin und der tatsächlichen Anordnung von Organen und
Nerven im menschlichen Körper.
Das amerikanische National Council Against Health Fraud,
Inc. (NCAHF) - eine private, auf freiwilliger Basis beruhende,
gemeinnützige Organisation, die sich mit Fehlinformationen,
Betrug und Quacksalberei in Gesundheitsdingen befasst -
stellte fest, dass von allen 46 medizinischen Fachzeitschriften,
die vom chinesischen Ärztebund (CMA) herausgegeben wer-
den, keine sich mit Akupunktur oder anderen traditionellen
chinesischen Behandlungsmethoden befasst. Dessen ungeach-
tet wird vermutet, dass zwischen 10 und 15 Millionen US-
Amerikaner etwa 500 Millionen Dollar im Jahr für Akupunk-
tur ausgeben - für alle möglichen Zwecke, von Schmerzlinde-
rung über Drogenentzug bis hin zur AIDS-Bekämpfung.
Trotz fehlender wissenschaftlicher Bestätigung wird Aku-
punktur verwendet bei der Behandlung von: Depressionen,
Allergien, Asthma, Arthritis, Blasen- und Nierenproblemen,
Verstopfung, Durchfall, Erkältungen, Grippe, Bronchitis,
Schwindelgefühlen, Rauchen, Erschöpfungszuständen, gynä-
kologischen Problemen, Kopfschmerzen, Migräne, Lähmung,
hohem Blutdruck, sexuellen Schwierigkeiten, Stress, Schlag-
anfällen, Sehnenzerrung und Augenproblemen. Während Chi-

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na also Fortschritte in der wissenschaftlich abgesicherten Be-
handlung von Krankheiten macht, scheinen viele Menschen in
den USA, in Deutschland und in anderen Teilen der Welt
Rückschritte zu machen und nach metaphysischen Ursachen
für ihre physischen Probleme zu suchen.
Im März 1996 klassifizierte die Federal Drug Administration
(FDA; US-Behörde für die Zulassung von Medikamenten)
Akupunkturnadeln als medizinische Geräte, die von geübten
Praktikern frei verwendet werden können. Bis dahin hatten
Akupunkturnadeln als medizinische Geräte der Klasse III ge-
golten. Diese Klasse bezieht sich auf Geräte, deren Nützlich-
keit und Sicherheit so zweifelhaft sind, dass sie nur in zugelas-
senen Forschungsprojekten verwendet werden dürfen. Auf-
grund dieses "experimentellen" Status hatten sich viele Versi-
cherungsgesellschaften ebenso wie Medicare und Medicaid
(öffentliches Gesundheitssystem der USA) geweigert, Aku-
punktur in ihren Leistungskatalog aufzunehmen.
Die neue Einstufung bedeutet nun sowohl häufigeren Ge-
brauch als auch verstärkte Forschung im Bereich der Nadeln.
Sie beinhaltet ebenfalls, dass Versicherungsgesellschaften
möglicherweise bald nicht mehr in der Lage sein werden, die
Zahlung für sehr fragwürdige Akupunkturbehandlungen ver-
schiedener Erkrankungen zu vermeiden. Wayne B. Jonas,
Direktor des Büros für Alternativmedizin an den National
Institutes of Health in Bethesda (US-Bundesstaat Maryland)
meint trotzdem, dass die Neu-Einstufung der Akupunkturna-
deln "eine sehr kluge und logische Entscheidung" sei. Das
Büro für Alternativmedizin unterstützt die Forderung nach
neuen Untersuchungen über die Wirksamkeit von Akupunk-
turnadeln und ist bereit, größere Mengen von Steuergeldern
dafür auszugeben.
Allerdings wird man in den USA und in anderen westlichen
Ländern nicht Akupunktur testen, sondern etwas sehr stark
Eingeschränktes: Was man testen wird, ist die Wirksamkeit
von Nadeln, die in Muskeln gestochen werden. Falls dies zu
einer Absenkung des Blutdrucks führt, ist das keine Bestäti-

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gung der Akupunktur, da traditionelle chinesische Akupunktur
keine wissenschaftliche, sondern eine metaphysische Theorie
ist - und metaphysische Theorien können nicht empirisch
überprüft werden. Die Frage, wie eine physische Nadel eine
metaphysische Wesenheit wie das Chi beeinflusst, wird des-
halb nicht auf der Tagesordnung der Tester stehen. Natürlich
kann man traditionelle Akupunktur auch nicht widerlegen.
Daher liegt eine vollkommene Harmonie zwischen Beweis
und Widerlegung vor: Beide sind gleichermaßen unmöglich.
Vermutlich ist die häufigste Verteidigungslinie, auf die sich
Anhänger in Ost und West zurückziehen, die pragmatische:
Akupunktur funktioniert! Was bedeutet das? Es bedeutet si-
cher nicht, dass das Stechen von Nadeln in den Körper blok-
kiertes Chi befreit. Es bedeutet höchstens, dass eine gewisse
Erleichterung eintritt. Die NCAHF hat ein Positionspapier
herausgegeben, in dem klargestellt wird, dass "Forschungen in
den letzten zwanzig Jahren nicht nachweisen konnten, dass
Akupunktur gegen irgendeine Krankheit wirkt" und dass "die
wahrgenommene Wirkung der Akupunktur wahrscheinlich auf
einer Kombination von Erwartungshaltung, Suggestion, Kon-
ditionierung und anderer psychologischer Mechanismen be-
ruht." Kurz, die meisten der wahrgenommenen positiven Wir-
kungen der Akupunktur sind vermutlich der Macht der Sugge-
stion und dem Placebo-Effekt zuzuschreiben.
Die häufigsten Erfolgsmeldungen der Akupunktur beziehen
sich auf die Schmerzlinderung. Forschungen haben ergeben,
dass viele Akupunkturstellen stärker mit Nervenendungen
versehen sind als umliegende Hautbereiche. Manche Untersu-
chungen deuten darauf hin, dass Nadelstechen in bestimmte
Stellen das Nervensystem beeinflusst und die körpereigene
Produktion von natürlichen Schmerzmitteln wie Endorphinen
und Encephalinen anregt und einige Neuralhormone freisetzt,
unter ihnen Serotonin. Eine andere Theorie besagt, dass Aku-
punktur die Schmerzweiterleitung von Körperteilen zum zen-
tralen Nervensystem blockiert. Diese Theorien über chemische
Stimulation und Blockade von Nervenimpulsen sind empirisch

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überprüfbar. Sie bedienen sich der Sprache der westlichen
wissenschaftlichen Sicht der anatomischen und neurologischen
Systeme des Körpers.
Doch auch in diesem Bereich sind die meisten Belege für die
Wirksamkeit der Akupunktur denjenigen ähnlich, die es für
andere so genannte "alternative" Heilverfahren gibt: Sie sind
größtenteils anekdotischer Natur. Leider gibt es für jede An-
ekdote eines Menschen, dessen Schmerzen durch Akupunktur
gelindert wurden, eine andere Anekdote von jemandem, dem
durch Akupunktur nicht geholfen wurde. Manchmal ist die
Linderung real, aber nur kurzlebig. Die Behandlung ähnelt
hier einer Betäubung: Der Patient benötigt danach Hilfe beim
Gehen oder Autofahren, fühlt sich für eine Weile gut, doch
nach ein oder zwei Tagen kehrt der Schmerz zurück. Alles,
was man bis heute mit Sicherheit sagen kann, ist: Nadeln an
traditionellen Akupunkturstellen in den menschlichen Körper
zu stechen, scheint häufig wirksam bei der Schmerzlinderung
zu sein. Allerdings stimmen die meisten Schmerzforscher
darin überein, dass 30 bis 35 Prozent von Schmerzpatienten
allein von der Suggestion oder dem Placebo-Effekt profitieren
und es egal ist, welche Behandlungsform genau verwendet
wird.
Es gibt noch andere Probleme in der Schmerzforschung. Das
Messen von Schmerz ist vollständig subjektiv - und traditio-
nelle Akupunkteure bemessen den Erfolg ihrer Behandlung
praktisch nur auf diese Art, wobei sie sich auf ihre eigenen
Beobachtungen und Patientenberichte verlassen, anstatt ob-
jektive Labortests durchzuführen. Außerdem ist es bei vielen
Menschen, die auf Akupunktur (oder Therapeutic touch, Reiki,
Irisdiagnose, Meditation, etc.) schwören, so, dass sie mehrere
einschneidende Veränderungen in ihrem Leben zur gleichen
Zeit vornehmen und damit eine Ermittlung signifikanter Ursa-
chen in einer Kontrollstudie erschweren.
Sollten Kontrollstudien zeigen, dass Nadelstechen wirklich
bei Drogensucht oder AIDS hilft, werden die Akupunkteure
dann Genugtuung fordern? Werden sie behaupten, das Chi

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fließe in denselben Bahnen wie das Blut oder die Nervenim-
pulse und dass es ein Paralleluniversum neben dem physischen
Universum gebe, eine Art ursprünglicher Harmonie zwischen
Chi, Yin, Yang und dem Körper? Theoretisch könnte man
alles, was zum Beispiel bei der Ausschüttung von Endorphi-
nen nachgewiesen wird, auch auf Chi zurückführen, ungeach-
tet der Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit dieser Theorie. Doch
was, wenn herauskommt, dass Nadelstechen weder hohen
Blutdruck senkt noch Bronchitis heilt? Wird man das dann als
Beweis gegen Chi akzeptieren?
Einige der Akupunkturstudien des Büros für Alternativmedi-
zin am National Institute of Health ähneln normalen Kontroll-
studien, aber keine Kontrollstudie kann jemals die Existenz
von Chi, Yin, Yang oder irgendeiner anderen Wesenheit über-
prüfen. Man hat auch Tests durchgeführt, in denen man die
Patienten in zufällige Gruppen unterteilte, von denen einige
mit Akupunktur behandelt wurden, während die anderen
"Scheinakupunktur" bekamen. Letztere bestand darin, dass
Akupunkturnadeln in Körperzonen gestochen wurden, die
nicht zu den klassischen 500 Punkten gehören. Es erscheint
etwas unvernünftig, Menschen mit Nadeln in den "richtigen"
Körperstellen mit solchen zu vergleichen, die Nadeln in den
"falschen" Stellen haben, es sei denn, man hätte zuvor sicher
herausgefunden, dass Nadelstechen definitiv dabei hilft,
Schmerzen zu lindern, und befände sich nur noch auf der Su-
che nach den besten Stellen.
Man betrachtete die "Scheinakupunktur" als analog zu einer
Placebobehandlung, aber war sie es? Wenn bessere Resultate
damit erzielt werden, dass man die traditionellen Körperstellen
verwendet, beweist dies die Wirksamkeit traditioneller Aku-
punktur? Natürlich nicht. Es beweist lediglich, dass nach 4000
Jahren die Chinesen herausbekommen hatten, wo man die
Nadeln am besten hineinstechen sollte, um Schmerzen zu lin-
dern oder ähnliche Effekte zu erzielen. Aber keine Studie die-
ser Art wird Aufschluss darüber geben, ob Chi-Blockaden
aufgehoben wurden oder Yin und Yang aus dem Takt sind.

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Kontrollstudien mit objektiven Messmethoden könnten jedoch
ermitteln, wie viel vom Erfolg der Akupunktur auf nichts an-
deres als subjektive Einschätzung der Beteiligten zurückzufüh-
ren ist. Sie könnten auch klarstellen, ob diese Erfolge kurz-
oder langlebig sind.
Zum Schluss die wichtige Frage: Kann Akupunktur schaden?
Nun, abgesehen davon, dass Patienten sich keiner anderen
Behandlung unterziehen, obwohl die moderne Medizin ihnen
helfen könnte, bestehen durchaus weitere Risiken. Es gibt
Berichte von Lungen- und Blasenverletzungen, von zerbro-
chenen Nadeln und von allergischen Reaktionen auf Nadeln,
die aus anderen Materialien als reinem OP-Stahl bestehen.
Akupunktur kann außerdem dem Fötus in der frühen Schwan-
gerschaft schaden, da sie möglicherweise die Produktion von
ACTH (Adrenocorticotropes Hormon) und Oxytozin fördert,
was sich auf die Wehen auswirken kann. Und schließlich be-
steht natürlich die Infektionsgefahr, die von nicht sterilen Na-
deln ausgeht.

Übersetzung: Tobias Budke

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Amway
"Es ist kein Kult. Es ist keine Religion. Es ist Amway."

Amway ist der größte Strukturvertrieb der Welt. Es handelt


sich um eine Multimilliardenfirma, deren Grundlage der Ver-
kauf von so unterschiedlichen Produkten wie Seife, Wasser-
reiniger, Vitamintabletten und Kosmetika bildet. Amway-
Vertreter weisen gerne darauf hin, dass ihre Produkte höchsten
Ansprüchen genügen, ihre Firma sehr groß ist (etwa 1.8 Mil-
lionen Vertreter und ein Verkaufsvolumen von 5,4 Milliarden
Dollar im Jahre 1997) und dass Amway Geschäfte mit Gigan-
ten wie Coca-Cola und MCI macht.
Bei Amway wird man "unabhängiger" Vertreiber von Am-
way-Produkten, indem man für ein paar Hundert Dollar Pro-
dukte von demjenigen kauft, der einen anheuert und als "upli-
ne" bekannt ist. Jeder Vertreiber versucht nun seinerseits,
weitere Vertreiber zu gewinnen. Das Einkommen setzt sich
zusammen aus dem Verkauf von Produkten plus "Boni", die
man aus den Verkäufen erhält, die ein selber angeheuerter
Vertreiber und die von diesem angeheuerten Vertreiber mach-
ten.
Nachfolgend die Beschreibung des Amway-Vertreiber Bob
Queenan über das System von Amway:
Wenn ich in diesem Monat für 200 Dollar Amway-Produkte
kaufe, erhalte ich einen Bonus von 3% (also 6 Dollar). Teile
ich dieses Geschäft mit neun weiteren Leuten und jeder von
uns kauft für 200 Dollar Amway-Produkte, dann erhält jeder
von ihnen diesen Bonus, aber ich habe insgesamt 2.000 Dollar
eingebracht, was mich auf die 12%-Stufe hochbringt. Somit
bekomme ich 240 Dollar. Allerdings bin ich für die Boni der
Leute unter mir verantwortlich - 54 Dollar - und kann 186
Dollar behalten. Ich verdiene mehr, weil ich mehr geleistet
habe, nämlich neun Leute zu finden, die mit Rabatt kaufen und
dafür einen Bonus bekommen wollen. Nach Erreichen der
25%-Stufe treten noch andere Boni in Kraft, aber sie basieren

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alle auf dem Produktverkauf und nicht auf der Zahl der ange-
heuerten Mitarbeiter oder Vertreiber.
Verteidiger von Amway nehmen Anstoß daran, dass diese
Verkaufs- und Rekrutierungsmethode mit einem Pyramiden-
oder Kettenspiel verglichen wird. Es stimmt, dass ein Struk-
turvertrieb wie Amway kein illegales Pyramidenspiel ist:
Nachdem Amway beschuldigt wurde, ein illegales Pyramiden-
spiel zu betreiben, haben die Gerichte entschieden, dass die
Firma, da sie Geld weder für den Einstieg noch für das Privi-
leg fordert, andere Personen anzuheuern, keine illegale Pyra-
mide darstelle - illegale Pyramidenspiele und Kettenbriefe
haben kein Produkt zu verkaufen. Amway hingegen hat jede
Menge davon, vor allem Haushaltswaren: vom Waschmittel
bis zur Vitamintablette, von Kosmetika bis zu Wasserfiltern.
Amway ist ein also legales Pyramidenspiel.
Es gibt mehrere eindeutige Aspekte eines Strukturvertriebs,
die eine Bezeichnung als legales Pyramidenspiel rechtfertigen.
Einer von diesen ist, dass das Einkommen eines Vertreibers
nicht vor allem von seinen eigenen Amway-Produktverkäufen
abhängt, sondern von den Verkäufen, die jene Personen ma-
chen, die er angeworben hat. In der Praxis ist das recht kom-
pliziert, Bob Queenan beschreibt sie so:
Kommen wir zu den tatsächlichen Mechanismen. Wenn mein
Produktvolumen niedrig ist, ist es sinnvoll, meine Bestellung
mit anderen zu kombinieren, um den Papierkram zu verrin-
gern. Also bestelle ich bei Amway, indem ich meinen "upline"
anrufe und meine Bestellung aufgebe. Dieser packt meine
Bestellung mit anderen zusammen und nimmt direkten Kontakt
zu Amway auf. Die Firma liefert normalerweise direkt zum
"upline" und wir fahren zu ihm und holen unsere Produkte ab,
aber ich wohne zu weit weg, als dass dieses Verfahren sinnvoll
wäre. Also bestelle ich durch meinen "upline", aber erhalte
direkte Lieferungen vom Amway.
Verkaufe ich an andere Vertreiber? Nein, wir kaufen alle di-
rekt von Amway. Erhalten andere Vertreiber ihre Produkte
durch mich? Ja, ich sammele die Bestellungen und schicke sie

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zu Amway.
Bekomme ich Geld von meinen Vertreibern? Ja, für die Pro-
dukte, die sie kaufen. Ich mache eine Sammelüberweisung an
Amway.
Profitiere ich davon, wenn meine Vertreiber mehr kaufen?
Ja - sie tun es, aber ich auch.
Kommt mein Bonus von ihrem Geld? Nein, es kommt aus
dem Bonustopf, der gefüllt wird mit dem Geld, das man durch
das Fehlen von Mittelsmännern spart.
Irgend etwas scheine ich hier verpasst zu haben - sind die
Vertreiber nicht ihre eigenen Mittelsmänner? Verkaufen die
Vertreiber nicht wiederum an andere Vertreiber? Steigt das
Einkommen nicht vor allem dadurch, dass man neue Mitglie-
der für die Organisation rekrutiert? Ist nicht das Unternehmen
Amway der große Gewinner dabei?
Ein Amway-Kunde kauft nicht nur ein Waschmittel, er wird
vielmehr angeworben als Geistlicher für einen Glauben mit
einer komplizierten Buchhaltung. Sie fragen sich, warum geht
man nicht einfach hinüber zum Supermarkt und kauft Seife
ein? Weil der Vertreter jemand ist, den Sie kennen, oder mit
dem Sie gemeinsame Bekannte haben - und er lädt Sie zum
Kaffee ein und erzählt Ihnen von einer wunderbaren Gelegen-
heit. Die Chancen stehen gut, dass Sie etwas kaufen, sei es aus
Freundlichkeit oder weil Sie tatsächlich Seife oder Vitaminta-
bletten brauchen. Möglicherweise werden Sie selber Amway-
Vertreter. In beiden Fällen macht der Vertreter, der Ihnen Sei-
fe oder Vitamintabletten verkauft, einen Profit. Werden Sie
selber Vertreter, dann geht ein Anteil von jedem Verkauf, den
Sie machen, an Ihren Anwerber. Neue Mitarbeiter werden
nicht hauptsächlich durch den Reiz, als Hausierer Amway-
Produkte zu verkaufen, Teil des Systems, sondern vor allem
durch die Gelegenheit, Amway selber an andere zu verkaufen,
die - so hofft man - dasselbe tun werden. Die Produkte schei-
nen zweitrangig, verglichen mit der Anwerbung. Dennoch
werden die Vertreiber über wenig mehr sprechen als die hohe
"Qualität" der Produkte. Die Rechtfertigung für einen Struk-

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turvertrieb ist die hohe Produktqualität. Der eigentliche An-
trieb für den Vertreiber ist jedoch die Möglichkeit, Geld durch
die Verkäufe anderer zu verdienen, nicht durch den Verkauf
selber.
Wenn das jährliche Verkaufsvolumen von Amway 5,4 Milli-
arden Dollar beträgt und es 1,8 Millionen Vertreiber gibt, dann
liegt der Verkaufsumfang des durchschnittlichen Vertreibers
bei etwa 3.000 Dollar im Jahr. Sind davon 30% Gewinn, dann
nimmt ein Vertreiber 900 Dollar im Jahr ein. Klebniov gibt an,
dass das Durchschnittseinkommen bei 780 Dollar liegt, der
gewöhnliche Vertreiber aber für 1.068 Dollar im Jahr Amway-
Produkte kauft - dazu kommen noch Telefonrechnungen,
Sprit, Motivationstreffen, Werbungsmaterial und andere Aus-
gaben, um das Geschäft zu erweitern. "Der durchschnittliche
Vertreiber verkauft nur etwa 19% seiner Produkte an Kunden,
die nichts mit Amway zu tun haben," schreibt Klebniov. "Der
Rest dient entweder dem persönlichen Verbrauch oder wird an
andere Vertreiber verkauft." In den USA hat die FTC (Federal
Trade Commission, US-Kartellamt) Amway auferlegt, ihre
Produkte mit der Aufschrift zu versehen, dass 54% der Am-
way-Vertretern nichts und die restlichen im Durchschnitt 65
Dollar pro Monat verdienen. Solche Aufkleber sind in anderen
Ländern nicht vorgeschrieben, aber die Fakten sind klar: Die
meisten Menschen, die bei Amway einsteigen, machen kein
Geld.
Weit entfernt davon, ihr Einkommen aufzubessern, wird die
überwältigende Mehrheit der Amway-Vertreiber, insbesondere
innerhalb des "Systems", nichts als Verluste machen.
Der Großteil des Reichtums, über den die Handvoll von Top-
Vertreibern in diesem Land verfügt, kommt nicht nur aus dem
Vertrieb von Amway-Produkten, sondern vom Verkauf von
Motivationshilfen, der Organisation von Seminaren und dem
Veranstalten von Versammlungen für diejenigen unter ihnen.
(Tony Thompson: "The Hidden Persuaders", in: Time Out,
June 22-29, 1994)
Amway hat sehr wenige Menschen sehr reich gemacht, wäh-

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rend das Fußvolk eher Inspiration erhält als Geld. Daran ist
nichts Neuartiges in der Geschichte der Wirtschaft. Was neu-
artig ist, sind Vertrauen, Hingabe und Hoffnung, die das Fuß-
volk an den Tag legt.
Kritiker haben Amway mit einem Kult verglichen, dessen
Hauptprodukt Amway selber ist. Die Amway-Leute haben
gewiss Ähnlichkeit mit Anhängern einer Religion. Sie setzen
großes Vertrauen in die Firma, ihre Produkte, und die Hoff-
nung auf Reichtum und Vorruhestand. Sie nehmen an Semina-
ren und Versammlungen teil, die einen an Treffen von Wie-
dergeborenen Christen erinnern und auf denen die Macht des
positiven Denkens den Glauben an Jesus ersetzt (oder beglei-
tet). An Stelle einer Parade von Menschen, die durch ihren
Glauben geheilt wurden, versorgt man die Amway-Gläubigen
mit Bekenntnissen zur Frührente in Wohlstand. Obwohl Am-
way gelegentlich beschuldigt wurde, die Abgefallenen zu ver-
folgen, scheint die Hingabe an Amway doch mehr oder weni-
ger harmlos zu sein. Amway unterscheidet sich offenbar nicht
sehr von anderen eifernden Großkonzernen, die positives
Denken über das Geschäft des Geschäftemachens in endlosen
motivationsfördernden Seminaren, Treffen, Büchern, Kasset-
ten, Broschüren und so weiter predigen.
Der Engländer Graham Baldwin vergleicht ein Amway-
Motivationstreffen mit einer Erweckungs- oder Kultver-
sammlung. Der ehemalige Universitätskaplan versucht, Men-
schen mit seinem Programm ("Catalyst") dabei zu helfen, sich
von religiösen Kulten zu lösen. Kurz nach einer seiner Sen-
dungen erhielt er einen Anruf von einem Mann, der erklärte,
wie die Gruppe, der er ein Jahr zuvor beigetreten war, dabei
war, langsam sein Leben zu übernehmen. Es gab große mo-
natliche Treffen an Orten wie dem Wembley Conference
Centre, auf denen er und Tausende von Anhängern in leiden-
schaftliche Raserei versetzt und dann aufgefordert wurden,
hinauszugehen und so viele Leute wie möglich anzuwerben.
Es gab eine machtvolle Doktrin, die das Fernsehen, die Zei-
tungen und andere "negative" Einflüsse verachtete, es gab eine

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strikte Kleiderordnung und Ratschläge, wie man Kinder erzie-
hen und Beziehungen pflegen solle. Und es herrschte die
Angst vor, dass ein Aussteigen das Ende der Hoffnung auf
eine glückliche Zukunft bedeute.
Nachdem er jedoch die Sendung Baldwins gesehen hatte,
gab der Mann an, er sei einer Gedankenkontrolle unterzogen
und von seinen Oberen manipuliert worden. Er bat um Tips,
wie er aussteigen könne. Baldwin fragte ihn daraufhin, wel-
chem Kult er angehöre. Er antwortet: "Es ist kein Kult. Es ist
keine Religion. Es ist Amway."
Manchem der Amway-Kritiker mag Amway wie ein religiöser
Kult erscheinen, aber andere sehen es als reines Hütchenspiel.
Die Geistlichen dieser Konfession wirken ihre Magie dadurch,
dass sie andauernd hinweisen auf: die Qualität der Produkte,
ihr Eintreten für Ethik, den Reichtum ihrer Firma, ihre Ver-
bindungen zu Coca-Cola oder MCI, die Behauptung, sie spar-
ten Geld für Mittelsmänner oder Werbung, und die zahlreichen
Bekenntnisse derjenigen Gläubigen, die durch das Tal des
Todes gegangen sind und Berggipfel mit Säcken voll Geld
erreicht haben. In der Zwischenzeit bemerkt man nicht, dass
die Produkte in ihrer Bedeutung eindeutig hinter dem Anwer-
bevorgang zurückbleiben, mit dem man neue Leute findet, die
diese Produkte verkaufen sollen. Man sieht ebensowenig, dass
Reichtum und Verbindungen der Firma keinerlei Relevanz für
die Versprechungen von Reichtum für die Millionen angewor-
bener Vertriebsleute haben. Auch ist einem nicht klar, dass
viele Kosten - so etwa für Versand, Lieferung, Formulare,
Werbung und Fahrten mit dem eigenen Auto zum Abholen
oder Ausliefern - von den Vertreibern selber übernommen
werden. Genau so wenig wird man des Umstandes gewahr,
dass - obwohl einige wenige Leute anständig oder sogar mehr
als anständig davon leben - die Chancen des einzelnen Ver-
treibers, reich zu werden, unglaublich klein sind. Während die
Anführer über Ethik reden, bemerkt man nicht, dass sie Gier
und Unzufriedenheit fördern. Und ganz bestimmt hört man
niemals von den Aussagen derjenigen, die sich von Amway

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betrogen fühlen: Aussteigern wird nicht gestattet, Stellung-
nahmen auf einer Versammlung abzugeben.
Das Spiel wird dadurch noch komplizierter, dass die Apostel
dieses Glaubens, spricht man sie darauf an, dass die meisten
Amway-Vertreiber Verluste machen (indem sie mehr Produkte
von Amway kaufen als sie wieder verkaufen) oder lediglich
sehr bescheidene Einkünfte haben, nicht ehrlich und direkt
antworten: "Das ist bei einem solchen System zu erwarten."
Stattdessen behaupten sie, niemand habe jemals gesagt, man
werde schnell reich bei Amway, und niemand habe großen
Reichtum durch wenig Arbeit versprochen. Diejenigen, die es
nicht schaffen, sind nun mal Versager. Sie arbeiten nicht hart
genug. Sie widmen Vertrieb und Anwerbung nicht genug Zeit.
Diese Versager brauchen Motivationshilfen!
Ehemalige Amway-Vertreter sagen, dass - wie bei so vielen
Bewegungen mit Personenkult – Amways Haltung gegenüber
kritischen Insidern hart an Verfolgungswahn grenzte. Edward
Engel war Amways Hauptfinanzverwalter bis 1979, er trat
zurück aufgrund einer Meinungsverschiedenheit mit DeVos
und Van Andel (den Gründern von Amway) bezüglich der
Amway-Operationen in Kanada. Das scheint ihm das Kains-
mal beschert zu haben: Er gibt an, er und seine Familie hätten
für mehrere Jahre nach seinem Ausstieg Drohungen erhalten.
"Es war eine Art 'Big Brother'-Organisation," meint Engel
heute. "Jeder nahm an, die Telefone seien verwanzt - und Am-
way habe etwas über jeden von uns."
Dorothy Edgar, Engels ehemalige Sekretärin, war den Ka-
nadiern 1983 bei den Untersuchungen bezüglich Amway be-
hilflich. Nachdem sie in Chicago eingeschüchtert worden war,
teilte man ihr mit, "sich von Amway fernzuhalten." Engel, der
sie nach dem Zwischenfall abholte, glaubt ihre Geschichte;
von Amway kam kein Kommentar.
1982 gab es schlechte Publicity für Amway, als ein Ex-
Vertreter namens Philip Kerns kündigte und einen Enthül-
lungsbericht verfasste, den er "Fake it Till You Make It"
nannte [etwa: "Betrügen, bis man es schafft", AdÜ]. Kerns

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klagt Amway an, ihn mit Privatdetektiven verfolgt und einge-
schüchtert zu haben. Kerns' Aussage brachte die TV-
Sendungen "Phil Donahue Show" und "60 Minutes" dazu,
wenig schmeichelhafte Amway-Berichte zu bringen. Amways
Erfolg bei Anwerbungen sackte ab, und mit ihm die Verkaufs-
zahlen um geschätzte 30% in den frühen 80ern.
1984 kündigte ein weiterer ehemaliger Amway-Insider, Do-
nald Gregory, an, ein Buch über Amway schreiben zu wollen,
aber die Firma erwirkte eine einstweilige Verfügung gegen ihn
an einem Gerichtshof in Grand Rapids.
(Paul Klebniov: "The Power of Positive Inspiration", in:
Forbes, December 9, 1991)
Dessen ungeachtet sind die Mehrzahl der Amway-Vertreiber
vermutlich anständige Leute, die an die Qualität und den Wert
der Amway-Produkte glauben und die mitmachen, um auf
legale und anständige Weise Geld zu verdienen. Sie sind nicht
dafür verantwortlich, was die Gründer oder "uplines" machen.
Sie machen ihren Freunden keine ausufernden Versprechun-
gen über Millionenverdienste mit nur ein paar Stunden Arbeit
pro Woche. Der durchschnittliche Amway-Vertreter ist zwei-
fellos nicht wie James Vagyi.
Jetzt, da der Kapitalismus in viele der ehemals kommunisti-
schen Staaten Europas Einzug gehalten hat, hat Amway seine
sich stetig vermehrenden Wurzeln auch in Ländern wie Un-
garn und Polen geschlagen. James Vagyi, Chef-Anwerber für
Ungarn, teilt potentiellen Vertreibern mit, das Mindestein-
kommen liege bei etwa 9.000 Dollar pro Monat (700.000 Fo-
rint). Vagyi zu einer Gruppe von Kandidaten: "Wenn man
zehn Millionen Menschen 40 Jahre lang überzeugen kann, den
Sozialismus in Ungarn aufzubauen, dann sollten Sie sechs
Leute für unsere Sache auftreiben können." Wenn diese sechs
weitere sechs finden und diese wieder sechs, wird man in
Windeseile reich. Vagyi zeigt seinem Publikum ein Video, das
mit einer Botschaft von Amways Mitbegründer Richard De-
Vos endet: "Ethik und Sorge für das Wohlergehen von Men-
schen sind die Grundlagen für Amways Geschäfte." Vielleicht.

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Aber einige Vertreiber haben offenbar zynische Ansichten
über Ethik, und die einzigen Menschen, deren Wohlergehen
ihnen am Herzen liegt, sind sie selber. Allerdings: Trifft das
nicht auf alle Arten von Geschäften zu? Gibt es nicht immer
ein paar schwarze Schafe, die den Ruf der ganzen Herde ver-
derben?
Sehr unwahrscheinlich, dass die Mehrzahl der Amway-
Vertreiber Vagyis Beispiel folgt oder dem von Michael Aspel,
der ein seltsames Anwerbungsvideo in London einsetzte. In
dem Video sieht man "Pärchen, die in riesigen Bungalows
leben und Luxusschlitten fahren, während sie darüber reden,
wie viel Freiheit und Unabhängigkeit ihnen Amway beschert
hat. Die Stimme des Erzählers berichtet davon, dass die Firma
auf 'Ethik und Integrität' aufgebaut ist und 'Tausenden gehol-
fen hat, ihre Lebensqualität zu erhöhen.'" (Thompson)
Des weiteren kann kein Zweifel daran bestehen, dass die
meisten Amway-Versammlungen nicht so sind wie diese von
Paul Klebniov beschriebene:
An einem Sommerwochenende kamen über 12.000 begei-
sterte Menschen zusammen, um an einer Kundgebung in
Richmond teilzunehmen. Ein paar von ihnen waren wohlha-
bende Vertreiber von Amway-Produkten - die übrigen wollten
es werden. Das Treffen begann mit einem Gebet und einem
Fahneneid. Auf der Bühne stellte Bill Britt, der Top-Amway-
Vertreter, der die Kundgebung organisierte, die anderen Top-
Vertreter vor, die in ihren Cadillacs und Mercedes gekommen
waren und teure Pelze und Juwelen zur Schau stellten. Jedes
Mal, wenn eines von diesen Vorbildern präsentiert wurde,
jubelte die Menge.
Berichte wie der von Klebniov führen unvermeidlich zu der
Frage: Fördert Amway betrügerisches Verhalten? Die Antwort
ist: Nein. Einer der Hauptkritikpunkte an Amway und ähnli-
chen Strukturvertrieben ist jedoch, dass sie unausweichlich
skrupellose Leute dazu bringen, den Leichtgläubigen vorzu-
gaukeln, mit ein wenig harter Arbeit könnten sie über alle
Maßen reich werden. Reich werden diese skrupellosen Leute

18
selber, nicht durch den Verkauf von Amway-Produkten, son-
dern durch den Verkauf von "Inspirationsmaterial" wie Bü-
chern, Kassetten, Seminaren etc., deren Ziel es ist, Leute dazu
zu bringen, positiv zu denken. Während auch Kritiker zuge-
ben, dass es möglich ist, vom Amway-Produktvertrieb anstän-
dig zu leben, sollten realistisch denkende Menschen jedoch
nicht mehr als ein Zubrot zum eigentlichen Einkommen er-
warten. Das echte Geld kommt mit der Anwerbung für Am-
way. Das ganz große Geld liegt im Verkauf von Motivations-
hilfen, also von Hoffnung.

Anmerkung des Übersetzers:


Der Prozess gegen Amway dauerte von 1975 bis 1979 und
endete - wie oben beschrieben - mit einem Sieg für Amway,
der sämtlichen weiteren Strukturvertrieben Tür und Tor öff-
nete. In Deutschland haben wir es mit Firmen wie Deutsche
Vermögensberatung AG (DVAG), Allgemeiner Wirtschafts-
Dienst (AWD), Hamburg-Mannheimer International (HMI)
oder Objektive Vermögensberatung (OVB) zu tun.

Übersetzung: Tobias Budke

19
Aromatherapie
Die meisten Belege für die Heilkraft von Ölen haben die
Form von Anekdoten - handfeste wissenschaftliche Bewei-
se fehlen, wie so oft in der alternativen Medizin.

Aromatherapie ist ein Begriff, der 1928 von dem französi-


schen Chemiker René Maurice Gattefossé geprägt wurde, um
die Verwendung so genannter essenzieller Öle von Pflanzen,
Blumen, Wurzeln oder Samen in der Heilkunst zu beschrei-
ben. Die Bezeichnung ist etwas irreführend, da das Aroma
eines Öls, sei es natürlich oder synthetisch, im Allgemeinen
selber nicht therapeutisch wirksam ist. Aromen werden ver-
wendet, um die Öle zu identifizieren und ihren Reinheitsgrad
zu bestimmen, aber nicht, um direkt eine Heilung zu bewirken.
Es ist die "Essenz" des Öls - seine chemischen Eigenschaften
- die ihm seinen heilenden Wert geben, wie auch immer dieser
beschaffen sein mag. Darüber hinaus werden Dämpfe in eini-
gen - nicht allen - Arten der Aromatherapie gebraucht. In den
meisten Fällen wird das Öl in die Haut eingerieben oder in Tee
und anderen Getränken eingenommen. Einige Aromathera-
peuten halten sogar das Kochen mit Kräutern für eine Art von
Aromatherapie.
Die heilende Kraft der essenziellen Öle ist der Hauptgrund
für die Beliebtheit der Aromatherapie und außerdem das
Hauptproblem für den Skeptiker. Es gibt nur sehr wenige Be-
weise für all die Behauptungen der Aromatherapeuten bezüg-
lich der verschiedenen heilenden Eigenschaften von Ölen. Die
meisten Belege für die Heilkraft von Substanzen wie etwa
Teebaumöl hat die Form von Anekdoten:
Vor einigen Jahren, im Flugzeug auf dem Weg von Europa
nach Indien, fing mein Zeigefinger an, schmerzhaft zu pulsie-
ren. Ein Rosendorn hatte sich dort zwei Tage zuvor festgesetzt,
als ich meine Rosen geschnitten hatte. Die Wunde war dabei,
sich zu entzünden. Sofort rieb ich unverdünntes Teebaumöl auf
den Finger. Bei meiner Ankunft in Bangalore war die

20
Schwellung beinah abgeklungen, und das Pulsieren hatte auf-
gehört.
(Daniele Ryman, Aromatherapy, Piatkus Books, 1992).
Diese Art von Post-Hoc-Begründung ist überall in der "alter-
nativen" Medizin und ihrer Literatur anzutreffen. Überzeugen-
der wären sicherlich einige Kontrollstudien. Finden sich Hin-
weise auf andere Aromatherapeuten, dann sehen diese ge-
wöhnlich so aus:
"Marguerite Maury verschrieb Rose für Frigidität und
schrieb ihr aphrodisiakische Eigenschaften zu. Außerdem hielt
sie Rose für ein hervorragendes Stärkungsmittel für Frauen,
die an Depressionen litten. "
(Daniele Ryman)
Dieser Art werden niemals mit Skepsis oder auch nur Neu-
gierde betrachtet, wie die Beweise für sie aussehen könnten.
Sie werden einfach weitergegeben, als handele es sich um
Glaubensartikel.
Neben persönlicher Erfahrung scheinen Aromatherapeuten
an Forschung nur interessiert zu sein, wenn es darum geht,
was andere Aromatherapeuten über Pflanzen oder Öle gesagt
oder geschrieben haben. Die Praktiker und Verkäufer von
aromatherapeutischen Produkten wirken gänzlich desinteres-
siert an einer wissenschaftlicher Überprüfung ihrer Behaup-
tungen, von denen viele empirischer Natur sind und getestet
werden könnten.
Natürlich gibt es viele Aromatherapeuten, die nicht über-
prüfbare Behauptungen aufstellen, so etwa über die Auswir-
kung bestimmter Öle auf den "Astralleib", das Gleichgewicht
der Chakren, die Wiederherstellung der harmonischen Ener-
gieströme oder ihren Beitrag zum spirituellen Wachstum.
Behauptungen wie diese sind grundsätzlich nicht überprüfbar.
Sie bilden Teil der New-Age-Mythologie und sind nicht wirk-
lich Gegenstand einer sinnvollen Diskussion oder Debatte.
Wenn Aromatherapeuten beruflich über empirische Themen
diskutieren, geht es meist um Dinge wie die Überlegenheit
natürlicher Öle gegenüber synthetischen, aber auch hier sucht

21
man vergebens nach Verweisen auf wissenschaftlichen Studi-
en. Die Art, wie Daniele Ryman, eine Verteidigerin der natür-
lichen Öle, das Thema "Lavendel" behandelt, ist typisch.
In dem oben zitierten Buch gibt sie botanische und histori-
sche Informationen über die Pflanze, darunter auch die Be-
hauptung eines Botaniker aus dem 16. Jahrhundert, Matthiole,
Lavendel sei ein Heilmittel, welches Epilepsie, Schlaganfälle
und psychische Probleme beheben könne. Ryman gibt an, die
Hauptbestandteile des Lavendel seien Alkohole wie Borneol,
Geraniol und Linalool; Ester (Alkohol-Carbonsäure-
Verbindungen) wie Geranyl und Linalyl; Terpene wie etwa
Pinen und Limonen. Weiterhin enthält Lavendel einen hohen
Anteil an Phenol, einem starken Antiseptikum und Antibioti-
kum.
Ryman teilt außerdem mit, dass, während viele essenzielle
Öle sehr giftig seien, es sich bei Lavendel um eines der ungif-
tigsten überhaupt handele; danach informiert sie darüber, dass
"Lavendel das Öl ist, das am häufigsten mit Verbrennungen
und Hautverletzungen in Verbindung gebracht wird". Es sei
"sehr wirksam bei der Behandlung von Zystitis, Vaginitis,
Leucorrhea"; als Kräutertee außerdem "gut als morgendliches
Stärkungsmittel für Genesende, als Verdauungsmittel nach
Mahlzeiten, gegen Rheuma und bei den ersten Anzeichen ei-
ner Erkältung oder Grippe."
Gegen Krampfadern rät Ryman zu einer "Massage der Beine
mit einem Öl, das aus 3 Tropfen Zypressenöl, jeweils 2 Trop-
fen Lavendel- und Zitronenöl, und einer Unze von Sojaöl"
besteht (S. 143). Sie gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass ir-
gendjemand schon einmal irgendwo irgendwelche Kontroll-
studien mit Lavendel durchgeführt hat, um einige dieser Be-
hauptungen zu bestätigen.
Zwar stimmt es, dass Ausdrücke wie 'sehr wirksam' oder 'gut
für/gegen' nicht sehr präzise sind, aber sie sind auch keine
kompletten Nebelkerzen wie 'hilft bei' (was sie etwa über La-
vendel als Badezusatz gegen Zellulitis sagt). Und 'in Verbin-
dung mit' sagt nicht direkt, dass Lavender gegen Verbrennun-

22
gen helfen kann.
Trotzdem denke ich, man kann diese Behauptungen exakt
genug eingrenzen, um sie zu testen; ich zweifele allerdings
daran, dass Ryman oder andere Aromatherapeuten auch nur im
Geringsten an solchen Tests interessiert wären. Aus unbe-
kanntem Grund schreibt Ryman in ihrem Kapitel über Laven-
del nicht viel über das Öl als Mittel zur Stressreduzierung. In
einem Abschnitt über "Schlaflosigkeit" gibt sie jedoch an,
"Lavendel [sei] ein sanftes Schlafmittel, empfohlen bei geisti-
ger und körperlicher Beanspruchung".
Ryman erwähnt allerdings nicht die Studie, die die Wirkun-
gen von Aromatherapie (mit Lavendel), Massage und strikter
Ruhe bei Intensivpatienten verglich. Bei dieser Studie kamen
die Forscher nämlich zu dem Schluss, dass Ruhe am besten sei
(C. Dunn et al., "Sensing an improvement: an experimental
study to evaluate the use of aromatherapy, massage and pe-
riods of rest in an intensive care unit," Journal of Advanced
Nursing, 21, 1995, pp 34-40).
Allerdings würde ich nicht so weit gehen, die Aromatherapie
in Bausch und Bogen abzulehnen. Wenn ich erkältet bin und
die Nase zu ist, nehme ich Vick VapoRub, eine Mischung aus
Kampfer, Menthol und Eukalyptusöl. Genau genommen bin
ich vermutlich ein praktizierender Aromatherapeut.
Wenn ich mir jedoch das anschaue, was die selbsternannten
Aromatherapeuten alles behaupten, dann sehe ich mich zu dem
Schluss gezwungen, dass es sich bei Aromatherapie zum
größten Teil um eine pseudowissenschaftliche "alternative"
Medizin handelt - eine Mischung aus Volksweisheit, Versuch
und Irrtum, Anekdoten, Erfahrungsberichten, New Age-
Spiritualismus und purer Träumerei. Was den Anhängern der
Aromatherapie fehlt, ist die Fähigkeit, den Geruch von Unsinn
zu erkennen.

Anmerkung des Übersetzers:


Marguerite Maury, die Große Alte Dame der Aromatherapie,
ging davon aus, dass mit dem jeweiligen Aroma einer Pflanze

23
auch deren "Seele" in den menschlichen Körper mit eingehe.
Ein anderer Name für Aromatherapie ist "Osmotherapie". Es
gibt Querverbindungen zu Aura-Soma und "Energiemeridia-
nen", wie sie etwa aus der Lehre des chi bekannt sind. Etwa 80
Prozent der handelsüblichen Öle werden übrigens synthetisch
hergestellt. Colin Goldner schreibt in dem Buch
"Die Psycho-Szene" (Alibri, 2000):
"[...] für die behaupteten psychotherapeutischen Heileffekte
fehlt jeder Hinweis. [...] Die Vorstellungen einer 'Seele' oder
eines 'höheren Wesens' der Pflanzen [...] sind völlig willkür-
lich und ebenfalls durch nichts belegt. [...] Die ausdrücklichen
therapeutischen Effekte indes, die den Harzen und Aroma-
stoffen zugeschrieben werden, gehören ins Reich des Mythos."
Für mich spiegelt die Vorstellung der Heilkraft der "essenzi-
ellen Öle" unter anderem auch die Sehnsucht nach einem ani-
mistisch-spirituellen Weltbild wider, kombiniert mit der fehl-
geleiteten Vorstellung, die Natur sei ausschließlich für den
Menschen da.

Übersetzung: Tobias Budke

24
Astrologie
Millionen von Menschen glauben an Horoskope, die
Astrologie hat Jahrtausende überdauert - doch das ist völ-
lig irrelevant, wenn es um den Wahrheitswert der Stern-
deutung geht.

"Die heutzutage praktizierte Astrologie (sowohl in ihrer tra-


ditionellen als auch in ihrer psychologischen Form) ist be-
deutungslos für unser Verständnis vom Menschen oder seinem
Platz im Kosmos. Moderne Vertreter der Astrologie bieten
keinerlei grundlegende Basis für die astrologischen Verknüp-
fungen mit irdischen Angelegenheiten, haben keine plausible
Erklärung für ihre Behauptungen und haben zu keinem Gebiet
der Sozialwissenschaften irgendetwas beigetragen. Darüber-
hinaus ist die Astrologie weder theoretisch noch konzeptionell
in der Lage, ihre eigenen internen Probleme oder äußeren
Anomalien angemessen zu bewältigen, beziehungsweise mit-
einander im Widerspruch stehende astrologische Behauptun-
gen oder Systeme zu bewerten."
(I.W. Kelly, Modern Astrology: A critique, S. 931).
"Sie sollten die Möglichkeit nicht als unglaublich ausschlie-
ßen, dass eine lange genug währende Suche einen goldenen
Kern inmitten des astrologischen Aberglaubens finden könn-
te."
(Johannes Kepler)
"Nicht durch die Schuld der Sterne, lieber Brutus, Durch
eigne Schuld nur sind wir Schwächlinge."
(William Shakespeare, Julius Cäsar, I, ii, 140f.)
Die Astrologie ist in ihrer klassischen Form eine Form der
Weissagung, begründet auf der Annahme, dass die Positionen
und Bewegungen der Himmelskörper (Sterne, Planeten, Sonne
und Mond) zum Zeitpunkt der Geburt das Leben eines Men-
schen tiefgreifend beeinflussen. In ihrer psychologischen Va-
riante stellt die Astrologie sich als New-Age-Therapie dar, die
zur Selbsterkenntnis und Persönlichkeitsanalyse verwendet

25
wird. Dieser Beitrag befasst sich ausschließlich mit klassischer
Astrologie.
Die am meisten verbreitete Form der Astrologie ist die
"Sternzeichen-Astrologie", wie man sie in vielen Tageszeitun-
gen und Magazinen in Form von Horoskopen findet. Ein Ho-
roskop ist eine astrologische Voraussage; der Begriff wird
aber auch für eine Karte des Tierkreises zum Zeitpunkt der
Geburt verwendet. Der Tierkreis ist in zwölf Zonen unterteilt,
jede nach einem Sternbild benannt, das ursprünglich in dieser
Zone stand (Stier, Löwe ...). Die scheinbaren Wege von Son-
ne, Mond und den großen Planeten liegen alle im Tierkreis.
Aufgrund der Wanderung ("Präzession") der Tagundnacht-
gleichen haben sich Winter- und Sommersonnenwende in den
vergangenen 2000 Jahren um etwa 30 Grad nach Westen be-
wegt. Deshalb stimmen die in der Antike festgelegten Stern-
bilder heute nicht mehr mit den Teilen des Tierkreises (den
"Sternzeichen") überein, die nach ihnen benannt wurden. Wä-
ren Sie am gleichen Tag des Jahres zur gleichen Uhrzeit vor
2000 Jahren geboren worden, hätten Sie also ein anderes
Sternzeichen gehabt.
Die klassische westliche Astrologie lässt sich in eine "solare"
und eine "siderische" Astrologie unterteilen (andere Kulturen
verwenden andere Systeme). Das solare (oder Sonnen-) Jahr
wird relativ zur Sonne gemessen und hat eine Dauer von 365
Tagen, 5 Stunden, 48 Minuten und 46 Sekunden, d.h. die Zeit,
die zwischen zwei Wintersonnenwenden verstreicht. Das side-
rische Jahr dauert 365 Tage, 6 Stunden, 9 Minuten und 9,5
Sekunden; es misst die Zeit eines kompletten Erdumlaufs um
die Sonne, gemessen relativ zu den Sternen. Das siderische
Jahr ist wegen der Wanderung der Tagundnachtgleichen län-
ger als das solare. Diese Wanderung ist auf das Taumeln der
Rotationsachse der Erde relativ zur Erdbahn zurückzuführen.
Die siderische Astrologie verwendet das tatsächliche Stern-
bild, in der sich die Sonne bei der Geburt befindet, als Grund-
lage. Die solare Astrologie dagegen verwendet einen 30 Grad
großen Abschnitt des Tierkreises. Letzteres Verfahren erfreut

26
sich der größeren Beliebtheit, die siderischen Astrologie wird
nur von einer Minderheit von Astrologen vertreten.
Eines der häufigsten Argumente für die Astrologie lautet
"Astrologie wird von Millionen von Menschen geglaubt und
hat Jahrtausende überdauert." Diese Angaben stimmen zwar,
sind aber völlig irrelevant, wenn es um den Wahrheitswert der
Astrologie geht. Die antiken Chaldäer und Assyrer beschäf-
tigten sich schon vor dreitausend Jahren mit astrologischer
Wahrsagung. Bis zum Jahre 450 v.Chr. hatten die Babylonier
den noch heute verwendeten 12er-Tierkreis entwickelt, aber es
waren die alten Griechen - von Alexanders Zeit bis zur Erobe-
rung durch die Römer, also etwa von 340 v.Chr. bis 140 v.Chr
- welche die meisten grundlegenden Elemente der heutigen
Astrologie schufen.
Die Verbreitung astrologischer Praktiken wurde durch den
Aufstieg des Christentums mit seiner Betonung von göttlichem
Eingreifen und freiem Willen Einhalt geboten. In der Renais-
sance kam die Astrologie dann wieder stärker in Mode, teil-
weise hervorgerufen durch das aufsteigende Interesse an Wis-
senschaft und Astronomie. Christliche Theologen warnten
jedoch vor der Astrologie, 1585 wurde sie von Papst Sixtus V.
verurteilt. Zur gleichen Zeit begannen die Arbeiten Keplers
und anderer Astronomen die Behauptungen der Astrologie zu
untergraben.

Korrelation impliziert nicht Kausalität


Oft wird behauptet, die Astrologie sei wissenschaftlich über-
prüfbar und es gebe tatsächlich Beweise für eine ursächliche
Verbindung zwischen Himmelskörpern und irdischen Ereig-
nissen. So werden, glaubt man an den sogenannten "Mars-
Effekt", Spitzensportler nicht gemacht, sondern geboren. Die-
se Behauptung beruht auf einer statistischen Analyse der
Stellung des Planeten Mars zum Geburtszeitpunkt berühmter
Sportler: Es ergebe sich dabei eine Korrelation, die größer sei,
als durch reinen Zufall möglich. Kritiker widersprechen dem
und meinen, die Belege zeigten keine solche Korrelation.

27
Doch selbst, wenn es eine solche Korrelation zwischen den
Geburtstagen berühmter Sportler und der Position des Mars
geben sollte, bedeutet dies nicht, dass es eine kausale Verbin-
dung zwischen einer Planetenposition und den Begabungen
gibt. Eine Korrelation zwischen zwei Größen A und B ist kei-
ne hinreichende Bedingung für die Überzeugung, dass A der
Verursacher von B ist. Korrelation ist nicht gleich Kausalität.
Trotzdem sind Korrelationen natürlich außerordentlich at-
traktiv, wenn man die Astrologie verteidigen will: "Bei 3458
Soldaten fand sich Jupiter 703mal entweder in aufsteigender
oder in höchster Position, als sie geboren wurden. Die Wahr-
scheinlichkeit hierfür: 1 Million zu 1." (Gauquelin). Aber
selbst wenn man annimmt, dass das statistische Material, das
eine signifikante Korrelation zwischen den verschiedenen
Planeten auf ihrem Aufstieg, Fall, Höhepunkt und wo auch
sonst immer zeigt, akkurat ist - es wäre doch wesentlich über-
raschender, wenn bei all den Milliarden und Abermilliarden
von denkbaren himmlischen Bewegungsabläufen und Positio-
nen nicht wenigstens ein paar dabei wären, die sich signifikant
mit größeren Ereignissen oder individuellen Charakterzügen
korrelieren lassen. Man muss nur genügend unterschiedliche
Größen miteinander verknüpfen, um schließlich auch einmal
auf statistisch unwahrscheinliche - und damit für die Astrolo-
gen scheinbar signifikante - Korrelationen zu stoßen.
Die Begeisterung für Korrelationen jeder Art findet sich auch
in den Überlegungen derjenigen, die versuchen, aus jeder ur-
zeitlichen Megalithenstätte eine Art astronomisches Observa-
torium zu machen. Vertreter der Astrologie sollten zur Kennt-
nis nehmen, was Aubrey Burl über diese Art von Schlussfol-
gerungen schrieb:
"...in beinahe jedem Kreis ist die wahrscheinlichkeit für eine
zufällige gute Sichtlinie zum Himmel groß. Man denke an eine
Stätte wie Grey Croft, Cumberland [...] 27,10 mal 24,40 Meter
groß, mit zwölf Steinen und einem weiteren außerhalb stehen-
den; dort gibt es so viele mögliche Linien und so viele denkba-
re Ziele, dass es unwahrscheinlich ist, gar nichts zu finden."

28
(Burl, S. 50).
Obgleich es stimmt, dass die Chancen auf zwanzig Mal hin-
tereinander "Rot" beim Roulette sehr gering sind - es ist schon
vorgekommen: Bei einer ausreichenden Menge von Roulette-
runden verwandeln sich schließlich selbst sehr unwahrschein-
liche Ereignisse in regelmäßige auftauchende. Kurz: Ereignis-
se, die den Gesetzen der Statistik zu widersprechen scheinen,
tun es nicht mehr, wenn man sie sorgfältiger untersucht.

Fruchtwassermeer und Geburtszeitpunkt


Anhänger der Astrologie verweisen gern darauf, dass die
Länge des Menstruationszyklus der Umlaufzeit des Mondes
um die Erde gleicht - und dass schließlich die Schwerefelder
von Sonne und Mond ausreichen, um das Heben und Senken
der Gezeiten auf der Erde zu verursachen. Wenn der Mond
Ebbe und Flut beeinflusst, dann doch sicher auch einen Men-
schen. Wir dürften doch nicht vergessen, dass das Leben in
einem "Fruchtwassermeer" seinen Anfang nimmt und dass der
menschliche Körper zu 70 Prozent aus Wasser besteht! Da
Austern ihre Schalen im Einklang mit den Gezeiten öffnen und
schließen, die wiederum auf die Gravitation von Sonne und
Mond zurückgehen, und Menschen voller Wasser sind, ist es
dann nicht offensichtlich, dass auch Menschen vom Mond
beeinflusst werden? Offensichtlich vielleicht - aber die wis-
senschaftliche Forschung hat keinerlei Beweise für solche
Zusammenhänge gefunden.
Astrologen betonen stets die Wichtigkeit der Sonnen-,
Mond- und Planetenpositionen zum Zeitpunkt der Geburt.
Doch warum sind diese Anfangsbedingungen wichtiger als die
späteren Einflüsse der Himmelskörper, wenn es um die Per-
sönlichkeit und Charaktereigenschaften geht? Wieso nimmt
man die Geburt und nicht die Zeugung als bedeutungsschwe-
ren Augenblick? Weshalb sind die sonstigen Bedingungen -
wie Gesundheit der Mutter, Ort und Umstände der Geburt,
Zange, helle Lichter, dunkler Raum, Rücksitz eines Autos
usw. nicht wichtiger als die Frage, ob Mars gerade aufsteigt,

29
absteigt oder so gerade eben den Klassenerhalt schafft? Und
aus welchem Grunde stellt der Planet Erde, der uns bei der
Geburt viel näher ist, nicht einen bedeutenden Einfluss auf
unser Sein und Werden dar?
Wie kann ein Astrologe überhaupt zuverlässig erfahren,
wann sein Klient "geboren" wurde? Eine Geburt ist kein
punktueller Vorgang, sondern sie zieht sich hin. Der Umstand,
dass jemand irgendwo eine offizielle Geburtszeit notiert, ist
für den tatsächlichen Vorgang bedeutungslos. Ist für das Horo-
skop der Moment wichtig, in dem die Fruchtblase platzt? Oder
der Zeitpunkt der Öffnung des Muttermundes? Der Augen-
blick, in dem sich das erste Härchen oder Zehnägelchen er-
kennen lässt? Oder besser der Moment, in dem das letzte Här-
chen oder Zehnägelchen die Scheide verlässt? Das Durchtren-
nen der Nabelschnur? Vielleicht der ersten Atemzug des Ba-
bies? Möglicherweise auch der Zeitpunkt, an dem Ärztin oder
Schwester endlich einen Blick auf die Uhr werfen (die zwei-
fellos überirdisch genau geht!), um den Geburtszeitpunkt zu
notieren.
Niemand würde jemals die Behauptung aufstellen, man müs-
se die Anfangsbedingungen der Singularität vor dem Urknall
kennen, um die Auswirkungen des Mondes auf die Gezeiten
oder auf den Kartoffelanbau zu verstehen - oder die Position
von Sternen und Planeten zum Zeitpunkt der Ernte. Wenn man
wissen möchte, wann morgen Ebbe ist, dann ist es nicht erfor-
derlich, sich darüber zu informieren, wo der Mond stand, als
der erste Ozean oder der erste Fluss der Weltgeschichte gebil-
det wurde - oder ob der Ozean vor dem Mond da war oder
umgekehrt. Die anfänglichen Bedingungen sind stets völlig
unwichtig gegenüber den gegenwärtigen - ob es um Gezeiten
oder Gemüseanbau geht. Warum also sollte das nicht auch für
Menschen gelten?

Schlechte Statistik - aber zufriedene Kunden


Trotz allem gibt es Leute, die an Astrologie glauben und von
der Genauigkeit professioneller Horoskope überzeugt sind.

30
Einer meiner Kollegen, ein Geschichtslehrer mit Doktortitel
der Universität von Kalifornien, praktiziert Astrologie. Er ist
natürlich technisch auf der Höhe und hat ein Computerpro-
gramm, das ihn bei seinen Analysen unterstützt. Er ist sich
aller Argumente gegen Astrologie bewusst und gibt sogar zu,
dass sie rein logisch betrachtet nicht funktionieren dürfe.
Trotzdem glaubt er daran. Diese Vorstellung von "funktionie-
ren" ist interessant. Was bedeutet sie?
Im Grunde bedeutet die Behauptung, Astrologie "funktionie-
re", dass es zahlreiche zufriedene Kunden gibt. Sie bedeutet
nicht, dass Astrologie korrekt menschliches Verhalten oder
Ereignisse mit einer Wahrscheinlichkeit voraussagen kann, die
signifikant größer ist als die Zufallsverteilung. Hauptsächlich
sind es Erfahrungsberichte, mit denen das "Funktionieren" der
Astrologie untermauert wird. Es gibt viele zufriedene Kunden,
die daran glauben, dass ihr Horoskop sie präzise beschreibt
und dass ihre Astrologin ihnen gute Ratschläge erteilt hat.
Belege dieser Art haben keine Beweiskraft für die Astrologie,
sondern demonstrieren vielmehr die Voreingenommenheit
zugunsten der Bestätigung eigener Überzeugungen. Gute
Astrologen geben vielleicht gute Ratschläge, aber das sagt
nichts über die Astrologie aus.
Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen da-
zu neigen, selektiv zu denken und jedes für sie erstellte Horo-
skop so zu interpretieren, dass es mit den Vorstellungen über-
einstimmt, die sie ohnehin von sich und ihrem Horoskop ha-
ben. Viele der Behauptungen, die über Sternzeichen und Per-
sönlichkeitstypen aufgestellt werden, sind vage und passen auf
viele Menschen mit vielen verschiedenen Sternzeichen. Sogar
Berufsastrologen, die nichts als Verachtung für die typische
Sternzeichenastrologie haben, können ein korrektes Horoskop
nicht mit signifikanter Wahrscheinlichkeit erkennen. Und doch
behält die Astrologie ihre Popularität, ungeachtet des Umstan-
des, dass es nicht den Hauch eines wissenschaftlichen Bewei-
ses gibt. Sogar die ehemalige First Lady der USA, Nancy
Reagan, konsultierte gemeinsam mit ihrem Mann Ronald eine

31
Astrologin während der acht Jahre, in denen er der "Führer der
freien Welt" war. Daraus kann ich nur schließen, dass Astro-
logen mehr Einfluss haben als ihre Sterne.
Ist es vielleicht denkbar, dass ich aufgrund der Position von
Planeten, Sternen, Monden, Kometen, Asteroiden, Quasaren
und Schwarzen Löchern zum Zeitpunkt meiner Geburt so
wurde, wie ich bin? Sicher. Gibt es irgendeinen Grund dafür,
zu glauben, dass diese Möglichkeit größer ist als die gegentei-
lige, nämlich dass all diese Positionen bedeutungslos für mein
Schicksal sind? Nein. Ich für meinen Teil kann keinen einzi-
gen guten Grund dafür finden, so etwas zu glauben. Aber ich
bin ein Stier - und man weiß ja, wie dickköpfig Stiere sind.

Übersetzung: Tobias Budke

32
Atheismus
Atheisten sind davon überzeugt, dass Gott von den Men-
schen erschaffen wurde - und nicht umgekehrt. Aus der Be-
hauptung, dass der Mensch Gott erschaffen oder erfunden hat,
folgt allerdings, dass ein großer Teil der Menschheit an einer
Selbsttäuschung leidet. Wie erklären Atheisten den Ursprung
dieser Selbsttäuschung - und ihre Fortdauer?
Philosophen wie Thomas Hobbes und Baruch de Spinoza
waren der Auffassung, dass der Glaube an Gott seinen Ur-
sprung in Angst und Aberglauben hat. Sigmund Freud, Karl
Marx und andere behaupteten, dass der Trug anhalte, weil der
Glaube an Gott den Wunsch nach einem schützenden Vater
und nach Unsterblichkeit befriedige, oder, weil er als Betäu-
bungsmittel gegen Elend und das Leiden der menschlichen
Existenz wirke.
Menschen, die an Gott glauben, sind entweder davon über-
zeugt, dass Beweise für ihren Glauben existieren, oder sie
denken einfach, dass es keinen Grund gibt, nicht an Gott zu
glauben. Erstere halten die Argumente der Atheisten für al-
bern, arglistig, irreführend, schwach, substanzlos oder lächer-
lich. Letztere betrachten die Atheisten als Sturköpfe, die nicht
bereit seien, ein Risiko einzugehen, um zu einer möglichen,
erhabenen Wahrheit zu gelangen. Keine der beiden Gruppen
betrachtet jedoch ihre eigenen Argumente und Ansichten mit
dem gleichen kritischen Blick, den sie auf die Atheisten wirft.
Diesen beiden Typen von Gläubigen ist eines gemeinsam:
Ihr Wunsch, an ihre eigene Selbsttäuschung zu glauben, ist
derart stark ausgeprägt, dass sie sich einreden, bei der Verfol-
gung ihres Wahns absolut rational und vernünftig zu sein,
währenddessen die Atheisten in der Ablehnung desselben
Wahns irrational und unvernünftig seien. Dabei werden viele
dieser Gläubigen von einem gemeinsamen Beweggrund ge-
leitet: Ihr Glaube gibt Ihnen ein Gefühl der Macht und der
Überlegenheit. Dieses Gefühl führt allzu häufig dazu, dass sie
jeden zugrunde richten, der sich ihnen widersetzt. Außerdem

33
neigen Gläubige dazu, ihren Segen über weltliches Elend und
weltliche Not auszugießen - einschließlich über jene Missstän-
de, die sie selbst verursacht haben. Gläubige haben die Emp-
findung, dass ihnen ein esoterisches Wissen innewohnt - für
einen Atheisten hingegen, bedeutet das alles nichts weiter, als
dass sich der Betreffende auf dem absoluten Ego-Trip befin-
det. Das Gefühl der eigenen Besonderheit jedoch, verleiht dem
Leben des Gläubigen nicht nur die gewisse Würze, sondern
auch Sinn und Bedeutung: eine Sinnhaftigkeit, die ihm sonst
fehlen würde.
Für viele Gläubige aber, ist der Glaube an Gott einfach et-
was, das sie ihr ganzes Leben als selbstverständlich hinge-
nommen haben. Der Glaube verleiht ihrem Leben Sinn und
Ordnung. Er verbindet sie mit einer Gemeinschaft, gibt ihnen
Vertrauen zu sich selbst und zu ihren Überzeugungen. Ihr
Glaube wird ihnen von allen Personen bestätigt, die in ihrem
Leben eine wichtige Rolle spielen. Wer mit Feen aufwächst,
wird später vermutlich an Feen glauben. Wer mit Gott auf-
wächst, wen alle wichtigen Personen im Gottesglauben bestär-
ken, der wird schließlich überall Beweise erblicken für das,
was in seinem Herzen bereits als Wahrheit fest verankert ist.
Die ständige Bekräftigung des Gottesglaubens innerhalb der
Gemeinde ist möglicherweise der Hauptgrund dafür, dass er
den Gläubigen so vernünftig erscheint. Ununterbrochen be-
stärkt wird nämlich nicht nur der Glaube selbst, bestärkt wer-
den auch die Argumente zugunsten des Glaubens.<
Die Festigung des Glaubens wird vollendet durch die Auto-
rität einiger geachteter, intelligenter und gleichgesinnter Per-
sönlichkeiten. Zwar wird sich kaum jemand nur deshalb zum
Glauben an Gott bekehren, weil dieser Glaube von einem Hei-
ligen oder einem Wissenschaftler oder einem Literatur-
Nobelpreisträger befürwortet wird - doch die Menschen fühlen
sich wohler in ihrem Glauben, wenn sie sich dabei in guter
Gesellschaft wissen.
Millionen von Kindern wachsen in einer Welt auf, die von
Engeln, der heiligen Kommunion, Gott-dem-Vater-dem-Sohn-

34
und-dem-Heiligen Geist, Jesus, dem Heiland und Erlöser,
erfüllt ist. Dass es all diesen Dingen an Logik und Vernunft
fehlt, wird von ihnen nicht wahrgenommen. Für diese Kinder
ist es ebenso selbstverständlich, an die "Wandlung Christi" (in
Brot und Wein) zu glauben, wie an die Elektrizität. Mathema-
tik lernen sie genauso, wie den Katechismus. Die Absurdität
dieses Nebeneinanders wird nicht bemerkt. Für viele Leute ist
es ebenso natürlich, an Feen, an Hexen und an den Bösen
Blick zu glauben, wie daran, dass Feuer heiß ist. Dass sie da-
von überzeugt sind, ist jedoch völlig irrelevant für die Frage,
ob es tatsächlich Feen, Hexen oder Götter gibt.
Der Gläubige meint, dass das Leben nur einen Sinn hat,
wenn es einen Gott gibt. Warum nur ist es dann für einen
Atheisten offensichtlich, dass alles viel mehr Sinn ergibt,
wenn es keinen Gott gibt? Warum erscheint es dem Atheisten
einleuchtender, wenn er das Universum betrachtet als einen
zufällig entstandenen Mechanismus, der von unpersönlichen
Naturkräften beherrscht wird?
Ein Atheist beobachtet das Universum und alles, was darüber
bekannt ist - und erkennt, dass dessen vermeintlich vollkom-
mene Ordnung und Gestaltung höchst unvollkommen ist. Er
sieht Einzelheiten, die in ihrer Funktion zwar wunderbar sind,
deren Ausführung jedoch geradezu lächerlich unzureichend
ist. So kommt er zu dem Schluss, dass ein allwissendes We-
sens dies alles keineswegs in dieser Weise entworfen hätte.
Ein Beispiel: Das menschliche Auge, das Gehirn, und das
Netz aus Nerven, Gewebe und Neuronen - all diese Dinge, die
unser Sehvermögen ausmachen, sind zweifellos Wunder. Ein
Mensch jedoch, der etwa ein elektronisches "Auge" für einen
Roboter entwerfen wollte und sich dabei an die Gestaltung des
menschlichen Auges hielte, würde einen gewaltigen Umweg
einschlagen. Niemand würde ein automatisches Auge haben
wollen, das kurzsichtig oder gar blind werden kann und viel-
leicht gar Korrekturlinsen, Operationen oder ähnliches benö-
tigt. Von einem allwissenden, allmächtigen Wesen wäre doch
zu erwarten, dass es sowohl für die Konstruktion des Auges,

35
als auch für den Bau des Universums einen einfacheren und
effektiveren Weg wählte. Clarence Darrow meint, dass es
genau diese Komplexität mit ihren inhärenten Strukturfehlern
sei, die das Nichtvorhandensein einer gezielten Schöpfung
erkennen lasse und außerdem zeige, dass diese Schöpfung das
Ergebnis von Naturgewalten sei, die ohne besondere Zielge-
richtetheit arbeiteten. Zum Zusammenheften einiger Papier-
seiten kann man natürlich eine komplizierte Klemmschraube
verwenden, doch eine weit elegantere Lösung ist allemal der
Gebrauch von Büroklammern. Die Umlaufbahnen der Plane-
ten um unsere Sonne lassen uns staunen - doch die Erschaf-
fung des Asteroidengürtels wäre schon ein seltsamer Einfall
für einen allmächtigen, durch-und-durch-guten Schöpfer.
Die typische Antwort des Gläubigen auf diese Art der Be-
weisführung besteht darin, diese schlicht als unverschämt ab-
zutun. Gott, so das Argument, sei nicht an menschliche Begrif-
fe der Vollkommenheit gebunden. Was uns plump erscheint,
mag Gott als elegant erscheinen. Und so weiter. Doch wenn
man diese Argumente bis zu ihrem logischen Ende weiter-
denkt, bedeutet das doch, dass man absolut gar nichts mehr
über Gott aussagen kann. Ich behaupte, dass Gott sich minde-
stens an dem Standard messen lassen muss, den eine leidlich
kompetente Gruppe intelligenter Menschen hervorbringt.
Wenn Gott es nicht besser kann, dann ist die Anwendung des
Begriffs "Vollkommenheit" bedeutungslos in Bezug auf dieses
Wesen.
Es gibt natürlich durchaus Dinge, die von Natur aus komplex
sein müssen, deren Komplexität notwendigerweise bestimmt
wird durch die Aufgaben, die von ihnen zu erfüllen sind. Und
selbst gewaltsame Kollisionen und Eruptionen mögen ihr Gu-
tes haben. Auch die Herausforderung eines Menschen durch
natürliche Defekte, wie etwa Blindheit und zerebrale Läh-
mung, kann etwas Positives bewirken. Der Atheist besteht ja
keineswegs darauf, dass allein ein Universum , das einem
Sechsjährigen sofort verständlich und angenehm erscheint,
eines allmächtigen Schöpfers würdig sei. Ein Tarnkappen-

36
bomber ist zum Beispiel sehr komplex konstruiert, und das ist
für sein Funktionieren durchaus erforderlich.
Einen Entwurf jedoch unnötig zu verkomplizieren - das for-
dert den zu erwartenden Ärger geradezu heraus! Wer auch
immer das Programm für den Browser, den Sie zum Betrach-
ten dieses Aufsatzes benutzen, geschrieben hat - wir wollen
hoffen, dass er es so geschrieben hat, dass es seinen Zweck
erfüllt und dabei möglichst einfach strukturiert ist. Ein anderer
Browser erfüllt vielleicht denselben Zweck, ist dabei aber mit
unnötiger Komplexität behaftet. Ein unvoreingenommener
Programmierer, der beide Codes genau studiert, würde fest-
stellen können, welcher von beiden Programm-Entwicklern
der kompetentere Programmierer wäre. Wir anderen benutzen
einfach die Programme und bemerken vielleicht noch nicht
einmal einen Unterschied. Fachleute aber, würden zweifellos
das einfacher strukturierte Programm als den besseren Entwurf
einschätzen.
Die Vorstellung von einem herrlichen Wesen, das zwar für
alles verantwortlich ist, aber eine Art kosmisches Versteck-
spiel mit uns treibt, führt den Atheisten zu der Frage: Warum
sollte ein Wesen wie Gott sich so töricht verhalten? Das ganze
Ideensystem aus Schöpfung, Geboten, Gottesdienst, Beloh-
nung und Strafe, erklärt überhaupt nichts. Viele Kinder müs-
sen die Antwort auf die Frage "Warum hat Gott mich erschaf-
fen?" auswendig lernen. Die Antwort lautet: "Damit ich ihn
erkenne, liebe und ehre, ihm diene und ihm folge." Das mag
sich für ein Kind vielleicht nicht übel anhören: Es hat also eine
feierliche, geheimnisvolle Pflicht zu erfüllen gegenüber einem
Wesen, das sich und seine Wünsche nur zu besonderen Anläs-
sen offenbart - und selbst dann nur auserwählten Personen.
Wie viele Kinder hoffen wohl beim Memorieren des Kate-
chismus, dass ausgerechnet sie von Gott für eine göttliche
Offenbarung ausersehen würden?
Wenn Atheisten von Menschen hören, die Visionen hatten,
oder glauben, göttliche Stimmen gehört zu haben, oder magi-
sche Taten oder Wunder vollbringen, dann fragen sie zumeist

37
mit David Hume: Was ist wahrscheinlicher - dass Gott tat-
sächlich zu dieser Person gesprochen hat oder dass diese Per-
son sich irrt oder andere gar betrügt? Was ist wahrscheinlicher
- dass die Naturgesetze von besonderen Kräften außer Kraft
gesetzt wurden, oder, dass Illusion, Täuschung, Betrug, oder
Irrtum vorliegen? Hume behauptet, dass ein vernunftbegabter
Mensch - die Beibehaltung der wesentlichen Prinzipien der
Vernunft vorausgesetzt - an göttliche Visionen, Stimmen oder
Wunder auf der Basis von Zeugenaussagen, ja selbst aus erster
Hand, unmöglich glauben kann, ohne eben diese Prinzipien
aufzugeben. Atheisten halten diesen Gedankengang Humes für
feinsinnig und zutreffend.
Atheisten meinen, dass Gott nicht nur ein einziges Mal, son-
dern bereits viele Male in vielen verschiedenen Kulturen er-
funden wurde. Dass diese Erfindungen einander ähneln, ist
schlicht darauf zurückzuführen, dass die Natur der Menschen
und ihre Erfahrungen einander ähneln: Geburt, Sex, Leid und
Tod gibt es bekanntlich überall. In Gottesbildnissen und Got-
teserfahrungen, und auch in der nützlichen Funktion solcher
Erfindungen, spiegeln sich allgemein menschliche Erfahrun-
gen, wie etwa das Bedürfnis nach Schutz vor den Naturge-
walten und vor Feinden, sowie die Angst vor dem eigenen
Tod.
Es ist andererseits aber durchaus möglich, dass die Ähnlich-
keiten in den religiösen Erfahrungen und Glaubensvorstellun-
gen unterschiedlicher Kulturen der neurophysiologischen Be-
schaffenheit des Menschen an sich entspringen. Michael Per-
singer ist es zum Beispiel gelungen, die Empfindung einer
Geistererscheinung, das Gefühl, den Körper zu verlassen, und
andere Gefühle, die im Mystizismus eine Rolle spielen, durch
die elektrische Stimulierung des Gehirns hervorzurufen. Die
Einnahme von Drogen, wie LSD und Meskalin, versetzte viele
Menschen in die Lage, religiöse Erfahrungen nachzuempfin-
den. Es ist vermutlich kein Zufall, dass viele primitive Reli-
gionen den Gebrauch von Drogen, exzessive Tänze, Gesänge,
Fasten und andere Wege, das Bewusstsein neurochemisch zu

38
verändern, praktizierten, um mit der Geisterwelt Kontakt auf-
zunehmen. Halluzinationen und Träume wurden oftmals als
Zugang zum Göttlichen betrachtet. Was diese Erfahrungen in
Wahrheit jedoch miteinander verbindet, ist möglicherweise
eben nicht ein objektiv erlebter Gott, sondern vielmehr eine
subjektive Wahrnehmung, die auf immer dieselbe Art und
Weise in den betreffenden Hirnregionen ausgelöst wird - und
deshalb auch zu ähnlichen Erlebnissen und Gefühlen führt.

Übersetzung: Larissa Wagner

39
Ayurvedische Medizin und
Deepak Chopra
Die Beliebtheit des Ayurveda legt Zeugnis ab für das
Scheitern des modernen Lebens - und doch ist Ayurveda
nicht mehr als unwissenschaftlicher Mystizismus

Wenn man durch minimale Willenskraft mit den Zehen wak-


keln kann, warum kann man dann die biologische Uhr nicht
zurückdrehen?
Wenn man für den Augenblick leben könnte, würde man den
Geschmack der Ewigkeit sehen, und wenn diese Erfahrung der
Ewigkeit verstoffwechselt wird, altert der Körper nicht.
Ayurveda ist die Wissenschaft des Lebens und hat einen sehr
grundlegenden, einfachen Ansatz, nämlich dass wir Teil des
Universums sind und das Universum intelligent und der
menschliche Körper Teil des kosmischen Körpers ist, und der
menschliche Geist ist Teil des kosmischen Geistes, und Atom
und Universum sind genau gleich, aber von unterschiedlicher
Gestalt, und je mehr wir in Berührung mit dieser tieferen Rea-
lität stehen, aus der alles kommt, um so mehr werden wir im
Stande sein, uns selber und zur gleichen Zeit unseren Planeten
zu heilen. (Deepak Chopra)
Ayurvedische Medizin ist ein "alternativer" medizinischer
Ansatz, der Behauptungen zufolge die traditionelle Medizin
Indiens darstellt. Ayurveda wird aus zwei Sanskrit-Begriffen
gebildet: ayu bedeutet "Leben" und veda "Wissen" oder "Wis-
senschaft". Da diese Technik angeblich etwa 5000 Jahre alt
sein soll, könnte es sein, dass das, was in ihrem Rahmen als
Wissen oder Wissenschaft betrachtet wird, nicht deckungs-
gleich mit den neuesten der westlichen Medizin zugänglichen
Erkenntnissen ist. Jedenfalls wurden die meisten antiken Be-
handlungsmethoden nicht schriftlich festgehalten - und was
sich heute traditionelle indische Medizin nennt, wurde zum
größten Teil in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts von je-

40
nem Maharishi Mahesh Yogi entwickelt, der auch die Tran-
szendentale Meditation in den Westen brachte.
Ayurveda-Behandlungen sind hauptsächlich ernährungs- und
kräuterorientiert. Die Patienten werden nach Körpertypen
(prakriti) eingeteilt, die je nach den Proportionen der drei dos-
has bestimmt werden. Diese doshas regulieren angeblich die
Harmonie von Körper und Geist. Beschwerden und Krank-
heiten werden als Auswirkungen eines Ungleichgewichts der
doshas betrachtet. Die Behandlung zielt auf die Wiederher-
stellung von Harmonie oder Gleichgewicht im Körper-Geist-
System. Vata, bestehend aus Luft und Raum, steuert demzu-
folge alle Bewegungen von Geist und Körper und muss in
einem stabilen Gleichgewicht gehalten werden.
Zuviel Vata führt zu "Sorgen, Schlaflosigkeit, Krämpfen und
Verstopfung ... Vata steuert den Blutkreislauf, die Ausschei-
dungen, die Atmung und die Bewegung der Gedanken durch
den Geist." Vata steuert darüber hinaus noch zwei weitere
Prinzipien, pitta und kapha. Pitta besteht aus Feuer und Was-
ser; laut Ayurveda kontrolliert es "die gesamte Hitze, den
Metabolismus und die Verwandlung in Geist und Körper. Es
kontrolliert unsere Verdauung, die Verarbeitung von Sinnes-
wahrnehmungen und unsere Unterscheidung zwischen richtig
und falsch." Auch pitta muss im Gleichgewicht gehalten wer-
den. "Zuviel [pitta] kann zu Zorn, Kritik, Geschwüren, Aus-
schlag und Haarausfall führen."
Kapha besteht aus Erde und Wasser. Es "lenkt die gesamte
Struktur und Schmierung in Körper und Geist. Es steuert Ge-
wicht, Wachstum, Schmierung für Gelenke und Lungen, und
die Bildung aller sieben Gewebearten - Nährflüssigkeiten,
Blut, Fett, Muskelmasse, Knochen, Mark und Fortpflanzungs-
gewebe." Zuviel kapha führt zu "Lethargie, Gewichtszunah-
me, besitzergreifendem Verhalten, Gefäßverengungen und
Allergien."
Auf der Grundlage der obigen metaphysischen Physiologie
empfiehlt es sich laut Ayurveda, die folgenden Dinge zu tun
oder zu lassen: Um das kapha zufriedenzustellen, solle man

41
scharfe Lebensmittel zu sich nehmen und süße meiden, mit
Ausnahme von Honig, der aber nicht erhitzt werden darf. To-
maten und Nüsse sollte man beiseite lassen. Truthahn ist in
Ordnung, aber lassen Sie die Finger von Kaninchen und Fasan.
Falls Sie zu viel pitta haben sollten, versuchen Sie dies: Essen
Sie süße Speisen und meiden Sie scharfe. Nüsse sind prima.
Zur Vata-Verminderung solle man süße, saure und salzige
Speisen essen und scharfe links liegen lassen. Nüsse sind auch
hier gut, ebenso Milchprodukte.
Woher die obigen Erkenntnisse stammen oder wie man Be-
hauptungen dieser Art überhaupt prüfen könnte, interessiert
die Anhänger von Ayurveda offenbar nur wenig.

Meditation und Quantenphysik


Quantenheilung ist die Heilung des Körpergeistes von der
Quantenebene aus. Das bedeutet, von einer Ebene aus, die mit
unseren Sinneswahrnehmungen nicht sichtbar ist. Unsere
Körper sind letztendlich Felder aus Information, Intelligenz
und Energie. Quantenheilung beinhaltet eine Änderung in den
Feldern der Energieinformation, wie etwa bei der Berichti-
gung einer Idee, die sich falsch entwickelt hat. Also beinhaltet
Quantenheilung die Heilung einer Art von Bewusstsein, Geist,
um Veränderungen in einer anderen Art von Bewusstsein,
Körper, hervorzurufen. (Deepak Chopra)
Auch Meditation ist eine bedeutende Therapieart in der
Ayurveda-Medizin. Mit Ausnahme des üblichen Nutzens von
Entspannung und Meditation gibt es keine wissenschaftlichen
Belege, die die vielen erstaunlichen Behauptungen über die
ayurvedische Medizin stützen würden. Auch die Angaben über
die bedeutenden gesundheitlichen Erfolge der Transzendenta-
len Meditation wurden stark übertrieben und verzerrt darge-
stellt.
Was für Behauptungen werden über Ayurveda aufgestellt?
Zur Beantwortung dieser Frage wende man sich an Deepak
Chopra, ein Absolvent der Harvard Medical School und ein
ehemaliger Leiter des "Transzendentale Meditation"-

42
Programms von Maharishi Mahesh Yogi. Chopra gibt an, dass
vollständige Gesundheit eine eigene Entscheidung ist und dass
er das dosha und sein Gleich- oder Ungleichgewicht einfach
durch Pulsfühlen herausfinden kann. Er behauptet, Allergien
werden normalerweise durch schlechte Verdauung hervorgeru-
fen. Er behauptet ebenfalls, dass man Grauen Star vermeiden
oder zurückbilden kann durch Zähneputzen, Abschaben der
Zunge sowie Spucken in ein Wasserglas - vorausgesetzt, man
spült sich die Augen einige Minuten lang mit einer Mixtur der
drei so produzierten Substanzen aus. Will man Chopra glau-
ben, dann können wir "im Gegensatz zu unseren überlieferten
Vorstellungen vom Altern [...] lernen, die Art und Weise zu
steuern, in der unser Körper Zeit verstoffwechselt." Chopra
fördert außerdem die Aromatherapie, basierend auf der ayur-
vedischen metaphysischen Körperlehre. Er verkauft Öle, die
speziell darauf ausgerichtet sind, Vata, pitta oder kapha zu-
friedenzustellen. Etwaige Beweise für diese Behauptungen
sind – nicht unerklärlicherweise - Mangelware.
Dr. Chopra hat mehr als jeder andere dafür getan, die ayur-
vedische Medizin des Maharishi in den Vereinigten Staaten
populär zu machen, einschließlich einiger New Age-Energie-
Ideen, die mutig und fälschlich eine Verbindung zwischen
Quantenphysik und Bewusstsein herstellen. Laut Chopra sind
wir alle "ein lokales Feld von Energie und Information mit
kybernetischen Rückkoppelungsschleifen, das mit einem
nichtlokalen Feld von Energie und Information interagiert." Er
meint, wir könnten "Quantenheilung" verwenden, um das Al-
ter zu besiegen. Chopra ist der Auffassung, der Geist heile
durch die Harmonisierung oder das Gleichgewicht des "quan-
tenmechanischen Körpers" (seine Bezeichnung für prana oder
chi). Er sagt auch, dass "man einfach durch die Fokussierung
des Bewusstseins auf eine Schmerzquelle den Heilungsprozess
beginnen könnte, denn der Körper schickt ganz natürlich Hei-
lenergie dorthin, wo die Aufmerksamkeit ist." Oder, anders
ausgedrückt: "Haben Sie glückliche Gedanken, dann produzie-
ren Sie glückliche Moleküle." Diese "Quantenmystik" hat

43
keinerlei Grundlage in der Physik und stellt einen Sprung in
die metaphysische Phantasie dar.
Die Idee, dass der alte Hindu-Mystizismus nichts anderes ist
als Quantenphysik in übernatürlichem Gewand scheint ihren
Ursprung bei Fritjof Capra und seinem Buch "Das Tao der
Physik" zu haben (1975 erschienen). Die ersten beiden Teile
des Werkes sind hervorragende Darlegungen über alte Reli-
gionen und moderner Physik. Der dritte Teil, in dem eine Ver-
bindung der beiden ersten versucht wird, ist ein katastrophaler
Fehlschlag und so ziemlich der reinste Nonsens diesseits des
Ganges. Nichtsdestotrotz hat eben dieser dritte Teil zahlreiche
Anhänger von New Age-Energiemedizin dahingehend moti-
viert, zu behaupten, Quantenphysik beweise die Realität aller
möglichen Dinge von chi über prana bis hin zu Psi-Kräften.
Die Vorstellung einer solchen Verbindung wird von den mei-
sten Physikern verneint, aber Bücher wie das von Capra oder
Gary Zukavs "The Dancing Wu Li Masters" (1976) über-
strahlen und sind wesentlich beliebter als vernünftigere Bücher
von Physikern. Chopra und andere Anhänger von Ayurveda,
im Fahrwasser von Capra und Zukav, weisen gerne darauf hin,
dass die moderne Physik antike Hindu-Metaphysik bestätigt
hat. Der Physiker Heinz R. Pagels, Autor von "The Cosmic
Code", weist die Idee, es gebe eine Verbindung zwischen den
Entdeckungen der modernen Physik und den übernatürlichen
Behauptungen des Ayurveda, scharf zurück: "Kein ernstzu-
nehmender Physiker, den ich kenne, würde behaupten, eine
solche Verbindung zu finden, ohne wissentlich zu betrügen."
Die Behauptung, dass die Felder der modernen Physik irgen-
detwas mit dem "Bewusstseinsfeld" zu tun haben, ist falsch.
Die Idee, dass das, was die Physik den "Vakuumzustand"
nennt, irgendetwas mit dem Bewusstsein zu tun hat, ist Unsinn.
Die Aussage, dass eine große Zahl von meditierenden Men-
schen die Verbrechensrate senken und Krieg verhindern kön-
nen, indem sie ein einheitliches Feld des Bewusstseins schaf-
fen, ist hochgradige Dummheit. Die Darstellung der Konzepte
der modernen Physik Seite an Seite - und offenbar im Einklang

44
mit - den Konzepten des Maharishi über reines Bewusstsein
kann nur den Zweck verfolgen, diejenigen zu täuschen, die es
vermutlich nicht besser wissen.
Die Lektüre dieses vom Maharishi abgesegneten Materials
verursacht mir Kummer, weil ich ein Mensch bin, dem die
Wahrheit viel bedeutet. Die willkürliche Entstellung der wun-
derbaren und tiefgehenden Ideen der modernen Physik, Arbeit
von Generationen von Wissenschaftlern, ruft in mir ein Gefühl
des Mitleids für jene hervor, die möglicherweise auf diese
Verzerrungen hereinfallen. Ich wäre gerne großzügig gegen-
über dem Maharishi und seiner Bewegung, weil sie den Welt-
frieden und andere hohe Ideale vertritt. Aber keines dieser
Ideale kann im Rahmen einer Philosophie verwirklicht wer-
den, die so voller Absicht die wissenschaftliche Wahrheit ent-
stellt. (Heinz R. Pagels)
Chopra vermittelt Hoffnung: den Sterbenden, sie stürben
nicht, und den Lebenden auf ein ewiges Leben in vollkomme-
ner Gesundheit. Aber diese Hoffnung erscheint falsch und
basiert auf unwissenschaftlicher Phantasie, durchzogen von
Mystizismus und fröhlich verbreitetem Blödsinn. Wissen-
schaft ist zum Überprüfen der ayurvedischen Behauptungen
unnötig, denn "die Meister der ayurvedischen Medizin können
die medizinischen Eigenschaften eines Krautes auf einen Blick
feststellen." (Thomas J. Wheeler)

Betrug und Markterweiterung


Wie man von einem falsche Hoffnungen verbreitenden Guru
erwarten kann, wurde Chopras Glaubwürdigkeit bereits er-
schüttert. Chopra reichte 1991 während seiner Präsidentschaft
in der American Association of Ayurvedic Medicine einen
Bericht bei der American Medical Association ein, gemeinsam
mit Hari M. Sharma, einem Pathologieprofessor am Ohio State
University College of Medicine, und Brihaspati Dev Triguna,
einem Ayurveda-Arzt in New Delhi, Indien. Chopra, Sharma
und Triguna gaben vor, sie seien unparteiische Autoritäten, in
keinster Weise assoziiert mit irgendeiner Organisation, die von

45
der Veröffentlichung des Artikels profitieren könnte. Jedoch
standen sie in engem Kontakt zu dem komplexen Netzwerk
von Organisationen, die Produkte und Dienstleistungen an-
bieten, über die sie in dem Artikel geschrieben hatten. Sie
stellten Maharishis Ayur-Veda als Indiens altes medizinisches
System dar und nicht als das, was es ist, nämlich ein ge-
schützter Begriff für "alternativmedizinische" Produkte und
Dienstleistungen, die seit 1985 von Maharishi Mahesh Yogi
vermarktet werden.
In seinem Hauptquartier in Kalifornien, wo er keine Arztli-
zenz hat, verbringt Chopra viel Zeit mit Schreiben und Vorträ-
gen. Er verlangt 25.000 Dollar pro Vortrag, bei dem er ein
paar Gemeinplätze absondert und sprituelle Ratschläge gibt,
während er vor den abträglichen Auswirkungen des Materia-
lismus warnt. Sein Publikum macht sich offenbar keine Ge-
danken über sein 2,5-Millionen-Dollar-Haus in La Jolla, Kali-
fornien, wo er seinen grünen Jaguar abstellt, den er sich mü-
helos leisten kann - schließlich hat er Millionen von Dollars
durch den Verkauf seiner Bücher, Kassetten, Kräuter, Auftritte
usw. abgeräumt. Chopra ist wesentlich reicher und ganz be-
stimmt berühmter als zu jener Zeit, als er noch Endokrinologe
oder Personalchef am New England Memorial Hospital jemals
war. Er gab die traditionelle Medizin 1981 auf, als Triguna ihn
davon überzeugte, dass nur ein Tapetenwechsel ihn vor einem
Herzinfarkt bewahren würde. 1984 dann traf Chopra den Ma-
harishi höchstpersönlich und wurde ein Jahr später Leiter des
Maharishi-Ayurveda-Gesundheitszentrum für Stressbewälti-
gung in Lancaster, Massachusetts. In Kürze wurde er zu einem
international arbeitenden Lieferanten für Kräuter und Tablet-
ten bis hin zu Maharishi-Ayurveda-Produkten.
Vielleicht der größte Schwindel bei Ayurveda ist die Be-
hauptung, sie stelle den Menschen in den Mittelpunkt, nicht
nur seinen Körper wie die traditionelle Medizin. Wie Chopra
meint: "Die erste Frage, die ein Ayurveda-Arzt stellt, ist nicht
Welche Krankheit hat mein Patient?, sondern Wer ist mein
Patient?" Das mag schon sein, aber es ist nicht der Mensch,

46
den der Arzt heilt. Es ist der "Quantenkörper" oder der "Geist-
Körper"; es ist das dosha, das ins Gleichgewicht gebracht
werden muss. Einem Menschen den Puls zu nehmen und ihm
zu sagen, er solle mehr Nüsse oder weniger scharfe Sachen
essen, ist kaum ein Indiz für ernsthaftes Bemühen um den
Patienten als Menschen. Es ist auch eine Täuschung, auf der
Website oder auf dem Umschlag des neuesten Buches kein
aktuelles Photo zu verwenden, das den Alterungsprozess deut-
lich machen würde - insbesondere, wenn man angeblich weiß,
wie man das Altern überwinden kann.
Selbsttäuschung ist weit verbreitet im Bereich der alternati-
ven Gesundheit, und Chopra hat seinen Teil dazu geleistet. In
"Return of the Rishi" verrät er, was ihn zur Transzendentalen
Meditation brachte: Sie half ihm dabei, seine Abhängigkeit
von Alkohol, Tabak und Kaffee loszuwerden. Der Mann war
in seinem Job gestresst, und seine Lebensweise hat diesen
Stress noch erhöht. Er beging den pragmatischen Irrtum und
wurde zu einem wahren Gläubigen, weil er danach zufrieden
war. In Ordnung, aber seitdem ist er dazu übergegangen, eine
Bestätigung von TM und Ayurveda mittels der Quantenphy-
sik, pseudowissenschaftlichen Ergüssen und Seminaren zu
suchen. Auch wenn seine Patienten starben, während er be-
hauptete, er habe ihnen vollkommene Gesundheit geschenkt,
konnte er seine Position halten. Und als die Verbindung mit
TM selber zu anstrengend und zu einem Hindernis für eigenen
Erfolg wurde, verließ er diese Bewegung.
Zurzeit leitet er das "Chopra-Zentrum für Wohlbefinden" in
La Jolla, Kalifornien, wo das Ziel ist, "zu heilen, lieben, ver-
wandeln und dienen." Es ist kein medizinisches Zentrum, denn
Chopra hat keine Lizenz, um in Kalifornien zu praktizieren. Es
ist ein spirituelles Zentrum, an dem man ein "besseres Ver-
ständnis für die Macht der eigenen körperlichen, geistigen und
seelischen Verbindung zum inneren wie äußeren Universum"
erwerben kann. Da viele von denjenigen, die zu dem Zentrum
kommen, krank sind, könnte man es ein "Wunderheilungs-
Zentrum" nennen. Es fallen einem auch noch ein paar andere

47
Ausdrücke ein, mit denen man es belegen könnte, aber das
verärgert möglicherweise Chopras Anwälte, die Spaß daran
haben, Kritiker ihres Brötchengebers zu verklagen.
Chopra hat auch wortreich zugegeben, dass sein "Ageless
Body, Timeless Mind: The Quantum Alternative to Growing
Old" ein Plagiat von Professor Robert Sapolskys Beitrag zu
"Behavorial Endocrinology" ist. Sapolsky ist der Autor von
Kapitel 10, "Neuroendokrinologie der Stressreaktion". 1997
verklagte er Chopra wegen Abschreibens großer Teile seines
Werkes ohne entsprechende Quellenangaben.
Natürlich hat Chopra eine Website, auf der er sich geehrt
fühlt, Ihr Geld für eines seiner vielen Bücher, Kassetten oder
Seminare zu nehmen. Wir sollten jedoch nicht zu hart mit
unserem Guru ins Gericht gehen. Man kann verstehen, dass er
seine medizinische Tätigkeit zugunsten einer religiösen auf-
gab. Als Mediziner ist man umgeben von kranken Menschen
und wird ständig an die eigene Sterblichkeit gemahnt. Die
Arbeit ist schwierig, häufig sehr anstrengend und undankbar.
Wie Chopra selber sagte, "Es ist frustrierend, Patienten wieder
und wieder zu sehen und ihnen immer mehr Schlafmittel, Be-
ruhigungsmittel und Antibiotika gegen ihren Blutdruck oder
ihre Geschwüre zu geben, wenn man genau weiß, dass man
das Problem oder die Krankheit nicht loswird." Darüber hin-
aus kann ein Arzt über der Sorge für seine Patienten verges-
sen, für sich selber zu sorgen und so selbst Schlafmittel, Beru-
higungsmittel, Blutdrucksenker und Psychopharmaka benöti-
gen.
Bei der Religion hingegen kann man sich ausschließlich mit
Jasagern umgeben, die verlangen, getäuscht und in die Irre
geführt zu werden, weil sie sich dabei glücklich und gesund
fühlen. Wendet man sich der Metaphysik anstelle der Biologie
zu, vermeidet man das Risiko, nachweislich Unrecht haben zu
können. Es ist wesentlich einfacher, grundlose Hoffnung für
Menschen in Nöten zu vermitteln als die harte und gelegent-
lich brutale Wirklichkeit zu akzeptieren und dabei Gesundheit,
Optimismus und Zufriedenheit zu bewahren. Für manche ist es

48
viel leichter, dem Leben dadurch entgegenzutreten, dass man
sich vormacht, man selber könne ganz allein bestimmen, was
real und wahr sei. Es ist auch viel einfacher, Bestätigungen
und Belege für eine Weltsicht zu finden als solide Nachfor-
schungen anzustellen. Und es ist ganz bestimmt wesentlich
angenehmer, mit Oprah Winfrey zu plaudern und die Hände
der Reichen und Berühmten zu schütteln als schon wieder
einen Krebspatienten sterben zu sehen.

Warum sind Chopra und Ayurveda so beliebt?


Die Beliebtheit Chopras und des Ayurveda legt Zeugnis ab für
das Scheitern des modernen Lebens und der modernen Medi-
zin, tiefsitzende Bedürfnisse nach Einfachheit, Vertrauen und
einer sauberen und gesunden Umwelt, sowie nach etwas zu
befriedigen, das der Fragmentierung, Entfremdung und Isola-
tion entgegenwirkt, die viele Menschen fühlen. Hoffnung ist
eine machtvolle Droge. Als Vertreterin von Frieden, Liebe,
Sorge und Respekt wie auch esoterischen Wissens für die
Massen, wird "alternative" Medizin immer populär bleiben.
Und es ist Tatsache, dass diese "alternativen" Menschen wie
Chopra häufig auf eine wesentlich gesündere Bahn bringen als
diejenige, auf der sie sich befanden, bevor sie mit Ayurveda,
qi gong oder Polarreflexquantenenergiedynamik (gibt es ver-
mutlich noch nicht, aber warten Sie ab) befassten.
Den meisten Menschen ginge es besser, wenn sie zumindest
einige der vernünftigen Empfehlungen der "Alternativen" be-
folgen würden: weniger essen und sich nicht mit fettigen und
zuckerhaltigen Lebensmitteln praktisch ohne Nährwert voll-
stopfen, sich entspannen, nicht rauchen, trinken oder andere
Drogen nehmen, um sich besser zu fühlen, alles nicht so ernst
nehmen, andere Menschen freundlich und respektvoll behan-
deln, mehr Zeit mit Freunden und Familie verbringen und
dabei Beziehungen aufbauen, nicht mehr über Erfolg, Reich-
tum und Ruhm nachgrübeln, sich Gedanken über das machen,
was man seinem Körper zuführt und was unserer Luft und
unserem Wasser zugemutet wird. Die Philosophie kann im

49
Dienste dieser Interessen stehen. Aber die meisten Menschen
wollen darüber hinaus irgendeine Bestätigung, dass das hier
nicht alles ist, dass es noch mehr gibt. Sie wollen an Unsterb-
lichkeit glauben, und "Alternativen" wie Ayurveda erfüllen
dieses Bedürfnis.
Die Heuchelei eines Materialisten, der sie darauf hinweist,
dass Materialismus die Wurzel allen Übels ist, entgeht den
meisten. Aber ich frage mich, wenn Ayurveda so grandios ist
und seit Tausenden von Jahren in Indien praktiziert wird, war-
um kehrt Chopra dann nicht nach Indien zurück, um dort zu
leben? Warum kehren diejenigen, die die Wunder der traditio-
nellen chinesischen Medizin anpreisen, nicht ebenso nach
China zurück? Die Antwort scheint offensichtlich: Die Wun-
der von Ayurveda und traditioneller chinesischer Medizin
werden maßlos übertrieben. China und Indien sind die beiden
größten Länder der Erde, und doch gibt es keinen Ansturm
von Menschen aus dem Westen, die in eines der beiden Länder
emigrieren wollen.
Warum nicht? Weil die Chance größer ist, in Amerika ein
gesünderes, reicheres und erfüllteres Leben zu führen als in
China oder Indien. Keines der beiden Länder ist ein Muster-
land für Volksgesundheit. Laut WHO steht China auf dem 81.,
Indien auf dem 134. und die USA auf dem 24. Platz, wenn es
um die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung geht. Die Le-
benserwartung ist in Nordamerika wesentlich höher als in
China oder Indien: 1998 betrug die Lebenserwartung in den
USA 72,9 Jahre für Männer und 83,3 Jahre für Frauen; in In-
dien lagen die Zahlen bei 62,3 Jahren für Männer und 63,7
Jahren für Frauen, in China bei 68, 3 Jahren für Männer und
71,1 Jahren für Frauen.
Glaubt Deepak Chopra wirklich, Ernährungsmängel seien
ein größeres Problem in Nordamerika als in Indien? Ist er
wirklich der Auffassung, die Menschen in Indien und China
leben ein längeres, glücklicheres und gesünderes Leben als im
Westen? Falls ja, warum bleibt er dann hier? Kann er wirklich
sagen: Ich bin gekommen aus dem Gelobten Land in diese öde

50
Wüste und werde hier bleiben, um euch am Steuer meines
Jaguars zu perfekter Gesundheit zu führen?
Lassen wir Dr. Chopra das letzte Wort: "Ich glaube aller-
dings nicht an die Existenz der Zeit. Das ist eine Sache, die ich
Ihnen sagen muss, und die andere ist, dass ich weder mich
selber noch das, was ich tue, ernst nehme."

Übersetzung: Tobias Budke

51
Bach-Blütentherapie
Es "funktioniert" - eine Mischung aus Blumenessenz, Mi-
neralwasser und Brandy harmonisiert die Seelenenergie

Bach-Blütentherapie (nicht: Bachblüten-Therapie) ist


eine Art homöopathischer Aromatherapie, die in den
dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts von dem britischen
Arzt Edward Bach (1886-1936) entwickelt wurde. Bach
behauptete, er habe auf geistigem oder intuitivem Wege die
heilenden Wirkungen von 38 Wildblumen entdeckt. Seine
"Entdeckungen" machte er durch "Eingebungen". Auf einem
seiner Spaziergang beispielsweise hatte er die Eingebung, dass
von der Sonne aufgeheizte Tautropfen auf einer Pflanze die
heilenden Eigenschaften der Pflanze absorbieren würden. Er
behauptete, alles, was er tun müsse, sei, eine Blume in der
Hand zu halten oder ein Blumenblatt zu schmecken, um intui-
tiv ihre heilende Kraft zu erfassen. Ausgehend von diesen
Intuitionen machte er sich daran, "Essenzen" unter Verwen-
dung von reinem Wasser und Pflanzen herzustellen.
Bach gab an, diese Wildblumen hätten eine Seele oder Ener-
gie mit einer Verwandtschaft zur menschlichen Seele. Die
spirituelle Energie der Blume sei auf Wasser übertragbar.
Gläubige trinken eine homöopathische Mischung aus Blume-
nessenz, Mineralwasser und Brandy, um die Blumenseele dazu
zu bringen, ihre eigene Seelenenergie zu harmonisieren.
Bach hielt Krankheit für das Ergebnis eines "Widerspruchs
zwischen den Absichten der Seele und dem Standpunkt der
Persönlichkeit". Dieser innere Streit habe negative Stimmun-
gen und Energieblockaden zur Folge, die wiederum einen
Mangel an "Harmonie" erzeugen, der schließlich zu körperli-
chen Krankheiten führt. Jede der 38 Blumen des Bach-
Systems wird verwendet, um spezifische emotionale Schmer-
zen oder - bei fortgeschrittenem Mangel an Gleichgewicht -
körperliche Symptome in Harmonie zu bringen. Anhänger der
Bach-Blütentherapie entgegnen Kritikern gern, die Therapie

52
"funktioniere". Ich habe keine Ahnung, was mit der Behaup-
tung "es funktioniert" gemeint ist, denn ich kann nicht erken-
nen, wie man diese Therapie testen kann, da ihre zentralen
Behauptungen übernatürlich und nicht empirisch sind.
Doktor Bach erscheint jedoch geradezu langweilig vergli-
chen mit den Pionierleistungen einiger seiner Blumenkinder.
In Kalifornien ist man darauf gekommen, dass das oft stief-
mütterlich behandelte Vergißmeinnicht gut zur "Steigerung
des Bewusstseins der karmischen Beziehungen jenseits der
Schwelle" ist. Und Beifuß hilft beim "Bewusstmachen von
Träumen und der bewussten Kontrolle des eigenen übersinnli-
chen Lebens." Und auch das "funktioniert", natürlich.

Übersetzung: Tobias Budke

53
Prähistorische Astronauten
Kamen die Götter aus dem All? Nein, denn der prähistori-
sche Mensch war nicht weniger intelligent und geistreich
als wir

Der Begriff "Prähistorische Astronauten" bezieht sich auf die


spekulative Annahme, außeriridische Besucher aus dem All
seien verantwortlich für die ältesten Zivilisationen der Erde.
Der berüchtigtste Vertreter dieser Vorstellung ist Erich von
Däniken, Autor mehrerer Bestseller über dieses Thema. Sein
Buch "Erinnerungen an die Zukunft" etwa, ist ein Rundum-
schlag gegen die Erinnerungsleistungen und die Fähigkeiten
der Menschen des Altertums. Von Däniken behauptet, dass
Mythen, Kunst und gesellschaftliche Strukuren der ersten Zi-
vilisationen von Astronauten eingeführt wurden, die von ei-
nem anderen Stern kamen. Somit stellt er nicht nur das Erinne-
rungsvermögen unserer Vorfahren in Frage, sondern auch ihre
Fähigkeit zur Entwicklung von Kultur und Zivilisation über-
haupt. Vorgeschichtliche Menschen entwickelten ihre Kunst-
und Technikfertigkeiten demnach nicht selbst, sondern lernten
sie von Besuchern aus dem Weltall.
Wie steht es mit den Beweisen, die von Däniken für seine
Behauptungen vorgelegt hat? Einige von ihnen erwiesen sich
als Fälschungen. So zeigte Däniken Fotos von Töpferarbeiten,
die seinen Angaben zufolge bei einer archäologischen Ausgra-
bung gefunden worden seien. Die Keramiken zeigten fliegen-
de Untertassen und stammten angeblich aus biblischer Zeit.
Die Reporter von "Nova", einer seriösen US-
Dokumentarsendung, spürten jedoch den Töpfer auf, der diese
vermeintlich antiken Töpfe gefertigt hatte. Sie konfrontierten
von Däniken mit ihren Beweisen, die den Betrug belegten.
Seine Antwort darauf: Der Schwindel sei gerechtfertigt, da
manche Menschen eben nur dann glaubten, wenn sie Beweise
sähen! ("The Case of Ancient Astronauts", Ausstrahlungsda-
tum 8. März 1978)

54
Bei den meisten dieser "Beweise" des Autors von Däniken
handelt es sich jedoch einfach um windige Argumente und
Irrtümer. Von Däniken beginnt schlicht bei der Annahme, es
habe diese Astronauten gegeben - und zwingt danach archäo-
logischen Fundstätten und alte Mythen in dieses Konzept. In
Nazca, Peru, erklärt von Däniken beispielsweise große Tier-
zeichnungen in der Wüste zu einem uralten außerirdischen
Flughafen. Der Umstand, dass die Linien der Zeichnung als
Startbahnen für irgendein reales Flugzeug untauglich wären,
da sie viel zu eng zusammen liegen, wird von ihm bequemer-
weise ignoriert. Die Möglichkeit, dass sich diese Zeichnungen
auf die Wissenschaft oder die Mythologie der Einheimischen
beziehen könnten, wird nicht in Betracht gezogen.
Häufig greift von Däniken auch auf Pseudo-Dilemmata als
Argumentationshilfe zurück, etwa nach dem Muster: "Entwe-
der wir erklären diese Daten durch die Annahme, dass diese
primitiven Idioten all das selbst gemacht haben, oder wir ak-
zeptieren die wesentlich plausiblere Idee, dass sie Hilfe von
außerordentlich fortgeschrittenen Völkern erhielten, die von
anderen Planeten gekommen sein müssen und Technologien,
wie etwa die Antischwerkraft besaßen."
Die meisten seiner Kritiker weisen darauf hin, dass die Men-
schen des Altertums eben nicht die hilflosen, imkompetenten,
vergesslichen Wilden waren, die von Däniken aus ihnen macht
- denn sie müssten immerhin in der Lage gewesen sein, so-
wohl die Sprache, als auch die Anweisungen ihrer außerirdi-
schen Lehrer zu verstehen: nicht gerade einfach! Es ist wahr:
Wir wissen noch nicht genau, wie die Alten manche ihrer er-
staunlichen technischen Leistungen vollbracht haben. Wir
fragen uns immer noch, auf welche Weise die alten Ägypter
riesige Obelisken in der Wüste errichteten, wie Steinzeitmen-
schen riesige Monolithen bewegen und sie in Dolmen oder
Reihengräbern verarbeiten konnten. Wir staunen, ob der riesi-
gen gemeißelten Köpfe auf der Osterinsel und fragen uns, wer
sie hergestellt hat, warum sie aufgestellt wurden. und wieso
ihre Erschaffer die Insel verlassen haben. Eines Tages finden

55
wir vielleicht Antworten auf diese Fragen, aber sie werden
höchstwahrscheinlich von der Wissenschaft gegeben werden,
nicht von pseudowissenschaftlicher Spekulation. Die Beob-
achtung von Menschen in Papua-Neuguinea, die noch heute
im Stadium der Steinzeit-Kultur leben, und in deren Le-
bensumgebung man riesige Steine auf den Gräbern findet, hat
uns einen Hinweis darauf gegeben, wie die Menschen der
Vorgeschichte ähnliche Leistungen mit wenig mehr als Pflan-
zenseilen, hölzernen Hebeln und Schaufeln, sowie ein wenig
Kreativität und viel Muskelkraft erbracht haben könnten.
Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass das Gedächtnis
unserer Vorfahren so viel schlechter gewesen sei als das unse-
re, und dass sie sich daher nicht genau genug an die Außerirdi-
schen hätten erinnern können, um präzisere Beschreibungen
ihrer Besuche weiterzugeben. Es gibt keine Belege für die
Annahme, dass alte Mythen und religiöse Geschichten ver-
zerrte und unvollständige Erinnerungen an Altertums-Aliens
seien, aufgezeichnet von prähistorischen Priestern. Die Belege
allerdings, die dagegen sprechen, und für die Annahme plädie-
ren, dass prähistorische oder "primitive" Menschen durchaus
intelligent und geistreich gewesen seien - sind hingegen über-
wältigend. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass Besucher
aus dem All vor einigen tausend Jahren auf der Erde landeten
und mit unseren Vorfahren in Verbindung traten. Aber es ist
doch weitaus wahrscheinlicher, dass unsere Vorfahren für ihre
Kunst, Technologie und Kultur selbst verantwortlich zeichne-
ten.
Warum also sollte man auf eine Erklärung zurückgreifen, wie
sie von Däniken gibt? Sie mag vielleicht durch den Reiz des
Mysteriösen viele Menschen ansprechen - aber sie ergibt kei-
nen Sinn, da sie vielem widerspricht, was wir bereits über die
Welt unserer Vorfahren wissen. Die Theorie der "Götter aus
dem All" ist überflüssig: Wir können sie getrost über die Klin-
ge von "Occams Rasiermesser" springen lassen.

56
Anmerkung des Übersetzers:
Auch der 1996 verstorbene bekannte Astronom Carl Sagan
meinte: "Unsere Vorfahren waren keine Trottel. Sie hatten
vielleicht keine Hochtechnologie, aber sie waren so clever wie
wir, und manchmal verbanden sie Hingabe, Intelligenz und
harte Arbeit miteinander, um Ergebnisse zu erzielen, die sogar
uns noch beeindrucken." (Sagan, Carl: Broca's Brain. New
York 1974. S. 63). Ein weiterer Kritiker von Dänikens ist der
Bühnenmagier James Randi, der auf einen weiteren und wenig
beachteten Aspekt der Astronautengötter-Theorie hinweist,
nämlich auf den darin verborgenen Rassismus. Randi: "Die
vielleicht die größte Schwachstelle in den von Däniken ver-
tretenen Argumenten besteht darin, dass er, - obwohl er die
wunderbaren Errungenschaften von braun-, gelb- oder
schwarzhäutigen Menschen anführt und seinen Zweifeln Aus-
druck verleiht, sie könnten dies [...] ohne außerirdische Hilfe
geschafft haben, - er doch an keiner Stelle Stonehenge, die
Kathedrale von Chartres oder das Parthenon oder irgendeines
der Weltwunder der weißen Rasse erwähnt." (Randi, James:
The Supernatural A-Z. London 1995. S. 319).

Übersetzung: Tobias Budke

57
Déjà vu
Mit früheren Leben oder Hellsicht hat das unheimliche
Gefühl sicher nichts zu tun - eher mit neurochemischen
Vorgängen im Gehirn

Déjà vu (frz. für: "schon mal gesehen") ist das unheimliche


Gefühl oder die Illusion, man habe etwas, das man zum ersten
Mal wahrnimmt, schon einmal gesehen oder erlebt. Wenn wir
davon ausgehen, dass diese Erfahrung tatsächlich auf einem
erinnerten Ereignis beruht, dann tritt déjà vu vermutlich auf,
weil eine ursprüngliche Erfahrung nicht vollständig erfasst und
nicht sorgfältig kodiert wurde. Falls dies zutrifft, scheint es
höchst wahrscheinlich, dass die gegenwärtige Situation die
Erinnerung an ein Fragment aus der eigenen Vergangenheit
auslöst. Dieses Erlebnis kommt einem vielleicht unheimlich
vor, wenn die Erinnerung so bruchstückhaft ist, dass keine
soliden Verbindungen zwischen dem Bruchstück und anderen
Erinnerungen aufgestellt werden können.
Daher tritt das Gefühl, schon mal da gewesen zu sein, auf-
grund der Tatsache ein, dass man schon mal dagewesen ist.
Man hat einfach den größten Teil der ursprünglichen Erfah-
rung vergessen, da man ihr beim ersten Mal keine große Auf-
merksamkeit geschenkt hat. Diese ursprüngliche Erfahrung
kann durchaus nur Minuten oder Sekunden alt sein.
Andererseits kann eine déjà-vu-Erfahrung auch auf Bildern
oder Geschichten basieren, die man viele
Jahre zuvor gesehen oder gehört hat. Diese Erfahrungen
könnten Teil der schwammigen
Erinnerungen an die eigene Kindheit sein, von denen man
dann irrtümlich annimmt, sie stammten aus früheren Inkarna-
tionen, denn man "weiß ja", dass sie nicht aus diesem Leben
kommen.
Es ist jedoch auch möglich, dass ein déjà-vu-Gefühl von ei-
nem neurochemischen Vorgang im Gehirn ausgelöst wird, der
nicht an eine tatsächliche Erfahrung aus der Vergangenheit

58
gekoppelt ist. Man fühlt sich seltsam und ordnet dem Gefühl
eine Erinnerung zu, obwohl die Erfahrung vollkommen neu
ist. Das bedeutet, déjà vu könnte auch ohne die vermeintliche
Wiedererkennung von etwas bereits Wahrgenommenen statt-
finden.
Der Begriff "déjà vu" stammt von Emile Boirac (1851-
1917), der sehr an übersinnlichen Phänomenen interessiert
war. Boiracs Ausdruck richtet unsere Aufmerksamkeit auf die
Vergangenheit. Wenn man jedoch einen Moment darüber
nachdenkt, erkennt man, dass das Einzigartige am déjà vu
nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart
stammt, sprich: das seltsame Gefühl, das man dabei erlebt.
Wir haben oft Erlebnisse, deren Neuigkeitswert unklar ist und
bei denen wir uns Fragen stellen wie: Habe ich dieses Buch
schon einmal gelesen? Ist dies eine Al-Bundy-Episode, die ich
schon kenne? Dieser Ort kommt mir bekannt vor, war ich
schon mal hier? Und doch sind diese Erlebnisse nicht mit ei-
nem unheimlichen Gefühl verbunden. Wir sind vielleicht ein
bisschen verwirrt, aber das déjà-vu-Gefühl ist nicht Verwir-
rung, sondern Seltsamkeit. Es ist nichts Seltsames an der Fra-
ge, ob man ein Buch schon einmal gelesen haben könnte, be-
sonders wenn man über Fünfzig ist und Tausende von Büchern
gelesen hat. Bei déjà vu fühlen wir uns seltsam, weil wir nicht
der Meinung sind, wir sollten die momentane Wahrnehmung
als bekannt erleben. Dieses Gefühl, etwas passe nicht zusam-
men, stellt sich nicht ein, wenn man sich einfach unsicher ist,
ob man ein Buch schon einmal gelesen oder einen Film schon
einmal gesehen hat.
Daraus folgt, dass die Möglichkeit besteht, dass alle Erklä-
rungsansätze für déjà vu mit Rückgriff auf verlorene Erinne-
rungen, frühere Leben oder Hellsicht in die Irre führen. Man
sollte vielmehr über das déjà-vu-Gefühl sprechen. Dieses Ge-
fühl könnte von einer Gehirnaktivität, also neurochemischen
Faktoren während der Wahrnehmung, hervorgerufen werden,
die nichts mit Erinnerung zu tun haben. Es lohnt sich festzu-
halten, dass déjà-vu-Gefühle bei Patienten der Psychiatrie

59
häufig sind. Das déjà-vu-Gefühl tritt auch oft kurz vor epilep-
tischen Anfällen der Schläfenlappen auf. Als Wilder Penfield
1955 sein berühmtes Experiment durchführte, in dem er die
Schläfenlappen elektrisch stimulierte, fand er heraus, dass
etwa acht Prozent seiner Testsubjekte "Erinnerungen" durch-
lebten. Er lieferte keine Belege für die Behauptung, dass er
echte Erinnerungen hervorgerufen habe. Sie könnten genauso
gut Halluzinationen und die ersten Beispiele von künstlich
erzeugtem déjà vu gewesen sein.

Übersetzung: Tobias Budke

60
Dianetik
Ron Hubbards Ideologie ist weder Wissenschaft noch Reli-
gion - sie ist schlicht gefährlicher Unfug

Hubbard demonstriert einen tief sitzenden Hass auf Frauen ...


Wenn Hubbards Mamas nicht von ihren Ehemännern in den
Magen getreten werden oder Liebesaffären haben, dann be-
fassen sie sich bevorzugt mit versuchter Abtreibung - übli-
cherweise durch den Einsatz von Stricknadeln."
Martin Gardner, "Fads & Fallacies in the Name of Science",
New York: Dover Publications, 1957,S. 267

Im Jahre 1950 veröffentlichte Lafayette Ronald Hubbard


sein Werk "Dianetics: The Modern Science of Mental Health"
[Herausgegeben von The American Saint Hill Organization,
Los Angeles] (deutscher Titel: "Dianetik - Der Leitfaden für
den menschlichen Verstand") [Alle Seitenangaben beziehen
sich auf die gebundene amerikanische Originalausgabe, die
Zitate stammen ebenfalls aus dieser Version des Buches und
sind von Tobias Budke übersetzt. Anm. d. Red.] Dieses Buch
ist die "Bibel" der Scientology, die als Wissenschaft, als Kir-
che und als Religion bezeichnet wird. Hubbard teilt dem Leser
mit, Dianetik "... enthält eine therapeutische Technik, mit der
alle nicht-organischen Geisteskrankheiten und alle organi-
schen psychosomatischen Erkrankungen mit der Garantie voll-
ständiger Heilung behandelt werden können ..." Er behauptet,
er habe die "einzige Ursache mentaler Störungen" entdeckt (S.
6). Eine vorbeugende Warnung findet sich jedoch auf dem
Einband des Buches: Sie besagt, dass "Scientology und ihr
Teilbereich, Dianetik, wie von der Kirche praktiziert, ... keine
Personen aufzunehmen beabsichtigen, die eine Behandlung für
körperliche oder geistige Erkrankungen wünschen. Diese seien
an qualifizierte Spezialisten verwiesen, die sich mit diesen
Problemen befassen." Dieses "Dementi" scheint offensichtlich
ein Schutzmechanismus gegen den Vorwurf zu sein, man

61
praktiziere Medizin ohne Berufslizenz, da der Autor wieder-
holt darauf beharrt, Dianetik könne so ziemlich alles heilen,
was einen plage. Er beharrt ebenso wiederholt darauf, bei Dia-
netik handele es sich um eine Wissenschaft. Allerdings kann
jeder, der sich mit wissenschaftlichen Texten auskennt, schon
nach den ersten paar Seiten von "Dianetik" feststellen, dass es
kein wissenschaftliches Werk und der Autor kein Wissen-
schaftler ist. Dianetik ist ein klassisches Beispiel für eine
Pseudowissenschaft.
Auf Seite 5 von "Dianetik" versichert Hubbard, eine Wissen-
schaft des Geistes müsse "eine einzige Ursache aller Geistes-
krankheiten, Psychosen, Neurosen, Zwangshandlungen, Ver-
drängungen und sozialen Störungen" finden. Eine solche Wis-
senschaft müsse, laut Hubbard, "unabänderliche wissenschaft-
liche Beweise über die grundlegende Natur und den funktio-
nalen Hintergrund des menschlichen Verstandes" liefern und
"Ursache und Heilung aller psychosomatischen Krankheiten"
verstehen. Dennoch behauptet er gleichzeitig, es sei sinnlos,
von einer Wissenschaft des Geistes zu erwarten, sie könne
eine einzige Ursache für Geisteskrankheiten finden, da man-
che durch "missgebildete, zerstörte oder verletzte Gehirne oder
Nervensysteme", andere wiederum, von ärztlichen Eingriffen
verursacht würden. Trotz dieses offensichtlichen Wider-
spruchs fährt Hubbard frohgemut fort und stellt fest, dass diese
Wissenschaft des Geistes "in Bezug auf die experimentelle
Präzision auf einer Stufe mit Physik und Chemie stehen wür-
de." Danach erfahren wir, Dianetik sei "... eine geordnete Wis-
senschaft des Denkens, errichtet auf klaren Axiomen: Aussa-
gen über Naturgesetze auf derselben Stufe wie die der Natur-
wissenschaften ... " (S. 6).
Es gibt jedoch klare Hinweise darauf, dass diese sogenannte
Wissenschaft des Geistes überhaupt keine Wissenschaft ist.
Einer davon ist in der Behauptung enthalten, Dianetik sei er-
richtet auf "eindeutigen Axiomen", sowie in Hubbards a prio-
ri-Wissen über die Zahl der kausalen Mechanismen, die für
alle Phänomene existieren müssten. Echte Wissenschaft ba-

62
siert auf vorläufigen Hypothesen zur Erklärung beobachteter
Phänomene. Die wissenschaftliche Ermittlung von Ursachen -
einschließlich ihrer Zahl - ist eine Sache der Entdeckung, nicht
der willkürlichen Festsetzung. Außerdem haben Wissen-
schaftler im allgemeinen Respekt für logisches Denken und
würden sich damit schwertun, ohne Schalk im Nacken zu sa-
gen: Diese neue Wissenschaft muss nachweisen, dass es eine
einzige Ursache aller geistigen Erkrankungen gibt, mit Aus-
nahme der geistigen Erkrankungen, die eine andere Ursache
haben.
Es gibt viele weitere Beweise für die Unwissenschaftlichkeit
der Dianetik. Hubbards Theorie des Verstandes hat nur wenig
gemein mit moderner Neurophysiologie und all dem, was über
das Gehirn und seine Funktionsweise bekannt ist. Laut Hub-
bard besteht der Verstand aus drei Teilen. "Der analytische
Verstand ist der Teil, der Erfahrungen wahrnimmt und spei-
chert, um Probleme zu erfassen und zu lösen, und den Orga-
nismus entlang der vier Haupttriebe leitet. Er denkt in Unter-
schieden und Ähnlichkeiten. Der reaktive Verstand ist der Teil
des Geistes, der den körperlichen und emotionalen Schmerz
ablegt und speichert und bestrebt ist, den Organismus aus-
schließlich auf einer Reiz-Reaktions-Basis zu lenken. Dieser
Teil denkt nur in Identitäten. Der somatische Verstand ist der-
jenige, der - angeleitet vom analytischen oder reaktiven Ver-
stand - Lösungen auf der physikalischen Ebene in die Tat um-
setzt." (S. 39)
Wenn wir Hubbard glauben wollen, dann ist die einzige Ur-
sache von Geisteskrankheit und psychosomatischen Störungen
das "Engramm". Engramme finden sich in jedermanns "En-
gramm-Speicherbank", d.h. im reaktiven Verstand. Der "reak-
tive Verstand", so Hubbard, "kann bei einem Menschen Ar-
thritis, Asthma, Allergien, Stirnhöhlenvereiterung, Herzpro-
bleme, hohen Blutdruck und alle weiteren Krankheiten auf der
Liste der Psychosomatik erzeugen, wobei noch einige hinzu-
kommen, die niemals klar als psychosomatisch eingestuft
wurden, etwa die Erkältung" (S. 51). Man sucht allerdings

63
vergeblich nach Belegen für diese Behauptungen und wird
abgespeist mit: "Das sind wissenschaftliche Fakten. Sie passen
ausnahmslos zu den Beobachtungsergebnissen." (S. 52).
Ein Engramm wird definiert als "eine klare und permanente
Spur, die von einem Reiz auf dem Protoplasma des Gewebes
zurückgelassen wird. Man betrachtet es als eine Einheiten-
gruppe von Reizen, die nur das zelluläre Wesen beeinträchti-
gen." (S. 60, Anmerkung). Wir erfahren, dass Engramme nur
während Phasen des körperlichen oder seelischen Leidens
aufgezeichnet werden. Während dieser Phasen macht der
"analytische Verstand" dicht, und der reaktive Verstand wird
aktiviert. Der analytische Verstand hat allerlei fantastische
Eigenschaften, einschließlich der Unfähigkeit, Fehler zu bege-
hen. Er hat, so Hubbard, normale Erinnerungsspeicher im Ge-
gensatz zum reaktiven Speicher. Diese normalen Erinnerungs-
speicher zeichnen alle möglichen Wahrnehmungen auf und
sind laut Hubbard vollkommen und speichern alles Gehörte
und Gesehene ganz exakt.
Wie steht es um Beweise für die Existenz von Engrammen
und ihre "feste Verankerung" in Zellen während schmerzhafter
körperlicher oder emotionaler Erlebnisse? Hubbard sagt nichts
von irgendwelchen Laborstudien, aber er sagt:
"In der Dianetik, auf der Ebene der Laborbeobachtungen,
entdecken wir zu unserem großen Erstaunen, dass Zellen of-
fenbar auf eine zurzeit noch unerklärliche Art offenbar ein
Bewusstsein haben. Wenn wir also nicht eine menschliche
Seele annehmen wollen, die in Sperma und Ei bei der Zeugung
eintritt, dann gibt es Dinge, die keine andere Annahme erklä-
ren kann außer der vom wie auch immer gearteten Bewusst-
sein der Zelle." (S. 71)
Diese Erklärung liegt nicht auf der "Ebene der Laborbeob-
achtungen", aber sie stellt ein falsche Alternative dar und führt
zu einer Scheinfrage. Darüber hinaus hat die Theorie von
Seelen, die in Zygoten eintreten, zumindest einen Vorzug vor
Hubbards: Sie basiert nicht auf Täuschung und ist eindeutig
metaphysisch. Hubbard hingegen ist bemüht, seine metaphysi-

64
schen Behauptungen im wissenschaftlichen Gewand zu prä-
sentieren:
Die Zellen als Gedankeneinheiten haben Einfluss, als Zellen,
auf den Körper als Gedankeneinheit und Organismus. Wir
sind nicht gezwungen, diese strukturellen Probleme zu entwir-
ren, um unsere funktionalen Grundannahmen zu klären. Zellen
speichern offenbar Engramme von schmerzhaften Erlebnissen.
Schließlich sind sie es, die verletzt werden ...
Der reaktive Verstand könnte durchaus die kombinierte zel-
luläre Intelligenz sein. Es ist nicht nötig, anzunehmen, dass es
so ist, aber es ist eine praktische Strukturtheorie angesichts
des Mangels an ernsthafter Arbeit auf dem Gebiet der Struktu-
ren. Die reaktive Engramm-Bank könnte aus dem Material
bestehen, das die Zellen selber lagern. Es spielt im Moment
noch keine Rolle, ob dies glaubhaft oder unglaublich ist ...
Es ist eine wissenschaftliche Tatsache - beobachtet und gete-
stet - dass der Organismus angesichts körperlicher Schmerzen
zulässt, dass der Analysierende aus dem Kreislauf gestoßen
wird und daher nur eine begrenzte oder gar keine Menge an
persönlichem Bewusstsein als Einheitsorganismus besteht. (S.
71)
Hubbard versichert, dass diese Tatsachen auf Beobachtungen
und Tests basieren, aber tatsächlich gibt es einen "Mangel an
ernsthafter Arbeit auf diesem Gebiet". Die folgenden Beispiele
sind typisch für die "Beweise", die Hubbard für seine En-
gramm-Theorie liefert:
Eine Frau wird von einem Schlag getroffen. Sie "verliert das
Bewusstsein". Sie wird getreten und als Simulantin bezeichnet,
sie tauge nichts, sie sei launisch und unberechenbar. Wäh-
renddessen wird ein Stuhl umgeworfen. Ein Wasserhahn läuft
in der Küche. Ein Auto fährt am Haus vorbei die Straße ent-
lang. Das Engramm enthält eine laufende Aufzeichnung all
dieser Wahrnehmungen: Sicht, Geräusche, physischer Kon-
takt, Geruch, organische Wahrnehmung, kinetischer Sinn,
Gelenkposition, Durst usw. Das Engramm beinhaltet alles,
was die Frau wahrgenommen hat, während sie "ohne Be-

65
wusstsein" war: Lage und Gefühlsausdruck der Stimme, Ge-
räusch und Gefühl der ersten und späteren Schläge, den
Kontakt mit dem Fußboden, Gefühl und Geräusch des umkip-
penden Stuhls, die organische Wahrnehmung des Schlages,
vielleicht auch den Geschmack von Blut oder irgendetwas
anderem im Mund, den Geruch der Person, die sie angreift,
ebenso wie die Gerüche im Zimmer, das Geräusch des vor-
beifahrenden Autos (Motor und Reifen), etc." (S. 60)
Inwieweit dieses Beispiel einen Bezug zu Geisteskrankheit
oder zu psychosomatischen Erkrankungen hat, wird von Hub-
bard so erklärt:
Das Engramm, das die Frau erhalten hat, enthält eine neu-
rotische positive Suggestion ... Man hat ihr gesagt, sie sei eine
Simulantin, sie tauge nichts, sie sei launisch und unberechen-
bar. Wird das Engramm dann später auf eine der zahllosen
möglichen Arten wieder ausgelöst (etwa durch das Geräusch
eines vorbeifahrenden Wagens bei gleichzeitig laufendem
Wasserhahn und einem umkippenden Stuhl), dann bekommt
sie das Gefühl, sie tauge nichts, sie sei eine Simulantin und sie
werde 'mal wieder einer Laune nachgeben. (S. 66)
Eine Methode, solche Behauptungen empirisch zu testen,
kann es nicht geben. Eine "Wissenschaft", die nur aus solchen
Behauptungen besteht, ist nichts als eine Pseudowissenschaft.
Hubbard gibt an, enorme Datenmengen seien gesammelt und
nicht eine einzige Ausnahme von seiner Theorie gefunden
worden (S. 68). Wir müssen seinem Wort vertrauen, scheint
es, denn die "Datenmengen", die er präsentiert, haben alle die
Form von Anekdoten oder erfundenen Beispielen wie dem
obigen.
Ein weiteres Indiz für die Unwissenschaftlichkeit der Diane-
tik und der Ahnungslosigkeit ihres Begründers in Bezug auf
die wissenschaftliche Arbeitsweise findet sich in Behauptun-
gen wie dieser: "Mehrere Theorien könnten aufgestellt wer-
den, warum der menschliche Geist sich so und nicht anders
entwickelte, aber es handelt sich um Theorien, und Dianetik
befasst sich nicht mit Strukturen." (S. 69). Auf diese Art teilt

66
Hubbard uns mit, dass es ihn nicht kümmert, dass man En-
gramme nicht beobachten kann, denn obwohl sie als perma-
nente Veränderungen in den Zellen definiert seien, seien sie
als physikalische Strukturen unauffindbar. Es schert ihn eben-
so wenig, dass die Heilung aller Krankheiten dann darin be-
stehen müsste, diese "permanenten" Engramme aus der reakti-
ven Bank zu "löschen". Er gibt an, sie würden nicht wirklich
entfernt, sondern einfach in die Standard-Bank übertragen; wie
dies physikalisch oder strukturell vor sich gehen soll, spielt
offenbar keine Rolle. Es wird einfach versichert, dass es so sei
- ohne Argumente oder Belege. Hubbard wiederholt schlicht,
es handele sich um eine wissenschaftliche Tatsache, als ob
dies ausreichen würde.
Noch eine "wissenschaftliche Tatsache" ist laut Hubbard der
Umstand, dass die schädlichsten Engramme im Mutterleib
entstünden. Der Mutterleib wird zu einem schrecklichen Ort;
er ist "nass, unbequem und ungeschützt" (S. 130).
Mama niest, das Baby "verliert das Bewusstsein". Mama
läuft leicht und locker gegen einen Tisch, das Baby erhält
einen Schlag auf den Kopf. Mama hat Verstopfung und das
Baby wird beim Versuch des Stuhlgangs zerquetscht. Papa
gibt sich der Leidenschaft hin, und das Baby hat das Gefühl,
es sei in eine laufende Waschmaschine geraten. Mama wird
hysterisch, das Baby bekommt ein Engramm. Papa schlägt
Mama, das Baby bekommt ein Engramm. Der Kleine springt
auf Mamas Schoß, das Baby bekommt ein Engramm. Und so
weiter. (S. 130)
Hubbard informiert uns, dass ein Mensch "mehr als zwei-
hundert" prä-natale Engramme haben könne und dass En-
gramme, die "man als Zygote bekommt, potentiell die verstö-
rendsten sind, da ganz und gar reaktiv. Diejenigen, die man als
Embryo bekommt, sind außerordentlich verstörend. Engram-
me, die man als Fötus erhält, reichen für sich genommen
schon aus, um Leute in eine Anstalt zu bringen." (S. 130f.) Wo
sind die Beweise hierfür? Wie testet man eine Zygote auf En-
gramm-Aufzeichnung? "All diese Dinge sind wissenschaftli-

67
che Tatsachen, getestet, nochmal überprüft und dann wieder
getestet", meint Hubbard (S. 133). Aber sein Wort ist alles,
was wir bekommen. Wissenschaftler erwarten normalerweise
nicht, dass man ihrem Ehrenwort glaubt, wenn es um so auf-
sehenerregende Behauptungen geht.
Um von einer Krankheit geheilt zu werden, braucht man zu-
sätzlich noch einen Dianetik-Therapeuten, einen sogenannten
Auditor. Wer hat diese Qualifikation? "Jeder Mensch, der
intelligent, von normaler Beharrlichkeit und bereit ist, dieses
Buch [Dianetik] gründlich zu lesen, sollte in der Lage sein, ein
Dianetik-Auditor zu werden" (S. 173). Der Auditor muss "dia-
netische Träumerei" verwenden, um eine Heilung zu erzielen.
Ziel der dianetischen Therapie ist die Herstellung eines "relea-
se" oder eines "clear" [AdÜ: Diese Begriffe werden auch im
deutschen Sprachraum in ihrer englischen Form verwendet.
Ihre Bedeutung ist etwa "Freigelassener" bzw. "Reiner"].
Beim Ersteren wurden starke Stress- und Angsterlebnisse
durch Dianetik entfernt; der Letztere hat weder aktive noch
potenzielle psychosomatische Krankheiten oder Störungen (S.
170). "Ziel und einziger Zweck der Therapie ist die Entfer-
nung des Inhaltes der reaktiven Engramm-Bank. Bei einem
release wird ein Großteil der emotionalen Beschwerden aus
der Bank gelöscht; bei einem clear wird alles entfernt" (S.
174). Die "Träumerei", die man einsetzt, um diese Wunder zu
erzielen, wird als intensivierte Verwendung einer speziellen
Fähigkeit des Gehirns beschrieben, die jedermann besitze, die
aber "der Mensch durch ein merkwürdiges Übersehen niemals
zuvor entdeckt hat" (S. 167).
Hubbard hat also etwas entdeckt, das zuvor nie jemand ge-
funden hat, und doch geht seine Beschreibung der "Träumerei"
nicht über die eines Menschen hinaus, der stillsitzt und einem
anderen seine Probleme erzählt (S. 168). Beeindruckend zu-
sammenhanglos verkündet er dann, dass dieses "Auditing"
"vollständig aus dem Bereich der existierenden Gesetzgebung"
herausfalle, anders als Psychoanalyse, Psychologie und Hyp-
nose, die alle "auf irgendeine Weise ein Individuum oder die

68
Gesellschaft schädigen können" (S. 168f). Es wird jedoch
nicht klar, warum das Erzählen von Problemen eine monu-
mentale Entdeckung sein sollte - oder warum Auditoren ande-
re Menschen, oder die Gesellschaft nicht schädigen könnten,
insbesondere, da Hubbard ihnen rät: "Bewerten Sie niemals
das Datenmaterial ... stellen Sie den Wert der Daten nie in
Frage. Behalten Sie Ihre Bedenken für sich" (S. 300). Das
klingt nicht wie ein Wissenschaftler, der seinen Schülern einen
vernünftigen Rat gibt; es klingt wie ein Guru, der seine Jünger
anweist.
Dem, was Hubbard seinem Leser als Wissenschaft des Gei-
stes verkaufen will, mangelt es sehr an einem entscheidenden
Bestandteil, den man von Wissenschaft erwarten darf: empiri-
sche Tests von Hypothesen. Die entscheidenden Bestandteile
von Hubbards sogenannter Wissenschaft scheinen nicht testbar
zu sein, und doch behauptet er wiederholt, er verwende nur
wissenschaftliche Tatsachen und Daten aus vielen Experi-
menten. Es wird noch nicht einmal deutlich, wie solche "Da-
ten" beschaffen sein könnten; das meiste Material liegt in
Form von Anekdoten und Spekulationen vor, wie die über eine
Patientin, die glaubt, ihr Vater habe sie mit neun Jahren ver-
gewaltigt. "Viele geisteskranke Patientinnen behaupten so
etwas," sagt Hubbard und fährt dann fort, indem er angibt, die
Patientin sei tatsächlich 'vergewaltigt' worden "neun Tage
nach der Zeugung ... Druck und Durcheinander des Koitus
sind sehr unbequem für das Kind und führen normalerweise zu
einem Engramm, das den Geschlechtsakt und alles dabei Ge-
sagte enthalten wird" (S. 144). Spekulationen dieser Art gehö-
ren in einen Roman, aber nicht in die Wissenschaft.

Anmerkung des Übersetzers:


Über Hubbard ist außerordentlich viel geschrieben worden,
insbesondere mit Bezug auf Scientology; die Dianetik war
insofern deren Vorläuferin, da Hubbard aus steuerlichen
Gründen für seine Therapie den Status einer Religion bean-
spruchte (bereits 1951 folgte Hubbards Werk "Science and

69
Survival", das die Dianetik deutlich in Richtung religiöse
Sekte auf Kurs brachte). Colin Goldner berichtet von einem
Fall, in dem ein Münchner Ingenieur DM 176.000,- an Kurs-
gebühren bezahlte, bevor er wieder zu sich kam und Sciento-
logy verklagte; die "psychologischen" Methoden der Kirche
gehen samt und sonders auf die Dianetik zurück. Man kann
sich Hubbards Ideen gar nicht absurd genug vorstellen. So
gibt es bei Scientology nicht nur einfach "clears", sondern
noch zahlreiche höhere Stufen, "Operative Thetanen (OT)"
genannt, offenbar Übermenschen mit Macht über Raum und
Zeit. In kostspieligen Kursen kann man sich vom "clear" zum
"OT 1", "OT 2" und so weiter hocharbeiten, vermutlich ohne
Ende. Hubbard ließ die angeblichen Fähigkeiten einer "clear"
namens Sonya Bianca 1950 vor 6.000 Zuschauern demonstrie-
ren; die Demonstration scheiterte und das Publikum war so
verärgert, dass es in Scharen abwanderte. Hubbard selbst gab
damals zu, er sei kein "clear", aber später liest man Behaup-
tungen wie die, er habe den Himmel besucht, und zwar
"43.891.832.611.177 Jahre, 344 Tage, 10 h, 20 min, 40 sec
vor dem 9.5.1963, 22.02:30 Uhr". "Die Bedeutung dieser Aus-
sage entgeht den meisten Menschen" (James Randi). Hubbard
begann als Science-Fiction-Autor des sogenannten "Goldenen
Zeitalters", lenkte seine SF-Phantasien aber rasch in profi-
tablere Bahnen; zwischenzeitlich war er Mitglied im OTO, der
okkulten Vereinigung von Aleister Crowley und wurde mitsamt
seiner Dianetik lange Zeit von dem Herausgeber des SFMaga-
zins "Astounding", John Campbell Jr, unterstützt. Hubbard,
geboren 1911, starb 1986, obwohl seine "Kirche" dies niemals
zugegeben hat. Vermutlich betrachtet sie ihn als "entrückt".
Literaturempfehlungen:
Atack, Jon: "A Piece of Blue Sky: Scientology, Dianetics, and
L. Ron Hubbard Exposed", New York: Carol Pub. Group,
1990
Gardner, Martin: "Fads and Fallacies in the Name of Science".
New York: Dover Publications, Inc., 1957, chapter 22
Gardner, Martin: "The New Age. Notes of a Fringe-Watcher",

70
Buffalo: Prometheus Books, 1991, chapter 32
Miller, Russell: "Bare-Faced Messiah. The True Story of L.
Ron Hubbard" Henry Holt, 1988
Nordhausen, Frank/v. Billerbeck, Liane: "Psycho-Sekten. Die
Praktiken der Seelenfänger", Frankfurt a.M., Fischer, 1999, S.
421-474;

Übersetzung: Tobias Budke

71
Elektrosmog
Elektromagnetische Felder (EMF) sind Bereiche, in denen
Kräfte wirken, die von fließenden elektrischen Ladungen ver-
ursacht werden.
Viele Menschen befürchten, dass die elektromagnetischen
Felder - im deutschsprachigen Raum häufig als "Elektrosmog"
bezeichnet - Krebs verursachen. Eine ursächliche Verbindung
zwischen diesen Feldern und Krebs ist bislang jedoch nicht
nachgewiesen worden. Das National Research Council (NRC,
US-Forschungsbehörde, Anm.d.Übers.) hat mehr als drei Jahre
lang mehr als 500 wissenschaftliche Studien überprüft, die
über einen Zeitraum von 20 Jahren erstellt worden sind. Es hat
"keine schlüssigen und zuverlässigen Beweise" dafür gefun-
den, dass elektromagnetische Felder den Menschen schaden.
Der Vorsitzende des NRC-Komitees, der Neurobiologie Dr.
Charles F. Stevens, sagte: "Nachforschungen haben nicht in
überzeugender Weise gezeigt, dass die in Haushalten üblichen
elektromagnetischen Felder gesundheitliche Probleme verur-
sachen, und ausführliche Labortests haben nicht ergeben, dass
elektromagnetische Felder die Körperzellen auf eine Art schä-
digen können, die der Gesundheit des Menschen abträglich
wäre."
Das New England Journal of Medicine veröffentlichte im Jah-
re 1997 die Ergebnisse der umfangreichsten und detaillierte-
sten Studie über elektromagnetische Felder und Krebs, die
jemals durchgeführt wurde. Dr. Martha S. Linet, die Leiterin
der Studie, erklärt dazu: "Wir haben keine Beweise dafür ge-
funden, dass magnetische Felder in Haushaltsstärke das Risiko
für Kinderleukämie erhöhen." Die Studie umfasste einen Zeit-
raum von acht Jahren. Gemessen wurde die Wirkung von Ma-
gnetfeldern, die von nahegelegenen Starkstromleitungen er-
zeugt wurden, auf den Menschen. Eine Gruppe von 638 Kin-
dern unter 15 Jahren mit akuter lymphoplastischer Leukämie
wurde mit einer anderen Gruppe von 620 gesunden Kindern
verglichen. "Die Forscher stellten Messungen über die Ma-

72
gnetfelder in allen Häusern an, in denen die Kinder in den fünf
Jahren vor der Entdeckung ihrer Krankheit gelebt hatten,
ebenso in den Häusern, in denen die Mütter während der
Schwangerschaft wohnten."
Die Studie wurde kritisiert, weil es unmöglich sei, die genaue
Stärke der elektromagnetischen Felder im fraglichen Zeitraum
zu ermitteln: Sämtliche Messungen wurden nach dieser Zeit-
spanne durchgeführt, wobei stillschweigend angenommen
wurde, die Feldstärken seien in der Vergangenheit nicht we-
sentlich anders gewesen als zur Zeit der Untersuchung. Es ist
jedoch unwahrscheinlich, dass irgendjemand jemals eine
Kontrollstudie an Menschen durchführen wird, in welcher die
Einwirkung elektromagnetische Felder systematisch vom
Zeitpunkt der Empfängnis an, bis zum Ende der frühen Kind-
heit dokumentiert wird.
Trotz dieser Studien glauben viele Menschen, dass Krebser-
krankungen durch den Gebrauch von Handys verursacht wer-
den, oder auch dann, wenn man in der Nähe von Stromleitun-
gen wohnt. Und warum glauben sie das? Geschäftstüchtige
Anwälte, die Massenmedien und der allgemeine Mangel an
wissenschaftlicher Bildung sind die Gründe für diesen Glau-
ben.
Robert Pool schrieb im Jahre 1990 im Fachblatt Nature, dass
die öffentliche Meinung durch unwissenschaftliche Quellen,
wie etwa das The New Yorker Magazine, gegen elektromagne-
tische Felder mobilisiert wurde. Ähnliches wurde Talkmastern
wie Larry King vorgeworfen, der dem Publikum einen Witwer
präsentierte, der den tödlichen Gehirntumor seiner Frau der
Strahlung ihres Handys zuschrieb. Es kam zu einem Prozess,
in dem der Beweis darin bestand, dass sich der Tumor in der
Nähe ihres Ohres befand, an das sie normalerweise ihr Handy
hielt. Die Fernsehanstalten berichteten über die Angelegenheit
und interviewten Wissenschaftler, um der Sache mehr Tiefe
und Glaubwürdigkeit zu geben. Da es jedoch keinen Wissen-
schaftler gibt, der jemals einen Zusammenhang zwischen
elektromagnetischen Feldern und Krebserkrankungen entdeckt

73
hat, wurde jemand interviewt, der bereits existierende Tumore
solchen Feldern aussetzte. Dieser Forscher erklärte, seine Un-
tersuchungen wiesen darauf hin, dass Tumore schneller wüch-
sen, wenn man sie elektromagnetischen Feldern aussetzte. Die
Folge: die Zahl der Handyverkäufe ging zurück und die Aktien
der Herstellerfirmen fielen.
Der Umstand, dass Tumore unter der Einwirkung von elek-
tromagnetischen Feldern schneller wachsen, bedeutet freilich
nicht, dass diese Felder Tumore - ob gut- oder bösartig - ver-
ursachen.
Es ist zwar durchaus denkbar, dass Handys Gehirntumore
verursachen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie es tun, ist
gering. Mobiltelefone strahlen Felder von sehr geringer Inten-
sität aus - und diese Intensität ist weit geringer, als jene der
Felder, die in dem erwähnten Versuch verwendet wurden.
Außerdem ist der Handy-Benutzer diesen Feldern - wiederum
im Gegensatz zum genannten Versuch -, nicht permanent,
sondern nur zeitweise ausgesetzt. Es besteht durchaus also die
Möglichkeit, dass ein Mensch mit einem Gehirntumor bei der
Benutzung eines Handys ein gewisses Risiko eingeht, dass
sein Tumor schneller wächst, als dies normalerweise der Fall
wäre - doch es gibt keine Beweise dafür, dass dieses Risiko
wirklich existiert oder gar signifikant ist.
Rechtsanwälte, die Klienten vertreten, welche ihre Krebser-
krankungen auf Starkstromleitungen zurückführen, zitieren
häufig aus einer schwedischen Studie, die eine Zunahme von
400 Prozent an Leukämiefällen bei Kindern feststellte, die in
der Nähe solcher Leitungen lebten. Eine weitere Studie - von
der University of Southern California - ermittelte ebenfalls
erhöhte Leukämieraten bei Kindern, die in ähnlicher Lage
wohnten. Robert Pool meint dazu:
"In der Studie wurden 232 Leukämiepatienten unter 10 Jah-
ren, sowie eine Kontrollgruppe untersucht, die in Bezug auf
Alter, Geschlecht und Ethnie der ersten Gruppe ähnlich war.
Die Stärke der elektromagnetischen Felder, denen jedes Kind
ausgesetzt war, wurde auf unterschiedlichen Wegen ermittelt.

74
Es gab keine Korrelation zwischen dem Auftreten von Leukä-
mie und der Feldstärke bei Einzelmessungen. Eine nicht signi-
fikante Korrelation ergab sich zwischen dem Auftreten von
Leukämie und der Stärke der magnetischen Felder, kontinu-
ierlich gemessen über 24 Stunden. Eine signifikante Korrelati-
on sah man allerdings zwischen der Feldstärke, die mit Hilfe
eines speziellen Klassifikationsschemas für elektrische Leitun-
gen ("wire coding") ermittelt wurde, und dem Leukämierisiko.
Die Gruppe mit der [nach diesem Schema bestimmten;
Anm.d.Red.] höchsten Feldstärke hatte dabei ein 2,5faches
Leukämierisiko. Man weiß nicht, inwieweit diese Unterschiede
in den Korrelationen auf die Unterschiede in den Methoden
zurückzuführen sind. Es ist möglich, dass einige Arten von
elektromagnetischen Feldern zu einem erhöhten Leukämierisi-
ko führen können. Allerdings wäre auch denkbar, dass die
Methode des "wire coding" einfach sensibler in der Messung
ist. Bis man darüber besser Bescheid weiß, ist unklar, ob hohe
elektromagnetische Feldstärken zu einem gesteigerten Leukä-
mierisiko in Beziehung stehen." (Robert Pool, "EMF-Cancer
Link Still Murky", Nature, Bd. 349, Heft 6310 (14. Feb. 1991)
Im Jahre 1992 wurden mehr als 200 Anklagen gegen Energie-
versorgungsunternehmen erhoben, in denen der vermeintliche
"Elektrosmog" eine Rolle spielte. Unter den Stromlieferanten
breitete sich Panik aus, investierten sie doch bereits Milliarden
von Dollars in etliche Bemühungen, die Abstrahlung ihrer
Leitungen abzuschirmen. Dr. Robert Adair, ein Physiker an
der Universität Yale, bezeichnet diese Reaktion als "Elektro-
phobie" und ist der Meinung, es bedürfe Feldstärken von min-
destens dem 150fachen der in Schweden gemessenen, damit
überhaupt ein Risiko entstünde.
Doch die Anwälte werden weiterhin vor Gericht ziehen - auch
ohne wissenschaftlich eindeutige Beweise, denn die Standards
bei der Beweiserhebung vor Gericht sind mit denen der Wis-
senschaft nicht zu vergleichen. So wurde etwa Judith Richard-
son Haimes aus Philadelphia vor einigen Jahren eine Million
Dollar von einer Jury zugesprochen, die sich offenbar davon

75
überzeugen ließ, dass Ms. Haimes ihre übersinnlichen Kräfte
nach einer Computer-Tomographie verloren habe. Ein Richter
reduzierte den Betrag später auf einen Dollar. Und das waren
vermutlich immer noch 98 Cents mehr, als ihre Kräfte wert
waren. "Man braucht nur ein oder zwei Treffer, und die Haie
beginnen zu kreisen," meint Tom Ward, ein Anwalt aus Bal-
timore, der die Northeast Utilities Co. und ihren Ableger Con-
necticut Light & Power Co. wegen eines angeblichen EMF-
Krebsfalles verklagt.
Es war schon bislang schwer genug, ein Haus in der Nähe von
Leitungsmasten zu verkaufen, weil sich die Leute an dem
hässlichen Ausblick stießen. Doch all das ist nichts gegen das
Problem, dieses Haus loszuwerden, wenn die potenziellen
Käufer Angst davor haben, von den hässlichen Masten Krebs
zu bekommen!
Zur Zeit gibt es in den Vereinigten Staaten Bestrebungen, alle
Hochspannungsleitungen unterirdisch zu verlegen. Bedeutet
das etwa mehr Sicherheit? Die Kosten sind zwar zwanzigmal
höher, doch die Leitungen müssten eigentlich tiefer im Erd-
reich vergraben werden, als die Höhe der Masten beträgt,
wenn ein merklicher Unterschied in der EMF-Abschirmung
erzielt werden soll.
Der Normalbürger wird sich wegen der Hochspannungsleitun-
gen wahrscheinlich keine Sorgen machen müssen. Die meisten
von uns kommen niemals nahe genug an sie heran, um von
ihren Feldern in irgendeiner Weise beeinflusst zu werden. Und
selbst, wenn sie sich in der Nähe befinden, sind wir ihnen
nicht direkt, unmittelbar und kontinuierlich ausgesetzt. Ver-
mutlich ist die Gefahr - wenn es sie überhaupt gibt - durch die
Verkabelung unserer Häuser und unserer elektrischen Geräte
viel größer, als durch die Leitungsmasten.
Da die Energieversorgungsunternehmen jedoch gerichtliche
Klagen fürchten, werden wir alle in Bälde vermutlich höhere
Strompreise bezahlen müssen, um die Milliarden zu finanzie-
ren, die das Vergraben der Leitungen kostet. Wenn die Unter-
nehmen Prozesse verlieren, verlieren die Aktionäre Geld, und

76
das gefällt denen gar nicht. Man sollte sich also nicht in die
Irre führen lassen: Wenn die Leitungen wirklich unter die Erde
verlegt werden, dann nicht etwa deshalb, weil die Stromver-
sorgungsunternehmen daran glauben, dass elektromagnetische
Felder gefährlich sind - sondern allein deshalb, weil diese
Unternehmen Klagen und kostspielige Prozesse vermeiden
wollen.
Anmerkungen des Übersetzers: Im Grunde genommen unter-
scheidet sich die Diskussion um den Elektrosmog nur unwe-
sentlich von derjenigen um die sogenannten "Erdstrahlen".
Indes wird in diesem Fall ein Phänomen nicht ganz und gar
erfunden, sondern nur vollkommen übertrieben als bedrohlich
dargestellt.
Insbesondere der Mobilfunk macht zahlreichen Menschen
Angst; anders als Radio- und Fernseh- Sendestationen, sind
die Mobilfunk-Basisstationen einfach überall. Die hochfre-
quente Handy- Strahlung (zwischen 450 und 1900 MHz, je
nach Netz) kann - bei älteren Handy-Modellen - zur Beein-
trächtigung von Herzschrittmachern führen. Solche Beein-
trächtigungen sind aber schon ab 25 cm Abstand zwischen
Brust und Handy nicht mehr möglich. Handys neueren Datums
(ab 1998) sind unbedenklich. Für Niederfrequenzquellen (etwa
Stromleitungen) wurde bei einer Untersuchung auf Leukämie-
erkrankung im Kindesalter ein statistisch auffälliges Risiko in
der Nähe von Hochspannungsleitungen ermittelt, dessen Wert
aber immer noch unter dem Risikowert lag, der sich aus star-
ker Verkehrsbelastung oder niedrigem Sozialstatus ergab (da
in den USA die Hochspannungsleitungen häufig mit den Ver-
kehrswegen einhergehen, sind die Ursachen hier schwer zu
isolieren). Einige Experimente an Ratten und Mäusen deuteten
ebenfalls auf ein erhöhtes Risiko hin, aber es ist mehr als
zweifelhaft, ob diese Ergebnisse auf den Menschen übertrag-
bar sind. (Details dazu im Skeptiker, Heft 3/98, S. 89-96,
www.gwup.org).
Die von manchen Menschen in Anspruch genommene "Elek-
trosensibilität" ist ebenfalls ein Mythos, der sich vermutlich

77
aus der Mediendarstellung des Themas speist; dieser Mythos
hat immerhin ein paar Arbeitsplätze geschaffen: Sogenannte
"Baubiologen" betätigen sich als High-Tech-
Wünschelrutengänger. Prof. Dr. Peter Kröling von der Uni-
versität München führt die Elektrosmog- Hysterie auf mehrere
Gründe zurück: Falsche positive Ergebnisse wohlmeinender,
aber schlecht informierter Wissenschaftler, die sofort ihren
Weg in die Medien finden, während negative Ergebnisse
langweilig sind; Experten, die ihr Aufgabenfeld sichern wol-
len; den ungeschickten Umgang mit der Bevölkerung durch
Vertreter der Energie- und Telekommunikationsunternehmen;
Pseudoexperten, die aus der Umweltangst Kapital schlagen;
die Medien; und Bürgerinitiativen, deren Mitglieder sich in
ihrer Rolle des David gegen Goliath gefallen.
Außerdem weist Prof. Kröling zu Recht darauf hin, dass selbst
bei Vorhandensein eines minimalen Gesundheitsrisikos der
Nutzen etwa von Handys dieses Risiko immer noch tausend-
fach übersteigen würde. Kröling: "Täglich gehen derzeit über
die Notruffunktion allein in Deutschland mehrere tausend
Anrufe ein. Ich möchte es angesichts von weltweit 200 Millio-
nen Handybesitzern der Phantasie des Lesers überlassen,
wieviele Menschen dieser Technologie bereits Gesundheit und
Leben zu verdanken haben."

Übersetzung: Tobias Budke

78
Falsche Erinnerungen
Mit "false memory" - "falscher Erinnerung" - bezeichnet man
die Verzerrung eines tatsächlichen Erlebnisses, oder gar das
Erfinden eines vermeintlichen Erlebnisses. Viele solcher
Schein- Erinnerungen entstehen durch das Verwechseln und
Durcheinanderbringen von Erinnerungen, die vielleicht zu
unterschiedlichen Zeiten passiert sind, aber in der Erinnerung
zu einem einzigen Ereignis verschmelzen. Eine weitere Ursa-
che für falsche Erinnerungen sind fehlerhafte Erinnerungs-
quellen. So kann es leicht passieren, dass jemand einen Traum
für die Wiedergabe eines realen Erlebnisses hält. Andere
Pseudo-Erinnerungen wiederum, sind auf den Einfluss von
Therapeuten und Beratern zurückzuführen: Durch Anstacheln,
Suggestion und gezielte Andeutungen wird ihren Patienten
eine falsche Erinnerung regelrecht "eingeimpft". Elizabeth
Loftus, Professorin für Psychologie an der Universität Wa-
shington in Seattle, bewies 1994 in einer Studie, dass es für
einen Therapeuten relativ leicht ist, eine solche falsche Erinne-
rung zu erzeugen.
Erinnert sich jemand daran, dass seine Mutter einst ein Glas
Milch nach dem Vater schleuderte, obwohl es tatsächlich der
Vater war, der das Glas Milch warf, so ist das eine Schein-
Erinnerung, die auf einem tatsächlichen Ereignis basiert. Die
Person erinnert sich zwar lebhaft an das Geschehen und hat
seinen Ablauf geradezu "vor Augen", doch nur die Bestäti-
gung durch andere, die bei dem Ereignis dabei waren, kann
letztlich entscheiden, ob die eigene Erinnerung an das Gesche-
hen richtig ist. Verzerrungen, wie etwa die Verwechslung der
Rollen, die bestimmte Menschen rückblickend in der Erinne-
rung gespielt haben, sind durchaus üblich.
Schein-Erinnerung können dramatische Folgen haben. Das
zeigen die nachfolgenden Beispiele, die ursächlich auf fehler-
hafte Erinnerungsquellen zurückzuführen sind.
So beschuldigte eine Frau den Gedächtnisexperten Donald
Thompson, sie vergewaltigt zu haben. Kurz bevor die angebli-

79
che Vergewaltigung stattfand, war Thompson in einem Live-
Interview im Fernsehen zu sehen gewesen. Die Frau hatte die
Sendung gesehen "und anscheinend ihre Erinnerung an ihn aus
dem Fernsehen mit ihrer eigenen Erinnerung an den Verge-
waltiger verwechselt," schrieb der Psychologe Daniel Schacter
1996 in seinem Buch "Searching for Memory - the brain, the
mind, and the past" (deutsch: "Wir sind Erinnerung - Gedächt-
nis und Persönlichkeit", Rowohlt).
Der große Kinderpsychologe Jean Piaget behauptete, seine
früheste Erinnerung bestünde darin, dass er als Zweijähriger
beinahe entführt worden sei. Er erinnerte sich genau an die
Einzelheiten: wie er in seinem Kinderwagen saß, wie sich sein
Kindermädchen gegen den Entführer wehrte, er erinnerte sich
an Kratzer in ihrem Gesicht, sowie an einen Polizeibeamten in
einem kurzen Mantel, der den Angreifer mit einem weißen
Knüppel verjagte. Die Geschichte wurde von dem Kindermäd-
chen und von der eigenen Familie bekräftigt, sowie von ande-
ren bestätigt, die sie gehört hatten. Piaget war davon über-
zeugt, dass er sich an das Ereignis erinnere. Tatsächlich aber
fand es nie statt. Dreizehn Jahre nach dem angeblichen Ent-
führungsversuch schrieb Piagets ehemaliges Kindermädchen
an seine Eltern, um ihnen zu beichten, dass sie die ganze Sa-
che erfunden habe. Piaget schrieb darüber später: "Ich musste
also als Kind der Erzählung dieser Geschichte gelauscht ha-
ben...und habe sie als visuelle Erinnerung in die Vergangen-
heit projiziert. So war sie zwar eine Erinnerung an eine Erin-
nerung, aber gleichwohl fiktiv."
Die Erinnerung daran, als kleines, noch nicht einmal dreijähri-
ges Kind entführt worden zu sein, ist geradezu per definitio-
nem eine Schein-Erinnerung. Der für die Langzeiterinnerung
benötigte linke untere Stirnlappen ist bei Kleinkindern noch
gar nicht entwickelt. Die komplizierte Verschlüsselung, die
zur Klassifizierung und Erinnerung an ein solches Ereignis
erforderlich ist, kann in einem Kleinkindhirn also gar nicht
stattfinden. Das Gehirn von Säuglingen und sehr kleinen Kin-
dern kann jedoch durchaus fragmentierte Erinnerungen spei-

80
chern. Und das kann später für den Erwachsenen sehr beunru-
higend sein.
Schacter verweist auf den Fall eines weiblichen Vergewalti-
gungsopfers, das sich partout nicht an die Vergewaltigung
erinnern konnte, die sich auf einem gepflasterten Pfad abge-
spielt hatte. Die Worte "Pflasterstein" und "Pfad" beschäftig-
ten diese Frau ständig, aber sie brachte sie nicht in einen Zu-
sammenhang mit der Vergewaltigung. Sie geriet völlig aus der
Fassung, als man sie an den Ort der Vergewaltigung zurück-
führte, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, was dort ge-
schehen war.
Ob die fragmentierte Erinnerung an einen Missbrauch im
Säuglingsalter später beim Erwachsenen großen psychischen
Schaden anrichten kann, ist allerdings wissenschaftlich bislang
nicht erwiesen. Viele Psychotherapeuten vermuten aber, dass
eine große Anzahl psychischer Störungen und Probleme auf
die Unterdrückung von Erinnerungen an einen sexuellen
Missbrauch in der Kindheit zurückzuführen sind. Diese Er-
kenntnis darf allerdings nicht dazu verleiten, durch die soge-
nannte "Repressed Memory Therapy (RMT)" - auf Deutsch
etwa "Therapie unterdrückter Erinnerungen" - Schein-
Erinnerungen bei den Patienten künstlich zu erzeugen.
Viele der von den per RMT neu zum Leben erweckten Erinne-
rungen kreisen um einen sexuellen Missbrauch - sei es durch
Eltern, Großeltern oder Geistliche. Oftmals bestreiten die Be-
schuldigten, dass diese Erinnerungen echt seien. Die Klagen,
die sich gegen die Rolle von Therapeuten bei der Erweckung
von mutmaßlichen Schein-Erinnerungen richten, häufen sich.
Es ist allerdings gleichermaßen unwahrscheinlich, dass sämtli-
che dieser wiedererlangten Erinnerungen an einen sexuellen
Missbrauch in der Kindheit falsch sind.
Vom aktuellen Stand der Wissenschaft aus betrachtet, ist es
fast unmöglich, wahrheitsgetreue Erinnerungen von verzerrten
oder nur scheinbaren Erinnerungen zu trennen. Dabei ist aller-
dings berücksichtigen, dass gewisse Vorgänge im Gehirn ein-
fach notwendig sind, damit Erinnerungen überhaupt erst statt-

81
finden können. Deshalb sind Erinnerungen an einen Säug-
lingsmissbrauch oder an einen Missbrauch, der stattfand, wäh-
rend man bewusstlos war, mit größter Wahrscheinlichkeit
falsch.
Ebenso notorisch unzuverlässig sind Erinnerungen, die durch
Träume oder Hypnose hervorgerufen wurden - und dies allein
schon deshalb, weil Informationen in Träumen sehr oft zwei-
deutigen Charakter haben. Hypnose und andere Methoden, die
sich die Suggerierbarkeit eines Menschen zunutze machen,
sollten deshalb nur mit äußerster Sorgfalt angewandt werden.
Durchaus problematisch ist außerdem die Vermischung unter-
schiedlicher Erinnerungen: einige erinnerte Teile entsprechen
den Tatsachen, andere nicht. Zwischen den beiden Arten zu
unterscheiden, ist ein schwieriges Unterfangen. Es könnte
beispielsweise sein, dass eine Frau ihren sexuellen Missbrauch
durch einen Nachbarn oder einen Verwandten während der
Kindheit bewusst unterdrückt hat. Ein Erlebnis im Erwachse-
nenalter löst dann irgendwann stichwortartig die Erinnerung
aus. Die Frau entsinnt sich des Missbrauchs und wird fortan
von Alpträumen heimgesucht, in denen ihr Vater, ihr Großva-
ter oder der Priester sie missbrauchen. Sie beginnt eine RMT-
Behandlung, und nach wenigen Monaten schon, erinnert sie
sich lebhaft daran, wie Vater, Mutter, Großvater, Großmutter
und Priester sie nicht nur sexuell missbraucht haben, sondern
auch an grauenvollen satanischen Ritualen samt Menschenop-
fern und Kannibalismus teilnahmen.
Wo liegt in diesem Fall die Wahrheit? Die Erinnerungen der
Patientin sind echt und grauenvoll, unabhängig davon, ob sie
nun der Wirklichkeit entsprechen oder nicht. Und in der Tat
wurden oft genug Familien aufgrund derartiger Therapien
zerstört, ganz gleich, ob die Erinnerungen wahr oder falsch
waren.
Sollten solche Erinnerungen also als wahr akzeptiert werden -
ohne dass irgendein Versuch unternommen werden müsste, sie
zu widerlegen? Es wäre zweifellos unannehmbar, Beschuldi-
gungen des sexuellen Missbrauchs einfach zu ignorieren. Es

82
ist aber ebenso unvertretbar, der Zerstörung von Existenzen
und ganzer Familien zuzusehen, ohne zumindest den Versuch
zu unternehmen, herauszufinden, ob irgendein Teil der Erinne-
rungen an sexuellen Missbrauch vielleicht falsch ist.
Es scheint deshalb geradezu unmenschlich, Patienten zu er-
mutigen, sich an sexuellen Missbrauch - oder etwa an eine
Entführung durch Außerirdische - zu erinnern, es sei denn, es
existierten wirklich gute Gründe, dies zu tun. Die bloße An-
nahme, dass sämtliche oder zumindest die meisten unserer
emotionalen Probleme auf unterdrückte Erinnerungen an se-
xuellen Missbrauch in der Kindheit zurückzuführen seien, ist
kein ausreichender Grund dafür, das Leid eines Patienten in
Kauf zu nehmen, indem man ihn in trügerischen Überzeugun-
gen bestärkt.
Die Annahme, dass ein Patient von Außerirdischen entführt
worden sei, ist, selbst wenn man das Gegenteil nicht beweisen
kann, eben kein ausreichender Grund dafür, in ihm eine solche
Erinnerung zu erzeugen. Ein verantwortungsbewusster Thera-
peut hat die Pflicht, einem Patienten zu helfen bei der Tren-
nung von Einbildung und Realität, von echtem Missbrauch
und imaginärem Missbrauch. Wenn eine Therapie aber zur
Einbildung geradezu ermutigt, dann ist diese Therapie nicht
empfehlenswert.
Und diejenigen, deren Pflicht es ist, zu entscheiden, ob eine
Person sexuell missbraucht worden ist, oder, ob die Erinne-
rung an einen solchen Missbrauch eine Pseudo-Erinnerung ist,
sollten zumindest auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft
sein. Sie sollten sich vor Augen halten, dass wir alle bis zu
einem gewissen Grade leicht zu beeinflussen sind, und dass
insbesonders Kinder extrem zugänglich für suggestive Fragen
sind.
Kinder haben eine rege Phantasie: Wenn ein Kind sagt, dass es
sich an etwas erinnert, heißt das noch lange nicht, dass das
tatsächlich der Fall ist. Erinnert sich ein Kind nicht an einen
bestimmten Vorfall, so ist es zweifellos kein gutes Verfahren,
es so lange zu befragen, bis es sich endlich doch daran erin-

83
nert.
Den Untersuchungsbeamten, Beratern und Therapeuten sollte
auch bewusst sein, dass viele Anklagen und Erinnerungen
stark durch die Medien beeinflusst werden. Menschen, die
eines Verbrechens angeklagt oder schuldig gesprochen wer-
den, merken durchaus, dass sie mehr Mitgefühl erregen, wenn
andere denken, sie seien als Kind missbraucht worden. Und
andererseits wissen Menschen, die einen Groll gegen irgend-
jemanden hegen, sehr gut, dass einen anderen Menschen
nichts so schnell zerstört wie eine Anklage wegen sexuellen
Missbrauchs. In solchen Fällen wird dem Kläger zudem noch
Mitleid und Trost entgegengebracht.
Menschen mit emotionalen Problemen lassen sich außerdem
oft besonders leicht durch das beeinflussen, was sie in den
Massenmedien lesen, sehen oder hören: etwa Geschichten, in
denen ein verdrängter Missbrauch als Ursache für emotionale
Probleme bezeichnet wird. So ist es durchaus denkbar, dass
ein emotional gestörter Erwachsener einen anderen des Miss-
brauchs beschuldigt - und zwar nicht etwas deshalb, weil es
Anzeichen gibt für einen Missbrauch, sondern deshalb, weil
die gestörte Person sich den Missbrauch einbildet oder ihn
befürchtet.
Für Untersuchungsbeamte und Richter gibt es also genügend
gute Gründe dafür, in derartigen Situationen kein übereiltes
Urteil zu fällen.

Übersetzung: Larissa Wagner

84
Feng Shui
Eine Mischung aus Aberglauben und unbewiesenen Ideen
als Leitfaden für Architektur, Stadtplanung und Land-
schaftsgestaltung?

FengShui (ausgesprochen "fong schwei - wie engl. "way"; die


wörtliche Bedeutung ist: "Wind und Wasser") ist Teil einer
alten chinesichen Naturphilosophie. Feng Shui wird oft mit
einer Art von Geomantie gleichgesetzt - Hellsehen mittels
geographischer Gegebenheiten - befasst sich aber vor allem
mit dem Verständnis des Verhältnisses zwischen der Natur
und dem Menschen, um ein Leben in Harmonie mit der Um-
welt zu ermöglichen.
Feng Shui basiert unter anderem auf der sehr vernünftigen
Vorstellung, dass das Leben mit statt gegen die Natur, sowohl
dem Menschen, als auch der Umwelt hilft. Feng Shui geht
außerdem von der gleichfalls sinnvollen Vorstellung aus, un-
ser Leben werde von unserer physischen und emotionalen
Umgebung stark beeinflusst. Wenn wir uns mit Symbolen des
Todes, mit Verachtung, Gleichgültigkeit gegenüber Leben und
Natur, Lärm und hässlichen Dingen umgeben, werden wir uns
dabei selbst negativ verändern. Umgeben wir uns stattdessen
mit Schönheit, Sanftheit, Freundlichkeit, Sympathie, Musik
und vielfältigen Ausdrucksformen der Schönheit des Lebens,
veredeln wir uns selbst, wie auch unsere Umgebung.
Vermeintliche Meister des Feng Shui, also Menschen, welche
die fünf Elemente und die beiden Energien der Feng-Shui-
Lehre verstehen, sollen ihrem Ruf nach fähig sein, übernatür-
liche Energien zu erkennen und Anweisungen für ihren opti-
malen Fluss zu geben. Feng Shui hat sich zu einer Art archi-
tektonischer Akupunktur entwickelt: Zauberer und Magier
begeben sich in ein Gebäude, oder betreten eine Landschaft,
und benutzen ihre übernatürlichen Sensoren, um den Fluss von
"guter und schlechter Energie" zu entdecken.
Diese Meister deklarieren dann gegen Bezahlung, wo das Ba-
dezimmer sein solle, in welche Richtung Türen liegen müssen,

85
wo man Spiegel aufhängen solle, welcher Raum grüne Pflan-
zen, und welcher rote Blumen benötige, in welche Richtung
man das Bett stellen solle und so weiter. Sie fällen diese Ent-
scheidung auf der Grundlage ihres Gefühls für den Fluss der
positiven "Chi"-Energie, des elektromagnetischen Feldes, oder
irgendeiner anderen Energie, über die sich der Kunde Sorgen
macht. Sollte es also in ihrer Beziehung sexuelle Probleme
geben, dann rufen Sie den Feng Shui- Meister. Vermutlich
müssen Sie nur ein paar Dinge im Schlafzimmer umstellen,
um den Energiefluss in Ordnung zu bringen. Nur ein Mensch
mit speziellen paranormalen Sinnen kann Ihnen sagen, was
wirklich getan werden muss.
Feng Shui ist also zu einem Aspekt der Innenarchitektur in der
westlichen Welt geworden, und die sogenannten Feng Shui-
Meister bieten sich für hübsche Summen an, um Leuten wie
Donald Trump zu erklären, in welche Richtung seine Türen
und sonstige Dinge gehen sollten. Daneben ist Feng Shui ein
weiterer der zahllosen New Age -"Energie"-Schwindel gewor-
den, komplettiert durch eine Reihe von übernatürlichen Pro-
dukten, angefangen von Papierfiguren (die Halbmonde und
Planeten zeigen), über achteckige Spiegel, bis hin zu Holzflö-
ten. All diese Dinge stehen zum Verkauf, um Ihnen dabei zu
helfen, Ihre Gesundheit zu verbessern, Ihr Potenzial zu ver-
wirklichen, und Ihnen die Erfüllung einer Glückskeks-
Philosophie zu garantieren.
Der indonesische Architekt Sutrisno Murtiyoso meint, in Län-
dern mit starkem Glauben an Feng Shui sei daraus eine Mi-
schung aus Aberglauben und unbewiesenen Ideen geworden,
die sogar in einigen Universitäts-Lehrplänen als wissenschaft-
liche Prinzipien für Architektur und Stadtplanung durchgin-
gen. Murtiyoso informierte mich über einen Universitätsdo-
zenten, der einen Artikel in Indonesiens größter Zeitung ver-
fasst habe, in dem er "Feng Shui als Leitprinzip für Indonesi-
ens zukünftige Architektur anpreise". Murtiyosos Reaktion
darauf: "Wenn so etwas von einem sogenannten 'Paranorma-
len' gemacht würde, wäre ich nicht so wütend. Aber ein 'Kol-

86
lege', ein Architekt ... Ich kann mir einfach nicht vorstellen,
wie meine Landsleute das nächste Jahrtausend anpacken wol-
len, wenn sie immer noch an diese alten Zaubereien glauben."
An Sutrisno Murtiyosos Stelle würde ich mich erst dann wirk-
lich aufregen, wenn die Architekten anfangen, die Gesetze der
Physik zugunsten derer der Metaphysik zu ignorieren. Wir
lassen auch heute noch unsere Priester geweihtes Wasser ver-
spritzen und Beschwörungen murmeln, wenn wir einen Wol-
kenkratzer einweihen. Soweit ich weiß, ist noch keiner davon
zusammengebrochen. Und wenn Aberglaube ein Hindernis für
Fortschritt wäre, würden wir heute noch wie unseren behaarten
Vorfahren durch die Savanne streifen.

Anmerkungen des Übersetzers: Auch in Deutschland ist Feng


Shui seit einiger Zeit en vogue. So findet man zum Beispiel in
der BILD-Zeitung vom 19. Juni 2000 einen vollkommen unkri-
tischen Kurzbericht über die "Kräfte" des Feng Shui, und die
Münstersche Zeitung berichtet am 19. Mai 2000 über einen
"Bebauungsplan nach Feng Shui-Philosophie" in der bayri-
schen Gemeinde Massing, wo Feng Shui helfen soll, damit die
Kühe wieder Milch geben. Außerdem wurden "Störadern" und
"Erdstrahlen" gefunden. Feng Shui ist auch als "Ti-Li" oder
"Kan-Yü" bekannt. Auch exorzistische Rituale (sogenannte
"Tun- Fu") werden durchgeführt, um schlechte Energien zu
bannen.
Übersetzung: Tobias Budke

87
Psychoanalyse
"In den vergangenen fünfunddreißig Jahren haben wiederholte
Prüfungen der Literatur keine sicheren Beweise dafür liefern
können, dass die psychoanalytische Therapie einer Placebo-
Therapie überlegen ist."
(Terence Hines, "Pseudoscience and the Paranormal", S.133,
1990)

"Ich bin nämlich gar kein Mann der Wissenschaft, kein Beob-
achter, kein Experimentator, kein Denker. Ich bin nichts als
ein Conquistadorentemperament, ein Abenteurer, wenn Du es
übersetzt willst, mit der der Neugierde, der Kühnheit und der
Zähigkeit eines solchen."
(Sigmund Freud, Brief an Wilhelm Fließ, 1. Februar, 1900).

"In den 50er und 60er Jahren war die Warnung des Meisters
in einem Getöse aufgeregter Stimmen untergegangen. Psycho-
analysten und Psychiater behaupteten, sie könnten sogar die
Schizophrenie, die gefürchtetste aller geistigen Krankheiten,
heilen, und zwar durch bloße Gespräche mit ihren Patienten."
(Edward Dolnick, "Madness on the Couch - Blaming the Vic-
tim in the Heyday of Psychoanalysis", p. 12, 1998)

Die Psychoanalyse ist die Großmutter aller pseudowissen-


schaftlichen Psychotherapien. Als Lieferant falscher und irre-
führender Behauptungen über den Verstand, über geistige
Gesundheit und geistige Krankheit wird sie nur noch von der
Scientology übertroffen. So gelten Schizophrenie und Depres-
sion in der Psychoanalyse nicht als neurochemische, sondern
als narzisstische Störungen. Autismus und andere psychische
Krankheiten seien keine chemischen Probleme des zentralen
Nervensystems, sondern Probleme, die ihren Ursprung im
Verhalten der Mutter haben. Diese Krankheiten bedürften also
nicht pharmakologischer Behandlung, sondern lediglich einer
Gesprächs- Therapie. Ähnliche Ansichten werden hinsichtlich

88
der Magersucht und des Tourette-Syndroms vertreten (Hines,
S. 136). Welche stichhaltigen Argumente sprechen nun für die
psychoanalytische Lehrmeinung in Bezug auf geistige Erkran-
kungen und ihre Behandlung? Gar keine!
Freud glaubte das Wesen der Schizophrenie zu verstehen: Sie
sei keine geistige Krankheit, sondern eine Störung im Unter-
bewusstsein, die ihre Ursache in ungelösten homosexuellen
Regungen habe. Allerdings betonte Freud, dass die Psycho-
analyse bei Schizophrenen nicht wirken könne, weil solche
Patienten die Einsichten ihres Therapeuten missachteten und
somit resistent gegen die Therapie seien (Dolnick, S. 40).
Später erklärten Psychoanalytiker dann - mit gleicher Über-
zeugung und ebenso mangelhafter wissenschaftlicher Grund-
lage -, dass Schizophrenie durch "erstickende Mutterliebe"
verursacht würde. Frieda Fromm-Reichmann etwa, prägte im
Jahre 1948 den Begriff der "schizophrenogenen Mutter", also:
eine Mutter, deren übertriebene Mutterliebe das Kind in die
Schizophrenie treibe (Dolnick, S. 94). Andere Analytiker hat-
ten diese Ansicht mit Anekdoten und Phantasien bereits be-
legt, bevor Fromm-Reichmann ihre Thesen formulierte. Und
in den kommenden zwanzig Jahren sollten noch viele diesen
irregeleiteten Vorbildern folgen.
Würde man einen Patienten mit gebrochenem Bein oder mit
Diabetes qua Gesprächstherapie oder Traumdeutung behan-
deln? Natürlich nicht. Man stelle sich die Reaktion vor, wenn
man einem Diabetiker erzählte, seine Krankheit sei auf
"Selbstbefriedigungs-Konflikte" oder auf "verdrängte Erotik"
zurückzuführen! Eine psychoanalytische Erklärung seiner
körperlichen Krankheit oder Störung nützt dem Patienten ge-
nauso viel, wie die Mitteilung, er sei von bösen Geistern be-
sessen. Die Austreibung des Teufels durch einen Schamanen
oder Priester, oder aber die Austreibung der Kindheitserfah-
rungen durch den Psychoanalytiker: Worin liegt hier der Un-
terschied?
Aus welchen Gründen also sollte jemand heutzutage noch
behaupten, dass neurochemische oder andere körperliche Stö-

89
rungen durch unterdrückte oder sublimierte traumatische oder
sexuelle Kindheitserfahrungen verursacht werden? Wahr-
scheinlich aus denselben Gründen, die Theologen dazu bewe-
gen, an ihren aufwendigen Glaubensschemata festzuhalten -
trotz aller erdrückenden Beweise dafür, dass ihre Glaubenssy-
steme wenig mehr sind, als gewaltige metaphysische Spinn-
weben. Ihre Institutionen geben ihnen den Rückhalt, der für
die Aufrechterhaltung ihrer gesellschaftlichen Funktion und
für ihre Ideen erforderlich ist: die meisten der letzteren jedoch,
halten einer empirischen Prüfung nicht stand. Gedanken, die
nicht überprüft werden, können nicht widerlegt werden. Was
nicht widerlegt werden kann, und zudem die Unterstützung
einer mächtigen Institution oder Einrichtung genießt, kann
deshalb über Jahrhunderte hindurch als korrekt und stichhaltig
gelten, ungeachtet seiner fundamentalen Leere, seiner Unrich-
tigkeit und seines Schadenspotenzials.
Das zentrale Konzept der Psychoanalyse ist die Vorstellung
von einem Unterbewusstsein, das als Speicher für verdrängte
Erinnerungen an traumatische Ereignisse dient. Letztere neh-
men ständig Einfluss auf das bewusste Denken und Verhalten.
Diese Vorstellung einer unterbewussten Verdrängung entbehrt
jedoch sowohl jeder wissenschaftlichen Grundlage, als auch
jeglichen Beweises dafür, dass bewusstes Denken oder Ver-
halten durch verdrängte Erinnerungen beeinflusst würde. (Für
diejenigen, die diesen letzten Satz nicht aufmerksam genug
gelesen haben, möchte ich anmerken, dass ich weder die Exi-
stenz unbewusster Gedanken, noch die der impliziten Erinne-
rungen abstreite.)
Parallel zu diesen fragwürdigen Annahmen der Psychoanalyse
existieren zwei gleichermaßen fragwürdige Methoden, die die
dazu dienen, die angeblich im Unterbewusstsein versteckten
Erinnerungen zu untersuchen: "freie Assoziation" und
"Traumdeutung". Beide Methoden können weder wissen-
schaftlich formuliert, noch empirisch untersucht werden. So
sind beide eine Art metaphysischer Blankoscheck, der dazu
dient, beliebig zu spekulieren, ohne jeden Bezug zur Realität.

90
Wissenschaftliche Erkenntnisse, die im Hinblick auf die
Funktionsweise des Gedächtnisses gewonnen wurden, liefern
keinerlei Belege für das psychoanalytische Modell des Unter-
bewusstseins, das sexuelle und traumatische Erinnerungen, ob
im Kindes- oder Erwachsenenalter, verdrängt.
Es existieren jedoch reichlich Beweise dafür, dass es eine Art
von Erinnerung gibt, der wir uns nicht direkt bewusst sind, an
die wir uns aber dennoch erinnern. Wissenschaftler bezeich-
nen diese Art der Erinnerung als "implizite Erinnerung." Es
gibt viele Beweise dafür, dass das Speichern von Erinnerungen
einer umfassenden Entwicklung der vorderen Hirnlappen be-
darf, die Säuglingen und Kleinkindern fehlt. Außerdem müs-
sen Erinnerungen kodiert werden, damit sie lange erhalten
bleiben. Fehlt die Kodierung, folgt ein Erinnerungsverlust, wie
es mit so vielen unserer Träume geschieht. Ist die Kodierung
schwach, bleiben vom ursprünglichen Erlebnis möglicherwei-
se nur bruchstückartige und implizite Erinnerungen zurück.
Daher tendiert die Wahrscheinlichkeit, dass Säuglinge sich an
Missbrauch - oder überhaupt an irgendetwas - erinnern, gegen
Null.
Implizite Erinnerungen an Missbrauch treten zwar auf, aber
nicht unter den Umständen, die angeblich der Verdrängung
unterliegen. Implizite Erinnerungen an Missbrauch tauchen
auf, wenn eine Person während des Angriffs das Bewusstsein
verliert und das Erlebnis nicht vollständig kodieren kann.
Ein Beispiel: Ein Vergewaltigungsopfer konnte sich nicht an
die Vergewaltigung erinnern. Der Vorfall ereignete sich auf
einem mit Ziegeln gepflasterten Gehweg. Die Worte 'Ziegel'
und 'Weg' kamen ihr immer wieder in den Sinn, aber sie
brachte sie nicht mit der Vergewaltigung in Verbindung. Als
man sie erneut an den Tatort führte, verlor sie völlig die Fas-
sung, obwohl sie sich nicht an das Geschehene erinnern
konnte (Daniel L. Schacter, "Searching for Memory - the
brain, the mind, and the past", S. 232, 1996). Es ist unwahr-
scheinlich, dass Hypnose, freie Assoziation oder irgendeine
andere therapeutische Methode ihr zu der Erinnerung an das

91
Ereignis verhelfen könnte. Sie hat keine unmittelbare Erinne-
rung, weil sie wegen der Brutalität des Angriffs nicht imstande
war, das Trauma zu kodieren. Ein Psychoanalytiker oder ein
anderer Therapeut für "unterdrückte Erinnerungen" könnte
höchstens eine falsche Erinnerung im Opfer erzeugen - was
einem weiteren Missbrauch ihrer Person gleichkäme.
Wesentlich verknüpft mit der psychoanalytischen Ansicht der
Verdrängung ist die Annahme, dass das elterliche Verhalten
gegenüber Kindern, insbesondere die Mutterliebe, die Ursache
für viele, wenn nicht für die meisten Probleme im Erwachse-
nenalter ist - ob es sich um Persönlichkeitsstörungen, emotio-
nale Probleme oder Geisteskrankheiten handelt. Es besteht
wenig Zweifel daran, dass Kinder, die während ihrer Kindheit
grausam behandelt wurden, als Erwachsene sehr stark durch
eine solche Behandlung geprägt sind. Es ist ein großer Gedan-
kensprung von dieser Tatsache hin zu der Vorstellung, dass
alle sexuellen Erfahrungen in der Kindheit im späteren Leben
Probleme verursachen würden, oder aber, dass alle Probleme
im späteren Leben - sexuelle Probleme mit einbezogen - auf
Kindheitserfahrungen zurückzuführen seien. Die Beweise für
diese Annahmen fehlen schlicht.
Psychoanalytische Therapien stützen sich in vielerlei Hinsicht
auf eine Suche nach etwas, das wahrscheinlich gar nicht exi-
stiert (verdrängte Kindheitserinnerungen), eine Annahme, die
wahrscheinlich falsch ist (dass Kindheitserfahrungen die Pro-
bleme des Patienten verursacht haben) und eine therapeutische
Theorie, die so gut wie keine Chancen hat, richtig zu sein
(dass das Aufrufen verdrängter Erinnerungen ins Bewusstsein
für die Heilung erforderlich ist). Und dies sind nur die Grund-
lagen jenes aufwendigen Gedankengebäudes, das vorgibt, tiefe
Geheimnisse des Bewusstseins und Verhaltens zu erklären.
Wenn aber die Grundlagen schon falsch sind, wohin soll dann
die Therapie führen?
Trotz alledem hat die von Sigmund Freud (1856-1939) in
Wien vor einem Jahrhundert entwickelte Methodik der Psy-
choanalyse auch Gutes gebracht. Freud sollte als einer unserer

92
größten Wohltäter gelten - allein schon deshalb, weil er als
erster den Wunsch verspürte, diejenigen zu verstehen, deren
Verhalten und Denken die Grenzen der von Gesellschaft und
Kultur geprägten Konventionen überschreiten. Dass es nicht
mehr allgemein üblich ist, Verhaltens- und Geistesgestörte zu
verurteilen und verspotten, ist nicht zuletzt auf die von der
Psychoanalyse gepredigte Toleranz zurückzuführen. Und was
auch immer an Intoleranz, Ignoranz, Heuchelei und Prüderie
bezüglich des Verständnisses unseres sexuellen Verhaltens
zurückgeblieben ist, kann kaum Freud angelastet werden.
Psychoanalytiker erweisen Freud keine Ehre, wenn sie blind-
lings den Doktrinen ihres Meisters in diesem oder irgendeinem
anderen Bereich folgen. Und so schließen wir mit den Worten
des Psychiaters Anthony Storr, der einmal sagte: "Die von
Freud praktizierte Methode, leidenden Personen über längere
Zeiträume zuzuhören, anstatt ihnen Befehle oder Ratschläge
zu erteilen, bildet die Grundlage für einen Großteil der moder-
nen Psychotherapien - was sowohl für den Patienten, als auch
für den Therapeuten ein Gewinn bedeutet." (Storr, 120)

Übersetzung: Larissa Wagner

93
Graphologie
Graphologie ist die Deutung von Handschriften, insbesondere
zwecks Analyse des Charakters einer Person. Echte Hand-
schriften-Experten - die z.B. in der Kriminalistik tätig sind -
nennt man "forensische Schriftgutachter", nicht etwa Grapho-
logen.
Forensische Schriftgutachter nehmen bei ihrer Auswertung
Bezug auf Schnörkel, "i"-Punkte und "t"- Balken, auf den
Buchstabenabstand, auf Schrägen, Höhen und abschließende
Züge. Sie untersuchen die Handschrift, um festzustellen, ob
ein Schriftstück authentisch oder gefälscht ist.
Auch Graphologen untersuchen Schnörkel, "i"-Punkte und "t"-
Balken, den Buchstabenabstand, Schrägen, Höhen und ab-
schließende Züge. Sie glauben jedoch, dass solche Einzelhei-
ten einer Handschrift physische Offenbarungen unbewusster
geistiger Funktionen sind. Graphologen sind überzeugt davon,
dass diese Details genausoviel über eine Person aussagen kön-
nen wie Astrologie, Handlesen, Psychometrie, oder der
"Myers-Briggs Typen-Indikator", ein psychologischer Test zur
Klassifizierung von Persönlichkeiten. Aber es gibt keine Be-
weise dafür, dass das Unterbewusstsein ein Fundus von Wahr-
heiten über eine Person enthält - und noch viel weniger dafür,
dass die Graphologie einen Zugang zu diesem Reservoir er-
öffnet.
Die Graphologie kann, so wird von ihren Anhängern behaup-
tet, auf allen Gebieten hilfreich sein: angefangen vom besseren
Verständnis über Jugendliche, über Eheberatung und Verbre-
chensaufklärung, bis hin zur Krankheitsdiagnose. Doch "in
ordnungsgemäß kontrollierten Blindstudien, bei denen die
Schriftproben keinerlei nicht-graphologische Informationen
enthielten (z.B. Texte, die aus Zeitschriften abgeschrieben
wurden), schneiden Graphologen mit ihren Vorhersa-
gen...verschiedener Charaktereigenschaften...nicht besser ab,
als dies ein rein zufälliges Erraten vermag..." [aus: "The Use
of Graphology as a Tool for Employee Hiring and Evaluati-

94
on", Positionspapier der British Columbia Civil Liberties As-
sociation, 1997]. Das Geschlecht eines Schreibers etwa, kön-
nen sogar Laien in etwa 70 Prozent der Fälle richtig bestim-
men. [Adrian Furnham, "Write and Wrong: The Validity of
Graphological Analysis," in: "The Hundreth Monkey and
Other Paradigms of the Paranormal", Herausg. Kendrick Fra-
zier, S. 204, 1991]
Graphologen bedienen sich einer Vielzahl unterschiedlicher
Techniken. Nichtsdestoweniger lassen sich die Methoden die-
ser "Experten" auf wenige wahrgenommene Anhaltspunkte
reduzieren, wie beispielsweise den auf das Papier ausgeübten
Druck, den Abstand zwischen Wörtern und Buchstaben, "i"-
Punkte und "t"-Balken, Größe, Winkel, Schnelligkeit und
Gleichmäßigkeit des Schreibens. Und obwohl die Grapholo-
gen das immer zu bestreiten pflegen, bildet der Inhalt des Ge-
schriebenen einen wesentlichen Faktor in der graphologischen
Persönlichkeitsanalyse - wobei doch eigentlich der Inhalt einer
Nachricht unabhängig von der jeweiligen Handschrift des
Schreibers ist, und somit für die Auswertung ohne Belang sein
sollte.
Barry Beyerstein ["Graphology", in "The Encyclopedia of the
Paranormal", Herausg. Gordon Stein, S.309, 1996] erblickt in
vielen der graphologischen Konzepte nichts weiter als "ein-
fühlende Magie". Beispiel hierfür: die Ansicht, dass große
Abstände zwischen den Buchstaben auf eine Neigung zu Iso-
lation und Einsamkeit hinweisen, weil die Abstände erkennen
ließen, dass der Schreiber sich nicht gern mit Menschen um-
gebe und persönliche Nähe als unangenehm empfinde. Ein
Graphologe behauptet, dass ein Sadist sich dadurch verrate,
dass seine T-Balken wie Peitschen aussehen.
Weil es keine brauchbare Theorie zu den Hintergründen der
Graphologie gibt, ist es nicht verwunderlich, dass es auch kei-
ne empirischen Beweise für statistisch relevante Korrelationen
zwischen graphologischen Eigenschaften und bestimmten
Charakterzügen einer Person gibt.
Adrian Furnham schreibt: "Leser, die mit dem sogenannten

95
Cold reading vertraut sind, werden verstehen, warum die Gra-
phologie so überzeugend erscheint, und warum so viele (an-
sonsten durchaus intelligente) Leute an sie glauben [S. 204].
Fügt man zum Cold reading den Forer- oder Barnum-Effekt,
die Neigung, den eigenen Glauben bestätigt zu finden ("Con-
firmation Bias", und die Bestätigung durch die Gemeinschaft
hinzu, dann hat man bereits eine ziemlich umfassende Erklä-
rung für die Beliebtheit der Graphologie.
Die Graphologie ist ein weiteres Hirngespinst in den Köpfen
all jener Menschen, die gerne eine kurze und simple Antwort
darauf hätten, wen sie heiraten sollen, wer ein Verbrechen
begangen hat, wen sie einstellen sollen, welchen Beruf sie
wählen sollen, wo die Fische besser beißen, wo Wasser, Erdöl,
oder ein Schatz begraben liegen - und was sonst nicht noch
alles. Graphologie ist ein weiterer Punkt in einer langen Liste
von Methoden, die von Quacksalbern und Scharlatanen als
Ersatz für harte Arbeit empfohlen werden.
Die Graphologie spricht all jene an, die bei solch lästigen Din-
gen, wie Nachforschungen, Untersuchung von Beweisen,
Nachdenken, Logik und Überprüfungen von Theorien schnell
die Geduld verlieren. Wenn Sie Ergebnisse wünschen - und
zwar jetzt sofort und in einem keinen Widerspruch duldenden
bestimmtem Ton vorgetragen, - dann ist die Graphologie ge-
nau das Richtige für Sie. Wenn Sie jedoch mit zumutbaren
Wahrscheinlichkeiten und Unsicherheiten leben können, dann
weichen Sie vielleicht besser auf eine andere Methode aus, die
es ihnen ermöglicht, einen Lebenspartner oder einen Mitar-
beiter zu suchen.
Wenn Sie allerdings kein Problem damit haben, Leute mittels
Pseudowissenschaften zu diskriminieren, dann sollten Sie
wenigstens konsequent sein und den richtigen Graphologen
mit Hilfe eines Ouija-Brettes auswählen.

Übersetzung: Larissa Wagner

96
Hypnose
Was allgemein Hypnose genannt wird, ist tatsächlich eine
Art schweigender Zustimmung und kein einzigartiger Zu-
stand des Bewusstseins

Hypnose ist ein Prozess, an dem ein Hypnotiseur und eine


Testperson beteiligt sind: Letztere erklärt sich bereit, hypnoti-
siert zu werden. Der Zustand der Hypnose ist normalerweise
gekennzeichnet durch a) intensive Konzentation, b) nahezu
vollständige Entspannung und c) starke Beeinflussbarkeit.
Hypnose ist weit verbreitet in der Verhaltenstherapie. Sie wird
angewandt, um Patienten zu helfen, Phobien zu bewältigen
oder schlechte Angewohnheiten loszuwerden. Sie wird aber
auch für andere, umstrittenere Dinge verwendet.
Unübertroffen ist die Vielfalt der Hypnose-Anwendungen.
Hypnose findet statt unter außerordentlich unterschiedlichen
Bedingungen, so etwa auf der Bühne, im Krankenhaus, in der
Schulklasse oder auf dem Polizeirevier.
- Bühnenhypnotiseure arbeiten für gewöhnlich in Bars und
Clubs. Ihre Testpersonen sind meist Leute, die Spaß daran
haben, gemeinsam mit Dutzenden oder Hunderten anderer
Menschen einen Ort aufzusuchen, an dem die Stimmung
vor allem durch Alkohol erzeugt wird.
- Die Patienten von Hypnosetherapeuten sind in der Mehr-
zahl Menschen, die davon gehört haben, dass Hypnosethe-
rapie Schmerzen lindern, eine Sucht oder irrationale Angst
beseitigen könne. Andere erwarten von der Hypnose, dass
sie dabei hilft, verdrängte Erinnerungen wieder wachzuru-
fen, etwa jene sexuellen Missbrauchs oder früherer Inkar-
nationen.
- Parapsychologisch denkende Hypnose- therapeuten för-
dern die Hypnose als ein Mittel zur Entdeckung okkulter
Wahrheiten, die sich angeblich jenseits des normalen Be-
wusstseins befinden.
- Und schließlich handelt es sich bei einigen Hypnotisierten

97
um Leute, die Opfer oder Zeugen eines Verbrechens waren,
sich aber nicht an genügend Details erinnern können, um
die Ermittlungen voranzubringen. Die Ermittler fordern sie
dann eventuell auf, sich hypnotisieren zu lassen, um "dem
Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen".
Welche andere medizinische Technik ist heutzutage derart
vielseitig vewendbar?
Die übliche Auffassung von Hypnose besteht darin, dass es
sich bei ihr um einen trance-ähnlichen veränderten Bewusst-
seinszustand handele. Viele, die diese Annahme akzeptieren,
glauben auch, Hypnose sei eine Methode, um in das Unterbe-
wusstsein voll unterdrückter Erinnerungen, multipler Persön-
lichkeiten, mystischer Eingebungen oder Erinnerungen an
frühere Inkarnationen vordringen zu können. Diese Auffas-
sung von der Hypnose als einem veränderten Bewusstsein und
einem Königsweg zu okkultem Wissen über das Selbst und
das Universum, wird jedoch von vielen Psychologen als purer
Mythos abgetan.
Es gibt zwei unterschiedliche, wenn auch verwandte Aspekte
in dieser mythischen Definition der Hypnose: Der Mythos des
veränderten Bewusstseinszustandes und der Mythos des ver-
borgenen Unbewussten.
Die Vertreter der Theorie von der Bewusstseinsveränderung
legen häufig Studien vor, die zeigen, dass während des Verlau-
fes der Hypnose a) die gehirnelektrischen Ströme sich verän-
dern, und dass sich b) die Gehirnwellen von jenen im Wachzu-
stand unterscheiden. Die Kritiker dieser Ansicht weisen darauf
hin, dass diese Fakten belanglos seien für die Unterstützung
der These, bei der Hypnose handele es sich um ein verändertes
Bewusstsein. Man könne mit dem gleichen Recht Tagträume
oder Niesanfälle als "verändertes Bewusstsein" bezeichnen, da
beide von veränderten Gehirnströmen begleitet würden und
sich die dabei feststellbaren Gehirnwellen von denen bei der
Ausübung anderer Tätigkeiten unterscheiden - etwa von de-
nen, die aufträten, wenn ein Flugzeug gesteuert werde oder die
entstünden, wenn der Betreffende in eine lebhafte Diskussion

98
mit einem Opfer außerirdischer Entführungen verwickelt sei.
Die Anhänger der Theorie vom verborgenen Unbewussten
stützen ihre Überzeugung mit Hilfe von Anekdoten über zahl-
reiche Menschen, die sich unter Hypnose an Ereignisse aus
diesem oder einem früheren Leben erinnern, an die sie keine
bewusste Erinnerung haben.
Der Großteil dessen, was man über Hypnose weiß - im Gegen-
satz zu dem, was viele glauben - stammt aus Untersuchungen
über die Testpersonen selbst. Man weiß, dass es eine signifi-
kante Korrelation zwischen einer lebhaften Fantasie und der
Empfänglichkeit für Hypnose gibt; ebenso steht fest, dass
fantasievolle Menschen hervorragende Testpersonen für Hyp-
nose abgeben. Ein produktives Vorstellungsvermögen erhöht
die Empfänglicheit, und es ist klar, dass diejenigen, die Hyp-
nose für Unsinn halten, nicht hypnotisiert werden können. Es
steht weiterhin außer Frage, dass hypnotisierte Menschen nicht
in Zombies verwandelt und von ihrem Hypnotiseur kontrolliert
werden können. Die Hypnose ist nicht in der Lage, die Ge-
nauigkeit des Gedächtnisses auf irgendeine besondere Weise
zu erhöhen. Aber ein Mensch, der unter Hypnose steht, ist sehr
leicht beeinflussbar und lässt Lücken in seiner Erinnerung sehr
leicht von seiner Fantasie und den Vorschlägen des Hypnoti-
seurs "ergänzen". "Konfabulation", das Füllen von Gedächt-
nislücken mit erfundenem Material, ist ebenfalls recht häufig
anzutreffen unter dem Einfluss der Hypnose. Viele Gerichte
lasssen daher keine unter Hypnose gewonnenen Zeugenaussa-
gen zu, da diese grundsätzlich unzuverlässig sind.
Wenn also Hypnose weder ein veränderter Bewusstseinszu-
stand, noch das Tor zu einem mystischen und verborgenen
Unbewussten ist, was ist sie dann? Warum geben so viele
Leute, darunter Autoren von Psychologielehrbüchern oder
Wörterbucheinträgen, die mythische Sicht der Hypnose weiter,
als handele es sich um etablierte wissenschaftliche Erkenntnis-
se? Zum einen verbreiten die Massenmedien den Mythos in
zahllosen Filmen, Büchern und Fernsehsendungen, zum ande-
ren gibt es eine fest verschworene Gruppe von Hypnothera-

99
peuten, die daran glauben, die davon gut leben, und die viele
Wirkungen ihrer Sitzungen - von ihrem Standpunkt aus - nur
als "Erfolge" bezeichnet können. Sie können sogar eine Reihe
von wissenschaftlichen Untersuchungen vorlegen. Andere
Psychologen, wie etwa Robert Baker, sind der Meinung, diese
Studien seien in etwa so aussagekräftig wie diejenigen, welche
die Existenz des Äthers belegten.
Baker nimmt an, dass die sogenannte Hypnose in Wirklichkeit
eine Art erlerntes Sozialverhalten darstellt. Der Hypnotiseur
und die Testperson lernen, was von ihren Rollen erwartet wird
und bestärken sich gegenseitig bei der Durchführung der Pro-
zedur. Der Hypnotiseur suggeriert etwas, und der Hypnoti-
sierte antwortet auf diese Suggestionen. Alles Übrige - die
Wiederholung von Geräuschen und Gesten seitens des Hyp-
notiseurs, seine sanfte, einschmeichelnde Stimme und die
trance- oder schlafähnliche Ruhe der Testperson - sind ledig-
lich Staffage, Teil des Dramas, das die Hypnose mysteriös
wirken lässt. Wenn man diese theatralischen Elemente außer
acht lässt, dann bleibt etwas übrig, das ziemlich gewöhnlich,
wenn auch außerordentlich nützlich ist: ein selbst herbeige-
führter "aufgedrehter" Zustand der Beeinflussbarkeit.
Der Psychologe Nicholas Spanos stimmt Baker zu: "Hypnoti-
sche Vorgänge beeinflussen das Verhalten indirekt durch die
Veränderung der Motive, der Erwartungen und der Interpreta-
tionen der Testperson." Das hat nichts zu tun mit dem Herbei-
führen von Trance bei einer Testperson, oder mit der Kontrolle
über das Unterbewusste. Hypnose ist ein erlerntes Verhalten,
so Spanos, das aus einem sozio-kognitiven Kontext entsteht.
Man kann dieselben Dinge auf andere Art erreichen: durch den
Schulbesuch, das Lesen eines Buches, Fortbildungen oder dem
autodidaktischen Erlernen einer neuen Fähigkeit, durch auf-
munternde Worte (von anderen gehört, oder im Selbstgespräch
erfahren), durch ein Motivationstraining oder einfach dadurch,
dass man einen festen Entschluss fasst, bestimmte Ziele zu
erreichen.
Kurz: Was allgemein Hypnose genannt wird, ist tatsächlich

100
eine Art von schweigendem Konsens und nicht etwa ein ein-
zigartiger Zustand des Bewusstseins. Die Testperson handelt
gemäß den Erwartungen des Hypnotiseurs und der Situation,
und verhält sich so, wie sie sich während einer Hypnose ver-
halten zu müssen glaubt; der Hypnotiseur handelt gemäß den
Erwartungen der Testperson (und/oder des Publikums) und der
Situation, und verhält sich so, wie er sich in der Rolle des
Hypnotiseurs verhalten zu müssen glaubt.
Spanos vergleicht die Beliebtheit der Hypnose mit dem Phä-
nomen des Mesmerismus, das im 18./19. Jahrhundert weit
verbreitet war. Weiter erblickt er eine Analogie zwischen dem
Glauben an die Hypnose und dem Glauben an dämonische
Besessenheit und Exorzismus. All dies kann man im Rahmen
des sozio-kognitiven Kontextes erklären. Die Rollenvorstel-
lungen der Beteiligten sind erlernt und werden von dem je-
weiligen Umfeld bestärkt, und sie sind kontextabhängig und
stehen und fallen mit der Bereitschaft der Beteiligten, ihre
etablierten Rollen zu spielen. Mit genügend Unterstützung
durch hinreichend viele Menschen in einem bestimmten so-
zialen Umfeld kann so ziemlich jede Idee oder jedes Verhalten
von der wissenschaftlichen, religiösen oder sozialen Gemein-
schaft eisenhart als Dogma verteidigt werden.
Ein anderer Psychologe, E.M. Thornton, führt diese Analogie
zwischen Hypnose, Mesmerismus und Exorzismus noch wei-
ter fort. Er legt dar, dass Hypnotisierte im Grunde genommen
aufgefordert werden, etwas darzustellen, was "in Wirklichkeit
auf eine Parodie von epileptischen Symptomen hinausläuft."
Wenn manche hypnotisierten oder mesmerisierten Menschen
besessen erscheinen, dann liegt das daran, dass die Besessen-
heit einen ähnlichen sozio-kognitiven Kontext, ein ähnliches
Rollenspiel und eine vergleichbare Beziehung beinhaltet. Die
Glaubenssätze sind jeweils unterschiedlich. Die zentrale Idee
des veränderten Bewusstseins, des animalischen Magnetismus
oder der in den "Patienten" hineinfahrenden Dämonen gibt den
jeweiligen Erfahrungen ihren besonderen Charakter. Im Kern
jedoch, haben Hypnose, Mesmerismus, Hysterie und dämoni-

101
sche Besessenheit grundlegende Gemeinsamkeiten: Sie sind
soziale Konstrukte, errichtet vor allem von egozentrischen
Therapeuten, Entertainern und Priestern auf der einen, sowie
von beeinflussbaren, fantasievollen und für Wahnvorstellun-
gen anfälligen Mitspielern mit tiefen emotionalen Bedürfnis-
sen oder Fähigkeiten, auf der anderen Seite.
Viele von denen, welche die mythische Auffassung von Hyp-
nose vertreten, verwenden sie als Technik, um unterdrückte
Erinnerungen an Traumata aufzudecken, die für die Wurzel
der meisten psychologischen Probleme gehalten werden. Um
die Patienten von ihren Problemen zu befreien, müsse die
Kellertür zum Unterbewussten geöffnet und die Erinnerungen
an Traumata (vom Therapeuten meist in Gestalt von sexuellem
Missbrauch in der Kindheit vermutet) an die Oberfläche ge-
bracht werden. Hypnose ist ein Lieblingswerkzeug solcher
Therapeuten, da sie glauben, durch sie direkt mit dem Unter-
bewussten kommunizieren zu können. Viele der "Erinnerun-
gen", die auf diese Art ans Licht gebracht werden, erweisen
sich später als falsche Erinnerungen, hervorgerufen durch
Suggestionen und Konfabulation. Außerdem passen die
grundlegenden Annahmen dieser Art von Therapie nicht zu
den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Funktionsweise
des Gedächtnisses (Schacter).
Menschen, die ein traumatisches Erlebnis hatten, vergessen es
normalerweise nicht. Extrem traumatische Erfahrungen wer-
den meist nur vergessen, wenn a) die Person zum Zeitpunkt
des Traumas bewusstlos war; b) die Person vor dem Trauma
oder durch das Trauma eine Hirnschädigung erfährt; c) die
Person zu jung ist, um die notwendigen neuronalen Verbin-
dungen für das Langzeitgedächtnis zu knüpfen. Erinnerungen
werden nicht in einem muffigen, geheimnisvollen Keller auf-
bewahrt, sondern in einem neuronalen Netzwerk, das sich über
mehrere Teile des Gehirns erstreckt. Gedächtnisverlust tritt
ein, weil neuronale Verknüpfungen verlorengehen, nicht weil
irgendein kleiner Mann sie im Untergeschoss des Verstandes
aufbewahrt und sie gelegentlich freilässt, damit sie bei den

102
Leuten in der Beletage herumspuken, wo das klare Bewusst-
sein sitzt.
Daniel Schacter betont, dass die wissenschaftlichen Belege für
die Verdrängungsthese schwach sind. Noch schwächer sind
die Belege für die Ansicht, dass bestimmte Fehlfunktionen
durch Unterdrückung von Erinnerungen verursacht würden.
Schacter berichtet von einem Vergewaltigungsopfer, das sich
nicht an das Verbrechen erinnern konnte. Das Verbrechen fand
auf einem Kopfsteinpflaster statt [im Original "brick pa-
thway", A.d.Ü.]. Die Worte 'brick' und 'pathway' schossen der
Frau immer wieder durch den Kopf, aber sie brachte sie nicht
in einen Zusammenhang mit der Vergewaltigung. Sie zeigte
allerdings Anzeichen seelischer Erschütterung, wenn man sie
zum Ort des Verbrechens führte, aber sie erinnerte sich nicht
daran, was dort geschehen war (Searching for Memory, S.
232).
Man könnte nun annehmen, das Opfer besäße in Wahrheit eine
voll entwickelte Erinnerung an die Vergewaltigung und habe
sie nur verdrängt. Vielleicht wäre da Hypnose angemessen,
um diese unterdrückte Erinnerung an die Oberfläche zu brin-
gen. Nichtsdestoweniger sind Hypnose und andere Behand-
lungsmethoden auf dieser Basis riskant und entbehren jeder
Grundlage. Das Konzept der impliziten Erinnerung - Erinne-
rung ohne Bewusstheit aufgrund der Tatsache, dass einige
neuronale Verbindungen während eines Traumas entstehen,
aber nicht ausreichend viele für eine vollentwickelte Erinne-
rung vorhanden sind - kann die Gedächtnislücke des Verge-
waltigungsopfers erklären und kommt ohne die Annahme aus,
sie habe entweder Erinnerungen während ihrer Bewusstlosig-
keit aufgezeichnetm oder besitze sogar ein Unterbewusstsein
zur Speicherung solch unangenehmer Erinnerungen. Dieses
Konzept erklärt alles, was über das Gedächtnis bekannt ist,
und macht keine Annahmen über Dinge, die nicht bekannt
sind. Man sollte also Occams Rasiermesser ansetzen, um die-
sen Teil der mythischen Vorstellung des Unbewussten wegzu-
schneiden.

103
Außerdem: Selbst wenn traumatische Erinnerungen gelegent-
lich verdrängt werden, dann vermutlich bewusst und absicht-
lich. Viele von uns entscheiden sich, nicht zu lange bei un-
freundlichen Erinnerungen zu verweilen und geben sich Mühe,
sie so weit wie möglich aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Wir
haben wohl kaum den Wunsch, dass unser Hypnotiseur oder
Therapeut Erinnerungen an Erlebnisse hervorholt, die wir
absichtlich vergessen haben. Kurz: Begrenzter Gedächtnis-
schwund kann am besten neurologisch, nicht metaphysisch,
erklärt werden. Wir vergessen Dinge, weil wir sie von Anfang
an niemals stark genug kodiert haben, weil neuronale Verbin-
dungen zerstört wurden, oder weil wir uns dafür entscheiden,
sie zu vergessen. Der Begründer der Theorie vom verborgenen
Unbewussten, Sigmund Freud, tat klug daran, den Gebrauch
der Hypnose in der Therapie aufzugeben. Unglücklicherweise
wird sie jedoch in vielen verschiedenen Therapie-Versionen
weiter verwendet, und nicht alle davon sind heilsam. Hypnose
einzusetzen, um Menschen vom Rauchen abzubringen, oder
bei ihrer Diät zu helfen, ist möglicherweise nützlich, und,
selbst wenn unwirksam, vermutlich nicht schädlich. Ähnlich
verhält es sich mit Menschen, die sich unter Hypnose etwa an
die Autonummern von Fluchtwagen erinnern sollen. Auch der
Einsatz von Hypnose, um Verbrechensopfern oder Zeugen zu
helfen, sich an die Vorgänge zu erinnern, ist vielleicht nütz-
lich, aber er kann wegen der Leichtigkeit, mit der ein Zeuge
durch Suggestionen des Hypnotiseurs beeinflusst werden
kann, auch gefährlich sein. Übereifrige Polizei-Hypnotiseure
könnten durch ihre so gewonnenen Erkenntnisse dazu gebracht
werden, ihr Urteil über das Ergebnis zu stellen, zu dem ein
faires Verfahren mit soliden Beweisen kommt. Hypnose ist im
Polizeibereich auch deshalb gefährlich, weil viele Beamte
dazu neigen, an Wahrheitsseren, Lügendetektoren und andere
wundersame und leichte Wege der Wahrheitsfindung glauben.
Hypnose zu verwenden, um Menschen dabei zu helfen, Erin-
nerungen an sexuellen Missbrauch durch Familienmitglieder
oder Außerirdische zurückzugewinnen, ist gefährlich und in

104
manchen Fällen eindeutig unmoralisch und menschenverach-
tend, wird sie doch manchmal dazu eingesetzt, Patienten dazu
zu bringen, sich an Dinge zu erinnern und für wahr zu halten,
die vermutlich niemals passiert sind. Wären diese Erinnerun-
gen nicht auf derart grauenhafte und schmerzhafte Erfahrun-
gen bezogen, wären sie von geringer Bedeutung. Fördern The-
rapeuten jedoch Wahnvorstellungen von schrecklichen Erfah-
rungen, dann richten sie oft irreparablen Schaden bei denen an,
die ihnen vertrauen. Und all dies geschieht im Namen von
Heilung und Pflege, wie schon bei den Priestern früherer Zeit-
alter, wenn sie Hexen jagten und Dämonen austrieben.
Man sollte darauf hinweisen, dass Therapeuten auch ohne den
Einsatz von Hypnose die Beeinflussbarkeit ihrer Patienten
erhöhen und ihnen falsche Erinnerungen einpflanzen können.
Die Überzeugungen des Therapeuten, was die Ursache der
Patienten-Probleme angeht, sind bedeutsamere Faktoren als
der Einsatz oder Nichteinsatz von Hypnose. Therapeutische
Schuster, die alles über einen Leisten schlagen (alle Fälle von
Bulimie oder multipler Persönlichkeit zum Beispiel gehen auf
sexuellen Missbrauch im Kindesalter zurück), werden wahr-
scheinlich auch ohne Hypnose ihren Patienten falsche Erinne-
rungen und Überzeugungen aufschwatzen. Eine Suggestion
bedarf nicht der theatralischen Versatzstücke der Hypnose, um
zu funktionieren; diese Versatzstücke geben dem Vorgang in
den Augen mancher Leute nur mehr Legitimation.
Ein weiterer Bereich, in dem Hypnose gerne praktiziert wird,
ist die Reinkarnationstherapie. Wenn man ihren Anhängern
glauben darf, öffnet die Hypnose ein Fenster in das Unterbe-
wusste, wo Erinnerungen an vergangene Existenzen gespei-
chert werden. Wie diese Erinnerungen an bereits gelebte Le-
ben in das Unterbewusste gelangen, ist zwar nicht bekannt,
aber ihre Vertreter sind lockere Anhänger einer Lehre der Re-
inkarnation, auch wenn diese Lehre weder den Glauben an das
verborgene Unbewusste, noch die Erinnerung an frühere Exi-
stenzen erfordert. Die wichtigsten "Belege" für frühere Exi-
stenzen basieren darauf, dass sich viele Menschen unter Hyp-

105
nose an sie erinnern. Auch wenn diese Berichte überall veröf-
fentlicht werden und nachweislich auf falschen Erinnerungen
beruhen, mindert dies den Glauben an die Reinkarnationsthe-
rapie nicht.
Robert Baker hat jedoch demonstriert, dass der Glaube an die
Wiedergeburt ausschlaggebend ist, wenn man voraussagen
will, ob eine Testperson (in diesem Falle eine Person aus einer
Studentengruppe) eine Erinnerung an ein früheres Leben unter
Reinkarnations-Hypnotherapie haben wird. Des weiteren
zeigte Baker auf, dass die Erwartungen der Testperson die
Sitzung entscheidend beeinflussen. Er unterteilte eine Gruppe
von 60 Studenten in drei Gruppen. Dee ersten Gruppe teilte er
mit, sie seien im Begriff, eine aufregende neue Therapieform
kennenzulernen, die ihnen bei der Aufdeckung vergangener
Lebens-Existenzen helfen könne: 85 Prozent der Gruppenmit-
glieder "erinnerten sich" erfolgreich an ein solches. Die zweite
Gruppe erfuhr, sie werde eine Therapie kennenlernen, bei der
es nicht sicher sei, ob sie Erinnerungen an frühere Leben er-
mögliche; die Erfolgsquote betrug hier 60 Prozent. Die dritte
Gruppe allerdings, bekam zu hören, die Therapie sei ein Hirn-
gespinst, und, dass normale Menschen sich normalerweise
nicht an ein früheres Leben erinnerten. Hier hatten nur 10 Pro-
zent der Studenten eine solche "Erinnerung".
Einige New Age-Therapeuten betreiben Reinkarnationsthera-
pie getarnt als "inneres Wachstum", andere als Heilung. Es ist
vermutlich mehr oder weniger harmlos, wenn man Menschen
darin bestärkt, sich an wahrscheinlich falsche Erinnerungen
aus früheren Leben in vergangenen Jahrhunderten zu "erin-
nern" oder sie dazu auffordert, in die Zukunft zu reisen und
einen Blick nach vorne zu wagen; als Werkzeug für New Age-
Pioniere ist diese Methode wahrscheinlich ungefährlich.
Anders sieht es bei ihrem Einsatz als Heilmittel aus: Es müsste
auch den oberflächlichsten Therapeuten klar sein, dass große
Gefahren darin liegen, Menschen bei der Erzeugung von
Wahnvorstellungen noch zu bestärken. Einige falsche Erinne-
rungen sind vielleicht harmlos, aber andere können verheerend

106
sein. Sie können das Leid eines Menschen verschlimmern und
ebenso leicht die liebevollen Beziehungen zu Familienmitglie-
dern zerstören. Hypnose sollte also stets nur mit größter Vor-
sicht eingesetzt werden.
Übersetzung: Tobias Budke

107
Der Mozart-Effekt
"Wir haben eine gemeinsame innere Sprache der Neuronen,
die uns angeboren ist, und wenn man letztere mit den richtigen
Reizen stimuliert, kann man dem Gehirn helfen, vernünftig zu
denken."
Gordon Shaw
"Wir haben diese Tiere [Ratten] in utero und sechzig Tage
nach ihrer Geburt verschiedenen Hörreizen ausgesetzt und sie
dann ein räumliches Labyrinth durchlaufen lassen. Und in der
Tat bewältigten jene Tiere, die Mozart gehört hatten, das La-
byrinth schneller und mit nur wenigen Fehlern. Wir entfernen
nun ihre Gehirne und schneiden sie in Scheiben, um genau
erkennen zu können, was sich - neuroanatomisch gesehen - in
Folge dieser Behandlung verändert hat. Es kann durchaus sein,
dass die intensive Musikbehandlung eine Art Bereicherung
darstellt, die Auswirkungen auf die räumlichen Regionen des
Hippocampus hat."
Frances Rauscher
"Geschichten die aussagen, dass frühe Kindheitserfahrungen
letztendlich schulisches Können, zukünftige Karrieren, und die
Fähigkeit, liebevolle Beziehungen einzugehen, bestimmen,
haben keine soliden Fundamente in der Neurowissenschaft."
John Bruer

Der Mozart-Effekt ist ein von Alfred A. Tomatis geprägter


Begriff für die vermeintliche Steigerung der Gehirnentwick-
lung bei Kindern unter drei Jahren, wenn diese Kinder Musik
von Wolfgang Amadeus Mozart hören.
Die Idee, dass ein solches Phänomen existieren könnte,
tauchte erstmals im Jahre 1993 auf - an der University of Cali-
fornia in Irvine. Dort untersuchten der Physiker Gordon Shaw
und Frances Rauscher, ein Spezialist auf dem Gebiet der ko-
gnitiven Entwicklung, bei ein paar Dutzend College- Studen-
ten die Auswirkungen einer Hörprobe: der ersten 10 Minuten
von Mozarts Klaviersonate für Vier Hände in D-dur (KV 448).

108
Sie stellten eine vorübergehende Steigerung des räumlichen
und zeitlichen Denkens fest - ein Ergebnis, das per Messung
mit dem "Stanford-Binet IQ-Test" ermittelt wurde. Niemand
sonst hat diese Resultate jemals wiederholen können. Ein For-
scher mindestens (Steven Halpern) hat sogar ermittelt, dass es
Leute dümmer machen kann, Mozart zu hören. Ein weiterer
Wissenschaftler meinte: "Das allerbeste, was man aus ihrem
Experiment schließen kann - wenn es denn völlig unbestritten
wäre - besteht darin, dass das Anhören von schlechter Musik
Mozarts kurzfristig den IQ anhebt" (Michael Linton). Inzwi-
schen untersucht Rauscher die Auswirkungen der Musik Mo-
zarts auf Ratten. Und sowohl Shaw, als auch Rauscher ergin-
gen sich in spekulativen Vermutungen darüber, dass die Musik
Mozarts das räumliche Denken und das Gedächtnis beim
Menschen anrege.
Im Jahre 1997 gaben Rauscher und Shaw bekannt, sie hätten
wissenschaftlich nachgewiesen, dass Klavier- und Gesangs-
unterricht das abstrakt-logische Denken bei Kindern besser
fördere, als dies der Computer-Unterricht bewirke. "Das Expe-
riment erfasste drei Kindergartengruppen: die erste Gruppe
erhielt privaten Klavier- oder Keyboard-Unterricht, sowie
Gesangs-Unterricht; eine zweite Gruppe bekam privaten
Computer-Unterricht; und eine dritte Gruppe erhielt gar kein
Training. Anschließende Tests über die Fähigkeit zu räumlich-
zeitlichem Denken zeigten: Die Kinder im Klavier/Keyboard-
Programm erbrachten eine 34% höhere Leistung als die ande-
ren. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Musik eindeutig jene
höheren Gehirnfunktionen steigert, die für Mathematik,
Schach, Wissenschaft und Technik erforderlich sind."
Shaw und Rauscher haben einen ganzen Industriezweig ins
Leben gerufen. Sie haben auch ein eigenes Institut gegründet:
Das "Music Intelligence Neural Development"-Institut
(M.I.N.D.). Derzeit wird soviel über die wundersamen Aus-
wirkungen der Musik geforscht, dass eigens eine Website er-
schaffen wurde, damit sich die neuen Entwicklungen im Auge
behalten lassen: "MüSICA", mit einer gänzlich dem Mozart-

109
Effekt gewidmeten Abteilung.
Shaw und Rauscher behaupten, ihre Arbeit sei falsch darge-
stellt worden. Was sie gezeigt hätten sei, dass "es Muster gibt
von Nervenzellen, die nacheinander zünden, und dass es im
Gehirn anscheinend Stellen gibt, die auf bestimmte Frequen-
zen reagieren." Das sei eben nicht dasselbe, wie ein Beweis,
dass das Anhören von Mozarts Musik zu höherer Intelligenz
bei Kindern führt. Harte Fakten jedoch, wartet Shaw erst gar
nicht ab. Vorläufig profitiert er selbst von den Wünschen der
Eltern, die ihre Kinder intelligenter machen wollen. Kürzlich
kam sein Buch/CD-Set "Keeping Mozart in Mind" auf den
Markt. Es ist seit September 1999 über sein Institut zu bezie-
hen. Shaw und seine Kollegen sind überzeugt davon, dass -
weil räumlich-zeitliches Denken der Schlüssel zu vielen höhe-
ren kognitiven Aufgaben ist - eine Stimulierung des Hirnteils,
der mit räumlich-zeitlichem Denken und räumlichzeitlichen
Aufgabenlösungen zu tun hat, die Begabung einer Person für
Mathematik, Technik, Schach, und Wissenschaft verbessert.
Sie bieten sogar ein Software-Paket an, das ohne Sprache aus-
kommt und das räumlich-zeitliche Denkvermögen mit Hilfe
eines animierten Pinguins anzukurbeln verspricht.
Shaw und Rauscher haben mit ihren Ideen zwar einen neuen
Industriezweig ins Leben gerufen - aufrechterhalten wird diese
Branche jedoch von den Massenmedien und all den anderen,
die daraus eine Art Alternativ-Wissenschaft d gemacht haben.
Übertriebene und irreführende Behauptungen über die Musik
sind inzwischen so alltäglich, dass der Versuch, sie richtig zu
stellen, an Zeitverschwendung grenzt. Jamal Munshi, ein Pro-
fessor an der Sonoma State University, sammelt falsche Be-
richte und, wie er sie nennt, "Einfaltshäppchen". Er stellt sie
im Internet unter der Rubrik "Weird but True" (verrückt aber
wahr) zur Verfügung, und behauptet noch obendrein, dass
Shaw und Rauscher bewiesen hätten, eine Klangprobe aus der
Mozart-Sonate in D-Dur für zwei Klaviere habe "die SAT-
Resultate der Studierenden um 51 Punkte erhöht." Tatsächlich
führten Shaw und Rauscher an 36 Studenten einen Test im

110
Papierfalten und -schneiden durch, und stellten bei der "Mo-
zartgruppe" eine vorübergehende Steigerung um acht bis neun
Punkte immer dann fest, wenn der Test entweder nach einer
Schweigeperiode, oder nach dem Anhören einer Entspan-
nungskassette absolviert wurde. Munshi behauptet auch, dass
die Wissenschaft nicht erklären kann, warum eine Fliege
fliegt. Die Wissenschaftler arbeiten seit längerem an diesem
wesentlichen Problem, also sollten wir ihnen Gerechtigkeit
widerfahren lassen.
Don Campbell ist zugleich der Carlos Castaneda und der Ron-
calli des Mozart-Effekts: er bauscht die Arbeit von Shaw,
Rauscher und anderen für seine eigenen Zwecke maßlos auf.
Er hat sogar den Ausdruck "The Mozart Effect" patentieren
lassen und geht mit seiner Person und seinen Produkten auf
einer eigenen Website hausieren. Campbell behauptet, er habe
durch Summen, Beten und die Selbst-Suggestion von einer
vibrierenden Hand an der rechten Seite seines Schädels ein
Blutgerinnsel in seinem Gehirn verschwinden lassen. Unkriti-
sche Anhänger der alternativen Medizin hinterfragen seine
Behauptung nicht einmal, zumal es sowieso eine dieser wohl-
feilen Behauptungen ist, die weder bewiesen noch widerlegt
werden können. Er könnte genausogut behaupten, die Engel
hätten sein Blutgerinnsel entfernt. Man fragt sich allerdings:
wenn Musik so gesundheitsfördernd ist - warum hat er dann
überhaupt erst ein Blutgerinnsel entwickelt? - Hat er vielleicht
versehentlich Rap gehört?
"Die Behauptungen, die Campbell im Hinblick auf die Musik
aufstellt, sind von einer Extravaganz, die dem Rokoko-Stil
angemessen wäre. Und sie sind auch etwa so realitätsbezogen,
wie es der Rokoko einst war. [Campbell behauptet, dass Musik
so ziemlich alles heilen kann.] Seine Beweisführung hat in der
Regel nur anekdotischen Charakter. Und sogar hierbei inter-
pretiert er einiges gründlich falsch. Die gesamte Struktur sei-
ner Argumentation kann dem gesunden Menschenverstand
nicht standhalten. Wenn die Musik Mozarts wirklich so ge-
sundheitsfördernd wäre - warum war Mozart selbst so oft

111
krank? Wenn Intelligenz und Geist durch Mozarts Musik so
sehr gefördert würden - warum sind dann die klügsten und
inspiriertesten Menschen auf der Welt nicht die Mozart-
Spezialisten?"
Michael Linton
Doch der Mangel an Beweisen in Bezug auf den "Mozart-
Effekt" verhinderte nicht, dass Campbell zum Liebling jener
Vortrags-und Gastredner-Maschinerie wurde, deren Funktio-
nieren von naiven und unkritischen Zuhörern garantiert wird.
"Wenn [die amerikanische Frauenzeitschrift] McCall's Rat-
schläge will, wie man ein Stimmungstief mit Musik behebt;
wenn [der öffentlich Sender] PBS einen Experten dazu befra-
gen möchte, auf welche Weise die Stimme Energie verleiht;
wenn IBM einen Berater anzuheuern beabsichtigt, damit die-
ser mit Musik die Effizienz und Harmonie am Arbeitsplatz
steigere; wenn der Landesverband der Krebs-Überlebenden
einen Redner zum Thema "Heilkräfte der Musik" sucht - stets
wenden sie alle sich an Campbell."
(zitiert nach Campbell's Website)
Die Gouverneure der US-Staaten Tennessee und Georgia ha-
ben Programme gestartet, mit deren Hilfe jedes Neugeborene
eine Mozart-CD erhält. Hunderte von Krankenhäusern wurden
im Mai 1999 von der National Academy of Recording Arts
and Sciences Foundation mit kostenlosen Klassik-Musik-CDs
beschenkt. Das sind gut gemeinte Gesten - aber basieren sie
tatsächlich auf stichhaltigen Forschungsbeweisen, die dafür
sprechen, dass klassische Musik die Intelligenz eines Kindes
oder den Heilungsprozess eines Erwachsenen ankurbelt?
Die Frage muss verneint werden, wenn man Kenneth Steele,
einen Psychologie-Professor der Appalachian State University,
und John Bruer, Leiter der James S. McDonnell Foundation in
St. Louis (Missouri) dazu hört. Dem ganzen Werberummel
widersprechend, behaupten sie, dass das Mozart-Hörerlebnis
nicht wirklich intelligenzsteigernd oder gesundheitsfördernd
sei. Steele und seine Kollegen Karen Bass und Melissa Crook
sagen, dass sie trotz genauer Befolgung der von Shaw und

112
Rauscher aufgestellten Protokolle "absolut keinen Effekt"
feststellten konnten, obwohl sie in ihrer Studie 125 Studenten
untersuchten. Sie folgerten daraus, dass "es nur wenig Grund
zur Unterstützung von Interventionsprogrammen gibt, die sich
auf die Existenz des Mozart-Effekts berufen." Ihre Ergebnisse
erschienen in der Fachzeitschrift "Psychological Science" vom
Juli 1999. In seinem Buch "The Myth of the First Three Ye-
ars" ("Der Mythos von den ersten drei Jahren") kritisiert Bruer
nicht nur den "Mozart-Effekt", sondern auch einige ähnlich
gelagerte Mythen, die sich auf Fehlinterpretationen der jüng-
sten Gehirnforschung stützen.
Der "Mozart-Effekt" bietet ein Beispiel dafür, wie sich in un-
serer Welt die Bereiche Wissenschaft und Medien miteinander
mischen. Eine Andeutung, hingeworfen in einigen Absätzen
eines wissenschaftlichen Journals, mutiert binnen weniger
Monate zur allgemein anerkannten Gewissheit: letzten Endes
glauben daran sogar noch jene Wissenschaftler, die ursprüng-
lich einmal erkannten, wie sehr ihre Arbeit durch die Medien
verzerrt und aufgebauscht wurde. Andere, Profit witternd,
schließen sich der erfolgversprechenden Sache an, fügen dem
Ganzen ihre eigenen Mythen, fragwürdigen Behauptungen und
Verzerrungen noch hinzu. Im Falle des "Mozart-Effekts"
schließen sich viele unkritische Befürworter dem Glauben
allein schon deshalb an, weil es sich schließlich um die Zu-
kunft unserer Kinder handelt. Schon haben wir dazu Bücher,
Kassetten, CDs, Institute, staatliche Programme. Bald schon
wird der Mythos von Millionen Menschen als feste wissen-
schaftliche Tatsache akzeptiert. Es gibt nur wenig kritischen
Widerstand - weil wir ja bereits wissen, dass die Musik unsere
Gefühle und Stimmungen beeinflusst. Warum also sollte sie
nicht auch unsere Intelligenz und Gesundheit beeinflussen?
Das entspricht doch nur dem gesunden Menschenverstand,
nicht wahr? So ist es - und das ist ein Grund mehr, skeptisch
zu sein.

Übersetzung: Larissa Wagner

113
Schneeballysteme und
Kettenbriefe
Auf einem Planeten mit einer begrenzten Anzahl von Men-
schen, gehen einem die Teilnehmer für Schneeballsysteme
ziemlich rasch aus

Ein Schneeballsystem ist ein betrügerisches System zum


"Geldmachen". Damit es Erfolg haben kann, benötigt es einen
nicht versiegenden Strom von Mitspielern. Die Teilnehmer
geben a) Geld an ihre Anwerber weiter und werben b) neue
Teilnehmer an, die wiederum ihnen Geld geben sollen.
Schneeballsysteme heißen so, weil ihre Teilnehmerzahl wie
ein den Hang hinabrollender Schneeball anwachsen soll. Im
englischen Sprachraum spricht man noch treffender von "py-
ramide scheme", weil ihre Teilnehmer eine Art von Pyramide
bilden. Bildet man eine solche Pyramide etwa mit einem ein-
zigen Menschen an der Spitze, setzt sie dann mit zehn Men-
schen direkt unter ihm fort, danach mit 100 Menschen, und
unter diesen mit 1.000 - dann würde diese Pyramide bereits in
nur zehn Schichten die gesamte Erdbevölkerung umfassen -
mit einem Betrüger an der Spitze. Die menschliche Pyramide
wäre etwa 20 Meter hoch; ihre unterste Schicht enthielte mehr
als 4,5 Milliarden Menschen!
Ein Diagramm veranschaulicht dies:
1
10
100
1.000
10.000
100.000
1.000.000
10.000.000
100.000.000
1,000.000.000
10.000.000.000

114
Eine Reihe von 10 Personen, die weitere 10 anwirbt (und so
weiter), würde also sehr schnell 10 Milliarden erreichen, deut-
lich mehr als die tatsächliche Erdbevölkerung. Ausgehend von
einer Kopfzahl von 5 Milliarden Menschen, die alle an einem
Schneeballsystem teilnehmen, bestünde die unterste Schicht
der Pyramide aus etwa 90 Prozent der Weltbevölkerung,
sprich 4,5 Milliarden Menschen. Somit kommen zwangsläufig
auf 500 Millionen GEWINNER 4,5 Milliarden
VERLIERER.
In einem Standard-Schneeballsystem wird ein Teilnehmer
aufgefordert, einem Anwerber einen bestimmten Betrag zu
übergeben, sagen wir 100 DM. Dieser neue Teilnehmer wirbt
dann seinerseits zum Beispiel 10 weitere Teilnehmer an, die
ihm ebenfalls jeweils 100 DM geben. In der einfachsten Form
behält der Anwerber das gesamte Geld, das er von seinen
Teilnehmern erhält; in unserem Beispiel zahlt er 100 DM und
erhält 1000 DM - macht satte 900 DM Gewinn. Damit nie-
mand bei diesem Spiel Geld verliert, muss das Anwerben bis
in alle Ewigkeit weitergehen. Auf einem Planeten mit einer
begrenzten Anzahl von Menschen, selbst auf einem solch gro-
ßen wie der Erde mit beinahe sechs Milliarden potenziellen
Teilnehmern, gehen einem die Neuzugänge aber ziemlich
rasch aus.
Daher ist das Ergebnis all dieser Spiele unvermeidlich: Im
besten Falle gehen einige Leute mit viel Geld nach Hause,
während die meisten Mitspieler verlieren, was sie investiert
haben. Tatsächlich ist also die einzige Methode, mit der sich
Geld durch ein Schneeballsystem machen lässt, andere Men-
schen zu überreden, ihr Geld gegen das Versprechen herzuge-
ben, dass sie für diese Investition etwas zurückbekommen
würden. Da dies aber insgesamt bei einem Schneeballsystem
unmöglich ist, erfüllen diese Spiele immer den Tatbestand des
Betrugs: Täuschung zum Zwecke der Bereicherung.
Daher sind Schneeballsysteme illegal: aber nicht etwa, weil sie
Menschen anwerben, die andere anwerben, die wiederum an-
dere anwerben. Das ist vollkommen rechtens und wird bis zu

115
einem gewissen Grade in vielen Unternehmen so gemacht. Sie
sind auch nicht verboten, weil bei ihnen Geld verschenkt wird:
Es ist absolut legal, Menschen Geld zu schenken. Sie sind
illegal, weil Menschen getäuscht werden, um an ihr Geld zu
gelangen - und das ist die rechtliche Definition von Betrug.
In der Realität wird kein Schneeballsystem auf die obige Art
funktionieren, da man niemals die Anzahl an Teilnehmern
finden wird, die das Rechenbeispiel erfordert. Alle Schnee-
ballsysteme verdorren, wenn die Zahl der neuen Teilnehmer
nicht mehr groß genug ist, um die vorherige Reihe auszube-
zahlen. Es wird immer genug Leute geben, die den Braten
riechen; es wird weiterhin viele Leute geben, die sich sagen:
"Wenn sich das zu schön anhört, um wahr zu sein, dann wahr-
scheinlich deshalb, weil es nicht wahr ist!" Möglicherweise
wird es sogar einige geben, die erkennen, dass, obgleich es
scheint, als ob eine Person, die zehn weitere Personen anwirbt,
nicht gerade viel sei, sich das Ganze sehr schnell zu unrealisti-
schen und unwahrscheinlichen Zahlen aufaddiert. Außerdem
bedarf es nur einer einzigen Person, um die ganze Sache zu
beenden: und zwar entweder, wenn die betreffende Person
beharrliche Überzeugungsarbeit bei anderen betreibt - um den
Anwerbern ihre Betrügerei vor Augen zu führen - oder dann,
wenn sie die Polizei benachrichtigt.
Wenn die Chancen für die Teilnehmer so schlecht stehen,
warum machen dann so viele mit bei Schneeballsystemen?
Schneeballsysteme sind so beliebt, weil Menschen gierig sind
- und die Gier kann das Denken eines Menschen radikal ver-
ändern. In einem Menschen, der den Wunsch verspürt, viel
Geld in kurzer Zeit aus einer kleinen Investition herauszuho-
len, regiert oft dort das Wunschdenken, wo der kritische Ver-
stand sich besser einschalten sollte. Wünsche werden zu Tat-
sachen; Skeptiker werden zu Trotteln, weil sie nicht mitspielen
wollen. Sehnsüchte mutieren zu Tatsachen; alles in Frage zu
stellen, erscheint grob und unfreundlich. Trickbetrüger wissen,
wie Gier funktioniert, und es braucht nur einen von ihnen, um
die Sache ins Rollen zu bringen.

116
Doch Gier ist nur ein Teil der Antwort. Die meisten Spieler
sehen sich selber nicht irgendwo am Fuße der Pyramide ste-
hen. Selbst der gierigste Mensch der Welt würde vermutlich
erkennen, dass es am Fuße der Pyramide sehr schwierig sein
dürfte, neue Teilnehmer anzuwerben. Mitspieler müssen die
Illusion pflegen, sie befänden sich nahe der Spitze, um sich
das Geld erträumen zu können, das sie mit minimalem Auf-
wand kassieren wollen.
Darüber hinaus muss der Initiator eines neuen Schneeballsy-
stems zunächst die Leute davon überzeugen, dass es sich nicht
um ein solches handelt. Vielleicht ist ihnen klar, dass Schnee-
ballsysteme verboten sind - oder sie erkennen, dass Schnee-
ballsysteme für mindestens 90 Prozent der Teilnehmer Ver-
lustgeschäfte sind. Also erzähle ich ihnen von einem Klub,
dem sie beitreten könnten. Diesem Klub gebe ich einen netten
Namen, etwa "European Kings Club" (EKC).
Wenn der Initiator geschickt ist, werden die Leute ihm und all
den Polizeibeamten, Sekretärinnen, Lehrerinnen, Priestern
usw., die bereits dabei sind, glauben. Diese angesehenen, in-
telligenten, ehrlichen Menschen werden dann in seinem Sinne
weitermachen. Ist er wirklich verdammt geschickt, so über-
zeugt er seine Teilnehmer nicht nur davon, dass sie einem
anständigen und profitablen Klub beitreten, sondern auch noch
von der Steuerfreiheit auf alle Gewinne. Er würde sie darauf
hinweisen, dass keine Steuern fällig seien, so lange der Ge-
winn unterhalb der Schenkungsgrenze liege; außerdem würde
er ihnen klarmachen, dass sie im rechtlichen Sinne Geld ver-
schenken und von anderen Leuten als Geschenk erhalten wür-
den.
Die Polizei, dein Freund und Mitspieler
In den Jahren 1995 und 1996 sind nicht weniger als 67 Mitar-
beiter des Sacramento Police Departments wegen angeblicher
Teilnahme an einem Schneeballsystem verhört worden. Das
Spiel ähnelte fünf weiteren Spielen, die in Südkalifornien
ebenfalls unter Beteiligung von Polizeibeamten und -
angestellten stattgefunden hatten. Der Polizeichef teilte mit, er

117
werde nach Möglichkeit mindestens sieben Polizisten entlas-
sen und gegen weitere 60 Mitarbeiter Disziplinarmaßnahmen
einleiten. Neun Polizisten wurden beurlaubt und mussten ihre
Waffen und Dienstmarken abgeben. Der Anklage zufolge,
waren mehr als 200 Personen in das Spiel verwickelt, von
denen jedoch nur drei mit Strafverfolgung rechnen mussten.
Berichten zufolge, hätten einige der Teilnehmer Zehntausende
von Dollars kassiert, während der Mindestverlust derjenigen
am Fuße der Pyramide bei 500 Dollar lag.
Die Polizei-Schneeballsysteme nannten sich "Investitions-
klubs" und hatten attraktiv klingende Namen wie "Der
Freundschafts-Investitionsklub" oder "Netzwerk-Geschenk".
Man bringt sie an den Mann mit der Versicherung, sie seien
absolut legal, behördenfest und definitiv keine Schneeballsy-
steme.
Das Sacramento-Spiel hieß "Klub der Freiheit" oder so ähn-
lich, und es wurde von einem Polizeibeamten als legal propa-
giert, da man den Teilnehmern auferlegte, eine Verzichtserklä-
rung zu unterschreiben. In dieser war von einem Geschenk an
den Klub die Rede, das an keinerlei Bedingungen geknüpft
war. Ein Lokalreporter namens Mike Boyd fragte einen Be-
amten des IRS (Internal Revenue Service, US-Steuerbehörde,
AdÜ), ob diese Erklärung bedeute, bei dem Freiheitsklub han-
dele es sich nicht um ein Schneeballsystem. Der Beamte erwi-
derte, da die Teilnehmer, welche die Erklärung unterschrieben
hatten, sich von dem als Geschenk deklarierten Geld einen
Gewinn versprachen, könne das Geld nicht als Geschenk gel-
ten.
Ein Staatsanwalt, der ebenfalls von Boyd interviewt wurde,
stimmte dem zu und meinte, dass eine simple Erklärung, man
mache ein Geschenk ohne Profiterwartung, nicht ausreiche,
wenn man sich sehr wohl einen Profit davon verspreche (echte
Geschenke sind selbstverständlich legal und bis zu einem ge-
wissen Betrag steuerfrei). Die Polizisten und ihre Mitspieler
im Freiheitsklub investierten pro Person mindestens 500 Dol-
lar und erwarteten so um die 4.000 Dollar als Dividende für

118
ihre "Geschenke", so Boyd. Die Zeitung "Sacramento Bee"
zitierte Quellen, die davon sprachen, dass einige Angestellte
bei der Polizei mehr als 10.000 Dollar an dem Spiel verdient
hätten. Die GEWINNER in diesem Spiel erhielten ihr Geld
aus den "Geschenken" an den Freiheitsklub von denjenigen,
die später hinzugestoßen waren. Spiele dieser Art laufen wei-
ter - falls die Teilnehmer nicht erwischt werden - bis nicht
mehr genügend neue Mitspieler dazukommen, um die vor
ihnen stehenden Mitspieler auszuzahlen. Das heißt: Sie wer-
den fortgesetzt, bis eine stattliche Anzahl von Mitspielern, die
500 Dollar "verschenkt" haben, nach dem Zusammenbruch des
Spiels nichts mehr bekommen. Und ein solcher Zusammen-
bruch ist unvermeidlich, da es keinen endlosen Zulauf an Teil-
nehmern geben kann.
Das Sacramento-Polizei-Spiel bediente sich einer Strategie,
die man "Pyramidenschoten" nennen könnte. Ein Organisator
(Numero Uno) beginnt, indem er sechs Personen dazu bringt,
ebenfalls als Organisatoren aufzutreten, vermutlich mit einer
Rangstufenskala, die abhängig vom Zeitpunkt der Anwerbung
ist. Die Organisatoren zahlen nichts ein, müssen aber insge-
samt acht Mitspieler zusammenbekommen, die acht Plätze am
Fuße der Pyramide kaufen. Jeder Platz kostet 500 Dollar.
Numero Uno sackt die 4.000 Dollar ein, und die Schote teilt
sich in zwei Schoten zu je sieben Personen (Plätzen), jede von
ihnen ausgestattet mit einer neuen Numero Uno (und 2 bis 7).
Jede Schote rekrutiert weitere Leute für jeweils 500 Dollar pro
Platz in der Pyramide; die beiden neuen "Numero Uno"-
Personen sahnen ihre 4.000 Dollar pro Kopf ab, und die bei-
den Schoten teilen sich in vier, diese vier wiederum in 16, und
so weiter bis in alle Ewigkeit. Um mehr zu verdienen, haben
einige Mitspieler an mehreren Schoten teilgenommen.
Wieviele Teilnehmer haben den Neuzugängen wohl erklärt,
dass 6.7 Prozent der Mitspieler mit einem Profit von 700 Pro-
zent rechnen dürfen (3.500 Dollar bei einer Investition von
500 Dollar), - solange 93,3 Prozent von ihnen nichts bekom-
men? Wieviele mögen wohl den neuen Mitspielern den Tip

119
gegeben haben, so früh wie möglich einzusteigen?
Die Beteiligung der Polizei fügt diesem Schneeballsystem eine
weitere Dimension hinzu, denn a) Polizeibeamte haben einen
Dienstgrad, der als Druckmittel zur Anwerbung neuer Teil-
nehmer eingesetzt werden kann; b) aktive und ehemalige Poli-
zeibeamte sind Autoritätspersonen, denen potenzielle Mit-
spieler und vor allem junge Leute Vertrauen entgegenbringen,
c) die Aufgabe der Polizei ist es, Recht und Gesetz zu wahren
- wenn Gesetzeshüter Gesetzesbrecher werden und andere
dazu anstiften, dasselbe aus Profitgier zu tun, dann vermindert
sich der Respekt vor dem Gesetz und vor seinen Hütern.

Kettenbriefe
Bei einem typischen Kettenbrief schickt der Anwerber den
Mitspielern einen Brief zu mit einer Namensliste, an deren
Spitze der Name des Anwerbers selber steht. Die Angeschrie-
benen werden aufgefordert, einen bestimmten Betrag an die
Person an der Spitze zu schicken und ihren eigenen Namen
ans Ende der Liste zu setzen. Zu Geld kommt man nur da-
durch, dass man neue Mitspieler gewinnt, die wiederum ihre
Namen ans Ende der Liste setzen und weitere Mitspieler an-
werben. Theoretisch sollte jeder Name irgendwann einmal an
der Spitze von zahllosen Listen stehen und die betreffende
Person dann haufenweise Geld erhalten; in der Praxis bekom-
men die meisten Teilnehmer jedoch gar nichts. Es steht jedem
frei, die Kette zu durchbrechen, wodurch niemand auf der
Liste mehr mit "Gewinnen" rechnen kann. Aber selbst wenn
das nicht geschieht und niemand die Kette bricht, erhalten 95
Prozent derjenigen, die Geld einschicken, nichts zurück.
Das Prinzip ist also im Grunde dasselbe, wie bei Schneeball-
systemen - nur mit dem Unterschied, dass man sich bei Ket-
tenbriefen nicht selber so stark betrügen muss. Man weiß ver-
mutlich schon von vorneherein, dass die Kette davon abhängt,
Freunde dazu zu bringen, Unbekannten Geld zu schenken im
Austausch für künftige versprochene Reichtümer, die sie wie-
derum von anderen Unbekannten erhalten.

120
Ponzi-Spiel
Ein Ponzi-Spiel (benannt nach Charles Ponzi, der diese Me-
thode in den zwanziger Jahren verwendete) besteht darin,
Leute durch das Versprechen hoher Ertragsraten dazu zu brin-
gen, zu investieren; das Geld der später Hinzugekommenen
wird dann dazu verwendet, um die Erstinvestoren auszuzahlen.
Wer profitiert von einem solchen Plan? Diejenigen, die ihn
beginnen, und die erste Generation der Investoren. Profitiert
wirklich jemand davon? Das muss wohl so sein, sonst wäre
das System schon längst Geschichte. Aber wie ist das mög-
lich? Wenn ich ein solches Spiel durchführe, kassiere ich nur
ganz oben etwas ab und zahle genug Leute aus, damit der Ein-
druck entsteht, es funktioniere - auch wenn ich mich dazu
unten wieder einkaufen muss. Vielleicht bin ich sogar dämlich
genug, zu glauben, ich könnte das Spiel sogar dann fortsetzen,
wenn der Nachschub ausbleibt. Ich kann versuchen, Geld auf
andere Weise zu beschaffen, zum Beispiel durch einen Trip
nach Las Vegas, verbunden mit der Hoffnung auf einen Voll-
treffer. Das passierte einem ehemaligen Sportkameraden von
mir. Er brachte das Geld seiner Investoren an den Würfeltisch
und re-"investierte" das Kapital. Dummerweise zahlten sich
seine "Investitionen" nicht aus - er wanderte in den Knast.
Ich weiß nicht, wie viele Leute bei meinem alten Kumpel Geld
"investiert" (sprich: verloren) haben, aber so schlimm wie
1993 in Rumänien oder 1997 in Albanien wird es wohl nicht
gewesen sein. In beiden Fällen wurden Menschen mit wenig
Gelegenheit zur Kapitalinvestition von Schneeballsystemern
betrogen. Die Zeitungen in Rumänien sprachen davon, dass
Millionen von Landsleuten ihre Ersparnisse in einem Spiel
namens "Caritas" verloren hätten. In Berichten aus Albanien
wird behauptet, Hunderttausende von Albanern hätten ihre
Ersparnisse oder im Ausland verdientes Geld in eines von
mehreren illegalen Schneeballsystemen investiert. Die Spiele
boten sehr hohe Zinsraten, wobei die ersten Investoren vom
Geld der späteren bezahlt wurden. Die Spielsysteme brachen
schließlich zusammen, als keine neuen Investoren mehr hin-

121
zukamen.
Jedes Spiel dieser Art muss scheitern, da die Zahl der "Inve-
storen" nicht unbegrenzt ist. Grenzenlos sind lediglich Gier
und Selbsttäuschung .
Anmerkungen des Übersetzers: Schneeballsysteme und ähnli-
che Systeme haben viele Namen: Kettenspiele, Pilotenspiele,
Life, Jump, Titan, etc. Ein Grundprinzip ist allen gemein: We-
nige profitieren von Vielen, die zu den Wenigen gehören
möchten. Frank Nordhausen und Liane v. Billerbeck beschrei-
ben in ihrem Buch "Psycho- Sekten" einige Fälle aus dem
deutschsprachigen Raum: So wurde 1997 die Leiterin des
"European Kings Club", Damara Bertges, in Frankfurt zu acht
Jahren Haft wegen Anlagebetrugs verurteilt, nachdem ihre
Komplizen schon mehrjährige Haftstrafen erhalten hatten. Der
EKC war in vierzig Länden aktiv gewesen und hatte ein Volu-
men von zwei Milliarden DM erschwindelt; etwa 94.000
Menschen waren schließlich daran beteiligt gewesen. Ver-
sprochen wurde zum Beispiel eine Rendite von sage und
schreibe 71 Prozent.
Bei Versammlungen dieser Klubs oder Gruppen herrscht ge-
wöhnlich eine aufgepeitschte Atmosphäre, in der professio-
nelle Einheizer die Menschen dazu bringen, noch mehr und
gedankenloser als bisher Geld locker zu machen. "Erfolgrei-
che" Investoren werden vorgestellt und als Vorbilder ange-
priesen; das Ambiente ist dem einer Psycho-Sekte wie etwa
"Scientology" nicht unähnlich.
Ein ähnliches System fungierte bis 1996 unter dem Namen
"Kaizen", was auch der Name einer seriösen japanischen Ma-
nagement-Methode ist; die Vertreter des echten "Kaizen" er-
wirkten 1996 einen Gerichtsbeschluss und untersagten die
Verwendung dieser Bezeichnung. Das "Kaizen"-Spiel wan-
delte sich darufhin in die sogenannte "Leadership Academy".
Literaturempfehlung zu diesem Thema:
Nordhausen, Frank/v.Billerbeck, Liane: Psycho-Sekten. Die
Praktiken der Seelenfänger. Frankfurt
a.M. 1999. S. 380-420. Übersetzung: Tobias Budke

122
Anthroposopie, Rudolf Steiner
und Waldorfschulen
Ist es so schwierig, Liebe und Zusammenarbeit zu vertre-
ten, ohne sie in einen kosmischen Nebel einzuhüllen?

Der in Österreich geborene Rudolf Steiner (1861-1925) war


von 1902 bis 1913 Leiter der Deutschen Gesellschaft für
Theosophie, die er verließ, um seine Anthroposophische Ge-
sellschaft zu formen. Vielleicht gab er die göttliche Weisheit
zugunsten der menschlichen Weisheit auf, einer seiner Haupt-
gründe die Theosophen zu verlassen, war jedoch deren Weige-
rung, Jesus oder das Christentum als etwas Besonderes zu
behandeln. Steiner akzeptierte andererseits problemlos hindui-
stische Vorstellungen wie etwa Karma oder Reinkarnation.
1922 schließlich gründete Steiner die "Christengemeinschaft",
komplett mit eigener Liturgie und Ritualen für Anthroposo-
phen. Sowohl die Anthroposophische Gesellschaft als auch die
Christengemeinschaft existieren noch heute, sind aber vonein-
ander getrennte Organisationen.
Steiner entwickelte erst mit fast vierzig Jahren sein großes
Interesse am Okkulten. Er war ein echtes Multitalent; seine
Interessen reichten unter anderem von Ackerbau, Architektur,
Kunst, Chemie und Mathematik über Theater, Literatur, Medi-
zin oder Philosophie bis hin zu Physik und Religion. Seine
Doktorarbeit an der Universität Rostock beschäftigte sich mit
Fichtes Theorie des Wissens ("Wahrheit und Wissenschaft -
Vorspiel einer Philosophie der Freiheit"). Er ist Autor zahlrei-
cher Bücher und Vorträge, darunter Titel wie "Vom Men-
schenrätsel", "Die Stufen der höheren Erkenntnis", "Geheim-
wissenschaft im Umriss" oder "Anthroposophische Leitsätze".
Er hatte außerdem eine Vorliebe für Goethes mystische Ideen
und arbeitete mehrere Jahre als Goethe- Herausgeber. Vieles
von dem, was Steiner schrieb, wirkt wie eine Neuauflage von
Hegel. Marx hatte in seinen Augen unrecht: Nach Steiner ist es

123
das Spirituelle, das die Geschichte vorantreibt. Steiner erwähnt
auch die Spannung zwischen der Suche nach Gemeinschaft
und der Erfahrung der Individualität, die seiner Meinung nach
keine Gegensätze darstellen, sondern in der menschlichen
Natur verwurzelte Polaritäten sind.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts begann Steiner, sich verstärkt
mit esoterischer, mystischer und okkulter Literatur zu befas-
sen. Theosophen stehen okkulten und mystischen Überzeu-
gungen positiv gegenüber, und Steiner interessierte sich be-
sonders für zwei theosophische Ideen: 1) Es gibt ein spezielles
spirituelles Bewusstsein, das einen direkten Zugriff auf höhere
spirituelle Wahrheiten ermöglicht, und 2) Die spirituelle Evo-
lution wird davon behindert, dass man der materiellen Welt
verhaftet bleibt.
Zwar verließ er die Theosophische Gesellschaft, gab aber den
eklektischen Mystizismus der Theosophen nicht auf. In Stei-
ners Augen war die Anthroposophie eine "spirituelle Wissen-
schaft". Überzeugt davon, dass die Realität letztendlich spiri-
tuell ist, wollte er die Menschen dazu befähigen, die materielle
Welt zu überwinden und die spirituelle Welt durch das höhere,
spirituelle Selbst zu erfahren. Seiner Lehre zufolge gibt es eine
Art spiritueller Wahrnehmung, unabhängig vom Körper und
den körperlichen Sinnen. Es scheint, als habe dieser besondere
spirituelle Sinn ihn mit Informationen über das Okkulte ver-
sorgt.
Steiner zufolge gibt es Menschen seit der Erschaffung der
Erde. Sie begannen als spirituelle Formen und schritten fort
durch verschiedene Stufen bis hin zur heutigen Erscheinung.
Die Menschheit lebt laut Steiner in der nachatlantischen Peri-
ode, die mit dem langsamen Versinken von Atlantis im Jahre
7227 v.Chr. begann ... Diese nachatlantische Periode ist un-
terteilt in sieben Epochen, von denen die aktuelle, die Euro-
päisch-Amerikanische Epoche, bis zum Jahre 3573 andauern
wird. Danach werden die Menschen die hellseherischen Fä-
higkeiten zurückerlangen, die sie angeblich in der Zeit vor den
alten Griechen hatten. (Rob Boston, 1996)

124
Steiners langlebigster und bedeutsamster Einfluss liegt jedoch
im Gebiet der Pädagogik. 1913 errichtete er in Dornach (bei
Basel) das Goetheanum, eine "Schule für spirituelle Wissen-
schaft". Sie stellte einen Vorläufer der sogenannten Steiner-
oder Waldorfschulen dar. Der Begriff "Waldorf" stammt von
der Schule, die Steiner 1919 für die Kinder der Arbeiter er-
richten sollte, die in der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik in
Stuttgart arbeiteten. Der Fabrikbesitzer hatte Steiner eingela-
den, eine Vortragsreihe für seine Arbeiter zu halten. Er war
offenbar so beeindruckt, dass er Steiner bat, eine Schule einzu-
richten. Die erste Waldorfschule in den Vereinigten Staaten
öffnete 1928 in New York City ihre Pforten. Heutzutage gibt
es nach Angaben der Steiner-Anhänger über 600 Waldorf-
schulen in mehr als 32 Ländern, die insgesamt auf etwa
120.000 Schüler kommen. Davon sollen etwa 125 in den USA
stehen. Es gibt sogar eine (staatlich nicht anerkannte) Rudolf-
Steiner- Universität, die akademische Grade in Bereichen wie
"Anthroposophische Studien" oder "Waldorfpädagogik" ver-
gibt.
Den Lehrplan seiner Schulen stellte Steiner gemäß Konzepten
auf, die er offenbar durch spezielle spirituelle Einsicht in das
Wesen der Natur und der Kinder erlangte. Er war der Auffas-
sung, dass wir alle aus Körper, Geist und Seele bestehen. Er
ging davon aus, dass Kinder durch drei jeweils siebenjährige
Phasen hindurchgehen und dass die Erziehung auf die jeweili-
ge spirituelle Phase abgestimmt sein müsse. Von der Geburt
bis zum siebenten Jahr, meinte er, handele es sich um eine
Periode, in der der Geist zunächst einmal damit fertig werden
müsse, dass er nun in der materiellen Welt sei. In dieser Phase
lernten Kinder am besten durch Nachahmung (diese Auffas-
sung findet sich schon bei Aristoteles). Der Lehrstoff wird in
diesen Jahren auf ein Minimum reduziert. Man erzählt den
Kindern Märchen, bringt sie aber vor der zweiten Klasse nicht
zum Lesen. Das Alphabet und die Schrift lernen sie aber be-
reits in der ersten Klasse kennen.
Wenn man Steiner glauben will, ist die zweite Phase des

125
Wachstums durch Fantasie und Wunschvorstellungen geprägt.
Im Alter von 7 bis 14 Jahren lernen Kinder daher am besten
durch Akzeptanz und Nachahmung von Autoritäten. In dieser
Zeit haben die Kinder nur eine Lehrperson, und die Schule
verwandelt sich in eine Art "Familie" mit dem Lehrer als Vater
oder Mutter.
In der dritten Phase (14 bis 21 Jahre) wird der Astralkörper in
den materiellen Körper gezogen und verursacht so die Puber-
tät. Diese anthroposophischen Ideen sind zwar nicht Teil des
Standard- Lehrplans in Waldorfschulen, scheinen aber von
jenen geglaubt zu werden, die die Lehrpläne aufstellen. Wal-
dorfschulen überlassen den Religionsunterricht den Eltern,
sind aber grundsätzlich eher spirituell orientiert und haben
eine im breiten Sinne christliche Perspektive.
Trotzdem - und weil sie kein biblisch-fundamentalistisches
Christentum lehren - werden Waldorfschulen häufig wegen
der Förderung von heidnischem Gedankengut oder gar Sata-
nismus angegriffen. Dazu kommt es vermutlich, weil sie die
Beziehung des Menschen zur Natur und zu natürlichen
Rhythmen betonen, einschließlich einer Vorliebe für Feste,
Mythen, alte Kulturen und verschiedene Feiern. Einige Kon-
zepte der heutigen Waldorfschulen stammen nicht von Steiner,
aber es wird versucht, sie mit den spirituellen Eingebungen
des Meisters in Einklang zu bringen. So wird zum Beispiel das
Fernsehen aufgrund seiner Inhalte abgelehnt, da es zu einer
Verarmung der Fantasie führe. Diese Vorstellung ist zweifel-
los für viele Eltern attraktiv, da es eher schwierig ist, im Fern-
sehen etwas zu finden, das einem kleinen Kind positive Werte
vermittelt. Kleine Kinder sollten reden, mit anderen etwas
unternehmen, zuhören und sich mit der Natur und anderen
Menschen befassen, anstatt in katatonischer Trance vor der
Mattscheibe zu vegetieren. Ich weiß nicht, was Waldorflehrer
von Videospielen halten, aber es würde mich sehr überra-
schen, wenn sie diese nicht auch ablehnten, und zwar aus den-
selben Gründen.
Auch die Verwendung von Computern für jüngere Kinder

126
wird von Waldorfpädagogen abgelehnt. Es ist noch lange nicht
nachgewiesen, dass Computerkenntnisse für Kinder wirklich
nützlich sind, auch wenn dieser Glaube unter Pädagogen weit
verbreitet ist und jedes Jahr Milliarden Euro für die neueste
Technik an den Schulen ausgegeben werden - für Schüler, die
kaum lesen oder kritisch denken können und nur rudimentäre
soziale und sprachliche Fähigkeiten haben. Andererseits
scheinen Waldorfschulen diese Blauäugigkeit der öffentlichen
Schulen im Bereich Technologie in Bezug auf Kunst und
Handwerk zu haben: Was bei öffentlichen Schulen bestenfalls
Neben- Nebenfächer sind, wird an Waldorfschulen hinge-
bungsvoll betrieben und als notwendig erachtet, etwa Weben,
Stricken, Musizieren, Schnitzen, Malen und vieles mehr.
Einer der ungewöhnlicheren Teile des Lehrplans umfasst et-
was, das Steiner "Eurythmie" nannte, eine Bewegungskunst,
mittels derer man versucht, die angeblichen "inneren Formen
und Gebärden" von Sprache und Musik sichtbar zu machen.
Laut einer Waldorf-Information "verwirrt sie Eltern, die die
Waldorfpädagogik nicht kennen, aber Kinder reagieren auf die
einfachen Rhythmen und Übungen, die ihnen helfen, Körper
und Lebensenergien zu stärken und zu harmonisieren; ältere
Schüler arbeiten später komplexe eurythmische Darstellungen
von Poesie, Theater und Musik aus und erhalten dadurch eine
tiefere Wahrnehmung der Kompositionen und der Texte. Eu-
rythmie verbessert die Koordination und stärkt die Fähigkeit
des Zuhörens. Wenn Kinder sich als Orchester empfinden und
eine klare räumliche Ordnung zueinander haben, kommt es
außerdem zu einer sozialen Stärkung."
Die interessanteste Konsequenz aus Steiners spirituellen An-
sichten war sein Versuch, geistig und körperlich Behinderte zu
unterrichten. Steiner ging davon aus, dass der Geist das Wis-
sen erfasst und in allen Menschen derselbe ist, unabhängig von
unseren mentalen oder körperlichen Unterschieden.
Die meisten von Steiners Kritikern sind der Meinung, er sei
ein wirklich bemerkenswerter Mensch gewesen, außerordent-
lich anständig und bewundernswert. Anders als viele andere

127
"spirituelle" Gurus war Steiner wohl ein wahrhaft moralischer
Mann, der niemals versuchte, seine Anhängerinnen zu verfüh-
ren und seiner Frau treu blieb. Es steht außer Frage, dass er
Beiträge zu zahlreichen Themengebieten leistete, aber als
Philosoph, Wissenschaftler und Künstler war er durchweg
unoriginell und selten mehr als Mittelmaß. Seine spirituellen
Ideen erscheinen wenig glaubwürdig und sind ganz sicher
nicht wissenschaftlich.
Seine pädagogischen Konzepte hingegen sind beachtenswert.
Er hatte recht mit der Feststellung, dass für die Entwicklung
von Fantasie und Verständnis bei jungen Leuten große Gefahr
besteht, wenn Schulen von der Regierung abhängig sind.
Staatliche Erziehung führt wahrscheinlich zu einer Gewich-
tung des Lehrplans im Sinne des Staates, d.h. der staatlichen
Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dadurch basiert die Erziehung
nicht auf den Bedürfnissen der Kinder, sondern auf den wirt-
schaftlichen Anforderungen der Gesellschaft. Der Konkur-
renzkampf, der einen Großteil der öffentlichen Erziehung an-
treibt, kommt vielleicht der Gesellschaft, aber vermutlich nicht
den Kindern zugute. Eine Pädagogik, in der Zusammenarbeit
und Liebe - und nicht Konkurrenzdenken und Ablehnung - die
Beziehungen der Schüler untereinander prägen, wirkt sich
wahrscheinlich günstiger auf das intellektuelle, moralische und
kreative Wohlbefinden der Schüler aus.
Andererseits besteht die Möglichkeit, dass einige der seltsame-
ren Ideen der Anthroposophie über Astralkörper, Atlantis usw.
in einer Waldorfschule vermittelt werden, auch wenn Steiners
philosophische Theorien nicht Teil des Lehrplans sind. Ist es
so schwierig, Liebe und Zusammenarbeit zu vertreten, ohne
sie in einen kosmischen Nebel einzuhüllen? Wozu der Sprung
in das Reich des undurchsichtigen Mystizismus, um Kritik zu
üben an dem Schaden, der einem Menschen zugefügt wird,
wenn er sein Leben ausschließlich der Anhäufung materieller
Besitztümer widmet und sich nicht um das kümmert, was an-
deren Menschen oder der Erde passiert? Warum ist es nötig,
das Böse auf den Mangel an Spiritualität zurückzuführen?

128
Man könnte genauso gut einen Überschuss an Spiritualität für
unsere Probleme verantwortlich machen: Spirituelle Menschen
halten so wenig von der materiellen Wirklichkeit, dass sie
nicht genug dafür tun, sie zu einem besseren Ort zu machen.
Warum kann man nicht gleichzeitig Geschichten erzählen,
tanzen, singen oder Kunstwerke erschaffen und Chemie, Bio-
logie und Physik studieren, um so die Natur kennenzulernen -
und ohne das Ganze entweder als Mittel zur Arbeitsplatzsiche-
rung oder als Harmonisierung der Seele mit kosmischer Spi-
ritualität zu sehen?
Kinder sollten weder mit Spiritualität noch mit Materialismus
belastet werden. Man sollte sie lieben und lehren, andere zu
lieben. Man sollte ihnen gestatten, in einer Umgebung aufzu-
wachsen, in der Zusammenarbeit wichtig ist. Man sollte ihnen
das Beste in Natur, Kunst und Wissenschaft nahebringen, das
wir haben, und zwar auf eine Art, die sie davon abhält, alles in
Verbindung mit ihrer Seele oder ihren Arbeitsmarktchancen
wahrzunehmen. Leider haben die meisten Kinder Eltern, und
viele dieser Eltern wären mit einer solchen Erziehung wohl
kaum einverstanden.
Anmerkung des Übersetzers: Steiner ist sicherlich eine der
interessantesten Gestalten der an schillernden Persönlichkei-
ten nicht gerade armen Esoterik-Szene. Neben seiner theoso-
phischen Tätigkeit und seinem anthroposophischen Wirken
war er unter anderem vermutlich Eingeweihter von Aleister
Crowleys O.T.O. (Ordo Templi Orientis) und soll von 1906 bis
1914 einen hohen Rang bekleidet haben (Grandt/Grandt:
Schwarzbuch Satanismus. Augsburg 1995); endgültige Belege
gibt es dafür allerdings nicht. Es muss auch dahingestellt wer-
den, ob Steiner wirklich Symptome einer "schizoiden Persön-
lichkeitsstörung" aufwies (Lange-Eichbaum/Kurth: Genie,
Irrsinn und Ruhm. München/Basel 1967). Sicher ist allerdings,
dass Steiners Lehre immer wieder Bezüge zu Rassismus und
Antisemitismus nachgesagt wurden und werden. Zahlreiche
Zitate Steiners belegen ähnliches Gedankengut, allerdings war
ein solches Denken zu seiner Zeit sehr weit verbreitet, auch in

129
"wissenschaftlichen" Kreisen (eine faszinierende Einführung
in dieses Thema bietet Stephen Jay Goulds "Der falsch ver-
messene Mensch"). Ernst Bloch gar hielt die ganze anthropo-
sophische Bewegung für "faschistoid" (Bloch, "Erbschaft die-
ser Zeit", Frankfurt 1956) - andererseits war sie im Dritten
Reich verboten. Eine wichtige Quelle von Steiners Eingebun-
gen waren die in Esoterikkreisen berühmten Akasha-
Aufzeichnungen. Insgesamt muss man abschließend über Stei-
ner sagen, dass er in Bezug auf esoterische Inhalte sehr
leichtgläubig und ziemlich wahllos war. Seine architektoni-
schen Entwürfe hingegen bezeichnet sogar James Randi als
"wirklich schön und ansprechend". Ein Porträt der heutigen
Anthroposophie im deutschen Sprachraum findet sich bei
www.rudolf-steiner.de.
Übersetzung: Tobias Budke

130
Unbekannte Flugobjekte
Ein UFO ist ein unbekanntes Flugobjekt, das als mögliches
oder tatsächliches außerirdisches Raumschiff identifiziert
worden ist. Zu solchen Objekten gehören z.B. Sternschnuppen,
sich auflösende Satelliten, Vogelschwärme, Flugzeuge, Lich-
ter, Wetterballons - so ziemlich alles im sichtbaren elektroma-
gnetischen Bereich. Aber für die definitive Identifikation eines
UFOs als außerirdisches Raumschiff existieren bis heute kei-
nerlei Beweise, die mit der Wissenschaft und dem gesunden
Menschenverstand in Einklang zu bringen sind. So gab es
weder wiederkehrende identische UFO-Erfahrungen, noch
Sachbeweise, die den Vorbeiflug oder die Landung eines
UFOs belegen könnten.
Von UFOs gibt es so viele Fotografien wie vom Loch-Ness -
Monster - und sie haben die gleiche Qualität: viele sind ver-
schwommen, andere eindeutig Fälschungen. Angebliche
Sachbeweise, wie z.B. Trümmer von Bruchlandungen, Brand-
stellen von Landungen oder Implantate in den Nasen oder
Gehirnen der angeblich von Außerirdischen Entführten ent-
puppten sich allesamt als ziemlich irdisch - und auch unter
ihnen befanden sich einige Fälschungen. Die Hauptgründe, die
Menschen dazu bewegen, an UFOs zu glauben, bestehen in
der Unfähigkeit, Science Fiction und Wissenschaft auseinan-
der zu halten, in der Bereitwilligkeit, inkompetenten Men-
schen ihre fantastischen Geschichten zu glauben, sowie
gleichzeitig in der Fähigkeit, allen Quellen, die dagegen spre-
chen, zu misstrauen - weil sie Teil einer üblen Verschwörung
zur Vertuschung der Wahrheit seien - und schließlich im
Wunsch nach Kontaktaufnahme mit einer überirdischen Welt.
Kurz gesagt: der Glaube an UFOs ist eng verwandt mit dem
Glauben an Gott.

"UFOlogie ist die Mythologie des Weltraumzeitalters. Statt


Engel...haben wir jetzt...Aliens. Sie ist das Produkt unserer
kreativen Fantasie. Sie dient den Zwecken der Poesie und des

131
Existenzialismus. Sie strebt danach, dem Menschen tiefere
Wurzeln und eine bessere Orientierung im Kosmos zu ver-
schaffen. Sie ist Ausdruck unseres Hungers nach Mysteri-
en...unserer Hoffnung auf transzendentale Bedeutung. Die
Götter des Olymp sind zu Weltraumreisenden georden, die uns
in unseren Träumen in andere Welten transportieren."
Paul Kurtz

Der Astronom Dr. J. Allen Hynek, leidenschaftlicher Ver-


fechter des Glaubens an die Existenz von UFOs, und der
Mann, der uns den Ausdruck "close encounters of the third
kind" brachte, definiert ein UFO wie folgt:

"Die Meldung eines am Himmel oder an Land gesichteten


Objektes oder Lichtes, dessen Erscheinen, Flugbahn, und ge-
nerelles dynamisches Verhalten und Leuchtverhalten nicht auf
eine logische, übliche Erklärung schließen lässt, und das nicht
nur dem ursprünglichen Beobachter rätselhaft ist, sondern
auch rätselhaft bleibt nach genauer Untersuchung aller vor-
handenen Beweismittel durch Personen, die technisch dazu
fähig sind, eine vernunftgemäße Identifizierung zu erstellen,
sofern eine solche möglich sein sollte."

Dieser verwirrende Satz scheint auszusagen, dass man, wenn


man etwas gesehen hat, das intelligente Leute nicht vernunft-
gemäß erklären können, ein UFO gesehen hat. Zeugen solcher
Beobachtungen behaupten oft, dass das, was sie gesehen hät-
ten, nicht mit den bekannten Gesetzen der Physik erklärt wer-
den könne. Sie behaupten, Zeugen der Verletzung eines Na-
turgesetzes, also eines Wunders, gewesen zu sein.
Aber vielleicht ist das, was Hynek mit "allen vorhandenen
Beweismitteln" meint, viel weniger als das, was ein Skeptiker
verlangen würde. Zum Beispiel bestehen die Beweise, auf die
sich UFOlogen berufen, aus (1) Aussagen von Personen, die
behaupten, sie hätten außerirdische Wesen oder außerirdische
Raumschiffe gesehen; (2) Angaben über die Menschen, die

132
solche Aussagen machen; (3) dem Fehlen von gegenteiligen
Aussagen oder Sachbeweisen, die das Phänomen entweder
unter Verweis auf normale Ursachen aufklären (Wetterballon,
Streich, Meteoriten, Lichtspiegelung, usw.) oder die Zuverläs-
sigkeit des Augenzeugen untergraben würden; und (4) angeb-
lichen Schwachpunkten in den Argumenten der Skeptiker
gegen die UFOlogen. Obwohl der letzte Punkt überhaupt nicht
zur Sache gehört, wird ihm in der UFOlogie eine unverhält-
nismäßig große Rolle eingeräumt.
Für Verfechter der Behauptung, UFOs seien außerirdische
Raumschiffe, ist es charakteristisch, lieber die Argumente oder
Beweggründe ihres Gegners zu attackieren, anstatt definitive
Beweise der eigenen Ansicht zu liefern. Natürlich ist es völlig
in Ordnung, das Argument des Gegners anzugreifen, um
Schwächen und und Fehlschlüsse aufzudecken. Aber Widerle-
gung ist kein Ersatz für Beweise. Es ist ganz einfach schlechte
Logik, wenn man annimmt, die eigenen Gründe gelten allein
nur deshalb, weil die des Gegners mangelhaft sind. Die eige-
nen Gründe sind vielleicht genauso mangelhaft wie die des
Gegners, oder gar noch mangelhafter.
Eine weitere beliebte Taktik der UFOlogen ist die Behaup-
tung, dass der Skeptiker nicht beweisen kann, dass das, was
gesichtet wurde, kein außerirdisches Objekt war. Aus dieser
Tatsache soll man wohl folgern, dass es sich also aller Wahr-
scheinlichkeit nach um ein außerirdisches Objekt handelt.
Diese Art von Beweisführung wird als "argumentum ad igno-
rantiam" bezeichnet. Eine Behauptung wird aber keineswegs
schon allein dadurch wahr oder tragbar, dass die Wahrheit
einer gegenteiligen Behauptung nicht nachgewiesen werden
kann. Was die Argumente für die Existenz von UFOs anbe-
trifft, so gibt es hierbei zwei verschiedene Vorgehensweisen.
Die eine besteht darin, zu behaupten, dass es keine logische
Erklärung gibt, weil irgendeinem Wissenschaftler, Piloten,
Luftwaffen-Oberst, oder promovierten Akademiker keine ein-
fällt. Die andere besteht darin, auf den Mangel an gegenteili-
gen Beweisen zu deuten: auf fehlende Gegenaussagen anderer

133
Augenzeugen, oder darauf, dass kein Nachweis vorliege, dass
da keine außerirdischen Wesen oder Raumschiffe gewesen
wären. Auch hierin steckt ein logischer Fehler. Die Tatsache,
dass irgendeinem Genie keine Erklärung für irgendetwas ein-
fällt, hat nichts mit der Frage zu tun, ob das Phänomen im
Zusammenhang mit einem Besuch aus dem All erklärt werden
muss. Die Wahl ist hier nicht zwischen (a) wir wissen, dass
diese konventionelle Erklärung richtig ist, oder (b) wir müssen
daraus schließen, dass wir von Außerirdischen heimgesucht
worden sind.
Es scheint vernünftiger, anzunehmen, dass wir diese Phäno-
mene nur deswegen nicht durch herkömmliche Mittel erklären
können, weil wir noch nicht über alle Beweisstücke verfügen -
und nicht, weil diese Phänomene höchstwahrscheinlich auf
außerirdischen Besuch zurückzuführen sind. Hätten wir alle
relevanten Informationen, so wären wir wahrscheinlich in der
Lage, UFOs mit irgendwelchen herkömmlichen Erscheinun-
gen zu erklären. Nur, weil wir nicht beweisen können, dass
Herr und Frau Barney Hill nicht von Außerirdischen entführt
wurden, bedeutet das noch lange nicht, dass sie tatsächlich
von Außerirdischen entführt wurden.
Viele UFOlogen meinen, wenn Augenzeugen wie Whitley
Strieber, Betty und Barney Hill und andere angeblich von
Außerirdischen entführte Leute nicht geisteskrank oder bos-
haft sind, seien sie auch nicht anfällig für Täuschungen - dem-
nach könne man sich darauf verlassen, dass sie eine vertrau-
enswürdige Berichterstattung über Entführungen durch Au-
ßerirdische lieferten. Es ist jedoch offensichtlich, dass die
meisten gescheiten, guten und normalen Leute sich in vielen
Sachen täuschen lassen und man sich in gewissen Dingen
nicht auf sie verlassen kann. Zwar ist es im Allgemeinen ver-
nünftig, auf die Aussagen geistig gesunder, guter, normaler
Personen ohne weiteres zu vertrauen: daraus folgt jedoch kei-
neswegs, dass man ihren Aussagen zu jedweder Behauptung
vertrauen sollte, sofern man ihnen nicht nachweisen kann, dass
sie geisteskrank, boshaft oder Schwindler sind.

134
Wenn es sich bei einer solchen Behauptung zudem noch um
etwas Unglaubliches handelt, sind Augenzeugenberichte allein
nicht mehr ausreichend. Wäre es zum Beispiel vertretbar, ei-
nen Querschnittsgelähmten einer Straftat zu beschuldigen, nur
aufgrund der Aussagen von zehn "Säulen der Gesellschaft",
die behaupten, sie hätten den Angeklagten gesehen, wie er
nackt mit Engelsflügeln zur alten Dame geflogen sei, und ihr
die Handtasche entrissen habe? Es ist doch viel vernünftiger
anzunehmen, dass auch gute Leute schlechte Dinge tun, oder
dass sie sich irren, als ihnen zu glauben, dass einem Quer-
schnittsgelähmten Flügel sprießen könnten.
UFOlogen ziehen ihre fehlerhafte Logik den Schlussfolgerun-
gen des "Project Blue Book" vor, jenem US-Air-Force-
Bericht, der besagt, dass "nach zweiundzwanzig Jahren der
Ermittlung... keine der bekanntgegebenen und untersuchten
unbekannten Objekte eine Gefahr für unsere nationale Sicher-
heit darstellten." UFOlogen lässt auch der Condon-Report kalt.
Edward U. Condon war Leiter eines wissenschaftlichen For-
schungsteams an der Universität von Colorado, der mit dem
Auftrag betraut war, die UFO-Frage zu untersuchen. Seine
Nachforschungen kamen zu folgendem Schluss:

"...in den vergangenen 21 Jahren hat die UFO-Forschung


nichts zu unserem wissenschaftlichen Wissensschatz beigetra-
gen...daher kann eine Fortsetzung der UFO-Forschung wahr-
scheinlich nicht mit der Erwartung gerechtfertigt werden, dass
sie wissenschaftliche Fortschritte bringt."

UFOlogen glauben statt dessen, dass die Regierung und insbe-


sondere der CIA uns etwas vorlügen und außerirdische Lan-
dungen und Mitteilungen vertuschen. Doch dafür gibt es kei-
nerlei Beweise - außer einem allgemeinen Misstrauen gegen-
über der Regierung, und der Tatsache, dass schon viele Regie-
rungsbeamte in der Öffentlichkeit gelogen, die Wahrheit ver-
zerrt, und sich geirrt haben. Der CIA hat aber schon etwa 1950
sein Interesse an UFOs verloren, er ermuntert UFOlogen nur

135
gelegentlich dazu, die eigenen Aufklärungsflüge als außerirdi-
sche Raumschiffe zu identifizieren. UFOlogen ziehen jedoch
andere Lügen dieser Regierungslüge vor. Sie unterstützen z.B.
die Arbeit des NBC, die zwei Dutzend Folgen einer Serie na-
mens "Projekt UFO" drehte, die angeblich auf dem "Project
Blue Book" beruhten. Aber im Gegensatz zur Air Force sugge-
rierte die NBC der Öffentlichkeit, dass dokumentierte Fälle
existierten, welche die Beobachtung außerirdischer Raum-
schiffe belegten. Die Fernsehserie, die von Jack Webb
(Dragnet) produziert wurde, verzerrte und verfälschte Infor-
mationen, um die Präsentation glaubwürdiger aussehen zu
lassen. Kein UFOloge nahm NBC wegen Lügnerei ins Gebet.
Aus der Sicht des Skeptikers hat sich NBC dem Geschmack
des Publikums angepasst. Regierungsbeamte lügen aus allen
möglichen Gründen, aber das Vertuschen von außerirdischen
Landungen scheint keiner davon zu sein.
Die meisten unbekannten Flugobjekte werden irgendwann als
"Ente" oder astronomische Ereignisse, als Flugzeuge, Satelli-
ten, Wetterballons, oder andere natürliche Phänomene entlarvt.
Air-Force- Studien zeigen, dass weniger als zwei Prozent aller
UFO-Sichtungen unidentifizierbar blieben. Es liegt nahe, dass
beim Vorliegen zusätzlicher Informationen auch diese zwei
Prozent als Sternschnuppen, Flugzeuge oder ähnliches identi-
fiziert würden - und nicht als außerirdische Raumschiffe.
Möglicherweise scheint den UFOlogen nur deshalb keine logi-
sche Erklärung glaubwürdig zu sein, weil diejenigen, die sol-
che Begebenheiten erzählen und sich anhören, entweder keine
logische Erklärung hören wollen, oder sich herzlich wenig um
eine solche Erklärung bemühen. Jedenfalls kann man die Tat-
sache, dass manche Piloten oder Wissenschaftler behaupten,
sie könnten keine logische Erklärung für irgendwelche visuel-
len Beobachtungen finden, kaum als Beweis für außerirdische
Raumschiffe akzeptieren.
Schließlich ist noch bemerkenswert, dass UFOs in der Regel
von ungeschulten Beobachtern des Himmels gesichtet werden,
jedoch fast nie von professionell tätigen Astronomen oder

136
Amateur- Astronomen - letztere verbringen immerhin über-
mäßig viel Zeit damit, in den Himmel zu schauen. Es läge
doch nahe, dass Astronomen gelegentlich solch außerirdische
Raumschiffe erspähen würden. Aber vielleicht wissen die
listigen Außerirdischen, dass gute Wissenschaftler skeptisch
und neugierig sind. Und solche Geschöpfe könnten durchaus
die Sicherheit einer spannend erzählten Geschichte bedrohen...
Übersetzung: Larissa Wagner

137
Wicca
Die Anziehungskraft Wiccas dürfte auf ihrer naturalisti-
schen Ansicht zum Sex und auf ihrem Versprechen auf
Macht durch Magie beruhen

Wicca ist eine Naturreligion, die auf Glaubensvorstellungen


und Ritualen basiert, von denen man annimmt, sie hätten ihre
Wurzeln in alten Bräuchen. Von Wicca wird behauptet, es
gebe eine direkte Verbindung zu antiken keltischen Überliefe-
rungen, die dieser Auffassung zufolge mehr im Einklang mit
den Kräften der Natur stehen als das Christentum und andere
moderne Religionen des Westens. Es ist jedoch präziser, Wic-
caner als Teilhaber einer Bewegung zu betrachten, deren spi-
rituelle Grundlage in der Natur und in natürlichen Phänome-
nen zu sehen sind, und nicht als Mitglieder einer Religion, da
Wiccaner kein schriftlich festgehaltenes Credo haben, dem der
Anhänger folgen muss. Auch errichten sie keine steinernen
Tempel oder Kirchen, um dort zu beten oder Messen abzuhal-
ten. Sie praktizieren ihre Rituale in der freien Natur: in Parks,
Gärten, Wäldern, auf Höfen oder zwischen Hügeln. Lassen wir
eine Wicca-FAQ-Seite zu Wort kommen:
Wicca ist der Name einer modernen neuheidnischen Religion,
die vor allem durch den Einsatz eines pensionierten britischen
Beamten namens Gerald Gardner [in den späten 40ern des 20.
Jhdts.] verkündet und verbreitet wurde. In den letzten Jahr-
zehnten hat sich Wicca zum Teil aufgrund ihrer Beliebtheit bei
Feministinnen und anderen Menschen, die eine frauenfreund-
lichere und erdverbundene Religion suchten, ausgebreitet. Wie
die Mehrzahl der neuheidnischen Religionen verehrt Wicca
das Geheiligte als wesenhaft in der Natur und bezieht einen
großen Teil ihrer Inspiration aus den nicht-christlichen und
vorchristlichen Religionen Europas. Neu-heidnisch (engl. neo-
pagan, von lat. paganus = Landbewohner; im Deutschen Hei-
den, da sie "in der Heide" lebten) greift zurück auf eine Zeit
vor der Verbreitung der heutigen großen monotheistischen

138
(Eingott-) Religionen. Als Faustregel kann man sagen, dass
die meisten Wiccaner Neu- Heiden sind, aber nicht alle Hei-
den Wiccaner.
Eine andere Faustregeln scheint zu sein, dass es keinen einzel-
nen Kanon von Glaubensvorstellungen oder Bräuchen gibt,
der das "System Wicca" bildet, obgleich eine Überzeugung
wiederholt auftritt: Solange es niemandem schadet, tu was du
willst ("An' it harm none, do what you will"). Auch einige
Rituale scheinen häufiger vorzukommen.
Wiccaner praktizieren zahlreiche Rituale, die mit Naturer-
scheinungen in Verbindungen stehen - wie etwa den Jahres-
zeiten, den Sonnenwenden und den Tagundnachtgleichen. Ihre
Symbole basieren auf der Verbundenheit des menschlichen
Lebens mit der Natur. So feiern sie den Sommer zum Beispiel
mit einem Fruchtbarkeitsritual, das als "Beltane" bekannt ist.
Anstatt zu einem unnatürlichen Gott jenseits aller menschli-
chen Erfahrung zu beten, machen Wiccaner den Eindruck, sie
befassten sich eher mit Selbsterfahrung und mit der Erwek-
kung ihrer Verbindung zur Natur und zu Naturgottheiten,
weiblichen wie männlichen. Ihre Rituale wirken wie Meta-
phern für psychologische Vorgänge: Sie singen, tanzen, rufen.
Sie zünden Kerzen an und verbrennen Weihrauch; sie verwen-
den Kräuter und Glücksbringer. Häufig ziehen Wiccaner
Kräuter der Schulmedizin vor. In Gruppenritualen drücken sie
ihre Wünsche gegenüber der Gemeinschaft aus. Sie benutzen
keine Zaubersprüche. Sie bitten um den Segen aus Norden,
Süden, Osten und Westen. Sie meditieren. Sie kochen keine
widerlichen giftigen Eintöpfe und Hexenkesseln. Sie fliegen
nicht auf Besenstielen herum, und sie versuchen nicht, ihre
Feinde zu verhexen. Da Wiccaner offenbar die Natur und ihre
Gottheiten verehren, kann man sie als Pantheisten bezeichnen.
Wiccaner teilen allerdings eine Überzeugung mit den Christen:
Beide glauben, dass die gleichgültige Zerstörungskraft der
Natur etwas grundsätzlich Gutes ist. Wir sollten daher dankbar
sein für die Segnungen der Natur (oder Gottes), auch wenn es
sich dabei um die Opfer von Pompeji handelt oder Kinder, die

139
von Springfluten ertränkt werden; dankbar auch für diejeni-
gen, die von einem Tornado um Haus, Hof und Leben ge-
bracht werden oder die Millionen, die unter einer mitleidlosen
Sonne in vertrockneten Landstrichen braten. Dieser Dank um-
fasst natürlich auch die unschuldigen Missgeburten - die Pro-
dukte gnadenloser biologischer Gesetze - Erdbeben- und Hur-
rikanopfer, wie auch die Millionen, die jedes Jahr von gleich-
gültigen Kräften in einer gleichgültigen Umgebung obdachlos
gemacht werden. Nur in ihren Mythen haben Wicca-Magie
oder christliches Gebet jemals die Fluten aufgehalten, den
Blitz abgeleitet, den Tornado beruhigt, das Erdbeben gestoppt
oder den Tsunami geglättet.
Die Anziehungskraft Wiccas dürfte auf ihrer positiven Ein-
stellung zu Frauen, ihrer naturalistischen Ansicht zum Sex und
auf ihrem Versprechen auf Macht durch Magie ("Magick")
beruhen. Sie ist sehr beliebt bei Frauen, und die Versuchung
liegt nahe, sie als die "Rache der Frauen" für Jahrhunderte von
Frauenhass und -mord zu sehen, die von etablierten Religionen
wie Christentum und Islam begangen wurden. Wie bei den
keltischen Religionen haben Frauen vollen Anteil an allen
ihren Aspekten, und sie sind den Männern gleichgestellt, wenn
nicht übergeordnet. Frauen spielen in der keltischen Mytholo-
gie eine - gelinde gesagt - ungewöhnliche Rolle: Sie sind in-
telligente, tapfere Krieger, skrupellos, sexuell aggressiv und
Führerinnen von Nationen.
Zum Schluss sollte unbedingt darauf hingewiesen werden,
dass Wicca nichts mit Satanismus zu tun hat. Dieser Vorwurf
hängt mit der Verfolgung von "Hexen" durch Christen zu-
sammen, insbesondere während der mittelalterlichen und der
spanischen Inquisition. Der Geist der Inquisition lebt jedoch
fort in den Herzen vieler hingebungsvoller Christen, die wei-
terhin Wiccaner und andere als Teufelsanbeter verfolgen. Die-
se modernen Inquisitoren verbrennen niemandem auf dem
Scheiterhaufen. Sie versuchen vielmehr, Dinge abzuschaffen
wie Halloween [ein ursprünglich heidnisches Fest mit deutlich
düsteren Untertönen, AdÜ], Spitznamen für Fußballvereine

140
(etwa die Roten Teufel, der 1. FC Kaiserslautern), Bücher über
Hexen oder irgendwie jedes Zeichen, Symbol oder jede Zahl,
die sie irgendwie mit Satan in Verbindung bringen (eine Pizze-
ria hier vor Ort wurde sogar wegen der Zeichen auf ihren Lie-
ferschachteln belästigt, die - Hexenjägern zufolge - satanische
Symbole seien. Die Pizzeria ersetzte sie durch andere, um eine
Medienkampagne zu vermeiden).
Am ersten Frühlingstag 1996 fand sich in unserem Lokalblatt
ein Artikel über einen Hexenzirkel vor Ort. Die Story zeich-
nete die rein weibliche Gruppe als harmlose Naturverehrer, die
im Rund tanzen und um den Segen aus Norden, Westen und so
weiter bitten. Darauf folgte ein langer Leserbrief, der sich über
die Naivität und Unwissenheit des Autors dieser Hexenstory
beklagte. Hexen steckten mit Satan unter einer Decke, so der
Schreiber des Briefes, der mit "ein Überlebender von satanisti-
schem Ritualmissbrauch" zeichnete. Die Aufrichtigkeit des
Briefes scheint derjenigen zu entsprechen, die die Frauen von
Salem an den Tag legten, die ihre Hexerei eingestanden. Sind
die modernen Opfer des Satanismus so verwirrt wie die Hexen
früherer Zeiten, die von frommen Christen gejagt wurden und
wirklich glaubten, sie seien so böse wie ihre Verfolger mein-
ten? Sind die modernen Wiccaner Teil einer satanischen Ver-
schwörung? Ich bezweifle es. Sollte es wirklich Christen ge-
ben, die von Satansjüngern systematisch misshandelt werden,
so sind ihre Quälgeister mit Sicherheit nicht Teil einer inter-
nationalen Wicca-Verschwörung.
Übersetzung: Tobias Budtke

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