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Reflektionen zum Buchauszug „Das wohltemperierte Gehirn“, Kapitel 8, „Vom Schall zum

Hören“ von Robert Jordaine

Das siebzehn Seiten umfassende Kapitel bietet eine Fülle unterschiedlicher Ansätze zu
Wirkungsweisen von Musik auf Denken und Verhalten der Menschen. Begonnen wird mit der
Darstellung völlig unterschiedlicher Rezeptionsweisen von Musik in unterschiedlichsten
Kulturkreisen weltweit, wobei die Hörgewohnheiten in Industrienationen mit denen in
archaischen Gesellschaftsformen verglichen bzw. gegenüber gestellt werden.
Jordaine beschreibt die Entwicklung zur heutigen Musikindustrie in Europa seit dem
Mittelalter. Ausgehend von der reinen Volksmusik, der Entwicklung einer komplexeren
Kirchen- und Kunstmusik, Bildung erster Orchester, Beginn der Konzertkultur im 17. Jhdt
etc.
Mit der Industrialisierung ab dem beginnenden 19. Jhdt und der, breiteren
Bevölkerungsschichten zugänglichen, Opern entwickelte sich zum Ende des 19. Jhdts ein mit
heute zu vergleichendes Rezeptionsmuster: Zuwendung und Konzentration auf die
musikalische Darbietung, also den reinen Klang. Diese weitere Entwicklung der Musik zu
einem Massengut wurde durch technische Fortschritte im 20. Jhdt weiter unterstützt und
voran getrieben: Entwicklung des Grammophons, der Schellackplatte,
Rundfunkübertragungen, weitere Medien zu Aufnahme, Konservierung, Vervielfältigung und
Rezeption von Musik. Die Fortentwicklung der medialen Ansätze durch künstliche Intelligenz
werden in dem Kapitel (Erscheinungsdatum 2009) nicht weiter vertieft. Nach Jordaine leben
wir mittlerweile in einem Zeitalter der musikalischen Völlerei. Bedeutet: Musik ist jederzeit
und überall verfügbar, wird passiv im Hintergrund konsumiert oder aktiv gehört um
Stimmungen zu provozieren/ zu vertiefen. Die emotionalen Reflexe des Musikgenusses
werden bewusst gesteuert durch den Verbreitenden (z.B.Werbung) oder den Rezipienten
(Weltanschauung verstärken, emotionale Bestätigung).
An diesem Punkt der Beschreibung des Autoren erfolgt ein Paradigmenwechsel dahingehend,
dass die veränderten Hörgewohnheiten des Publikums anhand neurologischer Funktionsketten
erklärt und deren Auswirkungen auf kompositorische Herausforderungen erläutert werden
(Musik und Aufmerksamkeit, Bedeutung der Bass-, Melodie- und Mittelstimme,
Antizipatinsfunktionen des Gehirns etc) Hier erfolgt nach meiner Empfindung ein inhaltlicher
Bruch im Kapitel. Wurde bislang die sich in der Historie verändernden Hörgewohnheiten und
deren Anforderungen an das Gehirn eher oberflächlich berührt und erwähnt, erfolgt nun eine
intensive Auseinandersetzung mit notwendigen oder vorhandenen kognitiven Präferenzen zur
musikalischen Rezeption und deren Deutung. Rhythmus, Harmonik, Melodie und Klang im
Spiegel kultureller Faktoren und deren Auswirkung auf zeitgenössische kompositorisches
Verhalten werden beschrieben.
Es folgt eine Exkursion zur Begrifflichkeit des zeitgenössischen Musikgeschmackes
(Musikalische Präferenz). Dieser soll von einem Grossteil der Bevölkerung in der Pubertät
entwickelt und in der Regel dann beibehalten werden (Macht der Gewohnheit).
Den Abschluss des Kapitels bildet eine Beschreibung zur grundsätzlichen Frage: Wie hören
Profis? Jourdain, selbst Wissenschaftler, Wissenschaftsjournalist, Pianist und Komponist
beschreibt die Notwendigkeit für heutige, in der Musik professionel, Tätige, die
Antizipationsfähigkeiten des eigenen Gehirns zu erweitern, Langzeitgedächtnis zu
entwickeln, Schulung des auditorischen Cortex zu betreiben/zu fordern, verschiedene
Gehirnarreale zu beanspruchen etc. Diese Erweiterung hirnorganischer Funktionen und ihr
Ausdruck in kompositarischer Tätigkeit trägt aber auch immer den Widerspruch zum
Publikum in sich, dass selten bereit ist sich neue Hörgewohnheiten über Zeit und Repetition
anzueignen. Der Schlusssatz des Kapitels: „Musik ist niemals besser als das Publikum, dass
ihr lauscht“, ist im Kern richtig, aber, und dies als meine persönliche Stellungnahme, in
Zeiten wo Musik so frei und umfänglich zur Verfügung steht wie im Internet, auch trügerisch.
Die Möglichkeiten neuer, gewagter oder ungewöhnlicher Musik heutzutage ein Publikum zu
finden, waren noch nie so groß.

Resumee:
Viele Informationen aus dem Kapitel waren mir neu, haben aufhellend zu bestimmten eigenen
Reflektionen gewirkt oder neue Denkansätze geliefert. Ohne das gesamte Buch zu kennen,
vor allem die vorhergehenden Kapitel, sind mir aber die inhaltlichen Vernetzungen und
Sinnbezüge des Autors teilweise zu schnell kommuniziert und ihr Zusammenhang als
Erkenntnis vorausgesetzt.

Hi, 03.05.2020

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