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Geißler
In Europa w urde einstm als jenes Verständnis von „Z e it" e n tw icke lt, das zur Technik der
Z eitkontrolle, der Zeitm essung und der Zeiteinteilung führte. Hier w urde die „Z e it"
erstm alig zum Thema gem acht. Europa w a r der Dynamo (nicht zufällig ist dies ja auch eine
europäische Erfindung), fü r die immense Beschleunigung dieser W elt und fü r das moderne
Programm der Beschleunigung von bereits Beschleunigtem . Doch muss man bei dieser
Behauptung über einige Tatsachen hinwegsehen. Die Babylonier, das alte China, die
Ä gypter, die Inka und die Maya, alle diese frühen Kulturvölker, beschäftigten sich bereits
w e it eher als die Europäer m it der „Z e it". Dort kannte man hochdifferenzierte Zeitberech
nungssysteme, man erstellte Kalender und plante auf deren Grundlage ein reiches, kultisch
gestaltetes Leben. Davon haben die Europäer profitiert. Ohne diese Vorläufer wäre die „Kon
junktur der Zeit" in Europa nicht zum Blühen gekommen. Aber es ist eine weitgehend unstrittige
R eferat bei den M ille nn iu m -T a ge n Kassel, 1 9 9 9 . Zum Them a g run d sä tzlich : Karlheinz A . G eißler, Z e it - V e rw e ile d och , du b ist
so schön, W einh e im /B e rlin 1 9 9 8 ; Karlheinz A . G eißler, V om T em po der W e lt - A m Ende der U hrzeit, Freiburg 1 9 9 9 .
Tatsache, dass jene Zeiten, die heute den globalen W andel maßgeblich bestim m en, von
europäischen Entdeckungen, Entw icklungen und Erkenntnissen ausgingen.
N icht immer haben die Europäer so über Zeit gedacht, und nicht immer haben
Menschen ihren A lltag zeitlich so gestaltet w ie die „gehetzten Zeitsparer" an der W ende
zum dritten nachchristlichen Jahrtausend. M it den Zeiten haben sich die Zeiten geändert.
W ill man die E ntw icklung unseres Zeitverständnisses auf eine Kurzformel bringen, so
ste llt sie sich Folgendermaßen dar : Zuerst fanden w ir die Zeit in der Natur und am
gestirnten Himmel über uns, dann in den Uhren und bei den Glocken und heute entdecken
w ir sie in Zeitplansystem en, Zeitvorträgen und Zeitsym posien und nicht zuletzt auch in
Büchern über Zeit.
W ie geht es aber w e ite r m it der „Z e it" und unserem Umgang m it dem, was w ir so
nennen? W elche „Z e ite n " machen in Z ukunft Geschichte?
- Die T ransportgesch w indigkeit unserer w ich tig ste n Güter, der Inform ationen, ist bei
Lichtgeschw indigkeit und dam it am Ende der Beschleunigung angekommen.
- Die Pünktlichkeitsm oral verliert an Akzeptanz. Sie w ird im m er deutlicher von der
Flexibilitätsm oral abgelöst.
Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Uhrzeit ihr Monopol als bestimmendes
Zeitm aß fü r das Leben und Arbeiten verliert. Das aber heißt : Die bisher gültige Zeitordnung
steh t zur Disposition. Jene, die die Uhr fü r zeitlos hielten, haben sich getäuscht.
O rientiert an den erw ähnten Indizien, w ill ich meine These vom Epochenwandel der
Zeitorientierung verdeutlichen.
Von w eiterer Beschleunigung ist daher in Z ukunft kein Impuls fü r das w irtsch a ftlich e
W achstum mehr zu erw arten. Sie ist nicht mehr länger ein Instrum ent, um
W ettbew erbsvorte ile zu erlangen. Da der Zeitvorsprung technisch zunichte gem acht
w urde, gibt es fü r die Uhren nichts mehr zu messen. Aus Zeitvorsprüngen, die nicht mehr
existieren, kann auch kein Profit mehr gezogen werden. Für jene, die m it
Lichtgeschw indigkeit konkurrieren, ist es sinnlos geworden, schneller als der Konkurrent
sein zu w ollen. Es gew innen alle, oder, w as w ahrscheinlicher ist, es g e w innt keiner.
Es kom m t einem heute häufiger als früher einmal „w a s dazw ischen". Deshalb auch
sind es neuerdings nicht mehr die Pünktlichen, sondern die Flexiblen, die im Berufsleben
Karriere machen. Denn jene, die immer pünktlich sind, kommen bei den heutigen flexiblen Zustän
den und Situationen im m er häufiger zu spät. Wie etw a diejenigen nicht rechtzeitig
kommen, die pünktlich zu Beginn des Sommer- oder W interschlussverkaufsterm ins ein
verbilligtes Kleidungsstück erwerben w ollen. Sie müssen sich m it jenen Resten abfinden,
die die Flexiblen übrig gelassen haben. Und alle diejenigen, die bei einem Fest pünktlich
kommen, die sind, das w issen erfahrene Gäste, zu früh.
Die Maxime postm odernen Zeithandelns ist es, zum richtigen, nicht unbedingt zum
vereinbarten Z eitpunkt zu erscheinen. Das nun ist nicht etw a ein Verfall der Zeit-M oral,
das ist eine andere Zeit-M oral. W er diese v e rtritt, kann sich auf Oscar W ilde berufen, der
uns darauf aufm erksam m achte, dass uns die P ünktlichkeit die beste Zeit stiehlt. Die
Probleme m it der U npünktlich keit nehmen also heute ab. Das entlastet viele. Dafür w ächst
die B efürchtung, nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit die Telefonnum m er des
gew ünschten Gesprächspartners zur Hand zu haben.
W er aber trotzdem w eiterhin großen W ert auf Pünktlichkeit legt, w ird viel alleine sein.
Ja, und?
Die dem onstrative G leichm äßigkeit des Zeitverlaufs der mechanischen Uhren, deren
U nabhängigkeit vom W etter, ihre Ignoranz gegenüber Helligkeit und Dunkelheit und ihre
Distanz zu den wechselnden Jahreszeiten, verleiten zu folgenschw eren Illusionen. N icht
selten fallen w ir der unrealistischen V orstellung zum Opfer, die Zeit sei geregelt, sie sei
berechen- und in kleinste A b s c h n itt aufteilbar. Spätestens w enn w ir das Leben leben
w ollen, erfahren w ir, dass es sich auf der Basis dieser Prinzipien nicht organisieren lässt.
Das Leben kann man nicht so einrichten „w ie der Turner den Handstand" (Kafka). Wer die Tage,
die Monate, die Jahre ausschließlich nach der Uhrzeit plant und realisiert, schränkt das Leben in
dessen E ntfaltungsm öglichkeiten entscheidend ein. Die Uhr ist, obgleich w ir immer w ieder
behaupten, sie „g e h t", ein to te r Gegenstand. Eine Gesellschaft, insbesondere aber eine
W irts c h a ft, die auf e ntw icklung sorientiertes und schöpferisches Denken und Handeln
angewiesen ist, kann nicht ausschließlich der Logik des gleichm äßigen und des
gleichm achenden U hrentaktes folgen.
Was tun?
Aus meiner Sicht gibt es Gründe genug, auch aus ökonom ischer Sicht, über sinnvolle
A lternativen zur M onokultur von Uhrzeit und Beschleunigung nachzudenken. Solche
bestehen etw a in folgenden drei Perspektiven :
a) Zeitwohlstand
Zeitw ohlstand ist als eine Form der Lebensqualität zu verstehen und als Indikator in die
einschlägigen W ohlstandsberechnungen aufzunehm en.
Eine G esellschaft ist unter dieser Perspektive reich, w enn sie nicht nur viele Waren
und Güter produziert und besitzt, sondern auch viele Zeitform en zulässt und realisiert.
W enn sie ihren M itgliedern beispielsweise vielfältige M öglichkeiten e rö ffnet, Eigenzeiten zu
leben, elastisch m it Zeitvorgaben umzugehen, das erw ünschte Tempo im A lltag zu
beeinflussen, sich und ihr Umfeld rhythm isch zu organisieren und ihre Z eitsouveränität im
Arbeitsprozess zu erhöhen. Das Z eitw ohlstandskonzept m acht m it der von Nietzsche
geäußerten Ermahnung ernst, im Menschen mehr als nur ein geldverdienendes Wesen zu
sehen. Es e rw e ite rt unseren engen individualistischen W ohlstandsbegriff, der sich im
Immer-mehr, Im m er-öfter, Im m er-schneller und Immer-neuer erschöpft.
Eigentlich w eiß doch jeder M ensch, was Zeitw ohlstand ist und w ie er gelebt werden
könnte. Er nim m t sich nur zu w enig Zeit dafür, dieses W issen in Taten umzusetzen.
Der Mensch ist als Teil der Natur in seinem Denken und Handeln nicht frei. In
ökologischer Sicht ist er grundsätzlich abhängig. Er ist an die Prozessabläufe der Natur
gebunden. Das m erkt er beim Ä lterw erden, spätestens beim Nahen des Todes. Menschen
leben in Z eitrhythm en, die durch die innere und durch die äußere Natur bestim m t werden
(z.B. durch Tages- und Jahresrhythm en). Sie sind in ihrem zeitlichen Handeln
notw endigerw eise an die Zeitm uster des Lebendigen gebunden, w ollen sie selbst lebendig
sein und auch lebendig bleiben.
Es ist daran zu erinnern, dass bei allem Streben, sich m ithilfe der Technik von den
Zeitmaßen und den Rhythmen der Natur abzukoppeln, die Menschen nach w ie vor
Naturw esen sind und dies auch bleiben. Es gilt daher, bei der zeitlichen Gestaltung unseres
Lebens, stärker als bisher, die N aturgebundenheit des Menschen und dam it auch die
Einbettung allen W irtscha ften s in den allgemeinen Naturzusammenhang zu berück
sichtigen. Denn immer mehr Pflanzen und Ökosystem e, deren zeitliche V ie lfa lt einge
schränkt w erden, sterben ab, z.B. durch Krankheiten, Schädlinge oder durch das so
genannte „U m kipp e n". Eine „Ö kologie der Z e it" könnte sow ohl die Einzelnen als auch die
G esellschaft beim Finden der rechten Zeitmaße einen S chritt voranbringen.
Die Rio-Erklärung der UN-Konferenz fü r U m w elt und Entw icklung (1992) (Agenda 21)
fo rd e rt eine Politik, die darauf hinausläuft, die Zeiten der Ökonomie denen der Natur
anzunähern. Die ökologisch orientierten Lebensstil- und Politikkonzepte, die m it den
Begriffen der „N a ch h a ltig k e it", der „V o rso rg lich ke it" und der „Z u ku n ftsve rträ g lich ke it"
argum entieren, weisen deutlich in diese Richtung. Das von allen Inhalten abstrahierende
Maß der Uhrzeit lässt sich m it den Anforderungen an N achhaltigkeit und ökologische
Einbettung nich t vereinbaren.
Daraus ist im H inblick auf eine „Ö kologie der Z e it" die Forderung nach dem Schutz
unterschiedlicher Zeitmaße und vielfältiger Zeitform en abzuleiten. A ngesichts der
generellen Bedrohungen, speziell der ökologischen, der die M enschheit ausgesetzt ist,
muss es eine ihrer primären Aufgaben sein, die unterschiedlichen Zeiten w ieder in den
A lltag zu integrieren.
Der M ensch m acht seit 5 0 0 Jahren Zeit-G eschichte. Aber er w eiß nicht, was dabei
herauskom m t. Und w eil er es nicht w eiß, ist Z e itvie lfa lt besser als eine zeitliche
M onokultur. W ie diese Z e itvie lfa lt aber aussehen soll, das gilt es immer neu zu diskutieren
und zu entscheiden. Dazu sollten w ir uns Zeit nehmen.