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Karlheinz A.

Geißler

Am Ende des Zeitvorsprungs


Neue Zeitformen für eine neue Zeitku ltur*

Prof. Dr. Karlheinz A . Geißler, geb. 1 9 4 4 in D euerlingen/O berpfalz, S tu d iu m der


Philosophie, Ö konom ie u n d Pädagogik in M ünchen, Lehrer an beru fsb ild e n d en
Schulen, F orschungs- u n d L e h rtä tig ke ite n in Karlsruhe, A u g sb u rg , M ünchen, le h rt
W irts c h a fts - u n d S ozialpädagogik an der U n ive rsitä t der B u n d e sw e h r in M ün ch e n ;
G astprofessuren u.a. in Linz, Bremen, Innsbruck.

Trotz m assenhafter gegenteiliger Aussagen, Feststellungen und Klagen behaupte ich : W ir


haben genug Zeit. Der Beleg : Niemals zuvor in der Zeitgeschichte haben w ir uns so viel
Gedanken über die Zeit gem acht, niemals wurden so viele Bücher über sie geschrieben, so
viele Vorträge und V eranstaltungen zum Thema „Z e it" organisiert. Paradox am heute
herrschenden und vielfach beklagten Zeitdruck ist, dass er die Menschen dazu tre ib t, sich
fü r die Zeit sehr viel Zeit zu nehmen.

W ir Kinder der Zeit

In Europa w urde einstm als jenes Verständnis von „Z e it" e n tw icke lt, das zur Technik der
Z eitkontrolle, der Zeitm essung und der Zeiteinteilung führte. Hier w urde die „Z e it"
erstm alig zum Thema gem acht. Europa w a r der Dynamo (nicht zufällig ist dies ja auch eine
europäische Erfindung), fü r die immense Beschleunigung dieser W elt und fü r das moderne
Programm der Beschleunigung von bereits Beschleunigtem . Doch muss man bei dieser
Behauptung über einige Tatsachen hinwegsehen. Die Babylonier, das alte China, die
Ä gypter, die Inka und die Maya, alle diese frühen Kulturvölker, beschäftigten sich bereits
w e it eher als die Europäer m it der „Z e it". Dort kannte man hochdifferenzierte Zeitberech­
nungssysteme, man erstellte Kalender und plante auf deren Grundlage ein reiches, kultisch
gestaltetes Leben. Davon haben die Europäer profitiert. Ohne diese Vorläufer wäre die „Kon­
junktur der Zeit" in Europa nicht zum Blühen gekommen. Aber es ist eine weitgehend unstrittige

R eferat bei den M ille nn iu m -T a ge n Kassel, 1 9 9 9 . Zum Them a g run d sä tzlich : Karlheinz A . G eißler, Z e it - V e rw e ile d och , du b ist
so schön, W einh e im /B e rlin 1 9 9 8 ; Karlheinz A . G eißler, V om T em po der W e lt - A m Ende der U hrzeit, Freiburg 1 9 9 9 .
Tatsache, dass jene Zeiten, die heute den globalen W andel maßgeblich bestim m en, von
europäischen Entdeckungen, Entw icklungen und Erkenntnissen ausgingen.

N icht immer haben die Europäer so über Zeit gedacht, und nicht immer haben
Menschen ihren A lltag zeitlich so gestaltet w ie die „gehetzten Zeitsparer" an der W ende
zum dritten nachchristlichen Jahrtausend. M it den Zeiten haben sich die Zeiten geändert.

W ill man die E ntw icklung unseres Zeitverständnisses auf eine Kurzformel bringen, so
ste llt sie sich Folgendermaßen dar : Zuerst fanden w ir die Zeit in der Natur und am
gestirnten Himmel über uns, dann in den Uhren und bei den Glocken und heute entdecken
w ir sie in Zeitplansystem en, Zeitvorträgen und Zeitsym posien und nicht zuletzt auch in
Büchern über Zeit.

W ie geht es aber w e ite r m it der „Z e it" und unserem Umgang m it dem, was w ir so
nennen? W elche „Z e ite n " machen in Z ukunft Geschichte?

W ir befinden uns in einem temporalen Epochenwandel


Meine Ausgangsthese behauptet, dass w ir heute vor einem ähnlichen Epochenwandel des
Zeitbew usstseins und des Zeithandels stehen w ie vor etw a 5 00 Jahren als die Naturzeit
durch die Uhrzeit abgelöst w urde. Dazu einige Beobachtungen, die ich als Indizien dieser
Veränderung verstanden w issen m öchte. Sie zeigen, dass das bis vor kurzem noch relativ
unum strittene moderne Zeitverständnis, das sich am Uhrzeitm aß orientierte, ins W anken
gerät.

Dazu gehören folgende sichtbare A u ffälligkeite n :

- Die vielen, ehemals im öffentliche n Raum angebrachten Uhren verschw inden


zunehmend.

- Die T ransportgesch w indigkeit unserer w ich tig ste n Güter, der Inform ationen, ist bei
Lichtgeschw indigkeit und dam it am Ende der Beschleunigung angekommen.

- Die Pünktlichkeitsm oral verliert an Akzeptanz. Sie w ird im m er deutlicher von der
Flexibilitätsm oral abgelöst.

Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Uhrzeit ihr Monopol als bestimmendes
Zeitm aß fü r das Leben und Arbeiten verliert. Das aber heißt : Die bisher gültige Zeitordnung
steh t zur Disposition. Jene, die die Uhr fü r zeitlos hielten, haben sich getäuscht.

O rientiert an den erw ähnten Indizien, w ill ich meine These vom Epochenwandel der
Zeitorientierung verdeutlichen.

1. Das Ende des Beschleunigungsprogramms


Die absolute H errschaft der Uhrzeit gründet sich maßgeblich auf deren unum strittenen
Beitrag zur Beschleunigung der Lebens-, besonders aber der A rbeitsverhältnisse. Zw ar
haben auch die Dam pfm aschine, die Elektrizität, der Düsenantrieb und die Lasertechnik zur
Beschleunigung beigetragen, aber die Uhr nim m t innerhalb dieser Dynam ik eine ganz
besondere Rolle ein. M it ihrer maßgebenden U nterstützung w urden die Beschleunigung
und besonders die Beschleunigung der Beschleunigung messbar, kontrollierbar und w e itg e ­
hend auch beherrschbar. Das Uhrzeitmaß tra t an die Stelle kosm ischer und natürlicher
Maße. Erst mithilfe der Uhrzeit ließ sich Zeit gewinnen und verlieren. Diesbezüglich w ar man in
Mitteleuropa höchst erfolgreich. So erfolgreich, dass man heute am Ende der Beschleunigungs­
m öglichkeiten angekomm en ist. M it nicht mehr zu überbietender Lichtgeschw indigkeit
e rfolg t heute der T ransport unserer w ich tig ste n W irtsch a ftsg ü te r, der der Inform ationen.

Als dynam isches Prinzip dieser Beschleunigungsprozesse bis zu dessen natürlichem


Ende fungierte die von Benjamin Franklin vor mehr als 2 0 0 Jahren postulierte Verrechnung
von Zeit in Geld. Unter W ettbew erbsbedingungen hieß diese Formel jedoch nie „Z e it ist
G eld", sondern immer : „Z eitvorsprung ist Geld". Der Zeitvorsprung nämlich w ar es und ist
es, der über Gewinn und V erlust, über Erfolg oder Konkurs entscheidet. „Die „chronisch
immer sich selbst gleiche Sorge" des Kapitaleigners, term ingerecht und m öglichst schneller
zu produzieren und zu liefern als seine Konkurrenten, die Sorge um den Zuw achs von
Gewinn durch den V orteil, „eher am M a rkt" zu sein, lässt die „Z e it zur knappen Ressource
w erden" (Elias). Diese Ressource ist w eitgehend ausgeschöpft.

Das natürliche (!) Endeder Beschleunigungsm öglichkeiten ist erreicht. Die


Börsenereignisse in N ew Y ork werden gleichzeitig, in so genannter „E ch tze it", in Frankfurt,
in Buenos Aires, inMoskau und Tokio wahrgenom m en. Es gibt also keinen
Inform ationsvorsprung, keinen durch räum liche Distanzen verursachten Zeitunterschied
mehr. Es ist die Lichtgeschw indigkeit, die uns allen den in der Moderne bisher nicht
gekannten Zw ang zum „G enug" auferlegt.

Von w eiterer Beschleunigung ist daher in Z ukunft kein Impuls fü r das w irtsch a ftlich e
W achstum mehr zu erw arten. Sie ist nicht mehr länger ein Instrum ent, um
W ettbew erbsvorte ile zu erlangen. Da der Zeitvorsprung technisch zunichte gem acht
w urde, gibt es fü r die Uhren nichts mehr zu messen. Aus Zeitvorsprüngen, die nicht mehr
existieren, kann auch kein Profit mehr gezogen werden. Für jene, die m it
Lichtgeschw indigkeit konkurrieren, ist es sinnlos geworden, schneller als der Konkurrent
sein zu w ollen. Es gew innen alle, oder, w as w ahrscheinlicher ist, es g e w innt keiner.

W enn Zeitvorsprünge fü r Geldgewinne maßgeblich ve rantw ortlich sind und diese


grundsätzlich nicht mehr realisierbar sind, dann stellen sich neue und überraschende
Fragen : „G ibt es andere Z eitform en, die profitabel gem acht werden können?" „Existieren
jenseits der Uhrzeit Zeiten und Zeitm aße, die fü r die Entw icklung der Gesellschaft, der
Kultur und der Ökonomie nützlich sein könnten?" Oder noch radikaler : „W ie sähe eine W elt
und w ie sähe deren W irts c h a ft aus, die sich nicht mehr an der Uhrzeit orientierten?"
Sollten w ir nicht nur zw ischen verschiedene Uhren, sondern auch zwischen
unterschiedlichen Zeiten wählen können?

2. Das Ende des Zeitalters der Pünktlichkeit


W er sich von der Alltagshetze nicht m itreißen lässt und sich Zeit nim m t, etw as genauer
hinzusehen, w ird bemerken, dass heutzutage jene Menschen, die pünktliches Verhalten
von anderen und von sich selbst verlangen, nicht mehr allzu jung aussehen. Für viele
Jugendliche ist P ünktlichkeit anscheinend keine jener W erthaltungen mehr, die sie fü r
besonders w ic h tig halten. Flexibilität erw arten sie, aber Pünktlichkeit? W arum eigentlich?
Wozu? Zur Flexibilität gehört es zw ar, dass man auch einmal pünktlich ist, aber ebenso
zählt dazu, dass es kein Problem darstellt, w enn man es nicht ist. W enn diese
Beobachtung generalisierbar ist, dann geht das „Z e ita lte r der P ünktlichkeit" seinem Ende
entgegen.

Es kom m t einem heute häufiger als früher einmal „w a s dazw ischen". Deshalb auch
sind es neuerdings nicht mehr die Pünktlichen, sondern die Flexiblen, die im Berufsleben
Karriere machen. Denn jene, die immer pünktlich sind, kommen bei den heutigen flexiblen Zustän­
den und Situationen im m er häufiger zu spät. Wie etw a diejenigen nicht rechtzeitig
kommen, die pünktlich zu Beginn des Sommer- oder W interschlussverkaufsterm ins ein
verbilligtes Kleidungsstück erwerben w ollen. Sie müssen sich m it jenen Resten abfinden,
die die Flexiblen übrig gelassen haben. Und alle diejenigen, die bei einem Fest pünktlich
kommen, die sind, das w issen erfahrene Gäste, zu früh.

W enn kurzfristige W echselfälle im Leben und im Arbeitsprozess zunehmen, dann ist


es w ich tig e r, auf das U nerw artete reagieren zu können, als an angelernten,
situationsunabhängigen Tugenden w ie der der P ünktlichkeit festzuhalten. W er ad-hoc und
spontan organisiert und variabel reagiert, kann nicht immer pünktlich sein. Daher w ird
auch nicht mehr gefordert pünktlich zu sein, man muss am Punkt sein. Kalkulierte und
kalkulierbare U npünktlich keit tr itt an die Stelle der ehemals m oralisch hoch aufgeladenen
P ünktlichkeitserw artung. Das „N icht-P ünktlich-S ein" ist schon allein deshalb kein
stra fw ü rd ig e r und verachtensw e rter Tatbestand mehr, w eil das Zuspätkom m en in einer
sich immer rascher verändernden W elt zum Norm alzustand wurde. Kommen aber alle
im m er häufiger zu spät, lä u ft die P ünktlichkeitserw artung leer. Sie w andelt sich zur immer
w ährenden H offnung, früh genug zu spät zu kommen.

Die Maxime postm odernen Zeithandelns ist es, zum richtigen, nicht unbedingt zum
vereinbarten Z eitpunkt zu erscheinen. Das nun ist nicht etw a ein Verfall der Zeit-M oral,
das ist eine andere Zeit-M oral. W er diese v e rtritt, kann sich auf Oscar W ilde berufen, der
uns darauf aufm erksam m achte, dass uns die P ünktlichkeit die beste Zeit stiehlt. Die
Probleme m it der U npünktlich keit nehmen also heute ab. Das entlastet viele. Dafür w ächst
die B efürchtung, nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit die Telefonnum m er des
gew ünschten Gesprächspartners zur Hand zu haben.

W er aber trotzdem w eiterhin großen W ert auf Pünktlichkeit legt, w ird viel alleine sein.

Ja, und?

Die S chattenseiten des bisher handlungsbestim m enden einheitlichen Uhrzeitmaßes


w erden o ffe n sichtlich . M it den heute vielfach geäußerten Deregulierungs- und
Flexibilitätsm axim en sind ökonom ische W achstum s- und lebensw eltliche
Freiheitshoffnungen verknüpft. M it diesen aber steht auch die einheitlich regulierte,
standardisierte Zeit der Uhr zur Disposition. W enn alles so ist w ie es ist, alles aber auch
anders sein könnte, dann gilt dies auch fü r die Uhrzeit; dann verlieren die Zeiger ihr
bisheriges M onopol bei der Zeitansage. A lternativen erscheinen plötzlich m öglich; und sie
w erden auch gesucht. Neue, manchmal überraschende und verw irrende, aber auch
anregende Fragen sind zu hören : Liefert das Zeitm aß der Uhr nicht vielleicht zu
einengende, zu w enig flexible Vorgaben fü r das individuelle, fü r das soziale und fü r das
gesellschaftliche Handeln? Sind P ünktlichkeit, Berechenbarkeit und Exaktheit, die Maximen
der Uhrzeit, fü r die Gestaltung produktiver Lebens- und Arbeitsprozesse auch w eiterhin
sinnvolle O rientierungsmarken? In w elchem Ausm aß schränkt die Uhr die M öglichkeiten
des Handelns und des Erkennens ein? Solche Fragen entstehen nicht ohne aktuellen
Erfahrungshintergrund.

Die dem onstrative G leichm äßigkeit des Zeitverlaufs der mechanischen Uhren, deren
U nabhängigkeit vom W etter, ihre Ignoranz gegenüber Helligkeit und Dunkelheit und ihre
Distanz zu den wechselnden Jahreszeiten, verleiten zu folgenschw eren Illusionen. N icht
selten fallen w ir der unrealistischen V orstellung zum Opfer, die Zeit sei geregelt, sie sei
berechen- und in kleinste A b s c h n itt aufteilbar. Spätestens w enn w ir das Leben leben
w ollen, erfahren w ir, dass es sich auf der Basis dieser Prinzipien nicht organisieren lässt.
Das Leben kann man nicht so einrichten „w ie der Turner den Handstand" (Kafka). Wer die Tage,
die Monate, die Jahre ausschließlich nach der Uhrzeit plant und realisiert, schränkt das Leben in
dessen E ntfaltungsm öglichkeiten entscheidend ein. Die Uhr ist, obgleich w ir immer w ieder
behaupten, sie „g e h t", ein to te r Gegenstand. Eine Gesellschaft, insbesondere aber eine
W irts c h a ft, die auf e ntw icklung sorientiertes und schöpferisches Denken und Handeln
angewiesen ist, kann nicht ausschließlich der Logik des gleichm äßigen und des
gleichm achenden U hrentaktes folgen.

Allzusehr haben sich die Menschen in M itteleuropa und in Nordamerika, zunehmend


aber auch in den übrigen Ländern der W elt, an die S cheinautorität der Uhrzeit gew öhnt.
Verloren ging dabei der Blick auf die M öglichkeiten einer zeitlichen V ie lfa lt und der auf
alternative zeitliche Handlungsform en. So schauen w ir, w enn w ir auf die „Z e it" schauen,
re fle xha ft auf die Uhr, und w enn w ir jem andem „Z e it" schenken w ollen, gehen w ir in ein
Uhrengeschäft. Das ist in flexiblen Zeiten ziemlich unflexibel.

Was tun?

Aus meiner Sicht gibt es Gründe genug, auch aus ökonom ischer Sicht, über sinnvolle
A lternativen zur M onokultur von Uhrzeit und Beschleunigung nachzudenken. Solche
bestehen etw a in folgenden drei Perspektiven :

a) Zeitwohlstand
Zeitw ohlstand ist als eine Form der Lebensqualität zu verstehen und als Indikator in die
einschlägigen W ohlstandsberechnungen aufzunehm en.

Eine G esellschaft ist unter dieser Perspektive reich, w enn sie nicht nur viele Waren
und Güter produziert und besitzt, sondern auch viele Zeitform en zulässt und realisiert.
W enn sie ihren M itgliedern beispielsweise vielfältige M öglichkeiten e rö ffnet, Eigenzeiten zu
leben, elastisch m it Zeitvorgaben umzugehen, das erw ünschte Tempo im A lltag zu
beeinflussen, sich und ihr Umfeld rhythm isch zu organisieren und ihre Z eitsouveränität im
Arbeitsprozess zu erhöhen. Das Z eitw ohlstandskonzept m acht m it der von Nietzsche
geäußerten Ermahnung ernst, im Menschen mehr als nur ein geldverdienendes Wesen zu
sehen. Es e rw e ite rt unseren engen individualistischen W ohlstandsbegriff, der sich im
Immer-mehr, Im m er-öfter, Im m er-schneller und Immer-neuer erschöpft.

A u f w ie viel Lebensstandard müssen w ir verzichten, um unsere Lebensqualität zu


erhöhen? Eine Frage, die uns dann, w enn w ir g e w illt sind, sie zu stellen und zu
beantw orten, notw endigerw eise zum Thema des Z eitw ohlstandes führt.

Eigentlich w eiß doch jeder M ensch, was Zeitw ohlstand ist und w ie er gelebt werden
könnte. Er nim m t sich nur zu w enig Zeit dafür, dieses W issen in Taten umzusetzen.

b) Kultur der Zeitvielfalt


Es geht bei der Entw icklung einer Kultur der Z e itvie lfa lt nicht darum, die Beschleunigung
durch die Verlangsam ung zu ersetzen. Anzustreben ist vielm ehr der Erhalt m annigfaltiger
Zeitform en und die Fähigkeit, sie in ihrer W irksam keit zu erkennen, zu kultivieren und sie
prod u ktiv zu nutzen. W er alle verfügbare Zeit in Geld verrechnet, spart letztlich w eder Geld
noch Zeit. W ahrscheinlich verliert er beides. Nur unter ganz bestim m ten eingeschränkten
Bedingungen ist die Gleichung „Z e it ist Geld" nämlich w irklich produktiv. Bei
Kapitalanlagen g ilt sie zw eifelsohne, bei Grünanlagen nicht.
Reine Tem poversessenheit lässt sich ökonom isch nicht rational begründen. Die
tem porale V ie lfa lt dagegen schon. Sie sichert die notw endige Elastizität und S tabilität von
ökonom ischen, ökologischen und sozialen Systemen. Z e itvie lfa lt hat eine größere
Fehlerfreundlichkeit als das M onopol der Uhrzeit. Sie bietet mehr zeitliche Freiheitsgrade
und fü h rt zu höherer Zeitsouveränität. Z eitsouveränität heißt ja nichts anderes als
unterschiedliche Zeitform en leben, ertragen und koordinieren zu können und zwischen
ihnen frei wählen zu dürfen. W er nur unterschiedliche A rten der Beschleunigung
beherrscht und sich ausschließlich zwischen diesen entscheidet, zeigt sich nicht
zeitsouverän. Zeitsouveräne Menschen entscheiden nicht nur zw ischen Zeitgew innen oder
Zeitverlusten, ihnen geht es im m er auch um die Entscheidungen zwischen
unterschiedlichen Geschehnissen und Erfahrungen und den dazugehörenden Zeiten.

c) Ökologie der Zeit


An diesem Programm arbeite ich m it 4 Kolleginnen und Kollegen seit 10 Jahren an der
Evangelischen Akadem ie Tutzing.

Der Mensch ist als Teil der Natur in seinem Denken und Handeln nicht frei. In
ökologischer Sicht ist er grundsätzlich abhängig. Er ist an die Prozessabläufe der Natur
gebunden. Das m erkt er beim Ä lterw erden, spätestens beim Nahen des Todes. Menschen
leben in Z eitrhythm en, die durch die innere und durch die äußere Natur bestim m t werden
(z.B. durch Tages- und Jahresrhythm en). Sie sind in ihrem zeitlichen Handeln
notw endigerw eise an die Zeitm uster des Lebendigen gebunden, w ollen sie selbst lebendig
sein und auch lebendig bleiben.

Es ist daran zu erinnern, dass bei allem Streben, sich m ithilfe der Technik von den
Zeitmaßen und den Rhythmen der Natur abzukoppeln, die Menschen nach w ie vor
Naturw esen sind und dies auch bleiben. Es gilt daher, bei der zeitlichen Gestaltung unseres
Lebens, stärker als bisher, die N aturgebundenheit des Menschen und dam it auch die
Einbettung allen W irtscha ften s in den allgemeinen Naturzusammenhang zu berück­
sichtigen. Denn immer mehr Pflanzen und Ökosystem e, deren zeitliche V ie lfa lt einge­
schränkt w erden, sterben ab, z.B. durch Krankheiten, Schädlinge oder durch das so
genannte „U m kipp e n". Eine „Ö kologie der Z e it" könnte sow ohl die Einzelnen als auch die
G esellschaft beim Finden der rechten Zeitmaße einen S chritt voranbringen.

Die Rio-Erklärung der UN-Konferenz fü r U m w elt und Entw icklung (1992) (Agenda 21)
fo rd e rt eine Politik, die darauf hinausläuft, die Zeiten der Ökonomie denen der Natur
anzunähern. Die ökologisch orientierten Lebensstil- und Politikkonzepte, die m it den
Begriffen der „N a ch h a ltig k e it", der „V o rso rg lich ke it" und der „Z u ku n ftsve rträ g lich ke it"
argum entieren, weisen deutlich in diese Richtung. Das von allen Inhalten abstrahierende
Maß der Uhrzeit lässt sich m it den Anforderungen an N achhaltigkeit und ökologische
Einbettung nich t vereinbaren.

Daraus ist im H inblick auf eine „Ö kologie der Z e it" die Forderung nach dem Schutz
unterschiedlicher Zeitmaße und vielfältiger Zeitform en abzuleiten. A ngesichts der
generellen Bedrohungen, speziell der ökologischen, der die M enschheit ausgesetzt ist,
muss es eine ihrer primären Aufgaben sein, die unterschiedlichen Zeiten w ieder in den
A lltag zu integrieren.

Der M ensch m acht seit 5 0 0 Jahren Zeit-G eschichte. Aber er w eiß nicht, was dabei
herauskom m t. Und w eil er es nicht w eiß, ist Z e itvie lfa lt besser als eine zeitliche
M onokultur. W ie diese Z e itvie lfa lt aber aussehen soll, das gilt es immer neu zu diskutieren
und zu entscheiden. Dazu sollten w ir uns Zeit nehmen.

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