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Günther Anders

Die Antiquiertheit
des Menschen 2
Über die Zerstörung des Lebens
im Zeitalter
der dritten industriellen Revolution

beckfejhe
GÜ N TH ER ANDERS

Die Antiquiertheit
des Menschen
Band, I I

Ü b e r d ie Z e r s t ö r u n g
des L eb en s
im Z e it a lte r
d e r d r it te n in d u s t r ie lle n
R e v o lu t io n

V E R L A G C .H .B E C K M Ü N C H E N
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Anders, Günther:
Die Antiquiertheit des Menschen / Günther Anders. -
München : Beck
Bd. 2. Anders, Cünther: Über die Zerstörung des Lebens im
Zeitalter der dritten industriellen Revolution. - 4., unveränd,
Aufl., Nachdr. - 1992
(Beck’sche Reihe ; Bd. 320)
ISBN 3 406 31784 7
NE: 2. GT

IS B N 3 406 31784 7

Nachdruck 1992 der 4„ unveränderten Auflage der Originalausgabe


Einbandentwurf von Uwe Göbel, München
© C.H .Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1980
Gesamtherstellung: C. H.Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier,
chlorfrei hergestellt
Printed in Germany
Es genügt nicht, die W elt zu verändern. D as tun w ir ohne­
hin. U n d weitgehend geschieht das sogar ohne unser Zutun.
W ir haben diese Veränderung auch zu interpretieren. Und
zw ar, um diese zu verändern. D am it sich die W elt nicht
w eiter ohne uns verändere. U nd nicht schließlich in eine
W elt ohne uns.
IN H A L T S V E R Z E IC H N IS

Vorwort ......................................................................... 9
Einleitung. Die drei industriellen Revolutionen . . 15

Die Antiquiertheit . . .
des Aussehens ..................................................... 34
des M aterialism us.................................................. 37
der Produkte ........................................................ 38
der Menschenwelt ............................................... 58
der M a s s e ............................................................... 79
der A r b e i t ............................................................... 9 1
der Maschinen ..................................................... 110
der philosophischen A n th ro p o lo g ie .................1 28
des Individuums ..................................................13 1
der Ideologien .................... ................................ 188
des K o n fo rm ism u s.............................................. 193
der Grenze ............................................................208
der P riv a th e it........................................................ 210
des S te rb e n s............................................................247
der Wirklichkeit ..................................................248
der F r e i h e it ............................................................2 59
der Geschichte . .................................................. 271
der Phantasie ......................................................... 3 1 6
der „Richtigen“ . .................................................. 334
von Raum und Z e i t ...............................................33 5
des Ernstes ............................................................3 5 5
des „Sinnes“ .........................................................362
der Verwendung ..................................................391
des Nichtkönnens ...............................................394
der Bosheit ............................................................396

Methodologische N a ch ged an k en ..............................4 1 1


A n m e rk u n g e n ............................................................... 431
VO RW O RT

Dieser zweite Band der „Antiquiertheit des Menschen“ ist, ebenso


wie der erste, eine Philosophie der Technik. Genauer: eine philo­
sophische Anthropologie im Zeitalter der Technokratie. Unter „Tech-
nokratie“ verstehe ich dabei nicht die Herrschaft von Technokraten
(so als wäre es eine Gruppe von Spezialisten, die heute die Politik
dominierten), sondern die Tatsache, daß die Welt, in der wir heute
leben und die über uns befindet, eine technische ist - was so weit geht,
daß wir nicht mehr sagen dürfen, in unserer geschichtlichen Situation
gebe es u. a. auch Technik, vielmehr sagen müssen: in dem „ Technik“
genannten Weltzustand spiele sich nun die Geschichte ab, bzw. die
Technik ist nun zum Subjekt der Geschichte geworden, mit der wir nur
noch „mitgeschichtlich“ sind.'
Das Buch behandelt nun die Veränderungen, die sowohl die Men­
schen als Individuen als auch die Menschheit als ganze durch dieses
Faktum durchgemacht haben und weiter durchmachen. Diese Verän­
derungen betreffen alle unsere Aktivitäten und Passivitäten, Arbeit wie
Muße, ebenso unsere intersubjektiven Beziehungen, sogar unsere (an­
geblich apriorischen) Kategorien. Wer heute noch die „ Veränderbar-
keit des Menschen“ proklamiert (wie es Brecht getan hatte), ist eine
gestrige Figur, denn wir sind verändert. Und diese Verändertheit des
Menschen ist so fundamental, daß, wer heute noch von seinem „W e­
sen“ spricht (wie es z.B . Scheler noch getan hatte), eine vorgestrige
Figur ist.
Wenn ich trotz dieser Tatsache nun von dem Portrait, das ich vom
gegenwärtigen Menschen zeichne, behaupte, daß es nicht nur den heu­
tigen abbilde, sondern auch den morgigen und übermorgigen treffe,
also in gewissem Sinne ein „ endgültiges Portrait“ sei, so tue ich das
nicht aus Anmaßung - im Gegenteil: des Fragmentarischen meines
Werks bin ich mir durchaus bewußt-, sondern allein deshalb, weil das
Stadium, das ich schildere: eben das der Technokratie, endgültig und
irrevokabel ist; weil dieses Stadium nämlich, sofern es nicht (wofür
vieles spricht) eines Tages zum „ Zeitenende“ führen wird, nicht mehr
durch ein anderes abgelöst werden kann, sondern stets „E ndzeit“ 1 sein
und bleiben wird. Und das heißt, daß wir Menschen nun in unserem
(neuerworbenen) „Wesen“ konstant bleiben werden. Ich sage: „neuer­
worben“ , weil diese „Konstanz“ natürlich keine unserer menschlichen
„N atur“ ist, sondern ein künstlicher Zustand, einer, in den wir Men­
schen uns selbst hineinmanövriert haben - wozu wir freilich nur des­
halb imstande waren, weil die Fähigkeit, unsere Welt - nein: nicht nur
unsere, sondern die Welt - und uns selbst zu verändern, paradoxer­
weise zu unserer „N atur“ gehört.3

Ich sage: dieser Band ist eine Philosophie der Technik. Das klingt
vielleicht so, als zeigte ich ein System an. Davon kann, wenn man unter
„System“ einen Rahmen versteht, in dem man nachträglich diejenigen
empirischen Fakten unterbringt, die mehr oder minder glatt in ihn
hineinpassen, keine Rede sein. Die empirischen Tatsachen sind stets
Ausgangspunkt gewesen. Von jedem der im Folgenden entwickelten
Gedankengänge gilt das, was ich schon von denen des ersten Bandes
gesagt hatte: daß sie „Gelegenheitsphilosophie“ seien; daß ich also stets
von bestimmten Erfahrungen ausgegangen bin - sei es von der Erfah­
rung der Arbeit am laufenden Band, sei es von der in Automationsbe­
trieben, sei es von denen auf Sportplätzen. In der Tat ist dieser, aller
Konstruktion abholde „plein air“ -Charakter meines Theoretisierens
dessen Charakteristikum, von dem ich wohl hoffen darf, daß es die
Vernachlässigung einschlägiger Literatur aufwiegen könne.
Aber trotz des, wenn man will: impressionistischen Charakters die­
ser Untersuchungen, trotz der Tatsache, daß ich keinen Augenblick
lang etwas zu erfinden versucht habe, vielmehr immer nur auf
„Funde“ aus war, und daß ich keiner meiner Einzelbeobachtungen
oder -thesen ein ausgearbeitetes Konstruktionsschema (also ein
Schema von Vorurteilen) untergelegt habe, - daß meine Untersuchun­
gen unsystematische seien, würde ich trotzdem nicht behaupten. Ihr
durchgängiger Zusammenhang war freilich nicht geplant, er ist viel­
mehr eine „Systematik apres coup“ . Wenn, wie ich behaupte, keine
einzige der hier vorgetragenen Thesen auch nur einer einzigen der
vielen anderen widerspricht, nein, sogar jede jede andere stützt, so ist
das nicht deshalb der Fall, weil ich eine „prästabilisierte Harmonie“
vorweggenommen, also die Thesen von vornherein aufeinander abge­
stimmt hätte. Umgekehrt ist mir diese Harmonie erst nachträglich
bewußt geworden, nämlich bei der für die Publikation nötigen noch­
maligen Durchsicht der zum Teil vor Jahrzehnten und in großen A b­
ständen verfaßten Texte. Die Systematik ist für mich selbst eine (nicht
unerfreuliche) Überraschung gewesen, und nur eine solche, apres coup
entdeckte, scheint mir rechtmäßig zu sein. Das gilt nicht nur von den
in den zwei Bänden der „Antiquiertheit“ präsentierten Thesen, son­
dern von denen in allen meinen Büchern, da diese durchwegs nur
Paraphrasierungen des Hauptwerkes sind. Vermutlich wäre es ein
leichtes, aus den Thesen dieser Bücher ein „System“ im konventionel­
len Sinne zu konstruieren,4 aber das betrachte ich nicht als meine
Aufgabe, da ich nicht einzusehen vermag, warum Wahrheiten dadurch
„wahrer“ werden sollten, daß sie in Form eines „Gebäudes“ präsen­
tiert werden. Nichtwidersprüchlichkeit genügt durchaus.

Man wird mich fragen, warum ich diesen zweiten Band dem ersten
erst heute, nach beinahe einem Vierteljahrhundert, folgen lasse. Diese
Frage ist um so berechtigter, als viele der hier vereinigten Essays schon
vor 1960, manche sogar schon gedruckt, vorgelegen haben, ich also
einen Nachfolgeband längst schon hätte herausbringen können.
Was hatte mich dazu veranlaßt, mein Hauptthema: die Zerstörung
der Humanität und die mögliche physische Selbstauslöschung der
Menschheit, im Stich zu lassen, meine umfangreichen Konvolute fort­
zuschieben, nein: deren Existenz geradezu zu vergessen? Welche ange­
nehmeren Themen hatten mich zur Desertion verführt?
Die Antwort darauf lautet: Ich hatte das Hauptthema (obwohl ich
der Versuchung, dieses zu verdrängen, oft nur schwer widerstehen
konnte) nicht verdrängt, ich hatte keinem anderen Thema den Vortritt
gelassen, ich war nicht desertiert.
Wenn mich etwas zum philosophischen Verstummen gebracht hat,
so die Einsicht und das Gefühl, daß vis-a-vis der Gefahr des wirklichen
Unterganges der Menschheit nicht allein die Beschäftigung mit deren
„bloßer Dehumanisierung“ ein Luxus war, sondern daß selbst die
ausschließliche Beschäftigung mit der Gefahr eines effektiven Unter­
gangs, sofern sie sich auf eine nur philosophisch-theoretische be­
schränkte, wertlos blieb. Vielmehr empfand ich es als unabweisbar,
soweit das in meiner Macht stand, wirklich teilzunehmen an dem von
Tausenden geführten Kampf gegen die Bedrohung. Wenn ich meinen
ersten Band im Stich gelassen habe, so also deshalb, weil ich nicht
gewillt war, die in diesem vertretene Sache im Stich zu lassen.
Ein moralisch ebenso dürftiger wie spekulativ großartiger, unterdes­
sen weltberühmt gewordener Philosoph hat mich vor mehr als fünfzig
Jahren mit dem ihm eigenen Genuß am Verachten davor gewarnt, „je
in die Praxis zu desertieren“ . Das Wort habe ich nicht vergessen kön­
nen, schon damals empfand ich diese moralisierende Warnung vor der
Moral als tief unredlich. Gleichviel: Genau das habe ich getan. Und
warum, das bedarf wohl, da sich, wie man munkelt, „das Moralische
von selbst versteht“ , keiner Rechtfertigung.
Nun, während dieses, vor allem der Praxis gewidmeten Lebensab­
schnittes sind nun freilich auch Schriften entstanden, und durchaus
nicht untheoretische, die aufs allerengste mit den Überlegungen des
ersten Bandes zusammenhängend Da ich aber mit diesen Schriften
sofortige und weiteste Alarmwirkung zu erzielen hoffte, wäre es un­
sinnig gewesen, ihre Veröffentlichung jahrelang aufzuschieben, um sie
dann einmal später als Teile in den zweiten Band der „Antiquiertheit
des Menschen“ zu integrieren. Verspätete Warnungen sind albern.
Dazu kam, daß sich die Warnschriften eines Stils bedienten, der nicht
nur für Berufsphilosophen gemeint war und der in ein rein philosophi­
sches Buch nicht hineingepaßt hätte.

Aber auch nachdem ich das, was ich zur Atomgefahr melden zu
können glaubte, gemeldet hatte, blieb mir die sofortige „H eim kehr“ in
die Philosophie verwehrt. Zum zweitenmal wurde ich „abgelenkt“
(wenn man vom Ruf der Pflicht sagen kann, daß er ablenke).• Denn in
den sechziger Jahren erreichte mich eine andere Aufforderung, eine,
die ebenfalls mit den Hauptsorgen der „Antiquiertheit des Menschen“
zu tun hatte: nämlich die Aufforderung, am Kampf gegen den Geno­
zid in Vietnam, der ja als maschinell betriebener ein schauerliches
Exempel für meine maschinen-philosophischen Thesen war, teilzu­
nehmen. Freilich kann man auch hier keine genaue Grenzlinie zwi­
schen Theorie und Praxis ziehen; auch aus dieser Aktivität ist nämlich
ein Buch abgefallen, das ein Stück „Kritik der Technik“ darstellte.•
nämlich von dem Idiom handelte, das die mörderische Technokratie
Desertion in die Praxis

der U SA entwickelte und verwendete, um ihre Verwüstungs- und Völ­


kermord-Akte teils zu tarnen, teils zu rechtfertigen.6 Auch von diesen
Texten gilt, was von den „Antiatom“ -Publikationen galt: sie waren,
obwohl durchaus nicht unphilosophisch (denn nicht zu philo­
sophieren ist eine schwer erfüllbare Aufgabe), so eng an ihren ge­
schichtlichen Anlaß und Augenblick gebunden, daß es nicht erlaubt
gewesen wäre, sie aufs Eis zu legen, um sie später, als Teil des zweiten
Bandes, einer nur akademischen Leserschaft vorzulegen.7
Man versteht nun, warum ich die vorhin gestellte Frage, warum ich
aus den philosophischen Überlegungen der „Antiquiertheit“ in die
Praxis desertiert sei, als Frage nicht anerkennen und deshalb auch nicht
beantworten kann. Berechtigt wäre umgekehrt die Frage, warum ic h -
was ich in diesem Bande ja tue - in die philosophische Theorie „z u ­
rückdesertiert“ sei. Die Antwort auf diese Frage ist banal: für Praxis
bin ich nun zu alt.
Ein Vergnügen ist eine solche „Rückdesertion“ natürlich nicht.
Wenn man, wie der Schreiber dieser Zeilen, seit nahezu fünfzig Jahren
ein „engagierter“ Schriftsteller gewesen ist, dann ist der Zwang, ange­
sichts der alten, noch nicht behobenen, nein: von den meisten noch
nicht einmal verstandenen Gefahren und angesichts der neuen, von der
Menschheit noch nicht einmal ad notam genommenen Bedrohungen
die Hände in den Schoß zu legen oder die Zeit im besten Falle zum
Niederschreiben von Theorien zu verwenden, schwer erträglich. In­
aktivität ist ungleich anstrengender als die anstrengendste Aktivität.
Aufgaben aufgeben zu müssen eine beinahe zu schwere Aufgabe. Ver­
führungen zu widerstehen, um Pflichten zu erfüllen, ungleich leichter
erlernbar, als den Verführungen durch die Pflichten Widerstand zu
leisten. Kein Wunder, daß mir nun, da ich wieder als reiner Theoreti­
ker über dem zweiten Bande der „Antiquiertheit des Menschen“ sitze
und den notwendigen Kampf gegen Kernreaktoren, Aufbereitungsan­
lagen und die Erzeugung von Neutronenbomben und dergleichen Jün ­
geren überlassen muß, das Intervall, das mich von der Niederschrift
des ersten Bandes trennt, nicht als zu lang vorkommt, sondern als zu
kurz. Und meine Wiederaufnahme des Theoriefadens nicht als zu spät,
sondern als zu früh. „Heute schon!“ klage ich also. Nicht, wie es in
der ersten Zeile dieses Vorworts geheißen hatte: „Erst heute“ .
Bei der letzten Durchsicht der nachstehenden Aufsätze, die ja in
weitem zeitlichen Abstande von einander und ohne geplanten Zusam­
menhang entstanden sind, ist mir ein Defekt aufgefallen, dessen ich mir
beim Schreiben nicht so deutlich bewußt gewesen war: daß sie nämlich
durchweg Variationen über ein einziges Thema: das der Diskrepanz
der Kapazität unserer verschiedenen Vermögen, sind. Diese nachträgli­
che Entdeckung meiner „Monothematik“ beunruhigt mich jedoch
nicht. Nicht nur deshalb nicht, weil ich glaube, daß meine Variationen,
im Beethovenschen Sinne, wirkliche „Veränderungen“ sind, das heißt:
daß jede von ihnen das Thema in neuem Lichte zeigt oder unter neuem
Schatten verbirgt; sondern vor allem deshalb, weil man, wie schon
Heidegger betont hat, dieses „M anko“ allen Denkern der Vergangen­
heit vorwerfen kann, auch den bedeutendsten, mit denen mich zu
vergleichen mir nicht im Traume einfällt. Was zählt, ist, ob die vielen
Abwandlungen der idee fixe etwas sichtbar machen. Darüber zu befin­
den, ist nicht Sache des Autors. -
Schließen möchte ich mit der Anweisung Max Webers: „Das Wich­
tigste steht natürlich in den Anmerkungen.“

Juni J979 G .A .
E IN L E IT U N G
D IE D R E I I N D U S T R I E L L E N
R E V O L U T IO N E N

1979

§*

Unsere täglichen Esser gib uns heute

Im Jahre 1956 habe ich dem ersten Bande den Untertitel „O ber die
Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution” mitgegeben.
Das war damals bereits eine Untertreibung gewesen. Denn wenn man,
statt (was ebenso seicht wie üblich ist) das Kriterium für die Unter­
scheidung der Revolutionen in die Verschiedenheit der Energiequellen
(Wasser, Dampf etc.) zu verlegen, diese philosophisch definiert, dann
ist die folgende Zählung geboten: Von einer wirklichen „industriellen
Revolution“ , also von der ersten, kann erst in demjenigen Augenblick
gesprochen werden, in dem man damit begann, das Prinzip des Ma­
schinellen zu iterieren, das heißt: Maschinen, oder mindestens Ma­
schinenteile, maschinell herzustellen. Seit diesem Moment, dessen Da­
tierung nicht von Belang ist, hat sich diese Iteration rapide potenziert.
Denn nun ist die Herstellung von Maschinen durch Maschinen kein
Ausnahmevorkommnis mehr, sondern die Regel.1 Der Mechanismus
unseres Industriekosmos besteht nun aus der (durch Produkte, und
zwar Produktionsmittel, bewerkstelligten) Herstellung von Produk­
ten, die ihrerseits als Produktionsmittel auf Herstellung von Produk­
ten abzielen, die ihrerseits . . . u. s. f. - bis eine jeweils letzte Maschine
Finalprodukte auswirft, die keine Produktionsmittel mehr sind, son­
dern Konsummittel, das heißt: solche, die durch ihr Gebrauchtwerden
verbraucht werden sollen, wie Brote oder Granaten. N ur am Anfang
dieser Produktionsketten (als Erfinder oder Handwerker) und an de­
ren Ende (als Verbraucher) stehen Menschen. Aber selbst von diesen
Finalprodukten zu behaupten, daß sie ausschließlich Produkte, keine
Produktionsmittel seien, ist unerlaubt. Denn auch diese letzten sollen
ja - die Iteration kennt keine Unterbrechung - durch ihr Verbraucht­
werden wiederum etwas produzieren: nämlich Situationen, in denen
eine, wiederum maschinelle, Erzeugung weiterer Produkte erforder­
lich wird. In solchen Fällen sind es nicht eigentlich die Produkte selbst,
die als Produktionsmittel figurieren, sondern unsere Konsumakte -
eine wahrhaftig beschämende Tatsache, da sich nun ja unsere, der
Menschen, Rolle darauf beschränkt, durch den Produktekonsum (für
den wir überdies noch zahlen müssen) dafür zu sorgen,.daß die Pro­
duktion in Gang bleibe. 1
Nicht: „Unser täglich Brot gib uns heute“ , heißt es in einem molus-
sischen Aphorismus, würden wir, wenn wir ehrlich wären, heute be­
ten, sondern: „ Unseren täglichen Hunger gib uns heute“ - damit die
Brotfabrikation täglich gesichert bleibe. Sofern das heute fällige Gebet
überhaupt noch aus unserem menschlichen Munde kommt, da es ja
eigentlich die Produkte sind, die beten. Nämlich: „ Unsere täglichen
Esser gib uns heute.“
In der Tat trifft dieser molussische Aphorismus auf 99% aller Pro­
dukte durchaus zu. Denn die meisten Produkte - selbst kaum artifiziell
zu nennende, wie die Butter, die sich in Butterbergen auftürmt und
ihre Bekömmlichkeit beteuert - hungern nach Konsumiertwerden, da
sie nicht ohne weiteres mit einem ihnen entgegenkommenden mensch­
lichen Hunger rechnen können oder dürfen. Damit sie auf ihre Rech­
nung kommen, das heißt: damit die Produktion in Gang bleibe, muß
ein weiteres Produkt (eines zweiten Grades) erzeugt und zwischen
Produkt und Mensch gezwängt werden, und dieses Produkt heißt
„B ed a rf". Aus unserer Perspektive formuliert: Um Produkte konsu­
mieren zu können, haben w ir es nötig, diese zu benötigen. Da uns aber
dieses Benötigen nicht (wie der Hunger) „in den Schoß fällt“ , müssen
wir es produzieren; und zwar mittels einer eigenen Industrie, mittels
eigener zu diesem Zwecke maschinell produzierter Produktionsmittel,
die nun Produkte dritten Grades sind. Diese Industrie, die den Hunger
der Waren nach Konsumiertwerden und unseren Hunger nach diesen
auf gleich bringen soll, heißt „ Werbung “3 Man produziert also Wer­
bemittel, um das Bedürfnis nach Produkten, die unser bedürfen, zu
produzieren; damit wir, diese Produkte liquidierend, den Weitergang
der Produktion dieser Produkte gewährleisten.
§2

Das Gekonnte ist das Gesollte

Aber was durch die Erzeugung von menschlichen Bedürfnissen ge­


stillt werden soll, sind nicht nur die Bedürfnisse der Produkte (nach
Käufern), sondern auch die der Produktionstechnik, da diese pausenlos
verlangt, daß all das gemacht werde, was auf ihrem Stande jeweils
gerade machbar ist. Ich sage: „verlangt“ , weil heute - dies ist die fixe
Idee der dritten industriellen Revolution - das Mögliche durchweg als
das Verbindliche, das Gekonnte durchweg als das Gesollte akzeptiert
ist. Von der Technik gehen die moralischen Imperative von heute aus;
und diese lassen die moralischen Postulate unserer Vorväter, nicht nur
die der Individual-, sondern auch der Sozialethik, als lächerlich er­
scheinen. Tatsächlich werden diese Imperative strikt befolgt, „ Abtrei­
bung“ von Produkten (solchen, die möglich, technologisch gesehen:
„unterwegs“ , sind) ist aufs strengste verpönt - was zur Folge hat, daß
nun tausend Dinge das Licht der Welt erblicken, tausend „Odradeks“
(so hatte Kafka bekanntlich einen von ihm erfundenen, bewandtnislo­
sen Gegenstand genannt), die keinem menschlichen Bedürfnis entge­
genkommen, nicht nur keinem sogenannten „natürlichen“ (die ja oh­
nehin nur einen winzigen Bruchteil in dem wachsenden und sich wan­
delnden System der menschlichen Bedürfnisse ausmachen), sondern
auch keiner artifiziellsten Nachfrage.4 So hat man z. B., um das Bedürf­
nis der Technik zu befriedigen, also um das Machbare zu machen,
Waffen hergestellt, die den mehrfachen Untergang der Menschheit
ermöglichen - einen Zustand also, nach dem nicht nur kein Bedarf
besteht, sondern keiner bestehen kann, nein, der jeden Fortbestand der
Industrie (und nicht nur deren) ausschließt. Nun gilt aber nicht nur,
daß alles Machbare gesollt ist, sondern auch, daß jede dem Gemachten
zugedachte Verwendung auch wirklich durchgeführt werden soll; nicht
nur, daß keine Waffe je erfunden worden ist, die nicht auch effektiv
hergestellt worden wäre; sondern daß auch keine je hergestellt worden
ist, die nicht auch effektiv eingesetzt worden wäre.s Nicht nur ist das
Gekonnte das Gesollte, sondern auch das Gesollte das Unvermeidliche.
Und das ist nicht nur eine Regel, sondern ein Postulat, das lautet: „ Laß
nichts Verwendbares unverwendet!"
„Verwendet“ sind auch diejenigen von A produzierten Waffen, de­
ren Einsatz in Bedrohung bzw. Erpressung besteht, die aber den virtu­
ellen Gegner zur Waffenverbesserung seinerseits zwingt, auf die A nun
wiederum mit der Herstellung „noch besserer“ Waffen reagieren muß.
Seit 1945 haben die Vereinigten Staaten die Sowjetunion benötigt, um
diese Lizitierung durchzuführen und dadurch die Steigerung der eige­
nen Waffenproduktion aufrechtzuerhalten. Wenn es die Sowjetunion
nicht gegeben hätte, die Vereinigten Staaten hätten sie erfinden müs­
sen. Tatsächlich ist diese absurde Verwendung der Produkte bereits so
selbstverständlich, daß in den U SA zuweilen Empörung darüber aus­
bricht, daß von ihr hergestellte und verkaufte Waffen vom Käufer auch
wirklich verwendet werden. Das effektive Aufbrauchen durch Benut­
zung gilt heute schon nicht mehr als up to date, liquidiert sollen Pro­
dukte heute dadurch werden, daß sie durch neue Modelle überholt
werden. Tatsächlich gibt es ja schon - Absurderes könnte sich kein
Science Fiction-Autor ausdenken - Waffenverkäufer, die ihre Waffen
mit der Auflage verkaufen, daß sie nicht als „Angriffswaffen“ verwen­
det werden.

§3

D ie Varianten des „prometheischen Gefälles“

Und, um ein zweites „O dradek“ -Beispiel anzuführen: Man baut


heute Computer, die in einer Sekunde nicht nur 1000 mal mehr Daten
auswerfen können als iooo Arbeiter in 1000 Stunden das könnten, son­
dern auch 1000 mal mehr als 1000 Menschen in 1000 Stunden verwen­
den könnten. Jenes „prometheische Gefälle“ , mit dessen Darstellung
ich vor 25 Jahren den ersten Band eröffnet hatte: das zwischen dem
Maximum dessen, was wir herstellen können und dem (beschämend
geringen) Maximum dessen, was wir vorstellen können, ist nun sogar
zu einem Gefälle geworden zwischen dem, was wir herstellen, und
dem, was w ir verwenden können. Hektisch suchen wir für diese Pro­
dukte nach raisons d’etre, verzweifelt jagen wir nach Fragen, die den
Antworten, die wir bereits haben, nachträgliche Legitimierung ver­
schaffen könnten; und unermüdlich produzieren wir, um diese neue
Aufgabe (nämlich die, neue Aufgaben zu finden) zu erfüllen, neue
Produkte. In der Tat können wir unserem „ prometheischen G efälle“
Mangel an Mangel 19

nun eine dritte Version geben. Denn dieses besteht nun zwischen dem
Maximum dessen, was w ir herstellen können, und dem (beschämend
geringen) Maximum dessen, was wir bedürfen können. Jawohl, wie
widersprüchlich das auch klingen mag: „bedürfen können". Denn die
Menschheit befindet sich in der Lage jenes zum Tode Verurteilten in
Tausendundeiner N acht, dem man mitteilte, er w ürde begnadigt
werden, wenn er 100 Brote, die man ihm vorlegte, verzehren würde.
Auf 100 Appetit zu haben, war er natürlich außerstande, und das hatte
seine Folge. - N ur daß heute w ir selbst es sind, die sich die 100 Brote
vorlegen; und die versagen. Unmetaphorisch: Unsere heutige Endlich­
keit besteht nicht mehr in der Tatsache, daß wir animalia indigentia,
bedürftige Lebewesen, sind; sondern umgekehrt darin, daß wir (zum
Bedauern der untröstlichen Industrie) viel zu wenig bedürfen können
- kurz: in unserem Mangel an Mangel.

§4

Die dritte Revolution

Nun, in diesem Stadium, in dem Bedürfnisse produziert werden


müssen, sehe ich das der zweiten industriellen Revolution. Aber diese
Umwälzung, die bereits im vorigen Jahrhundert eingesetzt hatte, ist
durchaus nicht die letzte; und sie war auch schon damals, als ich am
ersten Band arbeitete, nicht die letzte gewesen. In der Tat hatte ich ja
auch damals schon im abschließenden Essay eine, durch ein neues
Gerät herbeigeführte, weitere Revolution behandelt, eine, deren Be­
ginn damals bereits zehn Jahre zurücklag und die eine so spektakuläre
Verwandlung des Geschicks der Menschheit mit sich gebracht hat, daß
es schon damals angemessener gewesen wäre, von einer Revolution sui
generis, also von einer „dritten industriellen Revolution", zu sprechen.
Das spektakuläre Produktionsmittel, von dem ich spreche, ist natür­
lich dasjenige, das die Menschheit zum ersten Male dazu instandge­
setzt hat, ihren eigenen Untergang zu produzieren, also die Atom­
bombe. Dieser nachzusagen, daß sie uns dazu „instandsetze“ , ist frei­
lich ein understatement, sogar, wie man in Amerika sagt: das „under­
statement of the century“ eben aus dem vorhin dargelegten Grunde:
deshalb, weil es zum Wesen unserer technischen Existenz gehört, daß
wir dasjenige, was wir erzeugen können, nicht nur nicht nicht-erzeu­
gen können oder dürfen, sondern auch, weil wir das Erzeugte nicht
nicht-verwenden können oder dürfen. Da dem so ist, leben wir - und
das bereits seit dreißig Jahren - in einem Zeitalter, in dem wir (was wir
nicht kennen, ist allein der Zeitpunkt) die Produktion unseres eigenen
Unterganges pausenlos betreiben. Wenn das kein Kriterium für ein
neues Stadium der industriellen Revolution, also für die dritte indu­
strielle Revolution, ist, dann weiß ich nicht, worin man ein solches
Kriterium suchen sollte.
Nicht also, weil sie physikalisches Novum ist - das ist sie auch - , ist
die Kernkraft das Symbol der dritten industriellen Revolution, son­
dern deshalb, weil ihr möglicher oder wahrscheinlicher Effekt - was
von keinem früheren menschlichen Effekt je hatte behauptet werden
können - metaphysischer N atur ist. „Metaphysisch“ nenne ich den
Kernkraft-Effekt deshalb, weil das Beiwort „epochal“ noch das Wei­
tergehen der Geschichte und die Nachfolge weiterer Epochen als
Selbstverständlichkeit unterstellt - eine Unterstellung, die uns Heuti­
gen eben nicht mehr erlaubt ist. Die Epoche der Epochenwechsel ist seit
7945 vorüber. Nunmehr leben wir in einem Zeitalter, das nicht mehr
eine vorübergehende Epoche vor anderen ist, sondern eine „Frist” ,
während derer unser Sein pausenlos nichts anderes mehr ist als ein
„Gerade-noch-sein” . Die Obsoletheit Ernst Blochs, der sich dagegen
sträubte, von dem Ereignis Hiroshima auch nur Kenntnis zu nehmen,
hat in seinem, beinahe auf Trägheit hinauslaufenden, Glauben bestan­
den, wir lebten noch immer in einem „Noch-nicht“ , das heißt: in
einer, dem Eigentlichen vorangehenden, „Vorgeschichte“ . Auch nur
einen Moment nicht zu hoffen, dazu konnte er sich nicht aufraffen.
Gleichviel, unser Zeitalter ist und bleibt, ob es nun endet oder weiter­
währt, das letzte, weil die Gefahr, in die wir uns durch unser spektaku­
läres Produkt gebracht haben, und die nun das endgültige Kainszei­
chen unserer Existenz geworden ist, niemals aufhören kann - es sei
denn durch das Ende selbst.
Diese dritte Revolution ist also die letzte. Mehr möchte ich über sie
hier nicht aussagen. Deshalb nicht, weil ich sie in den letzten 20 Jahren
bis zum Überdruß abgehandelt habe. In diesem Bande wird sie daher
auch nicht mehr aufscheinen.
Die dritte industrielle Revolution 21

§5

Die internen Revolutionen. Homo creator und homo materia

i. Nach dieser Kennzeichnung des dritten Stadiums als eines end­


gültigen und unüberwindbaren haben wir auf weiteres Zählen von
Revolutions-Stadien zu verzichten. Und zwar deshalb, weil die Revo­
lutionen, die seither die Menschheit erschüttert haben - und es gibt
deren schon mehrere, und gewiß werden noch weitere folgen -, wie
spektakulär sie auch sein mögen, doch innerhalb des dritten Stadiums
stattfinden. Wenn dieses dritte Stadium nicht eingetreten wäre, dann
dürften, nein: müßten wir die Umwälzungen, denen ich mich nun
zuwenden werde, als vollgültige Revolutionen einstufen. Ich denke
vor allem an zwei: an die ungeheuerliche Tatsache, daß der Mensch
sich in einen „homo creator“ hat verwandeln können; und an die nicht
minder unerhörte, daß er sich selbst in Rohstoff, also in einen „homo
materia” verwandeln kann.
Mit dem Titel „homo creator“ meine ich die Tatsache, daß wir
imstande sind, richtiger: uns instandgesetzt haben, aus N atur Produkte
zu erzeugen, die nicht (wie das aus Holz gebaute Haus ) in die Klasse
der „Kulturprodukte“ gehören, sondern in die der Natur. In der Tat
dürfen wir von „zw eiter N atur“ sprechen, ein Ausdruck, der bisher
nur metaphorisch benutzt worden war, heute aber in unmetaphori­
schem Sinne verwendet werden darf, da es nun Naturvorgänge und
-stücke gibt, die es, ehe sie von uns geschaffen wurden, nicht gegeben
hatte. Nun, daß neue Varianten von Pflanzen oder Tieren gesteuert
werden können, das ist ja keine Neuigkeit. Da die Exemplare der
gezüchteten Kunstarten lebendige Wesen sind, die in die Botanik oder
die Zoologie gehören, darf man behaupten, daß schon in diesen Fällen
durch die techne physis hergestellt wurde; und auch diese Naturwesen
waren, da sie von der Natur nicht „vorgesehen“ waren, spektakulär.
Und doch, wir benutzten das Wort „Variante“ , da es sich stets um
Variationen über, von der Natur vorgesehene, Themen gehandelt hat.
Von einer „Revolution“ dürfen und müssen wir aber in demjenigen
Augenblicke sprechen, in dem die Phase des Nur-Variierens verlassen
wird. Und das ist heute der Fall. Denn was heute erfunden und durch
Technik hergestellt werden kann, ist Seiendes, das keine Spielart eines
vorgegebenen Themas ist, sondern, um im Bilde zu bleiben, ein neues
Thema darstellt. Ich denke da z.B . an die Elemente 93 und 94 - Ele­
ment 94 ist das Plutonium, das es bis vor kurzem „nicht gegeben“ hat,
und das erst durch den Eingriff des wahrhaft „gottgleichen“ Men­
schen, nämlich durch die Bearbeitung von U 238, im Umkreis des
Seienden, im Umkreis der N atur aufgetaucht ist. (Und zwar als das
fürchterlichste Gift, das es nun in der N atur gibt.) Es ist ein Produkt,
das im Moment seines Hergestelltseins als „novum“ zur Natur gehört;
also nicht nur Natur „bleibt“ , wie jedes andere menschliche Produkt,
ob dieses nun ein vermodernder Tisch oder ein brennendes Rem-
brandt-Gemälde ist. Aber nicht nur die Welt ist durch diese Möglich­
keit der Herstellung von „Novitäten“ revolutionär verändert, sondern
auch der Mensch, da dieser dadurch aus dem status des „homo fab er“
in den des „homo creator“ aufgerückt ist - und wenn das keine Revo­
lution ist, dann weiß ich nicht, was dieses Wort bezeichnet. Daß auch
diese Revolution, nicht anders als die apokalyptische, die uns instand­
setzt, die Welt zu zerstören, in der Werkstatt der Atomphysik ihren
Ausgang genommen hat, das ist gewiß kein Zufall.

2. Die Verwandlung des Menschen in Rohstoff hat wohl (wenn wir


von Kannibalen-Zeiten absehen) in Auschwitz begonnen. Daß man
aus den Leichen der Lagerinsassen (die selbst bereits Produkte waren,
denn nicht Menschen wurden getötet, sondern Leichname hergestellt)
gewiß die Haare und die Goldzähne, wahrscheinlich auch das Fett
entnahm, um diese Stoffe zu verwenden, das ist ja bekannt. Ebenso,
daß die amerikanischen Soldaten mit japanischen Goldzähnen aus dem
Pazifik heimkehrten: mit eigenen Augen habe ich Beutel voller Zähne
gesehen, die G l’s zeigten mir diese - ich weiß, wie unglaubhaft das
klingt: arglos. Arglos eben deshalb, weil es ihnen selbstverständlich
war, in der Welt einen Rohstoff zu sehen, und ebenso selbstverständ­
lich, dieser Welt eben auch die japanischen Mitmenschen zuzurechnen
(die man freilich vorher durch systematische Diffamierung zu „A ffen“
degradiert hatte).

3. Aber diese Art von Verwendung des Menschen als wertvoller


Rohstoffquelle ist gottseidank eine Ausnahme-Erscheinung geblieben.
Viel häufiger und ungleich charakteristischer sind diejenigen Aktio­
nen, in denen Menschen aus Menschen nicht einfach toten Stoff her­
stellen, sondern etwas selbst Lebendiges. In der Tat kann man sagen,
daß in diesen Fällen der „homo creator“ und der „homa materia“
zusammenfallen - wobei freilich „creator“ und „materia“ personell
niemals koinzidieren, vielmehr der Eine als „creator“ fungiert, der
Andere als „materia“ .
Natürlich muß erst einmal eingeräumt werden, daß es rechtmäßige
Aktionen gibt, durch die Menschen verändert werden: nämlich erzie­
herische, die sogar im besten Falle den behandelten Menschen erst zu
dem machen, was man einen „richtigen Menschen“ nennt. Von dieser
Verwandlung ist hier nicht die Rede. Aber auch dieser Fall muß er­
wähnt werden, weil es schwer ist, auszumachen, wo Erziehung aufhört
und Drill anfängt, also wo auf „unmenschliche“ Art aus Menschen
konditionierte Menschen gemacht werden. Und auch von diesen kann
nur mit Vorbehalt behauptet werden, daß sie „unmenschlich“ seien, da
ja, wie Anthropologie und Ethnologie zeigen, die künstliche, mehr
oder minder gewaltsame Veränderung der Menschen in „konditio­
nierte“ Wesen sowohl zum Wesen der (angeblich) „primitivsten“ wie
der modernsten Gesellschaft gehört, und nicht nur das, sondern Ge­
sellschaft überhaupt erst möglich macht.
Gleichviel, die Konditionierung, die ich im Auge habe, ist ungleich
radikaler, da sie sich nicht damit zufriedengibt, Lebewesen zu verän­
dern, sondern aus Lebewesen andere Lebewesen zu erschaffen. In ge­
wissem Sinn ist das bereits Usus, denn künstliche Inseminierung von
(„Banken“ entnommenem) Sperma wird ja heute nicht nur in der
Viehhaltung, sondern auch schon bei Menschen ausgeübt - letzteres
sogar mit Recht, dann nämlich, wenn natürliche Insemination aus wel­
chen Gründen immer nicht möglich ist. Aber diese Manipulierung ist
im Vergleich mit dem, was heute droht, ganz harmlos, da ja die „P ro ­
dukte“ , auf die man inseminierend abzielt, nicht, dem Plutonium ana­
log, „W esen sind, die es nicht gibt“ , sondern normale Menschen; und
künstlich allein der Weg bzw. der Umweg ist, der zum normalen Ziel
führt. Durch künstliche Besamung im Mutterleibe sich entwickelnde
Embryonen werden normale Menschen.
Aber mit dieser Künstlichkeit bescheidet man sich heute nicht mehr.
Und damit komme ich zu einer Herstellungsart, die in der Tat als
Novum in der Typologie menschlicher Produktionsarten und als eine
weitere „industrielle Revolution“ eingestuft werden müßte, wenn wir
nicht, wie wir vorhin gezeigt hatten, von der weiteren Zählung von
Revolutionen Abstand nehmen müßten.
Ich spreche von dem sogenannten „ C l o n i n g von der Gen-Manipu­
lierung; das heißt: von der Möglichkeit, neuartige, „unerhörte“ und
nicht vorgesehene Arten und Spezies, oder sogar Duplikate von beste­
henden Individuen, herzustellen. Ob bereits das cloning von menschli­
chen Genen durchgeführt worden ist, ist mir unbekannt. Aber da wir
wissen, daß der heutige Imperativ lautet: „Was man kann, das soll
man“ bzw.: „D as Machbare ist verbindlich“ , ist das bisher nur Mögli­
che als atemberaubendes Omen bereits gegenwärtig.
Bisher waren Lebewesen nur innerhalb der allen Spezies ohnehin
freistehenden Variationsbreite verändert worden. Das gilt auch von
den (z.B. nationalsozialistischen) Versuchen, den physiologischen T yp
von Menschen zu verändern, wie sie glaubten: zu verbessern (Züch­
tungsaktion „Lebensborn“ ). Oder was verändert wurde, war nicht der
Typ des Lebewesens, sondern die (umwegige) Methode der Repro­
duktion, eben durch artificial insemination. Dazu kommt, daß die an
Menschen durchgeführten Verwandlungen zumeist keine der Physis6
gewesen sind, sondern der Psyche, und daß diese ihrem Wesen nach
„plastisch“ modellierbar, also nicht nur lern- und erfahrungs- und
bildungsfähig, sondern -bedürftig ist; von sich aus nicht nur die pas­
sive Möglichkeit des Verwandeltwerdens in sich trägt, sondern auf
Verwandlung aus ist. Im Unterschied dazu versuchen die heutigen
„cloners“ , den physiologischen Typ von Lebewesen zu verändern. Das
heißt entweder: von der Natur nicht „vorgesehene“ Wesen zusam­
menzubrauen, von denen man nicht mehr würde (oder wird) ausma­
chen können, ob man sie noch bekannten Spezies zurechnen dürfte;
oder solche, die die Einmaligkeit der Individuen aufheben, da sie le­
bendige Replika (gewissermaßen „Zwillinge“ , um nicht zu sagen:
„Illinge“ ) anderer Individuen sein würden. Während der Atomkrieg
die Vernichtung der Lebewesen inclusive der Menschen bedeutet, be­
deutet das „cloning“ die Vernichtung der Spezies qua species, unter
Umständen die Vernichtung der Spezies Mensch durch Herstellung
neuer Typen. Die Frage der philosophischen Anthropologie nach dem
„Wesen des Menschen“ , mit der wir heute Achtzigjährigen aufge­
wachsen waren (Scheler), und die auch ich noch aufgenommen hatte,
freilich bereits, um sie radikal mit der Antwort: „ Das Wesen des M en­
schen besteht darin, daß er kein Wesen hat“ zu verwerfen,7 diese Frage
könnte einmal, wenn der Mensch als Rohstoff ad libitum benutzt wer­
den würde, vollends sinnlos werden. Wie naiv man doch gewesen war,
als man die Gegenposition gegen die biblische Ebenbild-These in einer
Evolutionstheorie sah! Wie harmlos und human war doch der Darwi­
nismus gewesen, da er die „Unmenschlichkeit“ nur in die Vorge­
schichte des Menschen verlegt hatte, verglichen mit der Gen-Manipu­
lation, die Unmenschliches erzeugen könnte, und zwar durch die H er­
stellung von Wesen, die die „E ben bilder“ oder Kopien von aus politi­
schen, ökonomischen oder technischen Gründen wünschenswerten Ty­
pen wären!
Und auch dann, wenn die Produkte, die man herzustellen versuchte,
nicht untermenschliche Wesen wären, sondern „übermenschliche“
(was sich Techniker so als „übermenschlich“ , als superman-haft vor­
stellen), wenn man also z.B. „creative beings“ (das verbale Ideal in den
Ländern der Schablonisierung), Musik- oder Mathematikgenies zu­
sammenbrauen würde - auch dann wäre das Sakrileg am Menschen
nicht geringer, als wenn man das Wunschbild eines halb-äffischen Ma­
schinenwärters verwirklichen würde.
Zurück zu unserem Hauptthema der „industriellen Revolution“ .
Um eine solche handelt es sich deshalb, weil der Manipulator den
Menschen, den seine Vorfahren nur in fünf Rollen: in der Rolle des
Eigentümers, des Erfinders, des Arbeiters, des Verkäufers und des
Konsumenten gekannt hatte, nunmehr als bloßen, und zwar physiolo­
gischen, Rohstoff behandelt. Als Rohstoff für die Produktion neuarti­
ger Produkte oder Produktionsmittel.

§6

Postzivilisatorischer Kannibalismus

Jener Text, der für die Besten unserer Generation verbindlicher ge­
wesen und geblieben ist als jeder andere: jener Kants, der besagt, daß
kein Mensch jemals „bloß als M ittel" , also als Werkzeug, also als
Sklave, gebraucht werden dürfe, der ist heute bereits antiquiert.8Und
das nicht deshalb, weil es solche, im wahrsten Sinne des Wortes „ Ver­
mittelung“ des Menschen, also Sklaverei, nicht mehr gäbe (das Gegen­
teil beweisen hunderte von Konzentrations- und Arbeitslagern zwi­
schen Santiago und Wladiwostok), sondern deshalb - und das macht
das Wesen oder Unwesen des hier zur Rede stehenden Stadiums der
„industriellen Revolution“ aus - weil eben das, was mittlerweile einge­
treten ist, die Verwendung des Menschen als Rohstoffes, die von Kant
verbotene Verwendung des Menschen als Mittels oder als Werkzeuges
in den Schatten stellt und geradezu als human erscheinen läßt. Das,
was im Verlauf der Geschichte der mechanistischen Naturwissenschaf­
ten vor sich ging: daß nämlich, da Ausnahmen dem Prinzip widerspro­
chen hätten, auch der Mensch als Maschine („homme machine“ ) ver­
standen wurde, das wiederholt sich heute auf anderer Ebene: Da die
Welt prinzipiell als Rohstoff gilt, muß auch das Weltstück „Mensch“ ,
damit das Prinzip nicht verletzt werde, als solcher behandelt werden.
Und „behandelt“ nicht nur im theoretischen Sinne, sondern auch im
praktischen (wenn nicht sogar die praktische Behandlung der theoreti­
schen vorausgeht). Daß dieses Stadium - man darf es wohl das des
„postzivilisatorischen Kannibalismus“ nennen - so spektakulär ist, daß
es als „Industrielle Revolution“ sui generis anerkannt werden dürfte,
wird wohl niemand bestreiten. Wenn wir das nicht tun, so eben aus
dem Grunde, den wir oben angegeben hatten: weil sich diese Revolu­
tion innerhalb jener dritten Revolution abspielt, die als „F rist“ die
letzte ist.

Die Welt ist „overm anned“

Die 4. „Binnenrevolution“ - und diese werde ich im Folgenden


ausführlich behandeln - ist der Trend, den Menschen, wie absurd das
auch klingen mag, - überflüssig zu machen: dessen Arbeit nämlich
durch den Automatismus von Geräten zu ersetzen; einen Zustand zu
verwirklichen, in dem zwar nicht niemand, aber doch - denn es han­
delt sich natürlich um einen asymptotischen Prozeß - so wenig A rbei­
ter wie möglich erforderlich sind. Sehr bewußt spreche ich von einem
„Trend“ und nicht von einer „Tendenz“ , weil natürlich niemandem
unterstellt werden kann, auch keinem Rationalisierung fanatisch be­
treibenden Unternehmer, daß er das Ziel verfolge, Menschen arbeitslos
zu machen. Worauf heutige Unternehmer aus sind, und das nicht nur
in der kapitalistischen Welt, ist nicht Arbeitslosigkeit des Arbeiters,
sondern Arbeiterlosigkeit ihrer Betriebe. Laut „Spiegel“ (17. 4. 78)
prahlt heute b ereit s der j apanische Konzern Kawasaki mit einer „u n-
manned factory“ . Nicht zufällig erinnert dieser Ausdruck an militäri­
sche Anlagen, die ja immer und in jeder Hinsicht, also auch in der der
Rationalisierung, den friedlichen Industrieanlagen voraus sind, und die
(wie etwa die „unmanned mine fields“ in Vietnam), wenn sie erst
einmal installiert sind, Soldaten-, also arbeiterlos, funktionieren. -
Gleichviel, daß im Effekt Arbeiterlosigkeit auf Arbeitslosigkeit her­
ausläuft, das läßt sich natürlich nicht durch die von uns gemachte
Unterscheidung vertuschen.
Es wäre tatsächlich an der Zeit, einen „ WQ“ , sprich: „workers quo­
tient“ einzuführen, der den Prozentsatz der Arbeiter auszudrücken
hätte, der benötigt wird, damit das Leben von 100 gewährleistet sei;
oder sagen wir: gewährleistet bleibe, da wir unter „Leben“ hier natür­
lich nicht das nackte Physisch-gerade-überleben verstehen dürfen,
sondern dasjenige Dasein, in dem das ganze, zur zweiten und dritten
Natur gewordene, System der künstlichen Bedürfnisse erfüllt wird,
und zu dem sogar auch der, das heutige Leben mitdefinierende, kon­
stante Anstieg der Lebensansprüche und der Lebensqualität gehört.
Unsere These lautet natürlich: „D er WQ in hochindustriellen Ländern
sinkt stetig (asymptotisch) in Richtung Zero ab.“ Jeder Betrieb in die­
sen (um nicht geradezu zu sagen: die Welt) ist, wie der amerikanische
Terminus lautet: „overmanned“ .5
Es ist ein Wesensmerkmal der „Rationalisierung“ genannten Phase
der industriellen Revolution, daß diese uns als homines fabros liqui­
diert; daß sie einen Zustand herbeiführt, in dem Arbeit von Tag zu Tag
rarer und unüblicher wird; in dem diese, weit entfernt davon, als Fluch
zu gelten - darin hat die Bibel heute total unrecht -, als Anrecht
beansprucht und als Privileg einer von Tag zu Tag schmaler werden­
den Elite reserviert werden wird. Was den meisten von uns ins Haus
steht, ist also eine Existenz ohne Arbeit - womit ich (unterstellt selbst,
unsere Lebensqualität würde dadurch nicht tangiert) ein höllisches
Dasein meine. „Höllisch“ deshalb, weil wir um eine der stärksten und
wichtigsten und beliebtesten Lüste, nämlich um die (angesichts der
Arbeitsmühe zumeist übersehene) „voluptas laborandi“ betrogen sein
werden. Tatsächlich versucht man schon seit langem, diese voluptas,
deren libido-Energie irgendwie gestillt werden muß, durch andere,
auch nicht gerade unbeliebte Wollustarten zu ersetzen.10 Aber daß
diese Ersetzung gelingen werde, das bezweifle ich.
In akademischer Sprache: Die klassische Gleichung, an die meine
Generation noch vor fünfzig Jahren geglaubt hatte, die von Freizeit
und Freiheit, die auch heute schon kaum mehr gilt, wird dal'll'! vollends
unwahr sein. Umgekehrt wird die Freizeit, also das Nicht-arbeiten, als
Fluch empfunden werden. Und anstelle des berühmten Fluch-Satzes
(Gen. 3. Kap. 14) wird es dann heißen müssen: „ A u f deinem Hintern
sollst du sitzen und T V anglotzen dein Leben lang!“
Wenn (was ich glaube) der Trend der Rationalisierung unaufhaltbar
ist, dann gibt es nichts Unzeitgemäßeres als die (hie und da bereits
bemerkbare) Tendenz, diesen Trend aufzuhalten oder gar rückgängig
zu machen: also Tätigkeiten, die bereits durch Maschinen oder Auto­
maten ausgeführt werden können, oder sogar schon werden, zurück­
zuerobern -k u rz : Dinge durch Menschen rückzuersetzen, z.B. mecha­
nische Fahrscheinentwerter durch archaische Schaffner. Das W on
„Selbst-verdingung” (das nicht dasselbe bezeichnet wie „Verdingli­
chung“ ) trifft den Vorgang genau.” Geradezu kafkaesk ist es, wenn
die Arbeiter Arbeiten zurückzuerobern suchen, die in der Erzeugung
oder Bearbeitung von extrem modernen Apparatteilen bestehen, von
Produkten also, durch die sich die Arbeiter von neuem ersetzbar
machen.
Trotz der Absurdität des Kampfes um Wiedergewinnung der bereits
von Geräten eroberten Funktionen wäre es aber unangebracht, diesen
wegen seines maschinenstürmerischen Charakters als reaktionär oder
gar als konterrevolutionär zu verhöhnen. Wer das tut, der beweist
damit nur, daß er den (Marxismus und Kapitalismus gemeinsamen,
also am weitesten verbreiteten) Aberglauben an die Identität von tech­
nischem und sozialem bzw. politischem Fortschritt auch heute noch
nicht hat überwinden können. Und wer das heute noch immer nicht
kann, der beweist damit nur, wie reaktionär er selbst ist.

Vor 1 50 Jahren waren unsere Vorväter, die durch die aufkeimende


Industrie konkurrenzunfähig und arbeitslos gemachten Land- und
Heimarbeiter, die ersten Maschinenstürmer gewesen. Wir hatten uns
eingeredet, daß sie und ihre Nachkommen nach entsetzlichen Über­
gangsmiseren und Umstellungsverlusten doch irgendwie in die Indu­
strie würden ausweichen und integriert werden können, daß die Zeit
maschinenstürmerischer Affekte endgültig hinter uns liege. Das war
eine Illusion gewesen. Die Krise ist mit den Generationen mitgewan­
dert; wir, die Ururenkel, stehen nun vor dem gleichen Dilemma, vor
dem unsere Ahnen gestanden hatten. Nach eineinhalb Jahrhunderten
der Latenz ist die Krise nun wieder virulent geworden. Wieder ist die
Maschine zum Konkurrenten und Feind geworden. Aber nicht genug,
daß sie wieder da ist, sie ist diesmal ungleich gefährlicher als damals.
Und das nicht nur deshalb, weil die heute oder morgen Betroffenen
keine Minorität darstellen werden; sondern vor allem deshalb, weil es
diesmal keine Zufluchtsstätten mehr geben .wird. Die Frage, wohin, in
welche nicht existierenden und niemals herstellbaren Frei- oder A r­
beitsräume die nicht mehr benötigten Massen ausweichen sollen, bleibt
offen. Schon heute gibt es, z.B . im Druckereigewerbe, Sturmzeichen
von kollektiver Angst; und morgen wird diese Angst, und das mit
vollem Recht, zu einer Massenpanik von ungeahnter Stärke anschwel­
len. Hohnwörter wie „Maschinenstürmer“ in dieser und für diese Si­
tuation zu verwenden, gehört sich nicht. Wenn es etwas gibt, was
Hohn verdient, so ist es umgekehrt die heutige höhnische Verwendung
des Wortes „ Maschinensturm” . Denn dieser Hohn (den sich neu­
lich ein, den Bau eines Atomreaktors verteidigender, Kanzler erlaub­
te) ist heute antiquierter als der angeblich antiquierte Maschinensturm
selbst.
In Molussien, dessen Vergangenheit bekanntlich voll von futurolo-
gischen Anspielungen gewesen ist, hat es in einer ähnlichen Situation,
nämlich kurz vor dem Untergang des Reiches, wiederholtermaßen
„M uße-Niederlegungen“ gegeben, die „negative Streiks“ genannt
wurden: spontane, mit Fabrikbesetzungen verbundene Massenauf­
stände des nicht zur Arbeit zugelassenen Proletariats gegen seine
„Zwangsfreiheit“ . Natürlich brachten diese Versuche, sich der verlo­
renen Arbeit wieder zu bemächtigen, die Technik und Wirtschaft des
Landes total in Unordnung, da händische Arbeit in den Automations­
räumen nicht mehr vorgesehen, nein auch technisch gar nicht mehr
möglich war . . . wozu kam, daß sich die in die Automationen eingefüt­
terten Rohstoffmengen vor den Toren der Fabrikhallen sinnlos auf­
türmten. Natürlich hat die molussische Exekutive in solchen Fällen
stets aufs rücksichtsloseste durchgegriffen. Und vieles spricht dafür,
daß sie sich dabei neutronenbomben-artiger Waffen bedient haben,
denn über zerstörte Fabrikanlagen liest man in den Chroniken nichts,
wohl aber, und zwar in einem Ton, als seien diese gar nicht so unwill­
kommen gewesen, von Toten. Und trotzdem, endgültig solche despe­
raten Rückeroberungsversuche zu verhindern, waren die molussischen
Polizeikräfte nicht imstande; die Gesellschaft ist ja in der Tat zusam­
mengebrochen.

Gleich, ob es bei uns zu effektiven Maschinenstürmen kommt oder


nicht - morgen wird die Freizeit nicht mehr als das „eigentliche“
Leben gelten, sondern als leere Zeit, als nicht zu bewältigender Zeit­
brei, als sinnloses Herumvegetieren - und als solche wird sie verhaßt
sein. Und diesem Schicksal werden sogar auch die wenigen Begünstig­
ten, die noch werden arbeiten dürfen, nicht entrinnen, selbst während
ihres Arbeitens nicht. Denn auch sie werden der Chance, ihre „cupidi-
tatem atque voluptatem laborandi“ zu befriedigen, beraubt sein, da sie
sich mit der Rolle von „.Automationshirten“ werden begnügen müs­
sen: mit Tätigkeiten, die sich vom Nichtstun eigentlich nur noch da­
durch, daß sie bezahlt werden, unterscheiden werden. - Dieses Sta­
dium der Arbeit werden wir später ausführlich durchsprechen.

Diese unaufhaltsame Entwicklung in Richtung „leeres Leben“ , die


vor knapp einem halben Jahrhundert, in der Zeit der Welt-Arbeitslo­
sigkeit, angehoben und im Nationalsozialismus ihre blutige Pseudo­
Bewältigung gefunden hatte, ist eines der Hauptcharakteristika der in
diesem Bande behandelten dritten industriellen Revolution. Da es im
Zeitalter der elektronischen Medien keinen Platz mehr gibt, auf dem
man nicht informiert bzw. desinformiert werden könnte, richtiger: an
dem man dem Zwange, informiert bzw. desinformiert zu werden, ent­
rinnen könnte, also keine Provinz, - gibt es auch keinen Platz, an dem
einem nicht von Vulgärphilosophen, Psychoanalytikern, Rundfunk­
seelsorgern oder von im Selbstwählverfahren telephonisch erreichba­
ren „automatic consolation tapes“ die Ohren mit „Sinnverlust“ vollge­
plaudert würde. Ober dieses angeblich eingetretene Ereignis werde ich
mich in meinem Essay über den „ Unsinn des Sinnbegriffs“ ausführlich
auslassen. Was ich für um so erforderlicher halte, als es unter den
heutigen Sinn-Predigern kaum einen gibt, der sich darauf beschränkte,
den Verlust auszuschreien, vielmehr fast alle auch gleich Rezepte feil­
halten - je weniger Ätiologie, um so prompter die Ratschläge. Ausführ­
lich werde ich den Wortschatz untersuchen, dessen sie sich bedienen.
Dabei wird es sich herausstellen, daß der Großteil des von ihnen ver­
wendeten Vokabulars aus philosophischen und psychologischen
Blechmünzen aus der Zeit vor dem ersten Weltkriege besteht. O ffen­
bar benötigen Bildungsvokabeln, um in die Sprache der Trivialphiloso­
phie und Trivialerbauung abzusinken, viele Jahrzehnte. Da diese Wör­
ter (wie „echt“ , „Werte“ , „schöpferisch“ , „gestalten“ , „Persönlich­
keit“ , von „heiler Welt“ zu schweigen) erst nach ihrem Absinken
massenhafte Verbreitung finden, also triumphieren, kann man nicht
von „Ladenhütern“ sprechen. Ganz „Avantgardistische“ benutzen so­
gar „schon“ (in Wirklichkeit um fünfzig Jahre nachhumpelnd) Brok-
ken aus Heideggers „Jargon der Eigentlichkeit“ . Unentrinnbar errei­
chen uns diese Trost- und Erbauungsschwätzer über das Radio. Da sie
den angeblichen „Sinnverlust“ darüber hinaus als eine „Krankheit“
behandeln, also dessen Wurzeln nicht ausgraben wollen und deshalb
auch nicht können, sind sie reine Kurpfuscher, von denen ich mich
hiermit aufs entschiedenste distanziere. Dieses Buch wird also so we­
nig „Echtes“ oder „Positives“ oder „Sinn“ oder so wenige „W erte“
enthalten wie meine früheren Bücher. Für solche fade Schönwörterei
und für Rezepte gegen das angebliche „Sinnloswerden“ des Lebens ist
die heutige Situation zu ernst. Wer diesem Ernst der Situtation durch
eigenen Ernst zu entsprechen versucht, der hat auf solche Süßigkeiten
zu verzichten.
Aber ehe ich in meinem Essay über den Sinn-Begriff diesen Verzicht
artikulieren werde, werde ich in den zwei umfangreichen ersten Essays
versuchen, die Kategorienverluste, die wir als Kreaturen der Techno-
kratie durchgemacht haben und durchmachen, im einzelnen darzustel­
len. Freilich zweifle ich daran, daß uns (und damit meine ich nicht
mich persönlich) nach Darstellung der Umwälzung noch Zeit genug
bleiben werde, um diese Revolution zu revolutionieren, sie nämlich so
zu lenken, daß wir dem in dieser angelegten Untergang entrinnen -
denn darum geht es, und nicht um die Behandlung oder Erbauung
oder Irreführung von, nach „Sinn“ dürstenden, Privatpatienten.
§8

' Die Metaphysik der industriellen Revolution

Wir hatten anfangs von der fixen Idee der dritten industriellen Revo­
lution gesprochen: nämlich von der obligatorischen Qualität, die das
Machbare angenommen hat; von der Tatsache, daß die („moralische“ )
Entscheidung darüber, ob ein Produkt erzeugt, ein Effekt ausgelöst
werden solle oder nicht, ausschließlich davon abhänge, ob Erzeugung
oder Auslösung möglich sei; daß die Nicht-Erzeugung von etwas Er­
zeugbarem als Skandal gelte und daß nach diesem Kriterium die („m o­
ralische“ ) Qualität der herzustellenden Effekte (und handelte es sich
um die mehrfache Auslöschung der Menschheit) nicht eigentlich zähle
- kurz: daß kein Preis zu hoch sei.
Diese fixe Idee der dritten industriellen Revolution äußert sich aber
noch anders: als skandalös wird nämlich nicht nur die Nicht-Verwer­
tung eines möglichen Rohstoffes betrachtet; nein, sogar die Unterlas­
sung, in etwas Vorhandenem Rohstoff zu erkennen und dieses als
Rohstoff zu behandeln. Die Welt gilt als eine auszubeutende Mine.
Nicht nur sind w ir dazu verpflichtet, alles Ausbeutbare auszubeuten,
sondern auch dazu, die Ausbeutbarkeit, die angeblich in jedem Dinge
(auch im Menschen) verborgen liegt, auszufinden. Die Aufgabe der
heutigen Wissenschaft besteht also nicht mehr darin, das geheime, also
verborgene Wesen oder die verborgene Gesetzmäßigkeit der Welt oder
der Dinge aufzuspüren, sondern darin, deren geheime Verwertbarkeit
zu entdecken. Die (gewöhnlich selbst verborgene) metaphysische Vor­
aussetzung der heutigen Forschung ist also, daß es nichts gibt, was
nicht ausbeutbar wäre. „W ozu dient der Mond?“ (molussisch). D aß er
zu etwas dienen müsse, wird keinen Augenblick bezweifelt.
Die Frage nach dem, was als „W elt“ angesehen werde - in diesem
Sinne hat das dubiose Wort „Weltanschauung“ vielleicht seine Berech­
tigung - ist im Laufe der Geschichte sehr verschieden beantwortet
worden, z.B. mit dem Worte „K osm os“ oder mit „Schöpfung“ oder
„Gegenstand der Erkenntnis“ oder „Inbegriff physischer Prozesse“ .
Stellt man heute die Frage, so kann die Antwort also nur lauten: „R o h ­
stoff“ . Gemeint ist die Welt also nicht als ein „an sich“ , sondern als
eine „fü r uns“ , dies freilich nicht im Sinne des „Idealismus“ , sofern
dieser, grob gesprochen, Welt als Korrelat des Bewußtseins definiert,
sondern im Sinne eines, wenn man so sagen darf: „pragmatischen
Idealismus” , daß Seiendes Korrelat der Verwendung sei. Freilich ist
diese idealistische Pointe oft verschleiert, da wir, wie wir gesehen ha­
ben, Weltgegenstände oft nicht unmittelbar „für uns“ , sondern „für
etwas“ (was wir verwenden) verwenden. Wozu kommt, daß wir Pro­
dukten nachjagen, obwohl wir diese nicht direkt benötigen, nein, ob­
wohl wir deren Verwendbarkeit und unser Bedürfnis nach ihnen noch
nicht kennen, diese vielmehr erst erfinden und erzeugen müssen.
„ Welt” ist also nicht nur der Inbegriff dessen, woraus sich etwas ma­
chen ließe, sondern Inbegriff dessen, woraus etwas zu machen w ir
verpflichtet sind - wobei unausgesprochen unterstellt wird, daß es,
weil nichts sein kann, was nicht sein darf, letztlich nichts gibt, woraus
sich nicht etwas machen ließe. Umgekehrt gilt, daß demjenigen, w or­
aus sich nichts machen ließe, Existenz abgesprochen werden muß, daß
es, wo es uns im Wege ist, vernichtet werden darf. Analog zu dem
nationalsozialistischen „lebensunwerten Leben“ gibt es „existenz­
unwertes Seiendes” . Kurz: Rohstoffsein ist criterium existendi, Sein ist
Rohstoffsein - dies ist die metaphysische Grundthese des Industrialis­
mus, von dem nun die einzelnen Essays handeln werden.
Diesen zweiten Band möchte ich mit einer kurzen Überlegung
eröffnen, die direkt an den Hauptgedanken des Eingangsessays des
ersten Bandes anknüpft, aber weit über diesen hinausgeht und uns
gleich mit der Radikalisierung, die meine philosophischen Reflexionen
erfahren haben, vertraut macht. In dem „D ie prometheische Scham“
betitelten Essay hatte ich unseren heutigen Grunddefekt vorgestellt:
nämlich unsere Unfähigkeit, uns soviel vorzustellen, wie w ir her- und
anstellen können; und hatte betont, daß wir uns nur auf Grund dieses
fatalen Gefälles auf die ominösen Geräte, die wir produzieren und
verwenden, und auf die Verursachung apokalyptischer Effekte durch
diese einlassen. Zu behaupten, daß diese spektakulären Effekte „unab­
sehbar“ seien - ein Adjektiv, das ebenso häufig wie gedankenlos ver­
wendet wird - , wäre ungenau, da wir auf diese Effekte ja umgekehrt
geradezu abzielen, wenn wir sie auch - ich wiederhole die Formel, weil
der in ihr bezeichnete Defekt tatsächlich den Schlüsseldefekt unseres
heutigen Daseins in dem von uns produzierten Technik-Universum
darstellt - nicht vorstellen können.
Diesem unserem Defekt entspricht nun - und damit komme ich zu
meinem Gegenstande - einer auf der Seite der von uns gemachten
Dinge; nicht nur der Einzeldinge, sondern auch, nein, sogar vornehm­
lich, auf der unseres ganzen, netzartig zusammenhängenden, Geräte­
systems. Wenn wir als Vorstellungsunfähige blind sind, so sind die
Geräte stumm:1 damit meine ich, daß ihr Aussehen nichts mehr von
ihrer Bewandtnis verrät. Freilich, ganz präzise ist dieser Ausdruck
„stumm“ nicht, denn Wahrnehmbarkeit kann ihnen ja nicht abgespro­
chen werden. Aber sie bleiben, obwohl irgendwie wahrnehmbar, doch
unerkennbar. Sie schützen ein Aussehen vor, das mit ihrem Wesen
nichts zu tun hat, sie scheinen weniger als sie sind. Auf Grund ihres zu
bescheidenen Aussehens kann man ihnen nicht mehr ansehen, was sie
sind. Viele sehen geradezu, wie z.B. die in Auschwitz eingesetzten
Negative Protzerei 35
Cyclon B-Gas-Dosen, die sich kaum von Fruchtkonservenbüchsen
unterschieden, „nach nichts” aus. Diese „negative Protzerei” , dieses
„M ehr sein als scheinen” hat es in der Geschichte nie zuvor gegeben.
Da das an ihnen Wahrnehmbare mit ihrer Bewandtnis nichts mehr zu
tun hat, könnte man sie „verlogen“ nennen; oder „ideologisch“ - ein
Ausdruck, der bis heute zu Unrecht immer nur zur Charakterisierung
von Begriffen oder Theorien, nicht zu der von Objekten, benutzt
worden ist. Auf jeden Fall sind diese Geräte das „ Unphysiognomisch-
ste” , was es je gegeben hat - womit ich meine, daß ihnen die Fähigkeit
oder der Wille abgeht, das, was sie sind, auszudrücken, daß sie in
extremem Maße „nicht sprechen“ , daß ihr Aussehen nicht mit ihrem
Wesen koinzidiert. Solche Koinzidenz gibt es nicht nur im Bereich der
lebendigen Mimik, sondern auch noch in dem der einfachen Geräte:
denn Hämmern, Stühlen, Betten, Hosen oder Handschuhen ist es
noch anzusehen, wozu sie da sind, sie „sehen aus” .1 Nichts dagegen
zeigen z.B. Kernreaktoren, die genau so harmlos und unscheinbar
aussehen wie jede beliebige Fabrikanlage und weder etwas von ihren
virtuellen Leistungen noch von den ihnen inhärierenden Drohungen
verraten. „ Was soll denn daran so schlimm sein?” fragte höhnisch und
selbstgefällig ein bekannter europäischer Politiker, als man ihn aus
einem (noch nicht in Gang gesetzten) Kernreaktorenbau, durch den
man ihn wie durch eine Schuhfabrik geführt hatte, herauskomplimen­
tierte. Aufs Vorgestrigste glaubte dieser sonst gar nicht so unintelli­
gente Biedermann (der freilich nicht intelligent genug war, um zu
erkennen, was es heute zu erkennen gilt), daß man sich auch heute
noch auf seine Augen und auf einen verstaubten Begriff von „Em pirie“
verlassen dürfe, nein solle und müsse. Daß wir, wenn überhaupt, die
heutigen Geräte allein dann adäquat aufzufassen und zu beurteilen
fähig sind, wenn wir unsere Phantasie: die „ Wahr-nehmung von
heute” , anstrengen - denn diese Anstrengung hat heute an die Stelle
der Hegelschen „Anstrengung des Begriffs“ zu treten - , davon hatte
unser progressiver Staatsmann noch niemals etwas läuten hören, und
das zu verstehen, wird er sicher auch weiter zu vereiteln wissen.
Aber um zum Prinzip zurückzukehren: die ominöse Installation
verbal zu verharmlosen, das war nicht mehr erforderlich, weil diese
durch ihre Unscheinbarkeit sich selbst bereits verharmlost hatte. Philo­
sophisch formuliert : solche Geräte sind, wenn man mit Heidegger
darunter etwas „sich Zeigendes“ versteht, keine „Phänomene“ mehr.
Umgekehrt besteht ihre Leistung darin, daß sie nicht zeigen, was sie
sind, also darin, daß sie sich verbergen. Obwohl ich mir im klaren
darüber bin, daß ich das Wort strapaziere, halte ich es doch nicht für
unangemessen oder blasphemisch zu behaupten, daß das „ Mysterium“
von heute in den Kolossalgeräten und Gerätkomplexen liege, da diese
nur scheinbar sichtbar sind, in Wahrheit aber unsichtbar bleiben. D er
Versuch, ihren Sinn vermittels unserer Sinne wahrzunehmen, wäre ein
völlig unsinniges Unterfangen. - Und das gilt nicht etwa erst heute,
sondern schon seit mehr als einem Jahrhundert. Was sie waren, haben
auch schon die Maschinen unserer Urgroßväter der Wahrnehmung
nicht mehr verraten. Aus diesem Grunde ist es auch unsinnig, Maschi­
nen, die ja nichts verraten, in realistischen Gemälden wiederzugeben,
wie es die sowjetrussischen und die DDR-M aler in ihren „soziali­
stisch-realistischen“ Schinken zu tun pflegen. Sie tun in der Tat etwas
Ähnliches, wie die von Plato in seiner Politeia verhöhnten Maler, de­
nen er vorwarf, „Abbilder noch einmal abzubilden“ . Wenn die Ma­
schinen selbst, wie lärmend sie auch arbeiten mögen (übrigens tun sie
das immer weniger, Satelliten oder Computer dröhnen nicht an­
nähernd so wie die Maschinen der Schwerindustrie des 19. Jahrhun­
derts), - wenn die Maschinen selbst „stumm“ bleiben, dann müssen
die Abbildungen der Stummen erst recht stumm bleiben.3
1978

Nicht im Zeitalter des Materialismus, wie alle Banausen klagen, le­


ben wir, sondern im zweiten platonischen Zeitalter. Erst heute, in der
Epoche der Massenindustrie, kommt dem einzelnen Objekt tatsächlich
ein geringerer Seinsgrad zu als seiner „Idee“ : nämlich seinem blue
print. Was taugt: schon die Glühbirne der Firma Soundso und der
Nummer 78465 3930 neben deren nicht-physischem Modell? Sie ist nur
eine bloße Nachahmung der Idee, damit ein ov, ein Nicht-Seien­
des. Nicht dadurch sind wir 1945 in das atomare Zeitalter eingetreten,
daß wir drei Atombomben fertiggestellt hatten, sondern dadurch, daß
wir das nicht-physische Rezept für zahllose andere besaßen. Und be­
droht war die Sowjetunion damals nicht durch die Existenz von weni­
gen physischen Objekten, sondern durch deren „Idee“ . Und wenn
damals wirklich Diebstahl stattgefunden haben sollte, dann wären
nicht einige Objekte, sondern Modellzeichnungen entwendet worden.
Eine Erfindung patentieren, heißt, wie jedermann weiß: eine Idee
vor Nachahmung und Verwendung schützen. Daß es noch einmal
Eigentum an „Ideen“ und den Versuch geben würde, dieses Eigentum
juristisch zu schützen, das hätte sich Plato nicht träumen lassen.
Im Vergleich mit den wenigen Ideen in Platos Himmel ist die Zahl
unserer heutigen Ideen unendlich, und unendlich wachsend: durch die
Inflation der Erfindungen (die als „Herstellung von Ideen“ bei Plato
nirgends Vorkommen) wächst die Zahl der Ideen täglich in Richtung
„unendlich“ . Wenn wir früher oder später (vermutlich früher) zugrun­
degehen werden, dann als Opfer des Zweiten Platonismus.
D IE A N T IQ U IE R T H E IT
D ER PRO D U KTE

1958

§1

Serienprodukte sind zum Sterben geboren

Das Reproduktionsprinzip der heutigen Industrie besagt nicht nur,


daß die im Serienprozeß erzeugten Produkte hinfällig und vergänglich
sind, nicht nur, daß sie, wie die Stücke früherer Produktgenerationen,
eines Tages leider an Altersschwäche zugrundegehen, sondern daß sie
an einer höchst eigentümlichen Sterblichkeit kranken, an einer Sterb­
lichkeit, deren Charakterisierung geradezu theologisch klingt: daß sie
nämlich sterben sollen, daß sie bestimmt sind zur Vergänglichkeit. Und
vorgesehen ist nicht nur ihre Hinfälligkeit, sondern, mindestens unge­
fähr, auch ihr Fälligkeitstermin, und zwar stets ein möglichst früher. In
den Worten eines Nazi-Liedes, dessen Abzweckung darin bestanden
hatte, den Jugendlichen nicht nur die Tatsache ihrer Ersetzbarkeit,
sondern sogar deren freudige Bejahung einzubläuen: Serienwaren sind
„zum Sterben geboren” .
In diesen Ausdruck horche man hinein.
Ein Sterben, zu dem man „geboren“ wird (das also, statt ein Dasein
nur abzuschließen, von vornherein als dessen Ziel eingesetzt wird), ist
nur dem Namen nach ein „Sterben“ . Nicht auf ihr Sterben hatte man
die Jugendlichen, die man das Lied singen ließ, vorbereitet, sondern
auf ihr Umgebrachtwerden. Und dasselbe gilt vom „Sterben“ der Se­
rienprodukte. Nicht um zu sterben, werden diese geboren, sondern
um umgebracht zu werden.
Und zwar werden sie umgebracht von jenen jungen und frischen
Exemplaren, die (auf Grund der Tatsache, daß ihre Faktur und Lei­
stung identisch ist mit der Faktur und Leistung derer, die gerade an der
Reihe sind) auch das gleiche Recht auf Aktualisierung haben; und die
gewissermaßen als „verpackte Potentialitäten“ immer schon ungedul­
dig und drängend bereitstehen, um die alten abzulösen.
Oder genauer - denn dieses Bild trifft nicht ganz zu: umgebracht
werden die alten von der Produktion selbst. Denn diese bringt die alten
Exemplare willentlich in lebensuntüchtigem Zustande zur Welt. Und
da die Produktion uns, die Benutzer, als Alliierte verwendet, uns näm­
lich dazu anhält und uns dazu erzieht, die Exemplare brauchend zu
verbrauchen, nutzend zu vernutzen, nehmen wir den jungen Exempla­
ren die Mordarbeit ab, so daß diese nun ihre Eintagsstellungen stets
schuldlos und mit unbefleckten Händen antreten können.
Hören wir, was die Molussier dazu zu sagen hatten:
„Daß die Produkte“ , so heißt es in einem der berühmtesten der
molussischen Dokumente,1 „im zartesten Kindesalter sterben, das be­
weist nichts gegen unsere Industrie. Zwar trifft es zu, daß diese sterbli­
che Nachkommenschaft erzeugt, sogar ausdrücklich deren Sterblich­
keit; und daß sie deren durchschnittliche Lebensdauer von vornherein
dosiert und die früh Sterbenden allen anderen vorzieht; sogar daß sie -
was man früher von den Revolutionen behauptet hatte - ,ihre eigenen
Kinder fresse' Aber sie deshalb zu tadeln, ihr deshalb skrupellose
Bevölkerungspolitik vorzuwerfen oder sie deshalb gar eine ,monströse
Mutter* zu schelten, das wäre ebenso beschränkt wie verleumderisch.
Die Industrie weiß, was sie tut und was gut ist. Überlegt es euch nur
einen Augenblick lang, wo wir stünden, wenn sie so töricht wäre, zu
gute, zu gesunde, zu langlebige oder gar - wovor die Götter uns be­
wahren mögen - unsterbliche Nachkommenschaft zu produzieren. E r­
kennt Ihr denn nicht, daß sie sich dann um ihre eigene Fruchtbarkeit
bringen und mit sich selbst auch uns ruinieren würde? Die Sterblich­
keit ihrer Kinder ist die Garantie ihrer Unsterblichkeit und unserer.
Und wir sollten sie preisen als eine der Bürgschaften unseres Glücks!
Nennt also die Produktion keine grausame Mutter! Wenn sie eine
entsetzliche Bevölkerungspolitik betreibt, so ausschließlich im Inter­
esse ihrer weiteren und ständigen Fruchtbarkeit. Und ihre Ingeniosi­
tät, nicht nur sterbliche Kinder zu produzieren, sondern die Sterblich­
keit ihrer Kinder, die beweist sie von früh auf. Darum können wir es
ruhig einräumen, daß sie ihre Kinder nicht nur ausdrücklich sterblich
macht, sondern daß sie diese von deren erster Stunde an degradiert.
Einen bestimmten Artikel zu tragen, ein ,der‘ zu sein, erlaubt sie kei­
nem von ihnen. Jedes darf sein Leben nur als ein ,ein‘ absolvieren. Und
keinem von ihnen gönnt sie das beruhigende Gefühl einer Identität mit
sich selbst. Zwar, identisch sein soll es schon, muß es sogar. Aber eben
doch nur mit jenem Muster, als dessen soundsovieltes Exemplar es
angetreten ist, bzw. mit jenen zahllosen Geschwistern, die genau wie
es selbst, als soundsovielte Exemplare desselben Musters zur Welt
gekommen sind. Wer also glaubt, die heutige Situation mit den Worten
beschreiben zu können: ,Was heute erzeugt wird, das wird morgen
zum Ausschuß“, der bleibt hinter der Wahrheit zurück. Wahr ist viel­
mehr, daß die Produktion die Produkte als Ausschuß von morgen
erzeugt, daß Produktion Erzeugung von Ausschuß ist. Von Ausschuß
freilich, zu dessen Wesen es gehört, daß er sich vorübergehend im
Status der Verwendbarkeit aufhalte.“

Uber das Ende einer Tugend

Wir Produkteigentümer und -benutzer stehen dem schonungslosen


und ausnahmslos siegreichen Kampf, den die Produktion kontinu­
ierlich gegen die Generation ihrer gestrigen Produkte führt, nicht
gleichgültig gegenüber. Vielmehr stehen wir auf ihrer Seite, d. h.:
au f der Seite der Produktion - und das bedeutet, daß wir am Kampf
als Partisanen der jeweils jungen Generation teilnehmen. Und das
bedeutet wiederum, daß auch wir selbst schonungslos gemacht wer­
den.
Auch wir. Denn uns in einer Welt, deren Maxime es ist, die
Ablösung der alten Produktgeneration durch die jüngere so rapide wie
möglich durchzuführen, rücksichtsvoll den Dingen gegenüber zu be­
nehmen, das ist kaum möglich. Wenn einer von uns den Versuch
trotzdem wagt, dann schwimmt er gegen den auch ihn tragenden
Strom. Und wenn ihm der Versuch glückt, wenn es ihm gelingt, den
Augenblick der Ablösung (der alten Generation durch die junge) zu
retardieren, dann gilt er als Saboteur. Schonungslosigkeit ist fü r uns
zum moralischen Gebot geworden.
Natürlich wird dieses Gebot niemals und nirgendwo verkündet.
Wenn jemand Gesetzestafeln mit den Inschriften „Beherrsche deine
Rücksicht Dingen gegenüber!“ oder: „Vermeide die Schonung deines
Eigentums!“ oder: „Kultiviere Schonungslosigkeit!“ aufrichtete, dann
würde uns das aufs tiefste befremden, wir würden die Befehlenden für
verrückt halten. Nichtsdestoweniger existieren diese Gebote, und um
so massiver, je heimlicher und indirekter sie auftreten. Und diese Tarn-
formen sind nicht etwa nur seltene oder gelegentliche Erscheinungen,
sondern Realitäten, die zu den auffälligsten und unentrinnbarsten un­
serer Welt gehören. Das scheint den Ausdrücken „indirekte Fassun­
gen“ und „Tarnformen“ zu widersprechen. Heute nicht. Denn unter
„ Tarnungen“ darf man sich heute keine Übersetzungen ins Unschein­
bare vorstellen - so wird heute nicht getarnt -, sondern Übersetzungen
ins Auffällige und Lärmende; Steigerungen, die die Stimme der Wahr­
heit übertäuben. Daß das beste Refugium vor der Wahrheit das Ge­
brüll ist, wissen wir ja seit einem Vierteljahrhundert. Und in Gebrüll
bestehen tatsächlich die Tarnversionen der Gebote. Ich spreche von
der R ek lam e.
Warum sind Reklamewerbungen die Tarnversionen der Gebote?
Weil jede Reklame, abgesehen davon, daß sie schonungslos ist (näm­
lich immer unser Leben unterbricht, uns immer „dazwischenfunkt“ ),
zugleich immer auch zur Schonungslosigkeit aufruft. Zur Schonungs­
losigkeit deshalb, weil wir ja von den Stücken, die sie uns zu kaufen
befiehlt, 95% (wenn vielleicht auch in etwas anderer Ausführung) im­
mer schon besitzen. So wird mir zum Beispiel, während ich an diesem
Text schreibe, von einem meiner Schreibunterlage aufgedruckten Text
beharrlich empfohlen, d. h.: befohlen, statt meines Kugelschreibers,
der völlig ausreicht, einen „garantiert auch unter Wasser funktionie­
renden“ zu erwerben; also, obwohl ich nicht das mindeste Bedürfnis
nach submariner Schriftstellerei verspüre, meinen gewohnten Stift dem
neuen zu opfern. Was sich dieser Unterlagen-Text herausnimmt, das
nimmt sich jede Reklamewerbung heraus. Jede fordert uns implizit
dazu auf, auf diejenigen Objekte, die wir bereits besitzen, zu verzich­
ten; sie als erledigt beiseitezuschieben, also: schonungslos zu sein. Jede
Werbung ist ein Appell zur Zerstörung.
Wie mühselig es auch sein mag, die Wirkung einzelner Werbungen
abzuschätzen - ein ganzer heutiger Wissenschaftszweig ist ja damit
beauftragt und damit beschäftigt, Methoden zur quantitativen Erfas­
sung der Reklame-Effekte auszubilden -, daß die Reklame als Gesamt­
erscheinung ihre Früchte trägt, wird von niemandem bestritten. Damit
ist aber auch (sofern die Unterscheidung zwischen diesen zwei Erfol­
gen überhaupt nötig oder sinnvoll ist) derjenige Erfolg zugegeben, den
der Appell zur Schonungslosigkeit für sich buchen darf. Dieser Erfolg
ist in der Tat so offenkundig, daß man schon mit Blindheit geschlagen
sein muß, um nicht dessen Reflexe in unseren Gesten und Physiogno­
mien zu erkennen. Da w ir in einer Welt leben, die ausschließlich aus
Dingen besteht, die nicht nur ersetzbar sind, sondern ersetzt werden
sollen (in extremen Fällen sogar gierig auf Ersetztwerden auftreten), ist
es nicht nur plausibel, sondern einfach unvermeidlich, daß wir einen
Umgangstypus ausbilden, der diesen prononziert sterblichen und to­
deswürdigen Gegenständen angemessen ist; daß wir in G riff, Gang,
Sitz und Miene Acht- und Achtungslosigkeit entwickeln. Und nicht
nur den Dingen gegenüber. Es scheint mir undenkbar, daß Verhaltens­
arten, die Produkten gegenüber nicht mehr als Tugenden, umgekehrt
sogar als Untugenden gelten, im Verkehr der Menschen miteinander
als Tugenden aufrechterhalten werden können. Die Menschheit, die
die Welt als „ Wegwerf-Welt“ behandelt, behandelt auch sich selbst als
„ Wegwerf-Menschheit“ .
Man mache sich klar, was damit behauptet wird. Nicht mehr und
nicht weniger, als daß alle bisherigen Moralen (wie fundamental ver­
schieden diese auch gewesen sein mögen) zu einer Epoche zusammen­
geschrumpft sind: denn es hat niemals eine gegeben, in der nicht Pro­
duktschonung selbstverständlich gewesen wäre; und daß diese Epoche
nunmehr hinter uns liegt. Schonung gilt nun als antiquierte Tugend,
und das mit Recht.
Aber damit nicht genug. Denn an die Stelle der antiquierten ist nun
als Tugend das Gegenteil getreten: Tugend ist nun die Schonungslosig­
keit. Und wer die nicht mitmacht, der gilt als verdächtig. Schon in den
vierziger Jahren kannte ich den Fall einer Studentin, die in jeder wich­
tigen Hinsicht wahrhaftig normal war, aber deshalb in eine psychoana­
lytische Behandlung hineingezwungen wurde, weil sie sich stets dage­
gen sträubte, sich von ihrer Mutter immer wieder neue Kleider (die sie
wirklich nicht benötigte) kaufen zu lassen. Nicht nur als „stubborn“
wurde sie klassifiziert, sondern als „poorly adapted“ . Schlecht adap­
tiert woran? An das Schonverbot, und das heißt: an die herrschende
Welt. Und nicht nur als zu behandelnder „crank“ galt sie, sondern als
P ro d u k t io n d estru iert 43
virtueller Feind, als „leftist“ . „Denn wer uns nicht zu Willen ist I der
ist ein Saboteur“ . (Molussisches Lied der Produkte)

§3

Das Schlaraffenland der Produktion

Wenn diese These zutrifft, dann gibt es in der Tat nichts Kurzsichti­
geres, als unsere heutige Schonungslosigkeit ausschließlich in unseren
kriegerischen, also in den manifest zerstörerischen Handlungen erken­
nen zu wollen. Und nichts Törichteres, als in unserer Reproduktions­
technik ein Gegengift zu sehen, also ein Mittel, mit dessen H ilfe wir
unserer Zerstörungslust entgegenarbeiten könnten. Daß hinter unse­
rem heutigen Wiederaufbau der im zweiten Weltkrieg zerstörten
Städte eine Mentalität wirksam sei, die der kriegerischen entgegenge­
setzt sei, das ist höchst zweifelhaft. Der nicht unzufriedene Berliner
Chauffeur, der im Jahre 1953 die Trümmerlandschaft des Tiergarten­
viertels mit den Worten kommentierte: „Bauplätze habense uns im­
merhin in hellen Mengen jeschafft“ , kommt der Wahrheit zwar schon
nahe, da er immerhin auf den Zusammenhang von Destruktion und
Konstruktion aufmerksam machte.' Aber die volle Wahrheit hat er
doch nicht ausgesprochen, da er die Tatsache, daß der Produktion
selbst das Destruktionselement innewohnt, noch unausgesprochen ge­
lassen hat.
Wirklich ans Licht tritt die Wahrheit erst in demjenigen Augen­
blicke, in dem man sich klar macht, wie es heute mit der alten, auf ihre
Positivität so stolzen, Redensart: „zerstören ist leicht, aber aufbauen!“
steht. Denn diese Redensart, die früher nur trivial gewesen war, die ist
heute nun einfach sinnlos geworden. Und das nicht nur deshalb, weil
im Zeitalter der Serienproduktion statt der „Sache selbst“ immer nur
Exemplare zerstört werden können (was schon Hitlers Bücherver­
brennung zu einer ideologischen Aktion, nein zu einer Farce gemacht
hat); und nicht nur deshalb, weil das Quantum, das sich heute in einem
gegebenen Zeitraum herstellen läßt, kaum mehr kleiner ist als das
Quantum, das im gleichen Zeitraum vernichtet werden kann; sondern
- und damit kehren wir zu unserer Hauptthese zurück - deshalb, weil
Zerstören und Wiederaufbauen gar nicht einander entgegengesetzt
sind, sondern einer und derselben Wurzel entspringen: eben dem Re­
produktionsprinzip; und weil dieses Prinzip als solches destruktiv,
nämlich am Ruin seiner Produkte interessiert ist. Wenn man einmal
versuchen würde, in einem utopischen Gemälde die Situation zu ent­
werfen, in der alle Blütenträume der heutigen Reproduktionstechnik
gereift wären, also die Schlaraffenlandsituation (nicht des Konsumen­
ten, sondern des Erzeugers) eingetreten wäre, dann hätte man eine
Welt zu schildern, in der es Gebrauchen überhaupt nicht mehr gäbe,
sondern nur noch schonungslosestes Verbrauchen; in der alle Produkte,
gleich ob Damenstrümpfe, Wasserstoffbomben, Autos oder Städte,
nicht anders als die Produkte der Lebensmittelindustrie oder als die
der Pappteller oder der Papierservietten durch Gebrauchtwerden un­
mittelbar vernichtet würden; kurz: eine Welt, in der sich die gesamte
Industrie in eine einzige alles umfassende Konsummittelindustrie ver­
wandelt hätte3
Wenn dieses Bild utopisch bleibt, so (aus der Perspektive der Indu­
strie gesprochen) vor allem durch unsere Pflichtvergessenheit.4 Näm ­
lich deshalb, weil w ir Kunden es versäumen, gegen die Unterentwick­
lung unserer Schonungslosigkeit mit genügender Energie anzukämpfen
und den idealen Möglichkeiten, die zur Verwirklichung drängen,
durch angemessenes konformistisches Benehmen entgegenzukommen.
So sieht es jedenfalls aus der Perspektive des Reproduktionsprinzips
aus. Und so falsch ist diese Perspektive nicht. Denn wirklich sind wir
alle ja antiquiert geblieben. Sehr im Unterschiede zu Benjamin machen
wir ja auch die Serienprodukte, obwohl diese im Augenblicke des E r­
werbs unauratisch gewesen waren, nachträglich auratisch, wir „aurafi-
zieren“ sie, wir durchtränken sie mit unserer Daseinsatmosphäre: an
die von der Stange gekauften Hosen hängt sich unser Herz nicht min­
der fest als an maßgeschneiderte, die Sentimentalität dringt in unsere
Beziehung zu Massenwaren genau so tief ein wie in unsere Beziehun­
gen zu Unikaten. Auch die Fabrikprodukte behandeln wir als „diese
Stücke“ , als „unsere Stücke“ , als „unersetzliche Stücke“ , statt (wie es
sich in der heutigen Situation gehörte) als „solche“ Stücke, als eigentü­
merlose Stücke, als ersetzbare Stücke. Und wenn wir Stücke abstoßen
sollen, sind wir oft unfähig, diejenige Indifferenz oder gar diejenige
Genugtuung aufzubringen, die im Zeitalter, in dem Schonungslosig­
keit zur Tugend geworden ist, eigentlich geboten wäre. Wer weiß, ob
es nicht bald psychoanalytische Spezialisten geben wird, die es sich zur
Aufgabe machen werden, unsere Tabu-Hemmungen d er Dingwelt ge­
genüber aufzulockern und uns instandzusetzen, Produkte mit Gusto
und mit gutem Gewissen zu vergewaltigen. Zum Kursus mitzubrin­
gen: tadelloses Porzellan und ein schwerer Hammer.

§4

D er unerwünschte Eigentümer

Produkte werden erzeugt, um als Waren verkauft und als solche


Eigentum zu werden.
Wenn nun, wie wir es eben gesehen haben, die heutige Produktion
als ganze dahin tendiert, ihre Erzeugnisse dem Typus der Konsumpro­
dukte anzuähneln, und wenn sie viele Produkte dieses Typs heute
bereits erzeugt, dann müssen diese Erzeugnisse in ähnlichem Sinne
„Eigentum“ werden, in dem Konsumprodukte Eigentum sind.
Aber sind Konsumprodukte überhaupt Eigentum?
Zum Wesen jedes Gutes, das Eigentum sein will, gehört Zeit: näm­
lich die Dauer, während derer es sich identisch mit sich selbst durch­
hält. Und zum Wesen des Eigentümers, daß er die Freiheit habe, auf
dieses Gut nach beliebiger Zeit zurückzukommen. Von Gütern, die
diese Möglichkeit nicht bieten, kann man nicht Eigentümer werden.
Diese Möglichkeit, „auf etwas zurückzukommen“ , bieten nun aber
Konsumwaren nicht. Wenn wir ein Konsumprodukt erworben haben,
dann haben wir es, sobald w ir es gebraucht haben, auch verbraucht,
dann bricht unser Hunger von neuem aus - wieder stehen wir als
Nicht-Eigentümer da, wieder vis-a-vis de rien, wieder haben wir unser
Brot einzuholen und unsere Milch, und das miserable Karussell be­
ginnt von vorn.
Miserabel ist dieses freilich nur für uns. Denn gerade diese Karus­
selldrehung ist es, die den Fortbestand der Konsummittelindustrie ge­
währleistet. Wenn diese Industrie ihr Produktionstempo durchhält, so
allein deshalb, weil wir als immer wieder Bedürftige ihre Produkte
immer wieder vernichten; weil wir, uns fütternd, sie füttern; weil wir,
uns sättigend, sie sättigen. Kurz: weil wir niemals Zeit haben, Eigentü­
mer zu werden.
Die Gegenprobe macht unseren Gedanken deutlicher. Besäßen wir
ein Mittel (etwa ein märchenhaftes Dauerbrot), das, ohne sich aufzu­
brauchen, täglich weiter gebraucht werden könnte, dann würde dieses
Stück Eigentum den Bäcker dazu zwingen, seinen Laden zu schließen.
Unser „ Eigentum“ wäre sein Ru in. Und plötzlich käme das berühmte
dictum „Eigentum ist Diebstahl“ aus seinem Munde, also aus dem
Munde des Produzenten statt aus dem des Proletariers, und würde
einen ungeahnt neuen Sinn annehmen. Nicht den, daß Eigentum ge­
stohlen sei. Sondern den, daß jedes Stück Eigentum, das in den H än­
den des Käufers haltbar bliebe, den Produzenten bestehle: nämlich um
die Chance der Weiterproduktion.
Das Wesen der Konsumwaren besteht darin, daß sie dasind, um
nicht dazusein. Sie werden hergestellt, um im Gebrauch so rasch wie
möglich verbraucht zu werden. Wenn sie aber im Gebrauch ver­
braucht werden, dann fehlt ihnen jene Zeit, in der sie sich (s. o.) als mit
sich selbst identische Gegenstände konstituieren könnten bzw. in der
ihre Eigentümer auf sie „zurückkommen“ könnten.5
In anderen Worten: Zum Wesen des Konsumgutes gehört „Ephe-
merität“ . Als „ephemer“ wird es hergestellt. Und als solches entzieht
es sich dem Eigentum-werden. - Niemals hat es einen Begriff gegeben,
der dem der Ewigkeit so antipodisch entgegengesetzt gewesen wäre
wie dieses Ideal der Nichtdauer. Hatten die Dinge unserer Welt bei
Plato als ontologisch minderwertig deshalb gegolten, weil sie, im U n­
terschiede zu den Ideen, der Zeit unterworfen, also vergänglich waren,
so gelten in den Augen der heutigen Produzenten die normalen Pro­
dukte als ontologisch minderwertig, weil sie grundsätzlich zu langsam
vergehen. Als Ideal gilt statt des stehenden Aei das Aufblitzen des Nu,
der Bestand, der überhaupt nicht Bestand annimmt. - Dies die Onto­
logie des industriellen Zeitalters, die man wohl eine „negative Ontolo­
gie“ nennen dürfte.

Auch die Waffen gehören in diese Klasse der idealen Gegenstände,


der Gegenstände, die durch (den ersten) Gebrauch verbraucht werden
sollen. Eine Napalm-Bombe kann man so wenig zweimal werfen, wie
man eine Semmel zweimal essen kann. Insofern sind sie „Konsum­
artikel“ und ähneln, gegenstandstheoretisch gesprochen, den Semmeln
mehr als anderen Produkten der Industrie. Wenn eine Waffe „sich
„Negative Ontologie" 47

weigert“ , sich durch erste Benutzung zu vernutzen und aufs störrisch­


ste brauchbar bleibt; oder wenn zum Beispiel durch politische Stüm­
perei ein Mangel an Kriegen, also an möglichen Abnehmern, eingeris­
sen ist, dann greift der Produzent natürlich zu anderen Mitteln: Dann
liquidiert er die Waffen nämlich dadurch, daß er eine sogenannte
„bessere Waffe“ erfindet - was zur Folge hat, daß seine erste Waffe aus
dem Gebrauch gezogen und dadurch eben doch „liquidiert“ wird.
Das furiose Tempo, in dem in der kapitalistischen Welt eine Produkt­
kategorie die vorige ablöst, hat fast niemals seinen Grund darin, daß
„Verbraucher Besseres brauchen“ . In vielen Fällen - das gilt vor
allem von den nuklearen Liquidierungswaffen - wäre „Verbesserung“
auch gar nicht mehr möglich, weil es Effekte, die größer wären
als die der vorigen Waffen, gar nicht mehr geben kann. Wenn man
trotzdem an der „Verbesserung“ dieser Waffen weiterarbeitet, so eben,
um die gestrigen zu liquidieren; und weil man zu blind ist, willent­
lich zu blind ist, um einzusehen, daß das Zeitalter, in dem einen
Komparativ zu bilden noch sinnvoll war, endgültig hinter uns liegt.
Töter als tot gibt es nicht. Totaler als total kann die Menschheit sich
nicht ausrotten - und das kann sie bekanntlich bereits seit Jahr­
zehnten.6

Si
D i e ,Fabrikw ärm e“

Das Verhältnis zwischen Konsum und Eigentum ist kompliziert,


wenn man will „dialektisch“ : Eigentümer von Konsumgütern sind wir
nur dann, wenn wir sie nicht konsumieren. Qua Konsumierende dage­
gen nicht.
Das kann ein Doppeltes bedeuten: Entweder, daß wir (z.B. wenn
wir die lange aufbewahrte Dauerwurst aufessen) einfach dadurch, daß
wir das Eigentumsgut vernichten, aufhören, dessen Eigentümer zu
sein. Oder - und allein dieser Fall geht uns hier etwas an - daß die
Fabrik ihr Produkt ,,fabrik-w arm “ liefert, d. h. unter der Vorausset­
zung und mit der Stipulation, daß es in diesem Zustande sofort konsu­
miert werde. Das Wort „sofort“ ist hier ausschlaggebend: Es besagt,
daß es zu jener „Dauer“ , die, wie wir gesehen hatten, als Bedingung
für das Eigentum-werden eines Gutes erforderlich ist, überhaupt nicht
komme. -
Aber diese extreme Möglichkeit ist nicht die einzige. Zwischen zwei
äußersten Möglichkeiten: dem Eigentumsstück im klassischen Sinne,
für das Dauer konstitutiv ist, und demjenigen, das einen mit seiner
Produktion gleichzeitigen oder beinahe gleichzeitigen Konsum ver­
langt, dehnt sich ein breites Terrain aus: das der alltäglichen Waren, die
wir heute kaufen, morgen verbrauchen und übermorgen durch neue
ersetzen. Aus der Perspektive des Produzenten: die wir heute kaufen,
um sie morgen schon verbraucht zu haben und um sie übermorgen
bereits durch neue zu ersetzen.
Das heißt: schon in diesem, dem heute normalen Fall ist das Ver­
brauchstempo so kurz bemessen, daß es dem Produkt die zum Eigen­
tum-werden nötige Zeit kaum mehr läßt, und dem Kunden kaum mehr
die Zeit, deren Eigentümer zu werden.
Freilich nur „kaum mehr“ . Denn alle Zweige der Industrie, mit
Ausnahme der Konsummittel-Industrie, haben ja doch „leider“ mit
einem Intervall zu rechnen, das sich zwischen Kauf und Verbrauch
schiebt; eben mit demjenigen Zeitraum, während dessen das Gut
„nur“ Eigentum ist, „nur gehabt“ , „nur verwendet“ wird. Aber diese
Verwendungszeit, die Zeit, in der das Produkt Eigentum ist, ist für die
Produzenten eine tote Zeit; eine Zeit, die sie dem Kunden eigentlich
verübeln; die sie (obwohl sie die Dauerhaftigkeit ihrer Waren anprei­
sen) abzukürzen lieben, ja die sie (da wir als Käufer ausfallen, solange
wir Habende, also Eigentümer, sind) am liebsten abschaffen möchten.
Jeder Anzug, jedes Radio, jeder Kühlschrank, jedes Stück, das, statt
sich sofort aufzubrauchen, etwas aushält und sich als verwendetes
Stück Eigentum erhält und bewährt, ist (um den vorhin benutzten
Ausdruck wieder aufzunehmen) ein „ Dauerbrot“ . Und als solches
„D iebstahl'. Das Tempo, in dem die Industrie ihre Saisonmoden
wechselt, ist eine „Rachemethode“ ; eine Maßnahme, durch die sie sich
an der Haltbarkeit ihrer Produkte rächt. Den noch gut wärmenden
Mantel macht sie, da sie ihn physisch nicht ruinieren kann, sozial
unverwertbar. D ie Mode ist die Maßnahme, die die Industrie verwen­
det, um ihre eigenen Produkte ersatzbedürftig zu machen.
Kein Wunder, daß alle Industriezweige voll Eifersucht auf ihren
einen idealen Zweig: die Konsummittel-Industrie, blicken, deren Pro-
„Intermittierende Eigentümer“ 49

dukte auf so bewunderungswürdige Weise eigentum-ungeeignet blei­


ben; und daß sie in diesen das Wunschmodell aller Produkte sehen.
Am beliebtesten bei der Produktion wären wir Käufer, wenn wir ihre
Güter nicht nur als Esser, sondern als Käufer aller ihrer Produkte
vernichten und dadurch ihr Produktionstempo in Gang halten wür­
den. Also wenn wir eigentumslos bleiben würden.
Aber diese Konjunktive „wären“ und „würden“ sind schon beinahe
überflüssig. Die Wirklichkeit kommt diesem Wunschtraum schon sehr
nahe. Denn sofern uns die Produktion als Eigentümer betrachtet, be­
trachtet (und, was wichtiger ist: behandelt) sie uns als Eigentümer
ephemerer Güter. Das heißt: sie hofft darauf, daß wir uns durch Ver­
brauch unseres Eigentums möglichst rasch wieder enteignen, damit
wir uns möglichst rasch Neues anschaffen, damit wir dieses möglichst
rasch von neuem abstoßen. Und so ad inf. Sie wünscht und behandelt
uns als „intermittierende Eigentümer“ .7
Durch die Verwandlung des Eigentümers in einen „intermittieren­
den Eigentümer“ ist der Begriff „ Eigentum” aufs tiefste verändert,
wenn nicht sogar zerstört. Bemerkenswert immerhin, daß diese Zerstö­
rung nicht das Werk irgendeines Sozialismus ist. Vielmehr ist es die
Industrie selbst, die uns dazu zwingt, die Beständigkeit des Eigentums
durch das Alternieren von Haben und Nichthaben zu ersetzen.
Das bedeutet natürlich nicht, daß die Industrie uns mittellos
wünscht. Im Gegenteil: da sie uns ja als konstante Käufer benötigt,
wünscht sie uns so bemittelt wie möglich. Ihr Traum ist eine Mensch­
heit, die aus „bemittelten Habenichtsen“ besteht, aus Kunden, die, im
Unterschiede zu Eigentümern, alles benötigen; und zwar deshalb alles,
weil sie alles durch Gebrauchen verbrauchen; und die niemals, wie es
Eigentümer können, mit den sabotierenden Worten „hab ich schon”
einen Strich durch ihre Rechnung machen können.
Darauf, solche Idealkäufer vorzufinden, kann sie natürlich nicht
rechnen. Zumeist hat sie diese Kundschaft sogar erst selbst herzu­
stellen.
Aber diese Herstellungsaufgabe fällt ihr nicht schwer. Tatsächlich
erfüllt sie diese kontinuierlich. Und zwar dadurch, daß sie jeden E i­
gentumsstand hokus pokus fidibus in einen Notstand, in eine Situation
des Nichthabens und Bedürfens umzaubert; in eine Situation, in der
der Käufer (und zwar auf Grund der Ware, die er gerade erworben hat)
so und so viele Güter vermißt; in der er sich so und so viele Güter, die
er sich als dessen Eigentümer eigentlich leisten müsse, noch nicht gelei­
stet hat. Dieses Nicht-haben ist eine Folge des Habens. „Richesse ob-
lige“ , spricht die Produktion. „Wenn du Ware A kaufst, dann bist du
dazu verpflichtet oder gezwungen, auch die Ware B zu erwerben.“
In anderen Worten: Die Produktion stellt die Habenichtse dadurch
her, daß sie jedes ihrer Güter so erzeugt, daß dessen Besitz ohne den
zusätzlichen Besitz anderer Güter wertlos bleiben würde. Tatsächlich
gehört die Herstellung dauernden Notstandes zu den Haupttätigkeiten
aller Produktionen. Ja, Notstand gehört in gewissem Sinne als Attribut
zu jedem ihrer Produkte. Denn jeder Ware gibt sie Hunger mit, die der
Käufer durch einen neuen Kauf stillen muß. Den Autos zum Beispiel
den Hunger nach Benzin, das die Autos nun effektiv so verbrauchen,
wie der Mensch die Milch verbraucht. Ich sage „verbraucht“ , weil die
Gleichung „ verwenden = aufbrauchen“ nun offensichtlich auch von
den Nicht-Konsumgütern gilt. D a jedes erworbene Gut nun erneutes
Kaufen erfordert, wird jeder Käufer von neuem zum Konsumenten.
Wenn ein Automobil-Eigentümer, nachdem er sich einen Wagen zuge­
legt hat, darauf hoffen würde, sich nun auf den Lorbeeren des einmal
erworbenen Stückes ausruhen zu können, dann würde er ein blanker
Habenichts bleiben.

§6

Die Liquidierung der Produkte

Wir hatten gesehen: Konsumprodukte erlöschen durch ihre Ver­


wendung. Sie sind da, um nicht mehr da zu sein. Verwendetwerden
und Liquidiertwerden fallen bei ihnen zusammen. Eigentum können
sie also eigentlich nicht werden bzw. nur insofern und nur so lange, als
sie nicht verwendet werden. Da ihre Verwendung (also die Liquidie­
rung ihres dinglichen Bestandes und ihres Eigentum-seins) die Pro­
duktion weiterer Konsumprodukte erforderlich macht, diese also för­
dert, ist es begreiflich, daß die Industrie als ganze danach trachtet,
diese Förderungsmethode zu übernehmen; also den Ding- und Eigen­
tums-Status ihrer Produkte gleichfalls aufzuheben.
In anderen Worten: Am liebsten würde die Industrie am laufenden
Bande produzieren und verkaufen. Dieses Ideal würde sie nur dann
erzielen, wenn sie uns dazu bringen könnte, ihre Produkte unverzüg­
lich durch Verwendung zu liquidieren. Denn durch diese Liquidierung
wäre sie ja gezwungen, sofort Neues zu produzieren und zu verkau­
fen. Aus diesem Grunde hat sie, wo immer auch nur die geringste
Möglichkeit dafür besteht, zu versuchen, die Methode, die die Kon­
sumindustrie verwendet, nachzuahmen: also den Zwischenraum, der
sich zwischen Produktion und Liquidierung des Produktes erstreckt, so
kurz wie möglich zu machen, Es ist ihre Aufgabe, die Ding- (und
Eigentums-) Form ihrer Produkte als eine unlohnende Zwischenform,
das dinghafte Produkt als einen Umweg, als eine A rt von B arra ge ,
anzusehen; sich auf die Dingform erst gar nicht einzulassen, diese zu
vermeiden, auf diese zu verzichten.
Daß sie diesen Weg tatsächlich einschlägt, beweist die Rundfunk-
und Fernseh-Industrie.8
Denn in diesen ist nun die Zwischenform „D ing“ wirklich nicht
mehr auffindbar. In ihnen gibt es nichts mehr, was etwa dem Gegen­
stande „Buch“ entspräche, Und zwar deshalb nicht, weil das Produkt
direkt „fa b rik -w a r m “ in den Empfänger hineinproduziert wird.
Das einzige Bild, das den Tatbestand, den wir im Auge haben, ange­
messen wiedergibt, ist das von Mutter und Säugling, Die Industrie ist
die Mutter, die Säuglinge sind die Hörer bzw. Zuschauer. Aber „Säug­
linge“ sind wir Zuschauer nicht etwa nur deshalb, weil wir (was oft
außerdem zutrifft) durch das kindische Zeug, das wir empfangen, in-
fantilisiert werden; sondern deshalb, weil die Methode, mit deren
Hilfe uns die Produkte (gleich ob „people are funny“ oder die H-
moll-Messe) zugestellt werden, in „Einflößung“ besteht. So wenig wie
die Muttermilch zwischen Brust und Lippe nimmt die „Sendung“
zwischen Sender und Empfänger in der Zeit zwischen Produktion und
Konsum einen eigenen Gegenstands-Status, geschweige denn einen
eigenen Eigentums-Status an. Unser alltäglicher Sprachgebrauch bestä­
tigt das. Daß wir uns des Wortes „Sendung“ bedienen, um sowohl das
Senden wie das Gesendete zu bezeichnen, ist gewiß kein Zufall, und
ebensowenig, daß wir uns nur selten darüber im klaren sind, ob wir
gerade diese oder jene der zwei Bedeutungen dabei meinen, Denn im
Unterschiede zu anderen Waren (etwa uns zugesandten Büchern), die
zwar im Augenblicke ihres Eintreffens „Sendungen“ heißen mögen,
aber im nächsten Moment bereits aufhören, „Sendungen“ zu sein und
nun statt dessen Eigentumsstücke werden und als solche Bestand an­
nehmen, haben die Rundfunk- und Fernsehsendungen nur solange
Bestand, als sie Sendungen sind. Oder sie haben überhaupt keinen.
In gewissem Sinne übertreffen sie damit sogar das Vorbild der Kon­
sum-Industrie. Denn die Zweiheit von Konsumgut und Konsum, von
„Essen“ (im Sinne von Speise) und „Essen“ (im Sinne von Verspeisen)
ist hier ja nun aufgehoben. Die zwei fließen zusammen und bilden auf
so ununterscheidbare Weise einen einzigen Vorgang, daß der Konsu­
ment, der das „Essen“ (im Verbal-Sinne) in demjenigen Augenblicke
versäumt, in dem ihm das Essen (im Substantiv-Sinne) entgegenfließt,
auch die Chance versäumt, der Speise überhaupt habhaft zu werden.
Denn diese besteht eben (sofern sie überhaupt „besteht“ ) ausschließ­
lich in demjenigen Augenblicke, in dem sie geliefert wird.9
Daß sie damit auch der Möglichkeit, Eigentum zu werden, verlustig
geht, das liegt auf der Hand.
Zwar können formal-juristisch Rundfunk- und Fernsehsendungen
als „unser Eigentum“ klassifiziert werden, da wir für ihren Empfang
zahlen und da sie uns als bezahlte Waren ins Haus geliefert werden.
Aber diese Klassifikation wird durch die „Gegenstandslosigkeit“ die­
ser Waren „gegenstandslos“ gemacht. Tatsächlich gibt es wohl kaum
einen Rundfunk- oder Fernsehkunden, der Sendungen so klassifizie­
ren würde. Und keinen, der sich, solange er zuhört oder zusieht, als
„Eigentümer der Sendung“ fühlt. Verglichen mit dem Leser, der über
einem von ihm bezahlten Buche sitzt, ist er auch wirklich kein Eigen­
tümer mehr. Vielmehr verzehrt er das Gesendete während der Sen­
dung. Möglichkeiten, diese außerhalb des Verzehrs zu „haben“ , sind
ihm nicht gegeben. Auf sie „zurückzukommen“ , fehlt ihm die Chance.
Der Gegenstand ist ein Konsumgegenstand, der, da er sofort verzehrt
wird, die sofortige Nachlieferung einer weiteren Sendung nötigmacht;
und so ad infinitum.
Die Unfähigkeit, Eigentum zu werden, läßt sich noch anders formu­
lieren:
Wenn sich das gesendete Produkt nur im Augenblick der Sendung
selbst konsumieren läßt, dann beschneidet es die Freiheit der Aneig­
nung. Damit widerspricht es aber dem Begriff des Eigentümers. Zu
dessen Wesen gehört es, daß er über sein Eigentum verfügen kann; also
auch darüber, wann und wie lange er sein Eigentum hat und sich
dessen bedient. Da wir das als Rundfunkhörer nicht mehr können,
sind wir als solche keine Eigentümer mehr.

Als wirkliches Eigentum gehören uns also allein die uns die Waren
zuleitenden Geräte, nicht die zugeleiteten Waren selbst. Wir sind, pa­
radox ausgedrückt, Souveräne einer bloßen Passivität; wenn nicht so­
gar, da man ja wünscht, daß w ir die uns zugeleiteten Waren konsumie­
ren, Eigentümer dessen, wozu wir verurteilt sind. Figuren also, die um
nichts weniger komisch sind, als die von Marx verhöhnten Stirner-
schen „Eigentümer ihres eigenen Hungers“ .
„Souveräne unserer Passivität“ : denn was w ir besitzen, ist allein
unser Beliefertwerden-können. Die Waren dagegen, mit denen wir be­
liefert werden, die besitzen wir nicht, da wir sie konsumieren, ehe wir
sie besitzen könnten. Deren Herstellung, Form, Auswahl überlassen
wir ja auch weitgehend dem Lieferanten bzw. dem Produzenten. Mil­
lionen von uns drehen, wenn sie nach der Arbeit nach Haus kommen,
die Knöpfe blindlings an, also ohne zuvor zu wissen, was dem Kultur­
wasserhahn entströmen werde. Hauptsache ist uns eben, daß über­
haupt etwas entströmt; daß wir überhaupt an der optischen oder aku­
stischen „Mutterbrust“ liegen. Eigentumsgier und Habestolz sind in
der Mehrzahl der Fälle durch den Besitz des Geräts bereits gesättigt.
Nunmehr ist es ein Kinderspiel, uns auf dem Umweg über dieses unser
Eigentum ad libitum zu enteignen.
Nun, wenn diese Überlegungen ausschließlich den Sonderbereich
des Rundfunks und des Fernsehens aufklären würden, dann wäre ihre
Einschaltung hier kaum berechtigt gewesen. Aber was in diesem Son­
derbereich vor sich geht, das ist ein Beispiel für einen viel allgemeine­
ren Tatbestand. Damit ist freilich nicht gesagt, daß, was vorn Rund­
funk und Fernsehen gilt, nun auch schon von der Industrie als ganzer
gelte. Aber doch, daß, was dort verwirklicht ist, überall bereits als
lebendiger Trend nachgewiesen werden kann. Im Übrigen gibt es be­
reits Sektoren, für die unsere Schilderung zutrifft, z.B. Zeitungen.
Denn diese werden ja durch ihre Benutzung, nämlich durch deren
einmalige Lektüre, bereits verbraucht und entwertet. Dasselbe gilt von
jenen Spielarten von Zeitungen, in die sich das gesamte heutige Lese­
material zu verwandeln anschickt. Daß 99% aller Bücher, die in den
Vereinigten Staaten gelesen werden, in denselben Läden, nämlich m
den Drugstores, ausliegen, in denen die ihnen entsprechenden Kon­
sumartikel Ice Creams oder Sodas verkauft werden, zum Kauf auslie­
gen, ist kein Zufall.
Außerdem gilt die Schilderung auch schon für alle heute rapide sich
entwickelnden, Wäsche überflüssig machenden Papier-, Pappe- und
Watte-Artikel, die nur für eine einzige Verwendung gemeint sind und
nach dieser bzw. durch diese zugrundegehen. Oder, ganz genau: deren
Zweck darin besteht, an ihrer einmaligen Begegnung mit der Welt
zugrundezugehen.
Aber selbst wenn unsere Analyse nur für den Rundfunk und für das
Fernsehen gelten würde - das „n u r “ wäre falsch. Man lasse sich nicht
durch die Tatsache, daß diese Produktionen nur zwei Zweige unter
zahllosen anderen Zweigen darstellen, irreführen. Die zwei sind ent­
scheidend für den Welt- und den Gegenstandsbegriff von heute ge­
worden. Was die beiden liefern, ist keine Spezialität in dem Sinne, in
dem Krawatten- oder Seifen- oder Nadelindustrien Spezialitäten er­
zeugen. Vielmehr produzieren Rundfunk und Fernsehen eine zweite
Welt: jenes Bild der Welt, in der die heutige Menschheit zu leben
vermeint. Und außer dieser „zweiten“ Welt auch noch die dritte, näm­
lich die Unterhaltungswelt, kurz: alles. Und was entscheidet, ist eben,
daß dieses „alles“ keine Gegenstands- oder Eigentumsform mehr an­
nimmt, daß es vielmehr flüssig bleibt; oder überhaupt nicht „bleibt“ ,
sondern in diesem fiüssigen Zustand, in dem es aus der Fabrik fließt,
sofort „eingeht“ . In der Tat geht es so glatt ein, daß von einem Akt des
Empfangs oder gar von einer bewußten „Aufnahme“ schon gar nicht
mehr die Rede sein kann. Das ist durchaus keine Übertreibung. Denn
wir wissen ja, daß es heute bereits Methoden gibt, Sendungen so „un­
terschwellig“ zu machen, daß sie zwar perzipiert, aber nicht apperzi-
piert werden. So machen z.B. gewisse Firmen für ihre Markenware
dadurch Reklame, daß sie den Markennamen wiederholt in Filme ein­
schalten, aber eben doch nur so kurz, daß das Auge unfähig ist, es
überhaupt zu entdecken.
Diese vor-gegenständliche Welt-lieferung kann '..aum ernst genug
genommen werden. Denn sie ist die für den gegenwärtigen Zustand
der „beq u em en U n fre ih e it“ , die in der Konformismuswelt von
heute herrscht, außerordentlich bezeichnend. Sie unterdrückt jede
Die Scheinfreiheit 55

mögliche Aktion, und das bedeutet eben sowohl die Chance der Faul­
heit wie die der Unfreiheit.
In wessen Ohren diese Behauptung widerspruchsvoll klingt, der hat
einen altertümlichen Begriff von „Unfreiheit“ , der assoziiert mit U n­
freiheit noch den gespürten Druck oder gar die lastende oder scheu­
ernde Kette. Gerade davon kann heute keine Rede mehr sein. Wem die
präparierte Welt in flüssigem Zustand durch die Kehle fließt, wer nicht
mehr zu schlucken braucht, der ist bereits so tief chloroformiert, daß
keine Empfindung von Unfreiheit mehr in ihm aufsteigt. Beraubt sirtd
wir eben des Gefühls des Beraubtseins - und dadurch scheinbar frei. -
Wahrhaftig, die Situation des zwanzigsten Jahrhunderts unterschei­
det sich fundamental von der des neunzehnten. Hatte es in einem der
berühmtesten Worte des letzten Jahrhunderts geheißen, die Majorität
der damaligen Menschheit habe „nichts zu verlieren als ihre Ketten“ ,
so muß es heute heißen: Die Majorität glaubt a u f Grund ihrer (nicht-
gespürten) Ketten, alles zu besitzen. Da es zum Wesen dieser Ketten
gehört, daß sie von ihren Trägern nicht gespürt werden (so wenig wie
irgendein apriori), kommt es freilich niemals zur Angst vor dem Ver­
lust der Ketten. Aber wenn man uns Heutige, etwa durch plötzliche
Requirierung aller jener Instrumente, die uns die Welt in liquidem
Zustande einflößen (also vor allem durch Requirierung der Radios und
Fernsehgeräte) in den „kettenlosen“ Zustand versetzen würde, in ei­
nen Zustand, in dem wir nun plötzlich die Welt in Form von Gegen­
ständen vor uns sähen, in einer Konsistenz, in der sie sich nicht durch
Sofortkonsum liquidieren ließe - zwar wären wir dann nicht in der
Lage, die absolute Abhängigkeit von der bearbeiteten Welt, in der wir
bis dahin gelebt hatten, wirklich zu durchschauen, aber wir würden
wohl in Panik geraten, in eine A rt von Hungerpanik: in die Panik des
Zahnlosen, der, gewohnt an die Fütterung mit Brei, sich zwischen Bro­
ten, Äpfeln und Salamis dem Hungertode gegenübersähe.
Was ist die Lehre, die wir den vorstehenden Überlegungen entneh­
men können?
Daß der Ausdruck „Verdinglichung“ , mit dem die Tendenzen unse­
res Zeitalters seit einem J ahrhundert charakterisiert worden waren, zur
Kennzeichnung der heutigen Situation nicht mehr ausreicht; daß wir
vielmehr an der Schwelle zu einem neuen Stadium stehen: zu einem
Stadium, in dem umgekehrt die Dingform vermieden, das Ding ver­
flüssigt wird. Mindestens daß für dieses Stadium die Verflüssigung des
Dinges ebenso charakteristisch sein wird wie die Verdinglichung des
Nichtdinglichen. Für diesen von der Theorie bisher vernachlässigten
Tatbestand schlage ich den Terminus „ Liquidierung“ vor.

Revision 1979

Diese vor mehr als 20 Jahren niedergeschriebenen Analysen schei­


nen durch die Erfindungen des „Mitschneidens“ und des „Video-Re­
corders“ , die es den Konsumenten ermöglicht, das einmal „liquide“
Konsumierte von neuem, und zwar wo und wann immer zu konsu­
mieren, ungültig geworden zu sein. In der Tat trifft es nun zu - diese
Paradoxie hat man noch niemals beschrieben -, daß es den Konsumen­
ten (jawohl: den Konsumenten!) nun möglich ist, das zeitlich Einma­
lige zu reproduzieren und das „Flüssige“ zu „verdinglichen“ (ein ganz
neuer Typ von „Verdinglichung“ ). Aber meine These, daß es eigent­
lich im höchsten Interesse der Produktion liege, ihre „Produkte“ „li­
quide“ und für einmaligen Sofortgebrauch („instant consumption“ )
herzustellen, ist dadurch nicht widerlegt. Denn bei diesen neuen Erfin­
dungen handelt es sich nicht (mindestens primär nicht) um Erfindun­
gen, die im Interesse der Produktion gemacht worden sind, sondern
umgekehrt um Proteste der Konsumenten gegen ihre liquide Beliefe­
rung: Diese sträuben sich nämlich dagegen, zum einmaligen, unwider­
ruflichen und eigentumslosen Konsum verurteilt zu bleiben; und wün­
schen es, ihre Sendungen in so solidem Zustand wie Bücher oder Bil­
der zu besitzen. Und dieser Protest ist in der Tat gelungen, mit Recht
spricht man vom „Einwecken“ von Fernsehfilmen und von „M usik­
konserven“ ; nein: mit Unrecht: Denn „Konserven“ kann der Konsu­
ment nur ein einziges Mal genießen (was ihm freisteht, ist allein die
Konsumstunde), während er die mitgeschnittene Sendung so oft wie
er will abspielen kann.
Allein hat der Konsument freilich seinen Schritt gegen das Produkt­
ideal der Industrie nicht unternehmen können. Dazu benötigte er -
diese selbst. In der Tat hat sich die Industrie nicht zweimal rufen
lassen. Sofort hat sie zugegriffen und sich des (eigentlich gegen sie
selbst gerichteten) Bedürfnisses angenommen, um es zu erfüllen.
Wenn sie die Chance zur Erzeugung einer neuen Ware wahrnimmt,
dann „nimmt“ sie die auch dann „w ahr“ , wenn dieses neue Produkt
ihren Grundsätzen eigentlich widerspricht. Schon ihre Erzeugung der
für das „do it yourself“ erforderlichen Konstruktionsteile hat das ja
bewiesen. So also auch heute. Auch heute stellt sie Geräte her, die der
Kunde allein deshalb benötigt, weil er sich dagegen sträubt, ihr (der
Industrie) Prinzip der „Liquidierung“ so ohne weiteres zu akzeptie­
ren. Hegel wäre wohl nicht wenig überrascht gewesen angesichts der
Kapriolen, die seine Dialektik i 50 Jahre nach seinem Tode geschlagen
hat.
D IE A N T IQ U IE R T H E IT
D ER M EN SC H EN W ELT

1958 / 1 9 6 1 1

Desiderat: Dingpsychologie

Unglaubhaft die Zahl der Spielhöllen. Darunter verstehe ich nicht


etwa Speakeasies oder Roulette-Kasinos, sondern die jedermann zu­
gänglichen, zu ebener Erde liegenden, ursprünglich wohl als Kaufhal­
len geplanten Amüsierzentren, in denen, eine neben der anderen aufge­
reiht, die verchromten Sirenen stehen, die Gespielinnen der japani­
schen Bevölkerung, die ,,pachinkos“ - kurz: die pinball-Maschinen,
und auf den kleinen Mann warten, um diesem gegen Kleingeld gefällig
zu sein. Daß sie auf ihn zu warten hätten, ist freilich ungenau, denn
arbeitslos sind diese Sirenen nur selten, an Feiertagen niemals, und an
schwülen Abenden, an denen der Gedanke an Schlafengehen unmög­
lich scheint, sind sie sogar stürmisch umworbenes Jagdwild. Abgese­
hen von jenen Jägern, die eine der Sirenen glücklich am Handgelenk
halten, wimmeln die Säle nämlich von zahllosen Spielhungrigen, die,
nervös umherwandernd, Ausschau halten nach einer vielleicht frei
werdenden; und die dann plötzlich (scheinbar aus unerfindlichen
Gründen, in Wahrheit aber, weil sie es ihren Konkurrenten mit einem
einzigen Blick ansehen, ob diese noch mitten im Spielen sind oder bald
aufhören werden) hier oder dort Posto fassen, um die noch warme
Metallhand sofort zu ergreifen - in anderen Worten: um sich des
Hebels im Moment, in dem dieser losgelassen wird, sofort zu versi­
chern. In Yokohama habe ich einmal von einer Straßenkreuzung aus
sieben solcher Lokale zugleich sehen können, und vor jedem der sie­
ben stießen sich die Menschen. Und in dem Tokyoer Vergnügungs­
viertel, das sich von der Shimbashi Station zum unteren Ende der
Ginza hinzieht, gibt es neben zahllosen Etablissements normaler
Größe sogar ein in Glasarchitektur errichtetes warenhausartiges Ge­
bäude, das von Stockwerk zu Stockwerk nichts anderes enthält als
solche synthetischen Gespielinnen; es gleicht einem transparenten
Ameisenhaufen. -
Da stehen sie nun also, die Sirenenjäger, den Hebel in der Hand, die
Sprünge und Capricen ihrer Partnerinnen parierend. Von der Umwelt
wissen sie nicht das mindeste mehr. Daß sie nicht Ungelernte sind,
nicht Passanten, die nur rasch einmal hineinschauen, um ihr Glück zu
versuchen, das ist auf den ersten Blick zu erkennen. Denn sie alle
reagieren wie Fechter, alle mit jener traumhaften Schnelligkeit, über
die nur Routiniers oder Süchtige verfügen. Und daß es zahlreiche
Süchtige unter ihnen gibt, Leute, die es einfach physisch nicht über
sich bringen, zu Bett zu gehen, ehe sie nicht ihr tägliches Spiel oder
ihren täglichen Kampf, oder wie immer man ihre passionierte Tätig­
keit nennen will, hinter sich haben, das ist bekannt. Gestern ist es mir
z.B. passiert, daß ich einen Spieler (einen Einbeinigen mit Prothese),
den ich um sieben Uhr abends versunken spielend vor einem Appa­
rat beobachtet hatte, um Mitternacht vor demselben Apparat
wiederentdeckte. Ob er noch versunken dastand oder schon w ie­
der, weiß ich natürlich nicht. Aber ist es so sicher, daß er es besser
wußte?
Warum steht der Mann schon wieder dort? Oder noch? Warum
schlägt ihm keine Stunde? Welcher sex appeal zieht ihn in die Arme
der verchromten Sirene? Welche magnetische Macht verhindert ihn,
sich ihr zu entwinden?
Am nächsten läge natürlich die Antwort: weil er einsam ist, weil
eben auch er, wie Hunderttausende oder Millionen anderer Großstäd­
ter, auf Ersatzbefriedigung angewiesen ist, weil als Partner-Substitute
eben auch Apparate gut genug sind. Aber den Augenzeugen, dem sich
das Bild dieser Spieler einmal eingeprägt hat, den befriedigt diese Ant­
wort nicht. Der Grad der Leidenschaft, die Tiefe der Versunkenheit,
die Unfähigkeit abzubrechen - all das spricht gegen die Ersatzhypo­
these. Und das erste, was in die Augen fällt, ist ja, daß die Spieler nach
Partnern aus Fleisch und Blut gar nicht mehr Ausschau halten, daß sie
den dinglichen Partnerinnen vor den lebendigen den Vorzug geben.
Tatsächlich ist die Ersatzhypothese nicht nur falsch, sondern naiv, da
sie etwas voraussetzt, was nicht nur nicht mehr den Tatsachen ent­
spricht, sondern diese geradezu auf den Kopf stellt: nämlich daß
menschliche Beziehungen primär noch immer Beziehungen zu Men­
schen seien. Häufig gilt heute umgekehrt die Inversion, das heißt: daß
die Alltagswelt, mit der Menschen zu tun haben, in erster Linie eine
Ding- und Apparatewelt ist, in der es auch Mitmenschen gibt; nicht
eine Menschenwelt, in der es auch Dinge gibt und Apparate. -
Wenn die Psychologie von dieser Inversion Notiz nähme, dann
hätte sie zu prüfen, ob sich nicht unser Seelenleben, auch unser emo­
tionales, namentlich dieses, mehr oder minder auf diese Inversions­
Situation umgeschaltet hat. Oder ob es nicht mindestens dabei ist, sich
auf diese Inversions-Situation umzuschalten. In anderen Worten: ob
nicht heute ein Großteil unserer emotionalen Energien unseren Appa­
raten gilt. Erforderlich wäre also eine spezielle, der Sozialpsychologie
entsprechende und dieser ebenbürtige psychologische Sonderdisziplin,
deren erste Aufgabe darin zu bestehen hätte, unsere Beziehungen zu
unserer Ding-, namentlich zu unserer Apparatewelt zu erforschen;
wozu auch die Beziehungen der Dinge zu uns gehören würden - w o­
mit freilich nur gemeint sein kann: die Art, in der wir uns von unseren
Dingen behandelt vorkommen.
Und zweitens hätte diese neue Disziplin Beziehung zur Sozialpsy­
chologie aufzunehmen, um zu untersuchen, auf welche Weise die Be­
ziehungen zwischen Dingen und uns in unsere zwischenmenschlichen
Beziehungen, also in die von der Sozialpsychologie behandelten, ein­
greifen. Natürlich trägt dieses Desiderat bis heute keinen eigenen N a­
men. Wenn ich hier den Titel „Dingpsychologie” verwende, so bin ich
mir bewußt, daß er mißverständlich ist und nur vorläufig sein kann.
Für einen besseren wäre ich dankbar.
Beispiel für eine „dingpsychologische“ Beziehung: die des Wagen­
besitzers zu seinem Wagen. Diese Beziehung ist ein Verhältnis sui
generis, keineswegs ein Ersatzverhältnis. Umgekehrt zieht dieses Ver­
hältnis nun seinerseits das Verhältnis des Eigentümers zu seinen Mit­
menschen in Mitleidenschaft, z.B. das zu seiner Frau. - Vollends un­
bestreitbar ist die Spezifität der Beziehung des Arbeiters zum laufen­
den Band. In diesem Falle auch nur die Frage zu stellen, welches
zwischenmenschliche Verhältnis hier seinen Ersatz gefunden haben
könnte, wäre unsinnig. -
Unser Einbeiniger steht natürlich noch immer vor seinem Apparat.
Und nicht weniger versunken als vorher. Um zu erklären, warum, ist
die „Ersatzhypothese“ zu einfach. Den Intensitätsgrad seiner Leiden­
schaft erklärt sie nicht. Aber welche andere Erklärung könnte in Be­
tracht kommen? Fragen wir den Mann selbst.
Wirklich gibt dieser uns einen ersten Hinweis. Und zwar durch sein
Aussehen, durch den Ausdruck seines Gesichtes. Was an diesem näm­
lich auffällt, ist, daß es nicht nur die spezifischen Monte-Carlo-Erre-
gungen, die uns von den Mienen aller Glücksspieler bekannt sind,
widerspiegelt (also nicht nur Spannung und Gehetztheit oder Lust an
Spannung und Gehetztheit), sondern außerdem Wut und Rachsucht.
Aber warum das? Warum ist der Mann wütend? Auf wen könnte er
es sein? Und warum rachsüchtig? An wem oder wofür könnte er
Rache nehmen wollen?

Geben wir, mindestens heuristisch, diejenige Antwort, die uns von


der geforderten neuen Disziplin, von der „Dingpsychologie“ nahege­
legt wird. Also: Auf Dinge ist er wütend. Auf Geräte. - Aber auf
welche?

§2

Das Trauma des Industriezeitalters

Erst einmal negativ: Nicht auf diese Spielgeräte selbst. Und wenn er
sich rächen will, so nicht an diesen Maschinen. Diese haben ihm nichts
angetan. Und man könnte sie beinahe „unschuldig“ nennen. Freilich
nur „beinahe“ , und diese Einschränkung ist wichtig. „N u r beinahe“
nämlich deshalb, weil sie Komplizinnen der Schuldigen sind. Kompli­
zinnen sind sie aber deshalb, weil sie keine andere raison d’etre haben
und nichts anderes zu leisten wünschen als die Wut, die den Schuldi­
gen gilt, auf sich selbst abzuleiten - kurz: weil sie „Abreaktionsgeräte“
darstellen. „Juckt es dir in den Fingern“ , so rät eine molussische Haus­
regel, „deine Familie zu verprügeln, dann verprügle deine Jungfer!
Und hast du keine Jungfer, dann schaff dir zu diesem Zweck eine an!“
- Solche „Jungfern“ sind diese Geräte. Zu solchem Zweck sind sie
geschaffen. Zu solchem Zweck angeschafft.
Wer aber ist in diesem Falle die „Familie“ , der die Prügel gelten?
Die Maschinen, mit denen sie tagein, tagaus ihr Leben zu verbringen
haben. Denen sie tagein, tagaus zu dienen haben. Deren tägliche Skla­
ven sie sind. Denen gilt ihr Ressentiment. Denen ihr Haß.
Das klingt unglaubhaft. Das klingt so, als knirschte an allen Ecken
und Enden unserer Welt der Sand in den Maschinen und als flögen
überall die Maschinen in die Luft. Davon kann keine Rede sein. Tat­
sächlich ist die Sandmenge in den heutigen Maschinen minimal, direkte
Ausbrüche von Maschinenstürmerei gibt es nirgendwo.
Direkte gewiß nicht. Aber das habe ich auch nicht behauptet. Was
ich unterstelle, ist vielmehr, daß den Arbeitenden, solange sie an ihren
Maschinen arbeiten, ihre eigene Wut unbekannt, gewissermaßen ver­
drängt, bleibt und sich aufstaut bis zu dem Augenblicke, in dem sie die
Arbeitshallen verlassen; daß ihr Ressentiment dann aber, und zwar
sofort, ausbreche und an anderen speziellen, allein zu diesem Zwecke
erfundenen und aufgestellten Maschinen, eben an den Pachinkos, ab­
reagiert werde.
Wie gesagt, der Antimaschinen-Affekt ist denjenigen, die an 'diesem
kranken, unbekannt. Daß er diesen unbekannt bleibe, ist unerläßlich.
Denn wüßten die Maschinenhasser über ihren Haß Bescheid und gä­
ben sie diesem nach - das würde die Grundlagen der gesamten Pro­
duktion unterminieren, also die Subversivität, die Sabotage schlechthin
darstellen. Die Kenntnis des Ressentiments muß also prophylaktisch
mundtot gemacht, die Sabotage verhindert werden.
Im Vergleich mit dieser Verhinderung der Verhinderung wird die
„Sabotage“ im üblichen Sinne (also die der Maschinen durch uns) zum
Sekundärphänomen. -
Bewerkstelligt wird sie durch „Psychotechnik“ im breitesten Sinne,
also dadurch, daß man unsere Seele bearbeitet. Technisch gesprochen
dadurch, daß man den bloßen Gedanken, dieser Affekt sei auch nur
möglich, verpönt. Oder richtiger (da selbst der Ausdruck „verpönen“
zu kraftlos bleibt) dadurch, daß man ihn tabuiert. -
In der Tat ist dieser Affekt bei Arbeitern ebehso tabu wie bei Arbeit­
gebern. Im Zeichen dieses Tabus sind die zwei Lager Alliierte, die
durch dick und dünn zusammenmarschieren. Und nicht weniger soli­
darisch sind in dieser Beziehung Westen und Osten. So gewiß wie
jeder amerikanische Unternehmer, der vor die Alternative gestellt
wäre, zwischen der Anstellung eines eingestandenen Maschinenstür­
mers und der eines Kommunisten zu wählen, für den Kommunisten
entscheiden würde, so gewiß würde umgekehrt jeder sowjetrussische
Betrieb, vor ein analoges Entweder-Oder gestellt, den kapitalistischen
Kandidaten dem offen maschinenstürmerischen vorziehen. Das heißt:
Das auf Technik bezogene Tabu ist klassen- und systemneutral. Es ist
ungleich machtvoller als alle diejenigen Tabus, die sich aus den hüben
und drüben verschiedenen politischen oder wirtschaftlichen Herr­
schaftsformen oder „Philosophien“ ergeben. Es ist global. Es ist das
Tabu von heute. Und was dabei tabuiert wird, ist - wir betonen das
noch einmal - nirgendwo nur der eventuelle maschinenstürmerische
Akt. Die Verbotskraft reicht grundsätzlich tiefer: Verboten ist immer
bereits der bloße Gedanke, daß es Maschinen-Ressentiment überhaupt
geben könnte. Damit weist sich das heutige Tabu auch als „echt“ aus,
d.h.: als eines, das jenen Tabuierungen, die wir aus früheren Gesell­
schaften kennen, strukturell entspricht. Denn auch in diesen war es ja
stets schon der Gedanke gewesen, der unterdrückt wurde: z.B. der
Gedanke, daß es im Menschen (gar in jedem) Libido-Ziele oder -Va­
rianten, die die Grundlage der Familien- oder Clanstruktur erschüt­
tern könnte, überhaupt geben könnten. So etwas „gibt es nicht“ , weil
„nicht sein kann, was nicht sein darf‘‘ . Perfekte Tabuierungen beste­
hen mithin nicht nur in Verpönung, sondern in Ableugnung, und zwar
in der denkbar radikalsten. Das heißt: nicht nur in der Weigerung des
Verstandes, Tatsachen anzuerkennen, sondern auch in der Weigerung
der Sinne, Tatsachen überhaupt wahrzunehmen.2
Und dies ist nun, wie mir scheint, die Situation, in der wir uns heute
befinden. Das Tabu unseres Zeitalters funktioniert perfekt, d. h.: Es
gibt niemanden (wie gesagt: weder im Osten noch im Westen, weder
unter Arbeitern noch unter Arbeitgebern), dessen Blick frei und selb­
ständig genug wäre, um das Maschinen-Ressentiment zu erkennen.
Denjenigen, der von der Existenz des Maschinen-Ressentiments
überzeugt ist, den macht die Blindheit zuweilen geradezu fassungslos.
Denn die Fakten, die dieses Ressentiment bestätigen (oder die ohne
Unterstellung dieses Ressentiments undurchsichtig bleiben) sind ja je­
dermann bekannt, ja sie akkumulieren von Tag zu Tag, und auch das
wieder in globalem Ausmaß. Da gibt es z.B. die überall, auch jenseits
des „Vorhangs“ , ausbrechenden, oft in wirkliche Rebellionen ausar­
tenden Halbstarkenkrawalle. Daß diesen Wut und Rachelust auf der
Stirne geschrieben stehen, wird von niemandem geleugnet. Die Frage,
wogegen die Jugendlichen eigentlich rebellieren, und an wem sie sich
eigentlich in ihrem Zerstörungsfuror rächen wollen, ist auch wieder­
holt gestellt worden. Aber die plausible Antwort: daß die Zerstörungs­
wut aus den Arbeitsstunden, in denen sie sich nicht austoben darf, in
die Mußestunden verlagert und nun, statt an den Arbeitsmaschinen, an
falschen und zufälligen, von der Mußewelt zur Verfügung gestellten,
völlig unschuldigen Ersatzobjekten gekühlt werde, diese plausible Ant­
wort ist niemals gegeben worden.5
Aber die Tatsache der Halbstarken-Krawalle ist natürlich nur ein
Beispiel unter anderen, wenn auch deren auffälligstes. Denn es gibt
heute - und ich spreche nicht etwa nur vom Kriege - ein gewaltiges
Ansteigen positiver Zerstörungslust,4 von der Indolenz gegen Zerstö­
rung ganz zu schweigen. Diese ist heute ja, zum Beispiel als Gleichgül­
tigkeit gegenüber der Totalvernichtung durch einen eventuellen Atom ­
krieg, eine beinahe universelle Erscheinung. Ohne die Unterstellung
einer allgemein schwelenden Rachelust wäre diese Indolenz schwer
begreiflich. Und vollends unbegreiflich wären jene blasierten „U nd-
wenn-schon-Apokalyptiker“ , die sich darin gefallen, die Drohung mit
einem „und warum nicht?“ abzutun. A u f die Frage, wem dieser ihr
A ffekt denn gelte, müßte die Antwort wohl lauten: „ D er ganzen Ma­
schinerie.“ Das heißt: Der Maschine der heutigen Welt, in deren Gang
sie hineingezwungen sind, und der zu entrinnen sie alle Hoffnung
aufgegeben haben. Vermutlich sind sie von der Tatsache, daß auch
diese Maschine ihrer selbst nicht total sicher ist und daß sie sich unter
Umständen in einer allgemeinen Maschinendämmerung selbst in die
Luft sprengen könnte, fasziniert. Jedenfalls erfüllt sie dieser Gedanke
mit so ungeheurer antizipatorischer Schadenfreude, daß daneben die
Angst davor, auch mit draufzugehen, nicht zählt.

Effectus transcendit causam

Aber warum? Aus welchem Grunde sollte der heutige Mensch die
Maschine hassen?
Antwort: Weil er von ihr betrogen ist.
Diese Anklage klingt selbst antiquiert. In der Tat ist sie ja wiederholt
erhoben worden, zum Beispiel von den Heimarbeitern des 19. Jahr­
hunderts, die, durch die Maschine ausgebootet, ihr Existenzminimum
verloren hatten. Oder von jenen „vorwissenschaftlichen“ Sozialisten,
die sich, als Nichteigentümer der Maschinen, um die Frucht der Arbeit
betrogen sahen. Zum größten Teil sind diese Vorwürfe heute natürlich
überholt. Während es Heimarbeiter, mindestens mit Maschinenarbeit
konkurrierende, nicht mehr gibt, ist der Lebensstandard der Fabrikar­
beiter ins Märchenhafte gestiegen. Und nicht weniger antiquiert wäre
natürlich der Vorwurf, der zur Maschinenarbeit Verurteilte werde um
seine physische Gesundheit betrogen. Im Vergleich zu dem Anstren­
gungs-Quantum, das, solange es menschliche Arbeit gegeben hat, in
Land-, Bau- oder Straßenarbeit investiert worden ist, auch heute noch
investiert wird, ist Maschinenarbeit leichte Arbeit. Wo sich die Ma­
schine darauf beschränkt, Steuerungs- und Kontrollgriffe zu verlan­
gen, ist die erforderte physische Investition kaum mehr der Rede wert.
Und im vollautomatischen Betrieb schrumpft sie geradezu zu Null
zusammen, so daß es nun umgekehrt das Fehlen physischer Anstren­
gung ist, die Ähnlichkeit der Arbeit mit Nichtstun und Muße, was
zum Problem wird.5
Damit sind w ir aber in der Nachbarschaft desjenigen Betrugs, um
den es sich hier handelt. Betrogen ist der an der Maschine arbeitende
Zeitgenosse nämlich weder um seine physische Gesundheit - die ist
weniger gefährdet als die seiner vormaschinell arbeitenden Vorfahren -
noch um seine physische Weiterexistenz - die wird heute mit massive­
ren Mitteln bedroht; noch um den Lohn für das von ihm Gemachte -
der ist heute höher als der gestrige oder vorgestrige Arbeitslohn. B e­
trogen ist er vielmehr um sein Machen selbst. Was heißt das?
Daß, was er heute, um zu leben, zu tun hat und tut, also seine
Arbeit, kein „Machen“ mehr ist. Und das bedeutet wiederum, wenn
man die Wesensdefinition des Menschen als „homo faber“ ernst­
nimmt: daß er um dasjenige betrogen ist, was sein Wesen ausmacht.
Auch das klingt wieder befremdlich. „Machen“ , so wird man ein­
wenden, „bedeutet schließlich ,Produzieren‘ . Und ,produziert‘ wird
heute mehr als früher. Sogar unendlich mehr als früher.“
Richtig. Ökonomisch unbestreitbar.
Aber nur ökonomisch. Behavioristisch nicht.
Und diese Unterscheidung bedeutet wiederum: Die Tatsache, daß
bei Maschinenarbeit „Gemachtes“ , und sogar in unabsehbaren Men­
gen, abfällt, die ist noch kein Beweis dafür, daß die Tätigkeit, die diese
Produkte zur Welt bringt (oder richtiger: ohne die diese Produkte
nicht zur Welt kämen) ihrem Typus nach wirkliches „facere“ , wirkli­
ches „Machen“ darstelle. Wahr ist vielmehr das Gegenteil. Denn es
gibt nichts, was für die heutige Produktionssituation charakteristischer
wäre, als die Umkehrung der Proportion von ökonomischem und Be-
havioristischem. Diese Umkehrung ist geradezu die Regel. Je mehr
Gemachtes es heute nämlich gibt, um so weniger davon ist, im wahren
Sinne des Wortes, „gemacht“ . Beziehungsweise: Je geringer unter den
heute Tätigen die Zahl derer ist, die, im eigentlichen Sinne des Wortes,
etwas „machen“ , um so größer ist der Ertrag des „Gemachten“ . - In
der Tat ist die klassische Formel „causa aequat effectum“ („der Effekt
entspricht der Ursache“ ) noch niemals so unwahr gewesen wie heute.
Heute gilt vielmehr: „Effectus transcendit causam.“ Was bedeutet
diese Formel?
Sie bedeutet: Der Effekt (das Arbeitsprodukt bzw. dessen Leistung)
überholt die angebliche „causa“ (die Arbeit des Arbeiters), und zwar
nicht nur seiner Größenordnung, sondern auch seiner Art nach. Das
„Gefälle“ zwischen causa und effectus ist so groß, daß (nunmehr psy­
chologisch gesprochen) der Kausierende (also der Arbeitende) den E f­
fekt seines Tuns gar nicht mehr als seinen erkennt, sich also mit „sei­
nem“ Produkt nicht mehr identifiziert.
Aber diese erste Erläuterung der Behauptung: „Effectus transcendit
causam“ reicht nicht. Denn sie läßt ja noch die Möglichkeit offen, daß
der „Kausierende“ (also der Arbeitende) eine solche Identifizierung
ursprünglich versuche, daß dieser sein Versuch nur eben scheitere.
Aber auch davon kann keine Rede sein. Nicht nur um die Identifizie­
rung ist er nämlich betrogen, sondern auch um das Scheitern seiner
Identifizierung. Denn er denkt schon gar nicht mehr daran, zu
versuchen, den Effekt (also das Schlußprodukt) als Leitbild seiner Tä­
tigkeit zu verwenden.
Aber auch diese zweite Erläuterung unserer These „effectus trans­
cendit causam“ reicht nicht. Denn in ihr scheint ja noch unterstellt,
daß der Arbeitende, wenn er es nur wollte, versuchen könnte, die
Identifizierung durchzuführen; daß er es nur nicht wolle. Aber auch
Neuer Sinn von „prometheischem Gefälle” 6j

davon kann keine Rede sein. Nicht nur um die Lust, den Versuch zu
unternehmen, ist er nämlich betrogen, sondern um die Fähigkeit. Wahr
ist vielmehr, daß er den Versuch, den Effekt als Leitbild zu verwenden,
schon gar nicht mehr unternehmen kann; daß er (etwa wenn ihm
nahegelegt würde, sich während seiner Arbeit das Endprodukt als
Leitbild vor Augen zu halten) gar nicht mehr wüßte, wie er es bewerk­
stelligen sollte, diese Leitbild-Vorstellung mit seiner effektiven Tätig­
keit zu kombinieren. Und selbst diese dritte Erläuterung reicht noch
nicht. Denn in ihr scheint noch unterstellt, daß der Arbeitende die
Identifizierung durchführen dürfte, wenn er es nur könnte. Aber auch
das kommt nicht in Betracht. Nicht nur um die Lust und Fähigkeit ist
er nämlich betrogen, sondern auch um das Recht, die Identifizierung
durchzuführen. Wahr ist also: Da der Identifizierungsversuch, gleich
ob er gelänge oder mißlänge, die Arbeit stören, also auf Sabotage
hinauslaufen würde, ist es dem Arbeiter nicht erlaubt, den Effekt als
Leitbild seiner Arbeit zu verwenden.

In anderen Worten: Jenes „prometheische G efälle“ , das ich in mei­


ner ersten Einführung des Begriffs6 vornehmlich an der Differenz zw i­
schen „Vorstellen“ und „Herstellen“ exemplifiziert hatte, das ver­
wirklicht sich, da das Herstellen mit dem Hergestellten nichts mehr zu
tun hat, bereits innerhalb des Herstellungsvorgangs selbst. Und damit
wäre, wie mir scheint, meine These zur Evidenz gebracht. Denn wo
dieser Betrug aufgehoben (also unmöglich gemacht oder verboten) ist,
da kann von „machen“ natürlich keine Rede mehr sein.

§4

Tun = Machen, Machen = Tun. Das Bedienen

Vollends deutlich wird unsere These, wenn wir für einen Augen­
blick aus der Dimension des „Machens“ in die des „Handelns“ hin­
überspringen. Denn dort liegen die Verhältnisse ganz entsprechend.
Das heißt: Sowenig es noch „Machen“ gibt, sowenig gibt es noch
„Handeln“ .
Die Behauptung z. B „ daß der Hiroshima-Pilot, als er auf seinem
Knopf drückte, „gehandelt“ habe, klingt ungenau.7 Aber vielleicht
könnte man, da die physische Anstrengung, die ihm sein „T un “ hätte
bestätigen können, ganz geringfügig war, sogar behaupten, er habe
nichts getan. Jedenfalls war diese Anstrengung so minimal, daß er das
Gefühl gehabt haben mag, nichts getan zu haben. Und gesehen hat er,
da der Rauchpilz, den er wahrgenommen hat, mit den Verbrannten
nicht identisch ist, den Effekt seines „Tuns“ ja gleichfalls nicht. -
Nichtsdestoweniger befördert er mit Hilfe dieses seines „Nichtstuns“ ,
gewissermaßen in einer „annihilatio ex nihilo“ , zweihunderttausend
Menschen aus dem Leben in den Tod. - Angenommen, dieser unselige
Mann säße uns gegenüber. Was hätten wir ihn zu fragen? Offenbar
nicht „H ast du es getan?“ Denn daß er es gewesen war, das würden
wir und er ja wissen. Sondern: „H ast du es getan?" Was bedeuten
würde: „Kann, was da mit deiner Hilfe vor sich gegangen ist, über­
haupt noch als Tun bezeichnet und dir zugerechnet werden?“ Was er
wohl mit den Worten: „N ein, ,getan‘ habe ich eigentlich nichts, höch­
stens habe ich nur ,mitgetan“ ‘, verneinen würde. Und das zu Recht.
Denn die Worte „Tun“ oder „Handeln“ wären ja wirklich schon des­
halb unangemessen, weil er den Effekt seines „Tuns“ nicht nur nicht
gemeint hatte und diesen nicht nur (auf Grund der Limitiertheit seines
Vorstellungsvermögens) nicht hätte meinen können; sondern weil es
ihm noch nicht einmal erlaubt gewesen war, diesen zu meinen oder
auch nur meinen zu können. Die „M oral von der Geschichte“ besteht
also darin, daß er daran gehindert wurde, die Bewerkstelligung der
Aktion, für die er verwendet wurde, wirklich aufzufassen und an deren
Moral oder Unmoral teilzunehmen. Sogar von der Teilnahme an der
Unmoral der Aktion war er ausgeschlossen, sogar das Recht auf
schlechtes Gewissen war ihm genommen, nicht einmal unverantwort­
lich durfte er sich fühlen; durfte er sich fühlen können.
In anderen Worten: Die Tatsache, daß Ursache und Wirkung aus­
einandergerissen sind, die Diremption zwischen „causa“ und „effec-
tus“ , die wir im heutigen Machen festgestellt haben, die liegt auch hier
vor. Wenn ich im ersten Bande die Vermutung ausgesprochen habe,8
daß die traditionellen Ethiken heute hinfällig werden, so aus diesem
Grunde. Also deshalb, weil in ihnen die Wirklichkeit von „Handlun­
gen“ unterstellt worden war und auch heute noch unterstellt wird,
obwohl es sich bei dem, was heute „getan“ wird, mindestens bei denje­
nigen Tätigkeiten, die moralisch heute zählen, nicht mehr um „Hand-
Kein Recht auf schlechtes Gewissen 69

lungen“ im eigentlichen Sinne handelt und nicht mehr um Täter, die


ein „Recht auf Verantwortlichkeit“ hätten.
Machen ist also nicht mehr Machen, und Handeln nicht mehr Han­
deln. Daß diese zwei Degenerationen gleichzeitig eingetreten sind, das
ist natürlich kein Zufall. Vielmehr liegt hier ein einziges Ereignis vor:
beide Tätigkeitsformen sind demselben Feinde zum Opfer gefallen,
nämlich einer dritten Tätigkeitsform, die nun, unbekümmert um alle
früheren Differenzierungen, die Praxis im ganzen für sich monopoli­
siert hat: dem „Bedienen“ .
Wenn wir etwas hellhöriger wären, dann würden wir wohl täglich
darüber staunen, daß wir dasjenige Wort, mit dem wir gestern die
Leistungen von Dienstleuten belegt hatten, nunmehr zur Bezeichnung
der heutigen Arbeit verwenden - nur daß heute eben an die Stelle jener
„Herrschaften“ , denen die Bedienung gestern gegolten hatte, inzwi­
schen die zur Herrschaft gelangten Maschinen getreten sind. Aber
hellhörig sind wir eben nur höchst selten, und kaum je empfinden wir
Vokabel-Argwohn, wenn wir das Wort „Maschinenbedienung“ in den
Mund nehmen.
Viel befremdlicher wirkt dagegen für die meisten die Behauptung,
daß, was für das „Arbeiten“ (bzw. das „Machen“ ) gilt, auch für das
„T un“ (bzw. das „Handeln“ ) gilt: daß also auch Handeln durch die
Aktionsform „Bedienen“ abgelöst worden ist. Darauf wollen wir noch
einmal eingehen.
Beispiel: Wiederum die Tat des Hiroshima-Piloten. - Schematisch
beschrieben, bestand diese aus folgenden Bedienungsschritten:
Gewisse Arbeiter (A 1) bedienten gewisse Maschinen (M 1 ), um mit
deren Hilfe eine andere Maschine, das Flugzeug (M 2), herzustellen. In
diese Maschine (M 2) stieg, dazu beordert, ein weiterer Arbeiter (A 2),
genannt „Pilot“ ; er bediente diese, um dadurch einem anderen, gleich­
falls in einer M 2 sitzenden Arbeiter (A 3) die Chance zu geben, eine
andere, gleichfalls von den Arbeitern (A 1) mit Hilfe von Maschinen­
bedienung (M 1) hergestellte Maschine (die Abwurfvorrichtung oder
die Bombe, M 3) zu bedienen; und um durch diese Bedienung einen
gewissen Effekt (die Verwüstung Hiroshimas) auszulösen.
Natürlich war es dieser Schlußeffekt, auf den der Prozeß als ganzer
(vom ersten Handgriff an) losgesteuert war - und wenn auch dieser
Prozeß in viele, sogar in zahllose Einzelphasen und -schritte zerfiel, er
stellte ein Kontinuum dar. Und dies nicht nur im zeitlichen Sinne,
sondern eben auch im „stilistischen“ , d.h.: er enthielt keinen Hand­
griff, der nicht ein „Bedienungs“ -Handgriff gewesen wäre. -
Wenn ich soeben sagte, „d er Prozeß“ sei „losgesteuert“ (und nicht:
die Menschen seien losgesteuert), so in voller Absicht: eben um zu
unterstreichen, daß keiner der Arbeiter den Schlußeffekt wirklich im
Auge gehabt hatte, daß diese vielmehr, gleich ob ihre Aufgabe darin
bestand, etwas zu „machen“ , oder darin, eine „Handlung“ durchzu­
führen, ausnahmslos weder etwas „machten“ noch eine „Handlung
durchführten“ , sondern ausschließlich, und zwar desinteressiert und
zielblind, Bedienungsgriffe durchführten.
Meine These lautet also, daß die Differenz zwischen den Phasen
„M achen“ und „ T u n “ aufgehoben ist.
Heute ist diese „Aufhebung“ vollends deutlich geworden, denn in
unserer, der „push button“ -Epoche, würde ja nun auch der letzte
Effekt durch einen Knopfdruck hergestellt werden. Und da dieser
Knopfdruck irgendwo im Hinterland, also ferne der Aktionsbühne
oder des Kriegsschauplatzes vor sich gehen würde, würde sich dieser
(Knopfdruck) von dem in normalen Herstellungsprozessen üblichen
button pushing in nichts unterscheiden, würde er mit „Handeln“
ebensowenig zu tun haben wie andere maschinelle Bedienungsgriffe.
Im Prinzip, in dem, was die Tätigkeitsart betrifft, gibt es zwischen der
Durchstanzung eines Eisenblechs und der Verwüstung einer auf einem
anderen Kontinent gelegenen Stadt keinen Unterschied mehr.
Soziologisch bedeutet das, daß die zwei Typen „Machender“ und
„Handelnder“ (oder „Arbeiter“ und „Soldat“ ), da beider Tätigkeiten
in eine einzige eingemündet sind, zu einem einzigen Typus zusammen­
gewachsen sind. Strategisch, daß (da der den letzten Effekt auslösende
Knopfdruck genauso in der Etappe stattfinden wird wie bisher das
Herstellen von Waffen) - alle Kriegshandlungen in der Etappe „p ro­
duziert“ und ausgelöst werden werden; wodurch natürlich (was ja
schon im letzten Weltkriege begonnen hat) die Etappe aufhört, Etappe
zu sein und zur Front wird. Alle diese Unterscheidungen sind also
aufgehoben.

Wen es - und gewiß mit Recht - aufregt, daß in totalitären Staaten


die Arbeiter zuweilen quasi-militärischen oder sogar unverblümt mili­
tärischen Organisationen unterworfen werden, den sollte es nicht w e­
niger aufregen, daß in nicht-totalitären Staaten eine Pendant-Entwick­
lung vor sich geht: daß sich nämlich das Militär in eine Arbeiterarmee
verwandelt, und daß diese Entwicklung, obwohl in umgekehrter Rich­
tung ablaufend, zum gleichen Ergebnis führt: daß also die Differenz
von Arbeiter und Militär auch hier gelöscht wird. Man braucht sich
nur an die Vernichtungslager, in denen die Liquidierung v<fn Men­
schen als Arbeit durchgeführt wurde, zu erinnern, um einzusehen, daß
die Verschleifung dieser Differenz zu den charakteristischsten Zügen
des Totalitarismus gehört. Zu glauben, daß solcher Totalitarismus
durch „rein politische Mittel“ gebremst oder unterbunden werden
könnte, ist naiv. Denn letztlich besteht die Wurzel dieses Totalitaris­
mus in einem technischen Faktum, eben in der Tatsache, daß „M a­
chen“ und „Handeln“ gleicherweise durch „Bedienen“ ersetzt und
aufgehoben werden; nein, bereits aufgehoben sind. -

§S

Das geköpfte Machen

Wer sich eines Instruments, etwa einer Zange, bedient, der bedient
nicht die Zange. Im Gegenteil: er beherrscht sie, da er sie ja zu seinem
Werkzweck, dem ergon, das er im Auge hat, einsetzt. E r beherrscht sie
beinahe im selben Sinne wie seine eigenen „Werkzeuge“ : die Organe;
wenn auch als deren Verlängerungen, Verfeinerungen oder Verstär­
kungen. Damit ist nicht gesagt, daß man sich nicht auch der Maschinen
auf diese Weise „bedienen“ könnte. Im Gegenteil: Der Produzent tut
das ja, da er sie als Werkzeuge verwendet, mit deren Hilfe er sein
Ergon, die Erzeugung seiner Waren, durchführt. Da er sich aber
(selbst dann, wenn er Eigentümer eines vollautomatischen Betriebs ist)
nicht allein-laufender Maschinen bedienen kann, muß er sich gleich­
zeitig Arbeitender bedienen. Dieser bedient er sich also, damit er sich
erfolgreich seiner Maschinen bedienen kann. Nicht die Arbeiter be­
dient er mit Maschinen, vielmehr bedient er die Maschinen, damit er
sich ihrer bedienen kann, mit Arbeitern. Zu behaupten, daß sich diese
Arbeiter der Maschinen bedienen, wäre wiederum unsinnig. Vielmehr
dienen die Arbeiter dem erfolgreichen Dienst, den die Maschinen lei­
sten: Sie bedienen diese. Was die Arbeiter im Auge haben, ist dabei
nicht das Produkt, sondern der tadellose Gang der Maschine. Um
diesen aufrecht zu erhalten, mögen sie sich ihrerseits eines Instruments
„bedienen“ . Aber das steht auf einem anderen Blatte.
Damit ist ein Dreifaches gesagt:
i. Die Arbeit des Arbeiters ist telos-los. - Obwohl der Betrieb, in
dem er arbeitet, ein Produktionsbetrieb ist, hat er in ihm, wie die
englische Sprache korrekt unterscheidet, nur etwas „to da“ , aber
nichts „to m ake". Das gilt von allen Arbeitenden in dem Betrieb.
Regel: Wenn ein Produktionsprozeß in zahllose Schritte dividiert, und
wenn jeder Arbeitende nur in eine Etappe des Machens eingeschaltet
wird, dann zerfällt der Produktionsprozeß nicht in Teilproduktionen,
sondern lediglich in Teiltätigkeiten; dann ist kein Machender mehr ein
Machender, jeder vielmehr nur ein Tuender; und nicht dann ist das
telos dieser Tätigkeiten erreicht, wenn ein Produkt fix und fertig da ist,
sondern dann, wenn so und so viel getan, wenn so und so lange gear­
beitet worden ist, also bei Feierabend. Ob dann „etwas“ , nämlich ein
Produkt, fertig vorliegt, das geht den Arbeitenden nichts an, das inter­
essiert ihn auch nicht: „m an ist fertig“ für heute, nicht das Produkt. -
Nun, an sich ist gegen „Tun“ (im Gegensatz zum „Machen“ ) natür­
lich nichts einzuwenden. Wer gut zu lesen oder anständig Klavier zu
spielen (also nur zu „tun“ ) versteht, der ist dem, der etwas „macht“ , in
keiner Weise unterlegen. Aber um ein solches echtes „Tun“ handelt es
sich bei der Maschinenarbeit durchaus nicht. Während Lesen oder
Klavierspielen, aristotelisch gesprochen, EvtEAExEim sind, also ihr tE-
1.oc; und damit auch ihre Genugtuung in sich selbst tragen, ist Maschi­
nenarbeit gewissermaßen „Ä v-iQ yaa“ , weil sie vom EQyov, bzw. vom
Interesse an diesem, von dessen Kenntnis ausgeschlossen ist. Ein G ru ­
benpferd w ird nicht dadurch zum Spaziergänger, daß es geblendet
seine Arbeit tut. Das telos des Machens ist in diesen Tätigkeiten ab­
montiert, das Machen ist gewissermaßen „geköpft“ . Arbeit wird hier
zum „ Tun“ lediglich a u f G rund dieser Verstümmelung.
Wer sich an das Krisendeutschland vor etwa dreißig Jahren erinnert,
der wird noch das Bild jener Notstandsarbeiter vor Augen haben, die
Gräben auszuheben hatten, und während der Arbeit genau wußten,
daß die nächste Schauflerschicht die Aufgabe haben würde, die Gräben
wieder hübsch säuberlich einzuebnen. Kein Wunder, daß diese Arbei­
ter oft nur so taten, als ob sie täten, daß sie diese ihre teloslose Tätig­
keit oft in ein Spielen ausarten ließen. - Man wird einwenden, dieser
Fall sei extrem gewesen. Gewiß. Und trotzdem darf man heute alle
Arbeiter als Kollegen dieser Notstandsarbeiter betrachten. Denn auf
welche Weise Arbeit teloslos wird: ob so, daß das telos als bloßes
Manöverziel vorgespiegelt wird, wie im Falle der Notstandsarbeiter;
oder so, daß das telos die Arbeitenden nichts angeht, wie im Falle
normaler Fabrikarbeit, das läuft psychologisch beinahe auf Eines her­
aus. In beiden Fällen wird Arbeit (sogar die körperlich leichte) zur
Zumutung, da sie von den zwei Genugtuungen, auf die der Mensch ein
Recht hat, ausgeschlossen ist: sowohl von der Genugtuung, die die
sichtbare Entstehung des Produktes dem Produzierenden verschafft;
wie von der Genugtuung, die das auf ein äußeres telos nicht angewie­
sene echte Tun mit sich bringt. Kein Wunder, daß man heute bereits
offiziell versucht, das durch die „Köpfung des Machens“ entstandene
unechte „ Tun“ durch Musikbegleitung und dergleichen schmackhafter
zu machen, also es in eine Art von Tanz zu verwandeln, um ihm den
äußeren Anschein einer manifest telos-loseii Beschäftigung, eben wie­
derum des Spiels, zu verschaffen.
2. Die Arbeit ist anstrengungslos. Das klingt natürlich erst einmal
erfreulich. Aber gerade dadurch wird die Arbeit ihres Charakters voll­
ends beraubt. Denn die Freude an Arbeit beschränkt sich ja nicht nur
auf die Freude, die der Machende am Entstehen seines Produkts hat.
Vielmehr besteht sie mindestens auch in der Investition von Anstren­
gung, darin, daß der Machende sich ausarbeitet. In der Arbeit (etwa
der vollautomatisierten), deren Anstrengungsquantum auf ein Mini­
mum reduziert ist, vollzieht sich nun eine potenzierte Degeneration.
Denn nun besteht die Entartung nicht nur darin, daß das „Machen“
zum bloßen „Tun“ wird, sondern auch darin, daß das „Tun“ nun zu
einer Art von „Nichtstun“ verkümmert. Freilich nur zu einer „A rt
von“ . Sowenig das „geköpfte Machen“ als echtes „Tun“ klassifiziert
werden darf, so wenig darf nun das „geköpfte Tun“ , etwa das des
Kontrolleurs im Automationsbetrieb, als „echte Muße“ klassifiziert
werden. Die Attitüde, in die er hineingerät, ist vielmehr eine Schein­
Muße, eine verstümmelte Attitüde, ein bloßer Rest. Denn trotz der
Tatsache, daß er sich nicht zu rühren braucht (ja, sich unter Umstän­
den nicht einmal rühren darf), hat ja der Automationsarbeiter noch
aufs konzentrierteste auf dem qui vive zu sein - genau so wie der
Maschinenarbeiter doch aufs energischste tätig zu sein hat, auch wenn
er kein Produkt mehr zu machen hat. Nunmehr freilich besteht die
Arbeit in bezahlter Aufmerksamkeit bei physischer Reglosigkeit. Der
Tuende wird zum bloßen Maschinenpolizisten, der, im Sessel sitzend,
darauf hofft, nicht eingreifen zu brauchen; sofern er nicht heimlich
doch eine Störung erhofft, um doch noch einmal die Chance zum
Eingreifen zu haben und um zu spüren, daß er etwas tut.
Und selbst mit dieser Schilderung der zwei Degenerationsstufen der
Arbeit ist noch nicht alles gesagt. Kehren wir von unserem avantgardi­
stischen Automationsarbeiter zum heute noch normalen zurück: also
demjenigen, der mindestens seine Maschine noch zu bedienen hat. Was
hat der durchzuführen, um diese Bedienung anständig zu erledigen?
3. Die „imitatio instrumenti"". Er hat sich nach seiner Maschine zu
richten, ja sich zu deren Diener zu machen. Diesen Ausdruck mißver­
stehe man nicht. „N ach etwas richten“ müssen wir uns natürlich in
jeder Arbeit, sogar in der gerätelosesten. Da wir „etwas aus etwas
machen“ wollen, gibt es a priori eine ganze Reihe von Bedingungen
(z. B. den Stoff oder die Grenze unserer technischen Fähigkeiten), nach
denen wir „uns zu richten“ haben. Darüber klagen wir nicht. Machen
ist menschlich, gleich ob wir im Machen-müssen einen Fluch oder im
Machen-können ein Freiheitszeugnis sehen. Wer bereits in den aprio­
rischen Bedingungen des Machens, also in der Tatsache, daß er, wenn
er zu machen beginnt, mit einer Welt zu rechnen hat, aus der er macht,
eine Freiheitsberaubung sieht, der beansprucht, „frei“ zu sein in einem
absurden Sinne, nämlich in dem von „weltlos“ ; und ist einfach ein
metaphysischer Querulant. - Gleichviel, nur wenn der Arbeitende mit
dem Gang seiner Maschine Schritt hält, nur wenn er die „imitatio“ 9
durchhält, wird seine Bedienung perfekt sein. Das Hegelsche Modell
von „H err und Knecht“ darf auf die Beziehung Mensch-Maschine
bedenkenlos übertragen werden.
§s
Der Abend der Rache

Damit hätten wir also eine kurze Schilderung dessen, was heute
„A rbeit“ ist, gegeben. Und damit auch eine Schilderung des durch­
schnittlichen Tages des einbeinigen Japaners im „Pachinko“ .
1. Auch er hatte nicht eigentlich etwas hergestellt.
2. Auch er hatte seine Maschine nur bedient.
3. Auch er hatte sich mit deren Gang gleichschalten müssen.
4. Und auch ihn ging es nichts an, wenn trotz alledem etwas zu­
standekam.
Und dann wurde es Feierabend.

Und nun schlendert er durch das Fabrikportal hinaus, und siehe: Da


drüben im Lokal, da stehen auch welche, auch Maschinen. Und er tritt
näher, und steht vor einer von ihnen. „G ar nicht so unähnlich“ , denkt
er. Und was er damit meint, ist: „G a r nicht so unähnlich dem Ding,
vor dem ich den Tag über gestanden habe, der Maschine, die ich den
Tag über bedient habe, von der ich mehr als genug habe und auf die ich
für mein Leben gerne einmal einschlagen würde. Anatomisch gehört
dieser Pachinko jedenfalls dem gleichen Geschlecht an wie ihre ölbe­
schmierten Schwestern in der Fabrik. Und auch ihre Bedürfnisse schei­
nen sich nicht wesentlich von den Bedürfnissen ihrer Schwestern zu
unterscheiden. Auch sie streckt ihren Hebelarm aus, auch sie verlangt
nach Fütterung, auch sie will bedient werden, auch sie will in Gang
gebracht sein. Und daß sie sich zum Funktionieren einfach meiner
schönen Augen wegen bequemen wird, dafür spricht auch nichts -
kurz: eine von ihnen, Maschine ist Maschine.“ -
Das also denkt er. Aber doch nicht nur das. Denn gewisse Unter­
schiede sind da, sie sind unbestreitbar, und sie machen ihn stutzig.
Schon daß diese verchromt blitzende Person Spaß daran hat, sich zu
zeigen; daß sie weiß, daß sie etwas zu zeigen hat; daß sie gelernt hat,
was einem Manne Vergnügen macht - schon das macht sie zu einem
Wesen sui generis.
Aber das ist noch nicht alles. Denn außerdem - und nun beginnt die
Sache wirklich interessant zu werden, und nun erst wird die Maschine
zur Sirene - außerdem stellt sie nämlich etwas in Aussicht, eine Genug­
tuung, die ihm noch niemals zuvor in Aussicht gestellt worden war
und zu der sich ihre ölbeschmierten Schwestern (vorausgesetzt, sie
wären dazu überhaupt fähig) niemals hergeben würden. Was diese ihm
nämlich verspricht, ist, etwas für ihn zu produzieren, jawohl: für ihn
persönlich; und zwar etwas, was das direkte Ergebnis ihrer Zusam­
menarbeit mit ihm wäre, nicht anders als das Brot, das als direktes
Ergebnis des Backens aus dem Ofen fällt; und nicht anders als der
Krug, der als das unmittelbare Ergebnis des Töpferns auf der Scheibe
entsteht - man hält das Ding schließlich in der Hand, es ist, was man
gemeint hatte, und es gehört sogar, mindestens vorerst, einem selber.
Und das ist, wie gesagt, etwas Unerhörtes, und das macht diese blit­
zende Person in der Tat zur Königin unter ihren Schwestern. - „W or­
auf wartest du eigentlich?“ flötet diese also den Bewundernden an.
„O der hast du vielleicht Angst vor mir? Wenn du mich anständig in
Gang bringst, wenn du mich zuverlässig bedienst, dann wirst auch du
zuverlässig bedient werden, von mir nämlich, dann bekommst du et­
was, dann bekommst du das, was dir zusteht, und du bist der Herr.
Freilich nur dann. Denn wenn du mich inkompetent bedienst, das ist
dann natürlich etwas anderes, dann hast du eben das Nachsehen, und
ich bin die Herrin.“ - So also flötet sie, so also lockt sie ihn heraus,
damit er sich beweise. - Und obwohl der siegreiche Ausgang des
Kampfes durchaus nicht feststeht, im Gegenteil, obwohl der Sieg da­
von abhängt, ob er die verchromt blitzende Person kompetent behan­
delt oder nicht (oder gerade w eil diese Bedingung seinen Stolz reizt) -
dieser Lockung zu widerstehen, ist unmöglich. „Maschine ist Ma­
schine“ , denkt er noch einmal, „schließlich hat man ja gelernt, mit
euresgleichen umzugehen, oder vielleicht nicht?“ , und reicht ihr be­
reits das Futter (denn sie verlangt pränumerando-Bezahlung) und „ich
werd dir’s schon zeigen“ . - Und was er ihr zeigen will, ist nicht nur,
daß er es versteht, mit ihresgleichen umzugehen, sondern daß ihres­
gleichen nichts besseres verdient, als zu gehorchen und das zu tun, was
er wünscht, und daß es höchste Zeit ist, daß sie das lerne, denn er ist
der Herr. - Und die Wut überkommt ihn und die Lust, sie dazu zu
zwingen, das wiedergutzumachen, was ihre ölbeschmierten Schwe­
stern in den Werkstätten und Fabriken ihm sein Lebtag lang angetan
haben. Also greift er nach ihr. Und ist auch ihre Hebelhand noch
warm von dem Letzten, der sein Mütchen an ihr zu kühlen versucht
hat, vergeblich natürlich - die Welt zur Rechten und zur Linken
versinkt, die Welt zur Rechten und zur Linken ist versunken, und das
Spiel oder die Vergewaltigung oder die Rache (oder wie immer wir das,
was nun beginnt, nennen mögen) gerät in Gang. Und wenn ich am
Abend wieder vorbeikommen werde, wird die Aktion noch immer in
Gang sein. Oder schon wieder.
So also, oder so ähnlich, geht die Begegnung mit der Sirene vor sich.
Daß diese keinen „ verdinglichten Partner“ für ihn darstellt, daß sie
nichts weniger ist als ein Ersatz für einen menschlichen Spielkamera­
den, das ist deutlich genug. Umgekehrt ist sie ein vermenschlichtes
Gerät, nämlich ein Ersatz und eine Stellvertreterin für Geräte, und
zwar für alle, für die ganze Gerätefamilie. Aber eben eine Stellvertrete­
rin, die, im Unterschied zu den anderen Geräten, menschliche Bedin­
gungen stellt; Bedingungen, auf die man sich einlassen kann wie auf die
eines Menschen; Bedingungen, unter denen man sie so behandeln kann
wie einen Menschen; Bedingungen, unter denen man so besiegt wer­
den kann wie von einem Menschen; Bedingungen, unter denen man
sich so an ihr rächen kann wie an einem Menschen. Sich an wirklichen
Menschen zu rächen - warum sollte sich unser einbeiniger Spieler an
wirklichen Menschen rächen? An welchen denn? An dem Fabrikherrn
vielleicht? Nicht mit dem macht er seine täglichen Erfahrungen. Son­
dern mit den Geräten. Nicht von dem wird er gedemütigt. Sondern
von diesen. Diesen also gelten seine Affekte. Ein Spiel mit anderen
Menschen? Welch erbärmlicher Ersatz! Hier allein kann er abreagie­
ren. Hier allein ist die Chance.
Wenn von „Chance“ noch die Rede sein darf. Denn die Wahr­
scheinlichkeit, daß er siege, die ist ja minimal. Und auch ihm ist das ja
nicht unbekannt. Wenn von einer Chance überhaupt die Rede sein
kann, dann besteht diese also lediglich darin, daß er hier einmal das
Recht hat, seine Rache an einem richtigen, nämlich an einem maschi­
nenartigen, Objekt zu versuchen. Dies: versuchen und kämpfen und
unterliegen zu dürfen, dies ist der Sieg, der ihm gegönnt ist. Und selbst
für diesen Sieg, der zumeist ja eine Niederlage ist, muß er zahlen, selbst
für diese Niederlage, weil er ja die Chance des Kämpfendürfens als
einen Sieg, mindestens als eine Genugtuung, genießt. Und er zieht
seinen Beutel und zahlt zum soundsovielten Male.
Letztlich ist daher unser Mann kein Spieler, sondern ein Spielball.
Wie kompetent er auch spielen mag (und unterstellen wir selbst, ein­
mal habe er die Sirene besiegt, oder sogar mehrere Male) - auch als
Sieger ist er stets besiegt, immer schon von vornherein besiegt. Näm ­
lich von den Sirenenmachern. Von denjenigen, die für ihn, den durch
das Leben mit den Maschinen Ruinierten, diese Spezialmaschinen ge­
baut haben, um ihm die Chance zu geben, ein Ventil für seinen Rache­
durst zu finden. Wenn er seine Münze der Sirene in den Mund steckt,
zahlt er das Geld, das er mühsam oder zu Tode gelangweilt im Maschi­
nensaal gegenüber verdient hatte, wieder zurück. Und wenn in den
Nachbarhäusern zur Rechten und zur Linken schon neue Sirenenlo­
kale, neue Spielhöllen, gebaut werden, dann hat er, unser Einbeiniger,
er, das Opfer, diese Häuser mitfinanziert.
1961

Die Rückkehr der Solisten

Auf den nachdenklichen Beobachter wirken die in dem vorangehen­


den Aufsatz geschilderten Pachinkos nicht nur empörend,
sondern auch gespenstig. Der Hauptgrund für diese Gespenstigkeit
ist nicht sofort erkennbar. Und zwar deshalb nicht, weil er in etwas
Fehlendem besteht und Fehlendes nicht sofort ins Auge springt.
Erst gestern, als ich wieder einmal auf der Schwelle eines solchen
Spielsaals stand, um Beobachtungen zu sammeln - gewiß zum zwan­
zigsten Male - ist mir der Grund für diese Gespenstigkeit klar gewor­
den. Plötzlich hatte ich nämlich den (wie mir schien, sinnlosen, aber
unbehaglichen) Eindruck, dem Abrollen eines uralten Films beizu­
wohnen. Und als ich versuchte, dieser aufsteigenden Assoziation auf
den Grund zu kommen, da fiel mir auf, da „hörte“ ich, daß es kaum
etwas zu hören gab. Da erkannte ich, daß das Bild dieses von Men­
schen wimmelnden Betriebes nahezu lautlos blieb, daß die sich drän­
gende Menge eine wortlose Menge war. Daher also die Erinnerung an
den Stummfilm.
Wie war diese Lautlosigkeit zu erklären?
„Was gibt es da zu staunen?“ höre ich antworten. „Daß heutiger
Massenkonsum, mindestens der von Unterhaltungswaren, ,solistisch‘
vor sich geht, das hat sich ja herumgesprochen. Auch Ihre Spieler sind
eben ,Solisten‘ .“
N un, die Tatsache des „solistischen Massenkonsums“ 1 habe ich be­
reits früher behandelt.' Aber dieser Ausdruck ist keine Patentformel.
Die übereilte Subsumierung unserer Spielsituation unter den heutigen
Unterhaltungskonsum verwischt die Eigentümlichkeit des Falles. Zwi-
sehen unserem Spieler und dem „normalen“ heutigen Unterhaltungs­
konsumenten besteht ein beträchtlicher Unterschied. Welcher?
Wenn Rundfunkhörer oder Fernsehzuschauer einander nicht mehr
sehen und miteinander nicht mehr in Verbindung treten, wenn sie also
als Solisten konsumieren, so, weil sie damit eine situationsangemessene
Attitüde einnehmen. Das heißt: weil sie, von der Mitwelt effektiv
getrennt, in ihren Gehäusen sitzen bleiben und konsumieren dürfen.
Aber dieses „W eil“ trifft hier nicht zu. Im Gegenteil: in unserem
Falle tritt an die Stelle des „W eil“ ein „O bw ohl“ . Denn wenn unsere
Spieler „Solisten“ bleiben, so nicht deshalb, weil sie physisch voneinan­
der isoliert bleiben, sondern obwohl sie physisch nicht voneinander
getrennt sind, obwohl sie Schulter an Schulter nebeneinanderstehen.
Und das ist ein Sonderfall, der als ein neues Stadium des Massenkon­
sums angesehen zu werden verdient.
Drei Stadien lassen sich unterscheiden:
1. Im ersten, dem normalen, auf den wir hier nicht eingehen, werden
die gebotenen Unterhaltungen von einer wirklich angehäuften, von
einer physisch massierten „crow d“ gemeinsam, mindestens zusam­
men, konsumiert. Dieses „Theater-Stadium“ hat es immer gegeben.
Und ist auch heute noch lebendig. Selbst das Kino gehört noch in
dieses Stadium, obwohl der Film, als Reproduktionsmedium, bis an
die Schwelle des zweiten Stadiums heranreicht.
2. Im zweiten Stadium, dem des Rundfunks und des "TV, wird das
Massenprodukt nicht nur fü r die Masse, sondern en masse, nämlich in
zahllosen Reproduktionsexemplaren für Millionen hergestellt. Es gibt
keine Originale mehr, sondern nur noch Kopien. Oder, wenn man will:
nur noch Originale. Gleichviel, diese werden in so breiter Streuung an
die Konsumenten ausgeteilt, daß virtuell jedermann die Ware inner­
halb seiner vier Wände konsumieren kann.
Kennzeichen dieses zweiten (in Band I ausführlich durchgesproche­
nen) Stadiums ist offensichtlich die Kluft zwischen der Massenhaftig-
keit der überall identischen Produkte und der Privatheit des Empfan­
ges, und damit, da diese Privatheit bzw. Isolation des Empfangs den
Massencharakter der Ware und den durch diesen bewirkten Massen­
charakter des Empfängers zudeckt, die Unwahrhaftigkeit. Die U n­
wahrheit, die dem Empfänger bzw. den Millionen von Empfängern
suggeriert wird, hätte, wenn sie (was natürlich niemals geschieht) for­
muliert werden würde, zu lauten: „D u bist ein Privatkonsument der
d ir gelieferten Ware. Denn wo wäre ,Masse'?“ Jawohl: „du“ . Jeder
wird angesprochen, als wäre er der Konsument. Nicht zufällig hieß
der Titel einer bekannten Funkprogramm-Zeitung singularisch „H ö r
zu!“ . Denn wo wäre die Masse?
Ja , wo ist die wirklich? Als greifbares Etwas ist sie tatsächlich nir­
gendwo. Aber nirgendwo allein deshalb, weil ihr - in welcher Form,
das wird sich später herausstellen - ein so massives Dasein zukommt,
daß sie physischer Substanzialität gar nicht mehr bedarf. In anderen
Worten: Da der Massenproduzent und -lieferant seine Massenpro­
dukte jederzeit ins Haus, und zwar eben in alle Häuser, schleusen
kann, kann er auf die Herstellung von Masse (im Sinne von „crow d“ )
verzichten. Da er sich an die Millionen (von völlig gleich Gemachten)
einzeln wendet, unterbindet er das Entstehen der substanziellen
Masse. Die Reproduktionstechnik der Medien hat nicht nur keine de­
mokratisierende, sondern umgekehrt geradezu eine de-demokratisie-
rende, eine atomisierende Wirkung. Natürlich gilt das im Osten genau
so wie im Westen. Ob die Erfinder der Massenmedien diese atomisie-
rende Wirkung vorausgesehen oder gar geplant haben, das ist gleich­
gültig. Denn verwendet werden die Medien eben heute in diesem
Sinne. Obwohl heute jeder „massenhaftig“ ist (und nur noch im nu­
merischen Sinne „einer“ bleibt), als Masse treten die „Massenhaftigen“
nicht mehr auf. „Masse“ ist nunmehr, eben als „Massenhaftigkeit“ ,
eine Qualität von Millionen Einzelnen geworden; nicht mehr deren
Zusammenballung. Die Nürnberger Parteitage gehören wohl einer
vergangenen Epoche an. Man braucht derartige Veranstaltungen nicht
mehr, genausowenig, wie man „originale Theateraufführungen“ mit
„originalen“ , nämlich wirklich anwesenden, Zuschauern braucht, um
ein Fernsehspiel zu senden. Fernsehstücke sind wirklich erst als K o ­
pien, und allein diese können konsumiert werden. Da aber jeder K on­
sument trotz der Tatsache, daß die ihm ins Haus gelieferte Sendung
identisch ist mit den Sendungen, die den Millionen Anderen zugestellt
werden, die seine solistisch empfängt, hat jeder (obwohl er es besser
weiß, aber eben nur „weiß“ ) doch das Gefühl, selbst beliefert zu wer­
den. Und das gilt sogar dann, wenn die Bewandtnis und Tendenz der
Sendung ausgesprochen totalitär ist. In der Tat w ird jedem von uns
nicht nur seine De-individualisierung und Massenhaftigkeit persönlich
zugestellt, sondern zugleich damit (sofern es sich dabei überhaupt um
eine doppelte Konditionierung handelt) die Illusion der Privatheit.
Gemütlich zuhause fühlt man sich dann, wenn man im Famiiienkreise
(der freilich zur bloßen Juxtaposition geworden ist) dasjenige Pro­
gramm konsumiert, das Millionen gleichzeitig ebenfalls „privat“ kon­
sumieren. -
Dies also wäre das zweite Stadium. Das dritte Stadium ist nun der
Effekt des zweiten. Es besteht nämlich darin, daß wir durch die ge­
schilderte Konsumsituation so endgültig geprägt sind, daß wir uns
auch dann, wenn diese einmal (zufällig) aussetzt, als deren Kreaturen
benehmen, ja sogar dann, wenn wir uns außer Haus aufhalten. Solisten
bleiben wir auch dann, wenn wir einmal zufällig in ein Orchester
verschlagen werden. Heute können wir unbesorgt aus unserer physi­
schen Isolierung wieder ins Freie gelassen werden und in beliebige
gesellschaftliche oder scheingesellschaftliche Situationen versetzt wer­
den, ohne daß wir dadurch in die Gefahr gerieten, unsere zuhause
gelernte Mentalität einzubüßen oder das Solistentum, das wir erfahren
haben, wieder zu verlieren. Bekanntlich gibt es Häftlinge - Dieterle hat
einen solchen in seinem Dreyfus-Film gezeigt -, deren Zellentüren
man offen stehen lassen darf, weil man weiß, daß sie, an die vier Wände
gewöhnt, keinen Ausbruchsversuch unternehmen werden, oder daß
sie selbst dann, wenn sie ausbrechen sollten, auch draußen Häftlinge
bleiben würden: daß ihnen ihre Zelle als Zellenmentalität auch in Zu­
kunft weiter anhaften würde.
Nicht anders als diese Häftlinge kann man nun auch die eremiten­
haften Konsumenten von heute ins Freie lassen, weil man weiß, daß sie
auch dort nicht aufhören werden, sich als Eremiten zu benehmen; und
daß sie sich sogar dann weiter als solche benehmen werden, wenn sie,
wie hier in dem Pachinko-Spielsaal, zusammengepfercht werden. Ob­
wohl einander völlig gleich, also zu Massenwesen, gemacht, besteht
doch kaum die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich zur Masse zusammen­
ballen werden. Niemals ist die Gefahr einer revolutionären Massenak­
tion geringer als in demjenigen Stadium höchster Industrialisierung, in
dem jedermann durch die Massenmedien-Manipulierung zum Massen­
wesen gemacht worden ist.
Fassen wir zusammen: Während es das Kennzeichen des zweiten
Stadiums gewesen war, daß in ihm die Außenwelt, in Bilder verwan­
delt, ins Haus transportiert wurde, um dort solistisch verzehrt zu
werden, so besteht das Kriterium des dritten im „ Rücktransport“ , d. h.
in der Tatsache, daß die Solisten nun ruhig wieder in die Außenwelt
entlassen werden dürfen, weil sie, konditioniert durch das zweite Sta­
dium, diese Außenwelt gar nicht mehr als solche erkennen und weil sie
ihr Solistentum durch diese ihre Heimkehr nicht mehr bedrohen. Und
dabei denke ich wieder an unseren Einbeinigen, der auch jetzt noch
versunken dasteht und noch keine Kenntnis davon genommen hat, daß
rechts und links von ihm, ihm gleichend wie zwei Eier dem dritten,
seine Leidens- oder Leidenschaftsgenossen stehen und daß auch diese
keine Kenntnis von ihm genommen haben.

§2
Parallelfall - Das in die Welt mitgenommene Zuhause -
Unsere „Schizotopie“

Ein anderes Beispiel bestätigt diesen Charakter des „dritten Sta­


diums“ . In den frühen Vierziger Jahren gab es in den U SA Drugstores,
in denen vor jedem Kundenplatz eine „juke box“ , also eine Musikma­
schine installiert war. Diese „juke boxes“ ermöglichten es den Kun­
den, während ihres Konsums ihre Lieblings-Songs anzuschalten. Diese
Novität hatte Erfolg. Und das nicht nur deshalb, weil jedem neuen
Gerät erst einmal ein gewisser Starterfolg beschieden ist; nicht nur
deshalb, weil heute jedes „Angebot als Gebot“ wirkt, weil also Kun­
den unter schlechtem Gewissen leiden, wenn sie einen ihnen zur Ver­
fügung gestellten Apparat nicht benutzen, sondern auch aus dem be­
sonderen Grunde: weil die Kunden durch diese Installation instandge­
setzt waren, ihre heimische Beschäftigung, nämlich ihr Grammophon-
und Rundfunkhören, an einem öffentlichen Orte fortzusetzen; weil sie
sich mit H ilfe der „juke boxes“ in publico so benehmen konnten wie
zuhause. Das mag widerspruchsvoll klingen, weil wir mit dem Wort
„Heim“ ja eigentlich einen von der Außenwelt abgetrennten und ge­
gen den Einbruch der Außenwelt abgedichteten Raum meinen, einen,
in dem wir „chez nous“ sind. Während Zweck und Leistung des
Rundfunks ja umgekehrt gerade darin bestehen, die Außenwelt bzw.
ein erwünschtes Bild der Außenwelt, ins Haus zu bringen. Aber dieser
Widerspruch ist nicht mein Fehler, vielmehr beruht er auf der Realität
selber: in der widersinnigen, aber nicht mehr revozierbaren Tatsache,
daß wir als „H e im “ heute gerade denjenigen Raum empfinden, der uns
die Türe zurAußenwelt öffnet und uns mit dieser wirklich oder angeb­
lich in Kontakt bringt. In politisch brenzlichen Zeiten eilen wir nach­
hause, um durch die Medien zu erfahren, was es „draußen" gibt. Der
Biedermeier-Begriff des „Zuhauses“ scheint Jahrtausende zurückzu­
liegen. Ein Haus, in dem der Informationswasserhahn, durch den sich
die Außenwelt ins „Innere“ ergießt, fehlt (oder, da es derartiges nicht
mehr gibt, in der die Zuleitung einmal versagt) kommt uns schon gar
nicht mehr als „H eim “ vor, sondern als ein unheimlicher, nackter, von
der Welt abgesonderter Hohlraum. Jede mit den heute üblichen Kom ­
munikationsgeräten möblierte Gefängniszelle, nein, jedes so ausgestat­
tete Sputnik-Interieur würde neben einem rundfunk- und fernsehlosen
Zimmer als wohnlich und gemütlich gelten. Dem entspricht, daß Mil­
lionen ihren Transistor mit ins Grüne nehmen, um dort, also draußen,
mit der Außenwelt so nahe verbunden zu bleiben, wie sie es zuhause,
in ihrer Küche oder in ihrem Badezimmer, gewöhnt sind.
Die Kunden benehmen sich also in publico wie zuhause. Dabei be­
tone ich das „in “ . Denn daß sie das „coram publico“ täten, das kann
man nicht behaupten: von diesem nehmen sie, obwohl von ihm um­
ringt oder gar in dieses eingekeilt, kaum Notiz. Niemals habe ich einen
Jukebox-Kunden beobachtet, der es versucht hätte, die neben ihm
Sitzenden auf „seine“ Musik aufmerksam zu machen. Das ist deshalb
sonderbar, weil zum Wesen akustischer Phänomene eigentlich ja Ge­
meinsamkeit gehört: daß sie also im Umkreis hörbar sind, auch von
den anderen rezipiert werden, nein - darin besteht ja Sprache - von
diesen rezipiert werden sollen. Aber diese phänomenologische Tatsa­
che behandeln unsere Jukebox-Spieler, nein, nicht -Spieler (dieses
Wort impliziert viel zu viel Aktivität), sondern -Benutzer, als Luft und
tun so, als wenn nur sie dawären; als wenn nur sie, da sie ja für das
Abspielen ihrer Musik gezahlt haben, die rechtmäßigen Rezipienten
wären. Daß die anderen Gäste („who can’t help hearing“ ) auf den
Gedanken kommen könnten, gegen die ihnen unerwünschte Musik
(oder gegen die unerwünschten Musiken: denn oft laufen mehrere in
echter, nämlich von der Wirklichkeit erfundener, Polytonalität und
Polyrhythmik gleichzeitig)3 zu protestieren, das kommtihnen nicht in
den Sinn. Und mit Recht nicht. Denn die Anderen denken gar nicht
daran, Einspruch zu erheben, da sie selbstverständlich zugeben wür­
den, daß sie für die Stille nicht so gezahlt haben wie der Benutzer für
seine Musik; und daß die Ware vor der Nichtware rangiere. Als ich
einmal gegen meinen Nachbarn Protest erhob, erhoben die anderen
Gäste mit bedrohlicher Einhelligkeit Protest gegen mich: „ You better
mind your own business!“ Daß ich gerade das durch meinen Protest
versucht hatte, das wagte ich nicht mehr zu erklären. Vielmehr verließ
ich schleunigst das Lokal.
Die über die Funde des ersten Bandes weit hinausgehende These
lautet also: So wie die Außenwelt durch die Medien ins Haus gebracht
wird, so wird umgekehrt die Zuhause-Mentalität in die Außenwelt
mithinausgenommen. Die oft gemachte Beobachtung, daß sich seit
einigen Jahrzehnten der Unterschied zwischen „privat“ und „öffent­
lich“ verwischt hat, hat in dieser „Doppelbewegung“ ihren Grund.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt in diesem Zusammen­


hange die Möglichkeit, unsere, uns zuhause bereits selbstverständliche,
„Schizotopie“ aufrechtzuerhalten. Was meine ich mit diesem Termi­
nus? Antwort: Räumliche Doppelexistenz.
Zu den sonderbarsten und charakteristischsten Zügen unseres heuti­
gen Daseins gehört es nämlich, daß der Raum, den wir durch die
Medien empfangen, mit dem Raum, in dem wir uns effektiv aufhalten,
niemals identisch oder ko-extensiv ist; daß wir immer zugleich „da“
und „entrückt“ sind.4 Beispiele: Obwohl im Bett festgeschnallt, liegt
doch der Säugling zugleich, da er umbrandet wird von dem aus dem
Radio dröhnenden Johlen des Sportpublikums, auf dem Baseballplatz.
- Obwohl ihren Teppich staubsaugend, steht doch die Hausfrau nicht
nur zwischen ihren vier Wänden, sondern, da das Orgelspiel der
Papstinthronisierung hereinströmt, zugleich unter der Riesenkuppel
von Sankt Peter. - Obwohl angefüllt mit Essensgerüchen, ist doch die
Wohnküche nicht nur Wohnküche, sondern, da sie wiederhallt von
den im Nebel erstickenden Rufen der Ertrinkenden, zugleich ein Teil
des untergehenden Schiffes (Andrea Doria). Zum Wesen des heutigen
Zuhause gehört es also, daß es nicht nur ein Raum ist, sondern außer­
dem noch einen zweiten enthält. Die diesem schizotopischen „Z u ­
hause“ entsprechende Schizophrenie, also die „räumliche Doppelexi­
stenz“ , ist uns heute bereits derart geläufig und selbstverständlich, daß
wir in Unruhe geraten, wenn wir einmal (durch Aussetzen des Rund­
funks) dazu verurteilt sind, uns in nur einem, eben in „unserem“ ,
Raum aufzuhalten. Kein Wunder also, daß w ir uns auch in öffentli­
chen Lokalen, wenn diese uns räumliche Doppelexistenz verschaffen
und garantieren können, zuhause fühlen. Da das Rundfunkgerät über­
all installiert werden kann: sowohl im Hause wie im Auto wie im
öffentlichen Lokal, stellt es gewissermaßen ein Generalnennergerät
dar, das imstande ist, die Unterschiede zwischen diesen Aufenthaltsor­
ten zu neutralisieren. Und da wir mit seiner Hilfe stets anderswo, also
niemals zuhause sind, sind wir mit seiner Hilfe auch überall und immer
zuhause.
Wenn ich bei diesem „Zuhausesein in der Öffentlichkeit“ so lange
verweile, so weil es einen Zug unseres heutigen Daseins darstellt, der
von der Theorie bisher durchweg vernachlässigt worden ist. Was die
Kulturkritik bisher in den Vordergrund geschoben hatte, war stets die
Deprivatisierung der Privatsphäre gewesen. Aber mit dieser war eben
nur die Hälfte unseres heutigen Daseins geschildert. Nicht weniger
wichtig ist deren Pendant: die Tatsache also, daß auch die Sphäre der
Öffentlichkeit ihre Eindeutigkeit eingebüßt hat, daß diese Sphäre
(trotz des Monopols, das sie durch die Deprivatisierung gewonnen zu
haben scheint) oft nur als Fortsetzung der privaten Sphäre (also gar
nicht als öffentliche) aufgefaßt wird. Wer es unterläßt, in das Bild der
heutigen Epoche beide Beschädigungen zugleich einzutragen, der
zeichnet ein unvollständiges Zeitportrait. In das sozialpsychologische
Bild des heutigen Amerikaners gehört z.B. nicht nur, daß er durch das
pausenlose Einströmen von Außenwelt stets anderswo und niemals
zuhause ist - also der Verlust seiner privaten Sphäre; sondern ebenso,
daß er (mindestens solange er sich auf amerikanischem Boden befin­
det) überall und immer zuhause ist. Also der Verlust seiner Außen­
welt-Gefühle bzw. die Elephantiasis seiner Privatsphäre. So wie er sich
(obwohl effektiv zuhaus sitzend) durch die Sendungen immer auch
irgendwo anders aufhält, so hält er sich doch (wo immer er, in seinem
Wagen sitzend, durch die Fremde rollt) immer auch zuhause auf. -
Wenn der Rundfunk die Verkörperung seiner De-privatisierung ist, so
ist das Auto die Verkörperung seines Immer-zu-Hause-Seins. Wer in
Rundfunk und Auto einfach zwei zufällig zu gleicher Zeit entschei­
dend wichtig gewordene Geräte sieht, der erkennt nicht, wie eng diese
zusammenhängen, daß sie Komplementär-Geräte sind. In der Tat ist
der Wunschtraum unseres heutigen Daseins erst dann erfüllt, wenn
uns die zwei Geräte gleichzeitig bedienen; wenn wir, obwohl durch
die Fremde rollend, doch zuhause bleiben, weil wir unser Auto: unser
zweites Zuhause, nicht verlassen haben; und weil wir in diesem, wie
zuhause, vermittels unseres Radios eine zweite Welt empfangen. Halb
sind wir Heutigen Nomaden, weil wir uns selbst dann, wenn wir
zuhause sind, jeden Moment an einem anderen Platz aufhalten; und
halb sind wir seßhaft, weil wir selbst dann, wenn wir effektiv durch die
Fremde rollen, die Annehmlichkeiten des Zuhauseseins konsumieren
können, und das bedeutet paradoxerweise, daß wir auch dann die
Möglichkeit haben, uns an einem anderen, nämlich gesendeten, Platze
aufzuhalten.

Der erste Paragraph hatte uns gezeigt, daß zwecks Unterbindung


der Entstehung von wirklicher (aus Tausenden oder aus Millionen sich
zusammensetzenden) Masse, durch Streuung von Bild- und Gefühls­
Kopien über Tausende oder Millionen und durch deren isolierten
Konsum Massenhaftigkeit produziert wird: daß das Substrat „M asse“
durch das Attribut „massenhaft“ ersetzt wird. Und darin hatten wir
den spezifischen Betrug der heutigen Medien, wenn nicht sogar unse­
res Zeitalters, kennengelernt. Ferner sind, so hatten wir erfahren, die
Effekte dieses sogenannten „zweiten Stadiums des Massenkonsums“ ,
die der Scheinprivatheit, so haltbar, daß w ir, die so Konditionierten,
wieder ins Freie, sogar ins Millionengewimmel, entlassen und zurück­
geschickt werden können: die uns Entlassenden brauchen dabei, ob­
wohl wir Millionen durch das gleiche Medienfutter bis zur Austausch­
barkeit gleich gemacht sind, nicht zu befürchten, daß wir dadurch
unsere Pseudo-Vereinzelung einbüßen und zu einer wirklichen Masse
koagulieren. Die Isolierung unseres rechts und links von seinen ihm
gleichen Nachbarn eingekeilten Pachinko-Spielers stellt also kein iso­
liertes Phänomen dar, umgekehrt sogar ein Epoche-Phänomen. Da die
Masse von Individuen (die Le Bon geschildert hatte und die in der
Revolution von 19 17 noch Wirklichkeit gewesen war) von der (durch
die Massenmedien hergestellten) Massenhaftigkeit der Individuen
abgelöst worden ist, dürfen wir also von einer „ Antiquiertheit der
Masse“ sprechen. Die Revolutionsbilder der Kollwitz sind Doku­
mente der Vergangenheit. Diese Ersetzung der Masse durch herge­
stellte Massenhaftigkeit ist das revolutionäre Ereignis unseres Jahrhun­
derts gewesen. Oder richtiger: das konterrevolutionäre -ab er auch der
endgültige Sieg der Konterrevolution ist natürlich ein „ revolutionäres“
Ereignis.

Anhang: Die faschistische Masse


Die Masse als Bollwerk gegen die Masse

Wenn man bedenkt, welche ungeheuere Rolle „crowds“ , physisch


zusammengeballte Massen, noch gestern, z.B. auf den Nürnberger
Parteitagen, gespielt haben, dann liegt die Vermutung nahe, daß diese
Massen damals die Klimax ihrer Entwicklung, gewissermaßen fünf
Minuten vor Zwölf, erreicht hätten. Aber dieser Schluß wäre falsch.
Die Klimax war erst in demjenigen Augenblick erreicht, in dem sich
physische crowd-Bildung erübrigte, in dem auf Mammutversammlun­
gen verzichtet werden konnte. Daß durch Rundfunk ungleich mehr
Menschen gleichgeschaltet und effektiv „vermasst“ werden können als
auf einem noch so kolossalen Nürnberger Gelände, haben sogar Hitler
und Goebbels schon begriffen. Denn in ihrem Bemühen, ihren Mas­
senaktionen das Maximum an Masseneffekt zu verleihen, haben sie ja
ihre Monsterdemonstrationen noch einmal multipliziert, sie nämlich
über den Rundfunk übertragen. Das Fernsehen gab es damals noch
nicht, die Riefenstahl-Filme erreichten noch nicht jedermann; wohl
aber das Radio. Ohne dieses sind die Massenerfolge Hitlers nicht denk­
bar. Faschismus und Rundfunk sind Korrelate. Die den „Sendungen“
zugrundeliegenden Demonstrationen waren eigentlich bereits obsolete
Maßnahmen: letzte (im Augenblick des Umschlagens der Massen in
Massenhaftigkeit, wenn nicht sogar nach diesem Augenblick ge­
machte) Anstrengungen, die Vermassung des Menschen, die mittels
des Radios bereits restlos herstellbar war, noch einmal in veraltetem
Stil, also in der Form physischer (angeblich sogar kultischer) Zusam­
menballung von Menschen aufzuziehen. Daß die Macht der Kopien
die Verwirklichung von Originalen eigentlich bereits überflüssig
machte, das verstand man noch nicht, das zu verstehen, erforderte
Jahre. Die Mammutdemonstrationen, von denen man sich noch nicht
I ^
Faschismus und Rundfunk sind Korrelate 89

trennen konnte, stellten - denn es gibt nicht nur ideologische Begriffe -


„ideologische Handlungen“ dar, Rückgriffe auf eine bereits überholte
„soziale Produktionsweise“ . Handgeschmiedete Tanks oder in Heim-
| arbeit hergestellte Raketen wären um nichts weniger anachronistisch
1 gewesen als diese Kolossalveranstaltungen. Wenn diese überhaupt et­
was anzeigten, dann einen Umschlag der Masse, aber nicht deren H ö­
hepunkt: nämlich Umschlag der Masse als Macht in ein Bollwerk gegen
diese Macht.
Daß, was der Faschismus da organisierte, nicht „M asse“ in demjeni­
gen, beinahe mythologischen, Sinne war, in dem man den Ausdruck
hundert Jahre lang verwendet hatte, das ist ja evident. Denn als we­
sentlich für „Masse“ hatte man ja unterstellt, daß diese, obwohl ge­
wöhnlich amorph und verschlafen, doch gelegentlich mit plötzlich
massiver Stoßkraft etablierte Ordnungen erschüttern, also sich zum
Geschichtssubjekt machen könne. Obwohl die nationalsozialistischen
Führer den Massenmythos zu übernehmen schienen (denn sie schmei­
chelten ihr ja und bauten sie zu etwas auf, was halb Armee und halb
Gemeinde war), lag ihnen natürlich nichts ferner, als der Masse zu
einem solchen Geschichtssubjekt-Status zu verhelfen. Umgekehrt be­
absichtigten sie mit der „Massierung der Masse“ , diese in etwas ande­
res als Masse, nein, geradezu in deren Gegenteil zu verwandeln: näm­
lich in eine kolossale Schutztruppe, deren Aufgabe darin bestand, sie:
die Führer, vor der Masse (also vor ihr selbst) zu beschützen. Die
Entmachtung der Masse war es also, was die (sich als Beschwörer auf­
spielenden) Organisatoren der Masse damals organisierten. Und was
im ersten Moment, durch die einfache Tatsache seiner Imposanz, wie
ein Höhepunkt der Massenmacht aussehen mochte, war umgekehrt
deren tiefster Tiefpunkt.
Das war es, was ich meinte, als ich soeben bestritt, daß von einer
„Klim ax der Masse“ zu reden überhaupt einen Sinn habe. Denn der
(mindestens quantitative) „Höhepunkt von Masse“ tritt in demjenigen
Augenblick ein, in dem Masse entmachtet werden soll. Und tritt des­
halb ein, w eil diese entmachtet werden soll. Wenn im Jahre 1933 das
damalige Geschehen für Millionen von Beteiligten unsichtbar blieb, so
ist das kein Wunder, denn der „Witz der Sache“ bestand eben darin,
die Masse in ihr selbst zu ersticken (mit Goebbels: „sie in ihrem eige­
nen Fett zu braten“ ) - das heißt: die Masse mit soviel Masse zu kon-
frontieren, daß sie den Eindruck haben mußte, als Masse zu triumphie­
ren. In der Tat war sie nun (der Ausdruck schillert, aber er schillert
eben in die Wahrheit hinüber), „von sich selbst überwältigt“.5 Schon
damals wurde Masse zum konterrevolutionären Mittel. Und das ist sie,
wie wir gesehen haben, nun geblieben, das ist sie nun heute erst recht.
Einmal deshalb, weil die auf Reproduktionsverfahren beruhenden
Massenmedien nun die manipulierbare Masse noch massenhafter ge­
macht haben; und dann deshalb, weil Masse nun nur noch aus der
Massenhaftigkeit der Einzelnen besteht. Dieser zweite Grund ist der
wichtigere: denn daß eine Masse, die nur noch eine Qualität des Ein­
zelnen darstellt, auf keinen Fall als agierendes Geschichtssubjekt in
Betracht kommt, das ist evident.
Und das ist nun die heutige Situation. Mindestens in jenen hochin­
dustrialisierten Ländern - der Unterschied zwischen Ost und West ist
hier wiederum belanglos -, deren Bevölkerungen durch die Reproduk­
tionsmittel bereits in Abermillionen von Masseneremiten verwandelt
sind. Da die Masseneremiten nicht mehr zusammenkommen, minde­
stens nicht mehr zusammenzukommen brauchen, sind sie durchweg
harmlos, durchweg passiv, durchweg unrevolutionär. Womit gesagt ist
- und auch das gilt nun wiederum für beide Weltteile - daß das Repro­
duktionszeitalter das grundsätzlich unrevolutionäre Zeitalter ist. Daß
es andererseits jenen Mächten, die Meinungen, Attitüden, Emotionen
en masse den Masse-Eremiten liefern, immer ein leichtes sein wird, in
Augenblicken, in denen es ihnen aus politischen Gründen opportun
scheinen könnte, zurückzuschalten, d. h.: die bloße Qualität „Massen­
haftigkeit“ in physische „M asse“ zurückzuzaubern, versteht sich von
selbst. Die Masse, die man benötigen wird, die wird man stets, und
zwar stets über Nacht, wiederherstellen können. (Zusatz Juni 1979:
Diese Analysen sind durch die Millionen, die anläßlich des Papstbesu­
ches in Polen zusammengeströmt sind, nicht nur nicht widerlegt, son­
dern bestätigt.)
D IE A N T IQ U IE R T H E IT
D E R A R B E IT

1977

W enn heute D em agogen w ie H itler oder Goebbels aufträten, dann


w ü rd en sie ihren V ölkern in einem A tem Rationalisierung und V o ll­
beschäftigung versprechen, nein, die Rationalisierung geradezu als
die V orbedingung der V ollbeschäftigung propagieren. - A b e r
w aru m „w ü rd en “ ?
U nd w enn ihre V ö lk e r s o betrügbar wären, w ie das deutsche V olk
im Jahre 33 war, dann würden sie diesem D oppelversprechen zuju­
beln und sich jubelnd in den Abgrund stürzen. - A b er noch einmal:
W arum „w ü rd en “ ?

§I

Die Privationen des Arbeiters. „ Chaplinitis“

Die Frage, ob der heutige Arbeiter noch Proletarier sei oder nicht,
ist nicht durch Feststellung seines niedrigen oder hohen Lebensstan­
dards zu beantworten - so gesehen, sind tatsächlich Hunderte von
Millionen von Arbeitern keine Proletarier mehr - , sondern durch die
Feststellung seines Freiheitsstandards. Und dieser ist in der Tat so tief,
daß die Frage hundertprozentig bejaht werden muß. Unfrei ist er nicht
etwa nur deshalb, weil er vom Eigentum an „seinen“ Produktionsmit­
teln oder Produkten ausgeschlossen ist, sondern weil er das Ganze des
Produktionszusammenhanges, in das er integriert ist, nicht übersieht;
und ebensowenig das Endprodukt und dessen Bewandtnis kennt -
diese bleiben gewissermaßen „transzendent“ ; ebensowenig die morali­
schen oder unmoralischen Qualitäten „seines“ Produkts; ebensowenig
dessen Nutznießer, Verwender oder dessen Opfer. All das - und damit
auch sein eigenes Arbeiten - findet gewissermaßen hinter seinem eige­
nen Rücken statt. So ist es mir und der Belegschaft, innerhalb derer ich
arbeitete, vor schon mehr als 3 5 Jahren in einer kalifornischen Fabrik
gegangen.
Das Einzige, was wir „vor uns sahen“ , war das auf uns zu- und dann
sofort wieder von uns fortwandernde Produktstück, für dessen Bear­
beitung wir eingesetzt waren - wir wünschten auch nicht mehr, mehr
zu wissen oder zu sehen, die Neugierde war uns fortmanipuliert wor­
den; uns fehlte jedes Interesse an unserem Tun - warum hätten wir
auch mehr wissen oder sehen sollen, was hätten wir davon schon
gehabt? Vor allem: Wir sollten an dem, was wir verrichteten, kein
Interesse haben, wir sollten ohne Bewandtnis arbeiten. Hätte einer von
uns den Vorarbeiter oder sonstwen nach der Bewandtnis unseres Tuns
gefragt, er wäre im besten Falle als Kauz abgefertigt worden, „that’s
none of your damned business“ , und ein paar Jahre später, in der
McCarthy-Periode, hätte er als „security risk“ gegolten. In der Tat
wäre es auch falsch und zuviel Ehre für unser damaliges Tun gewesen,
dieses „Arbeiten“ zu nennen. Da es zielblind vor sich ging, war es eher
eine Art von Gymnastik, die wir täglich 8 Stunden lang zu treiben
gezwungen waren; eine Gymnastik, die aus sich immer gleich bleiben­
den Freiübungen bestand, oder richtiger: aus „ Unfrei-Ubungen“ ,
denn was an diesen, vom Fließband diktierten, Bewegungen wäre denn
noch „ fr e i” gewesen? Schon vor Jahrzehnten hatte Chaplin diese „U n-
frei-Übungen“ vorgeführt, in seinem Film „Modern Times“ , der einen
Mann zeigt, der abends, von seiner Fließbandarbeit heimkehrend,
nicht mehr frei genug ist, sich von diesen unfreien Bewegungen freizu­
machen; und der nun fassungslos dem Tanz seiner, fremden Tieren
gleichenden, Hände zuschaut: „Chaplinitis” . Wahrhaftig, angst und
bange kann einem werden, wenn man es sich klarmacht, daß auch
jetzt, in diesem Moment, Hunderte von Millionen mit solcher Gymna­
stik beschäftigt sind, und daß diese Hunderte von Millionen sogar
noch dankbar dafür sind, daß es ihnen, im Unterschied zu Millionen
weniger Glücklichen: den Arbeitslosen, noch vergönnt ist, diese Gym ­
nastik zu treiben; und daß sieverbissen das Recht auf diese Gymnastik
als politisches Grundrecht proklamieren, in der Tat proklamieren müs­
sen, weil sie ohne derart nichtige Gymnastik im Nichts stehen, oder -
aber dieses , ,Tun“ ist nur eine Verbrämung -von Nichtstun - vor dem
Bildschirm sitzen würden; und weil sie gezwungen wären sich täglich
durch den sich immer neu vor ihnen aufstauenden Zeitbrei durchzu­
fressen. Und noch banger muß einem werden, wenn man bedenkt, daß
diese Gymnastik durch keine bestimmte Art von Revolution zum Still­
stand gebracht oder auch nur korrigiert werden kann; daß unsere Dar­
stellung auf die Arbeit in sozialistischen Ländern genau so zutrifft wie
auf die in kapitalistischen Ländern; daß sich also mit der Veränderung
der Eigentumsverhältnisse die Folgen der Technik überhaupt nicht mit­
verändert haben oder mitverändern werden; daß die Rede von der
„Humanisierung der Arbeit“ und die von der „Aufhebung der Ent­
fremdung“ so lange, als wir in einer durchtechnisierten und sich weiter
durchtechnisierenden Welt leben, mithin endgültig, bloßes Gewäsch
ist.
Und damit bin ich bei der leichtsinnigen, heute so oft geschwätzten
und nachgeschwätzten Behauptung, daß es keine Proletarier mehr
gebe. In Wahrheit gibt es heute mehr als je. Denn wenn diejenigen, die
die Hauptzeit ihres wachen Lebens mit „Unfrei-Obungen“ verbringen
- und das sind nahezu alle Lohnarbeiter - und am Feierabend nur noch
für „frei“ ins Haus gelieferte Amüsierprodukte Kraft haben;1 oder
wenn diejenigen, die sogar von dieser Chance, unfrei zu arbeiten,
ausgeschlossen sind, also die Arbeitslosen - wenn die keine Proletarier
sind, dann weiß ich nicht mehr, was das Wort überhaupt noch anzei­
gen soll.

Dazu kommt, daß es gar nicht so gewiß ist, daß Fließbandarbeit


wirklich noch „Arbeit“ im klassischen Sinne darstellt. Denn was wir
als Fließbandarbeiter „leisten“ , ist ja keine gestische Entität, keine in
sich gerundete Aktion, in die wir uns so hineinlegen können, wie sich
der Schreiner in die Herstellung eines Tisches oder der Geiger in die
Melodie oder selbst noch der Holzfäller in sein Fällen hineinlegen
können. Vielmehr besteht die Leistung ja immer nur aus Fragmenten
einer Tätigkeit, mit denen wir uns niemals zu indentifizieren vermö­
gen, die wir aber tausend Male ohne Identifizierung wiederholen müs­
sen. Und morgen wieder. Da sie uns weder die Freude am werdenden
noch am fertigen Produkt gewährt, ist die Fließbandarbeit etwas viel
Schlimmeres, um nicht zu sagen: viel Verfluchteres als jede frühere
Arbeit gewesen war. Erst sie macht uns zu Proletariern.
§2

Automation - Die zweite Arbeitslosigkeit

Und trotzdem. Obwohl diese entfremdete Arbeit wahrhaftig schon


unmenschlich ist; obwohl es unmöglich ist, auf diese zu verzichten;
obwohl kein politisches System Interesse daran haben kann, auf sie zu
verzichten; und obwohl keine politische Revolution imstande wäre,
auf sie zu verzichten - die schlimmste Arbeit ist auch sie noch nicht.
Damit meine ich freilich nicht, daß es Arbeiten gebe, die physisch oder
geistig schwerer wären als die geschilderte Arbeit. Im Gegenteil: was
ich meine, ist eine, oberflächlich gesehen, sehr leichte Arbeit; eine, die
in der Tat so leicht ist, daß sie dem, was wir, seit wir keine Hirten mehr
sind, unter „Arbeit“ verstanden haben, noch weniger ähnelt, als es die
tayloristische Arbeit tut. Die schlimmste ist sie vielmehr deshalb, weil
sie uns der Freiheit total beraubt. In der Tat ist ihre Einführung selbst
eine Revolution; und zwar eine, die, nur um ein weniges asynchron,
im Osten und Westen gleichzeitig stattfindet. Ich spreche von der
Automation.
Nun, die Mehrzahl der heute Arbeitenden gehören noch nicht zur
Kategorie der Automationsdiener. Aber der Trend ist unaufhaltsam:
im Jahre 2000 werden, so sagt man voraus, die meisten Arbeiter Auto­
mationsarbeiter sein. Das bedeutet natürlich nicht, daß dann alle „A r­
beitswilligen“ an oder in Automationen arbeiten werden. Denn es gibt
eine eiserne Regel der Umkehrung der Proportion, die besagt, daß mit
der steigenden Zahl der Automationen die Zahl der erforderlichen A r­
beiter sinkt. Anders ausgedrückt: Es ist unvermeidlich, daß, gewisser­
maßen als „zweites Produkt“ , aus den Automationen ein Millionen­
haufen von Arbeitslosen, und damit von Proletariern, herausfällt.2
Aber, so sollte man meinen, wenn wir von dieser ominösen Wahr­
scheinlichkeit absehen und uns auf jene wenigen Begünstigten be­
schränken, die nicht im Brei ihrer unerwünschten Freizeit ersticken,
sondern einen Automationsplatz effektiv einnehmen werden - minde­
stens die werden doch eine Chance haben, wenn auch nur die küm­
merliche, blindlings weiter „Freiübungen“ zu machen. Nein, auch
diese Annahme ist noch zu optimistisch. Auch diese „Glücklichen”
werden zur Arbeitslosigkeit verurteilt sein, bzw. sind das schon. Das
klingt absurd, ist es aber deshalb nicht, weil die Arbeitslosigkeit, von
der hier die Rede ist, eine ganz neuartige ist: sie ist nämlich eine, deren
Dauer sich mit der Dauer des Arbeitens deckt; oder sagen wir ruhig:
die sich mit der Arbeit deckt. Was ich damit meine, ist, daß die in
Automationsbetrieben Beschäftigten - ob wir sie „Arbeiter“ nennen
oder „Angestellte“ , ist gleichgültig, die Unterscheidung gilt hier nicht
mehr - während ihres Arbeitens noch nicht einmal dazu gezwungen
sein werden, jene „Gym nastik“ zu betreiben, die wir vorhin als Inbe­
griff der heutigen Inhumanität kennengelernt hatten; nein, daß sie
noch nicht einmal die Freiheit dazu haben werden. Vielmehr wird ihre
Pflicht darin bestehen, von Radiomusik süß umspült, gewissermaßen
nichts zu tun - freilich nur gewissermaßen: denn sie werden damit
beschäftigt sein, zu warten, ob vielleicht (dies nur ein Beispiel) ein
gewöhnlich grünes Licht durch Rotwerden (was eigentlich niemals
vorkommen sollte und in der Tat nur alle Jubeljahre vorkommt) eine
Störung anzeigt. Dies „ Warten“ haben sie freilich - und dies ist etwas
psychologisch Einmaliges - aufs konzentrierteste durchzuführen. Sie
sind die „I.ynkeusse“ des Industriezeitalters. Das Wort „warten“ wird
deshalb so gerne verwendet, weil es eine Doppelbedeutung hat: nicht
nur „warten auf“ oder „warten ob“ , sondern in seiner Transitivform
„etwas warten“ , die angeblich aktive Behütung von etwas anzeigt.
Diese zweite Bedeutung wird dem Wartenden tatsächlich eingeredet.
D er Warter soll sich als Wärter Vorkommen. Aber „W ärter“ ist er nur
in einem ganz geringen Prozentsatz der Fälle. „ Objekthirte“ wäre die
am genauesten treffende Bezeichnung für den Automationsarbeiter.
Die Bukolik von heute. In der Tat hat es in der Geschichte menschli­
cher Aktivitäten seit dem uralten Hirtenberuf keine gegeben, die sich,
obwohl wahrhaftig ein Fluch, von der „verfluchten Arbeit“ (I Mose 4)
so fundamental unterschieden hätte wie die Situation des Automa­
tionsarbeiters. Selbst der Schweiß bleibt ihm mißgönnt. Ob man das
Recht hat, dessen Nichtstun und das Sich-Abrackern des pflügenden
Bauern unter den Oberbegriff „arbeiten“ zu subsumieren, dessen bin
ich mir gar nicht sicher. Tatsächlich ist, verglichen mit der Frustration
des in einer Automation „Tätigen“ die vorhin geschilderte, heute noch
überwiegende Fließbandarbeit trotz ihrer Bewandtnisblindheit noch
immer eine unterhaltsame - beinahe ist man versucht, zu sagen: eine
menschenwürdige - Beschäftigung. Denn immerhin hält sie den A r­
beitenden ja noch in Bewegung. Mindestens scheint sie ja noch ein
Tun.
Dazu kommt als zweites Negativum, daß der „Wärter“ darauf war­
tet, daß etwas nicht eintrete. Ich bezweifle, daß der Mensch fähig ist,
diese zweite Negativität durchzuhalten. Wahrscheinlich ersehnt der
Wartende das ominöse Aufflammen des Rotlichtes ebenso ungeduldig,
wie der stundenlang frustriert herumstreunende Polizist das Auftau­
chen eines Verbrechers, weil ihm das beweist, daß seine Beschäftigung
nicht ganz nutz- und gegenstandslos ist.
Das dritte Negativum schließlich - und dieser dritte Punkt kann
garnicht eindringlich genug betont werden - besteht in der erzwunge­
nen Asozialität des „Wartens“ . Während sich die Fließbandarbeiter
noch irgendwie nebeneinander spüren, noch in Kontakt (wenn auch
nur in einem Galeerensträflingskontakt) miteinander bleiben, haben
die Automationsarbeiter solistisch Wache zu schieben, nein, noch nicht
einmal zu „schieben“ , denn sie haben ihre Pflicht ja sitzend zu erfül­
len. D er Eremitenhaftigkeit der heutigen (z.B. Fernseh-) Konsumen­
ten, die ich im ersten Bande dargestellt hatte,3 entspricht nun die Ere­
mitenhaftigkeit der heutigen (Automations-)Arbeiter. In der Tat fin­
den diese keine Kameraden mehr neben sich: wenn sie von Sozialdurst
geplagt sind, dann können sie sich, statt an den Nebenmann, höchstens
an den Betrieb selbst, also an ein Ding, wenden. Wer weiß, ob nicht
der Gedanke, mit dem wir heute Siebzig- oder Achtzigjährigen noch
groß geworden sind, und der den sozialistischen Bewegungen über
hundert Jahre lang ihre Stoßkraft verliehen hatte: daß sich die Arbeiter
als „Arbeitermassen” fühlen sollten, und daß sie nur dann, wenn sie
das täten, also solidarisch empfänden und handelten, politisches Ge­
wicht und ihre Freiheit gewinnen könnten - wer weiß, ob nicht dieser
Gedanke den nächsten Generationen unbegreiflich sein wird, weil die
Arbeitssituation keine Hinweise auf ein Team, geschweige denn auf
eine Masse oder Klasse, enthalten wird? Ein bloßer Zufall ist es gewiß
nicht, daß die einstmals zu Recht berühmten, Revolutionsmassen dar­
stellenden, Lithos der Käthe Kollwitz, nachdem sie im Jahre 33 eiligst
von den Wänden genommen worden waren, nach dem Jahre 4 5 nicht
wieder aufgehängt worden sind. Die auf diesen Bildern dargestellte
Zukunft ist, ehe sie zur Gegenwart hatte werden können, zur Vergan­
genheit geworden. Ihre „Wahrheit“ haben diese Bilder verloren, nie­
mand erkennt sich mehr in ihnen wieder. Und wer weiß, ob nicht
morgen viele Arbeiter ebenso eremitisch mit ihrer Mitwelt verbunden
„arbeiten“ werden wie die Raumfahrer heute in ihren Raketen? Und
ob nicht übermorgen schon die Vokabeln „ Klassenbewußtsein“ und
„Genosse” , und vielleicht selbst das Wort „A rbeit“ , ebenso veraltet
und unbekannt sein werden, wie es heute schon die (durch den irrefüh­
renden Terminus „Arbeitnehm er“ ersetzte) Vokabel „A rbeiter“ ge­
worden ist?
Und doch werden morgen die so „nichtstuenden“ Warter oder
Wärter die Favorisierten sein. Denn es kann ja kein Zweifel daran
bestehen, daß die Automationsbetriebe sich beinahe selbständig ma­
chen, das heißt: auf Arbeiter möglichst verzichten werden. In Japan
gibt es bereits „unmanned factories“ . Die wird es bald auch anderswo
geben, ebenso „unmanned offices“ , da heutige Computer beinahe
1000000,4 jawohl millionenfach, so schnell rechnen wie ihre Kon­
strukteure, wenn man diesen die gleichen Aufgaben zumutete, und die
nun hinter ihren Konstruktionen aufs jämmerlichste zurückbleiben.5
Zahllose Spezialleistungen, die noch vor 2 5 Jahren, als ich über dem
ersten Bande dieses Werkes saß, von Menschen durchgeführt werden
mußten, können heute, und zwar sehr viel genauer und in vertausend­
fachtem Arbeitstempo, automatisch erledigt werden. Der Arbeiter
wird gar nicht mehr die dort geschilderte „prometheische Scham“ , die
Scham vor dem (von ihm bedienten) Gerät, weniger perfekt zu sein als
dieses, empfinden. In der Tat wird dieser in der Kabine seines Geräte­
kosmos sitzende Lynkeus von morgen weder die Gelegenheit finden
noch sich dazu veranlaßt sehen, seine „eigene Leistung“ mit der der
Maschine zu vergleichen. Diese arbeitet ja nicht an seiner, des Indivi­
duums, statt, sondern anstelle der gesamten Belegschaft, und das be­
deutet: die Leistungsdifferenz ist viel zu groß geworden - manche
Maschinenkomplexe ersetzen bereits 50000 Arbeiter - als daß sie für
Vergleichungen noch in Betracht kommen könnten. Und doch, trotz
der entwürdigenden Situation, in der sich diese zum „ Warten“ Ver­
dammten befinden, werden diese doch die Elite der Arbeiter und A n ­
gestellten bilden, denn - man mache sich keine Illusionen - die meisten
Proletarier werden, wie „arbeitswillig“ immer sie auch sein mögen,
vergeblich darauf warten, als Warter eingesetzt zu werden.
Wird sich nicht die Menschheit in ein einziges kolossales Lumpen­
proletariat verwandeln? Und selbst wenn es - was ganz unwahrschein­
lich ist - gelingen sollte, durch einen totalen Umbau des Gesellschafts­
systems die heutige Wohlstandsgesellschaft aufrechtzuerhalten - wo­
mit sollen sich denn die Millionen von früh bis spät beschäftigen?
Lächerlich, zu glauben, man könnte diese Frage mit Volksbildungs­
vorschlägen beantworten. Werden sie nicht hilflos dem Ozean der
freien Zeit exponiert sein? Die Frage „ Was sollen wir t u n die die
besten Männer des vorigen und angehenden 20. Jahrhunderts zu be­
antworten versuchten, wird abgelöst werden durch die „ Womit sollen
wir uns und die Mitmenschen beschäftigen?“ Daß die Millionen die
ozeanische Leerzeit mit Unterhaltung oder „Bildung“ oder Sport oder
Sex werden ausfüllen können, das bezweifle und bestreite ich. Und das
nicht etwa deshalb, weil ich ein sturer und mißgünstiger Zelot der
Arbeitsethik wäre. Nichts liegt mir ferner, als mit erhobenem Zeigefin­
ger zu monieren, daß nur diejenigen, die sich ihr Leben mit Arbeit
verdienen, zu leben verdienen. Aber was ich glaube, ist, daß der
Mensch ohne die Arbeit, zu der er nun einmal verflucht ist, nicht leben
kann, daß er unfähig ist, around the clock Unterhaltung auszuhalten.
Die Ratschläge derer, die die Misere der Menschheit nicht mehr mitan­
sehen konnten, ob sie nun Tolstoi oder Lenin geheißen haben, sind
angesichts der völlig neuen Situation der Menschheit antiquiert, auch
sie sind bereits antiquiert. D ie Frage ist nicht mehr die, wie man die
Früchte der Arbeit gerecht verteilt, sondern wie man die Konsequenzen
der Nichtarbeit erträglich macht. Wie widerwärtig auch das Wort
„Freizeitgestaltung“ klingt - ich mißtraue dem Wort „gestalten“ , es
gehört auf die schwarze Liste, die Liste der proskribierten Wörter -
das Wort „Freizeit“ zeigt mindestens an, worum es heute geht. Eine
Antwort weiß auch ich natürlich nicht.
Gute Zeiten waren das noch gewesen, als die „Arbeitnehmer“ ge­
nannten Arbeiter (die freilich niemals die Freiheit hatten, sich Arbeit
zu nehmen) als Arbeiter noch genommen und angenommen wurden.
Denn die Arbeitslosigkeit, die nunmehr bevorsteht, wird die, die vor
50 Jahren geherrscht hatte, als harmlos erscheinen lassen. Wenn man
bedenkt, daß schon die damalige eine der Hauptursachen des Natio­
nalsozialismus gewesen war, dann kann einem der Mut vergehen, sich
vorzustellen, was die bevorstehende hervorbringen wird. Gar nicht
unmöglich, daß die (damals wirtschaftlich widersinnigen) Auschwitzer
Gasöfen die Modelle für die „Bewältigung“ der Tatsache, daß es, ver­
glichen mit Arbeitsgelegenheiten, „zuviele Menschen gibt“ , abgeben
werden.

Aber die Umwälzung, die das Arbeiten heute durchmacht, ist durch
den Hinweis auf die Rationalisierung nicht erschöpfend bezeichnet.
Mindestens ebenso fundamental wie die durch die Automation verur­
sachte Revolution ist diejenige, die darin besteht, daß heute Mittel und
Zweck ausgetauscht sind. Daß die zwei Umwälzungen nur Faktoren
einer einzigen sind, wird sich schnell herausstellen. Zwar trifft es auch
heute natürlich noch zu, daß jeder Einzelne sein Arbeiten als Mittel
(zum Kauf von Lebensmitteln im weitesten Sinne) einsetzt. Aber wäh­
rend früher das Ziel der Arbeit darin bestanden hatte, Bedürfnisse
durch Erzeugung von Produkten zu befriedigen, zielt heute das Be­
dürfnis auf Arbeitsplätze; Arbeitsbeschaffung wird zur Aufgabe,
Arbeit selbst w ird zum herzustellenden Produkt. Zum Ziel, das allein
dadurch erreicht werden kann, daß Zwischenprodukte erzeugt wer­
den. Diese neuen Produkte heißen „neue Bedürfnisse“ , die vermittels
einer Arbeit, die „Werbung“ heißt, hergestellt werden. Sind diese
neuen Bedürfnisse erzeugt, dann ist auch neue Arbeit als Endprodukt
erfordert und ermöglicht.
Freilich nicht ad libitum. Nicht nur deshalb nicht, weil unser „ B e ­
dürfen können“ nicht unbegrenzt ist (was sollten wir uns nach Kauf
einer „unter Wasser operablen Schreibmaschine“ noch wünschen kön­
nen?); sondern vor allem deshalb, weil durch den unaufhaltsamen A u f­
stieg der Technik: durch die unaufhaltsame Vervollkommnung der
Rationalisierung und der Automatisierung die Zahl der jeweils für eine
Leistung L benötigten Arbeiter kontinuierlich zurückgeht. Das Postu­
lat der Vollbeschäftigung w ird also um so weniger erfüllbar sein, je
höher der technologische Status einer Gesellschaft ist. Wenn gewisse
mitteleuropäische Politiker vorgeben, den technologischen Stand ihrer
Länder deshalb steigern zu wollen, weil sie nur dadurch Vollbeschäfti­
gung gewährleisten könnten, dann sind sie entweder denkunfähig oder
Volksbetrüger. Man kann nicht höchste Rationalisierung, die die Zahl
der erforderten Arbeiter senkt, und Vollbeschäftigung zugleich auf
Programm setzen. Nirgends außer in der Politik dürfte man sich einen
derartigen logischen Schnitzer erlauben. Die Dialektik von heute be­
steht in diesem Widerspruch zwischen Rationalisierung und Vollbe­
schäftigung. Dies offen zuzugeben, das bringt kein Politiker über sein
Parteiherz.

D er WQ

Man sollte einen dem IQ entsprechenden WQ (workers quotient)


einführen, dessen Höhe die Prozentzahl derer, deren Arbeit unent­
behrlich ist, um Hundert am Leben zu erhalten, bezeichnen würde.
WQ 100 würde besagen: ioo Menschen sind nötig, um 100 zu erhalten
- was ideal klingt, weil jedermann einen Arbeitsplatz haben müßte,
also hätte. Aber im kapitalistischen System kann aus drei Gründen
keine Rede davon sein, daß diese „Deckung“ als Ideal gelte.
Erstens deshalb nicht, weil durch Aufrechterhaltung der Herstel­
lung einer gewissen Zahl von Arbeitslosen jeder Arbeitsplatz zum
Desiderandum gemacht und dadurch die Arbeiterschaft geschwächt
wird.
Zweitens weil Rationalisierung, also die Verringerung der Arbeits­
plätze, zwecks Erhöhung des Profits erwünscht ist.
Drittens, weil es erwünschter ist, wenn io% genügen, um „ioo%o“
zu erhalten, das heißt: weil jeder Einzelbetrieb darauf hinarbeitet, daß
sein Haben sein Soll übersteige.
Gleichzeitig wird allerdings die Schlaraffenland-Utopie WQ = Null
angestrebt, nämlich der Zustand, in dem niemand zu arbeiten braucht,
weil alle Arbeit auf die Geräte abgewälzt ist. - Gleichviel, W Q 4
bedeutet: Vier sind nötig, um Hundert zu sichern. Je höher der tech­
nologische Status eines Landes, desto tiefer dessen WQ. - Da freilich
das Quantum dessen, was als unentbehrlich gilt, selbst relativ ist - das
in Los Angeles Unentbehrliche ist in Calcutta durchaus entbehrlich -
und selbst von dem bereits erreichten technologischen Status abhängt,
ist die Angabe des WQ immer nur mit Reserve zu verwenden. Als
Regel darf in der kapitalistischen hochindustrialisierten Gesellschaft
gelten: Niemals sind n Menschen erforderlich, um n Menschen zu er­
halten. Immer sind n minus x Menschen zur Erhaltung von n Men­
schen benötigt. Wer versucht, Arbeitslosigkeit durch Umerziehung der
aus einer Arbeit (wie es heute so schön heißt, nun weiß ich, was
Freiheit ist) „Freigesetzten“ (z.B. von Setzern) fü r andere Berufe zu
bekämpfen, ist ein Salamitaktiker, da er an der Tatsache vorbeidenkt,
daß der WQ durch die Rationalisierung nicht nur in einer einzigen
Sparte, sondern in der gesamten Industrie sinkt, das heißt: daß Ratio­
nalisierung die Zahl der Arbeitsplätze absolut vermindert. Wenn diese
Regel in den sozialistischen Staaten nicht gilt und wenn diese mit ihrer
fehlenden Arbeitslosigkeit prahlen, dann prahlen sie indirekt damit,
daß die Regel bei ihnen noch nicht gilt, also mit einem Zeichen ihrer
technischen Rückständigkeit.
Dem WQ entspricht der HQ (H = hour), der anzeigt, wieviel
Stunden jemand arbeiten muß, um leben zu können. H Q 24 würde
bedeuten: um leben zu können, hat man pausenlos zu arbeiten. H Q 4:
man hat nur 4 Stunden seiner Zeit mit Arbeit zu verbringen. WQ und
H Q nehmen gleichzeitig ab. Und das gilt nicht nur in der (eng verstan­
denen) Industrie, sondern durchweg, z.B. von dem selbständigen
Eigentümer eines Betriebs. Dessen Arbeitszeit ist (durch elektro­
nische Geräte) derart verkürzt, daß er sich in einen Kurz-, nein
Kürzestarbeiter, beinahe in einen „Arbeitslosen“ (H Q = o ) verwan­
deln kann. Diese Arbeitslosigkeit ist eine vollkommen neuartige, näm­
lich eine, die man sich leisten kann. Arbeitslosigkeit ist in diesem Falle
also ein Stadium des Aufstiegs.6
„F leiß “ , der Jahrtausende lang und auch noch in meiner Jugend als
Tugend selbstverständlich anerkannt worden war - er wurde ja sogar
in den Schulzeugnissen als Sonderleistung erwähnt -, ist nun anti­
quiert. Eigentlich gilt er nur noch als Zeichen unrationellen Arbeitens
und als Mittel der Zeitverschwendung. Wer für eine Leistung, die man
in einer Stunde erledigen könnte, zwei Stunden benötigt, der blamiert
sich als schwerfällig.

§4

D ie Verlegung der Voluptas Laborandi, der Voluptas Concurrendi


und der Voluptas Solidaritatis in die Muße:
Der Sport - Neue Arbeitsteilung

Welchen Ausweg gibt es heute aus dieser Situation des Arbeitens


und des Nichtarbeitens? Denn obwohl die Automation heute noch
nicht auf ganzer Linie gesiegt hat, ist doch das Arbeiten auch heute
schon um die Anstrengung des Arbeitens, und nicht nur um die An­
strengung, sondern um die Lust an der Anstrengung, um die unver­
zichtbare voluptas laborandi, betrogen. Der Seinsbeweis, den Arbeiten
früher geliefert hatte: „ Ich schwitze, also bin ich“ , wird uns vorenthal­
ten. Zwar wäre es kühn zu behaupten, daß sich die heutigen Arbeiter
und Angestellten nach der anstrengenderen Arbeit vergangener Zeiten
zurücksehnen, oder gar, daß eines der Motive der Maschinenstürmerei
des vorigen Jahrhunderts die relative (ich betone: relative) Leichtigkeit
der Maschinenarbeit gewesen sei. Aber übermorgen wird die Sehn­
sucht nach Anstrengung, mindestens nach Tun, überwältigend wer­
den. Schon heute sehe ich unsere Ururenkel vor mir: Automationshir­
ten und Arbeitslose, die sich nach der Fließband-Arbeit, obwohl diese
ausschließlich aus dehumanisierenden und chaplinesken Bewegungen
bestanden hatte, zurücksehnen werden, weil diese Arbeit doch noch
ein Minimum an Tun, also etwas vergleichsweise Humanes, dargestellt
und sie der Mühe, die Zeit selbst totschlagen zu müssen, enthoben
hatte: Automationsstürmer, die natürlich genauso erfolglos bleiben
werden, wie es ihre Ahnen, die Maschinenstürmer des vorigen Jahr­
hunderts, gewesen waren. Die Ziele der Terroristen von übermorgen
werden (nicht anders als die offiziellen Ziele der kriegführenden Staa­
ten) die industriellen Großanlagen sein, denn die Gewaltakte, die heute
Individuen oder konspirative Gruppen aus Verzweiflung über die
„Sinnlosigkeit“ ihres Lebens oder in der Hoffnung auf einen Seinsbe­
weis, auf ein „ergo sumus“ , begehen, diese Terrorakte werden, so
fürchte ich, je unbestreitbarer die Automationen triumphieren werden,
um so rascher in die H ände der Massen hinüberwandern.

Vorerst haben freilich die Arbeitenden und die Arbeitslosen mit


anderen Methoden, die ihnen mißgönnten Anstrengungen nachzuho­
len, vorliebzunehmen. In der Tat gibt es eine, und zwar eine, die sich
als phantastisch erfolgreich erwiesen hat: den Sport.
Dessen Rolle würde ohne eine Analyse der heutigen Arbeit unver­
ständlich bleiben. „Was treiben Sie denn gewöhnlich abends nach der
Arbeit?“ fragte ich (schon vor 20 Jahren) einen Automationsarbeiter in
Marl, der auf ein grünes Licht starrte. Seine Antwort (während derer er
sein Starren nicht unterbrach): „Natürlich Fußball. Und zweimal die
Woche natürlich Gewichtestemmen“ klärt nun meine vorhin gemachte
Bemerkung, die heutigen Arbeiter sehnten sich heimlich nach den An­
strengungen ihrer Vorväter zurück, auf. Das doppelte „natürlich“ in
seiner Antwort war wirklich ganz natürlich, denn diese seine sportli­
chen Mußebeschäftigungen stellten für ihn die natürlichen Kompensie­
rungen für die unnatürliche: nämlich zu leichte Tätigkeit dar, die seine
„Arbeitszeit“ - man kommt aus den Gänsefüßchen nicht heraus -
„ausfüllte“ . In der Tat ist die Wurzel des heutigen Sports die zu leichte
heutige Arbeit. Die Existenz und Entwicklung des Sports kann nur als
Komplementär-Existenz und -Entwicklung verstanden werden. Das
heißt: je anstrengungsloser Arbeiten w ird - und die Entwicklung in
dieser Richtung hat schon zu Beginn des Jahrhunderts eingesetzt, um
nun in der Automationsarbeit zu kulminieren - desto mehr muß der
Mensch, der „wesensmäßig“ 7 für Arbeiten gebaut ist, seine absolut
unverzichtbare Anstrengung und die dazugehörige, ebenso unver­
zichtbare „voluptas laborandi" nachholen; er muß diese also in seine
Freizeit verlegen. Das bedeutet aber, daß sich ein ganz neuer Modus
von Arbeitsteilung entwickelt. Während dieser Ausdruck bis heute
angezeigt hatte, daß der für die Erzeugung eines Produktes nötige
Arbeitsvollzug auf diverse (natürlich mehr oder minder anstrengende)
Vollzüge mehrerer Personen aufgeteilt werde, besagt das Wort hier,
daß von allen diesen Arbeitsvollzügen der Teil „ Anstrengung" abge­
trennt wird. Dieser Vorgang ist höchst sonderbar, denn er bringt eine
doppelte Freiheit mit sich, oder richtiger: den Schein einer doppelten
Freiheit: Frei scheint i . der Arbeitsvollzug selbst: eben befreit von
Anstrengung. - Frei scheint aber ebenfalls 2. diese abgetrennte A n­
strengung, weil sie als Spiel und Vergnügen und durchaus freiwillig vor
sich geht.
Aber das ist natürlich Unsinn. Wie schon die doppelte Verwendung
des Wortes „scheint“ anzeigt, stehen wir vor einem doppelten Betrug.
Denn i. bedeutet „Freiheit von Anstrengung“ nicht eo ipso „Frei­
heit“ ; anstrengungslose. Arbeit (wie z.B . Tütenkleben oder eben A r­
beit in einer Automation) ist alles andere als frei. Und 2. ist Muße nicht
eo ipso ein Freiheitszustand, vielmehr ist die Art der Muße durch die
Art der uns aufgezwungenen Arbeit determiniert, also ebenfalls aufge­
zwungen. Die Hobbies, die vorgeben, freigewählte Mußebeschäfti­
gungen zu sein, sind bestimmt durch die Hobby-Objekte, die als Wa­
ren offeriert werden, und diese sind ihrerseits bestimmt durch den Typ
des heutigen Arbeitens, als Gegentypen. Warum das Selberherstellen
von Minigolf-Plätzen (natürlich mit Hilfe von vorfabrizierten Teilen)
eine „freie Beschäftigung“ sein soll, ist nicht einzusehen. Wenn wir
unsere Ferien mit „fish spearing“ oder Windsurfing verbringen, so tun
wir das alleine deshalb, weil w ir unter dem Zwang der auf den Markt
geworfenen Objekte stehen, den Produzenten zuliebe. Als „fish spea­
ring“ - oder Windsurfing-Feriengäste sind wir Angestellte der Fabri­
kanten, die uns freilich zu einer Tätigkeit verführen, die wir als Arbei­
tende niemals haben: z.B. die zu töten oder die, ein „herrliches R i­
siko“ einzugehen. Dazu kommt, daß wir, gewöhnt an den, wie ich ihn
vor 20 Jahren genannt habe: „sanften Terror" der Waren, gar nicht
mehr dazu fähig sind, uns selbst zu beschäftigen. (Ob freilich unsere
Ahnen das so viel besser gekonnt haben, dessen bin ich nicht so sicher.
Vermutlich haben sie, namentlich winters, viel mehr einfach vegetiert
und geschlafen als wir mit Eindrücken Überschüttete.) Gleichviel,
heute ist der "TV-Schirm das Laufband der Muße. Konsumierend müs­
sen wir mit ihrem Tempo Schritt halten. Kurz: Muße, Konsum und
Sport sind uns ebenso auferlegt wie die Arbeit. Was wir in Arbeit und
Muße erfahren, ist also nicht, wie es auf den ersten Blick scheint, eine
doppelte Freiheit; vielmehr eine doppelte Unfreiheit, die, da sie im
Kostüm einer doppelten Freiheit auftritt, die Lebenslüge der Epoche
ist.

Wiedergutmachung durch Sport

Aber damit ist die Kompensationsleistung des Sports nicht er­


schöpft. Es gibt noch weitere Defekte des heutigen Arbeitens, die
durch den Sport wiedergutgemacht werden.
Während wir als Fließbandarbeiter um die Chance betrogen sind,
uns mit unserer Tätigkeit zu identifizieren und das Ergebnis der eige­
nen Arbeit vor uns zu sehen, sind wir als Sporttreibende: als Läufer,
Schwimmer, Skifahrer nicht nur fähig, (aufs freudigste) mit unserer
Aktion eins zu sein, sondern sogar unfähig, das nicht zu sein. Und
auch damit noch nicht genug. Was dem heutigen Arbeiter fehlt - ein
Defekt, den man immer wieder, hier durch Einführung von Akkord­
arbeit, dort durch „sozialistischen Wettbewerb“ („Stachanofismus“ )
gutzumachen versucht hat -, ist das „agonale Moment“, das heißt: die
Möglichkeit, in Wettbewerb zu treten, die Lust am Wettbewerb, und
die Gier, im Wettbewerb zu siegen. Was die Trivialphilosophen des
Kapitalismus, namentlich in ihren Appellen an die Kleinunternehmer,
den Sozialisten vorwerfen:8 daß diese die Chance des freien Wettbe­
werbs auszulöschen wünschen, das hat der Industrialismus schon
längst durch die Einführung von dehumanisierenden Arbeitstechniken
(die von den sozialistischen Staaten unverändert übernommen worden
sind) selbst getan. In Fabriken ist die Möglichkeit von „A gon“ (von
der Lust am „A gon“ zu schweigen) beinahe völlig ausgelöscht. Die
Rolle der Akkordarbeit ist unbeträchtlich. Wiederum gilt, was wir
soeben von der Anstrengung gesagt haben: daß eine Verschiebung
stattfindet: Da Wettbewerbschancen während des Arbeitens fehlen,
die Wettbewerbsgier und die „voluptas concurrendi“ dagegen unver­
zichtbar ist, wird diese in die Mußezeit verlegt, wiederum in den Sport,
der den Wettbewerb der vom wirklichen Wettbewerb Ausgeschlosse­
nen darstellt. Im Sport kann man noch, nein, soll man sogar, sowohl
individuell wie kollektiv, siegen. Sport ist das Ventil der Konkurrenz­
gier, ist „Konkurrenz fürs Volk“ .9
Aber auch damit ist die Ersatzleistung des Sports noch nicht er­
schöpfend dargestellt. Denn dazu kommt - dies ist seine 3. Funktion -,
daß er den Arbeitern die Chance verschafft (oder sie dazu verurteilt),
jenes (der herrschenden Klasse höchst unwillkommene) Gefühl der
Zusammengehörigkeit und der Solidarität, das sie eigentlich in den
Fabrikhallen empfinden sollten, nun auf einer anderen, völlig harmlo­
sen Ebene (zuweilen sogar auf einem vom Unternehmer zur Verfü­
gung gestellten Sportplatz) zu empfinden und jede Woche einmal aus­
zutoben. Sport ist gern gesehene, wenn nicht geförderte, Ersatzbefrie­
digung des Solidaritätsdurstes. Solidarisch sind sie nun als Fußballer
mit ihrem Fußballklub oder als Radfahrer mit ihrem Radrennverein.
Und das sind sie auch dann, wenn sie selber nicht mitspielen oder
mitradeln, sondern als Familienmitglieder oder Freunde nur gaffen
und mitschreien oder auch nur vor dem Fernsehschirm Partei ergrei­
fen. Dann sind sie solidarisch eben als Mitglieder oder Sympathisanten
der „Brooklyn Eagles“ oder des Pariser „Velos de Rougemont“ . Und
das heißt: nicht als Proletarier. Die Stiftung von falschen „als“ gehört
zu den wirksamsten ideologischen Manipulationen in West und Ost.
Das molussische Dictum ,,Sport ist konterrevolutionär" ist gar nicht so
unberechtigt.
Dazu kommt (aber das läuft wahrscheinlich auf dasselbe hinaus),
daß er es dem Sportler erlaubt, das ihm gewöhnlich mißgönnte Gefühl
der Feindschaft zu empfinden; richtiger: ihn dazu verurteilt, die aufge­
stauten Energien politischen Hasses am falschen Objekt loszuwerden.
Und nicht nur der Gegenstand der Feindschaft wird ausgewechselt,
vielmehr wird dieses Gefühl in das unernste der bloßen Gegnerschaft
sublimiert. Daß das auch für den Osten gilt, wo es Klassen angeblich
nicht mehr gibt, also eigentlich auch kein Klassenhaß-Ersatz mehr nö­
tig sein sollte; daß auch dort Massenenthusiasmus und Massenhaß im
Sportstadion offiziell gefördert, ja sogar eine Wettbewerbs-Industrie
aufgezogen wird, das ist ein schlimmes Zeichen.
Sind diese Pseudo-Affekte einmal hergestellt, dann können diese
aber auch wieder - und damit machen wir einen neuen Schritt - in
politische Pseudo-Affekte rückverwandelt werden. In Mittelamerika ist
neulich ein Sportzwischenfall in einen regelrechten Krieg ausgeartet.
Das Goebbelsreden unterbrechende und abschließende Brüllen (so­
wohl das Haßbrüllen gegen „Bolschewismus und Weltjudentum“ wie
das Solidarisierungsbrüllen für den totalen Krieg) war zuvor auf den
Fußballplätzen geprobt worden. In der Tat klingt auch das Sportge­
brüll bereits „mörderisch“ . Daß die berühmtesten Massenversamm­
lungen des Nationalsozialismus im Berliner Sportpalast stattgefunden
haben, ist von unüberbietbar symbolischer Bedeutung, besser hätte das
kein Romanautor erfinden können. All das gilt natürlich auch von dem
Gebrüll auf östlichen i. Mai-Feiern und von dem auf amerikanischen
Party Conventions.
Fassen wir zusammen, was hier vor sich geht. Der Vorgang hat drei
Stadien:
1. Vorausgesetzt werden echte politische Affekte der Solidarität
oder der Feindschaft.
2. Diesen Gefühlen werden neue Gegenstände untergeschoben, sie
werden in (unechte) Sportaffekte verwandelt. Als solche sind sie un­
gleich intensiver als alle „natürlichen“ Affekte oder Emotionen, kein
Mensch tobt in natürlicher Raserei, welcher Art auch immer, so un­
menschlich, wie er es bei einem Fußballmatch tut.
3. Diesen gesteigerten unechten Affekten werden nun wiederum
neue politische (Pseudo-)Gegenstände untergeschoben: Statt für seine
Mannschaft brüllt nun der Fußball-Fan für sein Reich und den totalen
Krieg; statt gegen die gegnerische Mannschaft nun gegen Bolschewis­
mus und Weltjudentum.

Die technische Revolution die einzige echte Revolution der Epoche -


Planwirtschaft: das der Technik au f den Leib geschnittene System

Kehren wir am Ende zu unserer Eingangsfrage zurück, ob die heute


Arbeitenden noch „Proletarier“ seien. Und zu unserer Antwort, daß
sie das durch mehrfache Privation durchaus sind. Natürlich sind diese
Privationen keine primär politischen Tatsachen. Vielmehr Effekte der
einzigen echten und globalen Revolution, die in unserem Zeitalter
stattgefunden hat und die im Unterschiede zu einer gewissen anderen
wirklich als „permanente Revolution" weiter stattfindet: der Technik,
die „systemneutral“ bleibt, also hüben wie drüben gleichermaßen ihre
Diktatur aufgerichtet hat; und die sich auch nach politischen Um­
schwüngen, so als wäre nicht das mindeste geschehen, als Konstante
durchhält, das heißt: sich hektisch weiterentwickelt. Wenn nicht sogar
der erreichte Stand der Technik, der sich mit der bisherigen politischen
Struktur nicht mehr verträgt, oft selbst die Triebfeder ist, die die politi­
sche Revolution in Gang setzt. Vielleicht haben die bekannten Revolu­
tionen unserer Epoche, die als politische sogar als Heilsaktionen auf­
traten, sich als solche nur drapiert, im besten Falle als solche nur
mißverstanden. In Wirklichkeit gehorchten die Umwälzungen techni­
schen Erfordernissen, und es wäre keine Übertreibung zu behaupten,
daß Politik bereits Ideologie sei, nein, daß vielleicht sogar wirtschaftli­
che Programme nur noch Überbauten über „technological require-
ments“ sind; daß die Diktaturen, unter denen Millionen ihr Leben zu
absolvieren oder zu fristen oder zu opfern haben, selbst versklavt sind:
nämlich durch die Diktatur der Technik. -
Was Washington und Moskau miteinander verbindet, ist gewiß nicht
das, „heißer Draht“ genannte, Ding, sondern die Tatsache, daß sie
beide ohne die Technologie des Telephons (und der Kernreaktoren
und und und) nicht mehr existieren können; die Tatsache, daß sie
beide unter dem Diktat der Technik, bzw. der Technologen, stehen.
Wenn sich, was ja unbestreitbar ist, die politischen Programme der
meisten Länder trotz der überall gleichen Diktatur der Technik noch
immer kraß voneinander unterscheiden, so ist das kein Gegenargu­
ment gegen unsere These. Vielmehr rühren diese Verschiedenheiten
von der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation her, in die
die Technik jeweils eingeschlagen hat. Aber wenn sie das erst einmal
getan hat, dann gilt von Tag zu Tag weniger, daß sie sich innerhalb des
politischen Rahmens entwickelt. Vielmehr tritt dann eine wirkliche
Umwälzung ein, das heißt: dann nimmt die Bedeutung der Technik so
überhand, daß sich das politische Geschehen schließlich in deren Rah­
men abspielt. Dementsprechend gilt, daß die aus verschiedenen Ver­
gangenheiten herstammenden Staaten um so ähnlicher werden, je län­
ger die Prädominanz der (pausenlos akkumulierenden) Technik währt.
Darauf zu hoffen, daß die (vorhin geschilderten) Unfreiheiten mit dem
vielleicht einmal eintretenden Ende des Kapitalismus mitverschwinden
werden, wäre töricht, da diese in viel höherem Maße Folgen der Tech­
nik als der Eigentumsverhältnisse sind. Vielleicht hat man sich sogar
umgekehrt zu fragen - was natürlich für jeden gläubigen Sozialisten
eine erschreckende, deprimierende oder empörende Zumutung ist - ob
nicht vielleicht die innerhalb einer programmatisch zentralisierten
Planwirtschaft arbeitende Technik (durch deren requirements die Pla­
nung diktiert ist) ebensowenig (was das ursprüngliche Ziel der Einfüh­
rung von Planung gewesen war) auf Stillung der menschlichen Bedürf­
nisse aus ist wie die auf Profit abzielende kapitalistische Wirtschaft; ob
nicht vielleicht sogar die innerhalb einer nicht völlig zentralisierten,
sondern noch pluralistisch aufgefächerten Wirtschaft (die in den A u­
gen zentralistischer Planer wie Schlamperei aussehen muß) funktionie­
rende Technik doch noch mehr Lücken, und dadurch letzte (freilich
nicht von ihr geplante, aber doch in Kauf genommene) Freiheitschan­
cen offenläßt. Diese Frage, die auch in meinen Ohren erzreaktionär
und skandalös klingt, einfach deshalb, weil sie von den Sprechern der
Reaktion (freilich nicht aus Interesse an der Freiheit der Arbeitenden)
bejaht wird, beiseitezuschieben, bewiese nicht nur Befangenheit, son­
dern Feigheit. Gleichviel, die Konvergenz der Systeme, die längst in
Gang ist (und wahrhaftig nicht von mir entdeckt worden ist), ist un­
aufhaltsam. Diese durch die Technik verursachte Konvergenz. ist die
Revolution, die sich, und zwar permanent, abspielt. Und diese bewegt
sich nicht in Richtung: Freiheit des Menschen, sondern in Richtung:
Totalitarismus der Geräte. Und als Stücke dieser Gerätewelt sind wir
Menschen im besten Falle - Proletarier. Wahrscheinlich aber viel
Schlimmeres als das.
D IE A N T IQ U IE R T H E IT
D E R M A S C H IN E N
I

i960

Si

Der Traum der Maschinen

Der Triumph der Apparatewelt besteht darin, daß er den Unter­


schied zwischen technischen und gesellschaftlichen Gebilden hinfällig
und die Unterscheidung zwischen den beiden gegenstandslos gemacht
hat. Der Apparat eines Betriebes, der, um zu funktionieren, die Lei­
stung jeder Arbeitsgruppe auf die der anderen abstimmen muß, und
der zahllose physische Apparate - vom Telephon bis zur Hollerithma­
schine - als eigene Apparatteile in sich enthält, ist in einem genau so
wörtlichen Sinne „Apparat“ wie jenes physisch-technische Ding, das
gewöhnlich diesen Namen trägt; nein, er ist das, da das Ideal des
Apparates um so vollständiger verwirklicht ist, je mehr Energien und
Leistungen ein Gebilde in sich vereinigt, sogar in höherem Grade. In
der Tat bleiben die einzelnen „wörtlichen“ Apparate solange unfähig,
sinnvoll zu funktionieren, als sie nicht in einem solchen als „Apparat“
klappenden Ganzen zusammengeordnet sind. Dann fehlt ihnen Roh­
stoff sowohl wie Arbeitsanlaß wie Absatz. Das, was heute „B e­
triebslehre“ heißt, ist seiner Tendenz nach nichts anderes als der
Versuch, die zwei Apparattypen in einem einzigen Lehrgebiet zusam­
menzufassen. Jedenfalls ist das Klappen der Makro-Apparate die Be­
dingung des Klappens der Mikro-Apparate, die, aus der Perspektive
der Makro-Apparate gesehen, in die Rolle bloßer Apparatteile
absinken. Genau so aber muß auch wieder jeder Makro-Apparat, so­
fern er laufen und klappen will, auf andere, letztlich sogar auf alle
anderen Makro-Apparate abgestimmt sein. Damit ist aber, wie phanta­
stisch diese Folgerung auch klingen mag, gesagt, daß die Apparate
grundsätzlich auf einen „Idealzustand" lossteuern, auf einen Zustand,
in dem nur noch ein einziger und lückenloser, also der Apparat exi­
stiert: derjenige Apparat, der alle Apparate in sich „aufhebt“ , derjenige
Apparat, in dem „alles klappt“ .
Damit haben wir einen der Schlüsselbegriffe unserer Überlegung
erreicht. Denn die heutige Apparatewelt ist in der Tat nur ex futuro,
nur von dieser ihr innewohnenden Zielidee her durchschaubar. Diesen
Zielzustand müssen wir uns daher zu verdeutlichen suchen; minde­
stens die Tendenz auf diesen Zustand.

§2

D ie Gleichung „Apparat = Welt“

Wenn - denn darin bestünde dieser Zustand - alle Apparate zu


einem einzigen zusammengewachsen wären, dann würde die Aussage
„alles klappt“ nicht mehr nur, wie bisher, besagen, daß innerhalb eines
isolierten Apparates kein Fehler mehr auftauche, sondern daß es für
den Apparat ein „Außerhalb“ überhaupt nicht mehr gäbe (so wenig
wie es ein „Außerhalb“ für philosophische Systeme gegeben hatte):
daß es ihm gelungen sei, sich nun alles einzuverleiben, alle nur denkba­
ren Funktionen in sich zusammenzuschließen, allen existierenden Din­
gen ihre Funktion zuzuerteilen, alle in ihn hineingeborenen Menschen
als seine Funktionäre in sich zu integrieren - kurz: der Satz „alles
klappt“ würde dann auf die Gleichung „Apparate = Welt“ hinauslau-
fen. Zwar ist das heute noch nicht der Fall, heute sind die Apparate erst
auf dem Wege zu dieser Gleichung, aber obwohl noch unterwegs,
betrachten sie sich doch auch heute schon als „Kandidaten“ , als Teile
des im Werden befindlichen „Universalapparates“ .
Und nicht nur sich selbst sehen sie so, sondern auch einander; und
nicht nur einander, sondern überhaupt jedes existierende Ding. Wenn
man eine „Ontologie der Apparate“ entwürfe, also fragte, wie Appara­
ten Seiendes begegne, bzw. was diesen als „seiend“ gelte, dann würde
die erste grundsätzliche Antwort lauten: Jedes Ding begegnet ihnen als
prospektiver Apparatteil. Oder richtiger: N ur dasjenige, was Eignung
zum Apparatteil verrät, w ird als „seiend“ registriert und anerkannt.
§j
Ontologie des Raubes

Daß sie Rohstoffe, Energien, Dinge, Menschen als „sie selbst“ an­
sprächen, das kommt gar nicht vor; lediglich daß sie diese beanspru­
chen. Selbst der allgemeinsten Redensart, daß es „Dinge gebe“ , korre­
spondiert in ihrer Ontologie nichts mehr; „geben“ , „Gegebenheiten“ ,
„data“ , bleiben ihnen unbekannt. Was nicht als „zu Nehmendes“ , als
Beute auftaucht, klassifizieren sie nicht als „seiend“ ; die Wörter „sei­
end“ und „nehmbar“ sind aus ihrer Perspektive austauschbar: „esse =
capi“ . „ Welt“ ist mithin der Titel fü r ein virtuelles Besatzungsgebiet;
Energien, Dinge, Menschen sind ausschließlich mögliche Requisitions­
materialien. Als im strengen Sinne „da“ gelten ihnen diese Materialien
erst von dem Augenblicke an, in dem sie unterjocht und integriert, also
zum Mitfunktionieren gezwungen sind. Ob die Apparate ihre Beute
als Rohstoff, Maschinenteile im engeren Sinne oder als Konsumenten
verwenden, spielt keine Rolle; denn auch Rohstoff und Konsument
gehören in den maschinellen Vorgang. Im strengen Sinne sind auch sie
„Maschinenteile“ .
Was gewisse vulgär-mechanistische Welttheorien des vorigen Jahr­
hunderts als Schilderung des faktischen Zustandes des Universums
unterstellt hatten: daß dieses nämlich ein maschinenartig arbeitendes
Ganzes sei, das hat die Technik nun also zu ihrem Ziele gemacht; für
sie soll das Universum zur Maschine werden. Der ehemals freundlich
leuchtende, nun in eine Fernseh-Relaisstation transformierte Mond
kann uns in Vertretung zahlloser anderer, nicht minder beweiskräfti­
ger Weltstücke als Signallicht für dieses sich in eine Maschine verwan­
delnde Universum dienen.

Das Reich der Glückseligkeit

Entsprechend ist die „ l’homme machine“ -Theorie des französischen


Philosophen Lamettrie - also seine These, daß wir Menschen Maschi­
nen glichen - nun in das Postulat umgeschlagen, daß wir Menschen
uns maschinengleich zu machen, uns in Maschinen bzw. Maschinen­
teile größerer Maschinen, schließlich der Maschine, zu verwandeln
haben. Auf diesen Endzustand, in dem es Einzelmaschinen deshalb
nicht mehr geben wird, weil diese dann alle als Maschinenteile in den
Schoß der einen allein seligmachenden Maschine eingegangen sein
werden, sind alle Maschinen von vornherein angelegt. Von diesem
gerät-eschatologischen Reiche der Glückseligkeit haben sie seit jeher
geträumt, und von ihm träumen sie auch heute noch, weil sie, solange
sie noch unter dem Fluche stehen, individuell, jedenfalls noch nicht in
restloser Koordination und Abgestimmtheit, arbeiten müssen, ihr L ei­
stungsoptimum, und damit ihre Bestimmung, noch nicht erreicht ha­
ben. Sie beharren also noch unselig im Stande der „technischen
Sünde". Spinozas pantheistische Formel „individuatio sive negatio“
(abgetrennt sein heißt: auf unvollkommene Art sein) ist ihr Unglücks­
Credo. Oder weniger metaphysisch ausgedrückt: Da sie von Natur aus
expansionistisch und integralistisch sind, also darauf brennen, keine
Leistung unbesetzt zu lassen, nein, geradezu außerstande sind, Funk­
tionen, die sie durchführen könnten, nicht zu übernehmen, haben sie
ihr Ziel so lange nicht erreicht, als noch irgendwelche Reste übrigblei­
ben: „exzentrische“ Dinge oder Menschen, die noch an der Maschine
„ vorbei-existieren"; illoyale Außenseiter-Energien oder Leistungen,
die es noch fertigbringen, sich dem dirigistischen Zugriff zu entziehen;
vacua, denen es weiter gelingt, der Ausfüllung Widerstand zu leisten;
Abfälle, die sich noch weigern, von neuem als Rohmaterialien oder als
Kraftquellen ihr Letztes herzugeben. Jedes winzigste noch unokku-
pierte Klümpchen Welt ist in ihren Augen Anlaß zur Qual, jeder noch
so sternenweit entfernte Flecken des Universums eine versäumte Gele­
genheit, nein, eine versäumte Aufgabe, eine versäumte Pflicht und
damit ein Schandfleck. Der Seligkeit werden sie erst in demjenigen
Augenblicke teilhaftig sein, in dem sie spüren, daß das „hen kai pan“
Wirklichkeit geworden, daß der „deus sive machina" in seiner Glorie
erstanden, also die Maschine in Gang gekommen ist; und daß auch sie
nun, zu deren Kolben, Schraube oder Heizstoff entwürdigt, restlos
integriert und reibungslos in ihr mitfunktionieren.
Totalitäre Herrschaft

Die katastrophische Gefährlichkeit einer solchen Universalmaschine


liegt auf der Hand. Würde nämlich - was bei der Degradierung aller
Apparate zu Apparatteilen der Fall wäre - die totale Interdependenz
zwischen allen ihren Teilen Wirklichkeit werden, dann würde jedes
Versagen eines Teiles automatisch den ganzen Apparat in Mitleiden­
schaft ziehen, also still legen. Offenbar liegt es also im Interesse der
„totalen Maschine“ selbst, nicht „total total“ zu werden, sondern eine
dosierende Unabhängigkeit ihrer Teile aufrechtzuerhalten, d. h. sich
selbst eine relative Unabhängigkeit von ihren Teilen zu sichern. Ihre
totalitäre Maxime den Teilen gegenüber lautet: ,,Ich brauche dich
ganz, aber im Notfall brauche ich dich nicht.“ Dieser in die „Soziolo­
gie der Dinge“ gehörigen „Dialektik“ können wir hier nicht weiter
nachgehen.
Vor einem Menschenalter hatte es einen Refrain gegeben - die SA
hatte ihn durch die Straßen Deutschlands getragen - der lautete: ,,. ..
und morgen die ganze Welt“ . Diese klirrende Hymne auf die totale
Herrschaft mag zwar heute nicht mehr zu vernehmen sein. Aber wenn
wir die der gegenwärtigen Welt angemessenen Ohren hätten, dann
würden wir diese Worte heute genau so hören wie damals: nämlich aus
dem Lärm der Maschinen, sogar aus deren heute oft stummen Ge­
schäftigkeit. Denn entsprungen war dieser Refrain der Werkstatt der
Technik; der Technik, deren Herrschaft heute genau so unbestritten ist
wie damals, wenn nicht sogar noch unbestrittener als damals; und dort
war er, noch lange ehe es auch nur das Wort „Nationalsozialismus“
gegeben hatte, bereits gedichtet worden. Wie entsetzlich das auch klin­
gen mag: aber was die SA getan hat, das lief auf nichts anderes heraus,
als den Refrain vonden stählernen Lippen der Maschinen zu pflücken;
um dann, benommen von dessen Gift, als Maschinenteile in die Groß­
maschine des totalen Staates dröhnend einzumarschieren.
§6

Monokratischer Endzustand

Wenn es eine „Soziologie der D inge“ gäbe, dann würde deren


Axiom lauten: „E s gibt keine Einzelapparate“ . Vielmehr ist jedes ein
„zoon politikon“ ; und außerhalb seiner „Gesellschaft“ , als bloßes R o ­
binson-Ding, bliebe jedes untauglich. Das Wort „Gesellschaft“ be­
zeichnet dabei aber nicht etwa nur seinesgleichen, nicht nur die Millio­
nen von gleichzeitig funktionierenden Geräten oder deren Summe,
sondern ein dem Apparat morphologisch entgegenkommendes Korre­
lat, eine ihn einbettende, nährende, reinigende, aus Rohstoffen, Produ­
zenten, Konsumenten, Geschwisterapparaten, Abfallkanalisationen
bestehende Behausung - kurz: eine Umwelt. Und da das perfekte
Funktonieren des individuellen Apparates allein dann gewährleistet
wäre, wenn dessen „Um welt“ ebenso tadellos funktionieren würde
wie er selbst, ist diese „U m w elt“ selbst als Apparat vorgestellt. Heißt
„Apparat a“ ein (wie wir wissen imaginäres) physisches Robinsonge­
rät, „W elt“ derjenige Betrieb, aus dem Apparat a schöpft, in dem er
funktioniert und in den er hineinarbeitet, dann gilt: Apparat a wünscht
sich, um sein Optimum zu leisten, eine Welt, die selbst Apparat ist,
also einen Großapparat A, der ihm, wie nach Maß gearbeitet oder wie
ein Abguß, „sitzt“ , also seine strukturelle und funktionelle Ergänzung
und Erweiterung darstellt. Das ist freilich leichter gewünscht als getan,
nein, dieser Wunsch nach einem ideal sitzenden Großapparat muß
sogar grundsätzlich unerfüllbar bleiben: denn Einzelapparate (a bis oo),
die ein Monopol darauf beanspruchen könnten, die Welt, in der sie
funktionieren, als Abguß ihrem eigenen Bilde nachzuformen, gibt es
so wenig wie einzelne menschliche Individuen, die sich die Welt als
ganze nach Maß zurechtschneidern können. Vielmehr muß sich jeder
Apparat damit bescheiden, diese Welt mit zahllosen seinesgleichen (a
bis oo) zu teilen. Wirklich perfekt kann daher die Koordination des
Klein- und Großapparates allein dann gelingen, wenn sich alle Klein­
apparate in Selbstverleugnung zur „ Volksgemeinschaft der Apparate“
zusammenschließen; d.h. wenn sie sich für den Sieg eines einzigen
Großapparates einsetzen, für die Herrschaft eines monokratischen Zu­
standes, in dem sich dann jeder zum bloßen Apparatteil erniedrigen
müßte, durch diese Erniedrigung aber die Perfektion seines Funktio­
nieren erkaufen würde. Gewonnen ist dieser Kampf um die „V olks­
gemeinschaft“ zwar noch nicht, aber in Gang ist er schon seit langem
(letztlich wohl schon seit dem ersten Apparat), und scheitern kann er
wohl nicht mehr.
D IE A N T IQ U IE R T H E IT
D E R M A S C H IN E N
II

1 969

Maschinenexpansion

Vor kurzer Zeit hat sich in den Vereinigten Staaten etwas ereignet,
was nicht nur im alltäglichen Sensations- und Kolportagesinn unalltäg­
lich gewesen ist, sondern was für alle diejenigen, die sich philosophisch
mit den Problemen der Technik auseinanderzusetzen versuchen, na­
mentlich mit denjenigen der Planung und Zentralisierung, von äußer­
ster Wichtigkeit gewesen ist. Ich meine jenen Zusammenbruch des
Kraftwerkenetzes im Nordosten der Vereinigten Staaten und im Süd­
ost-Zipfel von Kanada, der so etwas wie eine viele Stunden währende
Paralysierung eines von Millionen besiedelten Gebietes zur Folge ge­
habt hat. Was wir aus diesem Ereignis zu lernen haben, können wir
nur erkennen, wenn wir ein paar Vorüberlegungen anstellen, und zwar
über das Wesen von Technik überhaupt, genauer: von Maschinen
und Apparaten überhaupt. Auf das Wort „überhaupt“ lege ich deshalb
Wert, weil es sich dabei um Überlegungen grundsätzlicher Natur han­
delt. Das heißt um solche, die unabhängig von der Aufspaltung unserer
heutigen Welt in zwei verschiedene Wirtschafts- bzw. Gesellschafts­
systeme bleiben, deren Ergebnisse also entweder hier und dort gelten,
oder weder hier noch dort. - Meine Überlegungen werde ich in zehn
Thesen zusammenfassen.

Erste These: Maschinen expandieren. - Jeder einzelnen Maschine ist


(wenn man Nietzsches Ausdruck hier metaphorisch verwenden darf)
„Wille zur Macht“ eingeboren. Diesem Willen nicht zu unterstehen,
das steht in der Macht keiner Maschine. Jede ist, ob sie will oder nicht,
darauf aus, größer zu werden als sie selbst, denn jede drängt auf einen
Zustand hin, in dem die für ihre Leistung und für den Fortbestand
ihrer Leistung unentbehrlichen externen Vorgänge (wie Maschinen­
wartung, Material-Einlauf, Energie-Zufuhr, Produkt-Entnahme, E r­
zeugung der Nachfrage, Tempo des Verbrauches etc.) durchweg mit
selbst maschineller Zuverlässigkeit ablaufen; was zugleich bedeutet,
daß diese externen Prozesse zusammen mit ihren eigenen ein einziges
großes Funktionsganzes bilden sollen.

Zweite These: Der Expansionsdrang der Maschinen ist unersättlich.


- Unterstellen wir eine Maschine (M 1), der es gelungen ist, ihre „U m ­
welt“ (also die ihr nächstliegenden, für ihr eigenes Funktionieren un­
entbehrlichen Vorgänge) an ihre eigenen Funktionen anzuschließen
und mit diesen gleichzuschalten, so daß nun alle diese Vorgänge zu­
sammen einen einzigen Funktionskomplex höherer Ordnung, also
eine Großmaschine M II, darstellen. Was tritt im Augenblick dieser
Fusion ein? Antwort: eine Wiederholung. Jene Expansionstendenz,
durch die sich die Maschine M I in Maschine M II verwandelt hatte,
bricht nun nämlich auf höherer Ebene, bzw. in größerem Maßstabe,
von neuem aus. Auch Maschine M II drängt nun darauf - und nicht
darauf zu drängen, steht nicht in ihrer Macht - diejenigen Vorgänge,
die Voraussetzungen ihres eigenen Funktionierens sind, zu erobern,
damit diese ebenso präzise, ebenso kalkulabel und ebenso maschinell
ablaufen wie sie selber - kurz: die Maschine M II erweitert sich nun
ihrerseits und wird zu einer größeren Maschine M III. Überflüssig zu
betonen, daß diese Expansion nun auch auf einer dritten Stufe eintritt,
und dann auf einer vierten usf., daß also der „Iteration“ dieses Vorgan­
ges im Prinzip keine Grenze gesetzt ist.

Dritte These: D ie Zahl der existierenden Maschinen nimmt ab. -


Natürlich wäre diese Behauptung, wenn isoliert aufgestellt, unsinnig,
jede ihren Waschautomaten kaufende Hausfrau, jeder sein Moped ab­
stotternde Twen weiß ja, daß die Zahl dieser Objekte von Tag zu Tag
ansteigt, diese Zunahme geht ja sogar so rapide vor sich, daß man von
einer (der „Bevölkerungsexplosion“ analogen) „ Geräteexplosion”
sprechen dürfte. Aber als Einzelbehauptung formulieren wir unsere
These ja nicht, sondern im Zusammenhang mit unserer Expansions­
theorie. Und in diesem Zusammenhange ist sie deshalb nicht unsinnig,
weil, was von der Einzelmaschine M I (die wir als unser erstes Modell
eingeführt hatten) gilt: daß sie die Stadien II, III, IV etc. durchmache,
von jeder anderen Maschine natürlich ganz genau so gilt. In anderen
Worten: jede dieser Maschinen muß, um optimal zu arbeiten, entwe­
der versuchen, ihre Umgebung zu erobern, diese dazu zu veranlassen,
sich mit ihr gleichzuschalten und mit ihr eine einzige Großmaschine zu
bilden, oder sie muß sich - und das geschieht in 99 von 100 Fällen - in
eine andere, größere Maschine einschalten. Auszugehen haben wir
demnach nicht, wie wir es undialektisch erst einmal getan hatten, von
einer Einzelmaschine, sondern von dem Maschinenpark der auch
heute bereits schon zusammenarbeitenden (wenn auch noch nicht zur
Totalmaschine zusammengewachsenen) Maschinen. Wenn jede als
Vorbereitung ihrer Weiterexistenz und ihrer Funktionsverbesserung
Kameraderie und Promiskuität mit den anderen (letztlich mit allen
anderen) Maschinen ausgebildet hat, dann ist es offensichtlich sinnlos
geworden, aus der Perspektive einer Einzelmaschine M I eine Einzel­
maschine M II als eine „andere Maschine“ zu betrachten. Dann läßt es
sich nicht mehr entscheiden, wo die eine Maschine aufhört und die
andere anfängt. Vielmehr darf man dann, nein, muß man dann, statt
von zwei Maschinen, von einer Maschine sprechen, und das bedeutet
eben - quod erat demonstrandum - eine „Verringerung der Zahl der
Maschinen“ .

Vierte These: Maschinen „kommen herunter“ . - Das letzte Stadium


des aus dem Maschinenprinzip sich ergebenden dialektischen Prozes­
ses ist mit der Verringerung der Anzahl der Maschinen noch nicht
erreicht. Was vor sich geht, erschöpft sich nicht im Numerischen.
Vielmehr tritt ein wirklich qualitativ-dialektischer Umschlag ein.
Durch die Tatsache ihrer Verzahnung verändern sich nämlich die Ma­
schinen, man darf sogar sagen: Sie verwandeln sich in etwas Anderes.
In etwas Minderes.
Was kann damit gemeint sein? Natürlich nicht, daß sie weniger
taugen als gestrige Maschinen oder daß sie sich von Tag zu Tag ver­
schlechtern - umgekehrt gilt, daß sie sich (soferne ihre Obsoleszenz
nicht eingeplant ist) fortschreitend verbessern. - Ebensowenig ist ge­
meint, daß das Sozialprestige von Maschinen (oder Maschineneigentü­
mern) abnehme - was zwar zuweilen der Fall sein mag (ein Auto zu
besitzen, bedeutet nichts mehr), nicht aber im allgemeinen. Was ge­
meint ist, ist vielmehr, daß die Maschinen ipso facto ihrer Verzahntheit
und Zusammenarbeit aufhören, Maschinen zu sein, daß sie „ontolo­
gisch absinken“ , nämlich zu Geräteteilen werden, zu Teilen von
Großmaschinen; also deshalb geringer werden, weil die Dignität von
Teilen stets geringer ist als die des Ganzen, dem sie zugehören. Was
von uns Menschen gilt: daß wir, wenn wir zu bloßen „Rädchen im
Getriebe“ gemacht werden, unsere Persönlichkeit verlieren, das gilt,
wie befremdlich das auch klingen mag, im Reiche der Dinge ebenfalls.
Der Verdinglichung des Menschen, die heute ja allgemein zugegeben
wird (aus perversen Modegründen sogar von denjenigen, die unsere
Verdinglichung mitproduzieren oder mitfördern), dieser Verdingli­
chung entspricht eine „ Verdinglichung der D inge“ . Das heißt: die Zahl
von Maschinen, die wirklich noch Maschinen sind, und nicht nur Räd­
chen in einer Maschine, wird von Tag zu Tag kleiner; mindestens steigt
diese Gefahr der „Autonomie-Einbuße“ von Tag zu Tag an. Im Ver­
gleich mit dem, was heutige Maschinen sind, sind die Maschinen des
vorigen Jahrhunderts noch einsame und souveräne Individuen, um
nicht zu sagen: stolze „Pionierpersönlichkeiten“ , gewesen.

Fünfte These: Die Maschinen werden zu einer einzigen Maschine. -


Diese Verdinglichung findet nicht nur gelegentlich und nicht nur auf
einer einzigen Ebene statt. Das Prinzip der „Iteration“ , dem wir ja
vorhin schon begegnet sind, gilt im ganzen Maschinenreiche. Damit ist
gesagt: Wenn Einzelmaschinen „herunterkommen“ , nämlich zu Tei­
len von Großmaschinen geworden sind, dann geschieht das Gleiche
auch mit diesen Großmaschinen, dann fangen auch diese an, „herun­
terzukommen“ , dann werden auch diese zu bloßen Maschinenteilen,
zu Teilen von wiederum größeren Komplexen usf. Ein Ende dieser
Wiederholung ist nicht abzusehen, es sei denn, es trete vorher ein ganz
anderes „Ende“ ein, nämlich das atomar-apokalyptische Ende der
Welt, das die Möglichkeit von Wiederholungen überhaupt auslöscht.
Oder es werde eines Tages das Stadium erreicht, in dem alle Maschinen
als Teile in einer einzigen, mit dem gesamten globalen Produktions­
system identischen Maschinerie selig aufgehoben wären und als deren
Teile mitfunktionieren würden. Wäre diese Situation, auf die die zahl­
losen Maschinen von heute ausnahmslos abzielen, verwirklicht, dann
würde das natürlich nicht bedeuten, daß es weniger Maschinelles gäbe
als heute. Umgekehrt würde dann nichts mehr existieren, was nicht­
maschinell wäre. Aber es würde bedeuten, daß dann, abgesehen von
dem einen totalen maschinellen Dinge, dem sie alle zugehören würden,
kein Objekt mehr existieren würde, das noch den Anspruch darauf
machen dürfte, sich als individuelle Maschine bezeichnen zu lassen. Es
gibt heute kein Gerät, das nicht diesem totalitären' Endzustande ent­
gegenträumte, in dem es selbst nur noch als Gerätteil eines Gerätteiles
eines Gerätteiles eines Gerätteiles Bestand haben und funktionieren
würde. Mindestens muß jede Maschine, wenn sie überleben will, dazu
bereit sein, mit diesem Zustand totaler Degradierung vorlieb zuneh­
men. Was wir für übermorgen zu erwarten haben, ist also nicht nur
(wie wir es im Stadium der vierten These geglaubt hatten) eine Vermin­
derung der Zahl der Maschinen, sondern geradezu die Abschaffung
des Plurals „Maschinen“ .

D er Netzkollaps

Und nun kommen wir auf das anfangs genannte Ereignis in den
Vereinigten Staaten zurück. Dort hat sich also etwas sehr Merkwürdi­
ges zugetragen, das den Trend, den wir eben geschildert haben: den
aus dem Wesen der Maschine selbst entspringenden und in Richtung
„Totalmaschine“ sich entwickelnden Prozeß der Expansion, in einem
unerwartet neuen Lichte erscheinen läßt. Und das wohl jeden denken­
den Menschen, also jeden Nichtdoktrinären, dazu veranlassen muß,
sich dem Problem der „Dialektik der Maschine“ von neuem zu stellen.
Was ist geschehen? Irgendwo im Winkel eines Gerätteiles eines Ge­
rätteiles eines Gerätteiles des gigantischen und vielschichtigen Netzes,
zu dem die Geräte zusammengewachsen waren - in irgendeinem win­
zigen Winkel hatte es, denn Irren ist nicht nur menschlich, eine win­
zige Panne gegeben.3 Nein, keine winzige; denn was heißt „w inzig“
bei solchen Konsequenzen? Durch diese Panne bewiesen nun Tau­
sende von Maschinen, daß sie keine Maschinen mehr waren, sondern,
wie wir es in unserer These 3 formuliert hatten, nur noch Maschinen­
teile. Was sich positiv als Kollaboration zahlloser Maschinenteile in
Form eines „Netzes“ verwirklichte, bedeutete zugleich negativ, daß
jeder Maschinenteil von jedem anderen, also auch von der Fehlleistung
jedes anderen Maschinenteils, abhing. Plötzlich erlitt, weil in einem
einzigen Teil eine Panne eingetreten war, das ganze Netz ein Panne;
plötzlich zeigte es sich, daß der den Maschinen „eingeborene“ Expan­
sionsdrang, das Zusammenwachsen der Einzelmaschinen zu Maschi­
nenkomplexen, zugleich auch eine Steigerung der Bedrohung jeder
einzelnen Maschine, richtiger: jedes einzelnen Maschinenteils, zur
Folge hatte.

Sechste These: J e größer die Großmaschine, um so ernster sind ihre


Teile gefährdet, die, ehe sie zusammengeschlossen wurden, als Einzel­
stücke funktioniert hatten. Auf Grund der in irgendeinem Nebenwin­
kel des Netzes stattfindenden Panne - ich beschränke mich hier, ob­
wohl das Areal des Versagens sehr viel breiter war, auf die Schilderung
von N ew York - saßen nun plötzlich Hunderttausende von Menschen
in den Subway-Katakomben fest, in den IR T und BM T Cars, in Wag­
gons, die nun dastanden wie Steine oder wie Tische, und die niemals
davon gehört zu haben schienen, daß sie noch bis eben als mobile
Objekte gegolten und sich als solche auch bewährt hatten. Andere
Zeitgenossen, ebenfalls Tausende, hingen, während die Straßen­
schluchten unten sich ungewohnt verschatteten, in paralysierten Fahr­
stühlen zwischen dem ioo. Stockwerk und dem Asphalt, Alpinisten
gleich, die sich zwischen Himmel und Erde damit abfinden mußten,
auf jenem Gesims in halber Höhe, auf das sie sich verstiegen hatten,
nun weiter auszuharren. Millionen Liter Milch in angeblichen Kühl­
schränken wurden, gleich ob es Babys gab oder nicht - denn die Gül­
tigkeit der Physik hat den Vorrang - sauer. Operationssäle versanken
im Dunkel, ohne Rücksicht darauf, ob da gerade ein Herzstich vernäht
werden sollte oder nur eine Fingerwunde. Rechenapparate weigerten
sich, gleich ob es sich um Grocery Pennies oder um Millionen han­
delte, Tageseinnahmen zu addieren. Filme erstarben auf ihren Screens,
selbst die Bilder von Leichen erstarben. Und hätte gerade einer, ein
zum Tode Verurteilter, auf einem elektrischen Stuhle gesessen, er hätte
- es ist gar nicht auszudenken - stundenlang thronen können als Pan­
nengewinnler und schauriger Triumphator dieser gespenstischen
Nacht. K u rz : Der ungeheure, elektrisch zusammengeschlossene Kom ­
plex der Riesenstadt schien plötzlich nichts anderes mehr als ein gigan­
tisches Gebirge von Millionen Pop-Art-ähnlicher, völlig bewandtnis­
loser und nur „for the hell of it“ erzeugter Imitationen von Gebäuden,
Maschinen und Einrichtungen. Plötzlich stellte es sich heraus, oder
(denn gewußt hatte man das natürlich) plötzlich wurde es jedermann
aufs schrecklichste klar, daß es keinen Apparat mehr als individuellen
Apparat, keine Maschine mehr als individuelle Maschine gab. Die als
avantgardistisch und sinnlos verhöhnte Formel der Gertrude Stein „ A
rose is a rose is a rose“ - nahm hier plötzlich Sinn an, weil sich nämlich
herausstellte, daß sie nicht mehr galt, daß Kühlschränke keine Kühl­
schränke mehr waren, Untergrundbahnen keine Untergrundbahnen,
Glühbirnen keine Glühbirnen mehr. Nichts mehr war es selber, weil
jedes Stück so ausschließlich zum Ableger der Zentrale geworden war,
daß jedes, wenn die Zentrale ausfiel, seinen Sinn mitverlieren mußte.
Oder - und diese Formulierung ist nicht minder rechtmäßig - weil
jeder „Ableger“ , da ' nicht nur er von allen anderen abhing, sondern
auch alle anderen von ihm abhingen, zur Zentrale des Netzes gewor­
den war. Gleichviel, plötzlich wurde es für jedermann deutlich, daß
der Hoffnungstraum der Maschinen, einmal zu einer einzigen Total­
maschine zusammenzuwachsen, uns nicht nur mit Hoffnung erfüllen
darf, sondern auch mit Schrecken erfüllen muß.
In anderen Worten: Als das Kraftwerknetz zusammenbrach, hat
sich gezeigt, daß der Prozeß der Expansion, da er, und zwar in ständig
steigendem Maße, die Gefahr eines Stillstandes oder einer Peripetie in
sich birgt, nicht einfach gleichmäßig und gleichartig, gewissermaßen in
immer weiter sich ausbreitenden konzentrischen Kreisen, fortschreiten
darf. Proportional mit dem Anwachsen der Maschine zur Großma­
schine, mit dem Anwachsen der Großmaschine zum Großmaschinen­
Komplex und mit dem Anwachsen des Großmaschinenkomplexes zu
einem ganzen N etz von Komplexen - proportional damit wächst auch
die Gefahr des Versagens, sogar die der Katastrophe. Solange eine
Maschine vergleichsweise isoliert arbeitet, ist die Wahrscheinlichkeit,
daß sie von den Defekten anderer Maschinen infiziert wird (oder daß
sie andere Maschinen mit ihren Defekten infiziert), viel geringer als
dann, wenn sie mit den anderen verzahnt ist. Das Versagen eines einsa­
men Gerätes bleibt relativ folgenlos. Hängt aber vom Funktionieren
eines Geräteteils I das Funktionieren eines größeren Geräteteils II ab
und von dessen Funktionieren das des wiederum größeren Geräteteils
III usf., dann steigt auch die Gefahr, die jedes einzelne Stück, als
möglicherweise einmal versagendes, in sich birgt. So unbestreitbar es
sein mag, daß der Geräteteil I vom Ganzen: von der Größt- oder
Totalmaschine, in die er integriert ist, abhängt; ebenso unbestreitbar
ist es, daß das Ganze von ihm, dem Geräteteil, abhängt, daß die jedem
kleinsten Stücke innewohnende Chance der Sabotage um so größer
wird, je größer das Ganze ist, dessen Teil er ist.
So ergibt sich die siebente These: Trotz der Integration der Teile
zum Ganzen muß sich sowohl der Teil vor dem Ganzen wie das Ganze
vor den Teilen schützen - der Teil vor dem Versagen des Ganzen, das
Ganze vor dem Versagen der Teile.

Die eiserne Ration

Die elektrischen Züge liefen nicht. Wohl aber die Autos. Was be­
deutet das?
Offensichtlich, daß die Maschinen um so verläßlicher waren, je
deutlicher sie noch als „Individuen“ funktionierten, je weniger sie auf
kontinuierlichen Anschluß an andere Maschinen angewiesen waren.
Ich sage aber: „auf kontinuierlichen Anschluß“ , weil selbstverständ­
lich auch die Autos keine unabhängigen Apparate, vielmehr auf das
Tanken angewiesen sind, weil sie also ihre „Selbständigkeit“ der Ma­
schinerie der Gasolinversorgung verdanken und nur vorübergehend,
zwischen Tanken und Tanken, „selbständig“ sind. Das ist freilich
nicht nichts, denn der Zusammenbruch der Tankstellen (etwa durch
Streik) hätte ja nicht den unmittelbaren Funktionszusammenbruch der
Einzelmaschinen zur Folge, diese Maschinen können ja den Tankstreik
unter Umständen, wenn dieser nämlich nur kurz währte, überdauern.
In anderen Worten: Während die Eisen- und Untergrundbahnen
gelähmt herumstanden und darauf warteten, wieder zu Maschinen­
stücken und dadurch auch wieder funktionstüchtig zu werden, liefen
die ihre eigenen Kraftreserven mindestens für eine kurze Zeit selbst
mit sich tragenden Autobusse und Personenwagen weiter, so als wäre
nichts geschehen. Wie gesagt, damit ist keineswegs gemeint, daß es
zwei grundsätzlich voneinander verschiedene Typen von Apparaten
gebe. Nicht, daß die einen nur als Apparatteile eines ungeheuren Zen­
tralapparates arbeiten, während die a.nderen, z.B . die Autos, autarke
Wesen und ausschließlich auf sich selbst angewiesen wären, also derar­
tigen Katastrophen wie dem Zusammenbruch des Kraftwerkenetzes
sorgenlos entgegensehen könnten. So einfach ist die Sache nicht. Ohne
ein Netz der Zulieferung, das seinerseits wiederum abhängt von Im­
porten, die ihrerseits wiederum abhängen von Ölgewinnungen, die
ihrerseits wiederum abhängen von politischen Machtkonstellationen -
ohne all das wäre natürlich kein einziges Auto an jenem dunklen
Abend in der Lage gewesen, „aus eigener Kraft“ und autark weiter zu
laufen, während die elektrischen Züge zum Stillstand verurteilt waren.
Aber eine Einsicht ist aus diesem Unterschied doch zu gewinnen:
Achte These: D er Großapparat, an den die individuellen Apparate so
angeschlossen sind, daß sie nur noch die Rolle von Geräteteilen spielen,
hat, so lange er funktioniert, jedem dieser Apparatteile eine eiserne
Ration mitzugeben, eine Uberbrückungsration, die so lange vorzuhal­
ten hätte, als er, der Großapparat, ausfällt. - Oder anders: Die Zen­
trale hat für die mögliche Notsituation der Dezentralisiertheit, in die
sie geraten kann, Vorsorge zu treffen: sie hat stets so zu funktionieren,
daß sie sich, mindestens vorübergehend, überflüssig macht.

So wenig daran gezweifelt werden kann, daß die (in der Energiewirt­
schaft wohl am weitesten vorgeschrittene) Interkonnektion aller Anla­
gen und Apparate ungeheure Vorteile mit sich bringt, so wenig kann
daran gezweifelt werden, daß mit der Größe der Großmaschine auch
die Größe der Gefahr wächst. Je größer der Komplex, desto größer die
Katastrophe, wenn der Komplex versagt. Nicht nur gilt, daß die in
Großnetze integrierten Betriebe durch diese gefährdet werden können,
umgekehrt stellen die Großbetriebe ein solches Risiko dar, daß die
etwas kleineren sich vielleicht als praktischer erweisen könnten. Jen­
seits einer bestimmten, in jedem speziellen Falle abzuwägenden, Maxi­
malgröße könnten Apparatkomplexe unwirtschaftlich, weil zu riskant
werden.
Neunte These: Eine der Hauptaufgaben aller Planungen (und das
heißt ja: der Zentralisierung von tausend Aktivitäten und Apparaten,
ihrer Ausrichtung auf ein einziges Ziel hin) wird künftig in der Dosie­
rung der Größe von Großmaschinen bestehen. Durchaus möglich, daß
nicht nur nicht der kleinste, sondern auch der größte Apparat nicht der
beste ist.

Dialektik der Technik

In den vorstehenden Seiten haben wir aus der Dialektik der Ma­
schine Folgerungen gezogen, und zwar solche, die - darüber mache ich
mir keine Illusionen - mißdeutet werden könnten. Mißdeutet nicht
nur als reaktionäre Polemik gegen Planwirtschaft, sondern sogar als
Polemik gegen Technik als solche, also als Appell zur „Maschinenstür­
merei“ . Tatsächlich ist dieser Ausdruck zuweilen in Besprechungen
von Arbeiten von mir gefallen, und zwar sowohl in Angriffen, die von
kapitalistischer, wie in solchen, die von kommunistischer Seite her
kamen. Dazu möchte ich zwei Bemerkungen machen.
1. Es genügt nicht zu beteuern, man solle die Technik für gute statt
für böse Zwecke, für aufbauende statt für destruktive Aufgaben benut­
zen. Dieses Argument, das man aus den Mündern vieler hommes de
bonne volonte bis zum Überdruß hört, ist indiskutabel kurzsichtig.
Was heute gefragt werden muß, ist, ob wir so frei über Technik verfü­
gen. Diese Verfügungsgewalt darf man nicht einfach unterstellen. In
anderen Worten: Es ist durchaus denkbar, daß die Gefahr, die uns
droht, nicht in der schlechten Verwendung von Technik besteht, son­
dern im Wesen der Technik als solcher angelegt ist.
2. Reaktionär sind diejenigen, gleich ob hüben oder drüben, die
Angst davor haben, als Maschinenstürmer verspottet zu werden. Der
Glaube, daß es Provinzen gebe, die von Selbstwiderspruch und Dia­
lektik frei wären, und daß ausgerechnet die Technik eine solche angeli-
sche Provinz sei, ist kindisch. Daß vor- oder antimarxistische Fort­
schrittsgläubige so naiv sind, Technik unter allen Umständen zu prei­
sen, ist wenig verwunderlich. Aber Marxisten, die in dem Wort „D ia­
lektik“ mehr als eine offizielle Visitenkarte respektieren, dürften das
nicht. Vielmehr sind sie dazu verpflichtet, die der Technik als solcher
innewohnenden Widersprüche, also auch die potentiellen Gefahren
der Technik, anzuerkennen, zu untersuchen und zu bekämpfen.
Nichts ist lächerlicher, als in diesen Gefahren etwas Lächerliches, und
in der Untersuchung dieser Gefahren etwas lächerlich Un-Marxisti­
sches zu sehen. Da Marx den Apparat und die Technik der kapitalisti­
schen Gesellschaft für die Entfremdung verantwortlich gemacht hat,
und da er die Selbstverwandlung des kapitalistischen Systems in ein
sozialistisches, gleich ob zu Recht oder nicht, verkündet hat, hat auch
er ja schon, nein, hat gerade er den dialektischen Umschlag an der
Technik bejaht.
Natürlich liegt mir nichts ferner (und nichts läge natürlich weniger
in meiner Macht), als mit meiner Kritik der Technik den technisch
unterentwickelten und durch die Überlegenheit der technischen Groß­
mächte erpreßten Völkern nun davon abzuraten, sich auf das „A ben ­
teuer Technik“ einzulassen. Die Attitüde gegenüber der Technik hat
sich in den unterentwickelten Ländern völlig von der zu unterschei­
den, die wir in den technisch höchst entwickelten einzunehmen haben.
Das Fehlen der Technik ist in unterentwickelten Ländern eine ungleich
größere Gefahr als deren Existenz. In diesen Ländern muß die War­
nung vor der Technik, die für uns bereits gilt, wahnsinnig klingen.

Zehnte These: Charakteristisch fü r den heutigen Zustand der Welt


ist nicht nur deren Zerteilung in eine kapitalistische und eine kommu­
nistische Hemisphäre, auch nicht nur die Tatsache, daß sie in technisch
höchst entwickelte und technisch zurückgebliebene Gebiete zerfällt.
Sondern auch, daß die Bewohner der verschieden stark begünstigten
Regionen zu ganz verschiedener Einstellung gegenüber der Technik
verpflichtet sind. Wahnsinn wäre es, in der Gegenwart eines hungern­
den Inders, dessen Land durch die Serienproduktion von Traktoren
gerettet werden könnte, Technik als solche zu beargwöhnen. Täten wir
das, so hätte der Mann jedes Recht, uns als seine Feinde zu bekämpfen.
Schwer ist es freilich, die Frage zu beantworten, wo das Ja zur
Technik aufzuhören und das Nein einzusetzen habe. Denn bedrohlich
wird Technik ja nicht allein dort, wo sie vor allem (wie heute in den
Vereinigten Staaten) zur Technik der Bedrohung wird. Es wird eine
der Hauptaufgaben der Philosophie der Technik sein, den dialekti­
schen Punkt ausfindig zu machen und zu bestimmen, wo sich unser Ja
der Technik gegenüber in Skepsis oder in ein unverblümtes Nein zu
verwandeln hat.
1979

Die Frage, „was der Mensch sei“ (prätentiöser, angeblich existen­


zieller: „w er er sei“ ), die auch Heidegger noch ohne Zaudern gestellt
hat, ist sinnlos, solange man nicht (was auch er nicht getan hat) weiter
zurückfragt, was man denn unter dem „w as“ (oder gar dem „w er“ )
versteht, das heißt: welche Art von Antwort man überhaupt erwartet
oder erwarten zu dürfen glaubt. Eine bloße „differentia specifica“ ?
Die verdiente sofortige Abweisung. Denn zu glauben, daß der Unter­
schied von anderen Wesen, deren Vorkommen ganz kontingent ist, das
„Wesen“ des Wesens „Mensch“ (sofern es ein solches besitzt) ausma­
che, wäre philosophisch infantil. - Wenn man aber etwas anderes als
eine spezifische Differenz im Auge hat, dann kann man mit dem Ter­
minus „Wesen“ allein die „spezifische Mission im Universum” (oder
dessen Mission für den Menschen) meinen, die ein Schöpfergott dem
Menschen zugewiesen hat; eine Funktion, um derentwillen Gott den
Menschen erschaffen hat. Diese ihm zugewiesene Funktion wäre sein
„Wesen“ . In anderen Worten: Die Frage nach dem Wesen ist allein
unter theistischen Voraussetzungen sinnvoll, was natürlich nichts für
deren Wahrheit aussagt; vielmehr alles gegen die Möglichkeit einer
Wesensbestimmung des Menschen. In der Tat hält der unkorrum-
pierte Atheist die Frage nach dem „W esen" fü r sinnlos. Stellt er sie
nichtsdestoweniger, dann weiß er nicht, was er tut. - Was aber die
„W er-Frage“ betrifft, so verlangt der Fragende eigentlich den, zum
Zwecke der Identifizierung erforderlichen, Eigennamen statt des „un­
bestimmten Artikels“ , der auf die übliche Was-Frage antwortet. Der
so Fragende verwandelt das befragte Menschengeschlecht in ein „Indi­
viduum“ , das „E s“ in ein „D u “ , das heißt: in ein Wesen, zu dem es
gehört, daß es, von Gott angerufen, sich als solches „zur Stelle zu
melden“ habe. Die Wer-Frage setzt mithin ebenfalls Gott voraus: und
zwar nicht nur einen, der bei der Erschaffung des Menschen diesem
eine „Mission“ mitgegeben hat (oder der diesen der Mission wegen
erschaffen hat); sondern einen, der den Menschen pausenlos in E vi­
denz hält. Die Frage nach dem „w er“ ist also keine Frage, sondern ein
in Frageform gegossenes doppeltes Vorurteil.
Die Selbstgefälligkeit der Was- und Werfrage ist unüberbietbar.
Würde man andere Spezies mit diesen Fragen konfrontieren? Würde
man fragen: „was ist das Pferd?” , also „philosophische Hippologie“
treiben? Oder gar, kierkegaardisch: „ Wer bist du, Pferd?” Hätte Sche-
ier, der bekanntlich ein Buch „Die Stellung des Menschen im Kosmos“
geschrieben hat, auch eines unter dem Titel „Die Stellung des Pferdes
im Kosmos“ geschrieben? Zwar hätte er diese Frage - denn im Alter
war er ungewöhnlich vorurteilslos - mit Vergnügen zur Kenntnis ge­
nommen; aber getan hat er es nicht. Gleichviel, wer, wie Heidegger,
die Fragen „was ist der Mensch?“ bzw. „wer ist der Mensch?“ ernst­
nimmt, der beweist damit bereits, daß er die andere, die Fundamental­
frage, ob es denn gerechtfertigt sei, dem Menschen eine metaphysische
oder theologische Sonderstellung einzuräumen, aus Hochnäsigkeit ge­
genüber den Millionen Spezies, die es im Universum gibt, positiv be­
antwortet hat. Und das hat Heidegger, zum Beispiel durch seine N o ­
minierung des Menschen zum „H irten des Seins” , genau so getan wie
die von ihm als modisch verspotteten „philosophischen Anthropolo­
gen“ , von denen sich so hochmütig zu distanzieren, er kaum ein A n­
recht gehabt hat.

Es versteht sich, daß zur „Antiquiertheit des Menschen“ eine Theo­


rie der Antiquiertheit der „philosophischen Anthropologie“ gehört;
daß der Klage über das „Ende des Menschen“ eine bestimmte Vorstel­
lung vom Menschen zugrundeliegen muß. Formal ist dieses Argument
nicht falsch. Wenn ich die Darstellung dieser „positiven Anthropolo­
gie“ schuldig geblieben bin, so nicht nur deshalb, weil ich, einem Arzte
gleich, niemals zur Theorie des gesunden Menschen Zeit gefunden
habe, also aus Sorge; sondern auch deshalb, weil ich seit einem halben
Jahrhundert im Menschen das grundsätzlich nicht gesund sein kön­
nende und nicht gesund sein wollende, also das nichtfestgelegte, das
indefinite Wesen gesehen habe, das definieren 2u wollen paradox wäre.
Ausführlich habe ich den Entwurf einer solchen „negativen Anthropo­
logie” im Jahre 1929 dargestellt, in einem Vortrage „D ie Weltfremd­
heit des Menschen“ , den ich damals in der „Kantgesellschaft“ von
Frankfurt gehalten habe, in dem ich, Jahre vor Sartre, die Freiheit des
Menschen als die Positivierung seiner Unfestgelegtheit behandelt
habe.' Der Vortrag existiert auf deutsch nicht mehr, seine französische
Version ist dann sieben Jahre später, noch immer viel zu früh, unter
dem Titel „Pathologie de la Liberte“ in den „Recherches Philo-
sophiques“ 1936 erschienen.
„D aß es von N atu r aus diskrete Einzelw esen gibt, das ist zw ar ein
bedauerlicher kreatürlicher D efek t, und diesen abzuschaffen, w er­
den w ir verm utlich niemals fähig sein. A b e r darüber zu verzw eifeln,
liegt kein G ru n d vor. Einzelw esen sind so wenig Lücken in unserem
totalen System , w ie Sieblöcher Lücken im Siebe sind. O b w o h l nicht
aus Siebm aterial bestehend, funktionieren diese doch als Teile des
Siebs, sogar als dessen wichtigste. U nd irgendetwas zu leisten, was
ihnen nicht d u rch G röße, S to ff und Form des Siebes diktiert wäre,
sind und bleiben sie außerstande.“
Aus dem molussischen „Lehrbuch des Konformismus“

Vorbemerkung 1970

Dieser Essay stammt aus dem Winter 1962/63 und erschien (bis auf
einige Paragraphen) unter dem Titel „D e r sanfte Terror" im Frühjahr
63 im „M erkur“ . Damals hatte ich diesen Text nicht als eine in sich
geschlossene Schrift geplant. Vielmehr entstand er als Ableger eines
anderen Textes: meiner (zuvor ebenfalls im „M erkur“ erschienenen)
ersten Reflexionen über die damals gerade beginnende Raumfahrt.
Diesen speziellen Themenkreis haben die Gedanken über den „K o n ­
formismus“ so tief in den Hintergrund verdrängt, daß es mir nun, nach
sieben Jahren, unmotiviert und unberechtigt zu sein schien, die zwei
Texte zusammen, gar als Teile eines größeren Ganzen, vorzulegen. Ich
habe die zwei Stücke also auseinandergeschnitten und den ersten Teil
(die Raumfahrtbetrachtungen) mit einem später verfaßten Text über
denselben Gegenstand, also über Raumfahrt, kombiniert;1 und lege
den zweiten Teil, also den hier nachstehenden Text, nun isoliert vor.
Freilich ist es mir klar, daß diese Mitteilung nicht ausreicht; daß der
Leser, und zwar mit vollem Recht, zu erfahren wünschen wird, wie die
zwei Stücke ursprünglich zusammengehangen hatten, auf Grund wo-
von ich sie, mindestens vorübergehend, für Teilstücke einer einzigen
Schrift hatte halten können; oder anders: wie eine Konformismustheo­
rie aus Ausführungen über Raumflug hatte entstehen können; worin
der Generalnenner der zwei Themen bestande n hatte.
Die Antwort auf diese berechtigte Frage lautet: „Science F i c t i o n Es
war mir nämlich, und nicht als einzigem, aufgefa11en, wie frappierend
die Raumflüge denjenigen fiktiven Ereignissen und Abenteuern äh­
nelten, die seit Jahren in den von Science-Fiction-Autoren und den
(von allen Zeitungen der USA täglich veröffentlichten) „cartoons“
geschildert worden waren. Aus dem Staunen über diese frappierende
literarische und zeichnerische Antizipation der heutigen Wirklichkeit
entstand aufs natürlichste die Frage nach der Funktion dieser „Künst­
ler“ in der heutigen Welt - eine Frage, auf die die Antwort lautete, daß
diese Männer so schrieben und zeichneten, als wären sie nicht freie
Schriftsteller oder Künstler, sondern Angestellte der Technokrate; so
als wäre es ihr bezahltes Amt, die Zeitgenossen, also uns, zu guten und
widerspruchslosen, kurz: konformen Mitbürgern der technischen Welt
vor-zuerziehen. Wie weit es sich hier nur um ein „A ls ob“ handelt, das
ist pauschal kaum zu beantworten, um so weniger als sich die Autoren
durch ihre Klassifizierung als „Auftragsarbeiter“ nicht gekränkt füh­
len würden. - Gleichviel, im Verlaufe des Weiterschreibens verloren
dann die Figuren der Science Fiction, der Cartoon-Zeichner und der
Konsumenten der Produkte ihre exemplarische Bedeutung. Was mich
interessierte, und was ich nun zum Thema machte, waren die Vor­
gänge der Gleichschaltung und der Erziehung zur Gleichschaltung als
solche: Vorgänge von so grundsätzlicher und genereller Bedeutung,
daß diese weiterhin mit den Beispielen von Cartoon-Zeichnern oder
Science-Fiction-Autoren zu belegen, sinnlos gewesen wäre. So geschah
es also, daß der ursprüngliche Startpunkt vergessen, oft die Erinnerung
an diesen auch absichtlich abgeschnitten, und eine generelle Theorie
der Gleichschaltung entworfen wurde.
Die Propheten als Diebe

Peinlich, wie frappierend die Weltraumflüge jenen Buntdruckbil­


dern ähneln, die die knabenhaftesten und vulgärsten unter uns Schrift­
stellern: die Science-Fiction-Autoren, schon vor Jahrzehnten vorweg
phantasiert haben. Aber sind Knabenhaftigkeit oder Vulgarität Wider­
legungen? Wird die Wahrscheinlichkeit der Supermen dadurch gerin­
ger, daß ihre Vorbilder inferior waren? Ist es nicht albern zu glauben,
allein Texte von Rang hätten ein Anrecht auf ins Schwarze treffende
Prognosen? Oder Texte seien schon deshalb unwahr, weil sie niveaulos
seien? Hoffnungslosester Kulturoptimismus. Vielmehr gibt es in infe­
riorer Zeit kein wichtigeres Schrifttum als das inferiore, nein sogar kein
prophetischeres. Wer nicht selbst infantile Geschmacksreste hat, der
hat auch keine Nase für das kosmische Menü, das nebenan in der
Kinderküche für morgen zusammengebraut wird. Wer nicht selbst
niveaulos ist, der findet auch keinen Gefallen daran, die niveaulosen
Tagträume seiner mond- und planetensüchtigen Geschwister auszupo­
saunen. Jede Epoche hat die Propheten, die sie verdient, die vulgäre
vulgäre. Bekanntlich betrachteten es die Aristokraten Molussiens als
unter ihrer Würde, mit denjenigen ihrer Mitbürger zu verkehren, de­
ren Sprüche eingetroffen waren, sie gingen sogar so weit, die Maxime
„laß dich überraschen” ihrem Ehrenkodex einzuverleiben. Wie dün­
kelhaft das auch gewesen sein mag, einsichtslos war das gewiß nicht. In
den Weissagenden erkannten sie eben Mitwisser, und im Eintreffen von
Prophetien, selbst von warnenden, das Zeugnis dafür, daß der Prophet
sich gemein gemacht hatte. Und heute gilt das genau so. Suspekt sind
die Science-Fiction-Autoren nicht deshalb, weil sie zu hemmungslos
ins Blaue des Utopischen hineinphantasierten (das tun nur die Unbe­
gabtesten), oder weil sie sich zuweilen irrten (das tun sie nur selten),
sondern umgekehrt deshalb, weil ihre Reportagen aus dem Übermor­
gen gewöhnlich recht behalten; weil dieses ihr Rechtbehalten beweist,
wie hemmungslos sie sich dem Realismus verschrieben haben.
Jawohl, dem „Realismus“ . Denn primär bezeichnet dieses Wort
nicht die getreue Darstellung des Wirklichen, sondern eine bestimmte
Stellungnahme gegenüber dem Wirklichen: nämlich die Stellungnahme
derer, die die Welt, unbekümmert um deren moralische Qualität, ein­
fach deshalb, weil sie ist wie sie ist, d. h.: weil sie Macht ist, bejahen
und fördern. Also die Stellungnahme der Opportunisten und der
Komplizen, deren Maxime lautet: „Seien wir realistisch“ . In diesem
wenig ehrenvollen Sinne sind die Science-Fiction-Autoren Realisten,
und das auch dann, wenn sie sich surrealistisch zurechtschminken,
oder wenn die Kluft zwischen den von ihnen geschilderten Super­
welten und dem jeweils heutigen Weltzustand phantastisch breit
bleibt.
Als isolierte Aussage besagt die Feststellung, Science-Fiction-Auto­
ren hätten Phantasie, gleich ob als Lob oder als Tadel gemeint, wenig.
Was gefragt werden muß - allein das zählt - ist: wessen Phantasie sie
haben. Und die Antwort, auf diese Frage lautet: Sie haben die Phantasie
ihrer mächtigeren Brüder, die Phantasie derer, die nebenan in den
Laboratorien und Werkstätten über ihren Reißbrettern sitzen und die
die ausschließlich technische Welt von Übermorgen dort zusammen­
phantasieren.' Von deren Erfindergeist, dem der Wissenschaftler und
Ingenieure, die schon heute die Herren der Welt sind, ernähren sie
sich, ihre Phantasie ist parasitär, die Tätigkeit, der sie sich widmen,
besteht in Diebstahl: darin, daß sie die von ihren Brüdern entworfenen
Blueprints durchpausen, und, gewissermaßen aus der Schule der Zu­
kunft plaudernd, diese als faits accomplis, als monde accompli, den
Zeitgenossen zum Konsum vorsetzen. Daß sie sich dabei Veränderun­
gen erlauben, Verschnörkelungen, Übertreibungen, Vergröberungen,
ist natürlich unbestreitbar, aber zu glauben, daß sie für diese Varianten
mehr Phantasie benötigen oder durch sie mehr Phantasie bezeugen als
die non-scientific Romanverfasser, die sich ja schließlich auch nicht
darauf beschränken können, ihre Welt abzuphotographieren, dazu
liegt kein Anlaß vor. Wenn viele von ihnen avantgardistisch ausse­
hende Bilder oder prophetisch ins Schwarze treffende Texte erzeugen
können, so nicht deshalb, weil sie über unalltägliche imaginative R e­
serven verfügen, sondern einfach deshalb, weil technische Resultate zu
schildern weniger Zeit, Schweiß, Risiko und Verantwortung kostet als
diese in den Werkstätten wirklich zustande bringen; weil nichts so
leicht von der Hand geht, wie dasjenige, was faktisch dem Versuchszu­
stand noch nicht entwachsen ist und nur erst im Umriß dasteht, als
bereits gelöst und gebrauchsfertig auszumalen - kurz: weil es ihnen,
während ihre Brüder sich noch weiter vergeblich abmühen, schon
heute freisteht, uns die aus den durchgepausten Projekten leicht er­
kennbaren Zielbilder fiktiv als Bilder des Faktischen vorzusetzen. Daß
Kopien Originalen den Wind aus den Segeln nehmen, und daß Popula­
risierungen Grundtexte im Wettlauf schlagen, das ist ja heute nichts
Ungewöhnliches mehr, sogar schon die Norm. In dieser Beziehung
stellt die Voreiligkeit der Science-Fiction keinen Sonderfall dar, son­
dern nur die Bestätigung der Regel. „Mißtraue den Ersten“ heißt es bei
einem molussischen Gnomiker, „denn wo du zwei rennen siehst, da
ist, der den Vorsprung hat, gewöhnlich der Dieb, und der hinterher­
rennt, gewöhnlich der Bestohlene.“ Der Spruch scheint prophetisch
auf die Propheten von heute gemünzt.

§2

Die Diebe sind Herolde

Mit dem Unterschiede freilich, daß diese, also unsere Science-Fic­


tion-Autoren, nicht zu befürchten brauchen, von den Eigentümern um
das entwendete Gut wieder erleichtert zu werden. Um gekehrt sogar:
Die Eigentümer haben gegen die Diebe nichts einzuwenden, und wenn
diese so eilig in die Zukunft vorlaufen, so mindestens auch im Interesse
der von ihnen Bestohlenen. Und das ist es, was hier entscheidet. Die
Schilderung der sonderbaren Beziehung zwischen Dieben und Bestoh­
lenen bliebe nämlich unzulänglich, wenn wir nur behaupteten, die
Opfer drückten beim Besuch ihrer Kopisten ein Auge zu, oder sie
kehrten dem „Patentraub“ nur den Rücken.3 Wahr ist vielmehr - und
diese ganze Wahrheit ist noch viel erstaunlicher - daß die Eigentümer
den Dieben dankbar dafür sind, daß diese mit ihnen unter einer Decke
stecken. Was heißt das? Was erwarten sich die Bestohlenen von diesem
Kompagniegeschäft?
Antwort: Propaganda für sich selbst.
Und das mit Recht. Denn was die Diebe mit ihren (aus den durchge­
pausten Zeichnungen zusammenmontierten) Überwelt- und Über­
mensch-Stories zu erreichen suchen, das deckt sich restlos mit den
Zielen der Bestohlenen. Was versuchen die Diebe?
Uns, die Söhne des anbrechenden total technisierten Zeitalters,
schon heute mit der auf den Reißbrettern vorbereiteten total techni­
sierten Zukunft vertraut zu machen;
uns schon heute an diese Welt zu gewöhnen;
uns schon heute in Konformisten dieser Zukunftswelt umzuer­
ziehen.
In anderen Worten: Wenn die Technik den Science-Fiction-Autoren
wohlwill, so deshalb, weil diese darauf brennen, ihr als Herolde vorzu­
laufen; weil sie ihr anbieten, als ihre „fünfte Kolonne“ zu funktionie­
ren und für sie den Sieg schon vor dem Siege zu erringen. Und das
sogar gratis. „W o wir arbeiten“ , so versichern sie ihren großen Brü­
dern, den Männern in den Laboratorien und Werkstätten, „da ist der
Widerstand bereits gebrochen, da hat die Menschheit eure totale Tech­
nisierung bereits akzeptiert, da liegt die Straße für eure Invasion
offen.“
Daß die Eigentümer ihren Dieben dankbar sind, das ist also durch­
aus begreiflich. Aber wodurch erzielen die Diebe ihr Resultat wirk­
lich?

Unterhaltung - die Tendenzkunst der Macht

Die Antwort darauf ist scheinbar widerspruchsvoll. Denn sie lautet:


Dadurch, daß die Science-Fiction-Autoren die Bearbeitung, der sie
uns, ihre Leser, unterziehen, in die Form der Unterhaltung kleiden.
Und warum ist gerade Unterhaltung erfolgreich?
Weil Unterhaltung Terror ist.
Und warum ist sie das?
Weil sie uns total entwaffnet. Der Unernst ihres Auftretens hat es
nämlich zur Folge, daß w ir uns ihr achtlos aufschließen und wehrlos
ausliefern, ungleich acht- und wehrloser als jenem üblichen Terror, der
uns in klirrender Montur auf den Leib rückt; daß wir die Lust auf
Widerstand verlieren, noch ehe diese in uns aufkeimen kann; daß wir
das uns meuchlings Eingeflößte assimilieren, noch ehe wir ahnen, was
uns eingeflößt wird - und das alles bedeutet, daß wir von der Unter­
haltung schon vor dem Kampf besiegt werden können.
Gnadenlos, und dadurch terroristisch, ist eben nicht nur dasjenige,
was sich unseren Bitten versperrt, sondern auch (und heute vor allem)
Om nivor i ^j

dasjenige, was so harmlos und so komfortabel auftritt, und was seine


Offerten so sanft vorbringt, daß es uns gar nicht erst auf den Gedanken
kommen läßt, Nein zu sagen, Widerstand zu leisten oder um Gnade zu
bitten. Diktatorische Systeme, die noch auf Gummiknüppel oder L i­
quidierungsdrohungen angewiesen sind, sind bereits beklagenswert al­
tertümlich, jedenfalls ungleich weniger verhängnisvoll als diejenigen,
die sich bereits auf Unterhaltung, oder gar nur noch auf Schnulzen,
verlassen dürfen. Unter den Mächten, die uns heute formen und ent-
formen, gibt es keine mehr, deren Prägekraft mit der der Unterhaltung
in Wettbewerb treten könnte. Wie wir heute lachen, gehen, lieben,
sprechen, denken oder nichtdenken, selbst wie wir heute zu Opfern
bereit sind, das haben wir nur zum allerunbeträchtlichsten Teil im
Elternhaus, in den Schulen oder in den Kirchen gelernt, vielmehr fast
ausschließlich durch Rundfunk, Illustrierte, Filme oder durch das
Fernsehen - kurz: durch „Unterhaltung“ . War diese in früheren Zei­
ten nur eine unter vielen „Bildungskräften“ gewesen, und gewiß keine
der eindrucksvollsten, so ist sie nun rapide in eine monopolistische
Stellung aufgerückt.
Die Schuld an diesem ihrem Aufstieg ist freilich nicht allein unserer
eigenen Widerstandslosigkeit zuzuschreiben, sondern, bildlich gespro­
chen, auch der Widerstandslosigkeit der Welt - womit ich meine, daß
keiner der Inhalte, die die Unterhaltungsindustrie zu verarbeiten
wünscht, die Kraft besitzt, sich gegen seine Verarbeitung in millionen­
fach vervielfältigtes Unterhaltungsmaterial zu wehren.
Dazu kommt schließlich, daß diese Industrie einer wahllos omnivo­
ren Bestie gleicht, einem Tier, das nicht nur Appetit auf alles hat,
sondern auch die Gabe, jeden Inhalt mit Haut und Haaren zu verspei­
sen und nach rapidester Verdauung als süßes Exkrement wieder von
sich zu geben. Ob es Staatsbegräbnisse sind oder rauchende Schimpan­
sen, Schiffskatastrophen oder Laufstegvorführungen, über Nacht er­
richtete Basen oder über Nacht verwüstete Städte - nicht nur stößt
diese Bestie niemals auf Widerstand, sondern auch niemals auf etwas,
was ihr Ekel einflößen könnte. Von Tabus hat sie nie etwas gehört.
Solange sie nur pausenlos schlingen, Verschlungenes verarbeiten, Ver­
arbeitetes ausscheiden und Ausgeschiedenes uns vorsetzen kann, so­
lange ist es ihr völlig gleich, was ihr vor die Schnauze gerät. Bekannt­
lich scheut sie ja noch nicht einmal davor zurück, ihre eigenen Pro­
dukte wiederzukäuen, und zum zweiten Male zu eliminieren: Dann
läßt sie Romane als Hörspiele fallen oder Songs als Evergreens aus sich
herausrinnen.
Und dieser pausenlosen Belieferung und Berieselung sind w ir nun
also ausgesetzt. Denn was das Tier fallen läßt, das ist ja für uns be­
stimmt, und zwar für unseren pausenlosen Konsum. - Nun hatten wir
aber gesehen,
1. daß wir uns für alles, was von sich behauptet, „nichts als Unter­
haltung“ zu sein, arglos bereithalten; und
2. daß es nichts mehr gibt, was sich uns nicht als „Unterhaltung“
anbieten könnte.
Das hat zur Folge, und zwar unvermeidlicherweise, daß auch wir
uns nun in Allesschlucker und Allesverdauer verwandeln. Und da wir
bei der Glätte und Bequemlichkeit der Bissen schon gar nicht mehr
spüren, daß und was wir schlucken, da wir also bereits reflexartig
schlucken, absolvieren wir diese Verwandlung im Handumdrehen. Die
Zeiten, in denen als „arme Schlucker“ diejenigen galten, die nichts zu
schlucken hatten, die sind längst vorbei. Heutzutage sind „arme
Schlucker“ umgekehrt diejenigen, die dem Terror ihrer Mästung kei­
nen Widerstand mehr leisten können, die mit jedem Bissen, den sie
schlucken, auch ein bißchen Freiheitsberaubung mitherunterschlucken
müssen. Wer unfrei konsumiert, konsumiert Unfreiheit.

Anwendung:
Diejenigen, die uns zu unterwerfen entschlossen sind (in unserem
Falle die Interessenten der Technik, bzw. diese selbst als Interessen­
tin), wünschen ihre prospektiven Opfer so widerstandslos und so auf­
nahmebereit wie möglich. Da diese „power elite“ nun weiß,
1 . daß unser Widerstand nur dann minimal, unsere Aufnahmebereit­
schaft nur dann optimal ist, wenn wir mit Unterhaltung beliefert
werden,
2. daß es keine Inhalte gibt, die sich wehren, also keine, die nicht in
Unterhaltungsmaterial umgewandelt und als solches aufgetischt wer­
den könnten,
tarnt sie jeden Inhalt, von dem sie wünscht, daß er assimiliert werde,
erst einmal als „ Unterhaltung“ . „ Unterhaltung“ ist mithin die Ten­
denzkunst der Macht. Sogar (da mit ihrer H ilfe die für morgen und
Wer unfrei konsumiert, konsumiert Unfreiheit 139

übermorgen vorgesehenen Opfer schon heute unterworfen, also die


Siege schon vor dem Siege gesichert werden) deren avantgardistische
Tendenzkunst. Und so gesehen, ist Science Fiction die avantgardisti­
sche Tendenzkunst der Technik.4
Damit ist natürlich nicht behauptet, daß Unterhaltung „avantgardi­
stische Kunst“ (im kunstgeschichtlichen Sinne von „modern“ ) sei,
nichts wäre unsinniger. Wahr ist ja umgekehrt, daß sie sich fast aus­
schließlich obsoletester Formen und ausgeleiertster Idiome bedient,
solcher, die selbst dem Analphabeten, auch dem Analphabeten des
Fühlens, keine Schwierigkeiten bereiten. Aber das ist kein Gegenargu­
ment, ihre Vorgestrigkeit im kunstgeschichtlichen Sinne widerspricht
nicht ihrer avantgardistischen Verwendbarkeit im pragmatischen
Sinne. Im Gegenteil: Für ihre Heroldsrolle so geeignet ist die Unter­
haltung gerade deshalb, weil sie obsolet ist, weil sie nämlich durch ihre
Glätte dafür garantieren kann, daß sie keinen Widerstand hervorrufen
werde. Gerade deshalb also kann sie von der Macht risikolos als Vor­
hut vorgeschickt werden.5

§4

Das konformistische System - zu gut um erkennbar zu sein

Nach diesen letzten Überlegungen scheint unser anfangs entworfe­


nes Bild höchst revisionsbedürftig. Hatten wir nicht die Science-Fic­
tion-Autoren als Diebe geschildert? Hatten wir sie nicht in flagranti
ertappt, wie sie die blue prints der Techniker durchpausten und mit
der gestohlenen Zukunft hausieren gingen? Was ist von der Wahrheit
dieses ersten Bildes geblieben? Ist es nun nicht angemessener, die an­
geblichen Diebe als die Kreaturen der Technik selbst darzustellen? Als
die Kinder, die diese selbst erzeugt, um Wegbereiter zu haben, die sie
vorschicken kann?
„N icht so rasch“ , höre ich. „Schließlich sind Science-Fiction-Auto­
ren free lancers‘ , also freie Schriftsteller. Und die Technik ist schließ­
lich keine Firma, die die Produktion phantastischer Romane in Auf­
trag gibt.“

Gewiß nicht. Aber ebenso unbestreitbar ist es ja, daß die Texte so
abgefaßt sind, als wenn sie bestellt wären; als wenn sie von perfekt
gleichgeschalteten Autoren, um nicht zu sagen: von höchst anstelligen
Angestellten stammten. Und dieser Schein würde, wenn der Zw i­
schenrufer recht hätte, mysteriös bleiben. Wie steht es also? Hatte
unser Zwischenrufer recht, oder hatte er unrecht?
Unrecht. Und was vorliegt, ist auch nicht einfach ein „Schein“ . In
der Tat kam der Einwand von einem Manne, der die eigentümliche
Funktionsart „konformistischer Gesellschaften” nicht durchschaut.
Was hatte er sich nicht klargemacht?
Daß „konformistischen Gesellschaften“ gegenüber zwei Unter­
scheidungen, deren Rechtmäßigkeit zu bezweifeln wir früher keine
Ursache gehabt hatten, hinfällig geworden sind. Welche Unterschei­
dungen?
1. Die zwischen ausdrücklichem und unausdrücklichem Zwang.
2. Die zwischen Sichgleichschalten und Gleichgeschaltetwerden.

1. Konformistische Gesellschaften, die wirklich „wie geölt“ arbei­


ten, funktionieren als „praestabiliert-harmonische S y s t e m e Das be­
deutet, daß sich in ihnen als solche erkennbare und unterscheidbare
Koordinationsaktionen erübrigen. Da die Individuen bereits wie ge­
normte Schrauben in genormte Schraubenmuttern hineinpassen, kann
das System auf Prozeduren, die der ausdrücklichen Konformierung
gelten, weitgehend verzichten; und ebenso können es sich die Indivi­
duen zumeist ersparen, sich durch ausdrückliche Adaptionsanstren­
gungen ihrem System einzupassen. Man mißverstehe nicht: Was hier
bestritten wird, ist natürlich weder daß die Individuen zurechtgeschlif­
fen werden, noch daß diese sich in das System einschleifen - im Gegen­
teil: beides geschieht pausenlos. Was bestritten wird, ist allein, daß
diese Prozesse als spezielle Gleichschaltungsaktionen vor sich gehen;
daß sie es nötig haben, in dieser Form vor sich zu gehen. Und behaup­
tet wird, daß sich diese Ausdrücklichkeit deshalb erübrigt, weil das
Leben und Treiben der konformistischen Gesellschaft als solcher die
Gleichschaltungsarbeit ohnehin leistet, und zwar ebenso unauffällig
wie gründlich. Natürlich gehören zu diesem „Leben und Treiben als
ganzem“ nicht nur unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, diese
sind sogar an die zweite Stelle gerückt, an der ersten stehen heute die
Beziehungen zwischen uns und unserer Ding-, nämlich unserer Gerä­
tewelt: Denn mit unserer Welt gleichgeschaltet sind wir ja in erster
Linie dadurch, daß wir uns auf die tausend uns sirenisch umgebenden
Produkte einstellen; daß wir uns nach den tausend, zusammen unsere
„W elt“ ausmachenden, Einrichtungen richten; und daß wir (so als
wäre das unsere zweite Natur) die Schaltungsmechanismen des uns
unentbehrlichen administrativen und technischen Instrumentariums so
bedienen, daß wir von diesem bedient werden. Da es niemandem frei­
steht, sich sein Zeitalter auszusuchen, also auch niemandem, sich unter
möglichen Welten „seine Welt“ auszuwählen; und da schließlich nie­
mand ohne die Epoche, in die er nun einmal hineingeboren wurde,
leben kann, gibt es auch niemanden, der überhaupt nicht gleichgeschal­
tet wäre. Das trifft nicht nur auf die Lieschen Müllers zu, sondern auch
auf die beruflichen Zeitkritiker, auch auf den Schreiber dieser Zeilen,
auch auf die programmatischen Lumpenproletarier von heute, die
„beatniks“ : denn auch diese brauchen ja nur ein einziges Mal den
Telefonhörer abzuheben oder den von ihnen so enthusiastisch gelieb­
ten Plattenspieler anzustellen, um zu beweisen, daß sie in das System,
aus dem sie sich da angeblich in „großer Verweigerung“ heraushalten,
eingebaut sind; und daß sie, wenn sie nicht mitmachen, sogar auf ihre
Polemik gegen das System verzichten müssen.6
Aber auf solche „frustrated non-conformists“ einzugehen erübrigt
sich, denn das Wesen der heutigen Konformismuswelt besteht ja ge­
rade darin, daß sie interessante Außenseiter nicht aufkommen läßt
(jedenfalls nur in viel geringerem Maße als frühere Systeme, etwa als
das „juste milieu“ des vorigen Jahrhunderts); bzw. daß sie Extrava­
ganz, wo sie diese als Alibi benötigt, selbst fördert oder sogar selbst
erzeugt. Philosophisch wirklich interessant sind allein die Uninteres­
santen,, das heißt jene Millionen, die gefügig im Gefüge funktionieren.
Und von diesen gilt eben, daß es in ihrem Dasein keinen noch so
geringfügigen Handgriff gibt, durch den sie sich nicht ohnehin gleich­
schalteten; und kein noch so geringfügiges Geschehnis, durch das sie
nicht ohnehin gleichgeschaltet würden; und daß sie deshalb Sonder­
maßnahmen oder Spezialkuren zwecks Gleichschaltung garnicht mehr
benötigen.
Aus diesem Grunde ist es z. B. nur selten erforderlich, dem Rund­
funkhörer eigens seiner Adaptierung dienende Sendungen zuzumuten.
Derartiges ist nur dann erforderlich, wenn das System als ganzes uner­
wartet rasch und scharf in eine neue Richtung einschwenkt. Vielmehr
ist die Tatsache, daß er ohne Rundfunk seiner Welt gar nicht mehr
zugehört, bereits eine Bürgschaft für sein Gleichgeschaltetsein; und
ebenso wenig hat es vice versa der Rundfunkhörer nötig, sich durch
spezielle Gleichschaltungsgymnastik seinem System einzuschleifen.
Vielmehr hat er seine Pflicht bereits dadurch erfüllt, daß er sich als
Herr und Eigentümer seines Apparates daran gewöhnt hat, dessen
Knecht und Eigentum zu sein, sich durch diesen nämlich seine Frei­
zeit, also sich selbst, ausfüllen zu lassen.
Das alles klingt natürlich, auch in meinen Ohren, wie ein „vitios“ im
Kreis laufendes Argument: also so, als würde hier das gute Funktionie­
ren durch die Güte des Funktionierens erklärt. Direkt falsch ist dieser
Einwand zwar nicht, aber beweiskräftig ebenfalls nicht. Und zwar
deshalb nicht, weil die Kreis- (bzw. die Spiral-)Form zum Mechanis­
mus der Adaptierung selbst gehört - womit ich meine, daß sich jede
Adaptierung durch die bloße Tatsache ihrer Existenz vervollkommnet;
daß jede, die beginnt, zu funktionieren, auf Grund dieses ihres Beginns
besser funktioniert; jede, die bereits gut funktioniert, auf Grund dieses
ihres Gutfunktionierens noch besser funktioniert; daß sich jeder be­
reits Angepaßte besser anpaßt als jeder noch nicht Angepaßte; daß
jede Einbahnung automatisch akkumuliert. Ob es sich dabei um
eine im strengen Sinne „geometrische“ Steigerung handelt, das ist
gleich, um eine mehr als arithmetische gewiß; und es gibt wohl keine
menschliche Aktion, in der das (sonst bereits geschwächte) Fort­
schrittsprinzip noch so unangefochten herrschte wie im Prozeß der
Adaptierung.
Beispiel: Haben wir erst einmal damit begonnen, uns mit dem
Gange einer Maschine gleichzuschalten, dann können wir uns nun
einfach deshalb, weil wir sie schon etwas in G riff haben, oder weil sie
uns schon etwas in G riff hat, noch besser mit ihrem Gang gleichschal­
ten. Und je tiefer wir hineingeraten, desto tiefer werden wir auch
hineingezogen. Bis es, in den Worten aus Goethes „Fischer“ , „um uns
geschehen“ ist, bis wir auf jenen idealen Tiefpunkt abgesunken sind,
an dem unsere Maschinenbedienung und das Funktionieren der M a­
schine nur noch einen einzigen Prozeß bilden. Ein endgültiger Schluß­
punkt ist freilich auch damit noch nicht erreicht, denn nun sind wir an
das Adaptiertwerden als solches adaptiert, viel besser adaptiert (und
damit auch jedem weiteren Eingriff viel stärker ausgesetzt) als vorher;
und ob von einer Sistierung der Steigerung überhaupt je die Rede sein
kann, das ist fraglich.
Überflüssig zu betonen, daß, was von jeder partikularen Adaptie­
rung gilt, auch von dem Adaptionssystem gilt, das „konformistische
Gesellschaft“ heißt.

Etwas durchsichtiger ist es nach alledem nun wohl geworden, auf


Grund welchen Mißverständnisses unser Zwischenrufer seinen Ein­
wand erhoben hatte: Was er nicht durchschaut hatte, ist, daß das heu­
tige Leben bereits als solches und als ganzes die Konformierungsarbeit
leistet und dadurch Konformierung als Spezialprozedur überflüssig
und die Existenz der Konformierung unsichtbar macht. Und diese
seine Ignoranz ist nicht etwa Zufall, vielmehr rührt sie daher, daß er,
als der Konformist, der er ist, die Mechanik des Konformismus nicht
kennen darf. Denn zur Pflicht des Konformisten gehört es, daß er aus
der Illusion der Freiheit niemals herausgleite. Und diese Pflicht erfüllt
er dadurch, daß er die Omnipräsenz der Gleichschaltung und deren
Unausdrücklichkeit als deren Nichtexistenz mißversteht.
Kurz: Als inexistent wirkt der Gleichschaltungsmechanismus des­
halb, weil er effektiv, und zwar so gründlich und so lückenlos klappt,
daß er Gleichschaltungen als Sondermaßnahmen nicht benötigt. Dia­
lektischer könnte er nicht funktionieren. Er ist zu gut, um erkennbar
zu sein.

§J
Alles und Nichts

Die Frage: „Was verknechtet uns im konformistischen System ei­


gentlich?“ könnten wir mithin ebensogut mit „alles“ beantworten wie
mit „nichts“ .
M it „alles“ . Denn wir brauchen unser Haus nur hinter uns zu las­
sen, nein, eigentlich nur aufzuwachen, um sofort von jenen lockenden
und kommandierenden Sirenen, aus denen unsere Welt heute besteht,
umschwärmt zu werden: von den Millionen, ihre Reize zur Schau
stellenden, Geräten, Redensarten, Usancen, Meinungen und behaviour
patterns, die uns in betäubendem Chor „Nim m mich!“ zurufen und
„Sei mir zu Willen!“ und „M ach mit!“ , und die uns, noch ehe wir
wissen, wohin es geht, in ihrem Strome mitgerissen haben. Und wir
sind ihnen ja zu Willen, wir lassen uns ja mitreißen, wir machen ja mit,
ohne auch nur im mindesten von ihrem gewalttätigen Empfang über­
rascht zu sein - im Gegenteil: nichts scheint uns ja selbstverständli­
cher, als uns diesem Gewühl anzuvertrauen; nichts natürlicher, als in
diesen sirenischen Kreaturen „unsere Welt“ zu sehen; und in der O rd­
nung scheint es uns ja sogar, daß derjenige, der Widerstand leistet, im
Rinnstein landet, um aus dem Mund der im Gewühl als Richterin stets
mitziehenden Psychologie zu hören, daß er untauglich sei, „poorly
integrated“ oder sogar illoyal.
Und dennoch auch mit „N ichts“ . Denn wo immer wir auch hinhor­
chen, die Stimme einer zentralen Instanz, die es bedingungslos von uns
verlangte, in diesem Strome mitzuschwimmen, die ist ja nirgends zu
vernehmen. Und wenn wir zuweilen, verzweifelt um uns schlagend,
beteuern, wir wollten nicht, wir brauchten nicht, wir müßten nicht,
kein Gott habe es uns befohlen, im Strome mitzutreiben, und wo es
denn geschrieben stünde, daß wir mitzuglauben und mitzuschreien
und mitzukaufen hätten - dann haben wir nicht nur vollkommen
recht, zuweilen geschieht es sogar, daß wir recht bekommen, daß uns
von denjenigen, die wie wir widerstandslos mitgerissen werden, recht
gegeben wird.
Was wir freilich nicht mißverstehen oder gar begrüßen dürfen. Denn
diese Opfer applaudieren uns nicht etwa deshalb, weil auch sie sich
durch das Fehlen der letzten Kommandostimme beunruhigt fühlten,
sondern umgekehrt deshalb, weil sie in diesem Fehlen die Rechtferti­
gung ihrer Widerstandslosigkeit und die Rechtsquelle ihres guten Ge­
wissens sehen. In anderen Worten: So bedenken- und hemmungslos,
wie sie es tun, toben die Opfer nur deshalb mit, w eil sie in der Gewiß­
heit leben, aus freien Stücken zu toben; und dieser ihrer Illusion sind sie
nur deshalb so gewiß, weil sich eine zentrale Befehlsinstanz nirgends
zeigt, w eil der „deus” ihres Systems stumm und absconditus bleibt, und
w eil sie diese Unvernehmbarkeit ihres Gottes als Nichtexistenz miß­
verstehen, also genau so, wie ihr Gott mißverstanden zu werden
wünscht. Denn in Wahrheit bleibt dieser ja deshalb absconditus und
deshalb unvernehmbar, weil er weiß, daß er dann am mächtigsten ist,
wenn er sich hinter den Kulissen versteckt hält; und daß er die Integra-
lität seiner Herrschaft dann am besten sichert, wenn er sich nicht
vernehmen läßt.7
Also:
Je integraler eine Macht, um so stummer ihr Kommando.
Je stummer ein Kommando, um so selbstverständlicher unser G e­
horsam.
Je selbstverständlicher unser Gehorsam, um so gesicherter unsere
Illusion der Freiheit.
Je gesicherter unsere Illusion der Freiheit, um so integraler die
Macht -
dies ist der Zirkel- oder der Spiralprozeß, der die konformistische
Gesellschaft aufrechterhält, und der sie, ist sie erst einmal in Gang
gekommen, automatisch weiter vervollkommnet.

§6

Passivität im Kostüm der Aktivität

Unausdrücklich haben wir damit aber auch schon die zweite „N eu ­


tralisierung“ mitbehandelt, die Neutralisierung des Unterschiedes
zwischen Gleichgeschaltetwerden und Sich-Gleichschalten. Denn auf
die Frage, was denn, wenn das konformistische System funktioniere,
eigentlich vor sich gehe, gibt es nur eine einzige Antwort; und diese -
der Ausdruck ist ja wiederholt schon gefallen - lautet: ein universales
„M it-M achen“ .
Aber was ist das? Ist das ein „M it“ ? Oder ist das ein „Machen“ ?
Oder ein Vorgang sui generis?
Dieses Dritte. Was heißt das?
Daß sich die Demarkationslinie zwischen Passivität und Aktivität,
also auch zwischen Gleichgeschaltetwerden und Sich-Gleichschalten,
nicht mehr nachziehen läßt.
Das kann zweifach mißverstanden werden:
Erstes Mißverständnis: In der These ist lediglich eine empirisch­
soziologische Feststellung gemacht.
Falsch. Da in ihr die Gültigkeit eines Kategorienpaares bestritten
wird, ist sie als philosophische These gemeint. Behauptet wird hier
nicht allein - fü r den soziologischen Hausgebrauch mag das ausreichen
- daß die zwei Prozesse, der aktive und der passive, im konformisti­
schen System stets gleichzeitig, interdependent und ineinander überge­
hend ablaufen, weil, wenn behauptet wird, daß Interdependenz und
Übergang stets stattfinden, unaufgeklärt bleibt, woraufhin und mit
welchem Recht dann noch von zwei Prozessen gesprochen werde.
Zweites Mißverständnis: Die These macht eine Aussage über unse­
ren gegenwärtigen Forschungsstand: die nämlich, daß wir noch unfähig
seien, die (zwischen Sich-Gleichschalten und Gleichgeschaltetwerden
verlaufende) Grenze nachzuziehen.
Falsch. Vielmehr macht sie eine Aussage über unseren Forschungs­
gegenstand, eben über das konformistische System. Und zwar die, daß
es in diesem die Demarkationslinie zwischen Tun und Lassen nicht
mehr gibt. Und das bedeutet nicht, daß wir diese Grenze noch nicht
nachziehen können, sondern umgekehrt, daß wir das nicht mehr
können.

Auch in früheren Zeiten hat es ja Wissenschaftler gegeben, die im


Vertrauen auf ihren langbewährten Begriffsschatz versuchten, Gegen­
ständen, die dem Kompetenzbereich ihrer Kategorien nicht mehr un­
terstanden, diese Kategorien doch noch aufzudrängen, die also Nicht­
existentem nachjagten. Und dies: daß wir, wenn wir in konformisti­
schen Systemen, also in der Welt des „Mit-Machens“ , nach der Grenz­
linie zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Sich-Gleichschalten
und Gleichgeschaltetwerden, suchen, etwas Inexistentem nachjagen,
ist die Behauptung, die ich hier vertrete.
So gewiß es heute gilt, daß wer etwas konsumiert, damit immer
zugleich einer Fütterung unterliegt; wer aus freien Stücken sein Radio­
gerät anschaltet, das immer schon als ein zur „H örigkeit“ erzogener
Mensch tut; wer seine Ansicht äußert, immer schon eine ihm eingelöf­
felte Meinung propagiert. Und umgekehrt: daß wer den Auftrag er­
hält, eine Meinung zu propagieren, diese immer schon als eine persön­
liche Überzeugung ausspricht; wer zuzuhören gezwungen wird, am
Zuhörerdasein immer schon „seinen“ Spaß findet; wer dem Konsum­
zwang gehorcht, immer schon „von sich aus“ auf das ihm Nahegelegte
Appetit hat - ebenso gewiß gilt es heute (diese Behauptung liegt den
spezielleren ja zugrunde), daß wer gleichgeschaltet wird, sich immer
auch schon gleichgeschaltet hat; und viceversa: daß wer sich gleich­
schaltet, immer auch schon gleichgeschaltet worden ist - kurz: daß das
Geschehen, mit dem wir es in konformistischen Systemen zu tun haben,
ein einziger, ein ,,medialer“ s Prozeß ist; ein Prozeß, den in seine Akti-
vitäts- und seine Passivitätsstücke auseinanderzulegen genau so sinnlos
wäre, wie die Peripherie eines Kreises in ihr von außen konvexes und
von innen konkaves Stück aufzuteilen.
Glatter Betrug wäre es natürlich, diese „Medialität“ als etwas Positi­
ves auszugeben, etwa als ein Zeugnis dafür, daß Spontaneität und Pas­
sivität oder „Freiheit und Bindung“ (wie wir es in akademischen Fest­
reden so oft hören müssen) „miteinander versöhnt seien“ . Nichts we­
niger als das. Der Anteil der Passivität (sofern dieser überhaupt noch
separiert werden darf) ist unvergleichlich viel größer als der der Spon­
taneität oder Aktivität; und es gibt wohl kein System, das so asym m e­
trisch, so schlecht ausbalanciert wäre w ie das konformistische. Zu be­
haupten, wir seien „aktiv“ , ist überhaupt nur deshalb noch berechtigt,
weil unsere Aktivität von jener power-Elite, die uns passiv wünscht, in
ihrer Scheinexistenz aufrechterhalten und verwendet wird; weil sie nur
noch als ein (freilich unentbehrliches) Kostüm fortexistiert, als ein
Kostüm, das uns über den Kopf gestülpt wird, damit wir in diesem
unsere Passivität, ohne zu murren, verwirklichen.
Widerspruchsvoll klingt das allein für denjenigen, der sich noch
nicht im klaren darüber ist, wie, in welchen Formen und in welchen
Situationen seine Unterwerfung vor sich geht. Niemand, der sich dar­
aufhin prüft, wird ja behaupten können, daß er nur in psychologisch
unzweideutigen Leidenssituationen gleichgeschaltet werde, nur dann,
wenn er sich (etwa wie der, die ihm „vorgeträumten Träume“ mitträu­
mende, Fernseher) gehen lasse und in einen maschinell-somnambulen
Zustand gerate. Weit häufiger erliegen wir den uns gleichschaltenden
Mächten dadurch, daß wir, höchst nüchtern (freilich ohne uns im
klaren darüber zu sein, daß wir einem Befehl gehorchen), etwas tun:
nämlich dasjenige mit-tun, was „man“ tut.9 Wie geschäftig wir uns
auch vorgekommen sein mögen, als wir vorgestern in demjenigen Wa­
gen, den man vorgestern gerade fuhr, dorthin fuhren, wohin man, um
als vollwertige N ull zu zählen, vorgestern eben zu fahren hatte; oder
als wir gestern dem neuen antiatomaren Privatbunker nachjagten (weil
dieser mit seiner zusammenklappbaren Hi-Fi-Diskothek, seinem ein­
gebauten Windeltrockner und seiner, nach Wunsch, selbstleuchtenden
Bibel, siehe Gebrauchsanweisung, als ein „m ust“ galt, und weil dieses
„must“ nicht auch zu haben unerträglich gewesen wäre) - die Tatsa­
che, daß wir uns gestern dabei wirklich anstrengten und daß wir uns
heute noch davon zerrädert fühlen, die beweist nicht, daß wir gestern
und vorgestern wirklich etwas aus eigener Initiative getan hätten. Un­
sere Sache war unsere Geschäftigkeit nicht, sondern die Sache derer,
deren Geschäft sie war. Und nicht Aktivität bewies sie, sondern daß
wir auf schein-aktive Weise Opfer waren. Und nichts anderes hatten
wir mit der Behauptung gemeint, daß unsere Aktivität nur deshalb
noch überdauere, weil sie als das „Kostüm unserer Passivität“ verwen­
det werden könne. Von einer „Ausbalanciertheit“ (Aktivität gegen
Passivität) kann gar keine Rede sein. Umgekehrt ist unsere Passivität,
und damit unsere Verknechtung, nunmehr komplett. Wenn wir, be­
triebsam gemacht, im bunten Kleid angeblicher Aktivität und angebli­
cher Freiheit herumspringen, dann sind wir ja sogar um die Freiheit
betrogen, Freiheit zu vermissen; und wenn wir als Zwangskonsumen­
ten den Waren nachjagen, um uns von diesen bis in die letzten Keller­
winkel unserer Seele hinein vollpacken zu lassen, dann haben wir ja
auch jenes letzte von außen unzugängliche Privat-, Freiheits- und
Würdereservat aufgegeben, in das sich, von Epiktet bis zu den gestri­
gen Predigern existentieller „Eigentlichkeit“ , unsere Vorfahren noch
hatten zurückziehen können. So wenig es heute, da unser „Innen“ mit
Lieferwaren verstopft ist, noch die Mauer zwischen „außen und in­
nen“ gibt, so wenig gibt es heute die zwischen „aktiv“ und „passiv“ ,
zwischen „frei“ und „unfrei“ - und die Aufhebung dieser Differenz
läuft, auch wenn das den üblichen Regeln der Arithmetik zu wider­
sprechen scheint, auf die Hegemonie der Passivität und der Unfreiheit
heraus.

Kongruismus - nicht Konformismus


Die doppelte Wandlosigkeit

Daß die Heimwelt für den Rundfunkhörer und den Fernseher durch
keine Wand mehr von der Außenwelt getrennt ist, davon war bereits
im ersten Bande die Rede gewesen." Aber dieses Verschwinden der
Wand ist nicht etwa eine Kuriosität, die sich aus der zufälligen techni-
sehen Eigenart dieser Kommunikationsmittel erklären ließe. Ihren E r­
folg verdankt diese Eigenart vielmehr ausschließlich der Tatsache, daß
sie einem der charakteristischsten Erfordernisse des konformistischen
Systems aufs genaueste entspricht. Dieses Erfordernis heißt: , ,Wand-
losigkeit“ .JT Denn Wände sind im konformistischen System überhaupt
nicht mehr geduldet. Demontiert ist nicht nur die Wand zwischen
Aktivität und Passivität; nicht nur die zwischen privater und öffentli­
cher Sphäre; sondern sogar die zwischen „Seele und Welt“ . Was heißt
das?
Daß der optimale Konformist nicht nur Konformist ist, sondern
„ Kongruist".
Und das bedeutet wiederum, daß er sich den ihm zugedachten und
gelieferten Inhalten nicht nur anformt, sondern daß sich der Inhalt
seines Seelenlebens schließlich mit diesen Inhalten deckt. Konkret:
Daß er nur dasjenige noch benötigt und nur dasjenige noch benöti­
gen kann, was ihm aufgenötigt wird;
nur dasjenige noch denkt und nur dasjenige noch denken kann, was
ihm zugedacht wird;
nur dasjenige noch tut und nur dasjenige noch tun kann, was ihm
angetan wird;
daß ihm nur noch so zumute ist und nur so noch zumute sein kann,
wie es ihm zugemutet wird.

Formel: Da im konformistischen System Nachfrage und Angebot zur


Kongruenz gebracht werden;
und zwar so, daß die Angebote als Gebote auftreten;
und diese Gebote wiederum als Verbote funktionieren: nämlich so,
daß sie den Nachfrager effektiv davon abhalten, anderes als das, was
ihm offeriert wird, auch nur vorzustellen -
ist die Wand zwischen außen und innen gefallen.
Einern solchen „wandlos“ gewordenen oder gemachten Menschen
ein „Selbst“ oder ein eigenes Innenleben noch zuzugestehen, wäre
unsinnig. Da er überschußlos identisch ist mit dem ihm eingeflößten
Stoff, trifft auf ihn allein diejenige Formel zu, die ein Materialist des
vorigen Jahrhunderts für den Menschen überhaupt geprägt hatte, näm­
lich die Formel: „D er Mensch ist, was er ißt." Diesem albernen
Satz zur Wahrheit verholfen zu haben, ist das Verdienst, dessen der
Konformismus sich rühmen kann. Daß der „gegessene“ Stoff, um den
es sich dabei handelt, nicht (oder nur zum geringsten Teil) Stoff im
physischen Sinne ist, das macht die Situation des „Kongruisten“ um
nichts besser.
Falsch ist es mithin zu behaupten, der Mensch sei durch den Damm­
bruch zwischen außen und innen nun „seelenlos“ geworden, oder die
Seele des „Kongruisten“ sei nun „leer“ . Und nicht nur falsch, sondern
geradezu die Umkehrung der Wahrheit. Denn wahr ist ja, daß die Seele
des Kongruisten, da sie von der in sie einströmenden Welt (der Waren,
Meinungen, Gefühle, Attitüden etc.) ununterbrochen vollgeflutet
wird, furchtbar überfüllt ist, ungleich voller als Seelen je zuvor gewe­
sen waren; daß sie, wie der Schwamm mit dem Wasser, mit der Welt
nun ko-extensiv geworden ist, mindestens mit dem, was als „W elt“ ihr
zugedacht wird.

Aber was soll der Singular „ der Kongruist“ ? „Kongruisten“ gibt


es entweder en masse oder überhaupt nicht. Die Behauptung, die
Wand zwischen Geliefertem und Beliefertem sei gefallen, trifft entwe­
der auf Millionen zu oder auf niemanden. Offenbar auf Millionen.
Und natürlich nicht auf irgendwelche Millionen, sondern auf die von
heute, und das heißt: auf solche, die im Zeitalter der Massenproduk­
tion und -reproduktion leben. Das ist entscheidend. Denn das be­
deutet:
1. daß diese Millionen durchweg mit dem gleichen oder sogar (wie
z .B . durch den Rundfunk) mit einem und demselben Material beliefert
werden. Das bedeutet wiederum,
2. daß für diese Millionen die „Anderen“ , statt Mitmenschen, pri­
mär „Belieferungsgenossen” sind. Das bedeutet wiederum,
3. daß alle „ B elieferungs genoss en“ mit dem gleichen bzw. demsel­
ben Material „kongruent“ werden. Das bedeutet wiederum,
4. daß dieses Material, da allen gehörend, „sozialisiertes Eigentum”
ist. Und das bedeutet schließlich - und damit wird nun unsere Para­
graphenüberschrift „D ie doppelte Wandlosigkeit“ begreiflich -
5. daß nicht nur die Wände zwischen „Geliefertem und Beliefer­
tem“ gefallen sind, sondern (dadurch) auch die zwischen den Beliefer­
ten selbst. Der Schulsatz „Sind zwei Größen einer dritten gleich, dann
sind sie auch einander gleich“ nimmt hier den Sinn an: „Werden zwei
Belieferungsgenossen mit dem gleichen Material beliefert und mit die­
sem gleich, dann werden sie auch einander gleich.“

Es liegt auf der Hand, daß zwischen solchen, mit Gleichem (bzw.
Identischem) „Kongruenten“ gegenseitige Verständigungsschwierig­
keiten nicht mehr auftauchen können. Jeder versteht jeden, die D iffe­
renz zwischen Selbsterkenntnis und Fremderkenntnis ist aufgehoben,
der Vorname verdrängt den Nachnamen, jeder ist jedem, wenn auch in
einem neuen Sinne, „proximus“ ; keiner fühlt sich mehr bemüßigt, sein
Recht auf Privatheit geltend zu machen; keiner sieht einen Anlaß, seine
Geheimnisse seinen Mitmenschen nicht mitzuteilen; und keinem von
ihnen liegt noch etwas daran. Wirkliche Geheimtresors, wirkliches
geistiges oder seelisches Privateigentum besitzen Kongruisten garnicht
mehr - auch das, was sie für ihr Privateigentum halten mögen, gehört
zu den gelieferten Stücken; und geliefert ist ihrien ja sogar ihr Wahn,
daß das ihnen Gelieferte ihr Privateigentum sei. Kurz: ihre „privata“
teilen sie immer schon ohnehin mit den Anderen. Wenn es aber ge­
schieht, daß einem „Kongruenten“ doch noch eine Eigenart, die er mit
den Anderen nicht teilt, gewissermaßen als Webfehler oder Muttermal,
anhängt und auffällt, dann teilt er diese den Anderen nachträglich mit -
was ihm keine Schwierigkeiten bereitet, da ihm die Psychoanalyse, die
für solche Fälle bereitsteht, die Mittel und Methoden dafür in die
Hand gibt. Schon heute gilt in der konformistischen Gesellschaft
Schamlosigkeit als Offenheit, also als Tugend, und diese Tugend als
Loyalitätszeugnis. Unter den Aussprüchen unserer Zeitgenossen
wüßte ich keinen, der für unsere Epoche so repräsentativ wäre wie
Eisenhowers berühmtes (natürlich vor der gesamten Fernsehnation
abgelegtes) seinen kranken Leib betreffendes Geständnis „ / have
nothing to hide” . Gerade durch die Unbefangenheit, mit der er diese
Worte aussprach (und aussprechen durfte), machte er sie zu einem
klassischen Dokument der konformistischen Gesellschaft. Geben wir
uns keinen Illusionen hin. Die Exhibitionsbereitschaft, die wir unter
dem „sanften Terror“ , also in der konformistischen Gesellschaft, aus­
gebildet haben, ist für uns genau so charakteristisch, wie es die Selbst­
bezichtigungsmanie für die unter blutigem Terror, also in totalitären
Diktaturen, lebenden Menschen ist. Warum unser Defekt weniger
schlimm und weniger entwürdigend sein soll als der der Anderen, den
zu verachten w ir nicht müde w erden, das ist nicht einzusehen. N u r
w eniger propagandistisch verbreitet ist er.

Der Kollektivmonolog

Niem and hat also Geheimnisse, jeder steht jedem offen. - Und
trotzdem wäre es für einen „P hilosophy Fiction“ schreibenden A u tor,
der die perfekt konform istische Gesellschaft von übermorgen zu schil­
dern hätte, eine große Verlockung, die Enkelgeneration als verstummt
zu schildern; und zw ar als total verstummt, nicht nur als so sprachver-
kümmert, wie auch w ir es ja schon sind.
N atürlich klingt das widerspruchsvoll. Restlose gegenseitige O ffen ­
heit und Verstummtsein scheinen einander auszuschließen. A ber so
scheint es nur. Denn Verstummen tritt nicht nur dann ein (dies freilich
der häufigste Fall), wenn die K luft zwischen Person und Person zu
breit oder zu gefährlich für Ü berbrückung ist, sondern auch dann,
wenn die Kluft zu schmal ist, um sprachliches Brückenschlägen über­
haupt noch nötig zu machen. Jedes Sprechen erfordert eine M indest­
distanz: M itteilung hat allein dann Sinn, wenn es ein G efälle zwischen
Sprecher und H örer gibt; wenn ein A , der Bescheid weiß, einen B, der
nicht Bescheid weiß, an seinem Wissen teilnehmen läßt. Dieses M ini­
mum von D ifferenz w ird es aber bei den Kongruisten, aus denen sich
die perfekt konformistische Gesellschaft übermorgen zusammensetzen
w ird, nicht mehr geben. D a sie alle mit dem Gleichen beliefert sein
werden, werden sie alle das Gleiche wissen. U nd das heißt: Jeder
H örer wird dort nur dasjenige noch hören können, was er selbst
gleichfalls sagen könnte; und jeder Sprecher nur dasjenige noch aus­
sprechen können, was er von jedem anderen hören könnte - und unter
solchen Umständen den Mund oder die Ohren noch aufzumachen, das
w äre natürlich sinnlos. Schöne Aussichten. Denn philosophisch gese­
hen bedeutet das, daß der triumphierende Konform ism us nicht nur
einzelne Differenzen (wie die zwischen „ak tiv“ und „passiv“ ) zum
Verschwinden bringen w ird, sondern sogar unsere differentia speci-
fica: also unser J.Oyov e)(£iv.
Nun, ganz so weit sind wir heute noch nicht. Aber doch schon ein
gutes Stück auf dem Wege dorthin. Die Frage, ob in unserer heutigen
konformistischen Welt bereits weniger geredet wird als in der gestri­
gen und vorgestrigen Welt geredet wurde, die läßt sich zwar kaum
entscheiden. Unverkennbar ist es dagegen, daß es bereits ominöse Ver­
stummungs-Situationen gibt, z.B . die Situation der vor dem Fernseh­
schirm sitzenden, während der Simultanabspeisung wortlosen, Fami­
lie. Und noch wichtiger als diese Spezialsituation scheint mir die neue
Funktion, die das Sprechen in der konformistischen Gesellschaft ange­
nommen hat. Sofern das Wort „Funktion“ hier noch am Platz ist.
Denn, mindestens auf den ersten Blick, scheint unser Sprechen nun zu
einer völlig sinnlosen Beschäftigung verkümmert zu sein; womit ich
meine, daß wir, wenn wir miteinander sprechen, eine und dieselbe (uns
gelieferte) Erlebniswelt in Worte kleiden, und zwar in Worte, die ei­
nem und demselben (uns gelieferten) Vokabelschatz angehören; daß
wir mithin ein durch und durch tautologisches Tauschgeschäft betrei­
ben. Von den meisten unserer Gespräche, namentlich vom „small
talk“ , gilt es bereits, daß die Worte oder Wörter, die wir mit unseren
Partner wechseln, den zwischen Tennisspielern hin und her fliegenden
Bällen gleichen; d.h.: daß die „Bälle“ , die wir sprechend „geben“ ,
identisch sind mit denen, die wir hörend empfangen haben; und daß
die, die wir empfangen, identisch sind mit denen, die wir gegeben
haben - kurz: daß Nehmen und Geben austauschbar geworden sind'\
Wenn Herr A eine (ihm von der Großbäckerei G zugestellte) Semmel a
an Herrn B verkaufen würde, und wenn dieser, um für diese Semmel a
zu zahlen, Herrn A eine (ihm von derselben Firma gelieferte, der
Semmel a gleichende) Semmel b aushändigen würde - diese Transak­
tion wäre um nichts absurder als die Transaktion, die in unserem
alltäglichen Sprechen vor sich geht.
In anderen Worten: das millionenstimmige Geräusch, das heute er­
zeugt wird, stellt - und darin besteht die neue Funktion des Sprechens
heute - nichts anderes mehr dar als einen einzigen, mit verteilten R ol­
len gesprochenen „ Kollektiv-M onolog“ . D ie konformistische Gesell­
schaft als ganze redet mit sich selber. Das klingt zwar seltsam, aber
Seltsamkeit ist kein Gegenargument. Berechtigt ist es dagegen zu fra­
gen - denn so sinnlos, wie sie auf den ersten Blick scheint, kann diese
Beschäftigung ja nicht sein - , warum die konformistische Gesellschaft
ihr derart verkümmertes Sprechen noch nicht total hat einschlafen
lassen, warum sie auch heute noch Wert darauf legt, pausenlos wei­
terzumonologisieren. Und darauf lautet die Antwort: Das tut sie im
Interesse ihres eigenen Daseins. Also deshalb, weil ihre Maschinerie
niemals völlig tadellos läuft, weil sie ständig in der Gefahr schwebt,
ihre bereits gewonnene Form, ihren Konformitätskoeffizienten, wie­
der einzubüßen, weil sie ständig etwas verbesserungsbedürftig und
-fähig ist - weil sie also ständig Mittel einsetzen muß, um sich auf­
rechtzuerhalten und sich zu korrigieren.
Nun, daß wir durch zahllose Aktivitäten (natürlich ohne deren Be­
wandtnis zu durchschauen) unser Konfomierungspensum absolvieren,
das hatten wir ja vorhin schon betont. Letztlich gibt es wohl sogar
keine einzige Aktivität, die nichts dazu beitrüge. Und eine dieser Akti­
vitäten, vermutlich sogar deren wichtigste, ist unser tausendstimmiges
Miteinander-sprechen. Denn dadurch, daß wir miteinander sprechen,
schleifen wir diejenigen Differenzen, die zwischen uns noch übrigge­
blieben sein mögen, ab; positiv gesprochen: dadurch schleifen wir, um
perfekt zusammenzustimmen, unsere Konformität zurecht. Das Wort
„zusammenstimmen“ kommt wirklich wie gerufen. Denn es legt uns
ein Bild nahe, das unser Sprechen ungleich genauer trifft als unser
Vergleich mit dem Tennisspiel: nämlich das Bild des stimmenden O r­
chesters. Dadurch, daß wir miteinander sprechen, „stimmen“ wir un­
sere Instrumente, „stimmen“ wir uns aufeinander „ab“ , bis das Kam-
mer-a der Gesellschaft gesichert ist. - Hier freilich endet die Gültigkeit
des Bildes. Denn bei der Symphonie, derzuliebe wir uns aufeinander
abstimmen, handelt es sich um ein ungewöhnliches Stück, um ein
Stück nämlich, das gar nicht mehr erklingen soll. Das Zusammenspiel,
für das wir uns da laut vorbereiten, das soll ja so perfekt werden, daß es
lautlos bleiben kann. Das ist nicht widersinnig, mindestens ist das
Paradox banal, denn schließlich gibt es heute ja hunderte von Arbeiten,
die nicht weniger paradox sind, da wir ja auch sie heute nur deshalb im
Schweiße unseres Angesichts durchführen, weil wir hoffen, daß sie
dadurch morgen antiquiert sein werden. Und vom Sprechen gilt das
heute eben auch: Sprechend steuern w ir auf den idealen Zustand restlo­
ser Konformität los; auf einen Zustand, in dem alles „selbstredend”
stimmt, und das heißt eben: in dem sich unser Selber-reden erübrigt. In
der Zukunftswelt unseres fiktiven „Philosophy Fiction“ -Autors wird
unser Selber-sprechen genau so antiquiert sein, wie es heute bereits
unser Selbst-auf-die-Jagd-Gehen oder unser Selbst-Brot-Backen ist.
Und wenn dieser Zukunfts-Reporter den Triumphtag der Schande, an
dem das totale Verstummen einsetzt, als Ergebnis unseres heutigen
„Kollektiv-M onologs“ darstellen würde, dann würde er vollkommen
recht haben.

Zugegeben: ein realistisches Porträt ist das Bild des Konformisten,


das wir hier entworfen haben, nicht. Sondern eher ein schauerliches
Idealbild: das Idealbild, das uns zur gefälligen Imitation vorgehalten
wird. Aber das bedeutet keineswegs, daß die Schilderung übertrieben
sei, daß es um uns doch nicht ganz so schlimm stehe. Auf die Differenz
zwischen uns und dem Idealbild stolz zu sein, haben wir nicht die
mindeste Ursache, denn es kann ja keine Rede davon sein, daß wir
einen letzten Kern unserer Individualität doch noch hart oder einen
Rest unserer Autonomie doch noch unangreifbar gehalten hätten.
Wahr ist ja umgekehrt, daß w ir das uns gelieferte Vorbild anerkennen,
daß wir uns an diesem, und nur an diesem messen und daß wir mit aller
uns zur Verfügung stehenden Kraft versuchen, diesem gleichzuwer­
den. Wenn diese totale Kongruierung mit dem totalen „Kongruisten“
noch aussteht, so einfach deshalb, weil uns die Angleichung auf den
ersten Anhieb nicht gelingt, mindestens nicht ganz. Auch Ruiniert­
werden w ill gelernt sein, sich total überschwemmen und sich restlos
ausfüllen zu lassen, das ist keine so einfache Aufgabe. Zumeist sind wir
ja, beinahe im chemischen Sinne des Wortes, „übersättigt“ , also außer­
stande, noch zusätzlich einströmende Welt zu absorbieren. Entweder
ist das uns zugemutete Quantum zu groß, oder das uns zugemutete
Tempo zu scharf - kurz: wir sind (ähnlich dem an Fließbandarbeit
noch nicht ganz gewohnten Arbeiter) unfähig, ganz „mitzukommen“ .
Dies allein ist der Grund dafür, daß wir mit dem idealen Kongruisten
noch nicht ganz kongruieren. Nicht unserer Stärke verdanken wir das
also, sondern ausschließlich unserer Schwäche.
§9

Ergo sum

Wenn wir versuchen, diese unsere Situation durchsichtig zu machen,


dann wird dreierlei erkennbar:
1. daß wir als „Kongruisten“ deshalb versagen, weil wir noch ir­
gendwie „w ir selber“ sind;
2. (umgekehrt) daß wir dieses unser Selbst-sein als ein „Versagen“
bewerten, in unserem Ich also nur noch ein Rudiment sehen;
3. daß wir keine andere Bestätigung unseres Selbst-seins mehr ken­
nen als diejenige, die uns durch unser Versagen geliefert wird.
Blamabel ist natürlich dieser ganze Komplex. Am blamabelsten aber
die dritte Tatsache. Was einleuchtet, wenn wir sie in die Formel eines
„ Ic h ” - bzw. „Seinsbeweises” umgießen. Tun wir das, dann erkennen
wir nämlich, wie kümmerlich der Platz ist, den wir Heutigen in der
Geschichte der Menschenwürde einnehmen.
Ich sage: „umgießen“ : Denn daß eine solche Formel existiere, eine
Formel, in der ein Kongruist als Sprecher seiner Leidensgenossen seine
Selbstbestätigung in Worte gekleidet hätte, und daß diese Formel ir­
gendwo nachzulesen wäre, davon kann natürlich keine Rede sein. Exi­
stieren kann eine solche Formel schon deshalb nicht, weil es dem
Wesen des wesenlosen Kongruisten zuwiderlaufen würde, sich als sich
selbst zu bestätigen. Das kann er nicht nur nicht, das darf er auch
nicht; das darf er sogar noch nicht einmal können. Und als „seiend“
empfindet er sich umgekehrt ja nur dann, wenn er mit-macht, also
gerade dadurch, daß er nicht er selbst ist. -
Gleichviel, wenn einer von ihnen sein Selbst-sein doch in einer F o r­
mel zusammenfassen würde, dann würde diese Formel lauten müssen:
„Ich bleibe noch zurück - also bin ich noch ich selbst” . Und das würde
nicht nur bedeuten, daß sein Selbst-sein ein Makel sei, sondern auch,
daß der Makel seines Selbst-seins den einzigen Beweis seines Selbst­
seins darstelle. - Descartes, verhülle dein Haupt!
§ io

Die Adaptierungshilfe

Wie provozierend diese Gleichung von „Versagen“ und „Selbst­


sein“ auch klingen mag, daß sie unbekannt oder erkünstelt sei, das
kann man ihr nicht nachsagen. Vielmehr wird sie in den meisten heuti­
gen Vulgärpsychologien vorausgesetzt. Und in der heutigen amerika­
nischen Vulgärpsychoanalyse spielt sie sogar die Rolle des Grund­
axioms. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß sie dort als der Skandal,
den sie darstellt, erkannt werde. Im Gegenteil: dort wird sie propa­
giert. Denn auf der Werte-Tafel, die diese Psychologie (ungeachtet
ihres „personality“ -Vokabulars) als Grundlage ihrer Arbeit verwen­
det, scheint ja als kanonische Figur derjenige Mensch auf, der sich
durch maximale Adaption bewährt; und das heißt: derjenige, der so
vollständig wie möglich „kongruent“ und so wenig w ie möglich „er
selbst” ist. Durch die Einsetzung dieser kanonischen Figur hat die
Psychologie, zwar unausdrücklich, aber unzweideutig, der Identität
von Selbst-sein und Versagen ihr Siegel aufgedrückt.
Und dieses Siegel ist nicht etwa irgendeines, sondern ein beinahe
offizielles. Denn die Reputation, die die heutige Psychologie genießt,
ist ungeheuer. N ur ist sie das nicht deshalb, weil der wissenschaftliche
Rang, den sie einnimmt, objektiv so hoch wäre - umgekehrt schmückt
man sie mit diesem Wissenschaftsprestige, damit sie ihr Hauptamt mit
soviel Autorität wie möglich erfüllen kann. Und dieses ihr Hauptamt
besteht eben darin, als Sprachrohr der konformierenden Mächte zu
funktionieren, also die Adaptionsforderungen, die diese Mächte an uns
stellen, in ein popularisiertes Wissenschaftsvokabular zu kleiden, sie in
diesem Kostüm an den Mann zu bringen und uns, sofern wir noch
gegen den Stachel löken, durch effektive Behandlung in Adaptions­
lustigere oder besser Adaptierte zu verwandeln.15
Nichts charakteristischer für diese ihre (bzw. diese ihr aufgetrage­
nen) Zielsetzungen als die diagnostischen Verbindungslinien, die sie zu
ziehen liebt. Da gibt es z. B. immer wieder die Verknüpfung von „self-
centeredness” „poor adaptation" und „inferiority complex” , mit der
gemeint ist, daß Menschen auf Grund ihrer (pathologischen) Egozen­
trik schlecht angepaßt und auf Grund ihrer schlechten Angepaßtheit
minderwertig seien; und nunmehr Minderwertigkeitsqualen zum O p­
fer fallen. Direkt falsch ist dieses Schema zwar nicht, denn es gibt ja
tatsächlich eine Bedingung, unter der dieses Syndrom gilt: eben die
konformistische Gesellschaft. Das heißt auf Menschen, die in dieser
Gesellschaft als Konformisten leben müssen, treffen die Thesen der
(mit dem Konformismus konformistischen) Psychologie wirklich zu.
Aber nur deshalb, weil der Konformismus bereits triumphiert hat. In
anderen Worten: Deutlich kann uns der ursächliche Zusammenhang
des Syndroms allein dann werden, wenn wir das als selbstverständlich
unterstellte Kausalverhältnis auf den Kopf stellen; wenn wir also er­
kennen, daß von denen, die in der konformistischen Gesellschaft als
„krank“ gelten (die z.B. als „seif centered“ verleumdet, ihr Selbst-sein
als etwas Minderwertiges zugestehen und unter dieser angeblichen
Minderwertigkeit nun wirklich leiden) viele durch den Konformismus
selbst krank geworden sind; daß dieser selbst also der Krankheitskeim
ist. Gesunde, die, um in der konformistischen Gesellschaft leben zu
können, den falschen Maßstab, mit dem sie gemessen werden, als recht­
mäßig akzeptieren und die diesen sich aneignen, die stecken sich an
dessen Falschheit an und werden dann durch ihre hektischen Versuche,
ihre angebliche Krankheit zu überwinden, effektiv krank.
Überzeugender als durch die Voraussetzungen, die die amtliche
Psychologie unterstellt, und durch die Ziele, die diese verfolgt, könnte
unsere „Kongruismus“ -Theorie wohl kaum bestätigt werden. N ur be­
deutet das natürlich nicht, daß sich die Psychologen über ihre Prämis­
sen und Zielsetzungen im klaren seien. Folgerichtig durchartikulierte
Einsichten finden wir bei ihnen nicht. Vergeblich würden wir z.B.
nach der These, auch nur nach einem Hinweis darauf suchen, daß der
„kongruistische Mensch“ nur noch aus den in ihn hineingepumpten
Inhalten bestehe; oder daß die „Wände“ zwischen innen und außen
und zwischen Mensch und Mensch nunmehr verschwunden seien.
Und Zufall ist dieses Verschweigen natürlich nicht, vielmehr selbst
folgerichtiges Handeln im konformistischen System. 14 Womit ich
meine, daß die Psychologen, da sie selbst Instrumente des Konformis­
mus sind, nicht verraten dürfen, daß das (sich „frei“ nennende) S y ­
stem, dem sie dienen, die Selbstheit des Menschen vernichte. Aber
selbst diese Erklärung ist noch unzulänglich, selbst die Rede von „ver­
schweigen“ noch zu ehrenvoll, weil sie voraussetzt, daß die „V er­
schweigenden“ das Verschwiegene erkannt hätten, und weil diese Vor­
aussetzung nicht gemacht werden darf. Zu den konformistischen
Pflichten derer, die dazu angestellt sind, uns blind zu machen, gehört
es vielmehr, daß auch sie selbst blind bleiben. Was sie nicht verraten
dürfen, das können sie auch nicht mehr verraten. Und verraten können
sie es deshalb nicht mehr, weil sie es schon nicht einmal mehr sehen
können.

„Fensterlose Wesen“ im Leibnizschen Sinne hat es natürlich niemals


gegeben. Aber wir „Wandlosen“ sind nicht nur keine „Monaden“ ,
sondern geradezu deren Antipoden. Und ungleich akuter als das Leib-
nizsche Problem, durch welches Wunder die voneinander ausgesperr­
ten Einzelwesen doch noch miteinander „harmonieren“ könnten, ist
heute dessen Umkehrung: nämlich die Frage, a u f G rund wovon w ir
„ Kongruisten” es uns noch einreden können, w ir seien noch Einzelne
und noch w ir selber.

§ ii

Die Welt ausgestellt

Wenn wir behaupten, daß die Züge des von uns Portraitierten nun
endlich Umriß angenommen haben und deutlich hervortreten, so
klingt das vielleicht etwas unglaubhaft. Denn was sich herausgestellt
hat, ist ja gerade, daß die differentia specifica des Konformisten in
Undeutlichkeit besteht, daß ihm jede scharfe Kontur fehlt; daß alle
jene Grenzlinien, die uns selbstverständlich scheinen (die zwischen
Spontaneität und Zwang, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen
Benötigen und Genötigt-werden, zwischen Innen und Außen, zwi­
schen Individuum und Individuum) in der Existenz des Konformisten
total verwischt sind.
Aber ein Ergebnis stellt auch das natürlich dar, zur positiven Be­
stimmung des Nebels gehört eben dessen Unbestimmtheit. Und da wir
nun also wissen, was es mit dem Konformisten auf sich hat, sind wir
vielleicht auch in der Lage, jene Tatsache, die uns zu Beginn so frap­
piert und die unsere Überlegungen in Gang gebracht hatte, aufzuklä­
ren. Hiermit kehren wir also zu unserer ursprünglichen Frage zurück.
Gelautet hatte diese: Wie kommt es, daß gewisse Erzeugnisse, die zw ei­
fellos nicht von Angestellten herrühren, doch so wirken, als wenn sie
das Werk anstelligster Angestellter w ä re n ? '
Gehen wir, um diese Frage nun zum zweiten Male in Angriff zu
nehmen, von einen Ausdruck aus, mit dem wir vorhin die Dinge unse­
rer heutigen Welt belegt hatten. Wir hatten sie „sirenisch“ genannt.
Warum?
Weil sie werbende Dinge sind.

Nun, daß Werbung, namentlich kommerzielle, in unserer heutigen


Welt einen Umfang angenommen hat, der noch vor kurzem unvor­
stellbar gewesen wäre, das weiß natürlich jedermann. Aber wie zutref­
fend dieser Gemeinplatz auch sein mag, ausreichend ist er nicht, den
Nagel auf den Kopf treffen wir so lange nicht, als wir in der Werbung
nur eine Tatsache neben anderen sehen. Und das ist sie nicht.
Denn wir leben nicht zwischen Dingen, die stumm und gleichgültig
herumstehen. Zu glauben, es gebe einerseits unsere „W elt“ , anderer­
seits die Möglichkeit, dieses oder jenes ihrer Stücke durch Werbung
herauszustellen, wäre naiv. Seit sich alle Gegenstände aller Klassen an
den Gegenständen der heute dominierenden Klasse: nämlich an denen
der Warenklasse, infiziert haben, gilt vielmehr:
Unsere Welt ist, und zwar von vornherein, ein Universum von Wer­
bungen. Es besteht aus Dingen, die sich anbieten und die uns auffor­
dern. Werbung ist ein Modus unserer W elt'6 In ontologischer Sprache:
Als „ seiend” setzt sich allein dasjenige durch, als „seiend“ wird allein
dasjenige anerkannt, was im bellum omnium contra omnes stärkere
Exhibitions- und Attraktionskraft ausstrahlt als anderes. Negativ for­
muliert: Dasjenige, was nicht wirbt, was nicht ruft, was sich nicht
zeigt, was am Lichte der Reklame nicht teilhat, das hat keine Kraft, uns
zu reklamieren, das nehmen wir nicht wahr, das erhören wir nicht, das
machen wir nicht mit, das erkennen wir nicht, cias verwenden wir
nicht, das verzehren wir nicht - kurz: das bleibt „ontologisch unter­
schwellig“ , im pragmatischen Sinne ist das nicht „ d a ” . Als Heidegger,
gleich ob zu Recht oder zu Unrecht, das blutleer gewordene Wort
„Phänomen“ durch seine Deutung „das sich Zeigende“ neu belebte,
da hatte er zwar nichts weniger im Sinn als die Phänomenalität der
werbenden Waren; aber auf diese trifft seine Deutung zu. Und da
deren Klasse zum Vorbild aller anderen Gegenstandsklassen geworden
ist, gilt seine Deutung sogar universell: Was „in Betracht" kommen
will, das muß sich zeigen. D ie Welt ist nun zur „ Ausstellung" gewor­
den, und zwar zu einer Werbeausstellung, die nicht zu besuchen un­
möglich ist, weil wir uns immer schon ohnehin in ihr befinden. Daß
z.B. heutige Staatsmänner politische Wirklichkeit allein dann gewin­
nen können, wenn sie, geschminkt mit „political sex appeal", vor die
Fernsehkameras treten, das ist uns ja erst neulich wieder bei den ameri­
kanischen Präsidentschaftswahlen bestätigt worden. 17 Die Schändlich­
keit dieses Ausdrucks wird schon nicht mehr gespürt. Vielmehr wird
er bei der Abwägung der Reizchancen von konkurrierenden Amtskan­
didaten ganz allgemein verwendet.
Natürlich ist die Sexualisierung der heutigen Werbewelt, die ja ge­
rade in den Ländern mit puritanischen Tabu-Überlieferungen ihren
Höhepunkt erreicht hat, nichts als eine Bestätigung dieser heute gel­
tenden Gleichung „Sein = Werbend-sein“ . Was hier vor sich geht, ist
ein ganz normaler Produktionsprozeß: Die als natürlicher Rohstoff
und sogar gratis zu gewinnende „geschlechtliche Reizqualität“ wird
umgearbeitet, und zwar in einen Warenreiz; und als solcher nun ver­
wendet. Brüste werben nun für Stahl, Schenkel für Whisky. Zur ei­
gentlichen Eigentümerin des weiblichen Leibes, mindestens dessen
Reizbildes, ist nun die Werbeindustrie geworden. In gewissem Sinne ist
die Tatsache, daß auch Frauen einen Leib besitzen (abgesehen davon,
daß die Konkurrenz mit den Reizbildern, namentlich in voyeurhaft
gemachten Ländern, außerordentlich scharf ist), nur noch zufällig,
und von nur noch sekundärer Wichtigkeit. - In demjenigen Augen­
blicke, in dem die Verarbeitung des Rohstoffes „Sexualreiz“ in einen
Warenreiz Erfolg zu versprechen scheint, verliert dieser Reiz seine
Tabuierung: Die heutige Vorurteilslosigkeit in Sexualdingen, nament­
lich in den USA, ist ein Kind der Werbefreiheit, der Zusammen­
bruch der Prüderie, auf dessen „Fortschrittlichkeit“ man so stolz ist,
eine ausschließlich kommerzielle Tatsache. Und daß das Wort
„Werbung“ ursprünglich einen eng erotischen Sinn gehabt hatte, das
ist, seit die Welt als ganze erotisiert ist, dem Bewußtsein völlig ent­
schwunden. ' 8
Umgekehrt beruht die Lust- und Glanzlosigkeit, um nicht zu sagen:
die Irrealität, die westlichen Besuchern in östlichen Städten immer
w ieder aufgefallen ist, weitgehend auf dem A u sfall der Warenreklame.
D ieser A usfall ist nur natürlich, denn daß Länder, in denen Angebote
hinter Nachfrage noch zurückbleiben und in denen sich kein Produkt
auf einen „K a m p f ums D asein“ mit seinesgleichen einzulassen
braucht, auch keine sich selbst ausstellenden Waren benötigen, das
liegt ja auf der H and. Was dort fehlt, ist die, die kapitalistische W elt
bunt und leuchtend machende, K riegs- und Köderbem alung der K o n ­
kurrenzkämpfer. D a der aus dem W esten kommende Besucher daran
gewöhnt ist, „W e lt“ und „W erbew elt“ zu identifizieren, macht die
werbungslose Welt auf ihn nicht nur den Eindruck der visuellen, aku­
stischen und erotischen O de, sondern eben sogar den der U nw irklich-
keit.I?
Natürlich ist m it alledem nicht behauptet, daß W erbung grundsätz­
lich penetrant sei, daß das Sich-Zeigen unter allen Umständen grell
oder kreischend vo r sich gehen müsse. Im Gegenteil: vieles spricht
dafür, daß die Grellheit der letzten Jahrzehnte nur die Kinderkrank­
heit der Reklame gewesen ist. In ihren Reifezustand scheint die W er­
bung erst in dem jenigen Augenblick eingetreten zu sein, in dem es ihr
aufzufallen begann, daß sie durch arrangierte Unscheinbarkeit, als
scheinbar unsichtbare und scheinbar stumme, als „hidden and sublimi-
nal persuasion“ viele ihrer Ziele mindestens ebensogut verwirklichen
kann wie als spektakuläre, wenn nicht sogar besser; und seit sie des­
halb auf ihre Spektakel zu verzichten angefangen hat. Es gibt bereits
Werbefirmen, die nur noch ungern verraten, daß sie werben. O bw ohl
die Gleichung „Sein = W erbend-sein“ auch für diese Firmen natürlich
noch bindend ist, machen diese sich nun doch die Maxime „<li5 |ir] öv“
zu eigen, d .h .: die M axim e: „H andle so, als wärest du nicht d a !" U nd
es kom mt sogar schon vor, daß Firm en fü r diese ihre eigene Unschein-
barkeit werben und daß sie diese mit unscheinbaren M itteln als Z e i­
chen ihrer D iskretion und ihres guten Geschmacks anpreisen. Im
W örterbuche der Werbelügen hat das W ort „d isk re t“ den Sinn von
„hinterrücks“ und das W ort „geschm ackvoll“ den Sinn von „m euch­
lings“ . D e r Betrug wird fein, selbst bei Freiheitsberaubung geht nichts
über Kultiviertheit. Es wäre durchaus nicht unberechtigt, diese ganze
Werbetechnik als eine immense „non violent action“ , genauer: als eine
„non violent aggression“ zu bezeichnen. Den Nam en „n on violent
action“ hat sich bekanntlich eine O ppositionsbewegung gegeben, de­
ren Anhänger davon überzeugt sind, die Schlagkraft von Aggressoren
dadurch neutralisieren zu können, daß sie dieser keinen Widerstand
entgegensetzen. Diese Bewegung ist das spiegelverkehrte Bild der
„non violent aggression“ , der wir pausenlos ausgesetzt sind. Denn der
Angriff der Werbewelt, nein, des gesamten konformistischen Systems,
geht eben so non-violently vor sich, daß er unseren Widerstand von
vornherein neutralisiert. - Die zwei Aktionen gehören als Erscheinun­
gen unseres Jahrhunderts zusammen, beide sind charakteristisch für
die heutige Löschung der Alternative „aktiv-passiv“ .

§ 12

Der Mensch angestellt

So also sieht unsere heutige Welt aus. Und da, akademisch gespro­
chen, ontische Veränderungen von so revolutionärem Ausmaß ontolo­
gisch nicht folgenlos bleiben können, bedeutet das, daß das „In-der-
werbenden-Welt-sein“ einen ontologischen Status eigener Art dar­
stellt; daß wir, die wir als Mitbürger einer werbenden Welt leben, in
einem anderen Sinne „da“ sind, als unsere Eltern und Voreltern „da“
gewesen waren: daß sich unser Leben als ein pausenloses „ Umworben­
sein“ abspielt. - Aber was bedeutet das wieder? Was bedeutet das für
uns Heutige?
Darüber kann es nun keinen Zweifel mehr geben. Da uns das Bild
des „Kongruisten“ nun vertraut ist, da wir nun wissen, daß wir als
„Kongruisten“ unfähig geworden sind, zwischen Spontaneität und
Zwang, zwischen Benötigen und Genötigt-Werden zu unterscheiden,
lautet die Antwort: „W ir leisten der Werbung Folge“ . Und das bedeu­
tet wiederum: „ Wir leben so, als wenn w ir zum Mitmachen effektiv
angeworben wären, als wenn w ir Auftragsarbeit leisteten.“
Aber warum verwenden wir noch immer dieses ängstliche „als
wenn“ ? Haben wir diese Zurückhaltung wirklich noch nötig? Hängt
denn die Antwort auf die Frage, ob wir angeworben sind oder nicht,
ob wir Auftragsarbeit leisten oder nicht, wirklich davon ab, ob wir
ausdrücklich zur Mitarbeit angeheuert worden sind? Oder nicht viel­
mehr davon, ob wir die Freiheit besitzen, der Werbung zu w ider­
stehen?
Allein davon. Außer der Widerstandsfreiheit gibt es hier kein Krite­
rium.
Und deshalb darf die Antwort anders lauten. Muß sie sogar anders
lauten. Da wir diese Widerstandsfreiheit nicht besitzen, gilt: „W ir sind
beauftragt“ und: „W ir sind angeworben.“
Regel: Wenn Wesen, die der Freiheit, der Werbung zu widerstehen,
beraubt sind, umworben werden, dann werden sie dadurch angewor­
ben. Ihr Dasein ist dann „Angeworben-sein“ .

Pausieren wir hier für einen Augenblick. Denn nach den vielen
Kreuz- und Querwegen, auf denen wir, um uns auf dem Terrain des
Konformismus umzusehen, herumgezogen sind, haben wir nun doch
wieder den Punkt erreicht, von dem wir ausgegangen waren: das Pro­
blem des „Angestellt-seins“ . Vom „Angeworben-sein“ zum „Ange-
stellt-sein“ ist es wirklich nur ein verbaler Schritt, statt von „A nge­
worben-sein“ dürfen wir ruhig von „Angestellt-sein“ sprechen. Der
Gleichung, auf die wir von vornherein abgezielt hatten, steht nun
nichts mehr im Wege. Sprechen wir sie nun endlich aus: „ Unser kon­
formistisches Sein ist Angestellt-sein” .

§13

Falsche Zustellung, Aktivitätsfälschung und


Verschiebungsmechanismus

Wie gesagt, Juristisches enthält diese Formel nicht, nach Kontrakten


zwischen „Sozialpartnern“ , nach Regelungen oder Besiegelungen un­
seres Angestellt-seins würden wir vergeblich suchen. Aber die Tatsa­
che unserer Abhängigkeit wird durch diesen Mangel nicht erschüttert,
sondern umgekehrt erhärtet. Denn zum Wesen (sofern ein Trick „W e­
sen“ heißen darf) dieser eigentümlichen „H err und K n ech t-B ezie­
hung gehört es, daß sie allem Kontraktlichen vorausliegt. Und das
bedeutet, daß der „H err“ es sich ersparen kann, den „Knecht“ , den er
ja ohnehin schon festgelegt hat, durch einen ausdrücklichen Vertrag
noch einmal festzulegen und zu binden.
Natürlich gibt es, da der Werbe-Charakter unserer Welt von der
Hegemonie unserer Warenwelt herrührt, kein deutlicheres Zeugnis
unseres Angestellt-seins als die Funktion, die wir als Kunden und
Konsumenten ausüben: Wenn wir diejenigen Produkte, auf deren Ver­
kauf und Weiterproduktion die Produzenten angewiesen sind, auf
Grund der Werbung, d.h. auf Grund der uns aufgenötigten Benöti-
gung, erwerben, wenn wir diese Produkte durch Verbrauch vernichten
und nach der Vernichtung schließlich neue Produkte benötigen, dann
erfüllen wir damit einen uns von dem Produzenten erteilten Auftrag
bzw. eine ganze Kette von Aufträgen. Angestellt sind w ir als Liquidie-
rer. „Seid dankbar den Essern“ , heißt es in einem apokryphen molus-
sischen Text, „den Schläfern und den Nichtschläfern. Sie sind Heimar­
beiter, die nicht wissen, daß sie Heimarbeit treiben, und trotz ihres
Nichtwissens sind sie treu. Bei Tische dienen sie denjenigen, die, um
weiterzuernten, die Vertilgung ihrer Produkte benötigen; als Schläfer
den Bettenfabrikanten, die morgen anstelle der vernutzten Betten neue
zu liefern wünschen; und als Schlaflose halten sie die Pillenerzeugung
in Gang. Denn ihren Hunger haben die Götter allein deshalb geschaf­
fen, w eil sie es nicht fü r gut befanden, daß die Produktion allein sei." -
Wie überspitzt dieses theologische Aper;u auch klingen mag, sein
Wahrheitskern ist unbestreitbar. Und daß es auch heute gilt, das be­
zeugt besser als jeder umständliche Beweis ein einziger verräterischer
Ausdruck, ein Ausdruck, den seit einem halben Jahrhundert jede ame­
rikanische Tageszeitung aufs unbefangenste verwendet, um denjenigen
zu bezeichnen, der nur lustlos dazu bereit ist, als Angestellter die ihm
erteilten Kauf- und Konsumaufträge zu erfüllen: der moralisierende
Ausdruck „lazy customer".

Gewiß ist es wahr, daß uns diese Aufträge als Aufträge zumeist
unkenntlich bleiben, daß wir unser Verwenden und Aufbrauchen als
Pflichterfüllung und als Arbeitsleistung fast niemals durchschauen.
Aber diese unsere Blindheit als Einwand gegen die Realität unseres
Anstellungsverhältnisses ins Feld zu führen, das wäre, da ja dieses
Verhältnis seine Festigkeit und seine Unkündbarkeit gerade unserem
falschen Bewußtsein verdankt, natürlich sinnlos.
Durchaus sinnvoll ist es dagegen, nein sogar unerläßlich, zu fragen,
mit welchen Mitteln unser falsches Bewußtsein erzeugt wird. Unerläß-
lieh deshalb, weil sich der in der konformistischen Welt arbeitende
Betrugsmechanismus von den uns aus früheren Zeiten vertrauten Be­
trugsmechanismen unterscheidet. Wie also kommt unser falsches Be­
wußtsein zustande?
Erst einmal negativ: Nicht dadurch, daß uns falsche Theorien oder
„Ideologien“ eingeflößt würden. Ausschlaggebend sind Ideologien je­
denfalls nicht mehr, das heute bereits zum Schlagwort gewordene
Wort „Entideologisierung” ist durchaus berechtigt. Nicht berechtigt,
nein sogar betrügerisch, ist dagegen die Genugtuung, mit der man
dieses Wort, so als zeigte es das Ende des Betrugs an, zu verwenden
liebt. Von einem „Ende des Betrugs“ kann keine Rede sein. Wenn
Ideologien nun abzusterben beginnen, so umgekehrt gerade deshalb,
weil sie überflüssig gemacht worden sind; weil sie nun nämlich - damit
sind wir bei der positiven Bestimmung des Betrugsmechanismus -
einem Prinzip weichen dürfen, das ungleich betrügerischer ist als das
„ideologische“ : dem der „falschen Z u s t e llu n g Was ist mit diesem
Ausdruck gemeint?
Die Taktik der heutigen Auftraggeber, die Aufträge, deren Erfül­
lung sie von uns erwarten, falsch zu klassifizieren, uns diese in getarn­
ter Version zuzustellen, unter Pseudonymen, mit Etiketten, deren
Aufschriften die wirkliche Bewandtnis der Aufträge nicht nur ver­
schweigen, sondern diese ausdrücklich in eine andere Bewandtnis um­
lügen: uns nämlich die diversesten Spielarten sogenannter „Freizeitge­
staltung“ , also von Nicht-arbeiten, einreden. Den jedermann bekann­
ten „Warenfälschungen“ entsprechen heute die (mit diesen aufs engste
zusammenhängenden) „Aktivitätsfälschungen” , die zwar als Prinzip
unbekannt, aber gerade deshalb um so verhängnisvoller sind. Wie ver­
hängnisvoll, das beweist z.B. die falsche Etikettierung „Brausebad“ ,
die die Vergasungsräume in den Vernichtungslagern zierte. Durch
diese Aufschrift wurde der Arbeitsauftrag, der wirklich gemeint war,
nämlich der Auftrag „Werde Abfall“ in einen Freizeitauftrag, nämlich
in den „Erfrische dich durch eine Dusche!“ , umgewandelt. Das Ergeb­
nis ist bekannt.
Dieses Beispiel genügt, um das Mißverständnis des Ausdrucks „fal­
sche Klassifizierung“ zu verhindern. Wer in (gleich ob sachgerechten
oder -ungerechten) Klassifikationen lediglich von Akademikern an
Schreibtischen post festum durchgeführte Einordnungen sieht, nur
theoretische, und deshalb angeblich folgenlose Denkoperationen, der
hat über die pragmatische Bedeutung des Denkens niemals nachge­
dacht. Der säuberlichen Unterscheidung zwischen „wirklichen Vor­
gängen“ hier, und nachträglichen, „bloß theoretischen“ , und deshalb
folgenlosen „Klassifikationen“ dort entspricht in praxi nichts - womit
freilich nicht bestritten ist, daß diese Unterscheidung oft ungeheuer
praktisch ist. Gleichviel, Klassifizierungen sind immer schon prakti­
sche Maßnahmen; und viele von ihnen gehen sogar, statt der Wirklich­
keit nachzuhumpeln, dieser voraus. Und zwar deshalb, weil ob und
wie wir Aufträge ausführen, davon abhängt, als was (und das bedeutet
eben: wie klassifiziert) sie uns zugewiesen werden. Und etwas Folgen­
schwereres, mithin Wirklicheres, als dieses „O b und Wie“ läßt sich ja
wohl kaum vorstellen.
Nicht mit Hilfe eines uns separat gelieferten „ Überbaus“ werden
wir also belogen, sondern mit Hilfe von etwas, was der Realität bereits
„eingebaut“ ist. Die heutige Lüge befindet sich immer schon „a lib i“ ,
d. h. anderswo, eben immer schon versteckt im Inneren der Praxis
selbst. Und dieses Alibi ist die größte Chance, die der Lüge blühen
kann: Da der Betrug nun auf Sonderexistenz verzichtet hat, also nicht
mehr als identifizierbarer oder widerlegbarer Lügensatz oder als
selbstbewußt ausgebreitete Doktrin auftritt, ist er nun imstande, genau
so zu handeln, wie sein klassischer Meister, der im Dunkel der Höhle
Polyphem auflauernde Odysseus, gehandelt hatte, nämlich in schein­
barer Bescheidenheit zu lügen, daß er „niem and“ sei. Und durch die­
ses sein angebliches Niemand- und Nicht-sein kann auch er seine Geg­
ner nun blenden und über diese triumphieren. -
Vollends deutlich wird diese Taktik der Umfälschung von Auftrags­
arbeit in Freizeitbeschäftigung dann, wenn wir sie als Stück eines grö­
ßeren Ganzen, eines breiteren Betrugssystems, erkennen. Dieses breite
System ist der „ Verschiebungsmechanismus“ . Was verstehe ich dar­
unter?
Einen Mechanismus, dessen Prinzip es ist und dessen Leistung darin
besteht, die Irreführung systematisch zu regulieren, nämlich alle Akti­
vitäten falsch einzuordnen. Und zwar so, daß die in Wahrheit der
Klasse A zugehörenden Aktivitäten als solche der Klasse B, die in
Wahrheit der Klasse B zugehörigen als solche der Klasse C auftreten,
u. s. f. D a A in die Sparte B verschoben wird und B in die Sparte C,
ist die Wahl des Ausdrucks „Verschiebungsmechanismus“ ein­
leuchtend.
Nichts wäre in der Tat falscher als zu glauben, daß nur unser „A r ­
beiten“ der falschen Klassifizierung zum Opfer falle. Ebenso gibt es
die Umkehrung dieses Vorgangs, ebenso üblich ist es, Aktivitäten, die
in Wahrheit keine „Arbeiten“ sind, als „Arbeiten“ auszugeben. Nach
Beispielen für solche Umkehrung brauchen wir nicht zu suchen, die
beiden klassischen heißen Auschwitz und Hiroshima. Diese Vernich­
tungen, die in Wahrheit natürlich Taten, und zwar Untaten gewesen
waren, waren ja denjenigen, die diese Taten zu begehen hatten, als
„ Arbeiten“ bzw. ,,jobs“ zugewiesen worden. Welche Folge diese fal­
sche Klassifizierung nach sich gezogen hat - ich meine nicht die letzte
Folge: nicht Schutt und Asche, sondern die vorletzte: die Wirkung auf
die Täter - das ist ja bekannt. Da diese als Kreaturen des industriellen
Zeitalters gelernt hatten, daß Arbeit niemals „olet“ , nein noch nicht
einmal stinken kann; und daß sie eine Beschäftigung ist, deren End­
produkt uns und unser Gewissen grundsätzlich nichts angeht, erledig­
ten sie eben die ihnen mit dem Etikett „Arbeit“ zugewiesenen Massen­
mord-Aufträge genau so widerspruchslos wie jede andere Arbeit. Wi­
derspruchslos, weil mit bestem Gewissen. Mit bestem Gewissen, weil
ohne Gewissen. Ohne Gewissen, weil durch die Art der Zuweisung
vom Gewissen absolviert. „O ff limits für das Gewissen.“
B statt A, und C statt B. Die Entsprechung ist perfekt. So wie da­
mals das Handeln in die Klasse „A rbeit“ verschoben wurde (und na­
türlich in ähnlichen Fällen auch heute verschoben wird), so wird unser
Arbeiten häufig in die Klasse „Freizeitgestaltung“ verschoben. Und
sowenig Bombenflieger oder Liquidationsbeamte wußten, daß sie han­
delten, und was sie als Handelnde da auf sich nahmen, so wenig wissen
wir als konformistische Kunden und Konsumenten - denn wir glauben
ja, unsere Freizeit frei zu verwenden -, daß wir einen Auftrag ausfüh­
ren, und welchen Auftrag wir da ausführen. Absicht und Wirkung der
zwei Verschiebungen sind also identisch, die Entsprechung ist perfekt:
Hier wie dort wird unser hemmungsloses Mitmachen gesichert, hier
wie dort Widerstand, sofern solcher sich rühren sollte, im Keim er­
stickt. Und vieles, was wir zu tun zögern oder direkt ablehnen w ür­
den, wenn es uns nach Feierabend als ausdrückliche Auftragsarbeit
zugemutet werden würde, erledigen wir, wenn es uns falsch klassifi­
ziert zuerteilt wird, ohne Widerspruch, nein sogar eifrig, nein sogar
mit Genuß.
Seit mehr als hundert Jahren hat man versucht, den Arbeiter durch
Lieferung von „falschem Bewußtsein“ daran zu hindern, zu erkennen,
daß er Arbeiter ist - denn auf nichts anderes war ja die Taktik, die
Ausbildung seines Klassenbewußtseins zu drosseln, hinausgelaufen. Es
läge nahe anzunehmen, daß die unglaubliche Verbesserung, die das
Leben des Arbeiters in den letzten Jahrzehnten erfahren hat und die in
manchen Ländern sogar den Ausdruck „Proletarier“ schon ausge­
löscht hat, auch dieser Verhinderungsaktion ihr Ende bereitet habe.
Das Gegenteil ist der Fall. Denn die Verhinderungsaktion hat sich so
ungeheuer verbreitet, daß nun niemand mehr nicht zu den Opfern des
Betrugs gehört. Warum, das liegt nun ja auf der Hand. Da einerseits
Konsum zur Auftragsarbeit geworden ist, da es andererseits nieman­
den gibt, der Nicht-Konsument, mithin Nicht-Angestellter wäre, ist es
erforderlich geworden, uns allen d ie Einsicht in unseren Status und in
die Art unserer Beschäftigung unmöglich zu machen. Das bedeutet
aber, daß w ir, welcher Klasse w ir auch entstammen mögen, durchweg
zu Enkeln der Proletarier von gestern geworden sind: zu Betrogenen.
Gewisse Publizisten scheinen es niemals überdrüssig zu werden, mit
leisem Vorwurf, zuweilen sogar mit Schadenfreude, zu wiederholen,
daß der Lebensstandard des heutigen Arbeiters mindestens ebenso
hoch sei wie der gestrige Lebensstandard der bürgerlichen Klasse. Die
Feststellung ist gewiß wahr: vermutlich sogar eine Untertreibung.
Wahr freilich nur dann, wenn man sie nur als eine Hälfte der Wahrheit
sieht. Denn ebenso wahr ist es, daß der „Wahrheits-Standard“ (wor­
unter ich nicht den Maßstab unserer subjektiven Wahrheitsliebe
verstehe, sondern, analog zum „Lebensstandard“ , das Maß der uns
zugestandenen Wahrheit) - daß der „ Wahrheitsstandard“ der heuti­
gen, angeblich klassenlosen Konsumgesellschaft als ganzer mindestens
ebenso tief ist wie der Wahrheitsstandard des Proletariats des vorigen
Jahrhunderts, wenn nicht sogar noch tiefer. Die unbestreitbare An-
ähnelung der Klassen aneinander ist nicht nur in Form eines Aufstiegs
vor sich gegangen, also von unten nach oben, sondern gleichzeitig auch
in Form eines Abstiegs, also von oben nach unten.
§ 14
Die nach-vertragliche Knechtschaft. Wir sind Geheimagenten

Daß wir als Arbeitende unseren Arbeitskontrakt in der Tasche tra­


gen und daß wir als arbeitsrechtliche Partner auftreten können, das
erfüllt uns Heutige nicht grundlos mit Stolz. Verglichen mit der Lage
unserer versklavten oder verknechteten Vorfahren scheint unsere Lage
tatsächlich identisch mit Freiheit. Aber was wir dabei ignorieren, ist,
daß diese unsere heutige „Freiheit“ allein deshalb existiert, weil sich an
die Stelle der „vor-vertraglichen Knechtschaft“ eine „nach-ver­
tragliche Verknechtung“ geschoben hat; eine Knechtschaft, die gerade
dann bedingungslos ist, wenn wir nicht arbeiten; und die bedingungs­
los deshalb ist, weil wir noch nicht einmal frei genug sind, um sie zu
spüren - und diese nach-vertragliche Knechtschaft müßte uns eigent­
lich gegen unseren Freiheitsstolz furchtbar skeptisch machen. In der
Tat ist die Lage, in die wir hineinmanövriert worden sind, die totale
Umkehrung dessen, woran wir bis heute gewohnt gewesen waren.
Nicht unter dem „Fluch der A rbeit“ leben w ir heute, sondern unter
dem der Muße. Während es uns bis heute selbstverständlich gewesen
war, unsere Berufsstunden als die „Insel der Unfreiheit“ innerhalb
unseres vergleichsweise freiem Daseins zu betrachten, sind nun gerade
diese zur „Insel der Freiheit“ geworden - jedenfalls sind wir mit iden­
tifizierbaren und juristisch gesicherten Ansprüchen allein dann ausge­
stattet, wenn wir arbeiten. Die geregelte Arbeitszeit gewährleistet uns
ungleich größere Freiheit als die scheinbar keiner Regelung unterste­
hende und darum jeder Geheimregelung und Geheimfüllung offenste­
hende Freizeit. Wenn die Fabriksirenen den Arbeitsschluß ankündigen,
dann kündigen sie damit immer zugleich an, daß nun die unentrinn­
bare Alleinherrschaft d er sirenischen Massenmedien- und Werbewelt
einsetzt; daß wir nun dieser unterstehen, daß nun die Stunden unseres
schranken- und vertragslosen Angestelltseins beginnen, die Stunden,
durch deren Schlamm w ir uns im Schweiß unseres Mußeangesichts
hindurchzukämpfen haben. 20 Gleich, was uns aufgedrängt wird, ob
unter Wasser schreibende Kugelschreiber oder Herrenmenschenstolz
oder Schnulzen, die uns versichern, Liebe blühe nur am Mississippi,
oder bei Weltuntergang garantiert frisch bleibende Bunkerkonserven -
keine Klausel regelt, was uns von den werbenden Mächten, als deren
angeworbene Angestellte wir unsere Nichtarbeits-Zeit verbringen, zu­
gemutet werden darf und was nicht. Wenn der colored Baumwoll-
pflücker, mürbe gemacht durch die als Unterhaltung gelieferte Wer­
bung, schließlich den auf Hochglanz polierten Farbfernseh-Apparat in
seiner Bruchbude aufstellt; oder wenn mein Nachbar die ihm hundert
Male in die Ohren gepumpte Mississippi-Schnulze „von sich aus“ zu
trällern beginnt und sie schließlich, um sie ganz und gar als sein Eigen
und sich ganz und gar als ihr Eigen betrachten zu können, im Platten­
laden erwirbt, dann gehorchen die beiden so bedingungslos, so wider­
spruchslos und so konsequenzenreich, wie sie es in jenen Stunden, die
sie naiv als ihre einzigen „Arbeitsstunden“ ansehen, niemals tun wür­
den. „Konsequenzenreich“ : weil die Verknechtung, auf die sie sich
durch diesen Gehorsam einlassen, nicht etwa nur ein momentanes
Einzelereignis darstellt. Durch den Erwerb werden sie mit dem Erw or­
benen vielmehr „ kongruent“ , werden sie nun ebenso abgeschmackt,
ebenso imbezill und ebenso vulgär wie ihr Eigentum; die Unfreiheit
ihrer Freizeit verseucht ihre Existenz als ganze, und überdies endgültig.
Was von ihnen gilt, das gilt mehr oder minder von uns allen. Da wir
- denn darauf beruht ja unsere, „Freiheit“ genannte, Freiheitsillusion -
doppelt unfrei sind: nämlich der Freiheit beraubt, unter unserer Un­
freiheit zu leiden, erfüllen wir die Aufgaben, zu denen w ir als Umwor­
bene vetyflichtet sind, ohne sie als Aufgaben zu erkennen, ohne zu
murren. Was uns Kunden so einschmeichelnd als „Dienst am Kun­
den“ vorgespielt wird, ist nichts anderes als das System der Maßnah­
men, durch die wir zu unseren Dienstleistungen angeworben werden;
und mit seiner Beteuerung, „unser Wunsch“ sei „ihm Befehl“ , meint
der Verkäufer natürlich umgekehrt, daß wir seinen oder der Firma
Befehl in einen „eigenen Wunsch“ umwandeln sollen. Zumeist setzt er
dabei sogar voraus, daß wir diese Umwandlungsarbeit automatisch
erledigen, oder bereits pauschal für alle Zukunft erledigt haben. Fast
niemals wird von uns direkt verlangt, daß wir dies oder jenes tun,
sondern fast immer, daß wir wünschen, dies oder jenes zu tun. Nichts
ist für die in der „nach-vertraglichen Knechtschaft“ erteilten Diktate
so charakteristisch wie dieser „U m w eg über den Wunsch“ - wenn von
einem „Umweg“ überhaupt die Rede sein darf, denn einen kürzeren
Weg zu unserem Gehorsam gibt es nicht. Er ist der kürzeste, weil der
glatteste; der glatteste, weil Widerstand auf ihm nicht ausbrechen
kann; und Widerstand kann auf ihm deshalb nicht ausbrechen, weil es
(aus psychologischen Gründen, denen nachzugehen hier zu weit füh­
ren würde) kein „das möchte ich nicht wünschen“ gibt, das dem „das
möchte ich nicht tun“ entspricht. Aber gleich ob Weg oder Umweg,
durch dieses Verfahren ist immer zweierlei zugleich sichergestellt: so­
wohl unser strikter Gehorsam wie unsere totale Freiheitsillusion. Nein
sogar - und mehr kann man nun wirklich nicht verlangen - noch etwas
Drittes: Denn vor allem sind es ja die Befehlenden selbst, die von
diesem „Um wege“ profitieren; und zwar nicht nur (was sich von
selbst versteht) geschäftlich, sondern auch moralisch. Haben diese
nämlich unsere Wünsche erst einmal produziert, dann ist es ja effektiv
wahr (nämlich wahr geworden), daß sie uns nichts anbieten, was unse­
ren Wünschen nicht entspräche. Auf Grund dieser herbeigelogenen
Wahrheit können sie sich nun ja wirklich mit dem besten Gewissen das
beste Gewissen einreden: sich nämlich weismachen, daß sie uns und
unseren Ansprüchen mit demjenigen Respekt entgegenkommen, den
sie uns schulden.
Eine schönere Welt, ein innigeres Einverständnis zwischen den zwei
Parteien läßt sich also gar nicht vorstellen. Beide haben das beste
Recht, ihre Hände in Unschuld zu waschen, und sogar einander. Und
wenn es einen Zeitgenossen gäbe, der Brechtsche Hohnkraft besäße:
die Kraft, eine sozialkritische Operette zu schreiben, die, statt U n­
wirkliches hervorzuzaubern, den faulen Zauber der heutigen Wirk­
lichkeit vorführen würde - dieser Mann dürfte sein Libretto mit einem
apotheotisch doppelchorigen Finale abschließen, in dem die Werben­
den und die Angeworbenen in harmonischer Indignation die Existenz
von Zwang abstreiten und in harmonischem Credo die Freiheit der
Herrschaft als die Herrschaft der Freiheit lobpreisen würden.

Natürlich wird man einwenden, wir erfüllten die uns erteilten A u f­


träge mit Vergnügen: Wir genössen es, wenn der Coca Cola uns entge­
genschäume; und uns durch den Besitz und durch das Abspielen der
besagten Mississippiplatte in schwüles Heimweh versetzen zu lassen,
das sei ja die Erfüllung einer Sehnsucht. Wahr. Leider wahr. N ur ist
das kein Einwand. Oder genauer: N ur ist das der „gewünschte E in ­
w and“ , derjenige nämlich, den wir als Betrogene machen sollen - mit­
hin derjenige, der unsere Theorie bestätigt. Denn auch Gusto schützt
vor Knechtschaft nicht. Mit Genuß erfüllt uns die Durchführung der
Aufträge vielmehr allein deshalb, weil wir den Befehl, das Befohlene
selber zu wünschen, befolgt hatten; und weil die Regel, daß Wunsch­
erfüllung mit Genugtuung verbunden ist, ausnahmslos gilt: eben auch
dann, wenn es sich um die Erfüllung befohlener Wünsche handelt. In
der Tat gibt es kaum etwas, was den Arbeits- und Knechtschaftscha­
rakter unserer Auftragsarbeit so endgültig bestätigte wie „unser Ver­
gnügen“ . In Anführungszeichen setze ich die zwei Wörter aber des­
halb, weil der Selbstbetrug bereits mit der Verwendung des „besitzan­
zeigenden Fürwortes“ anhebt. Denn zwischen „unser“ und „unser“
besteht ein gewaltiger Unterschied. Nicht nur unseren Besitz zeigt das
Possessivpronomen an, sondern auch unser Besessen-werden. Die Rede
von „unserem Genuß“ ist um nichts wahrer als die von „unserer Ideo­
logie“ , von „unserem Konzentrationslager“ oder von „unseren Be­
dürfnissen“ . Wenn uns Ideologien eingeimpft werden, dann sind wir ja
nicht deren Eigentümer, vielmehr deren Eigentum, von diesen unter
Umständen sogar „besessen“ . Wenn wir als Konzentrationäre das La­
ger, in das wir gesperrt werden (von der in unseren Arm eintätowier­
ten Nummer zu schweigen) „unser“ nennen, dann meinen wir ja nicht,
daß es uns gehöre, sondern umgekehrt, daß wir ihm gehören. Wenn
wir der „Mozart-Unterwäsche“ nachjagen, dann sind wir ja nicht von
unserem Bedürfnis getrieben, sondern von dem Bedürfnis derer, die
unserer Bedürfnisse bedürfen und uns, um uns für die Hemdenbeliefe­
rung reif zu machen, mit dem Bedürfnis nach dieser Belieferung belie­
fern.
Und ganz das Gleiche gilt eben auch von unserem Vergnügen. Wenn
wir die uns gelieferte Ware genießen, dann sind Nutznießer unseres
Genießens nicht wir, sondern diejenigen, die uns genießen heißen. Der
„Um weg über den Wunsch“ ist immer zugleich auch der „Um weg
über den Genuß“ - und unser Genuß hat keine andere raison d ’etre als
die, unseren Auftraggebern zum Vergnügen zu dienen. Daß aber
Unsriges, das nur dazu da-ist, um zu dienen, im strengen Sinne nicht
„unser“ ist, das liegt auf der Hand. Sieht man diese Dienstleistung des
Genießens im größeren Zusammenhang, dann wird es evident, daß der
Raum unserer Unfreiheit größer und die Spielarten unserer Unfreiheit
zahlreicher sind, als wir es bis heute angenommen hatten. So gewiß die
Marxsche Bestimmung, die besagt, daß wir als Nicht-eigentümer unse­
rer Produktionsmittel unfrei seien, gültig bleibt, so gewiß ist es ande­
rerseits, daß diese Definition heute nicht mehr auslangt. Genau ge­
sprochen trifft sie nur ein Drittel unserer heutigen Unfreiheit. Um
diese vollständig zu beschreiben, müssen wir sie durch zwei Zusätze
ergänzen: erstens durch den Zusatz, daß wir heute auch von der Mit­
bestimmung über die Effekte unserer Produkte ausgeschlossen blei­
ben; was unter Umständen sogar dann gilt, wenn wir Eigentümer
unserer Produktionsmittel sind;” und zweitens durch den Zusatz, den
wir hier machen, und der besagt, daß unsere P roduktfreuden, da sie
Dienstfunktion haben, letztlich denjenigen gehören, die durch diese
Freuden bedient werden; mithin ebenfalls nicht unser Eigentum sind.
Bekanntlich sind derartige Machinationen von den Molussiern viel
unverblümter ausgesprochen worden, als das bei uns der Brauch ist.
Tatsächlich sind uns ein paar Zeilen überliefert, in denen die Verach­
tung, die die Produzenten den Konsumfreuden ihrer Kunden entge­
genbrachten, mit unüberbietbarem Freimut formuliert ist. In der frag­
mentarischen Hymne „K raft durch Freude“ , die die molussischen In­
dustriellen bei festlichen Gelegenheiten sangen, hieß es:
„ . . . unsere Kraft - durch ihre Freude“
und in der nächsten Strophe:
„ .. . denn uns soll’s munden,
wenn’s den Fischlein mundet“
und im Refrain, vermutlich aller Strophen :
„Lob und Preis den Konsumenten,
Unseren Geheimagenten!“
A uf dieses letzte Wort „Geheimagenten“ kommt es mir hier vor
allem an. Denn dieser Ausdruck trifft uns Konsumenten genauer als
jeder Terminus, den wir ad hoc erfinden könnten. In welchem unge­
wohnten Sinne er hier verwendet wird, das liegt ja auf der Hand.
Während als „Geheimagent“ gewöhnlich derjenige bezeichnet wird,
dessen Agentenfunktion denen geheimbleiben und von denen nicht
gewußt werden soll, in deren Mitte zu agieren ihm aufgetragen ist,
heißt der Konsument hier deshalb „ Geheimagent“ , weil er selbst die
Bewandtnis seines Agierens nicht wissen darf, w eil vor ihm selbst ge­
heimgehalten wird, daß er, w ofür er und fü r wen er, wenn er vor seiner
Schüssel sitzt, seine Tätigkeit ausübt. Aber wenn wir diese ungewöhn-
liehe Verwendung des Ausdrucks einmal verstanden haben, dann dür­
fen wir ihn übernehmen und behaupten: Als Konsumenten sind wir
Heutigen durchweg „ Geheimagenten“ . 11

Exkurs über die synthetischen Lustmörder

Bekanntlich hat die „Aktivitätsfälschung“ , also das Prinzip, uns


Auftragsarbeiten als „Genuß“ zuzuweisen, nun sogar auf diejenigen
Arbeiten übergegriffen, deren Arbeitscharakter sich nicht annähernd
so leicht tarnen läßt wie der unseres Auftragskonsums. Es gibt ja be­
reits Betriebe, in denen unsere Gerätebedienung durch schärfste rhyth­
mische Lautsprechermusik in eine Art „manuellen Tanzes“ und damit
in einen Genuß verwandelt wird. Daß die von dieser Musik Mitgeris­
senen ihr Arbeiten als Vergnügen, vielleicht sogar als „hinreißend“ ,
empfinden, ist durchaus begreiflich. Und trotzdem gilt auch von die­
sen Vergnügten, daß, moralisch gesehen, ihr Vergnügen nicht „ihres“
ist; vielmehr denen gehört, die den Köder des Vergnügens ausgewor­
fen hatten, denen es „mundet“ , „wenn’s den Fischlein mundet“ .
Natürlich ist diese Aktivitätsfälschung noch ungleich verhängnisvol­
ler als diejenige, der wir als Konsumenten zum Opfer fallen: Während
wir als Konsumenten nur uns selbst beschädigen, beschädigen wir als
Produzierende Andere; unsere als Genuß getarnte Arbeit hat, wie jede
andere heutige Arbeit, unabsehbare Folgen, Folgen, die nicht nur weit
über den Umkreis unserer eigenen Person, sondern auch über den
unserer Vorstellung hinausreichen. Ob es den Tatsachen entspricht -
dieses Gerücht kam mir neulich zu Ohren -, daß auch gewisse Teilpro­
zesse in Chemical Warfare Productions bereits musikalisch begleitet,
also verzuckert oder papriziert, ablaufen, das habe ich nicht nachprü­
fen können. Aber überraschen würde mich die Bestätigung dieses Ge­
rüchts nicht. Denn was hier vor sich ginge, das wäre ja nur folgerichtig,
nämlich eine „ doppelte Aktivitätsfälschung“ - womit ich meine, daß
hier der „Verschiebungsmechanismus“ als ganzer in Bewegung gesetzt
wäre. Und das wäre nicht nur nicht erstaunlich, erstaunlich wäre es
umgekehrt, wenn man darauf verzichten würde, das Prinzip so voll­
ständig wie irgend möglich durchzuführen. Unterstellen wir das Be­
richtete also, da es mit dem herrschenden Prinzip übereinstimmt, als
wahr. Was wäre hier vor sich gegangen?
Antwort: Man hätte denjenigen, die (durch Mitvorbereitung des
Massenmords) in Wahrheit „H andelnde“ sind,
1. ihr Handeln als „Arbeiten“ , und
2. ihr „Arbeiten“ als „L u st“
zugewiesen. Oder, rückwärts gelesen: Was als „L u st” aufträte, wäre
nur kostümiertes Arbeiten; und dieses wiederum nur kostümiertes
Handeln. Da nun aber der Gegenstand dieses Handelns „M o rd “ wäre,
wäre Mord auch der (freilich unsichtbare) Gegenstand ihres Arbeitens;
und damit auch der (wiederum unsichtbare) Gegenstand ihrer Lust.
Kurz: diese Arbeiter wären, wenn auch auf Umwegen, „Lustm örder“ .

„Die arglosesten Lustmörder der Welt“ , wird man höhnen, „denn


die Bewandtnis ihrer Lust in ihnen ja unbekannt. Warum unter sol­
chen Umständen die Sache also als ein Ärgernis betrachten?“
Worauf zu antworten wäre: Gerade w eil sie arglos sind, gerade weil
ihnen die Bewandtnis ihrer Lust unbekannt ist. Denn ihre Arglosigkeit
ist ja künstlich erzeugt, zu ihr sind sie ja verurteilt: nämlich von denje­
nigen, die Arglose benötigen, um mit deren Hilfe das Ärgste durchzu­
führen - und diese Funktion der Arglosigkeit ist eben das Ärgernis, an
dem wir Anstoß nehmen. Zu glauben, daß unser Zugeständnis ihrer
Arglosigkeit ihre Klassifikation als „Lustmörder“ widerrufe, das wäre
ein totales Mißverständnis. Wahr ist umgekehrt, daß die spezifische
Differenz dieser Lustmörder durch unser Zugeständnis erst deutlich
wird. Denn das Wesen des heutigen Lustmörders besteht eben darin,
daß diesem nicht mehr erlaubt ist, zu wissen, daß er Mörder ist, son­
dern nur noch, daß er „lustig” ist. Oder anders: Wir dürfen ruhig
zugeben, daß sich die „M ordlust“ der Arglosen, da sie nicht so sehr
Lust am Morden als Lust zum Zwecke des Mordens ist, von üblicher
Mordlust unterscheidet. Denn da das objektive Faktum, daß ihre Lust
in Mord kulminiert, durch diese Differenz nicht berührt wird, bleibt
auch die Rechtmäßigkeit der Ausdrücke „Lustmord“ und „Lustm ör­
der“ unangetastet. 13

Daß die arglos Gemachten durch ihre Pflichterfüllung die äußerste


Zerstörung verursachen können, das stellt aber nur die eine Hälfte des
Skandals dar. D enn dazu kommt, daß sie selbst zerstört sind. Sie
selbst, weil ihre Arglosigkeit - und das meine ich ganz unmetaphorisch
- eine künstlich erzeugte Persönlichkeitsspaltung darstellt, eine Spal­
tung, die w ir die „ schizophrene Arbeitskrankheit“ nennen wollen.
„G espalten“ sind die Arbeitenden nämlich deshalb, w eil der Bezug
zwischen ihrem A ffekt (hier die unschuldige Freude an der Arbeitsm u­
sik) und der Bewandtnis ihres A ffekts (hier der schuldig machenden
Produktion der Vernichtungsmittel) zu bestehen aufgehört hat; und
w eil diese K lu ft so endgültig ist, daß die so „G espaltenen“ den verlore­
nen Bezug nicht nur nicht mehr vermissen, sondern ihn zu vermissen
nicht mehr fähig sind.'4 „D e r eine lacht, der andere kennt den W itz“ ,
heißt es in Molussien.
V on „A rbeitskrankheit“ spreche ich aber deshalb, weil diese K ran k ­
heit die direkte Folge des heutigen Arbeitssystem s, eben der arbeitstei­
ligen Arbeit, ist. Daß die Regel, die hier gilt, trotz ihrer Einfachheit
niemals form uliert worden ist, ist beinahe unbegreiflich. Sie lautet:
Die Verteilung von Arbeit auf mehrere zerteilt stets die so arbeiten­
den Individuen. D ie „division oflabou r“ macht aus Individuen „D iv i-
duen“ .
„D ivid u en “ in diesem Sinne sind diejenigen, deren Affekte mit der
Affektbewandtnis nichts mehr zu tun haben; die nicht mehr fühlen
dürfen, was sie tun; und denen man deshalb völlig aktionsfremde E r­
satzaffekte und -emotionen (in diesem Falle M usiklust) zuschiebt. Karl
Kraus hat gewisse Exekutionen des ersten W eltkrieges geschildert, bei
denen ungeschickt Gehenkte so entsetzlich gekitzelt wurden, daß sie,
vor Annehmlichkeit außer sich, ihr Sterben vergaßen und sich so lange
hin und herwarfen, bis sich die Schlinge zuzog, bis sie sich also buch­
stäblich totgelacht hatten. In dem halben Jahrhundert, das unterdessen
verflossen ist, ist man in dieser Richtung um ein entscheidendes Stück
weitergekommen. Denn M usik in der Vernichtungsindustrie bedeutet
ja nichts anderes, als daß nun auch die H enker „gekitzelt“ werden,
damit sie sich, vo r Annehmlichkeit außer sich und blind gegen das, was
sie tun, in ihr M orden „hineinlachen“ .
W as im m er Psychopathologie und Psychiatrie üb er die heutige Schi­
zophrenie aussagen mögen, ätiologisch verstehen w ir diese erst dann,
wenn w ir sie als Folge der Arbeitsteilung durchschauen, der A rbeits­
teilung, die diejenigen Leistungen auseinanderreißt, die eigentlich zu­
sammengehören - und das bedeutet: w enn w ir sie als den N orm alzu­
stand des heutigen arbeitenden Menschen sehen. D as Grauen, das w ir
über jene in Vernichtungslagern Angestellten empfinden, die bis Feier­
abend affektlos zu arbeiten pflegten, um sich nach Feierabend A ffe k ­
ten und Emotionen zu widmen, die mit ihrer Arbeit nichts zu tun
hatten (selbst H ölderlin wurde ja von den H enkern gelesen) - dieses
unser G rauen über die Biedermänner des technischen Zeitalters dürfen
w ir uns nur dann erlauben, wenn w ir uns selbst als Gegenstände unse­
res Grauens mit einschließen.
Wer es sich einmal klargemacht hat, daß es unter den Zielen heutiger
Menschenbehandlung keines gibt, das auch nur annähernd so systema­
tisch verfolgt und auch nur annähernd so erfolgreich verwirklicht wird
wie die H erstellung dieser unserer Schizophrenie; und daß w ir es heute
bereits so weit gebracht haben, unsere M itvorbereitung von M assen­
mord als „arglosen“ Genuß mißzuverstehen, der w ird den Gedanken,
daß eines Tages die Auslösung des Jüngsten Gerichts „ genußreich ge­
staltet“ , näm lich von Schnulzen oder(um nichts besser) von klassischer
Musik verschönt vor sich gehen werde, nicht mehr fü r unrealistisch
halten.

§ 16

Heimarbeit und Streuung

A ls Konsum enten, so hatten w ir den vorletzten Paragraphen ge­


schlossen, sind w ir „ Geheimagenten“ .
D am it w ar natürlich nicht gemeint, daß w ir zu „G eheim agenten“
deshalb würden, w eil w ir Konsum enten sind. Vielm ehr, daß w ir in
Konsumenten deshalb verw andelt werden, w eil w ir die uns zugew ie­
sene „G eheim agentenrolle“ am zuverlässigsten dann spielen, wenn w ir
genießen; w eil w ir in keiner Situation so betrügbar sind und Illusionen
so widerstandslos zum O pfer fallen wie in der Konsumsituation. In
diesem Sinne hors de concours ist das Genießen aber deshalb, weil es
(mit Aristoteles) eine „energeia“ ist, d.h. eine Tätigkeit, die (wie etw a
Spazierengehen im Unterschiede zum Botengang) ihr telos (die Lust)
selbst bereits in sich enthält; negativ: w eil unerreichte Ziele, auf die er
noch ausgerichtet wäre oder denen er noch diente, für den Genießen­
den nicht mehr existieren.
N atürlich kann den „hidden persuaders“ , die uns als konforme H e l­
fershelfer wünschen, Besseres als die Existenz von energeiai nicht in
den Schoß fallen. N u r w eil es diese gibt, können sie die Aktivitäten,
deren Abzweckungen und Dienstfunktionen uns unkenntlich bleiben
sollen, als energeiai tarnen. Sobald wir, obw ohl Auftragsarbeit lei­
stend, zu genießen glauben, befinden w ir uns in einem Zustand, in dem
w ir nicht mehr auf den G edanken kommen, daß nach einem telos zu
fragen noch Sinn haben könnte; in dem w ir also der Freiheit, unsere
Dienstleistungen als Dienstleistungen zu erkennen, beraubt s in d .' Das
Verhältnis von U nfreiheit und Genuß hat sich mithin total verändert.
W er U nfreiheit auch heute noch als lustlos schildert, der stellt die
W ahrheit auf den K op f. Was im konform istischen System gilt, ist
umgekehrt, daß U nfreiheit und G enuß proportionell wachsen, also die
R egel: „ J e größer das Quantum der uns zugemuteten Unfreiheit,
desto größer auch das Quantum des uns aufgetischten Vergnügens.“
O der genauer: „D ie Freiheitsberaubung geht als Lustlieferung vor
sich. “
Da die Verwandlung unserer Arbeiten in Konsum akte die beste
M ethode ist, um die uns zugewiesenen Geheim agenten-Funktionen zu
sichern, w äre der Idealzustand des konformistischen System s erst
durch einen Totalitarismus der Lust verw irklicht, also erst dann, wenn
es gelungen w äre, allen unseren Aktivitäten das Aussehen oder „ G e ­
fü h l“ von Genußakten zu verleihen. Gleich, ob dieses vulgäre paradis
artificiel erzwungen werden kann, oder ob dessen Idee utopisch blei­
ben muß, fest steht, daß man system atisch versucht, uns diesem Ziele
so nahe wie m öglich zu bringen. Zeugnis dafür sind z. B. jene zahllosen
amerikanischen W erbetexte, die, gleich zu welchen Arbeiten oder A n ­
schaffungen sie uns aufrufen, ausnahmslos in der Versicherung gipfeln:
„ I t ’s fu n “ . Tiefer konnte die Idee des „größten G lücks für die größte
Z ah l“ nicht herunterkommen.

Was sich in der konform istischen W elt abspielt, ist durch die N e n ­
nung der festgelegten Fabrikarbeit und des kommandierten Konsum s
natürlich nicht erschöpft. Daneben gibt es zahllose andere Arten von
Aktivitäten, unter diesen solche, die von Einzelnen erledigt werden.
A lso z .B . unsere, die des freien Schriftstellers. U n d da w ir unsere
T exte privat herstellen, als Heim arbeiten, am eigenen Schreibtisch und
im Vollgefühl der eigenen Schöpferkraft, scheinen w ir dem K onfor-
m ierungsdruck und -betrug nicht unterworfen zu sein.
A b er so simpel und undialektisch liegen die Verhältnisse im kon for­
mistischen System nicht. D ie Tatsache, daß eine Arbeit privat ausge­
führt w ird, beweist noch nicht, daß sie keine Auftragsarbeit ist, und
hat das auch früher nicht bewiesen. Schließlich waren auch die T extil­
Heimarbeiter des 19. Jahrhunderts Auftragsarbeiter gewesen: M ate­
rial, Qualität und Masse des Hausgewebten waren vom Fabrikanten
bestimmt; Realität hatten die Erzeugnisse allein dadurch gewonnen,
daß sie von diesem übernommen, weiterverarbeitet und verm arktet
wurden. U nd ganz veraltet ist dieser T yp von H eimarbeit auch heute
noch nicht. Gewisse Autoren, namentlich Filmautoren, dürfen, trotz
ihres luxuriösen Lebensstandards - man braucht nur das Wort „ Texti­
lien " durch das Wort „ Texte“ zu ersetzen - als die Enkel der Heimar­
beiter des letzten Jahrhunderts angesehen werden.
A b er das ist nicht der T yp von Heimarbeit, den ich hier im Auge
habe. Im Falle des Webers und des Film autors handelt es sich ja um
Übergangsarrangements (zwischen Handarbeit und m aschineller E r­
zeugung), die zumeist als Kom prom isse erkannt w erden,26 und die die
Unternehm er deshalb in K auf nehmen, weil sie ihre Überw indung
bereits voraussehen können.
N ichts dergleichen in unserem Falle. D ie H eim arbeit, von der hier
die Rede ist, stellt w eder ein Übergangsarrangement dar noch einen
Kom prom iß. Vielm ehr entspringt sie einem Prinzip. - Dies meine H y ­
pothese: Die Interessenten des konformistischen Systems bejahen und
fördern Heim arbeit ganz ausdrücklich. U nd zw ar deshalb, weil sie den
größten Wert darauf legen, zu verwischen, daß ihr System bereits total
(und damit ein System totaler Freiheitsberaubung) ist. U nd diese V er­
wischung bewerkstelligen sie dadurch, daß sie ihre Arbeitsaufträge
„ streuen", also Einzelnen als Heimarbeiten zuweisen - Einzelnen na­
türlich, die nicht wissen, daß sie und warum sie beauftragt sind. U n ­
sere H ypothese stellt mithin ein Analogon zu unserer Konsum theorie
dar: Hatten w ir in dieser behauptet, daß, wer im konformistischen
System genieße, damit eine (getarnte bzw. ihm „falsch zugewiesene“ )
Auftragsarbeit durchführe, so behaupten w ir nun von dem individuell,
sogar von dem in Einsamkeit Arbeitenden dasselbe: also daß auch
er einen A u ftrag durchführe. Mißtrauen gegenüber der Vereinzelung
unserer Arbeit ist genau so geboten wie gegenüber unserem K o n ­
sum.

§ 17

D er gestreute Konsum

Keine Frage, daß sich die Vereinzelung, bzw . das, was w ir da eben
zur Charakterisierung unserer Einzelarbeit „S treu u n g“ genannt hat­
ten, im K onsum am deutlichsten verwirklicht und von diesem am
deutlichsten abgelesen werden kann. In welchem Sinne ist Konsum
„gestreut“ ?
D ie Antw ort darauf kann als Regel form uliert werden. Diese lautet:
Die heutige, auf Gleichschaltung und Vermassung abzielende Belie­
feru ng geht niemals so vor sich, daß die Masse als Masse abgefüttert
(oder sonstwie bedient) wird, sondern so, daß Einzelne, wenn natür­
lich auch zahllose Einzelne, bedient werden und als Einzelne rezipie­
ren. Vermassung vollzieht sich „ solistisch“ . A u f „Solisten“ verstreut
w ird z .B . die Rundfunksendung: M illionen sitzen isoliert vo r ihren
Apparaten und empfangen die Sendung im trauten H eim .27
N atürlich steht diese Förderung der Vereinzelung (von Lieferung
und Empfang) mit dem Gleichschaltungsziel nicht im W iderspruch,
umgekehrt ist sie selbst ein H ilfsm ittel der Gleichschaltung. Sie zielt ja
nicht darauf ab, den Einzelnen zu prägen oder Privatheit abzusichern,
vielmehr umgekehrt, darauf, Verm assung zu erzeugen. M ithin stellt
auch sie wieder einen Fall von „falscher Zuw eisung“ dar.

N eu ist diese M askierung der Vermassung als Vereinzelung in der


konform istischen Gesellschaft natürlich nicht. D er Riesmansche A u s­
druck „L o n e ly C ro w d “ , der Ähnliches anzuzeigen scheint, ist ja
bereits zum Schlagwort geworden. A b er gewöhnlich w ird dieses
doch ohne Verständnis für die in ihm verborgene D ialektik verw en­
det, nämlich als platte Feststellung der Tatsache, daß w ir, obwohl
„c ro w d “ , doch „lo n e ly “ , oder obw ohl „lo n e ly “ , doch „c ro w d “ seien
- und das reicht natürlich nicht aus. Denn wahr ist, daß die Maß­
nahmen, die uns „lonely“ machen, au f nichts anderes abzielen, als
darauf, uns zur „crow d“ zu machen und uns als „crow d“ aufrecht­
zuerhalten.
In anderen W orten, die Stätten, in denen Vermassung heute produ­
ziert w ird, sind nicht „Sportpaläste“ oder M adison Square Gardens,
sondern Privatwohnungen und Eigenheime. D ie Leistungsbeiträge, die
uns abverlangt werden, die werden uns in Form vom „Heim konsum ”
abverlangt - und daß das bedeutet: in Form von Heimarbeit, das ist
uns ja, seit sich der K onsum als getarnte Arbeit entlarvt hat, bekannt.
D aher dürfen w ir behaupten: Durch Streuung sind w ir in Millionen
von Heimarbeiter verwandelt.
D ieser neuen „Verm assung durch Streuung“ bedient sich das S y ­
stem nicht etw a nur deshalb, w eil es sich eine H öchstzahl von Käufern
wünscht, oder nur deshalb, weil die neuen technischen Erfindungen,
wie Rundfunk oder T V , diese „Streu un g“ zufälligerweise m öglich m a­
chen - umgekehrt war der Siegeszug dieser neuen Erfindungen allein
deshalb möglich, w eil diese den Wünschen der Vermassungsinteres­
senten aufs phantastischste entsprachen: weil nämlich in deren Augen
„the only good Indian a dead Indian“ , „d ie einzige gute Vermassung
die gestreute Vermassung“ ist. D ie einzige gute ist sie aber deshalb,
weil die Masse, die diese Interessenten sich wünschen (und die sie
tatsächlich schon hergestellt haben), gelähmt bleiben soll - das heißt:
die Chance, sich als M asse zu erkennen, zu fühlen oder als solche gar
zu handeln, weder genießen noch vermissen, nein, noch nicht einmal
vermissen können soll. Und gelähmt bleibt die „gestreute M asse“ des­
halb, weil sie trotz ihrer M illionenzahl der Fähigkeit, aus ihrer Initia­
tive und H arm losigkeit herauszuspringen, solange beraubt bleibt, als
sie an verschiedenen und voneinander getrennten Eremitenplätzen be­
arbeitet w ird; w ährend eine wirkliche, auf einem einzigen Punkte mas­
sierte, „cro w d “ , und zählt sie auch nur tausend Demonstranten, im­
mer die Chance hat, Eigengewicht anzunehmen, der K ontrolle zu ent­
gleiten und als Masse in Gang zu geraten.
Eine gewisse Bewunderung braucht man der Ingeniosität dieses Be­
trugsmechanismus nicht zu versagen. Auch w ir, die „lo n e ly“ Gem ach­
ten, w ir, die O pfer, brauchen das nicht. Aber auf diesen Mechanismus
stolz zu sein, das ist jämmerlich. U nd das sind w ir: In der gestreuten
Form der Vermassung, an die w ir nun gewöhnt sind, und die w ir als
Vermassung nicht mehr durchschauen, sehen w ir eine „Errungen­
schaft“ , allein sie betrachten w ir als eines freien Mannes, mindestens
einer freien W elt, fü r würdig - während w ir auf jene Zeitgenossen, die
noch dann und wann, unseren Großvätern gleich, „a u f die Straße ge­
hen“ , um sich als Teile einer veritablen Masse zu vermassen oder
vermassen zu lassen, vo ll A rgw ohn, oder Verachtung, im besten Falle
mit hochnäsiger Rührung, hinunterblicken. U ns heute mit denjenigen
M itteln irreführen zu lassen, die gestern Usus oder M ode gewesen
waren, das kom m t fü r uns, die w ir soviel auf unsere Fortschrittlichkeit
geben, ebensowenig in Frage, wie uns mit einem Windlicht in der
H and den Weg durch eine elektrisch strahlende Stadt zu leuchten.
U nter den tausend Albernheiten der heutigen Menschheit gibt es w ohl
keine, die so kom isch wäre wie diese unsere H ochnäsigkeit. Ein B etro ­
gener (schon ein einziger), der sich einem anderen Betrogenen deshalb
turmhoch überlegen fühlt, weil dieser sich auf weniger zeitgemäße A rt
als er selbst betrügen läßt, wäre eine Molieres würdige Figur: U nd
diese F ig u r existiert heute nun in millionenstarker Auflage. Keine
Bühne wäre groß genug, um diese gigantische Lächerlichkeit angemes­
sen zur Schau zu stellen, selbst unserer Lächerlichkeit sind w ir nicht
mehr gewachsen.
A b er, wie gesagt, nur zum Lachen ist diese Hochnäsigkeit nicht, im
Gegenteil, in erster Linie ist sie sogar zum Verzw eifeln. Schließlich
komm t es zuweilen ja noch vor, daß w irkliche M assierungen dem
Widerspruch entspringen, also non-konformistische Kundgebungen
sind. Wenn es nun aber zutrifft, daß jede Massenaktion, einfach des­
halb, weil sie, statt „gestreut“ zu sein, aus w irklich zusammenströ­
menden wirklichen Menschen besteht, bereits als etwas Vorgestriges
oder gar als etwas Reaktionäres angesehen wird, dann gilt das natürlich
auch für solche Protestkundgebungen. U nd das bedeutet wiederum,
daß jede solche Kundgebung schon ante festum, also ehe sie beginnt
oder bekämpft w ird, besiegt ist. Einen vollständigeren Trium ph
könnte sich der Konform ism us nicht erhoffen.
D ie „Verm assung durch Streuung“ zielt immer zugleich auf eine
doppelte Entmachtung. N icht nur darauf, die Individuen zu entmach­
ten - nämlich durch Lieferung der M assenware, die sie in M assenwe­
sen verwandelt; sondern gleichzeitig darauf, die Masse zu entmachten
- nämlich durch „Streuung“ dieser Waren. D ie Frage, was heute weni­
ger erwünscht sei: ob die Existenz wirklicher Individuen oder die einer
wirklichen M asse, die ist falsch gefragt. O b w ir als „vermasste Indivi­
duen“ herumlaufen oder als eine „in Individuen zerschlagene M asse“
herumsitzen, das läuft auf eines heraus. Was gilt, ist allein: „ N i homme
ni femme, c’est un capucin.“

§ 18

Die freie H and

Die Fragen, woraufhin w ir das Recht haben, die „Streuung“ , die


sich soeben als Prinzip unseres Konsum s erwiesen hat, auch als Prinzip
unserer „spontanen Aktivitäten“ anzusehen; zu behaupten, daß w ir
der gleichen Illusion, der w ir als Belieferte anheimfallen, auch als
Schaffende und selbst Liefernde anheimfallen, und daß wir, wenn w ir
als Einzelne tätig sind, nur „u ns zugestreute“ A u fträge abarbeiten -
diese Fragen (sie sind identisch mit unseren Eröffnungsfragen) sind
eigentlich durch das Bild des lückenlosen konformistischen Systems,
das w ir gezeichnet haben, schon mitbeantwortet. Inw iefern das der
Fall ist, soll aber deutlicher gemacht werden.
1. Medialität. Wie erinnerlich, waren w ir in einer unserer Analysen
auf einen Tatbestand gestoßen, der als das G rundfaktum der kon for­
mistischen Existenz gelten darf: nämlich auf die „W andlosigkeit“ .
D ieser Ausdruck hatte bedeutet, daß gewisse kategoriale Gegensatz­
paare, deren generelle philosophisch-anthropologische G ültigkeit w ir
zuvor nicht angezweifelt hatten, im Dasein des konform istischen M en­
schen nicht mehr zu entdecken sind. Z u diesen „verschwundenen U n ­
terschieden“ hatte nun aber auch der zwischen A ktivität und Passivität
gehört. Was sich erwiesen hatte, war nämlich, daß der (gewöhnlich als
bloß „passiv“ geltende) Genuß, wenn er im konformistischen System
auftritt, immer zugleich eine für dieses System geleistete Arbeit dar­
stellt; als solche einen Platz zwischen Aktivität und Passivität ein­
nim m t; also „m edial“ ist. - U nd andererseits, daß unsere Aktivitäten,
wenn sie in der uns pausenlos um werbenden „sirenischen W elt“ statt­
finden, immer zugleich Akte des „M it-tuns“ sind; als solche dem E r­
leiden ebenso nahe stehen wie dem T u n ; also gleichfalls „m edial“ sind.
K u rz: daß „M edialirät“ unser gesamtes kom form istisches Dasein
durchwalte.
A u s dieser Tatsache folgt nun aber die methodische Einsicht, die
hier den Ausschlag gibt. D ie Einsicht nämlich, daß es gleichgültig ist,
ob eine Kategorie auf diesem oder jenem Aste des konformistischen
„Stammes“ auftaucht, ob auf dem der Aktivität oder auf dem der
Passivität: daß es vielmehr erlaubt ist, jede an einem Aste gefundene
auch auf den anderen anzuwenden. Das ist deshalb erlaubt, weil es sich
dabei gar nicht um „Anwendung“ (im strengen Sinne des Wortes)
handelt; weil von „Anwendung“ zu reden allein dann erforderlich
wäre, wenn es sich hier um zwei wirklich verschiedene Stämme A und
B handelte. Das aber ist hier nicht der Fall, denn A ist ja B-haft, B
A-haft, die Aktivität passivisch, die Passivität aktivisch. In anderen
Worten: Da sowohl A wie B „medial“ sind, ist jede wo immer aufge­
fundene Kategorie, sofern sie überhaupt etwas taugt, für den medialen
Stamm unseres ganzen Daseins zuständig. Und das gilt eben auch für
die Kategorie „Streuung“ .
i. Urenkel-Produkte. Die Werke, die wir, vor unserem weißen Pa­
pier sitzend, produzieren, die sind (da wir selbst bereits durch die uns
pausenlos zugestellten Produkte produziert worden sind) Produkte
von durch Produkte produzierten Wesen, mithin „Urenkel-Produkte“
des Systems. Auch wenn wir vor Schaffensfuror zu glühen glauben, so
beweist das nichts gegen den Urenkel-Charakter unserer Erzeugnisse.
Denn auch dieser Possessiventhusiasmus ist ein Produkt, das uns als
Fertigware zugestreut wird, damit wir den Auftragscharakter unserer
Schaffensakte mißverstehen, also damit wir nicht erkennen, daß unsere
Leistungen nur kurze Zwischenphasen im Produktions- und Distribu­
tionsprozeß als ganzem darstellen; nur Zwischenprozesse, die im kon­
formistischen System ihren Ausgang genommen hatten und dazu be­
stimmt sind, in diesen wieder einzumünden. Unsere Schaffensakte sind
nur Transmissionsereignisse zwischen Belieferung und Belieferung,
zwischen Rezeption und Rezeption. In der Tat geraten unsere Pro­
dukte, kaum daß sie fertig sind, auch wieder in die Mühle des Systems:
denn nur wenn sie vom System als der Streuung würdig befunden,
übernommen und in Zirkulation gesetzt werden, gewinnen sie, in je­
nem pragmatischen Sinne, den wir definiert hatten, „Existenz“ ; nur
dann können sie „erscheinen“ . In anderen Worten: Das System hat
uns durch „Streuung“ seiner Einflüsse zu Wesen gemacht, die, wenn
sie schaffen, eo ipso Produkte schaffen, die selbst wieder für seinen
Streuungsmechanismus geeignet sind.
3. (Variation von 2) D ie „Vorlieferung". - Zu behaupten, daß wir
pausenlos, im alltäglichen Sinne des W ortes, mit „A u fträgen “ über­
häuft w ürden; daß jedes unserer Produkte die Erfüllung eines Sonder­
auftrages darstelle; daß unsere Freiheit in jedem einzelnen Falle ge­
stutzt w erde; daß w ir nicht phantasieren dürften - das zu behaupten,
das liegt uns ganz ferne. Denn das zu behaupten, das haben w ir gar
nicht nötig. U nd zw ar deshalb nicht, weil w ir schon Auftragswesen
sind, noch ehe w ir beginnen; weil w ir gestutzt sind, noch ehe w ir uns
Flügel wachsen lassen; weil die Funktion unserer Phantasie - dieser
V ergleich macht unseren Status w ohl am deutlichsten - schon von
vornherein auf die von „ Kadenzen" reduziert ist. Kadenzen treten
bekanntlich innerhalb von bereits festgelegten Notentexten und an
bereits fü r sie festgelegten Stellen auf, die Tonarten, in denen sie anhe­
ben und in-die sie einmünden, sind uns, ohne daß uns das als Lim itie­
rung vorkäm e, immer schon „vorgeliefert“ .
U nd genau so steht es eben mit unseren Erfindungen und unseren
Phantasien innerhalb des konform istischen Systems. D er „N o ten text“
des Systems ist uns immer schon „vorgeliefert“ ; immer ist er schon,
ehe w ir noch beginnen, unser - nur natürlich nicht in dem Sinne, daß
w ir Eigentüm er des Gelieferten wären, sondern in dem vorhin defi­
nierten Inversionssinne, daß w ir dessen Eigentum sind. Gleichviel,
diese „V orlieferung“ ist die Schlüsseltatsache. D urch den Pauschalauf­
trag, den unsere Auftraggeber schon gestern und vorgestern in uns
hineingetragen und durch den sie uns zu verläßlichen Teilen des S y ­
stems gemacht hatten, sind sie der Mühe enthoben, uns heute und
täglich ihre Sonderaufträge zu erteilen. Immer ist uns, da unsere „ E in ­
fallstore“ weit offen stehen, da es „W ände“ zwischen uns und dem
System nicht mehr gibt, da w ir in „K on gru en z“ mit dessen Inhalten
leben, noch ehe w ir die Feder in die H and nehmen, selbstverständlich,
was w ir uns einfallen lassen dürfen und was nicht; welche Stimmlage
w ir wählen dürfen und welche nicht; wie weit w ir gehen dürfen und
wie weit nicht; und selbst wie weit w ir, um die Freiheitsillusion, so­
w ohl unsere eigene wie die der Anderen, sicherzustellen, die Grenzen
des Systems überschreiten dürfen und wie weit nicht. U nd w ir gehor­
chen um so williger, als w ir die uns auferlegten Regeln gar nicht spü­
ren, w eil diese getarnt bleiben, und zw ar dadurch, daß w ir unfähig
gemacht werden, anderes als das, was w ir sollen, auch nur zu w ün­
schen. N ein, das konformistische System hat es nicht nötig, jeden ein-
Wir produzieren nur „K adenzen“ i 8j

zelnen H andgriff zu diktieren, jeden einzelnen Satz festzulegen, jedes


einzelne W ort zu bespitzeln. Da es uns immer schon „avant la lettre“
festgelegt hat, kann es sich stets Generosität leisten, kann es stets liberal
bleiben.
A b er liberal ist es nicht obwohl, sondern weil es ein integrales S y ­
stem ist.
U nd terroristisch ist es nicht obwohl, sondern weil es sanft ist.
U nd seine O p fer sind w ir nicht obw ohl, sondern weil w ir unsere
Knechtschaft nicht spüren.
Es läßt uns freie H and für unsere W erke?
W eil unsere H ände sein W erk sind.
1978

Eine Ethik wie vor 175 Jahren mit dem Postulat des „guten Willens“
zu beginnen, das kommt heute nicht mehr in Frage. Das Postulat
unterstellte als selbstverständlich, daß wir einen Willen „haben“ , jeder
seinen. Diese Unterstellung wird selbst von demjenigen gemacht, der
mit der Schwierigkeit des Moralisch-seins anhebt, also zugibt, daß der
„gute Wille“ zumeist durch „Bedürfnisse und Neigungen“ (Kant)
daran gehindert werde, guter Wille zu sein. Was als behindert oder gar
als ruiniert gilt, ist immer nur der gute Wille. Und als Faktor der
Behinderung gilt immer nur das Zwillingspaar „Bedürfnis und N ei­
gung“ . Gute Zeiten, in denen nichts gefährdet war als der gute Wille.
Denn was heute auf dem Spiel steht, ist der Wille als solcher. Und
was diesen gefährdet, beschränkt sich durchaus nicht nur auf unsere
„Bedürfnisse und Neigungen“ '. Die Unterstellung, daß jeder von uns
einen eigenen Willen „h abe“ , die ist heute, sowohl unter dem sanften
wie unter dem harten Terror, also im Zeitalter der Massenbeeinflus­
sung, genau so unberechtigt wie die Unterstellung, daß jeder von uns
eine eigene Meinung „habe“ .
Diese Unterstellung eines „eigenen Willens“ war z.B. noch in den
klassischen Dokumenten der Demokratie gemacht worden, denn die,
„Meinung“ betreffenden, Rechtsansprüche, die in diesen Dokumenten
angemeldet werden, die setzen ja die Freiheit, eine Meinung zu „ha­
ben“ , voraus und bezogen sich auf die zweite Freiheit, nämlich die als
„gehabt“ unterstellte Meinung frei zu äußern. Diese Unterstellung hat
nun heute bereits an Boden verloren. Zwar daß jeder von uns irgend­
wie Meinungen „habe“ , das kann auch der skeptischste Skeptiker nicht
bestreiten. Aber wir sind doch, namentlich seit Marxens tödlicher A t­
tacke auf den Stirnerschen Eigentumsbegriff, dem gegenüber, was „ha­
ben“ bedeutet, äußerst argwöhnisch geworden. „H a ben “ kann man
schließlich auch Hunger oder eine eintätowierte Häftlingsnummer.
Welches „habere“ heute wirklich noch „habere“ ist, und nicht (um
m it, bzw. gegen Aristipp zu sprechen) ein „haberi” , ein G ehabtw er­
den, das ist kaum zu beurteilen. G ew iß aber ist es, daß unser M einung­
haben ein solches Gehabt-w erden darstellt, daß also unsere Meinungen
und W eltbilder geprägt werden, daß w ir mit diesen beliefert werden -
kurz: daß „m eine Meinung” nicht „m eine” M einung, „unsere“ nicht
„unsere” ist. D as ist heute ja nicht nur als W ahrheit anerkannt, son­
dern sogar als unbestrittene W ahrheit - womit ich sagen will, daß die
Produzenten unserer Meinungen keine Furcht vor der Demaskierung
der Tatsache haben, daß sie die Produzenten unserer Meinungen sind;
und daß sie sogar ein Recht darauf haben, diese Dem askierung nicht zu
fürchten, da diese von den O pfern gewissermaßen nur einen A ugen­
blick lang zur Kenntnis genommen wird, aber konsequenzenlos bleibt.
Z ur Trivialität (z.B . zum selbstverständlichen Bestand der angel­
sächsischen „Social Science“ ) ist diese Einsicht allerdings erst vo r ku r­
zem geworden, nämlich in demjenigen geschichtlichen Augenblicke, in
dem diese Einsicht bereits ideologisch, der B egriff „Id eologie“ selbst
obsolet zu werden begann. Denn Ideologie ist heute bereits selbst zur
ideologischen Vokabel geworden .* U nd das dadurch, daß die Interes­
sentengruppen von heute, die uns in „falschem Bewußtsein“ zu halten
wünschen, es sich ersparen können, uns mit falschen Theorien oder
mit künstlich hergestellten Weltanschauungen auszurüsten. D as kön ­
nen sie sich deshalb ersparen, weil die künstlich hergestellte Welt,
namentlich die Gerätew elt, mit der sie uns umgeben, selbst als „die
Welt” auftritt, uns also so blind macht und unser Bewußtsein so w ir­
kungsvoll prägt, daß die Herstellung spezieller meinungprägender
Weltanschauungen sich erübrigt. Da es in der Macht dieser Interessen­
tengruppen liegt, uns mit farbigen Wänden zu umstellen, können sie
den Betrieb jener Werkstätten, die früher farbige Ideologiebrillen pro­
duziert hatten, einschränken oder sogar stillegen. N ichts ist für denje­
nigen, der die letzten Jahrzehnte (von dem Prunk der nationalsoziali­
stischen Ideologie zu schweigen) bewußt miterlebt hat, so auffällig wie
die D ürftigkeit des Ideologiebestandes in der heutigen westlichen
Welt, namentlich in der Bundesrepublik - was aber (dies ist, wie ge­
sagt, der Punkt, auf den es ankom m t) durchaus nicht bedeutet, daß die
westliche Welt bzw. .die Bundesrepublik unverlogen oder unheuchle­
risch wären; sondern umgekehrt, daß sie, um ihre Ziele zu gewinnen,
nicht mehr in gleichem Maße Ideologien benötigen, wie das in frühe­
ren Zeiten nötig gewesen war. D a das Ideologische in die Produkte-
(namentlich in die Geräte-) Welt selbst eingegangen ist, stehen wir nun
bereits in einem nach-ideologischen Zeitalter. D as Bild dieses Zustan­
des ist das parodistische N egativ jenes Zustandes, den M arx im Auge
gehabt hatte, als er weissagte, die Philosophie w ürde durch die W ahr­
heit der künftigen Menschheitssituation „aufgehoben“ , nämlich über­
flüssig gemacht werden. G anz analog ist nun die Lüge durch die mas­
sive Unwahrheit der heutigen Menschheitssituation „aufgehoben“ , das
heißt: überflüssig gemacht worden. Ihr Nichtsein ist ihr N icht-m ehr-
nötig-Sein. Noch nicht einmal zu lügen braucht man mehr. O ft darf
man sogar volle Wahrheiten aussprechen, da diese innerhalb des R ah ­
mens der massiv falschen Welt kraftlos bleiben, reine „K u lturw erte“ ,
und ganz unwirklich wirken. U nd sogar zur D ekoration können
Wahrheiten um funktioniert werden - was z .B . der Kulturkritik des
Schreibers dieser Zeilen zugestoßen ist.
Was von Meinungen gilt: daß sie, auch wenn sie „m eine“ oder
„deine“ sind, dennoch Produkte darstellen, die, von Interessenten er­
zeugt, m ir und dir eingeprägt worden sind, das gilt natürlich erst recht
vom Willen.
Ideologische Meinungen sind ja nicht einfach im Feld-, W ald- und
Wiesensinne falsche Theorien. D ies um so w eniger, als ja sogar wahre
Aussagen ideologisch verwendet werden können. Falsch sind sie viel­
mehr dadurch, daß sie, obw ohl in W ahrheit Instrumente, fälschlich
oder falschmünzerisch als Theorien auftreten. M arxens Demaskierung
von Philosophien als Ideologien und seine Forderung „E in h eit von
Theorie und Praxis“ sind nicht zw ei disparate Stücke seines Lehrge­
bäudes, sondern zw ei Aspekte eines einzigen Gedankens. N icht so
sehr durch das, was sie aussagen, sind Ideologien falsch (das freilich
auch), als dadurch, daß sie sich als Aussagen oder Aussage-System e
verbrämen. M ag auch ihr N ächstziel darin bestehen, „falsches Be­
wußtsein“ herzustellen, so ist ja auch dieses letztlich für sie nur ein
Instrument: nämlich eines, das seinerseits „falschen Willen“ erzeugen
soll. U nd auch dieser ist schließlich nur ein Gerät, das letzte: nämlich
das Gerät zur Produktion falschen Handelns. In anderen W orten: D er
Z w eck der „Id eologien“ genannten Instrumente besteht darin, das
Tun und Lassen der mit ihnen Belieferten einzuspuren - „falsches
Bewußtsein“ ohne „falsches Wollen” wäre völlig wertlos? Die Wahr­
heit der Ideologie (das heißt: die wahre Erfüllung des ihrer Herstellung
zugrundeliegenden Interesses) ist die falsche Praxis. Eine Theorie, die
unfähig bleibt, falsche Praxis einzuspuren oder aufrechtzuerhalten, ist
m ithin keine „w ahre Ideologie“ , sondern nur eine w ahre oder falsche
Theorie; freilich, gleich ob sie w ahr oder falsch ist, eine falsche aus der
Perspektive des Ideologie-Produzenten. Was nicht nutzt, ist unwahr.
D ieser Satz gehört nicht nur zum axiomatischen Bestand des angel-
sächischen Pragmatismus, sondern auch zur Praxis der totalitären
Wirtschaftsführung. In diesem Punkte ist Verständigung zwischen den
zw ei W elten überflüssig, w eil Einigkeit von vornherein vorhanden.
U m diesen Punkt brauchte wahrhaftig kein kalter K rieg ausgefochten
zu werden.
Ideologie ist, da sie prim är am Tun und Lassen der mit ihr Beliefer­
ten interessiert ist, prim är ein moralisches Problem. Niem als hat es
Ideologien gegeben, die auf anderes abgezielthätten als darauf, falsches
Handeln einzuspuren und den Ideologie-O pfern weiszumachen, daß
sie dasjenige, w as sie ihrem eigenen Interesse zuw ider zu tun haben,
auch selber w ollen und sogar gew ollt haben. D as Endziel besteht
darin, die Untertanen so zurecht und „fe rtig “ zu machen, daß sie
anders als falsch gar nicht mehr handeln können und a u f Grund ihres
So-gehandelt-habens davon überzeugt sind, ihre Handlungen auch ge­
wollt zu haben. So daß sie, wenn sie von uns auf ihre wahren Interes­
sen, auf das, was sie „eigentlich“ w ollen oder gew ollt haben müßten,
aufm erksam gemacht werden, indigniert protestieren oder auf uns ein-
schlagen.4 Wären sie imstande, der Geheimm axime, die sie befolgen,
A usdruck zu geben (aber daß sie das nicht können, das gehört natür-
lieh zum gewünschten Zustand), dann müßten sie die „norm ale“ R e i­
henfolge von W ollen und Tun um kehren und sprechen: „ Wir tun, also
haben w ir es gewollt. “ Das ist nicht nur dann ihre M axim e, wenn sie
durch totalitären D ru ck zu Anhängern oder Helfershelfern eines tota­
len Staates gemacht w orden sind, sondern genau so auch dann, wenn
sie, „hidden persuaders“ zum O pfer fallend, ein Backpulver kaufen,
das nicht so sehr ihren H unger als den Profithunger der Produktion
stillt - denn die Unterschiede zwischen den M ethoden der heutigen
Backpulverpropagandisten und denen der G oebbels sind nicht sehr
beträchtlich. D ie zw ei sind echte Zeitgenossen. Beide verfolgen das
gleiche Z iel; das, uns der Freiheit so restlos zu berauben, daß uns noch
nicht einmal der letzte Rest bleibe, nämlich die Freiheit, von unserer
U nfreiheit zu wissen.
D as Endziel besteht in der willentlichen H erstellung einer W illens­
liquidierung, einer „A b u lie“, freilich einer solchen, der im Unterschied
zu deren pathologischen Form en wie Indolenz oder Stupor das B e­
wußtsein des Unfreiseins fehlt. Als w irklich gelungen kann die
W illensabtötung allein dann gelten, wenn sie (beim Beraubten) mit der
Illusion von Selbstbewußtsein und K raft verbunden ist; wenn derje­
nige, der seines Willens beraubt worden ist, zugleich überzeugt davon
ist, daß er ein K erl sei. Ohnmacht und Nagelstiefel sind, wie jeder
gewesene SA-Mann bestätigen kann, Zwillingsgeschenke. Die Stiefel
verwandeln die von oben gewünschte Abulie in Pseudobulie. Wenn
der Mächtige den ohnmächtig Gemachten dazu ermächtigt, gewalttätig
aufzutreten, dann tut dieser das in dem Gefühl, aus eigenem Willen
und durch eigene K raft zu handeln. M it H ilfe dieser in Pseudobulie
verwandelten Abulie können die als „T ä te r“ auftretenden O pfer dann
Taten w ollen und tun, die sie eigentlich gar nicht wollen können
dürften.
I9j8

D er Konformist konformiert sich nicht

U nter den heute kursierenden Schlagwörtern gibt es wohl keines,


das vieldeutiger wäre als das von den Kulturpublizisten aller Schattie­
rungen verwendete W ort „Konformist“ . D ie Figur, die dieser A u s­
druck anzuzeigen vorgibt: der Mann, der sich aus Bequem lichkeits­
oder Feigheitsgründen dazu entschließt, seine Handlungen, M einun­
gen, G efühle, ku rz: seinen ganzen Lebensstil gleichzuschalten -d ie s e r
charakterlose C harakter ist für die heutige Situation kaum charakteri­
stisch. U nter „heutiger Situation“ verstehe ich dabei das gegenwärtige
Stadium unserer (mehrere Phasen durchlaufenden) Entw icklung zur
U nfreiheit; das Stadium also, das dem gestrigen: dem der offen dik­
tatorischen und terroristischen Freiheitsberaubung, nachgefolgt ist.
Wie widerspruchsvoll die These auch klingen mag: aber im K om for-
mismus spielt die F igur des Konform isten keine entscheidende Rolle.
Keine entscheidende Rolle mehr. D as Bild der konform en W elt, min­
destens das des „Konform ierungsprozesses“ w ird durch den A u s­
druck „K o n fo rm ist“ bereits verfehlt. - Was heißt das?
D aß es heute nur selten vorkom m t (nur selten vorzukom m en
braucht), dal! sich Individuen durch einen eigenen Entschluß und ei­
nen eigenen A kt in „K on form isten“ verwandeln. Ein solches „Sich-
selbst-zum -Konform isten-m achen“ wird aber von denen, die von
„K on form isten“ sprechen, zumeist stillschweigend vorausgesetzt.
V o r einem Vierteljahrhundert w ar es üblich gewesen, den Ausdruck
„gleichschalten“ als reflexives Verbum zu verwenden, also von „Sich-
gleichschalten“ zu sprechen. Mit wieviel Recht, kann hier offenblei­
ben. Gleichviel, unsere These ist nun, daß der A ktion, die mit diesem
reflexiven V erbum bezeichnet worden war, heute kaum mehr etwas
entspricht; daß nunmehr - und damit machen w ir unsere Form ulie­
rung positiv - ein neues, ein „ perfekteres“ Stadium der Vergewalti­
gung erreicht worden ist: ein Stadium, in dem der Platz, den zuvor die
Reflexivität (mindestens auch diese) eingenommen hatte, ausschließ­
lich durch Passivität besetzt ist; daß sich die Gleichschaltung in 99 von
ioo Fällen in der Form von „ Gleichgeschaltetwerden“ , Konformist­
sein in der Form „Zum-Konformisten-gemacht-werden“ abspielt.
D ie Behauptung, daß die Vergewaltigung und Freiheitsberaubung,
die das Jahrzehnt des Nationalsozialism us mit sich gebracht hatte,
noch nicht die perfekteste gewesen sein soll, klingt natürlich nach dem
Ungeheuerlichen, das damals geschehen ist, verblüffend, sogar empö­
rend. Damals war es w ohl auch unmöglich, sich Steigerungen der E n t­
w ürdigung vorzustellen und zuzugeben, daß der letzte Schliff, die
letzte Funktionsglätte des K onform ism us noch nicht erreicht war. Erst
heute beginnen w ir, das zu begreifen. U nser Gedankengang ist ganz
einfach:
Solange eine diktatorische M acht den zu Vergewaltigenden noch
dazu aufruft oder anhält, selbst etw as zu seiner Freiheitsberaubung
und Ohnmacht beizutragen, so lange billigt sie ihrem O pfer noch ein
Mindestmaß von Personalität zu. Zähneknirschend, aber doch. Das
gilt auch dann, wenn diese Macht dem so Aufgerufenen nichts anderes
abfordert, als sich zum Vollzugsbeamten seiner eigenen Auslöschung
zu machen, also alles, was er an persönlicher K raft aufbringen kann,
ausschließlich in diese Selbstauslöschung zu investieren. D er N ational­
sozialismus hatte das noch getan. Mindestens in seinen ersten Jahren.
Sein Appell hätte damals lauten können: „Sei Manns genug, keine
Person mehr zu sein!“ Was sie forderte, w ar das sacrificium, der Selbst­
mord der Person.
V on solchem Verlangen kann heute keine Rede mehr sein. D as Le­
ben ist bequemer geworden. A ber nicht etwa deshalb, weil nun die
Integrität der Person gewährleistet (oder „w ie d e r“ gewährleistet)
wäre. Sondern umgekehrt deshalb, weil nun, in unserem „perfekteren
Stadium“ , die Persönlichkeit bereits abgeschrieben ist; weil die H örig­
keit bzw. die Nichtexistenz der Person bereits als fait accompli unter­
stellt werden kann. U nter diesen Umständen ist ausdrücklicher (H ö­
rigkeit verwirklichender) Gehorsam überflüssig geworden. Deshalb
erübrigen sich Gebote und Verbote. Deshalb brauchen diese als G e ­
bote und als Verbote nicht mehr erlassen und befolgt zu werden. In
der Tat würde, da die Person nicht mehr existiert, der A ppell zum
moralischen Selbstmord niemanden mehr erreichen oder treffen. A u f
Leichname feuert man nicht.
N atürlich entsteht, wo Gebote als G ebote und Verbote als Verbote
nicht mehr nötig sind, der Eindruck, daß es Gebote oder Verbote nicht
(mehr) gebe: also die Illusion der Freiheit. Diese Illusion ist die große
Chance derer, die an der Produktion der perfekten U nfreiheit interes­
siert sind. U nd daß diese die Chance ungenutzt lassen, das kann man
nicht behaupten. In der Tat geht die Freiheitsberaubung der Person mit
der Ideologie der Freiheit der Person H and in H and; und die Abschaf­
fung der Freiheit vollzieht sich zumeist im Namen der Freiheit.

Schon diese erste Skizze zeigt uns eine höchst verwickelte Situation;
eine Situation, die einer genauen Aufklärung bedarf.
Aber diese A ufklärung durchzuführen, ist nicht so einfach. Erst
einmal scheitert der Versuch. U nd zw ar aus einem eigentümlichen
Grunde:
Wie deutlich nämlich das Bild auch ausfallen mag, das wir entwer­
fen, immer scheint es das deutliche B ild einer Undeutlichkeit zu sein.
Keine der zwei uns interessierenden Figuren: w eder der Herrschende
noch der Beherrschte, scheint w irklich K ontur anzunehmen. D as klas­
sische, so säuberlich artikulierte „H e rr und K necht“ -Verhältnis bleibt
im N ebel, noch ehe es sich auf die bekannte dialektische Weise verun-
klärt. In der Tat kommen w ir erst in demjenigen Augenblick weiter, in
dem w ir uns entschließen, diesen N ebel selbst als ein Stück erkannter
Wirklichkeit zu identifizieren. D ieses, zw ar nicht ganz unbekannte,
aber niemals ausdrücklich thematisierte oder auch nur etikettierte
Stück der heutigen W irklichkeit könnte man den „sozialen Agnostizis­
mus“ nennen. D ieser Ausdruck soll anzeigen, daß die Rollenträger der
Gesellschaft einander in ihren R ollen nicht erkennen. O der sogar (wie
es heute weitgehend der Fall ist) ihre eigenen Rollen, also sich selbst,
nicht erkennen. Partiell w ar dieses Faktum im M arxismus gesehen
w orden: Wenn M arx gegen das Fehlen des Klassenbewußtseins an­
ging, so bekämpfte er die Tatsache, daß der Rollenträger „Proletariat“
seine eigene Rolle nicht erkannte. A b er dieser „A gnostizism us“ ist nur
ein Viertel des ganzen „sozialen Agnostizism us“ . Denn dessen kom ­
plettes Schema zeigt vier Blindheiten:
1. Blindheit: D er Herrschende (bzw. Vergewaltigende) erkennt im
Beherrschten (bzw. Vergewaltigten) nicht den von ihm Beherrschten
(bzw. Vergewaltigten).
2. Blindheit: D er Herrschende erkennt in sich selbst nicht den H err­
schenden.
3. Blindheit: D er Beherrschte erkennt im Herrschenden nicht den
über ihn Herrschenden.
4. Blindheit: D er Beherrschte erkennt in sich selbst nicht den B e­
herrschten.

Ein vorläufiges Beispiel w ird dieses in seiner Form alität unver­


ständliche Schema illustrieren.
D ie Lieferanten der Produkte, namentlich der durch die Medien
vermittelten „Phantom -Produkte“ ', erkennen nicht, daß sie uns durch
ihre Belieferung erfahrungslos und -unfähig machen, daß sie uns der
Freiheit der U rteilsbildung berauben, daß sie uns prägen und beherr­
schen. Vielm ehr meinen sie, uns eben nur zu beliefern. U nd auch w ir
Konsumenten bleiben blind, denn w ir erkennen nicht, daß w ir von
unseren Lieferanten erfahrungslos und -unfähig gemacht w erden; daß
w ir der Freiheit der U rteilsbildung beraubt, daß w ir geprägt und be­
herrscht werden. Vielm ehr glauben auch w ir, eben nur beliefert zu
werden.
Dieses erste Beispiel w eist bereits auf die W urzeln der vierfachen
Verblendung hin. Wenn das H err- und Knecht-Verhältnis so unarti­
kuliert bleibt, so auf G rund der Belieferung. Sie ist es, die es überflüs­
sig macht, G ebote und Verbote als Gebote und Verbote durchzuset­
zen; sie, die es wie ein Tarnkleid ermöglicht, die G ebote und Verbote
unsichtbar zu machen. Das Tarnkleid heißt: „die Welt" - w orunter ich
das uns gebotene Produkt-, namentlich das Geräte-U niversum
verstehe. Dieses birgt alles heute notwendige „Sollen “ bereits in sich.
Die „ G a b e " enthält bereits alle „A ufgaben". D ie Barriere zwischen
den zw ei kantischen Welten ist aufgehoben. Was angeboten und gelie­
fert ist, tritt als eo ipso verbindlich auf. U nd ein „S o llen “ jenseits dieser
„S e in “ und „Sollen “ neutral gegenüberstehenden monistischen W elt
zu suchen, das gilt entweder als überschwänglich oder als subversiv.
Verbindlich aber ist dieses uns gelieferte U niversum der Produkte
deshalb, weil es, was w ir tun und lassen, was w ir zu tun haben oder
nicht, was w ir tun können oder nicht - kurz: unseren ganzen Lebens­
stil so durch und durch bestimmt, daß w ir nun nicht nur (was pausen­
lose Wachsamkeit erfordern würde) den Willen verlieren, uns dieser
Determiniertheit zu entziehen, sondern geradezu unfähig werden, un­
sere Determiniertheit überhaupt zu spüren oder zu erkennen.
Die heutigen Gebote und Verbote sind mithin durchweg Geheimge­
bote und Geheimverbote. Gebote und Verbote, die erlassen werden,
ohne daß die Adressaten, denen sie gelten, etwas davon merken. Frei­
lich sind sie Geheim gebote und -Verbote höchst eigentümlicher A rt, da
sie von den Adressaten, ob w o hl diese sie als G ebote und als Verbote
nicht erkennen, doch automatisch befolgt werden. D ie Unkenntnis ist
gewünscht, da sie nicht nur nicht N ichtbefolgung nach sich zieht,
sondern umgekehrt die Voraussetzung der Befolgung ist. D aher erüb­
rigt sich der Satz „U nkenntnis des Gesetzes schützt nicht vo r Strafe“ .
O der anders ausgedrückt: Da diese Gesetze in deren Produkten bereits
enthalten sind, werden sie so befolgt, wie mit Zuckerguß überzogene
Pillen von Kranken geschluckt werden. Im Augenblicke, in dem die
Produkte konsumiert werden - und sie nicht zu konsumieren, steht
uns, da w ir außerhalb unserer Welt zu leben nicht imstande sind, nicht
frei - werden auch die G ebote mitgeschluckt. D er Ausdruck: „ Die
Welt wird uns geboten“ hat einen ominösen Doppelsinn: „G eboten“ ist
sie uns nämlich nicht nur im Sinne des Partizips von „bieten“ , sondern
auch in dem von „gebieten“ .
Wer aber G ebote „schluckt“ , ohne sein Schlucken oder das G e ­
schluckte zu spüren, der w ird auch vom Gebietenden geschluckt, ohne
sein Verschlucktwerden zu spüren. D as ist keine zw eite Tatsache, son­
dern dieselbe, nur eben aus der entgegengesetzten Richtung gesehen.
In anderen W orten:
Zum Ideal der heutigen Epoche gehört es nicht nur, daß w ir so
konsumieren, daß uns der A kt des Konsumierens und die konsumierte
Speise unmerklich bleiben: also so glatt, so anstrengungslos, so restlos,
so narkotisch w ie möglich. M it dieser Feststellung ist unsere Situation
nur halb beschrieben. Denn dieses Ideal existiert allein einem zweiten
Ideal zuliebe, und erst durch dieses zweite erhält es „Sin n“ : Wir sollen
nämlich - das gehört zum Wesen der heutigen Situation - so konsu­
miert werden, daß uns auch unser Konsumiertwerden unmerklich
bleibe: also so glatt, so anstrengungslos, so restlos, so narkotisch wie
möglich. U nd im optimalen Falle spüren es sogar die Schluckenden
selbst nicht, daß sie uns schlucken. Dies ist die in den beiden ersten
Spielarten der „vier Verblendungen“ erwähnte M öglichkeit. -
Wir sagten, den in den Produkten enthaltenen Geboten zuw ider­
handeln, sei ungemein schwierig. Das ist es deshalb, w eil es sich nicht
einfach um eine Anzahl von Produkten handelt, die, wie Bojen im
Ozean, in einem produktefreien M edium herumtreiben, sondern weil
die Produkte zusammen ein kohäsives, naht-, lücken- und fensterloses
System bilden, ein so komplettes System, daß w ir das Recht haben,
dieses Ganze eine „W elt“ bzw. ein , , Universum“ zu nennen. Diese
Ausdrücke, die w ir ja bereits verwendet hatten, w aren also nicht m eta­
phorisch gemeint gewesen. Das subjektive Kriterium für die „K o m ­
plettheit“ der Produktewelt besteht darin, daß w ir, die w ir in dieser
leben, daran verhindert sind, uns auch nur vorzustellen, daß diese Welt
„anders“ sein könnte, oder daß es gar „andere W elten“ geben könnte.2
Diese Verhinderung leistet die gelieferte Welt spielend. U nd zw ar da­
durch, daß sie uns mit einem Überfluß an Produkten überschüttet;
oder, in einem anderen Bilde: dadurch, daß sie alle Mauerlücken,
durch die hindurch w ir unter Umständen den B lick auf andere Varian­
ten von Dasein und Welt werfen könnten, von vornherein immer
schon verstopft.3 Überfluß ist die Mutter der Phantasielosigkeit. W o­
hin immer w ir greifen: immer bekommen w ir ein D ing zu fassen, das
als bereits gelieferte Fertigw are seine Ansprüche stumm, aber eisern
geltend macht, das also, da es seine „G eb o te “ bereits in sich birgt, die
Vorstellung von anderem ausschließt. Die Midas-Situation von heute.
Vollends plausibel w ird diese „K om plettheit“ der Produktewelt sub
specie Zeit: Diese Welt w ird ja nicht nur dann und wann geboten und
geliefert, sondern, wie die nachbarlichen Radios ohne Erbarm en be­
weisen, pausenlos, also auch in der sogenannten „F re ize it“ . Außer im
Schlafe4 läßt sie also keine Zeitlücken mehr, während derer w ir ein
mögliches anderes, im Doppelsinne „nicht geliefertes“ Leben ahnen
oder gar führen könnten. Und damit ist Unfreiheit geradezu definiert:
denn diese ist nichts anderes als die Abschaffung des Konjunktivs und
der freien „Freizeit“ .5
Fassen wir zusammen: Als „gebotene“ legt die „kom plette W elt“
die Handlungen, M einungen, Gefühle, die für uns in Betracht kom ­
men, kurz: unseren ganzen Lebensstil so total fest, daß unser G ehor­
sam gesichert ist, ohne daß w ir einen Befehl als Befehl hätten zu ver­
nehmen brauchen. So wie die Lieferung der Befehl ist, den wir empfan­
gen, so ist der Konsum des Gelieferten unser Gehorsam.
U n d diese Situation hatte ich gemeint, als ich eingangs behauptet
hatte, im Vergleich zum heutigen T yp der Freiheitsberaubung sei die
in offenen Diktaturen praktizierte noch imperfekt gewesen.
D ie K lim ax der Perfektion ist eben erst dann erreicht, wenn der
Vergewaltigungsapparat nicht nur die Vergewaltigten arglos macht,
sondern, wie w ir es vorhin schon erwähnt haben, auch die Inhaber der
Gewalt selbst; wenn auch diese nicht wissen, oder nicht mehr wissen,
was sie tun: daß sie nämlich liefernd überwältigen. U nd das ist die
heute herrschende Situation. D a es heute nichts gibt, was man nicht
mit dem besten Gewissen tun könnte, darf man w ohl behaupten, daß
in keinem Zeitalter Herrschaft mit so gutem Gewissen ausgeübt wor­
den ist wie in unserem.6

§2

Was man „erfährt” , erfährt man nicht

Was jede Sitte vor jedem Gesetzbuch voraushat: nämlich daß sie so
gilt, daß man (wie die Sprache sagt) dies oder jenes nicht tun „kan n “
(während das Gesetzbuch ausschließlich festlegt, was man nicht tun
darf), das hat die gegenwärtige, durch die Produkte- und Gerätewelt
herrschende Macht vor der noch zu einzelnen Gewaltakten genötigten
Diktatur alten Stils voraus. U nd so wenig, wie der innerhalb eines
Sitte-Schemas Lebende die Sitte spürt (jedenfalls nicht als Einengung
seines Tuns und Lassens, höchstens als dessen Geleise), so wenig emp­
findet der Konform ierte heute das, seine H andlungen, G efühle, M ei­
nungen etc. festlegende, Geräte-Schema als Beh inde rung oder als F rei­
heitsberaubung.
In anderen W orten: wie werden durch einen Prozeß konform iert,
dessen W irksam keit unspürbar bleibt, von dessen Wirksamkeit wir
nicht N o tiz nehmen. U nd zw ar nehmen w ir deshalb keine N otiz von
ihm, w eil er mehr ist als ein einzelner Vorgang oder gar als einer, den
w ir als eine einzelne Zwangsmaßnahme auffaßten. Vieim ehr ist der
Prozeß pausenlos w irksam und letztlich nichts anderes als der M odus
des Behandeltwerdens, den w ir ständig „erfahren“ (das heißt: von dem
w ir ständig affiziert werden). U nd gerade deshalb „erfahren“ w ir ihn
nicht (nunmehr im Sinne von: apperzipieren w ir ihn nicht). Denn was
man ständig erfährt (im Sinne von „affiziert werden“ ), das erfährt man
nicht (im Sinne von: „apperzipieren“ ). Bedingungen der Erfahrung
sind nicht Gegenstände der Erfahrung. D as ozeanische G ew icht, das
Tiefseefische pausenlos „erfahren“ (das heißt: von dem sie pausenlos
affiziert werden), das „erfahren“ sie nicht (im Sinne von: das apperzi­
pieren sie nicht). V ielm ehr ist dieses G ew icht von vornherein in ihren
Bewegungsmechanismus, ja in den ganzen Bau ihrer Leiber einkalku­
liert. Das „ Zwangsschema“ ist zur conditio sine qua non ihres Lebens
geworden, so daß sie, wenn sie von Tiefseefischern an Bord gehievt
werden, platzen. - A nalog: D ie Tatsache der Gravitation „erfährt“ der
Fußgänger nicht; und gewiß nicht als eine spezielle, ihn einengende
Zwangsmaßnahme. Vielmehr ist die Tatsache der Gravitation von
vornherein in seinen A k t des Gehens, ja schon in die Struktur seines
Leibes miteinkalkuliert, so daß er sich, wenn di e Gravitation aussetzen
würde, nicht mehr auf den Beinen halten könnte.
Dasselbe gilt nun auch von künstlichen, also menschgemachten B e ­
dingungen. In unser D asein ist der M odus unseres Behandeltwerdens,
dem w ir ständig ausgesetzt sind, bereits einkalkuliert. D aher „erfah­
ren“ w ir diesen Modus nicht. Höchstens dann, wenn er einmal vor­
übergehend aussetzt: Denn nur die Absenz macht die tägliche Präsenz
sichtbar. U nd dann erscheint er uns als das unentbehrliche So-sein des
Lebens selbst. A ls das würde er uns erscheinen, wenn irgendeine K ata­
strophe von einem Tag zum anderen den M atrizendruck, der uns täg­
lich durch Rundfunk, Fernsehen, Reklame etc. prägt, von uns nehmen
würde. O der wenn - das ist ein ganz neuer Typ von Streik, der als
M öglichkeit am H orizont auftaucht - wenn die uns mit Bildern belie­
fernden Mächte, um die Konsumenten (und das heißt: die gesamte
Bevölkerung) einzuschüchtern, von einem Tag zum anderen die F o r­
men der Belieferung stoppen würde. Ein derartiger Streik „v o n oben“
würde - darüber kann wohl kein Zw eifel bestehen - wie eine kosm i­
sche W indstille wirken. Die Bevölkerung w ürde in Panik und A tem ­
not geraten und schließlich um Gnade flehen.7
Wie dem auch sei: N ich ts liegt dem seine zwanzig Wochenstunden
vo r den Empfangsapparaten sitzenden Konsumenten ferner, als dieses
sein Beliefertwerden, obw ohl es reine Passivität, also reines Erleiden,
ist, als Leid oder als Zw an g zu klassifizieren. Vielm ehr ist diese K o n ­
sumzeit sein Leben; ja, sogar seine dolce vita.

Fragt man nach den verschiedenen Funktionen, die die Menschen in


der konform istischen Gesellschaft ausüben, dann lautet die A ntw ort:
Abgesehen von denjenigen, die daran interessiert sind, die konform e
G esellschaft herzustellen, also die Mitmenschen zu konform ieren, be­
steht die Gesellschaft aus „ K o n fo r m a n d e n “ und „ K o n f o r m ie r -
te n “ .D as heißt: teils aus solchen Menschen, die dazu bestimmt sind,
konform iert zu werden; teils aus solchen, deren Bearbeitung bereits
abgeschlossen ist. D am it soll natürlich nicht behauptet sein, daß die
heutige Menschheit in zw ei säuberlich geschiedene Gruppen zerfalle:
in die bereits konform e Fertigware und in den R oh stoff der noch
ungeformten, w eil nonkonform en, Individuen. V ielm ehr gehört jeder­
mann immer zugleich zu beiden G ruppen, da es innerhalb der k on for­
mistischen Gesellschaft niemanden gibt, der nicht irgendwie bereits
konform iert w äre; und da es andererseits keinen noch so perfekt K on-
form ierten gibt, der es nicht nötig hätte, durch pausenlose Konform ie-
rung, durch eine „conformatio continua“ immer weiter bei der Stange
gehalten und immer neuen Situationen adaptiert zu werden.
Wenn man statt von „K on form anden“ und von „K on form ierten“
von „K on form isten“ spricht, dann verwendet man nicht nur einen
ungenauen, sondern, wie w ir schon zu Beginn betont hatten, einen
verfälschenden Ausdruck. Denn dann unterstellt man dem Indivi­
duum, daß es die W ahl habe, sich konform zu machen oder das auch
bleiben zu lassen. Dann setzt man, gleich ob bewußt oder unbewußt,
jene Freiheit voraus, die zu liquidieren der Konform ism us sich zur
Aufgabe macht und die er tatsächlich in höchstem Grade bereits liqui­
diert hat. In gewissem Sinne stellt daher - w ir hatten das schon zu
Beginn bem erkt - der B egriff „K on form ist“ bereits eine Ableugnung
der Tatsache des Konform ism us dar. Diese Ableugnung oder F äl­
schung ist freilich bereits das W erk des K onform ism us selbst; das
heißt: w er so spricht, der ist bereits konform . Denn eine der Lieblings­
beschäftigungen, eine der wesentlichen Betrugsaktionen des K o n fo r­
mismus besteht eben darin, Einzelne als Konform isten anzuprangern;
ja diese gewissermaßen als willentliche Konform isten hinzustellen, um
dam it zu verbergen, daß der Konform ism us alle konform zu machen
sucht. In der Tat blüht der Konform ism us am schönsten dort, w o er
dem unfrei Gemachten den Wahn der Freiheit beläßt oder ihm den
Wahn überhaupt erst einimpft; w o er das Individuum mit E rfo lg dazu
bringt, ein Individuum -Vokabular nachzuplappern; ein Vokabular,
das durch die Tatsache der Plapperei sich selbst widerlegt. - Diejenigen
Mächte, die die Konform ierung durchführen, die werden - so unw i­
derstehlich ist ihre Leistung - zu O pfern ihrer eigenen Konform ie-
rungsaktivität. Sie betonieren sich in die homogene Masse, die sie her­
stellen, mit ein, glauben ihren eigenen Lügen und plappern, wenn sie
sprechen, sich selbst bereits nach.
N ichts entspräche freilich den Intentionen des (sich auf totale U n ­
freiheit hin entwickelnden) Zeitgeistes weniger, als wenn es w irklich
Einzelne wären, die sich gleichschalteten. Denn das Ziel, das der Z eit­
geist sich gesetzt hat und für dessen V erw irklichung er nichts unver­
sucht läßt, besteht ja in der Situation restlos gedrosselter Spontaneität,
gelöschten Selbstbewußtseins, absoluter Gewissenlosigkeit. D as be­
deutet aber (abgesehen davon, daß der Zeitgeist sich selbst zu blenden
sucht), daß er es keinem Individuum gönnt, zu wissen, was es tut. U nd
diesen Zustand durchzuführen ist er durchaus fähig, da er das Indivi­
duum ja daran verhindern kann, daß es, was es tut, noch im eigentli­
chen Sinne „ t u t “ . Tatsächlich ist ja dieser Zustand bereits durchge­
führt, da er an die Stelle des Tuenden (oder gar „H andelnden“ ) den
nur „ Mittuenden“ gesetzt, die Grenzlinie zwischen Aktivität und Pas­
sivität ausgelöscht und an die Stelle der zw ei unterschiedenen Provin­
zen die eine neutrale Provinz der „M edialität' “ zur H errschaft ge­
bracht hat. Selbst die Rede von seiner „Freiheit“ macht das In d ivi­
duum nur mit. Rühmt er sich seiner Individualität, so redet er nur
nach, was er im Rundfunk darüber gehört hat. Sogar wenn er von
„F reih eit“ spricht, spricht nicht eigentlich er, vielm ehr gibt er dann das
W ort, das er empfangen und konsumiert hat, nur wieder von sich.
Was vom Endziel, das sich der Konform ism us gesetzt hat, gilt, das
gilt natürlich auch schon von dem Wege, der zu diesem Ziele führt.
Auch der Weg zur Unselbständigkeit soll nicht selbständig zurückge­
legt werden. Aber zwischen W eg und Z iel hier überhaupt noch zu
unterscheiden, ist sinnlos, da sich jedermann schon in einer konform i­
stischen Situation befindet, die ihrerseits als Stufe zu einer „höheren
Stufe“ des Konform ism us dient. Jedenfalls w ird der Weg zur K onfor-
miertheit nicht dadurch zurückgelegt, daß w ir uns als Einzelne durch
einen bewußten A kt, durch ein ausdrückliches sacrificium individua-
tionis oder intellectus selbst aufgeben und uns selbst gleichschalten -
wie gesagt: dieser O pferw eg würde, da er uns als selbständige und
spontan uns opfernde Subjekte und als (wenn auch schlechte) C harak­
tere voraussetzen w ürde, dem Zielzustande widersprechen.9 Vielmehr
werden wir, da w ir immer schon halbwegs „m edial“ und „konfor-
miert“ sind, unversehens immer weiter konform iert. U nd je perfekter
w ir das sind, um so weniger ahnen w ir etwas von unserem Zustande,
da mit ansteigendem Konform ism us unsere Erinnerung an den nicht­
konform istischen Menschen immer mehr verkümmert. In der Tat
würde es keinem Konform isten im Traume einfallen, einen anderen
mit dem epitheton „K on form ist“ zu belegen. 10
Eine der wesentlichen Aufgaben der Konform ism us-M aschinerie
besteht darin, zu erreichen, daß sie dem Konform anden oder K onfor-
mierten unbekannt bleibe; daß ihre Schilderung, auf jeden Fall aber
ihre kritische Schilderung das O hr des Konform isten nicht erreiche.
D ie Aufgabe und die Leistung der Konformierungsm aschine be­
schränkt sich durchaus nicht, wie man gewöhnlich glaubt, darauf, alle,
die sie zu ihren O pfern zu machen unternimmt, auf gleiche Weise
gleich reagieren zu lassen. U m nichts w eniger wesentlich ist es ihr, ihre
Konformanden, und zwar alle, von der Auffassung gewisser G egeben­
heiten ganz und gar auszuschließen, also zu verhüten, daß diese über­
haupt „z u r Gegebenheit kom men“ . U nd in diesem Sinne „ungegeben“
soll in der Konform ism us-Situation vor allem - diese Situation selbst
bleiben. „D ie N acht ist gut, um nicht die N acht zu sehen“ (molus-
sisch).
Wo es aber den Stimmen von N o n - oder Antikonform isten doch
gelingt, mit einer auffallenden These durchzudringen, da setzt eine
allgemeine Abw ehrreaktion ein, und zwar eine Abw ehrreaktion von
jener A rt, die uns aus der Frühzeit der Psychoanalyse bekannt ist:
nämlich eine A bw ehr, deren M otivation und Vehemenz allein mit
H ilfe der Theorie, gegen die die A bw ehr sich richtet, erklärt werden
kann; eine A bw ehr mithin, die die These bestätigt. Ein vielstimmiger
Chor, der homophon beteuert: „W ir sind nicht konform istisch“ , be­
stätigt, was er bestreitet, durch die Art in der er es bestreitet. 11
Zuweilen nimmt die Bestreitung freilich etwas subtilere Form en an.
Die Tatsache des Konform ism us w ird zw ar nicht abgeleugnet, w ohl
aber das Recht, die Tatsache des Konform ism us wichtigzunehmen,
und diese als neuartig zu betrachten. „W as w ollt Ihr eigentlich?“ heißt
es dann, „als wenn es Konform ism us nicht immer, jaw ohl immer,
gegeben hätte! U nd zw ar unter dem Nam en ,Sitte‘. Solange er unter
diesem wohlanständigen Nam en lief, hat er - außer es handelte sich um
abergläubische Sitten - euch Philosophen kaum je in H arnisch ge­
bracht. O ft galt sie euch sogar als Bürgschaft von O rdnung und U r ­
banität. W arum gerade heute?“

W ir hatten zu Beginn unseres ersten Paragraphen behauptet, daß der


heutige K onform ism us, im Unterschiede zu der hinter uns liegenden
Zeit der D iktatur, nicht mehr durch ein aktives, geschweige denn be­
wußtes Sich-gleichschalten entstehe. Gleichschaltung in diesem refle­
xiven Sinne ist entbehrlich geworden, an ihre Stelle ist das Gleichge­
schaltetwerden getreten. D azu kom mt, daß auch die Führerpersön­
lichkeiten, auf die die Diktaturen noch angewiesen gewesen waren,
heute überflüssig geworden sind. Denn was uns konform macht, ist
kein „ w e r " mehr, sondern ein „w as“ : das sich aus identischen Sirenen­
stücken zusammensetzende U niversum der Geräte - w obei man unter
„G eräten “ nicht nur produzierende Maschinen im engeren Sinne zu
verstehen hat, sondern ebenso alle Belieferungsinstrumente (wie den
Rundfunk), sogar alle heutigen Produkte in ihren Zusammenspiel. Sie
sind die Diktatoren von heute. Denn jedes Gerät trägt eine bestimmte
Anweisung und einen bestimmten Anspruch in sich. U nd auf G rund
seines festliegenden Behandlungs- und Verwendungsanspruches hin­
dert es uns daran, es unsererseits auf unsere A rt anzusprechen. - In
anderen W orten: W ir sind der M öglichkeit beraubt, auf sie individuell
zu reagieren oder sie individuell zu verwenden, z .B . auf ihnen so zu
spielen w ie auf einem Klavier. U nd derartiges zu versuchen, w äre
blanker Unsinn. Ein handbemalter und -geschnitzter Radioapparat,
den ich in einem Bauernhaus in der Steiermark sah, w ar das geschichts­
philosophisch absurdeste O bjekt, das m ir je vo r Augen gekommen ist.
Was von den Einzelgeräten (die es ja, genau genommen, garnicht
g ib t)" gilt, trifft natürlich erst recht auf die uns umgebende Gerätewelt
als ganze zu. D a sie uns aufs bestimmteste in Anspruch nimmt, und
zw ar uns alle auf nahezu identische Weise, sind w ir der Fähigkeit
beraubt, sie so oder so anzusprechen - kurz: die Gerätewelt schaltet
uns diktatorischer, unwiderstehlicher und unentrinnbarer gleich, als es
der Terror oder die dem T error untergeschobene Weltanschauung ei­
nes D iktators jemals tun könnte, jemals hat tun können. Hitlers und
Stalins erübrigen sich heutzutage. U nd wenn jemand hinzufügen
w ürde: „leider“ , dann würde dieses Wort natürlich nichts anderes
besagen, als daß die konform istische Gesellschaft nunmehr leider so
reibungslos und so automatisch funktioniert, daß sie es sich leisten
kann, auf die kommandierende Stimme oder auf die terroristisch kon­
trollierenden Hände eines D iktators zu verzichten.
Vielleicht w irkt diese Schilderung des neuen Stadiums unserer U n ­
freiheit „übertrieben“ . A ber sie ist gewiß nicht übertriebener als meine
anderen Schilderungen unserer heutigen Situation. Was von heute aus
„m orgen “ heißt, w ird morgen „heute“ heißen; und was heute w ie eine
Übertreibung aussieht, w ird morgen wie eine nüchterne Schilderung
aussehen.

Exkurs über die Ausnahmen

„Z w a r trifft es z u “ , heißt es in einer der zuverlässigsten m olussi-


schen C hroniken, „daß es heute, in der Blütezeit des Konform ism us,
K onform isten nicht eigentlich mehr gibt, Konform isten nicht mehr zu
geben braucht; also keine Personen, die sich aus Opportunism us-,
Sicherheits- oder Bequemlichkeitsgründen selbst gleichschalten. Was
es gibt, sind nur noch ,Konform anden‘ und ,K onform ierte': Menschen
also, die konform iert werden sollen, und solche, die, ohne zu wissen,
w ie ihnen das zugestoßen ist, bereits konform iert sind. A ber Ausnah­
men gibt es, und diese Ausnahmen dürfen nicht unterschlagen werden.
V o r allem denke ich dabei an eine bestimmte Spezies von K ultu r­
Publizisten, die die Attitüde der Gleichschaltung ausdrücklich beja­
hen; und die die Verteidigung des ohnehin herrschenden Zustandes zu
ihrer (angeblich unpopulären) A ufgabe machen. O b sie das tun, weil
oder obwohl sie zu gescheit sind, um, wie die M ehrheit der K on for-
mierten, dem Zw ang des aufgenötigten Lebensstils einfach zu verfal­
len, das kann hier offen bleiben. A u f jeden Fall sind sie höchst zw eifel­
hafte Gesellen, da sie trotz ihrer Gleichschaltung durch ihren Stil und
durch ihre W ortwahl beweisen, wieviel ihnen daran liegt, zur geistigen
Elite (und das heißt: zu den Nichtkonform isten) Molussiens zu zäh­
len. D er Selbstwiderspruch ihrer Tätigkeit (richtiger: das G efü h l der
Unredlichkeit, das bei derart widerspruchsvoller Tätigkeit unvermeid­
bar ist) zwingt sie dazu, sich selbst zu überschreien; also ihren A rgu ­
menten einen niemals glaubw ürdig klingenden Aplom b zu verleihen.
Abgesehen von den Vorteilen, die Gleichschaltung als solche stets mit
sich bringt, sind es vor allem zw ei Ziele, die sie mit diesem ihrem
Einsatz für das, was (da es ohnehin herrscht) Fürsprache nicht benö­
tigt, anstreben:
Erstens hoffen sie den konformen Leser davon zu überzeugen, daß
sie sich einer ganz unpopulären Sache annehmen, also eine unalltägli­
che Zivilcourage beweisen; und
zw eitens wünschen sie dem konform en Leser zu schmeicheln: die­
sem nämlich das stolze G efü h l zu verm itteln, daß er als K onform ist ein
ganzer M ann sei, und als er selbst für seinen K onform ism us (d.h. für
sein Nicht-er-selbst-sein) einstehe. Raffinem ent kann man diesen A n ­
wälten der Gleichschaltung also nicht absprechen. ,H eute‘ , so begin­
nen sie ihre pseudo-kühnen Ausfälle, ,heute, da jedermann den K o n ­
form ism us beargw öhnt, und da es nachgerade ein undankbares, wenn
nicht sogar ein riskantes Unternehmen geworden ist, fü r den K o n fo r­
mismus eine Lanze einzulegen . . .‘ - dies der Tenor, in dem sie, um die
Situation vollends zu verunklären, unterstellen, daß die herrschende
M ehrheit ihrer Zeitgenossen N on-K onform isten seien, und daß K o n ­
formisten die seltenen und kühnen Ausnahmen darstellen. -
D ie Lieblingsfeinde dieser Publizisten sind, wie gesagt, die ,Kultur-
philosophen‘ , die sie zumeist mit verächtlicher Geste als ,professio-
nelle K ulturkritiker‘ apostrophieren, als ,Schreiberlinge‘ , die ,stets H o ­
norar fü r ihre Arbeiten in Em pfang nehmen“. O ffenbar hoffen sie mit
dieser Bem erkung, die konform en Leser (die sonst ja gegen G eldver­
dienen nichts einzuwenden haben) zum Lachen zu bringen. Gleichviel,
entscheidender ist, daß sie die ,professionellen K ulturkritiker‘ als uner­
wachsen und ängstlich darstellen, ihnen nämlich vorw erfen, sie ließen
es an dem Mut fehlen, wie ein Mann in die W irklichkeit vorzupreschen
und zu dieser, wie sie nun einmal sei, ja zu sagen und freudig an dieser
mitzuarbeiten. W ahrhaftig, die Verkehrung der Tatsachen ist unüber­
bietbar. Während sie ihre eigene Gleichschaltung als riskante und
kühne Konversion des Geistes zum W irklichen darstellen, verleihen
sie dem Antikonform ism us das Aussehen der Feigheit oder der U n er­
wachsenheit.“ 13
1979

Als ich vor zwanzig Jahren auf dem Tokioter Antiatom -Kongreß
erklärte, daß der B egriff der Grenze (damit der des nur nationalen
Verantwortungsbereiches) bald antiquiert sein werde, da sich radiover­
seuchte Niederschläge einen D reck darum kümmern würden, welches
Terrain unten als „h ü ben “ gelten würde und welches als „d rüben“ , da
blieb ich, da zum Kongreß nur technisch, politisch oder geistlich inter­
essierte Personen gekommen waren, nicht aber philosophisch interes­
sierte, erst einmal echolos. Einige der sehr patriotischen Gastgeber
erschraken auf tiefste, als ich erklärte, daß sich, da die Effekte dessen,
was man „zuhause“ täte, in anderen Ländern stattfinden würden, auch
der B egriff der Souveränität relativieren würde. -
D ie Wirkungen der Testexplosionen sind wahrhaftig nicht der ein­
zige G rund für das Verlöschen der Geltung des Begriffs „G re n ze “ . So
ist es heute für die D D R -R egieru ng unmöglich, ihre Bürger „bei der
Stange zu halten“ , denn ihre Mußezeit verbringen sie gewissermaßen
in der Bundesrepublik, da sie vo r der Fernsehtruhe sitzen, die ihnen
die Teilnahm e am dortigen Leben, auch dem politischen, an dem dorti­
gen Geschm ack, am dortigen Idiom verm ittelt. A uch Wellen kümmern
sich nicht um politische Grenzen. D as geht so weit, daß die D D R -
Teens sich bereits genau so anziehen wie die B R D -T een s: ein B ild in
einer skandinavischen Illustrierten zeigt D D R -Jugen dliche, die nicht
nur Blue Jeans tragen - das wäre in den Augen der D D R -R egieru n g
noch nicht so gefährlich (obwohl diese Verwahrlosungsm ode dem dort
geltenden Im perativ der sozialistischen Adrettheit widerspricht); einer
der Abgebildeten trägt sogar ein T-Shirt mit dem A ufdruck I 0 W A
U N I V E R S I T Y . O b dieses amerikanische H em d über die G renze ge­
schmuggelt worden oder als Geschenk hinübergekommen ist, oder ob
sich der Jugendliche das H emd nach einem im "TV gesehenen M odell
selbst zurechtgeschneidert hat, das ist ziemlich egal. Was gilt, ist, daß
im Zeitalter der Elektronik dem B egriff der „G re n ze “ kaum mehr
etwas entspricht. D ie Berliner M auer war, schon als sie gebaut wurde,
das obsoleteste Bauw erk des zwanzigsten Jahrhunderts.
A bsurd die seit zehn Jahren international werdende M ode der D ia­
lektdichtung. W enn die Vertreter dieser neuen M ode aus Franken,
dem Baskenlande, Brasilien oder Burm a zu ihrem T reffpunkt in N e w
Delhi anjetten, dann widersprechen sie durch ihre R eise-A rt: durch
das bequeme Überspringen aller Grenzen, ihrem Reiseziel, das in der
D iskutierung und G lorifizierung der Enge besteht. Provinzler aller
Länder, vereinigt euch! A ber einigen können sie sich in N e w D elhi nur
mit H ilfe von Dolm etschern oder dadurch, daß sie alle dieselbe, über
die G ren zen hinw eg verständliche und die Enge negierende englische
Hochsprache radebrechen. Einander ihre provinziellen T exte vorzule­
sen, kom m t nicht in Frage, da ja keiner keinen verstehen w ürde, und
da jedem ja sogar die dialektfeindliche Hochsprache jedes anderen
spanisch bleibt. D ies ist das dritte Beispiel fü r die D ialektik der Grenze
heute.
1958

§r

Nicht nur gilt: „D ie Welt wird ins Haus geliefert“


sondern auch: „D as Haus w ird der Welt ausgeliefert“

Im ersten B ande' habe ich geschildert, wie durch Rundfunk und


Fernsehen die Ereignisse und Gegenstände der W elt „in s H aus gelie­
fert“ werden; nicht anders ins H aus geliefert werden als G as oder
W asser; daß die Außenwelt, da sie über die weitesten Entfernungen
hinweg und durch die massivsten Wände hindurch in unsere Zim m er
hineingeschleust w ird, sow ohl ihren Außen-Charakter w ie ihre W irk­
lichkeit verliert, daß sie uns also nicht mehr als „W e lt“ begegnet.
Freilich auch nicht einfach als ein „ B ild “ der Welt. V ielm ehr als etwas
Drittes, als etwas sui generis, als ein „ Welt-Phantom"; und daß dieses
Phantom nun seinerseits als „M atrize" w irkt, nämlich sow ohl uns, die
tatsächlichen Konsum enten, prägt, als auch das w irkliche A rrange­
ment der Ereignisse beeinflußt, und daß es dadurch so manches Stück
der sogenannten „W elt“ an pragmatischer W irklichkeit übertrifft.
D a diese Belieferung des Menschen mit W elt-Phantomen kein ku­
rioses Einzelereignis darstellt, sondern einen V organg, der die B ezie­
hung Mensch-W elt in toto verw andelt hat, kom mt ihr fundamentale
philosophische Bedeutung zu. D am it ist aber nicht gesagt, daß unser
heutiges Dasein ausschließlich ein System von Belieferungsvorgängen
oder gar eine einzige ungeheure Belieferung darstellt. Denn es gibt
einen Ergänzungsvorgang, der unser Dasein nicht weniger entschei­
dend prägt als die „B elieferun g“ : nämlich die „Auslieferung des Men­
schen an die Welt“ .
O ft freilich sind die beiden nicht nur Ergänzungsvorgänge, vielmehr
Momente einer einzigen Transferierung, die den Menschen oder die
M enschengruppe A als geliefertes Konsum gut und die M enschen­
gruppe B als belieferten Konsumenten zugleich enthält. In solchen
Transferierungsfällen herausfinden zu wollen, ob es sich um „B eliefe­
rung“ oder um „A uslieferun g“ handelt, wäre müßig. D ie im Fernse­
hen so beliebten „ Besuchs-Sendungen“ illustrieren, was w ir meinen:
Bekanntlich gibt es in den Vereinigten Staaten T V -Show s (z.B .
„P erson to Person“ oder „Strike it R ich “ ), in denen wirkliches H eim ­
leben w irklicher Personen oder Familien den M illionen Fernsehkun­
den zugestrahlt w ird. D a sitzen w ir also z .B . vor dem Apparat in N e w
Y o rk , auf dem Bildschirm öffnet sich die H aus- oder W ohnungstür
der anonymen Familie X oder des prominenten Schauspielers Y : unter
ihrer Führung wandern w ir durch die W ohnung;3 die M itglieder des
Haushaltes stellen sich vo r oder werden uns vorgestellt: Fido springt
an uns hoch, als wären wir alte Nachbarn, Schul-, Sexual-, ja man
staune: sogar Finanzprobleme w erden aufs vertraulichste vor uns aus­
gebreitet.
Ideal ist allerdings auch diese Ungeniertheit noch nicht, da sich die
Personen, mit denen w ir da beliefert werden, selbst ausliefern, also
unsere freiw illigen O pfer sind. D as „O ptim um “ von Auslieferung und
Belieferung wird erst dann erreicht, wenn die Ausgelieferten genau so
wenig w ie andere Waren davon unterrichtet sind, daß sie ausgeliefert
werden und nichts dagegen unternehmen können; wenn sie also (wie
das in den Sendungen vom T yp „T h is is you r L ife“ regelmäßig ge­
schieht) unter irgendeinem V orw an d an einen Platz geködert werden,
auf dem sie sich ahnungslos unter dem Auge eines Aufnahmeapparates
befinden, weil dort fü r sie (oder eben nicht für sie, sondern für die T V -
Kunden) ein ungeheuer aufregendes Erlebnis bereitgestellt ist, das nun
in frischestem Zustand inklusive Schreikrämpfen, Tränen oder O hn-
machten den Kunden zugeleitet w ird. So hat man z .B . Situationen
arrangiert - veritable Wiedersehenszenen im Sinne der Aristotelischen
Poetik - , in denen Familienmitglieder, die (seit Jahrzehnten auseinan­
dergerissen und in die entferntesten Ecken der Welt verschlagen) nie
mehr zu hoffen gewagt hatten, einander noch einmal zu begegnen,
plötzlich einander gegenüberstanden. W ährend man früher, in naive­
ren Zeiten, Stories mit der Versicherung attraktiv gemacht hatte, sie
seien „true to life“ , stellt man nunmehr - denn Fortschritt muß sein -
das „ true life “ : den ungespielten Schrei, die echte Träne, die effektive
Ohnmacht wirklich her, damit diese arrangierte Wirklichkeit eine
Story ergebe und als solche, also in phantomisiertem Zustande, ange­
boten und konsumiert werde.4 K u rz: den Zuschauer hat man in einen
Phantom-Kannibalen transformiert, der nun die Bilder seiner in die
Falle der Aufnahmeapparate gelockten Mitmenschen verspeist: und
der nervös w ird, ja sich geradezu betrogen fühlt, wenn es einmal aus
irgendeinem G runde passiert, daß sich die Mahlzeit zur gewohnten
Fütterungsstunde verzögert oder daß sie gar ausfällt.
Anders ausgedrückt: Die gesellschaftlichen Situationen „Begegnen“
oder „Besuchen“ sind in Konsum vorgänge umgewandelt, in Konsum ­
vorgänge, in denen nun jeweils der eine Mensch als der Ausgelieferte
figuriert, der andere als der Belieferte; der E ine als Konsummittel, der
Andere als Konsum ent.5 Zu den G ütern, mit denen wir beliefert w er­
den, gehören nun also auch, und sogar in erster Linie, unsere Mitmen­
schen: w ir alle sind nun virtuell die Esser und die Speise der Anderen.
Insofern ist die Situation kannibalisch. Niem and, der nicht diese bei­
den kannibalischen Vorgänge, also das Speisen und Verspeistwerden,
zugleich ins Auge faßt, kann sich ein vollständiges Bild von unserem
heutigen Dasein machen.

§2

Der heutige Dieb stiehlt ohne zu stehlen,


denn er ist „n u r” Bilderdieb

A ber wir wissen durchaus nicht immer, daß wir ausgeliefert sind
und konsumiert werden. V or allem akustisch sind w ir ahnungslos A u s­
gelieferte. Ich spreche davon, daß es heute, mit H ilfe des sogenannten
„tapping“ , möglich und usuell ist, unsere Gespräche und unsere G e ­
räusche, auch die allerintimsten, abzufangen.
„ N e in !“ höre ich einwenden. „V o n effektiver Auslieferung zu re­
den, ist Irreführung. So wenig die durch Radio oder T V gesendete
Welt dadurch, daß sie in unsere Zim m er einströmt, dort ihre Existenz
verliert, wo sie wirklich ist; so wenig sie hinter ihren Reproduktionen
aufhört, die zu sein, die sie ist; so wenig hören wir auf, w ir selbst zu
sein, wenn man unsere Stimme abzapft, um sie an einen anderen O rt
zu schleusen oder an viele andere O rte zugleich. U nd so wenig die
durch R adio oder "TV in unsere H äuser transferierte W eit die wirkliche
Welt ist, sondern deren phantomhafte Doppelgängerin, so wenig w er­
den w ir, wenn w ir angezapft sind, w irklich forttransportiert, also im
physischen Sinne ausgeliefert.“ -
Soweit der Einwand.
A ber diese Analogien sind schief, der Einw and trifft nicht. U nd
zw ar aus folgenden zw ei Gründen nicht:
1 . Es ist nicht wahr, daß sich die Originale der uns ins Haus geliefer­
ten Gegenstände und Ereignisse „hinter ihren Reproduktionen“ intakt
erhalten; daß sie die bleiben, die sie „sin d "; daß es im K on sum -K os­
mos „D in ge an sich“ gebe.
W ahr ist vielmehr, daß sie durch ihr Reproduziertwerden, ja schon
durch ihre Reproduktionsbereitschaft, affiziert w erden; daß sie sich
ihren Reproduktionen zuliebe verändern.
So findet z .B . eine fü r M illionen von Fernsehkunden mitbestimmte
Parlaments- oder Gerichtssitzung auf andere Weise statt, als sie statt­
finden würde, wenn sie nicht gezeigt werden würde. Z u r „w irklichen
W irklichkeit“ kommt es also gar nicht.
2. Es ist nicht wahr, daß diejenigen, die uns belauschen oder die
unsere Äußerungen in bleibender D ingform aufbewahren (also uns
„recorden“ ), nur „R eproduktionen“ erfahren oder nur „R eprod uktio­
nen“ von uns in der H and hätten. D ie Stimme, die sie nun hören oder
besitzen, mag zw ar „n u r“ Reproduktion sein. A ber pragmatisch gese­
hen besagt dieses „n u r“ gar nichts. Ü ber das stimmlich M itgeteilte
verfügen sie nun effektiv, und damit effektiv auch über uns.
W ahr ist also, daß w ir, die wirklichen M enschen, dadurch, daß sich
Reproduktionen von uns in der Verfügungswalt A nderer befinden,
w irklich in die Verfügungsgewalt Anderer geraten, daß w ir wirklich
ausgeliefert (z. B . privat oder geschäftlich oder politisch erpreßbar)
sind. D ie Ergebnisse des Phantomisierungsbetriebs sind neue W irk­
lichkeiten. - Daten, die das bestätigen, werden w ir bald kennen­
lernen.
D ie Annahm e, w ir blieben, obw ohl geraubt, beraubt, bestohlen
oder auch nur bestehlbar, untangiert und w ir selber, ist also falsch. Das
zu betonen, ist deshalb w ichtig, weil man uns unsere Untangiertheit,
um uns indolent zu machen, einzureden versucht; und w eil diese Indo­
lenz zu den wesentlichen Lebenslügen unserer Epoche gehört. D ie
Funktion dieser Lüge besteht darin, daß sie die total veränderte Lage,
in die wir hineingeraten sind, verharmlost oder geradezu unsichtbar
macht. Verändert aber ist unsere Lage durch die Tatsachen,
i. daß es einen absolut neuen Typ von Dieb gibt: den Bilderdieb;
bzw. ein erstmaliges Eigentumsdelikt: den Bilderdiebstahl;
und 2. daß wir einer absolut neuen Gefahr ausgesetzt sind: der,
unseres Aussehens und unserer Äußerungen beraubt zu werden.
Denn dies ist die charakteristische Chance des Diebs im Reproduk­
tionszeitalter: Da er sich darauf beschränken kann, sich, anstelle von
Menschen und Dingen, Bilder von Menschen und Dingen anzueignen,
hat er bei jedem Diebstahl die Möglichkeit zu behaupten (ja sogar sich
selbst weiszumachen), daß er nicht stehle, jedenfalls nicht wirklich
stehle.
Die Tragweite dieser Chance ist ungeheuer. Vermutlich hat es in der
Geschichte nur wenige Heuchelei-Chancen von gleicher Verführungs­
kraft gegeben, und nur wenige, die so allgemein und so bis ins Letzte
ausgenutzt worden wären wie diese. Denn aus der Chance, mit gutem
Gewissen Bilder zu stehlen, hat sich eine reguläre „Ik o n o k le p to m a -
n ie “ entwickelt, das heißt: die Gewohnheit und die Sucht, den Dingen
der Welt (namentlich denjenigen, deren Eigentümer man nicht ist) ihr
Aussehen zu entwenden und dieses Aussehen (d. h. deren Bilder) als
Eigentum zu betrachten.6 Und dieser „Ikonokleptomanie“ verfallen
sind ja nicht etwa nur Einzelne, nicht nur diese oder jene Kriminelle,
sondern wir alle. Jeder von uns ist ja daran gewöhnt, das Warenhaus
der Welt zu durchstöbern, die Stücke, die ihm ins Auge stechen, mit­
gehen zu lassen und diejenigen prominenten Zeitgenossen, die er „ha­
ben“ oder verkaufen möchte, festzuhalten, eben im Bilde. Und nie­
mand von uns kommt auf den Verdacht, damit ein Eigentumsdelikt zu
begehen. Jeder bleibt vielmehr in der Illusion, daß er die Originale in
statu quo und dort belasse, wo sie sich vor der Entwendung befunden
hatten.7
D ie Chance, die der Photograph oder der Abhörer genießt, wenn er
sich darauf beschränkt, Reproduktionen von uns (oder von Äußerun­
gen von uns) zu entwenden, ist also die, stehlend nicht zu stehlen. Auf
dieses „nicht“ kommt es an. Dieses „nicht“ ist es, auf das jeder sich
berufen kann, und das unserem scheinheiligen Zeitalter sein gutes Ge­
wissen und seinen Heiligenschein schenkt. Dem Geschäftsmann, des­
sen Telephon von einem „snooper“ abgehört w ird, w ird seine G eld ­
börse nicht entwendet. N ic h t . D em aus dem Versteck heraus in
„cheese cake“ -Position photographierten G irl w ird seine Jun gfern­
schaft nicht geraubt. N i cht. Abgesehen davon, daß sich der V orrat an
beplauderten M agnetophonbändern um ein paar M eter verlängert hat
und daß es ein paar Film e m ehr auf der W e ltgib t, scheint also nicht das
m indeste passiert zu sein.
N ein , nicht das mindeste. Denn nicht nur w ir sind ahnungslos.
N icht n u r w ir O pfer scheinen nach dem Eigentumsdelikt genau so
weiterzuleben w ie vo r diesem, also ohne den Verlust zu spüren. V iel­
mehr sind eben auch die Diebe und die Räuber selbst ahnungslos, da
sie, obw ohl um ein Beutestück reicher, doch nichts in der H and halten,
was einem Anderen nun fehlt. So wie uns nichts zugestoßen ist, so
haben sie nichts getan, uns nichts angetan. Während die klassischen
Ahnherren: die rechtschaffenen W egelagerer und Taschendiebe, ein­
deutige Tatbestände schufen: nämlich Situationen, in denen den O p ­
fern die entwendeten O bjekte effektiv fehlten, schaffen die heutigen
E nkel eine ganz undeutliche Situation, nämlich eine, in der den B e ­
stohlenen (also uns, die w ir von der Bild-Entw endung nichts spüren)
nichts zu fehlen scheint, in der also, so paradox das klingen mag, das
Fehlen fehlt.
W ährend die Ahnen sehr genau wußten, was sie taten, wenn sie
Louisdors oder Taschenuhren entwendeten, bleiben deren Enkel, die
photographierend oder „tap p in g“ nur Reproduktionen ihrer O pfer
erzeugen, so entsetzlich arg- und ahnungslos, daß sie ihrem G ew erbe
mit dem besten Gew issen von der Welt weiternachgehen können. Z u r
Rede gestellt, können sie im m er ihre Hände in U nschuld waschen und
sich im mer auf ein A lib i berufen. U nd zw ar im m er (dies eine zusätzli­
che Eigentüm lichkeit) auf das A libi ihrer O pfer, also auf unser Alibi,
da sie ja immer die M öglichkeit haben, auf uns zeigend, das „nicht“ zu
beweisen, also nachzuweisen, daß w ir uns nicht in ihrer Hand b efin­
den, sondern uns „a lib i“ aufhalten, das heißt: anderswo; eben dort, wo
w ir „w irk lich “ seien; und daß w ir unverändert, unangerührt, ohne
verifizierbare Einbuße als diejenigen weiterleben, als die w ir vo r dem
Eigentum sdelikt gelebt hätten. K u rz: V on einem Täter, einer Tat, einer
U ntat, einer Schuld, von Ursachen fü r Scham oder Reue scheint über­
haupt keine Rede sein zu können.
N ichts ist schwieriger, als den Zusammenhang zwischen dem jew ei­
ligen geschichtlichen Stand der Technik und dem der M oral zu durch­
schauen. W ir haben das noch nicht gelernt. Darum klingt unsere Be­
hauptung, daß die in unserem Zeitalter selbstverständlich gewordenen
Reproduktionsverfahren im B egriff sind, unser Gew issen und unser
Schuldbewußtsein zum Verkümmern zu bringen, befremdlich. W ir
werden dazulernen müssen.

Abhör-Apparate sind totalitär

Der Ausdruck „A uslieferung des Menschen an die Welt“ scheint


nur eine andere Form el für politischen Totalitarism us, also für dasje­
nige System , in dem nicht nur alles, was der Einzelne zu tun hat,
festgelegt ist, sondern auch alles, was er tut und was in ihm vorgeht,
dem A uge der M acht ausgeliefert, also kontrolliert sein soll. In der Tat
ist es kein Zufall, daß die totalitären Regierungen aller Schattierungen
nach den Instrumenten, von denen hier die Rede sein w ird, voll G ier
gegriffen haben (mindestens nach denjenigen Geräten, die, ehe volle
Perfektion erreicht war, versprachen, ein M axim um an Kontrolle zu
gewährleisten).
U m gekehrt aber gilt auch, daß jede Gesellschaft, die sich darauf
einläßt, sich solcher Geräte zu bedienen, die G ew ohnheit annimmt
und sogar annehmen muß, den Menschen als total auslieferbar, ja als
einen, dessen Auslieferung erlaubt ist, zu betrachten, und damit in die
G efahr gerät, in einen auch politischen Totalitarism us hineinzurut­
schen.8 Diese G efahr ist deshalb so groß, weil (wie w ir gesehen haben)
technische Erfindungen niemals nur technische Erfindungen sind.
N ich ts ist irreführender als die (zw ar selten ausdrücklich form ulierte,
aber doch rechts wie links gleichermaßen als selbstverständlich voraus­
gesetzte) „Philosophie der Technik“ , die behauptet, Geräte seien erst
einmal „moralisch neutral" : stünden also zu beliebigem Gebrauch frei
zur V erfügung; das einzige, w orauf es ankomme, sei, wie w ir sie be­
nutzen; welchen Gebrauch w ir nachträglich von ihnen machen, ob
einen moralischen oder unmoralischen, einen humanen oder inhuma­
nen, einen demokratischen oder antidemokratischen.
Diese sehr weit verbreitete These muß bekämpft werden. U nd zw ar
deshalb, weil sie jedem Apparat eo ipso den Vortritt einrä umt und den
Philosophen zum N achzügler ernennt. W eil sie unterstellt, daß die
Form ulierung des moralischen Problem s immer erst nachträglich ein­
zusetzen brauche.
Dam it ist aber die Kapitulation der M oral ausgesprochen. D enn der
M oralist w ird dadurch mit der erbärmlichen A u fgabe abgespeist, der
nun einmal bestehenden Tatsache der Geräte (ganz gleich welcher) sein
Placet zu erteilen; oder im besten Fall mit dem A u ftrag, seinen Zeitge­
nossen zu erklären, wie und w ofür sie ihre Apparate verwenden dür­
fen, wie und w ofü r nicht.
O der, anders form uliert: die These von der „m oralischen N eutrali­
tät“ der Apparate muß deshalb bekämpft werden, weil sie eine Illusion
ist. D ieser Illusion gibt sich der homo technicus nur deshalb hin, w eil
er das Bedürfnis hat, angesichts seines täglich akkumulierenden und
ihm über den K o p f wachsenden Geräteparks ein gutes Gew issen zu
bewahren. A b e r daß w ir Freiheit gegenüber den von uns gebauten
Geräten aufrechterhalten und die Weisen ihrer Verwendung auswäh­
len oder bestimmen können, ist einfach unwahr. -
W ahr ist vielmehr, daß jeder Apparat, wenn er erst einmal da-ist,
durch die bloße Tatsache seines Funktionierens bereits eine Weise
seiner Verwendung is t ; daß jedes Gerät durch die Tatsache seiner
speziellen Arbeitsleistung immer schon eine (sozial, moralisch und
politisch) präjudizierende Rolle spielt. U nd w ahr ist schließlich, daß
w ir von jedem Gerät, gleich w ofür w ir es zu verwenden vorhaben oder
einzusetzen wähnen, ja gleich, innerhalb welches politisch-wirtschaft­
lichen Systems wir uns seiner bedienen, immer schon geprägt werden,
da jedes immer schon ein bestimmtes Verhältnis zwischen uns und den
Mitmenschen, zw ischen uns und den D ingen, zw ischen den D ingen
und uns voraussetzt oder „setzt“ .
A lso: Jedes G erät ist bereits seine Verwendung.
Diese unliebsame These zu belegen, habe ich im ersten Band (S. 99)
versucht; und zw ar am Beispiel des Fernsehens. W obei sich das F o l­
gende herausstellte:
Gleich, was den Menschen durch Fernsehen erreicht: ob eine A tom ­
Explosion, eine Königinnenkrönung oder ein Schönheitswettbewerb;
und gleich wer vo r dem Fernsehschirm sitzt: ob ein sibirischer K o l­
chosenbauer, ein Londoner Schneider oder der Eigentüm er einer G a ­
solinstation in Colorado - die Tatsache, daß die Ereignisse in entw irk-
lichtem, in Phantomzustand ankommen, daß Phantomkonsum an die
Stelle wirklicher W elterfahrung tritt, bleibt in allen Fällen dieselbe; sie
und sie allein ist es, die den Ausschlag gibt: sie, die den Menschen
prägt und entstellt; sie, die über sein Verhältnis zur Welt und über das
Verhältnis der W elt zu ihm präjudiziert. -
D ies war die These meines Aufsatzes über die W irkungen der B elie­
ferung des Menschen mit Phantom en gewesen. W arum die These
lediglich fü r die dort behandelten G eräte, also fü r die „Belieferungs­
geräte“ gelten sollte, ist nicht einzusehen. Unterstellt man ihre allge­
meine Gültigkeit, dann bedeutet das fü r die „A uslieferungsgeräte“ :
W enn Menschen grundsätzlich kontrollierbar und den M itmen­
schen oder einer Macht auslieferbar sind, bzw . als Wesen betrachtet
und behandelt werden, die ausgeliefert werden dürfen; und wenn sie
nunmehr als kontrollierbare oder auslieferbare oder gar effektiv kon­
trollierte oder ausgelieferte leben, dann ist damit, gleich w er ausgelie­
fert w ird, gleich für welchen Z w eck ausgeliefert w ird, gleich innerhalb
welchen politischen Systems ausgeliefert w ird, ein bestimmter M odus
des In-der-W elt-Seins, und zw ar des unfrei In-der-W elt-Seins, festge­
legt; ein M odus, der sich von früheren M odi so radikal unterscheidet,
daß der Gedanke, man könnte mit H ilfe dieser Geräte diese früheren
M odi oder Prinzipien des In-der-W elt-Seins, gar die Prinzipien der
Dem okratie oder der Freiheit des Menschen, aufrechterhalten, unsin­
nig w äre; nicht weniger unsinnig als etw a der Gedanke, man könnte
mit H ilfe der Atom kraft die Kohlen- oder Ö lförderung modernisieren
und dadurch verhüten, daß die Atom kraft über diese älteren Energie­
gewinnungsmethoden triumphiere; oder als der Gedanke, man könnte
mit H ilfe von fertig käuflichen Cam ping-Geräten den alten amerikani­
schen Pioniergeist wiederbeleben. Diese Gedanken sind geschichtsphi­
losophisch naiv. Denn was in solchen Fällen siegt, ist stets d ie Präg-
kraft des Mittels als Mittels, mit der in Konkurrenz zu treten, die Kraft
des angeblich angestrebten Zieles niemals ausreicht. -
Wir hatten den Gedankengang dieses Paragraphen mit der Behaup­
tung eröffnet, die Abhörgeräte seien ipso facto ihrer V erw endung tota­
litär. Warum sind sie das?
D eshalb, weil sie eine metaphysische Tatsache, die dem totalitären
Anspruch Widerstand leistet, auslöschen, mindestens korrigieren. D ie
metaphysische Tatsache, um die es sich handelt, ist die der Individua­
tion: die Tatsache also, daß der M ensch w ie jedes andere Seiende,
sofern er „ist“ , grundsätzlich ein d is c r e tu m , etwas Vereinzeltes,
mindestens auch etwas Vereinzeltes, ist.
Diese ontologische Tatsache des Einzelseins bedeutet, daß jeder­
mann, ob er w ill oder nicht, ein durch Wände abgeschirmtes inselhaf­
tes Reservat darstellt; und damit den O m nipräsenz- und O m nipotenz-
anspruch des totalen Staates obstruiert.
O der, schärfer form uliert: O bw ohl der totale Staat die Einzelwesen
in sich begreift, bleiben diese außerhalb, bleiben sie Lücken in seinem
Kontinuum , weiße Flecken auf seiner Landkarte: bleiben sie ihm un­
zugänglich und unerreichbar.
D iese Unerreichbarkeit der Teile durch das G anze nenne ich „ B i n -
n e n - T r a n s z e n d e n z “ .9 In den Augen des Ganzen, also des totalen
Staates, stellt diese „Binnen-Transzendenz“ einen D efekt dar, und
zw ar sow ohl einen eigenen w ie einen seiner Teile, also der Einzelw e­
sen. A ls ideal gelungen könnte sich das Ganze erst dann betrachten,
wenn seine Landkarte keine weißen Flecken aufwiese, wenn ihm M as­
sivität, Kontinuität, M onolithism us zukäm e: wenn es entweder als ein
jeder Individuation „zuvorkom m endes“ , modo eleatico seiendes W e­
sen existierte; oder wenn es (was fast auf dasselbe hinausläuft) seine
Individuen erreichen könnte: oder wenn diese von sich aus so „entge­
genkommend“ wären, „coram “ , also wandlos und transparent,10 zu
existieren. K u rz: D er totale Staat w äre allein dann perfekt, wenn es
„D iskretheit“ (im naturphilosophischen Sinne) überhaupt nicht gäbe;
von Selbstsein, „Privatheit“ , „Intim ität“ im psychologischen Sinne
ganz zu schweigen.
N u n , der totalitären M acht, die an nichts anderem interessiert ist als
daran, Forderungen zu stellen und durchzusetzen, liegt an theoreti­
schen Feststellungen natürlich wenig. Deshalb sieht sie in der Tatsache
der Vereinzelung nicht einfach einen D efekt, nicht einfach ein meta­
physisches Faktum , sondern einen Skandal: und nicht so sehr ein
skandalöses Fatum als ein skandalöses Faktum. 1 1 Wenn ihr daran läge,
und wenn es ihr gegeben w äre, ihre moralisch-metaphysischen Prinzi­
pien in W orte zu fassen, dann würde sie die Individuation also als eine
Versündigung gegen ihren monolithischen Anspruch bezeichnen; und
das Individuum der „Selbst-Unterschlagung“ bezichtigen; das heißt:
diesem vorw erfen, daß es den Betrag, den es ihr, der totalen Macht,
schulde, also sich selbst mit Haut und Haaren, unterschlage; daß es
sich hier entziehe; daß es sich als ein von ihr nicht erreichbares und
nicht kontrollierbares, als ein sich selbst angeeignetes Reservat etab­
liere.
D a nun aber andererseits gegen die Tatsache der Individuation kein
Kraut gewachsen ist: da sich die „V ersündigung“ des Individuums aus
der Tatsache des Daseins selbst ergibt, ist sie in den Augen der totalen
Macht eine „Erbsünde“ , ein Zustand also, der mit allen Mitteln be­
kämpft werden muß. So bekämpft kann dieser Zustand aber nur dann
werden, wenn beide Partner: sowohl die totale Macht (gegen die der
„Sündige“ „sündigt“ ) wie dieser „Sünder“ selbst, den K am pf zugleich
aufnehmen. U nd damit sind w ir bei unserem Thema.
Denn das bedeutet einerseits, daß die totale Macht zu versuchen hat,
„unverschämt“ und „indiskret“ zu sein, 1 2 also in die „diskrete“ P ro­
vinz des Individuum s einzubrechen, mindestens in diese hineinzublik-
ken; daß sie es sich „schuldet“ , durch K ontrollen, Fragebögen, B e ­
spitzelungen, Einschüchterungen usw. in derjenigen Lücke, von der
sie durch den Skandal der Individuation ausgeschlossen w ar, Fuß zu
fassen und auch in ihr totale Anwesenheit und Zuständigkeit zu ge­
winnen.
Andererseits hat das Individuum die Pflicht, seine Diskretheit auf­
zugeben, „scham los“ zu sein, seine ihm a priori innewohnende Schuld
„einzuräum en“ . U nd dieses W ort „einräum en“ besagt, beim W ort
genommen: D as Individuum hat den „Binnenraum “ , den es als isolier­
tes und „diskretes“ Wesen eingenommen und für sich reserviert hatte,
der totalen Macht freizugeben und auszuliefern. D ieser „B in n en ­
Expansionism us“ des totalen Staates ist ein Vorgang, der dem im­
perialistischen Expansionism us entspricht. W o immer Totalitarismus
aufkom m t, ist der Einzelne das erste „besetzte G ebiet“ . Expansio-
nism begins at home. -
„Integrale U nverschäm theit“ und „integr ale Schamlosigkeit“ sind
also die K orrektive, die der Totalität anstrebende Staat nötig hat, um
sein Ideal der perfekten Integralität zu verwirklichen.
U nd dam it haben w ir zu unserem Gegenstand zurückgefunden.
Denn es gibt keine Maßnahmen und keine G eräte, die fähig wären,
„U nverschäm theit“ und „Scham losigkeit“ von gleicher Perfektion zu
gewährleisten wie die Abhörgeräte. D a sie die besten Selbstkorrektive
sind, die dem Totalitarism us in den Schoß fallen konnten, haben w ir
sie zu Beginn des Paragraphen „totalitäre Geräte" genannt.
U nd nicht nur charakteristisch fü r Totalitarismus sind die Geräte;
sie sind auch „totalisierend“ . Diese U m kehrung ist nicht weniger fo l­
genreich als die These selbst. Sie lautet: Wo Abhörapparate mit Selbst­
verständlichkeit verwendet werden, da ist die Hauptvoraussetzung des
Totalitarismus geschaffen; und damit dieser selbst.
O b sich nämlich der Staat A deshalb der Geräte bedient, weil er
totalitär ist; oder ob ein Staat B deshalb totalitär wird, weil er sich der
Geräte bedient, das macht keinen Unterschied aus. D as letzte Ergebnis
w ird dasselbe sein: Schon übermorgen werden die Staaten A und B ,
sofern sie die Apparate skrupellos verwenden, einander so zw illings­
haft ähneln, daß es niemanden mehr interessieren w ird, was das itQÖte-
qov gewesen w ar und was das üoteqov. „O b ein Säufer“ , lautet ein
französisches Sprichwort, „deshalb krank ist, w eil er säuft; oder ob er
deshalb säuft, w eil er krank ist, das kann seinen Kindern egal sein.“
A lso uns.

S4
Beispiele

Die Beispiele, 13 die ich nun bringe, stammen ausnahmslos aus den
Vereinigten Staaten. W ir beschränken uns auf sie, w eil dort - w as in
ausgesprochen totalitären Staaten nicht m öglich wäre - die auf diese
Geräte bezüglichen Daten mitgeteilt und die durch die Verwendung
dieser Geräte aufkommenden Probleme und G efahren öffentlich dis­
kutiert w erden; sow ohl offiziell (in den „State Judiciary Com m ittees“ )
wie durch Zeitungen etc. Weil also die amerikanischen Daten offener
zu Tage liegen als die aus anderen Ländern. -
Ich beginne nun mit drei ganz zufällig zusammengestellten B ei­
spielen.
1. Im Zeitraum der Jahre 19 4 0 -19 57 sind, wie es sich durch Sachver­
ständigenvernehmungen vor dem „States Judiciary Com m ittee“ in
Californien ergeben hat, mehr als iooo Gebäude in der Stadt Los
Angeles mit Abhörinstallationen versehen worden.
2. Im Jahre 1952 (also 6 Jahre nach dem Kriege) haben die Gerichte
der Vereinigten Staaten die Polizei beauftragt, 5 8 ooo Personen, Firmen
und Vereine abzuhören. D as ist keine Phantasiezahl, sondern eine von
W illiam O . D ouglas angegebene Z iffer. W illiam O . D ouglas ist einer
der judges o f the Supreme C ourt.
3. D ie Polizei ist nicht die einzige Instanz, die abhört. Vermutlich
die kleinste. O ffiziell wird jedenfalls geschätzt, daß das „legale“
Abhören (sofern dieses Wort „leg al“ am Platz ist) nur ein Fünftel des
effektiv durchgeführten Abhörens ausmacht. Dam it kommen w ir be­
reits fü r das Ja h r 1952 auf die eindrucksvolle Z iffer 290000; 290000
Personen, Firmen, Vereinigungen also, die „ akustisch nackt“ dastan­
den: das heißt: die, wenn sie sprachen, in lauschende O hren oder auf
Band sprachen. - Ich sage „Personen, Firm en, und Vereinigungen“ .
Denn belauscht und recorded werden nicht etw a nur politisch oder
krim inell Verdächtige; oder jene Abertausende, unter denen man einen
politisch oder sonstwie „Schuldigen“ vielleicht finden zu können
hofft; sondern Parteileute durch Parteileute; offizielle Stellen durch
andere offizielle Stellen; Forschungsinstitute durch M ilitär; Firmen
durch K onkurrenzfirm en; Kunden durch Geschäftsleute; Geschäfts­
leute durch K unden; Ehefrauen durch Ehemänner; Ehem änner durch
Ehefrauen; und schließlich Abertausende von privaten und öffentli­
chen Personen durch sogenannte „snoopers“ (das heißt: durch
Schnüffler, die davon leben, daß sie abgehörte Geheimnisse verkaufen
oder zu verkaufen drohen).
Schon diese Z iffe r 290 ooo reicht hin, um zu beweisen, daß es sich
hier weder um nur hie und da angewandte politische Notmaßnahmen
noch um kuriose Einzelskandale handelt, sondern um die K ontrollie-
rung eines breiten Sektors der Bevölkerung, um eine Gefährdung der
Privatheit als solcher.
Aber dies gilt um so mehr, als die genannte Z iffer viel zu niedrig
gegriffen ist. Z u niedrig deshalb, w eil es niemanden gibt, der mit Si­
cherheit wüßte, und niemanden, der wirklich nachprüfen könnte, ob
nicht auch er belauscht wird.
Dieses Nichtwissen ist ein sozialer Faktor allerersten Ranges. Aus
der D iktaturzeit wissen w ir ja, daß man sich von dem Augenblicke an,
in dem man es für möglich oder auch nur fü r nicht unmöglich hält, daß
man unter Kontrolle stehe, anders fühlt und anders benimmt als vor
diesem Augenblicke. Näm lich konformistischer, wenn nicht sogar
ganz und gar konformistisch. D ie unüberprüfbare Möglichkeit des
Uberprüftseins hat entscheidende Prägekraft. Sie prägt die Bevölke­
rung als ganze.
D ie Technik des A bhörens ist um nichts w eniger märchenhaft als
dessen Effekt. Ein paar Überlegungen und Daten werden uns das so­
gleich bestätigen.
1. Machen w ir uns einmal klar, was durch Telephon-Abzapfen,
durch das sog. „tapping“ aufgenommen w ird, mindestens aufgenom ­
men werden kann. D as ist nämlich nicht etwa nur (analoge einem
diskreditierenden Geheimphoto) eine einzelne Situation, ein einzelnes
Gespräch. Vielm ehr kann, wenn ein Apparat einmal angezapft ist, jede
Unterhaltung belauscht werden; und nicht etwa nur jede ausdrücklich
über den Apparat geführte, sondern effektiv jede, die sich in demjeni­
gen Raum e abspielt, in dem das Telephon steht: Denn die Leitung
auch dann „leb en dig“ zu halten, wenn der „H ö r e r“ scheinbar einge­
hängt ist, das ist ein kinderleichter und tausendfach geübter Trick.
2. Die Distanz zwischen Lauscher und Belauschtem: Diese ist irrele­
vant, ja N u ll geworden. Ein Geschäftsmann in Seattle braucht heute
nur den H örer abzuheben, um alles, was in seiner Filiale in N e w Y o rk
gesprochen w ird, mitzuhören. D as heißt: die Luftlinie - sie entspricht
etwa der Lissabon-M oskau - ist fü r ihn, da er jeden Platz an jedem
anderen auftauchen lassen kann, Luft.
D ie „Schrum pfung der Entfernungen“ ist heute zw ar in aller
M unde. A ber ihre philosophische Bedeutung: nämlich die O m n i­
p r ä s e n z des Menschen, ist noch nicht ins Bewußtsein der Zeit ge­
drungen; und in das der immer nachhumpelnden Philosophie natürlich
erst recht noch nicht. Während bis vor kurzem die Raumstelle das
principium individuationis des Menschen gewesen w ar und damit eine
pragmatische R olle gespielt hatte, das heißt: w ährend man früher dort
unwirksam war, w o man nicht war, und „Sein “ stets bedeutet hatte,
„an einer bestimmten Stelle sein“ , kann man jetzt eben an mehreren
Stellen, virtuell überall zugleich sein.
Man w ird einwerfen: D a man nicht mehr in das Gefängnis seiner
beschränkten Raum stelle eingesperrt sei, beweise dieses „Ü berallsein­
können“ eine neue Freiheit, eben die Freiheit von Entfernungen - und
in gewissem Sinne ist dieser Einw and nicht unrichtig. A ber ungleich
wichtiger ist das Gegenargument, daß das Überallseinkönnen Unfrei­
heit zur Folge habe, nämlich für die Erreichbaren und die Erreichten.
Wenn die Anderen in der Lage sind, sich an der Raumstelle, an der ich
mich befinde, gleichfalls aufzuhalten, und zwar unmerklich, dann
habe ich aufgehört, Monopolist meiner Raumstelle zu sein und damit
das letzte und form alste M inimum meiner Freiheit eingebüßt. Die
Anderen sind - und diesen Ausdruck verstehe man als einen terminus
technicus für das heutige Verhältnis Mensch-Mensch, bzw . Staat­
Mensch - „unentrinnbar“ geworden.
M indestens ebenso wichtig wie angezapfte Telephone sind die
„b u g s“ , auf deutsch: die „W anzen“ . So bezeichnet man jene ganz
minutiösen M ikrophone, die man heimlich in W ohnungen einbaut, um
zu erfahren und zu registrieren, was in diesen vor sich geht; oder
richtiger: die man in diesen eingebaut hat. Denn in den letzten Jahren
hat die W anzenzucht ein neues, wahrhaft triumphales Stadium er­
reicht. 14 Sich in den Häusern selbst einzunisten, ist fü r die gelehrigen
Tierchen nämlich überflüssig geworden, da man es ihnen beigebracht
hat, aus der Entfernung von mehreren hundert Metern zu zielen und
das entfernte Geräusch aufzusaugen, um es zu „recorden“ oder wei­
terzuleiten. Also kann man die „bugs“ nunmehr außerhalb der H äuser
ansiedeln oder sie gar - denn die Ausw ahl ist reichhaltig - niemandem
sichtbar, am Leibe versteckt, mit sich herumtragen. Wenn diese lau­
schige Sorte fernzielender Wanzen besonders beliebt ist, so w eil sie, so
befremdlich das klingen mag, die M oral des Zeitalters zu retten
scheint. Denn es ist ja evident, daß jemand, der akustischen H ausfrie­
densbruch auszuüben wünscht, einen H ausfriedensbruch im konven­
tionellen Sinne nicht mehr zu riskieren braucht: daß er also „nichts
mehr zu tun braucht, wenn er etwas tut“ ; mindestens nichts U ngesetz­
liches.
Beispiele: D er Präsident der Stephens Tru-sonic-Inc. Bart Berland
berichtete vor dem „State Judiciary Com m ittee“ am 27. 1 1. 56 über
4 /JC-Apparate,
die aus der Entfernung von 500 Metern Gespräche auf­
zeichnen. U nd ein Firmeneigentümer erklärte vo r demselben G re­
mium, daß er der Polizei Geräte von einer W inzigkeit geliefert habe,
daß er sich weigern müsse, vor der Ö ffentlichkeit darüber Aussagen zu
machen. - Was aber Bandaufnahmen betrifft, so brauchen sie Briefta­
schenformat nicht zu überschreiten. Die, übrigens in der Bundesrepu­
blik hergestellten, „Minifone pocket recorder“ sind noch winziger;
und in Chicago werden als Taschenuhren getarnte Mikrophone auf
offenem Markte angeboten und verkauft.
Damit kommen wir zu einem weiteren abenteuerlichen Punkt, zum
Thema der Beschaffbarkeit.
Ich sage „abenteuerlich“ , weil mindestens die Telepohon-Anzapfge-
räte für einen Pappenstiel erworben werden können. Die paar Utensi­
lien, aus denen sich heute ein „complete wire tap kit“ (also ein voll­
ständiges „Anzapfungszeug“ ) zusammenstellen läßt, beliefen sich -
ich zitiere die Zeitschrift „L IF E “ 1955 - auf DM 9.50. Was begreiflich
ist, da mehr als eine Induktionsrolle und ein normaler Verstärker nicht
erforderlich sind. Wie weit die Freiheit der Freiheitsberaubung ging, ist
einfach unglaubhaft. In jener technisch noch rückständigen Zeit, in der
es noch unvermeidbar war, in die Häuser jener, die man belauschen
wollte, einzubrechen, um in ihnen die „bugs“ zu setzen - in jener Zeit
wurden nämlich die notwendigen Einbruchswerkzeuge gleich mitver­
kauft, ja sogar in den Katalogen der Firmen mit aufgeführt. So nachzu­
lesen in der Zeitschrift „F R O N T IE R “ vom Januar 57. Und das schien
in gewissem Sinne „in Ordnung“ , weil ohne diese Vorbereitungswerk­
zeuge die Abhörapparate eben untauglich gewesen wären, etwa so
untauglich wie ein Angelhaken ohne eine Angelschnur. Die diesen
Katalogen zugrundeliegende Maxime würde, wenn man sie formuliert,
etwa lauten: „Ist eine Ware A, der moralisch nichts nachgesagt werden
kann, nicht verwendbar ohne eine andere Ware B, so ist deren Verkauf
und Verwendung gleichfalls moralisch gerechtfertigt; so kann deren
Verwendung nicht unmoralisch sein.“
Aber die Gefahren, die mit dieser Belauschung verbunden sind, sind
damit nicht erschöpft. Denn gefährdet ist nicht etwa nur der Be­
lauschte, sondern auch der Lauscher; der an Indiskretion und an den
Genuß der Indiskretion Gewöhnte.15 Dabei habe ich aber nicht etwa
nur die Handvoll von Polizei-Agenten oder Detektiven im Auge, die
professionell Zutritt zum Privatleben angezapfter Personen gewinnen
(was vermutlich zumeist unerträglich langweilig ist, denn zu lauschen
ohne die Freiheit zu haben, sich das Opfer seines Lauschens auszusu­
chen, ist kein beneidenswerter Job), vielmehr das Publikum: denn um
ein Publikum handelt es sich ja heute im Reproduktions-Zeitalter, da
jede Aufnahme eines Gespräches oder eines Geräusches als Matrize
verwendet und in zahllosen Kopien reproduziert werden kann. So gibt
es z .B . in Kalifornien bereits einen florierenden Schwarzm arkt in
Grammophonplatten, die man, analog zu Pornographien, „ P o r n o -
p h o n ie n “ nennen könnte. A u f diesen sind diejenigen W orte, Töne
und Geräusche, die sich in den intimsten Situationen menschlichen
Zusammenseins ergeben, heimlich aufgenommen. Sie sind gewisser­
maßen Ding gewordene und verkäufliche Schlüssellöcher. Wenn es sich
bei den durchs Schlüsselloch belauschten O pfern um „öffentliche Per­
sönlichkeiten“ handelt, so steigt natürlich (da die Identifizierung eines
Nackten erst die volle Schadenfreude mit sich bringt) der Preis der
akustischen N udität: und sind auf solcher Platte gar Intimitäten festge­
halten, die als verboten gelten (etwa ehebrecherische), dann gilt das
O bjekt, da es zusätzlich den Genuß der Erpressungsmöglichkeit bietet,
geradezu als ein rarissimum; und dadurch schon beinahe als ein K u l­
turgut. - Daß die Erpressungsm öglichkeit, um genossen zu werden,
garnicht ausgenutzt zu werden braucht, braucht nicht betont zu
werden.
Daß Menschen, gar Jugendliche, von solchen Waren umgeben sind;
daß sie sich die extreme Indiskretion kaufen können: daß sie es lernen,
sich zu belustigen an der Lust der Anderen: daß sie Sexualität auf dem
Umweg über Dinge genießen und vermittels der völligen Wehrlosig­
keit der Belauschten - das ist derart widerwärtig, daß im Vergleich
damit die vulgärsten Lustbefriedigungen einfach zum Inbegriff von
Rechtschaffenheit und Sauberkeit werden.
Diese wenigen Tatsachen sollen uns erst einmal genügen. Fragen w ir
nun, wie die Reaktion auf sie aussieht.
Z u behaupten, daß gegen diese Entw icklung nichts unternommen
werde, wäre unfair. D ie Erregung in einigen Gruppen der Ö ffentlich­
keit ist beträchtlich. Legislativen verschiedener Staaten versuchen
ernsthaft, sich ein rechtes Bild von dem Ausmaß des akustischen
Hausfriedensbruchs zu machen und zu überlegen, welche Maßnahmen
in dieser neuen Situation getroffen werden müßten; die Presse (beider
Parteien) diskutiert das Problem . Ein hoher Richter wie O liver
W. Holmes vom „Suprem e C ou rt“ hat offen ausgesprochen, daß es
(seine Worte) „besser wäre, wenn ein paar Kriminelle nicht gefaßt
würden, als daß sich die Regierung auf derart schmutzige M ethoden
einlasse“ . Fragt sich nur, ob diese Gegenkräfte erfolgreich sein kön­
nen. Und das ist nicht nur deshalb fraglich, weil die an der Kontrollie-
rung der Bevölkerung interessierten Mächte, die politischen sowohl
wie die wirtschaftlichen, ungeheuer stark sind; auch nicht nur deshalb,
weil die Bevölkerung, sofern sie ihrer Deprivatisierung nicht geradezu
entgegenkommt, dieser nur minimalen W iderstand entgegensetzt;
auch nicht nur deshalb, w eil das Vorhandensein von Geräten deren
Verwendung immer schon einschließt; sondern vor allem deshalb, weil
sich der Kontrollierungsbetrieb selbst der Kontrolle fast ganz entzieht;
das heißt: weil sich die Verwendung der Mittel nur in den seltensten
Fällen nachweisen läßt; w eil der M ißbrauch von jedermann getrieben
werden kann. U nd natürlich glaubt es sich der Staat, jeder Staat, nicht
leisten zu können, auf technische Mittel zu verzichten, die von Privat­
personen beliebig verwendet werden können; und die Polizei erst
recht nicht. -
Eine Entscheidung ist freilich bereits getroffen: der sogenannte
Cahan-Act. In diesem ist zweierlei festgelegt und zum Gesetz ge­
w orden:
Erstens, daß durch derartige Methoden gewonnene Daten als E v i­
denz in Prozessen nicht verw endet werden dürfen,
und zweitens, daß das heimliche Pflanzen von „b u g s“ , also von
M ikrophonen in frem den H äusern Hausfriedensbruch darstelle.
D iese Entscheidung klingt freilich eindrucksvoller als sie ist.
Denn die Verwendung von derart gewonnenen D aten in Prozessen
stellt ja schließlich nur eine unter zahlreichen anderen Verw endungs­
m öglichkeiten dar: U m einen Menschen zu diskreditieren, um ihn
gesellschaftlich, geschäftllich oder politisch zu ruinieren, um ihm jener
Privatheit zu berauben, dazu benötigt man ja schließlich keine prozes­
suale Verwendung.
Was aber die „bugs“ betrifft, so sind diese durch die gesetzliche
Bestimmung nicht verboten. Was verboten und strafbar ist, ist ja allein
deren Installierung innerhalb fremder Häuser. N u n sind ja, wie w ir
wissen, solche internen Installierungen schon gar nicht mehr erforder­
lich. Die Entscheidung ruft also ins N ichts hinein, sie verurteilt eine
bereits vergangene Situation - während sie die Hauptsache gesetzgebe­
risch noch unbewältigt läßt. Denn die Hauptaufgabe besteht darin,
unzweideutig auszusprechen, daß der konventionelle und bis jetzt aus­
reichende Begriff des „H ausfriedensbruches“ , der körperliches E in ­
dringen m eine fremde Wohnung gemeint hatte, heute nicht mehr
ausreicht. Form ulieren wir es also: Nicht allein die zum Zwecke des
Abhörens unternommenen Vorbereitungsschritte, also die Installierun­
gen, stellen Hausfriedensbruch dar, sondern die Akte des Abhörens
selbst, gleich aus welcher angeblichen Entfernung diese vor sich gehen,
weil sich auch derjenige, der von „draußen“ zuhört, bei dem Anderen,
in dessen Geheimnis und damit auch in dessen Hause aufhält. Ich sage
aber „angebliche Entfernung“ , w eil die Geräte ja auf nichts anderes
abzielen als darauf, die Entfernungen zu anullieren und diese Anullie-
rung auch wirklich leisten, also die Grenze zwischen „außen“ und
„innen“ aufheben.
D a unsere Privatheit durch die „b u g s“ genau so zerstört ist, wie sie
es wäre, wenn w ir in gläsernen Häusern w ohnen würden, in denen w ir
(obwohl von niemandem körperlich überrumpelt) jedermanns O pfer
wären, ist es unerläßlich, die Begriffe des „akustischen Hausfriedens­
bruches“ und des „akustischen Raubes“ als rechtliche Begriffe einzu­
führen.

Aber der Hauptmangel des Cahan-Acts ist damit noch nicht getrof­
fen. Denn der besteht in einem Prinzip: darin nämlich, daß er als
„V ergehen“ allein die „V erw endung“ ansieht, bzw. darin, daß er den
Begriff „V erw endung“ zu eng faßt. Was heißt das?
Ein Vergleich:
Wenn allein „V erw endung“ sträflich wäre, dann wäre nichts dage­
gen einzuwenden, wenn w ir Aktphotos von Menschen machten, die
nichts davon ahnen, daß sie uns als Modelle dienen. Strafbar würden
wir uns erst in demjenigen Augenblicke machen, in dem w ir die Pho­
tos verkaufen oder anderswie verwendeten. D er entscheidende G e ­
danke, daß die Heim lichkeit des Beobachtens und Photographierens
selbst bereits eine „V erw endung“ darstellt, nämlich einen freiheitsbe­
raubenden Mißbrauch der Privatheit des Anderen, würde dabei unter
den Tisch fallen. Daß diese zu enge Fassung des Begriffs „V erw en ­
dung“ vulgär ist, ist w ohl unbestreitbar. U nd auch dem Cahan-Act
kann diese Vulgarität nicht abgesprochen werden.
D azu kommt, daß das Objekt der Scham auf charakteristische Weise
verfehlt w ird:
D er wirkliche Schamhafte schämt sich ja nicht deshalb, jedenfalls
nicht nur deshalb, w eil seine heimlichen Laster oder Vergehen aufge­
deckt werden, sondern w eil er aufgedeckt wird. Während fü r ihn das
Private „ o ff limits“ ist, weil es das Private ist, unterstellt der Vulgäre,
also der Konform ist von heute, als selbstverständlich, daß das Private
nichts anderes sei als der Vorwand fü r die Unterschlagung verbotener
Handlungen. Die aus dem Munde ganz argloser Am erikaner so häufig
zu hörende Redensart (z.B . dann, wenn man sie auf offene Türen
aufmerksam macht): „B u t I have nothing to hide“ beweist, daß Scham
(im Sinne von „Scham nötig haben“ ) bereits mit Unmoral identifiziert
wird; und Schamlosigkeit (im Sinne von „Scham nicht nötig haben“ )
mit M oral -

Verharmlosungs-Argumente

N u n , zu glauben, Argumente gebe es allein im Lager der G eräte­


G egner, wäre falsch. Die Interessenten an den Geräten beschränken
sich durchaus nicht darauf, diese zu verkaufen oder einzusetzen. Z u ­
weilen nehmen sie diese auch ausdrücklich in Schutz; mindestens
dann, wenn sie sich gefährdet oder gereizt fühlen. Daß ihre Plädoyers
durchw eg prim itiv sind, oft von geradezu erschütternder Dumm heit,
ist zw ar unbestreitbar, sollte uns aber nicht in Sicherheit wiegen. U m ­
gekehrt wächst mit seiner Dumm heit auch die Gefährlichkeit eines
Argum entes.
Beginnen w ir m it zw ei der dümmsten:
A u f jener bereits erwähnten Verhandlung vo r dem kalifornischen
„State Judiciary Com m ittee“ erklärte z .B . ein Geschäftsm ann, das
Abhören mit zielenden Instrumenten sei deshalb geschäftlich so unge­
heuer w ichtig, w eil man auf G rund des abgehörten Geflüsters wisse,
wie weit man mit seinem Angebot gehen könne und weil es dadurch zu
rascheren Geschäftsabschlüssen kom m e; das Verbot dieser Instru­
mente sei also geschäftsstörend. - D a die Aussage nicht zynisch wirkte,
entsprang sie w ohl w irklich der N aivität.
Ein anderer Geschäftsmann, dieser der Eigentüm er einer Firm a für
A bhör-A pparate, beklagte sich bitter darüber, daß durch den Cahan-
A ct sein Geschäft zurückgehe.16 Seinem Argum ent könnte sich jede
Giftm ischerin, der man ihr H andw erk legt, anschließen. -
Aber, wie gesagt, diese Argum ente sind die dümmsten. Eine gewisse
G efahr räumt man zumeist ein, um die wirkliche G efah r dadurch ba­
gatellisieren oder um diese mit Schein-Rettungsvorschlägen fortdisku­
tieren zu können. Das Argument, das man zu diesem Zw ecke am
häufigsten benutzt, und das in der Tat immer wieder auftaucht, lautet:
„D ie Gefahr ist dann behoben, wenn die Geräte sich ausnahmslos m
,authorized hands' d. h.: in den Händen des Staates oder der Polizei
befinden.“
Wie steht es mit diesem Argument?
Sehen w ir einmal davon ab, daß die Durchführung und Sicherung
eines staatlichen M onopols kaum möglich ist, da viele Utensilien von
jedermann erworben und selbst von technischen Idioten installiert
werden können.
Unterstellen w ir also die M öglichkeit eines staatlichen M onopols.
Was wäre geschehen ?
Gerade dadurch, daß der Staat ad libitum Privatmenschen be­
lauschte, würde er zur „unauthorized“ , zur illegalen Instanz. Denn er
würde sich ja der Zerstörung eben jener Freiheitsrechte der Bürger
schuldig machen, die zu garantieren er sich verfassungsmäßig ver­
pflichtet hat. Letztlich öffnet das Argum ent jeder D iktatur T ür und
Tor, da es staatliche M acht und M oralität identifiziert. Wie w illkom ­
men ein solches M onopol einem M cC arthy, wenn er sich zum D ik ­
tator der Vereinigten Staaten hätte machen können, gewesen wäre, ist
klar. Wäre das von ihm verwendete Mittel vielleicht „authorized“
gewesen?
A ls w ie selbstverständlich die Identität von „legal“ und „m oralisch“
gilt, bewiesen namentlich die Polizei-O rgane, wenn sie aufgefordert
w urden, über ihre Installierungs- und Abhöraktivitäten Rechenschaft
abzulegen: „A b e r alles ist ja in O rdnung!“ beteuerten sie immer w ie­
der, denn sie begriffen wirklich nicht, welche „U nordnu ng“ gemeint
sein konnte, „alles ist ja in O rdnung, denn w ir haben ja niemals ohne
Staatslizenz gearbeitet!“
Dieses Argum ent ist totalitär, denn eben das macht ja das Wesen des
totalen Staates aus, daß er die Zweiheit von „legal“ und „moralisch“
aufhebt. „D u sollst nicht zween Herren dienen.“ -
Das dritte Argum ent, dasjenige, das sich bei privaten Detektiven
besonderer Beliebtheit erfreut, beruft sich auf die H eiligkeit des
Privateigentums. Ich zitiere das folgende Beispiel aus einem Artikel,
der von Leuten, die im Abhörapparate-Business sind, mit der aus­
drücklichen Absicht geschrieben w orden ist, die Situation zu verharm ­
losen. 17 „A b e r ich bitte Sie“ , lautet die selbstgerechte Verteidigung,
„w ir hören ja nur dann die Telephongespräche einer Frau ab, wenn w ir
uns mit allen Mitteln davon vergewissert haben, daß der Apparat dem
M ann, der die Belauschung bei uns bestellt, w irklich gehört.“ - Was
indirekt bedeutet, daß sie jedes über dieses Stück Eigentum „ Telephon“
gesprochene Wort als Eigentum des Telephoneigentümers, jedes als ein
Stück betrachten, über das er verfügen kann; an dem er also auch
andere Personen nach Belieben teilnehmen lassen kann. Wenn man die
akustische Verfügung ins Optische übertrüge, dann würde dieses A r ­
gument lauten: „ A b e r ich bitte Sie, ich beschaue und photographiere ja
den K ö rp e r der D am en nur dann, w enn ihr Gatte mich darum ersucht;
und nur in demjenigen Bette, von dem ich positiv weiß, daß es dem
H errn auch w irklich gehört.“ Das heißt: die Fragen der Scham und der
Diskretion werden ausschließlich mit dem Maßstab „ Eigentum“
gemessen. -
D am it im engsten Zusammenhang steht das vierte Argum ent: Dieses
bezieht sich auf die M ethode, Angeklagte mit den heim lich hergestell­
ten Bandaufnahmen von Gesprächen zu konfrontieren, die deren
Schuld beweisen. „W elch ein Fortschritt“ , lautet dieses Argum ent,
„daß die Übeltäter nun, da ihre sie inkriminierenden Aussagen in O b­
jektform fixiert und dadurch ,objektive Fakten* sind, sich selbst ankla­
gen und überführen! Statt von Anderen bezichtigt zu werden, klagt
sich ja nun jedermann selbst an!“
Ich w ill davon absehen, daß bei der Behandlung von M agnetophon­
bändern dem Schneiden und Montieren, also der Fälschung, keine
G ren ze gesetzt ist; daß jedem Verdächtigten, auch nur durch L ö ­
schung des W örtchens „n icht“ , Sätze in den M und gelegt werden
können, die er niemals ausgesprochen hat oder hätte. N ich t diesen
möglichen M ißbrauch habe ich im Auge, sondern den M ißbrauch, den
der Brauch als solcher darstellt. Furchtbar ist er deshalb, w eil der
Angeklagte durch das D ing gewordene Bekenntnis um die Chance
eines echten Bekenntnisses und einer echten Reue betrogen w ird ; weil
diese nun überflüssig gemacht wird.
Schon die M öglichkeit, daß sich jemand, statt auf G rund eines eige­
nen Entschlusses, auf Grund einer N ötigung oder Folterung selbst
bezichtigt, ist nicht gerade sehr menschenwürdig. A ber diese D epra-
vierung des Humanen ist immer noch weniger schlimm, nämlich w eni­
ger heuchlerisch, als die Methode der Ding gewordenen Selbstanklage.
Bekanntlich hat Augustinus die das Vergangene reproduzierende
„m em oria“ , das Erinnern, als das Vehikel der Sündenentdeckung, des
Gewissens und der Reue dargestellt. Diese Reproduktion erübrigt sich
nun, an ihre Stelle ist ein Reproduktionsgerät getreten, das das V erge­
hen in etwas jederzeit Repräsentierbares und Präsentes verwandelt; in
etwas, das eigentlich gar nicht mehr der Vergangenheit angehört. Aus
dem „peccavi“ des Gewissens ist das „pecco“ des sich abspulenden
Magnetophonbandes geworden.
Das fünfte Argum ent ist das aus Diktaturen sattsam bekannte Ein-
schüchterungs- und Abschreckungsargum ent: „G lauben Sie mir,
meine H erren: Wenn jedermann sich ungemütlich fühlt, weil er glaubt,
vielleicht unter Kontrolle zu stehen, dann w ird wesentlich weniger
Unm oralisches passieren.“ In anderen W orten: Etw as Unmoralisches:
die Bespitzelung, wird zur Bürgschaft der Moral gemacht.
A ber den H öhepunkt stellt auch dieses Argum ent noch nicht dar.
D ieser ist erst dann erreicht, wenn der Widerstand gegen A bgehört­
werden als Verdachtsgrund, ja als eine A rt Selbstbezichtigung wider
Willen gilt. H ier das Argum ent eines mit „tapping“ beauftragten
Beamten:
„Zuw eilen werde ich von Geschäftsleuten gefragt: ,Glauben Sie, daß
auch meine Leitung abgehört w ird ?‘ W orauf ich zu antworten pflege:
,Sehr interessant, daß Sie diese Frage stellen. Sie fühlen sich wohl
schuldig? N a, was haben Sie denn auf dem K erbholz?“ *18
Was diese vulgäre A n tw ort als selbstverständlich unterstellt, ist, daß
Privatheit ausschließlich darin bestehe, Verbotenes zu verstecken; daß,
weil Unrecht heimlich geschieht, Heimlichkeit und Privatheit eo ipso
Unrecht beweisen. U nd damit sind w ir nun bei unserem letzten und
entscheidenden Punkt angelangt:
Vollständig ist nämlich die Deprivatisierung erst dann geschildert,
wenn w ir ein Pendant der „U nverschäm theit“ in unser Bild mitein­
zeichnen: die „Schamlosigkeit“ .
Unterstellen w ir eine Bevölkerung, die sich aus extrem reservierten
Menschen zusammensetzt. Totale Bespitzelung wäre einer solchen
Gesellschaft unerträglich, „totale Unverschäm theit“ könnte nur mit
H ilfe von Terrormaßnahmen funktionieren. Denn durchführbar, m in­
destens reibungslos durchführbar, ist „totale Unverschämtheit“ nur
dann, wenn sie mit Individuen rechnen kann, die eine gewisse Präpa-
rierung erfahren haben: nämlich ihrem Bespitzeltwerden keinen W i­
derstand entgegensetzen und „nichts Besonders dabei finden“ .
A ber auch das ist nur die Mindestbedingung. Denn letztlich ge­
wünscht wird ein Individuum , das auf Unverschämtheit zugeschnitten
ist, das sich, „die Hände am Reißverschluß“ , für Eingriffe und Leibes­
visitationen bereithält. U nd als vollends perfekt gilt erst derjenige, der
dafür gewonnen ist, an dieser seiner Deprivatisierung aktiv und, wie es
so schön heißt, „freu dig“ mitzuarbeiten. Integrale Unverschämtheit
kann allein dort gelingen, wo ihr eine ebenbürtige Schamlosigkeit ent­
gegenkommt: eine gleichfalls totale.
D as ist leicht gesagt. Denn daß w ir über N acht und ohne alle E in ­
übung „totale Schamlosigkeit beherrschen“ , das kann man von uns
nicht verlangen. Kein Meister fällt vom H im m el, auch kein Meister der
Schamlosigkeit. Ohne M ühe geht es also nicht ab - w om it ich meine,
daß diejenigen, die an dieser unserer Veränderung interessiert sind,
sich erst einmal anstrengen müssen, uns zu „ent-schämen“ ; daß ihre
Aufgabe darin besteht, uns zu Meistern der Schamlosigkeit zu machen.
U nd diese Erziehungsaufgabe können die Interessenten wiederum nur
dann erfüllen, wenn sie die Schamlosigkeit u m w e rte n . D as heißt:
a) wenn sie uns weismachen, daß Schamlosigkeit eine Tugend sei;
b) wenn sie uns so gründlich verwandeln, daß wir unfähig werden,
ohne diese angebliche Tugend zu leben. -
Wie abenteuerlich diese Bedingungen auch klingen mögen, in gro­
ßen Teilen der Welt ist ihre Realisierung im Gang, in den Vereinigten
Staaten ist der Prozeß der „Entschäm ung“ fast abgeschlossen. Bei­
spiele dafür, daß Joh n D oe schamlos ist, und zw ar genau so schamlos
wie unverschämt: nämlich total, erübrigen sich beinahe, da in seinem
Dasein kaum mehr Situationen auftauchen, die nicht als Zeugnisse
dafür angeführt werden könnten. Wenn es überhaupt noch etwas gibt,
dessen John sich schämt, so jenes letzten Restes von Scham, den er
endgültig noch nicht überwunden zu haben glaubt. D a ihm von jedem
„R ead ers D igest“ oder jedem D igest o f D igests eingebläut w ird, daß
sich zu schämen „introversion“ (also „In-sich-G ekehrtheit“ im Sinne
von „V erkorkstheit“ ) beweise; und daß diese „introversion“ das Z ei­
chen einer „inhibition“ , einer „H em m ung“ sei; und daß jede inhibi­
tion schließlich auf „frustrated social adaption“ , also auf mißlingende
Konform ierung, hinauslaufe, besteht seine Scham höchstens noch in
„potenzierter Scham“ , das heißt: in der Scham, sich noch zu schämen.19
A b e r diese „potenzierte Scham“ ist eben seine letzte. O der - war
seine letzte. Denn heute liegt für solche Scham kein Anlaß mehr vor.
Schamreste, deren er sich zu schämen hätte, in sich vorzufinden,
würde ihm kaum mehr gelingen. „A nstandlos“ ist er bereit, anstands­
los zu sein, das heißt: jedem anderen alles zu zeigen. An die Stelle der
Devise „Jedem das Seine" hat er unvermerkt die: „jedem das M eine“
b zw . „jedermann fü r mich" gesetzt. U n d wenn der heutige A m erika­
ner seine Türen weit aufreißt - Am erika ist das Land der offenen
Türen - so nicht um den Präriestürmen oder den Nachbarn die G ele­
genheit zu geben, durch sie hindurchzubrausen; sondern um es um
G ottes W illen zu verhüten, daß er seinen Nachbarn - und alle sind
N achbarn - unvernehmbar bleibe. „Please have a look, for I have
nothing to hide“ . In anderen W orten: E r fühlt sich als Allgemeinbe­
sitz: er benimmt sich, als gehöre er Allen. U nd da er weiß, daß er,
wenn er sich nicht so benähme, als „ungehörig“ gelten würde und als
verdächtig, wenn er dieses Benehmen ausdrücklich verweigerte, tut er
es sogar mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit, oft jedenfalls hek­
tisch. Ein paar amerikanische Beispiele:20
1. U nser Leben ist Allgemeinbesitz geworden. Sich bis aufs Hemd
ausinterviewen lassen, gilt als selbstverständlich; warum w ir es nicht
tun oder nicht dulden sollten, als unerfindlich.
2. Unser Körper ist Allgemeinbesitz geworden. Und zw ar gerade
dessen Tabu-Zonen. Was natürlich in erster Linie für den weiblichen
K örper gilt. W ozu sich früher höchstens Prostituierte hergegeben hät­
ten: nämlich ihre Brust- und Gesäßweite öffentlich abmessen und die
Z iffern unter dem Photo publizieren zu lassen, dazu versteht sich,
sofern es nicht als „fu n n y “ gelten w ill, jedes Girl.
3. D er Geschlechtsverkehr ist Allgemeinbesitz geworden. Zahllose
A ufsätze über Bettfreuden und -schwierigkeiten, auch in populären
Zeitungen; teils in vertraulich-beratendem Freundeston verfaßt, so als
seien sie statt für hundertmillionen Ohren allein für meine bestimmt;
teils im Stile der ,how to do‘-A rtikel.
4. Die Verdauung ist Allgemeinbesitz geworden. Wenn z.B. ein er­
krankter Präsident von Fernseh-Interviewern gefragt wird, wie stark
er von seiner Diarrhöe geplagt werde, dann ist er nicht nur nicht
überrascht, vielmehr antwortet er mit der größten Konnivenz. Und
unter den Millionen Zeugen, den Zuschauern und Zuhörern, gibt es
dann gleichfalls niemanden, der auf den Gedanken käme, daß außer
der präsidentiellen Verdauung noch etwas anderes in Unordnung ist.

Wie gesagt, neben diesen massivsten, und durch ihre Massivität bei­
nahe schon entwaffnenden, Schamlosigkeiten gibt es eine ganze Reihe
von indirekteren, „kultivierteren“ , scheinheiligeren Tätigkeiten, die
sich ohne Mühe als Varianten, gewissermaßen als „verschämte Scham­
losigkeiten“ durchschauen lassen.
5. Zum Beispiel die „seif expression “ . - Wenn ein John Doe wähleri­
scher ist als die anderen John Does, wenn er es seinem Sozialprestige
zu schulden meint, Wege zur Preisgabe seiner Individualität und zum
Konformismus zu finden, die individueller und weniger konformi­
stisch sind als die seines Nachbarn, dann greift er zu einem der (ihm
von Kulturmarkt zur Auswahl angebotenen) Verfahren, die ihn dar­
über belehren, wie er seiner Persönlichkeit „Ausdruck verleihen“ und
sich dadurch den Anderen offenbaren und sichtbar machen kann. Da
das Lager der zu diesem Zwecke vorrätigen Methoden außerordentlich
reichhaltig ist, da es Symphonienschreiben ebenso enthält wie Laubsä­
gen, kann jeder John Doe die ihm entsprechende „self expression“
finden. In der Tat machen Hunderttausende von dieser Fülle G e­
brauch, und man kann geradezu von einem „ seif expression-racket“
sprechen, sogar von einem ingeniösen. Aber ingeniös ist der racket
nicht allein deshalb, weil er jedem Gebraucher „seine“ seif expression
zu bieten hat, sondern vor allem deshalb, weil er jedem eine unge­
wöhnliche Chance der Heuchelei zum Geschenk macht. Jede seif ex­
pression erfüllt nämlich zwei Wünsche gleichzeitig, und sogar zwei
einander widersprechende:
Erstens verschafft sie die Genugtuung, hervorzuragen: denn als
„sich Ausdrückender“ gehört John nunmehr zur Bruderschaft der
„creative ones“ , der Michelangelos, der Beethovens und van Goghs.
Zweitens wirkt sie als Purgierungsmittel, sie verhütet Johns seelische
Konstipation, sie verhindert, daß Reste seines privaten Innenlebens in
ihm verhärten und dadurch der Gesellschaft vorenthalten bleiben. Es
ist evident, daß jeder jedem sichtbar werden würde, und das Ideal der
Schamlosigkeit und der Abschaffung der Privatheit erfüllt wäre, wenn
sich jeder dieser Purgierung unterzöge. Darum w ird die Verwendung
des Mittels allgemein empfohlen: nicht etwa nur Künstlern, die durch
sie vielleicht etwas Unerhörtes mitteilen könnten, sondern ebenso dem
Kleinkinde, der Hausfrau, der Grandm a Moses oder dem G rundstück­
makler, der vielleicht am Sonntag nicht wüßte, was er mit sich anfan­
gen sollte, und der in die G efahr geraten könnte, ein Sonderling, und
damit ein Nonkonform ist, zu werden. -
U nd drittens schließlich ist es John D oe natürlich immer möglich,
auf die Psychoanalyse zurückzugreifen, mindestens auf deren populäre
Abarten. Denn diese bieten sich ihm ja als sozialhygienische Beicht-
und Preisgabetechniken an; als Methoden also, die ihn „extravertie­
ren“ ; und damit befähigen, sich sozial zu adaptieren und sich konform
zu machen.
Was von der „seif expression“ gilt, daß sie eine Doppelrolle spielt,
das findet auf die Psychiatrie gleichfalls Anwendung. Deren D oppel­
rolle besteht darin, daß sie
a) John D oe die Genugtuung verschafft, an einer modernen B ew e­
gung teilzunehmen, up to date zu sein, und dadurch sein Selbstbe­
wußtsein steigert;
und b) seine „adaption“ herstellt und dadurch seinen K onform is­
mus gewährleistet.
Dieser W iderspruch ist nicht erstmalig. Jede M ode lebt davon, daß
sie dem Menschen Auffälligkeit und K onform ität zugleich zusichert.
Sieht man die Inflation der Psychoanalyse in Am erika aus unserer
Perspektive, also im Rahmen von „U nverschäm theit“ und „Scham lo­
sigkeit“ , dann wird das (immer wieder und von den verschiedensten
Seiten geäußerte) Befremden darüber, daß diese Inflation „tro tz “ des
heiklen Gegenstandes und „tro tz “ der puritanischen Vergangenheit
des Landes möglich war, sofort gegenstandslos.
Um gekehrt ist diese Inflation völlig in O rdnung. D a es die K o n fo r­
mismus-Instanzen selbst sind, die darauf hinarbeiten, jedes Geheimnis
zu Tage zu fördern, jeden jedem vernehm bar zu machen, jede Reserve
als Hemmung abzufertigen, jede Privatheit als Treubruch anzupran­
gern; niemanden bei geschlossenen Fenstern leben zu lassen und nichts
nicht unter Kontrolle zu haben; umgekehrt jede freiwillige Selbstaus­
stellung als Loyalität und als Gesundheit, ja sogar als Glücksquelle
anzupreisen und zu belohnen - da also sie selbst es sind, die die Ver­
breitung und Kultivierung der Schamlosigkeit organisieren, würden sie
ja die törichtste Selbstsabotage treiben, wenn sie dem Psychoanalytiker
weniger Chancen einräumen würden als dem Detektiv, dem Geheim­
polizisten und jenen zahllosen Abhörapparaten, die sie zu diesem
Zweck arbeiten lassen. In anderen Worten: sie akkordieren ihm mit
Freuden, zur „Entschämung“ des Menschen das Seine beizutragen.
Nicht nur gilt: „ It pays to be frank.“ Nicht nur - was Psychoanalyti­
kerhonorare bestätigen können - „itp a y s to make them frank“ , son­
dern eben auch: „ I t pays to have them made fran k.“
Wenn in der letzten Zeit nachgewiesen worden ist", daß die Psy­
choanalyse in den Vereinigten Staaten sich mit dem amerikanischen
„w ay of life“ , und zwar mit dem konformistischen der letzten zehn
Jahre, schamlos gleichgeschaltet und dadurch ihre Prinzipien in ihr
Gegenteil verkehrt habe, so ist damit also noch nicht die ganze Wahr­
heit gesagt. Denn vollständig wird die Wahrheit erst durch die Ergän­
zung, daß Amerika sich der Psychoanalyse zum Zwecke der Durch­
setzung des Konformismus bedient.

„Sinn“ nimmt die heutige „Schamlosigkeit“ allein dann an, wenn sie
als Gegenstück der „Unverschämtheit“ verstanden wird. Da es nichts
gibt, was Beraubtwerden wirkungsvoller erleichtert, als die Selbst­
preisgabe des prospektiven Opfers, suggeriert der Räuber diesem, sich
selbst zu enthüllen. Letztlich ist dessen Preisgabe also ein Hilfsakt der
Beraubung, eine Methode, die der Räuber anwendet, um seines Opfers
mühelos Herr zu werden. Jedem von uns wird die Hausaufgabe ge­
stellt, sich durch Schamlosigkeit zum Mitarbeiter an seiner eigenen
Deprivatisierung zu machen.
Damit ist natürlich nicht behauptet, daß wir diesen Trick gewöhn­
lich durchschauen. Im Gegenteil: Wenn uns suggeriert wird, uns der
Kleidung unserer Privatheit zu entledigen, oder wenn uns diese effek­
tiv vom Leibe gezogen wird, bleiben wir fest davon überzeugt, uns
selbst zu entkleiden. N ur höchst selten haben wir, wenn wir den A uf­
trag durchführen, eine Ahnung davon, daß es sich dabei um einen
Auftrag handelt. Oft sind wir stolz auf unsere Unbefangenheit und
Vorurteilslosigkeit, obwohl wir gerade durch diese den Auftrag unse­
rer Auftraggeber erfüllen. Nichts tut der sanfte Totalitarismus lieber,
als seinen Opfern den Wahn der Selbständigkeit zu belassen oder gar
diesen Wahn überhaupt erst zu erzeugen.“
Nach dem Vorhergehenden leuchtet es ein, daß, wer in „U nver­
schämtheit" und „Schamlosigkeit" zwei gesonderte Vorgänge sieht,
sich um die Chance betrügt, das Funktionsganze des Zustandes, in
dem wir heute leben, zu durchschauen.
Und so wenig die beiden Vorgänge von einander gesondert werden
dürfen, so wenig dürfen es deren Subjekte: also der Spitzel und der
Exhibitionist. ' Vielmehr fungieren diese beiden Typen als Partner auf
ein und demselben Spielfelde. Ja, sogar als auswechselbare Partner.
Denn wer jeweils auf welcher Spielfront steht, das bleibt sich gleich.
Tatsächlich ist es ja alltäglich, daß die Spieler ihre Rollen austauschen.
Niemand wird Anstoß daran nehmen oder auch nur darüber staunen,
wenn etwa ein Fernsehreporter, der gestern einen Mitmenschen in
flagranti eines Schreikrampfes ertappt und diesen Schreikrampf seinem
Publikum als Genußobjekt serviert hat (also unzweideutig auf der
Front der „Unverschämtheit" gestanden hat), sich heute auf einem
Bildschirm hemmungslos preisgibt (also im Lager der „Schamlosen"
steht). Dieser Rollentausch von „Spitzel" und „Exhibitionist" ist ge­
nau so selbstverständlich wie der Rollentausch, der in jeder Unterhal­
tung zwischen Hörenden und Sprechenden stattfindet. Und diesen
Vergleich meine ich ernsthaft, da die „Unterhaltungsmedia" der Mas­
sengesellschaft eben wirklich Methoden sind, mit deren Hilfe die Glie­
der dieser Gesellschaft ihre „Unterhaltung" (im Sinne von „Konversa­
tion") miteinander führen. Genau so also wie wir
a. sprechende und hörende Wesen sind; und
b. sprechende und hörende zugleich; und
c. sprechende nur insofern, als wir virtuell auch hörende sind (und
umgekehrt),
genau so sind wir
a. „schamlos" und „unverschämt"; und
b. beides zugleich; und
c. schamlos nur insofern, als wir virtuell auch „unverschämt" sind
(und umgekehrt).
Die zwei Figuren: Spitzel und Exhibitionist sind also nur Spielarten,
ja nur Seiten einer einzigen Figur, der Figur des Zeitgenossen. Darum
ist es auch kein W under, daß die jeweils „Scham losen“ von den jeweils
„U nverschäm ten“ niemals als „scham los“ , und die jeweils „U n v e r­
schämten“ von den jeweils „Scham losen“ niemals als „unverschäm t“
empfunden werden; daß sie sich vielmehr gegenseitig als normal be­
trachten, als Spielpartner, als ihresgleichen; und daß ihr Zusammenle­
ben, aus ihrer Perspektive gesehen, nichts zu wünschen übrigläßt.

W ir hatten vorhin, bei der Aufzählung von Zeugnissen für Scham lo­
sigkeit, das W ort „ Allgemeinbesitz“ verwendet; z .B . das Leben des
Individuums einen „Allgem einbesitz“ genannt.
Verm utlich hat dieser Ausdruck, da er an Sozialismus anklingt, den
Leser stutzig gemacht. W irklich müßte ja die Behauptung, daß ein
Land, das jede A n von Sozialismus bekäm pft, einen Sozialismus eige­
ner Art praktiziere, dem Leser sonderbar Vorkommen. U nd es wäre zu
begreifen, wenn er den Ausdruck metaphorisch verstehen würde.
A b er nichts liegt mir hier ferner als M etaphorik. Was ich meine, ist
tatsächlich, daß der Zustand, auf den der Konform ism us abzielt, eine
A rt von Allgemeinbesitz darstellt; ja man darf sogar behaupten, daß
die Entwicklung zu diesem Allgemeinbesitz gerade von denjenigen
gesteuert wird, die den Kam pf gegen den Sozialismus steuern. Was
heißt das?
Um diese Frage zu beantworten, haben wir die Variante von Sozia­
lismus, die wir meinen, deutlich gegen das abzugrenzen, was gewöhn­
lich Sozialismus genannt w ird:
Was John D oe durch die Expropriierung einbüßen soll, ist nicht das,
was gewöhnlich als sein „Eigentum “ gilt. W eder die H eiligkeit seines
A u tos noch die der Produktionsm ittel, über die er verfügen mag, so l­
len angetastet werden. Abgeben soll er „lediglich“ seine „Eigentüm ­
lichkeit“ , seine Personalität, seine Individualität und Privatheit; ledig­
lich sich selbst. Im Unterschied zur üblichen Sozialisierung, die das
betrifft, was der Mensch h a t, handelt es sich hier also „n u r“ um eine
Sozialisierung dessen, was der M ensch ist.
Soweit macht der Gedanke keine Schwierigkeit. Schwieriger dage­
gen, ja widerspruchsvoll klingt der zweite Schritt: nämlich die Behaup­
tung, daß diese neue Art von Sozialisierung allein von denen gerecht­
fertigt werden kann, die den Menschen als Eigentümer, als ein animal
habens definieren; daß dieser Sozialisierung ein heimliches „habeo
ergo sum” zugrundeliegt. A ber auch dieser Schritt ist plausibel: Denn
nur derjenige, der zuvor das „S e in " des Menschen in dessen „H a b e n "
verlegt hat, kann, wenn er in actu der Zerstörung des Menschen dessen
„H a b e n " unangetastet läßt, davon überzeugt bleiben, daß er auch des­
sen Sein intakt gelassen habe. N u r der kann sein gutes Gewissen be­
halten.
Daß diese seine Überzeugung und sein gutes G ew issen illusorisch
sind, wissen w ir ja. N atürlich stellt der Rückstand, der nach der E x ­
propriierung übrigbleibt, keine echte „P e rso n ", kein wirkliches Indi­
viduum mehr dar. Zurück bleibt vielmehr ein Wesen, das nur noch in
numerischem Sinne „es selbst" und „eines" ist; ein Seiendes, dessen
Selbstheit und Unverwechselbarkeit sich darin erschöpft, daß es die
Stücke A und B und C etc. besitzt, während seine Nachbarn die Stücke
A I,B ',C I oder A ',B ', oder C 2 etc. besitzen. (Die Tatsache, daß diese
Stücke, da sie zumeist Exemplare von Serienproduktionen sind, zu­
meist gleich sind, lasse ich hier außer acht.)
D ieser Zustand ist widerm oralisch. Denn während der M oralist ei­
gentlich verlangt, daß sich das Recht des Menschen darauf, Eigentümer
zu sein, letztlich daraus ableite, daß er Eigentum seiner selbst, also sein
eigener H err sei, steht ihm hier umgekehrt kein anderes Recht mehr zu
als das, Eigentümer zu sein.
Aber für die so Entrechteten ist diese Situation selbstverständlich.
U nd wenn sogar die „have nots" M r. Smith „the $ 275 ooo Mr. Sm ith"
oder Mrs. Astor „the $ 200 millions M rs. A sto r" nennen - und das ist
absolut üblich - , dann beweist das, daß selbst sie, die „n u r wenig
sind", weil sie „n ur wenig haben", die Definition des Menschen durch
dessen H abe akzeptiert haben.

A u f eine Beantwortung der Frage, wie die im Vorstehenden geschil­


derte Situation behoben werden könnte, muß ich verzichten. Aus dem
einfachen G runde, daß ich lediglich Sym ptom e aufgezeigt habe; und
w eil es töricht wäre, Vorschläge für Symptomheilung zu machen. Eine
Patentlösung gegen den Konform ism us als ganzen, das heißt: gegen
unseren gesamten heutigen politisch-gesellschaftlichen Zustand wird
man ja nicht erwarten.
Was dagegen beantwortet werden kann, ist die Frage, worin das
Erschreckendste an dieser, „K on form ism us“ genannten, Variante des
Totalitarismus bestehe. Die A ntw ort lautet:
In der Tatsache, daß sie ohne Terror vor sich geht.
Das ist nicht zynisch gemeint. Gemeint ist allein: D ie Terrorlosig-
keit beweist, daß die Mächte von heute es sich leisten können, auf
Terror zu verzichten. U nd das können sie deshalb, weil eben ihr R o h ­
stoff: der Mensch, heute bereits bearbeitet ist; weil w ir O pfer unser
O pfer, und nicht nur das sacrificium intellectus, sondern das unserer
Privatheit und unserer A utonom ie, immer schon gebracht haben, ohne
dieses als O pfer erkannt zu haben. K u rz: weil w ir Bespitzelte immer
schon, noch ehe w ir unter aktueller Bespitzelung stehen, Bundesge­
nossen der Spitzel sind.
Wo heute Autoritäten darauf verzichten können, zum T error zu
greifen, da läuft ihre Maschinerie ohne Nebengeräusche. U nd am Ende
sogar so untadelig glatt und still, daß sie ihren Verzicht auf Terror, das
Sym ptom der vollendet durchgesetzten Unfreiheit, als Freiheit und
Humanität mißverstehen und als Freiheit und Humanität ausposaunen
können.
„G eprägte M ünzen“ , heißt es in einem molussischen Sprichwort,
„bedürfen keiner Prägung.“

Anhang: Die „akustische Leine“

In unserer bisherigen Darstellung der „akustischen Freiheitsberau­


bung“ hatten w ir uns darauf beschränkt, nachzuweisen, daß w ir als
Abgehörte nicht mehr unsere eigenen Herren sind, sondern zu öffent­
lichem Eigentum werden. Dam it hatten w ir aber nur eine H älfte der
„akustischen Freiheitsberaubung“ beschrieben. Denn was uns geraubt
w ird, ist nicht nur unsere Freiheit, ungehört, sondern auch die, unhö-
rend zu leben. - Was ist damit gemeint?
N icht nur die triviale Tatsache, daß wir gezwungen sind, in einer
von Tag zu Tag lauter lärmenden Welt zu leben. N icht nur, daß w ir
hören müssen. Sondern - und das ist schlimmer und ungleich beschä­
mender - , daß dieses Müssen zugleich als ein Sollen gilt; daß man von
uns verlangt, zu hören. - Andersherum formuliert: Daß der Lärm
nicht nur ein Ärgernis ist, sondern eine Funktion hat, eine Aufgabe;
und zw ar die, das seinige zu leisten in dem Prozeß unserer Deprivati-
sierung; daß er eines der Hauptinstrumente des Konformismus dar­
stellt.
Das klingt sonderbar. A ber man rufe sich nur ins Gedächtnis, w el­
che Rolle in den Jahren der D iktatur des M ithören gewisser offizieller
Reden gespielt hat; als wie selbstverständlich es damals galt, sich durch
die Anschaltung einer H itler- oder einer Goebbelsrede loyal zu ma­
chen; seine Loyalität nicht nur zu beweisen, sondern sie zu sichern; sie
nicht nur zu sichern, sondern sie effektiv herzustellen. W irklich w ar es
ja damals die Pflicht, sich dem Lärm dieser Reden auszusetzen und zu
unterwerfen. - Andersherum : der Lärm hatte damals die Aufgabe, uns
botmäßig zu machen, uns gleichzuschalten, uns zu de-privatisieren. -
Was von diesem Lärm gilt, gilt mutatis mutandis beinahe von jedem.
W om it natürlich nicht unterstellt w ird, daß es ein „mauvais genie"
gegeben habe, einen ingeniös totalitären Psychotechniker, der das L ä r­
men der heutigen Welt geplant und bewußt organisiert hätte, um uns
akustisch zu unterjochen. Diese Unterstellung würde in eine Swiftiade
gehören. Gemeint ist allein, daß nun, da er einmal da-ist, der Lärm
eingesetzt und verwendet wird. U nd zwar verwendet als Verhinde­
rungsgerät; als ein Instrument, dessen Funktion darin besteht, uns die
Flucht zu verlegen und uns davon abzuhalten, eigene Wege einzu­
schlagen, z .B . den berüchtigten Weg der „In troversion“ . Lärm fu n ­
giert als ein Mittel zur Vereitelung möglicher Desolidarisierungen.
Wie w ir wissen, zielt jede monolithische Gesellschaft (nicht nur die
gewalttätig totalitäre, sondern auch die sanfte konformistische) darauf
ab, die Einzelindividuen, aus denen sie besteht, unentrinnbar in G riff
zu halten; diese in einen Zustand des Mitseins hineinzuzwingen; in
einen Zustand, der sie so eisern bindet, daß die Bindung zu sprengen
für die Gebundenen nicht in Frage kommt.
U nd diesen Zustand produziert die Gesellschaft nun auch mit H ilfe
der „akustischen U nterw erfung“ . In demjenigen Augenblick, in dem
ein Individuum dazu verurteilt ist, in einer Welt zu leben, in der es,
weil ihm kein stiller Platz übrigbleibt, hören muß, bleibt ihm auch
nichts anderes übrig, als dieser Welt zuzugehören, ihr gehorsam oder
gar hörig zu werden. Wenn es dem Menschen versagt w ird, seiner
akustischen Erreichbarkeit und Greifbarkeit zu entrinnen, dann ist es
ihm bald auch versagt, d. h.: dann ist er bald auch außerstande, E r ­
reichbarkeit und Greifbarkeit überhaupt zu entrinnen. Erreichbarkeit
und G reifbarkeit werden dann zu seiner zweiten N atur. U nd am Ende
w ird er dann diese Versklavung sogar selbst kultivieren, so daß er
sich, wenn er zufälligerweise einmal nicht greifbar ist, verloren fühlen
wird.
Daß das akustische Mittel so zuverlässig arbeitet, daß es sich als
U nterwerfungsgerät so ausgezeichnet bewährt, ist fü r niemanden, der
sich die philosophischen Elementarwahrheiten über das H ören einmal
klargem acht hat, verwunderlich. Denn die Dimension des Akustischen
ist die Dimension der Unfreiheit. A ls H örende sind w ir unfrei. F ortzu ­
hören ist schwieriger als fortzublicken. U nd diese grundsätzliche
Schwierigkeit gründet darin, daß O hrlider uns mißgönnt sind; phäno­
menologisch gesprochen: darin, daß, im Unterschiede zur sichtbaren
W elt, die hörbare ungefragt, indiskret, aufdringlich, ohne unserer aus­
drücklichen intentionalen Zuw endung zu bedürfen, in uns eindringen
und uns, ob w ir wollen oder nicht, zur Teilnahm e zwingen kann. Es
gibt keinen H örenden, der sich nur dort befindet, w o er sich aufhält.
D a der Ton zugleich dort ist, wo er auftönt, und dort, wo er gehört
w ird, zwingt er auch den Hörenden, sich an beiden O rten zugleich
aufzuhalten; obwohl „h ie r“ , immer auch „d o rt“ ; und so macht er ihn
zugehörig und gebunden.
D a also Forthören Freiheit erfordert, eine Abstrakionsleistung, eine
K raft zur „negativen Konzentration“ ; und da diese K raft nur die W e­
nigsten besitzen, können die meisten von uns durch Lärm unterw or­
fen, ja durch kontinuierlichen Lärm daran verhindert werden, jemals
sie selbst zu werden. U nd damit ist das De-privatisierungsideal des
Konform ism us erreicht.
Hören ist Mit-hören. Wer sich, ob er w ill oder nicht, im U m kreis
einer bestimmten akustischen Welt befindet und diese nun hört, weil,
sie nicht zu hören, undurchführbar ist, der ist im T on -N etz mit-gefan-
gen, der gehört mit zu dieser W elt. Jaw oh l: m it. Bekanntlich gibt es
eine Radiozeitung, die als T itel statt der naheliegenden Aufforderung
„ H ö r !“ den K onform ism us-Im perativ „H ö r m it!“ gewählt hat. Die
Erfindung dieses Titels war alles andere als ein bloßer Einfall. V iel­
mehr hat der Titelerfinder, ob er das nun wußte oder nicht, aus der
Schule geplaudert; aus der Schule des Konform ism us. Denn zu dessen
Aufgaben gehört es eben, hören zu machen, weil Hören konformistisch
macht.
Wie Kleinkinder werden w ir an einer Leine gehalten, an der „akusti­
schen Leine“ . Und wir benehmen uns auch als brave Kinder. Das
heißt: wir finden unser Genüge an einem H orizonte, dessen Radius
nicht länger ist als der der „akustischen Leine“ . U nd zumeist sind w ir
sogar gerne brav.
Denn wenn w ir an diese Leine gew öhnt sind - und das sind die
meisten von uns - , dann ist es nicht nur Genügen, was w ir an diesem
abgezirkelten H orizont finden, sondern G lück. Diejenigen, die ihr
portable radio spazierenführen, beweisen ja, daß sie die Leine bereits
freiwillig mit sich herumtragen. - Daß sie aber in Panik geraten, wenn
die Leine einmal reißt, bezeugt das folgende Beispiel:
V or etwa zehn Jahren bestieg ich zusammen mit zw ei am erikani­
schen Freunden den M ount Washington. A us dem Lautsprecher des
Talhotels tönte eine Schnulze herauf. Daß diese behauptete, nur in
H onolulu sei Liebe, davon will ich hier schweigen. Den Ausschlag
gab, daß es für Stunden unmöglich war, dieser M usik zu entrinnen.
W arum mich das nervös macht, blieb meinen W eggenossen unver­
ständlich. Denn die fanden diesen Zustand nicht nur nicht unange­
nehm, sondern ausgesprochen erfreulich. O ffenbar genossen sie, so­
lange sie die M usik hörten, solange sie „in “ ihr waren, ein G efühl der
Sicherheit, das G efühl, noch „d a“ , nämlich dort unten zu sein. Etw a
wie Flieger, die es genießen, den verläßlichen K ontakt mit ihrer B o ­
denstation aufrechtzuerhalten. Sie hatten sich noch nicht verlaufen.
D ie akustische Leine, die sie mit dem Tal verband, war noch nicht
gerissen.
Während mich, wie gesagt, dieser Schürzenbandzustand aufs äußer­
ste peinigte, setzte bei ihnen umgekehrt die Irritierung erst in demje-
nign Augenblicke ein, in dem die Gängelung ihr Ende fand. - „S o rt of
w eird“ , meinte der Linke, als die akustische Grenze hinter uns lag, und
er versuchte, angestrengt ins Tal hinunterlauschend, die dünnsten R e ­
ste der H onolulu-Schnulze doch noch aufzufangen. - „W h y w eird?“
fragte ich, „sind w ir nicht endlich im Freien?“ - ,,Im Freien!“ w ieder­
holte er achselzuckend. „Sondern?“ - „ I would rather say“ , antw or­
tete der Rechte, „in a sort ofsocialstratosphere“ . U nd dann, mit einem
R u ck : „L e t’s get it over with as fast as possible“ - was ich nicht
verstand. Und ebensowenig verstand ich die plötzliche Energie, mit
der die beiden sich nun wieder in Gang setzten.
Nach einer Weile wurden mir freilich seine Worte klar, und der
Grund für ihren unvermittelten Weitermarsch ebenfalls. Denn plötz­
lich hörten wir von neuem Musik; nein, nicht nur Musik, sondern
dieselbe gewagt monopolistische Behauptung, daß Liebe nur in H ono­
lulu Liebe sei. Offenbar hatte sich die Stimme unterdessen mit einem
abenteuerlichen Duodezimensprung, hoch über unsere Köpfe hinweg,
zum Mount Washington hinaufgeschwungen, um nun aus frischer Ge-
birgshöhe Reklame für Honolulu zu machen. Jedenfalls waren wir in
den Umkreis des Gipfellautsprechers eingetreten, der das Gebirge be­
strich wie das Licht eines akustischen Leuchtturmes. Und das akusti­
sche Dunkel, das Nichts, lag wieder hinter uns.
Wirklich „außerhalb“ , wirklich „im Freien“ , wirklich „fre i“ waren
wir also überhaupt nicht gewesen. Vielmehr hatten wir nur den schma­
len Streifen akustischen Niemandslandes durchquert, der zwischen
den beiden Lautkreisen ausgespart geblieben war.
Von neuem machten die beiden halt. „Wasn’t it like crossing a ri­
ver?“ meinte der Linke, und er war bleich wie der Reiter über den
Bodensee. - Und der Rechte, mit vor Erleichterung verklärtem Ge­
sicht: „Isn ’t it nice to be there again?“
„A w fully nice“ , gab ich zu, aber lediglich, um Ruhe zu gewinnen.
Denn nun war ich ausschließlich damit beschäftigt, in dieses „there“
hineinzuhorchen, in dieses sonderbare „there“ . Als „da“ , so begriff
ich nun, empfanden sich die beiden erst in demjenigen Augenblick
wieder, in dem sie „there“ , in dem sie auch „dort“ und „dort dabei“
waren; und ich begriff, daß sie mit diesem „there“ das Geheimcredo
des Konformismus preisgegeben hatten; das Argument: „Ich bin da­
bei, also bin ich da, also bin ich.“ Und ich hatte eine Vision:
Wie auf einem abstrakten Bilde sah ich zahllose Kreise vor mir,
größere und kleinere Kreise, deren Flächen sich derart überschnitten
und überdeckten, daß die meisten Punkte des Bildes mehreren Kreis­
flächen zugleich angehörten; und es gab nur wenige Punkte, die außer­
halb eines Kreisbogens lagen. Die Erklärung dieses Bildes erübrigt
sich. Denn daß die Kreisflächen die von Lautsprechern bestrichenen
Gebiete anzeigten; die Zwischenräume jene seltenen Niemandsländer,
von denen wir eines soeben kennengelernt hatten; und daß das Ganze
die nie zuvor gezeichnete Karte der akustischen Landschaft der Un­
freien war, das ist nach dem Vorangegangenen deutlich.
Z u glauben, daß solche Erfahrungen nur in den Vereinigten Staaten
gemacht werden können, und daß nur Amerikaner durch das „Reißen
der akustischen Leine“ irritiert würden, wäre töricht. In O berbayern
ist m ir neulich etwas ganz Ähnliches passiert. Auch dort w ar ein tüch­
tiger Fußm arsch nötig, wenn man in die Region des Schweigens v o r­
dringen wollte. U nd auch dort gab es unter den wenigen Fußgängern,
die überhaupt noch zu sehen waren, einige, die es, wenn w ohl auch
unbewußt, vermieden, sich von der im Tal verankerten akustischen
Leine loszureißen. D ie Phänomene, um die es sich hier handelt, sind
längst global. Sie sind Hörigkeitsphänom ene der Epoche.
1979

Im Zeitalter des Machens darf es eigentlich keine ungemachten G e­


schehnisse geben, mindestens keine, die unverwertbar oder nicht m in­
destens in ein Produktionsgeschehnis integriert wären. D ie Tatsache,
daß es noch immer Geschehnisse gibt, die einfach physei da-sind und
noch nicht einmal als Material oder Energiequelle dienen (z.B . Son­
nenhitze, die sich „nichtsnutzig“ ins A ll verstrahlt), ist für uns H eutige
skandalöseste V erschwendung. In M olussien hat kurz vo r dem U nter­
gang der Stadt ein Forscherteam an der Aufgabe gearbeitet, herauszu­
finden, ob nicht das unprofitable Fortsterben der Bürger irgendwie in
Energie umgesetzt werden könnte.
So weit sind w ir zw ar noch nicht. A ber keine Übertreibung ist es zu
behaupten, daß im m er weniger von uns einfach an Lebensmüdigkeit
oder Altersschwäche sterben. Einfache Sterbefälle sind bereits alter­
tümliche Raritäten. Zumeist wird der Tod hergestellt. Gestorben wird.
Nicht Sterbliche sind wir H eutigen, prim är vielmehr Erm ordbare. So­
fern w ir nicht durch Napalm , Radioaktivität oder Gas umgebracht w er­
den - die Vergasten sind ja in der Tat schon nicht mehr vergeudet ge­
storben, ihre Leichname sind ja nicht mehr „nicht-nutzig“ gewesen - ,
werden wir in verchromte Sterbefabriken verlagert. In diesen werden
w ir zw ar nicht umgebracht (umgekehrt wird ja unser Sterben durch
bewundernswerte Manipulation hinausgezögert); aber während dieser
Verzögerungszeit werden w ir doch so fest in den Apparat eingeschal­
tet, daß w ir zu dessen Teil, unser Sterben zum Teil der Apparatfunk­
tionen und unser T od zum momentanen Binnenereignis innerhalb des
Apparats wird. In der Intensivstation der molussischen Stadt Vaslegas
sind diese Apparate an sound tapes angeschlossen, die - man klage
nicht über Gem üts- oder Kulturlosigkeit unseres Zeitalters - im A u ­
genblick des eintretenden Todes automatisch die ersten fünf Takte des
Chopinschen Trauermarsches auftönen lassen.
Thesen für ein Sym posion
über M assenmedien'
1960

Das hier gestellte Thema ist das antipodische Pendant zum Thema
Tendenzkunst. D enn was hier gefragt w ird, ist nicht: Wie sollen oder
können w ir Kunst machen, um die Masse zu beeinflussen?, sondern
umgekehrt: Wie machen w ir, angesichts der effektiv, z .B . in Rundfunk
und Fernsehen stattfindenden M assenwirkung, oder beeinflußt durch
die Tatsache „M assenw irkung“ , Kunst? Inwiefern machen w ir sie an­
ders als früher?
D irekt ist diese Frage nicht beantwortbar. U nd zw ar deshalb nicht,
weil zuerst gefragt werden müßte: In welcher Weise vollzieht sich
denn die Beeinflussung der M asse bzw . unsere Beeinflussung durch die
Masse? Begegnen w ir der Masse denn direkt? Sind es nicht vielmehr
nur unsere Boten, nämlich unsere Produkte, die die Masse direkt tref­
fen? Während w ir stattdessen nur mit dem ungeheuren R eproduk­
tionsapparat konfrontiert sind? U nd tritt nicht auch die Masse selbst
fü r uns nur in Form von Produkten auf, nämlich in Form von R und­
funksendungen, Film en, Fernsehsendungen, Zeitschriften etc.? Und
sind nicht diese Produkte selbst wiederum Produktionsm ittel, da sie ja
den spezifischen Massencharakter der heutigen Gesellschaft m itprodu­
zieren? - Keine dieser Fragen soll hier beantwortet werden, aber ich
form uliere sie doch, um die Illusion zu unterbinden, w ir könnten
unmittelbar auf das Them a „D e r Künstler und die Gesellschaft“ losge­
hen, und dieses Them a ließe sich direkt diskutieren. D ie Verhältnisse
sind sogar noch vermittelter, denn unser Produzieren ist ja durch jene
Massenprodukte (die ihrerseits den Massencharakter der Masse m it­
produziert haben) mitbestimmt, also m itproduziert; und da w ir über-
dies zu denen gehören, die durch ihre Produkte diese Masse und deren
wirkliche oder angebliche Massennachfrage mitproduziert haben, sind
wir ja als Produzierende auch immer schon die „Produkte unserer
eigenen Produkte“ .

II

Das Grundproblem heißt Reproduktion, nicht Masse. - Wer, wie es


hier geschieht, gegen den sogenannten Massengeschmack spricht, setzt
sich stets dem Risiko aus, als antidemokratisch angeschwärzt zu wer­
den. Das gilt gerade im Umkreis jenes „sanften Terrors“ , unter dem
die konformistische Gesellschaft lebt. Nichts lieben antidemokratische
Meinungsproduzenten mehr, als die Kritik der Massenmedien als A ri­
stokratismus zu verleumden. Dieser Vorwurf ist auch meiner Kultur­
kritik nicht erspart geblieben. - Ihre effektive raison d’etre hat die
Massenbelieferung mit Reproduktionsgütern nicht etwa, wie wir es
uns aus Selbstgerechtigkeit gerne einreden, im „gleichen Recht aller
auf Kultur“ , vielmehr in der Chance der Produzenten, ein einziges
Kulturprodukt tausend Male zu verkaufen, also zynisch formuliert: im
„Recht des Produktes auf G e k a u ft w e r d e n Der heutige sogenannte
„Kulturpluralismus“ , den wir so gerne sozialethisch begründen, grün­
det vielmehr primär in etwas anderem, nämlich im Recht aller Waren
auf gleiche Verkaufschancen. Van Goghs Sonnenblumen wuchern
nicht anders als Williams soap flakes, sie haben die Prärien Amerikas
überwachsen und kriechen selbst bis in die Badezimmer und porches
der Provinzhäuser. Nicht unmöglich, daß einer dieser Sonnenblumen­
kerne aufgehe. Aber nicht wahrscheinlich, denn der Gartengrund für
Kultur besteht nicht in Einzelprodukten; noch nicht einmal ein einzel­
ner Sektor ist Kultur; vielmehr Stil des ganzen Lebens, Stil, der nur
sekundär auch die Produkte mitaffiziert. Wer betont, den „Sektor K ul­
tur“ zu pflegen (wie das bereits in den Benennungen gewisser Funk-
und Fernsehabteilungen geschieht), der weist sich als Barbar aus, weil
er den „Sektor Kultur“ pflegt; und weil er durch diese Isolierung des
Sektors anzeigt, daß er das menschliche Leben als etwas primär Vor­
kulturelles unterstellt.
III

Die Hauptkategorie, das Hauptverhängnis, unseres heutigen D a­


seins heißt: Bild. Unter „B ild “ verstehe ich jede Darstellung von Welt
oder Weltstücken, gleich, ob diese aus Photos, Plakaten, Fernsehbil­
dern oder Filmen besteht. „ B ild ” ist Hauptkategorie deshalb, weil
heute Bilder nicht mehr als Ausnahmen auch in unserer Welt vorkom ­
men, weil w ir von Bildern vielmehr umstellt, w eil w ir einem D auerre­
gen von Bildern ausgesetzt sind. Früher hatte es Bilder in der Welt
gegeben, heute gibt es „die Welt im B ild “ , richtiger: die Welt als Bild,
als Bilderwand, die den B lick pausenlos fängt, pausenlos besetzt, die
W elt pausenlos abdeckt. Es liegt auf der H and, daß, wenn die Zahl der
(uns nicht nur präsentierten, sondern uns aufgezwungenen) Bilder so
ungeheuer anschwillt, diese Quantität in eine Qualität umschlägt. D as
bedeutet nicht notwendigerweise, daß die Bilder schlechter geworden
seien als früher oder schlechter würden, sondern daß jedes Bild, wenn
es nur eines unter Millionen ist, eine von der früheren Bildfunktion
verschiedene Funktion annimmt. A ls Tom m y seine das Fernsehpro­
gramm abschaltende Mutter fragte, wie man denn eigentlich in frühe­
ren Zeiten, vor der Erfindung von Rundfunk und Fernsehen (denn
irgendeine noch so altfränkische Methode zu deren H erstellung müsse
es doch auch früher gegeben haben) - D unkel und Stille produziert
habe, da verriet er unser Zeitalter: denn er verriet, daß die uns ins Haus
gelieferten Reproduktionen (gleich ob diese in „W erken“ oder in an­
geblichen Abbildern der W elt oder in „M itbildern“ des gegenwärtigen
Geschehens oder in zwecks Konform ierung gelieferten Vorbildern be­
stehen) nicht mehr Inseln im Alltag oder in der Stille sind: daß umge­
kehrt Stille und Bildlosigkeit zu Lücken und Löchern im Kontinuum
der Bildw elt geworden sind. Gestaltpsychologisch ausgedrückt: Figur
und G rund sind ausgetauscht bzw . die Figuren sind zum bloßen
Grunde degeneriert (background music).
Die Tatsache der heutigen Bildmacherei und Bildfresserei - denn
Bilder bilden die Hauptmasse unseres Konsum s - ist so breit, daß ihre
Diskussion nicht in dem begrenzten Rahmen der Kunsttheorie durch­
geführt werden kann. Früher hatten w ir das Bild als das Reservat der
Kunst verstehen dürfen, aber davon kann heute keine Rede mehr sein,
da alles, auch das W irkliche, sich prim är als Bild präsentiert - was ja so
weit geht, daß die Welt minus deren Abbildungen heute schon als eine
leere Welt erscheinen würde. D ie Welt ist so groß, so undurchsichtig
und so unübersehbar geworden, daß sie M odelle nötig macht, daß ihre
Bilder den Primat vo r ihr selbst haben: denn die Sinnlichkeit unserer
Augen ist der W elt nicht mehr gewachsen: selbst im Interesse der
Erkenntnis und zum Zw ecke der Einsicht hat man bereits zum M ittel
des Scheins zu greifen. D ie Tatsache, daß selbst die Einsicht bereits das
M edium des Scheins, die Etablierung einer Bilderwelt erfordert, ist die
ungeheure Chance der Lüge heute. - A ls Künstler haben w ir heute zu
fragen: W ie verhält sich Kunst, die früher über ein fast ausschließliches
M onopol für die Herstellung von Bildern verfü gt hatte, in einer Welt,
die von anderen Mächten weitgehend zu einer universellen Bilderwelt
gemacht worden ist? So ist z .B . die „Gegenstandslosigkeit der Kunst“
u. a. auch eine Reaktion auf die durch andere Mächte durchgeführte
Verbilderung der Welt.

IV

Wie wirkt sich nun die Tatsache aus, daß „ B ild “ zur H auptkategorie
unseres Lebens geworden ist?
i. Wir werden der Erfahrung und der Fähigkeit zur Stellungnahme
beraubt. - D a w ir die weithorizontige W elt, die heute wirklich „unsere
W elt“ ist (denn „w irk lic h “ ist, was uns treffen kann und w ovon w ir
abhängen), nicht in direkter sinnlicher Anschauung kennenlernen kön­
nen, sondern nur aus Bildern, begegnet uns gerade das Wichtigste als
Schein und Phantom, also in verniedlichter, wenn nicht sogar irreali-
sierter, Version. N icht als „W elt“ (Welt kann man sich allein durch
Fahren und Erfahren aneignen), sondern als uns ins Haus gelieferter
Konsumgegenstand. W er einmal eine Atom bom benexplosion als ins
H aus geliefertes Bild, also in Form einer tanzenden Postkarte, in sei­
nem wohlgeheizten Zim m er konsum iert hat, der wird nunmehr alles,
w as er sonst über die Atomsituation hören m ag, m it diesem einmal
gesehenen nippes-artigen Heim ereignis assoziieren und damit der F ä­
higkeit beraubt sein, die Sache selbst aufzufassen und zu dieser eine
angemessene Stellung zu beziehen. Was geliefert wird, und zw ar in
flüssigem Zustand, das heißt: so, daß es unmittelbar geschluckt werden
kann, macht Auseinandersetzung unmöglich, weil überflüssig. Z u ­
meist w ird ja sogar die gewünschte Stellungnahme selbst freundlich
mitgeliefert, weniges ist für die heutigen Sendungen so charakteristisch
wie die Frei-ins-H aus-Lieferung des Applauses. - Im Grunde gibt es
nicht mehr „ Außenwelt” , weil diese nur noch Anlaß einer möglichen
Heim-Vorstellung ist.
2. Wir werden der Fähigkeit beraubt, Realität und Schein zu unter­
scheiden. - Wenn, wie es sowohl in Rundfunk- wie in Fernsehstücken
zumeist geschieht, Schein realistisch präsentiert w ird, dann nimmt um ­
gekehrt die (als Sendung nicht anders klingende und nicht anders aus­
sehende) Realität das Aussehen von Schein, das einer bloßen Darbie­
tung an; wenn die „B retter“ (die angeblich die Welt bedeuten) wie die
Welt selbst aussehen, dann verwandelt sich die Welt auch in „B re tte r“ ,
also in ein bloßes spectaculum, das nicht so ernst genommen zu werden
braucht. Insofern ist die ganze Bebilderung unseres Lebens eine Tech­
nik des Illusionismus, weil sie uns die Illusion gibt und geben soll, w ir
sähen die W irklichkeit. D er „spectaculum -Eindruck“ , den die W irk­
lichkeit auf dem Fernsehtisch erzeugt, hat „Rückschlagwirkung” , er
infiziert nämlich die W irklichkeit selbst: Die Tatsache, daß sich K en­
nedy und N ixon jüngst für ihre Fernseh-Dispute schminken ließen,
beweist, daß die zwei nicht nur vom Publikum als „sh o w “ erwartet
wurden, sondern daß sie sich selbst bereits als Schauspieler auffaßten,
daß sie mit Fernseh-Stars in Konkurrenz traten, daß ihre effektive
politische Chance von ihrer show-Q ualität abhing. N icht nur die A u f­
fassung der Realität durch das Publikum wird also unernst, sondern
die Realität selbst, da sie Rücksicht auf die Bilder zu nehmen hat.
Nunm ehr w ird die Welt zur „V orstellu ng“ , freilich in einem Sinne,
von dem Schopenhauer sich niemals etwas hätte träumen lassen. -
Dam it im engsten Zusammenhange:
3. Wir bilden unsere Welt den Bildern der Welt nach - „invertierte
Imitation” . - D a es kein Bild gibt, das nicht, mindestens potentiell, als
Vorbild w irkte, prägen w ir effektiv die Welt nach dem Bilde ihrer
Abbildungen: Jeder Johnn y küßt heute wie C lark Gable. Dam it wird
die W irklichkeit zum A bbild ihrer A bbilder (nicht etwa, wie bei Plato,
zum Abbild von Ideen).
4. Wir werden „passivisiert.” - D urch die Dauerbelieferung werden
wir in Dauerkonsumenten verwandelt. Während w ir zum Beispiel als
Leser noch selbständig sind, nämlich zurückblättern dürfen und das
Tem po des Aufnehmens noch selbst bestimmen können, sind w ir nun­
mehr als pausenloses Seh- und H ör-Publikum gegängelt; konsumieren
w ir, dann haben w ir auch das gelieferte Tempo der Lieferung m itzu­
konsumieren. - Das hatte zw ar vom Theater- und Konzertpublikum
stets gegolten, w ird nun aber zum Verhängnis, w eil die spectacula
nunmehr pausenlos ablaufen und durch diese Pausenlosigkeit unsere
Unselbständigkeit eingleisen.
Anders ausgedrückt: Der Verkehr des Menschen w ird a u f Unilate-
ralität gedrillt. D a w ir gewöhnt sind, die Bilder zu sehen, aber nicht
von ihnen gesehen zu w erden; Personen zu hören, aber von diesem
nicht gehört zu werden, gewöhnen w ir uns an ein Dasein, in dem w ir
einer H älfte unseres M enschseins beraubt sind. Wer nur hört, aber
nicht spricht und grundsätzlich nicht widersprechen kann, der w ird
nicht nur „passivisiert“ , sondern eben „h ö rig “ und unfrei gemacht.
5. D ieser Freiheitsverlust geht aber so vor sich, daß w ir nun, im
Unterschiede zu den Sklaven seligen Angedenkens, sogar der Freiheit
beraubt sind, den Freiheitsverlust zu bemerken. Denn die „H ö rigk eit“
wird uns ja als Unterhaltungsware und als Bequemlichkeit ins Haus
gebracht und vorgesetzt. U nd es gehört eine durchaus ungewöhnliche
Souveränität dazu, Bequemlichkeit nicht als Freiheit mißzuverstehen.
6. Wir werden „ideologisiert” . - Denn die Bilder von heute sind die
Ideologien von heute: die Bilddarstellungen sollen uns ein Bild der
Welt vermitteln, richtiger: die Flut von Einzelbildern soll verhindern,
daß wir zu einem Weltbild überhaupt kommen und daß wir das Fehlen
des Weltbildes überhaupt spüren. Die heutige Methode, mit deren
H ilfe man Verstehen systematisch unterbindet, besteht nicht darin,
daß man zuw enig, sondern darin, daß man zuviel liefert. Das zum Teil
kostenlose, zum Teil sogar unentrinnbare Angebot an Bildern (W er­
bung) erstickt die M öglichkeit, sich ein Bild zu machen, man überw äl­
tigt uns mit einer Abundanz an Bäumen, um uns daran zu hindern, den
Wald zu sehen. Die heutige Ignoranz w ird durch die M ultiplizierung
scheinbaren W issensstoffes hergestellt. Je weniger w ir uns in Entschei­
dungen, die uns wirklich etwas angehen, einmischen sollen, um so
maßloser werden w ir in D inge „eingem ischt“ , die uns überhaupt
nichts angehen, etwa in die Seelennöte iranischer Kaiserinnen. Die
tausend Bilder decken den Zusammenhang der Welt zu, dies um so
mehr, als jedes Bild, auch jede nur einige Augenblicke währende W o­
chenschau-Szene, fetzenhaft bleibt, uns also „kausalitätsblind“ macht.
D a Bilder kaum je Zusammenhänge zeigen, sondern eben nur ein „dies
und das“ , werden w ir in rein sinnliche Wesen verwandelt, und dieser
Sieg der „Sinnlichkeit“ ist ungleich verhängnisvoller als der Lolita­
hafte unterhalb der Gürtellinie.
7. Wir werden „maschinell infantilisiert“ . - N icht anders als die
Säuglinge an den Mutterbrüsten hängen w ir an den nie versiegenden
Brüsten der A pparate, denn der gesamte Konsum bedarf und das, was
uns als Konsum bedarf aufgezwungen w ird, die Welt sow ohl wie die
sogenannte „W elt der K unst“ , w ird uns in liquidem Zustand vorge­
setzt. D as heißt: sie w ird garnicht vorgesetzt, sondern so direkt gelie­
fert, daß sie auch sofort gebraucht und verbraucht werden kann; da
liquide, ist das Produkt im Konsum schon wieder vorbei, also liqui­
diert. D ie gelieferten „Stücke“ (bereits ein falscher Ausdruck) gerin­
nen so wenig zu Gegenständen, wie die M uttermilch zwischen L iefe­
rung und Aufnahme zu Käse oder Butter gerinnt; w ir haben sie inwen­
dig, ehe w ir die Chance hatten, uns mit ihnen zu befassen, sie auch nur
aufzufassen. M odell der Sinnesaufnahme ist heute weder, wie in der
griechischen T radition, das Sehen; noch, wie in der jüdisch-christli­
chen Tradition, das H ören, sondern das Essen. W ir sind in eine indu­
strielle Oralphase hineinlaviert w orden, in der der K ulturbrei glatt
hinuntergeht. In dieser Phase soll das Gelieferte gar nicht mehr w ahr­
genommen, sondern eben nur noch aufgenommen werden. Was die
background music von uns verlangt (und 99% der R adio- und Fern­
sehmusik gehört dazu, w ird dazu, denn c’est la situation qui fait la
musique), ist nicht mehr, gehört zu w erden; vielmehr ist sie nur des­
halb da, weil ohne sie ein unerträgliches Vakuum ausbräche. D ie L ie­
ferware ist dem H örer „L u ft“ , und zw ar in doppeltem Sinne: i. ist sie
ihm gleichgültig, 2. aber kann er ohne sie nicht atmen. - Diese A rt der
Zerstörung, der Liquidierung des Gegenstandes, die durch die V erflüs­
sigung, also Liquidierung, vo r sich geht, ist nicht etwa eine Spezialität
von Rundfunk und Fernsehen, sondern charakteristisch fü r die heutige
Produktion als solche. In den Vereinigten Staaten spricht man bereits
von dem Prinzip der gesteuerten Obsoleszenz, d. h. von dem Prinzip,
Produkte so herzustellen, daß sie als Gegenstände nicht halten. Sehr
begreiflicherweise: denn es liegt eben im Interesse der Produktion,
jedem Produkt A so rasch wie m öglich ein Produkt B nachzuschicken
- was nur dann durchgeführt werden kann, wenn man das Produkt A
so herstellt, daß es im Gebrauch selbst schon aufgebraucht, durch die
Lieferung also liquidiert wird. Im R undfunk und Fernsehen hat dieses
Prinzip seine bisher perfekteste Verw irklichung gefunden.
8. Das Gelieferte w ird „entschärft” . - D a die W are von einer m ög­
lichst großen Zahl von Konsum enten konsumiert w erden soll, muß sie
mass appeal haben. Daß das für Film und Fernsehen im höchsten Maße
gilt, liegt auf der Hand. - Man w ird nun einwenden: für den Rundfunk
gelte das nicht, da w ir ja die Freiheit hätten, den Kulturwasserhahn zu
regulieren, ihn auf heiß oder lau oder gar auf avantgardistisch zu stel­
len; da w ir also wählen könnten, wer oder was uns die Stube vollsingen
soll. - Daß im R undfunk und zuweilen auch im Fernsehen auch das
Avantgardistische, also das eigentlich Esoterische, eine gewisse Rolle
spielt, das ist zw ar w ahr; aber es fragt sich nun, welche Funktion dem
Avantgardistischen, da es uns als Lieferw are erreicht und nichts G e ­
w agtes oder Konspiratives mehr an sich hat, zukom m t. A ntw ort - und
dies gilt sogar fü r die erwartungsvoll und intakt dargebotenen Stücke:
Sie werden „entschärft“ . Denn durch die Tatsache der Lieferung
fügen sie sich bereits in die Klasse des Anerkannten ein, noch ehe sie
von uns, dem Publikum , erkannt sind; noch ehe w ir zu ihnen haben
Stellung nehmen können. D er K onform ism us stellt heute selbst fü r das
Unkonform istische eine Chance dar. D a dieses gewissermaßen in der
gleichen Verpackung ankommt wie die reputierliche oder die U n ter­
haltungsware zur Rechten oder zur Linken, oder wie die vorgekaut
gelieferte Tageswelt, nehmen w ir das Unkonformistische nicht in der
Attitüde der Auseinandersetzung auf, sondern eben als Konsumenten,
die schlucken, auch w enn der Geschm ack vielleicht etwas bitter oder
unidentifizierbar ist. - Ich gebrauche das W ort „Entschärfen“ , w eil es
zum W esen der K un st eigentlich gehört, daß sie in der O pposition
steht: nämlich eine andere „W elt“ präsentiere. D ieser O ppositions­
charakter kom m t minimal sogar der akademischsten Kunst zu, derje­
nigen, die schönen Schein offeriert: denn auch der Schein ist ein insula­
res, das W irkliche durchbrechendes oder verneinendes Stück innerhalb
des W irklichen; und andererseits sogar dem Naturalism us: denn dieser
zeigt die Welt eben anders, als das uns gewohnte oder aufgeprägte
W e ltb ild b e h a u p te t, daß das W ir k lic h e sei. - D a die A v a n tg a r d e alle
ih re W id e r s p rü c h e z u r W e lt d e r W e lt selb st v e r k a u fe n k a n n , u n d d a sie
v o n d ie se r n ic h t selten v e r w ö h n t w ir d , ist sie o ft in G e f a h r , d aß ih re
W e r k e , se lb st w o d ie se W a h r h e it m e in e n u n d w a h r h e its g e tr e u p r ä s e n ­
tie rt w e r d e n , d ie E m p fä n g e r in a u s g e b lu te te m Z u s t a n d e e r re ic h e n . E s
ist n ic h t a n d e rs, als w e n n A n a r c h is t e n d a r u m g e b e te n w ü r d e n , ih re
B o m b e n z u v e r k a u fe n , u n d als w e n n d iese d an n fü r ein M a s s e n fe u e r ­
w e r k z u m V e r g n ü g e n d e r B e v ö lk e r u n g v e r w e n d e t w ü r d e n . - D a d em
so ist,muß sich das wirklich Avantgardistische heute in die Unschein-
barkeit der Alltagssprache verkriechen. „ V o n d en a lte n A n t e n n e n “ ,
h e iß t es b e i B r e c h t , „ k a m e n d ie alten D u m m h e ite n . D i e W e ish e ite n
w u r d e n v o n M u n d z u M u n d w e it e r g e tr a g e n .“ U n d selb st n e u e W e is ­
h e ite n k ö n n e n d a d u r c h , daß sie w ie alte D u m m h e ite n v o n n eu en A n ­
ten n e n a u sg e stra h lt w e r d e n , z u alten D u m m h e ite n w e r d e n .
O d e r , s o z io lo g is c h a u s g e d r ü c k t: v e r m a s st k a n n alle s w e r d e n - s o g a r
d as A v a n tg a r d is t is c h e , s o g a r d as E s o t e r is c h e . „ W h y d o n ’ t y o u jo in o u r
in tim a te c a n d le lig h t c h a m b e r m u sic c lu b ? M illio n s jo in e d i t ! “ , e r k la n g
es im J a h r e 4 7 au s d em a m e rik a n is c h e n R u n d fu n k . D ie D if fe r e n z z w i ­
sc h en e x o te r is c h u n d e s o te r is c h ist m ith in in d as E x o t e r is c h e s e lb st
h in e in g e n o m m e n w o r d e n . - O d e r w ir t s c h a ft lic h a u s g e d r ü c k t: d ie I n ­
te re sse n te n d er K o n s u m m it t e lp r o d u k t io n h a b e n es fe r t ig g e b r a c h t, s o ­
g a r d ie a n tik o n s u m e n te n h a fte U n t e r s c h e id u n g z w is c h e n N ic h t k o n s u m
u n d K o n s u m in sic h a u fz u n e h m e n , a lso z u „ k o n s u m ie r e n “ . W ir sin d
b e r e its so w e it, d aß K o n s u m m it t e l z w e c k s V e r k a u f als N ic h t k o n s u m ­
m itte l a n g e p rie s e n w e r d e n .

E in e r der T r ic k s , m it d en en m an d ie p o litis c h e o d e r d ie ö k o n o m i­
sch e F r e ih e it s b e r a u b u n g s c h e in b a r a u s z u g le ic h e n , in W a h r h e it u n ­
s ic h tb a r z u m a c h e n v e r s u c h t, b e ste h t d a r in , d aß m an a u f d en p o litis c h
u n d ö k o n o m is c h g le ic h g ü lt ig e n „ S e k t o r e n “ alle T a b u s a n n u llie r t. D a s
g ilt s o w o h l v o n d en alle G r e n z e n d e r D is k r e t io n s c h a m lo s d u r c h b r e ­
c h e n d e n N e w s - S e n d u n g e n (d ie selb st, u n d v o ll S t o lz a u f d ie eig en e
V o r u r t e ils fr e ih e it , D a t e n ü b e r d ie V e r d a u u n g v o n P rä sid e n te n o d e r d ie
U n t e r le ib s b lu t u n g e n d e r F r a u e n v o n „ P r e s id e n t s e le c t“ e n th a lten ) w ie
von den als Kunstwerken etikettierten Sendungen. Das ist um so leich­
ter, als 1. zur Aufrechterhaltung von Tabus eine kanongebende Klasse
gehört - eine solche heute aber nicht existiert; und 2. im Laufe der
letzten Jahrzehnte, in Diktaturen und Kriegen, alle Tabus verletzt
worden waren, und zw ar so systematisch, daß diese Verletzungen als
solche kaum mehr empfunden w urden; und 3. als, außer in religiösen
Restgruppen, kein Absolutum mehr anerkannt w ird, das als sanktio­
nierende Instanz figurieren könnte. - K u rz: als Ersatz für die keinen
W iderspruch duldenden Tabuierungen, die der politische K onform is­
mus auferlegt, werden nun für Epatierlustige vergnügliche Ersatzre­
gionen zur freien Benutzung geöffnet; dort dürfen, ja sollen sogar die
Form en der B. B. oder die der Lolita hineinschwellen. Verbote sind
hier verboten, 'Tabus tabu. Bei jeder derartigen uns zugestandenen
Freiheit sollten w ir uns fragen: Welche andere uns nicht zugestandene
Freiheit soll durch diese Erlaubnis der Tabudurchbrechnung verstopft
werden?
D ieser Zerfall der Tabus hat nun einen ganz direkten Einfluß auf
alles, was mit dem heutigen Theater zu tun hat - und dazu gehört
natürlich auch Film, Hörspiel und Fernsehspiel. Dem heutigen Thea­
ter fehlt es nämlich deshalb an „ Spannung” - über deren Mangel wird
ja allgemein geklagt - , weil es keine Tabus mehr gibt. Denn die U r ­
spannung des Zuschauers und Lesers w ar stets die Spannung, ob ein als
absolut geltendes und anerkanntes Tabu gebrochen werden w erde; ob
es sich z .B . herausstellen werde, daß Odipus w irklich mit seiner M ut­
ter geschlafen hat. Wo es diese lauernde Angst vor dem möglichen
Tabubruch nicht mehr gibt, gibt es nicht mehr die Spannung, selbst
nicht mehr den Kitzel, der die Unterhaltungsvariante der Spannung
ist; und bleierne Langew eile erfüllt den Zuschauer. Geschichtlich gese­
hen hat die Verw andlung des heutigen Theaters in ein episches Theater
mit diesem Ende der Tabus zu tun, denn das epische Theater zieht
bewußt die Konsequenz und verzichtet auf Spannung.
Herstellbar wäre diese freilich sofort, wenn man den M ut hätte,
diejenigen Tabus, zu deren Aufrechterhaltung die anderen annulliert
w orden sind: also die politischen Tabus zu brechen. Die Gessler-Szene
in einem heutigen Theaterstück, in dem eine Figur es gewagt hätte,
einem führenden Politiker deshalb, w eil er an den N aziverbrechen
beteiligt war, den Gruß zu verweigern - diese Szene in einem heutigen
Theaterstück gesehen zu haben, kann ich mich nicht erinnern. Ich
breche mit dieser Schlußbemerkung zw ar ein Tabu, aber w ir können
davon überzeugt sein, daß mit einer solchen Szene das Theater wieder
spannend werden würde.
§/

Neutralisierung des Unterschiedes zwischen Interpretation


und Faktum

Ü ber die Tatsache, daß die M ehrzahl der Menschen in heutigen


Massengesellschaften durch die Belieferung mit Massenerzeugnissen
und durch den D ru ck der Massenmedien geprägt werden, gibt es keine
M einungsverschiedenheit. Diese Tatsache w ird nicht etwa nur behaup­
tet (von unbeliebten Kulturkritikern), sondern vo r allem praktiziert:
und zw ar von den Lieferanten selbst, die, um in der Lage zu sein, die
Ü bertölpelbarkeit und M odellierbarkeit des Menschen auszunutzen,
also den „schlechten K unden“ M ensch in einen guten Kunden zu ver­
wandeln, Research-Unternehm ungen aufs üppigste dotieren, und die
Ü bertölpelbarkeit des Menschen aufs systematischste studieren lassen.
D er Gedanke, daß der H erstellungsvorgang mit dem, was man ge­
wöhnlich als den Produktionsprozeß bezeichnet: also mit der H erstel­
lung der dinglichen Produkte, sein Ende finde, ist kindlich. D er V o r­
gang ist vielmehr dreiphasig.
D a jedes Fertigprodukt, um verw endet und weiterverwendet zu w er­
den, bestimmte Bedürfnisse, bestimmte Um gangsform en, einen be­
stimmten Lebensstil verlangt (von bestimmten H andgriffen zu schwei­
gen), ist es im Augenblick, da es die Fabrik verläßt, zu einem „Spru n g“
verpflichtet: dazu, sich trotz seiner Produktqualität sofort in ein Pro­
duktionsmittel zu verwandeln. In ein Gerät nämlich, dessen Aufgabe
darin besteht, das für seine Verwendung erforderliche Bedürfnis und
den fü r seine W eiterverwendung erforderlichen Lebensstil wiederum
zu erzeugen. A ber diesen Bedürfnisstil erzeugt es wiederum, um ein
Erzeugendes zu erzeugen: nämlich um das (nunmehr „N ach frage“
benannte) Bedürfnis zu veranlassen oder zu nötigen, die Konstanz
oder die Steigerung der Produktion täglich neu zu produzieren.
Da damit das Herstellungs-Schema als ganzes skizziert ist, ist es nun
einfach, den O rt unserer Untersuchungen zu bestimmen. Diese betref­
fen ausschließlich die zweite Phase: also die Erzeugung des Menschen
durch die Produkte, dessen Umprägung in ein den Produkten ange­
messenes Wesen.
Da die Mehrzahl der Erzeugnisse M assenwaren sind, verwandeln sie
alle Benutzer auf gleiche W eise; damit in Gleichartige; damit in Masse.
Massenware erzeugt Stileinheit und Masse. D ieser Satz gilt ungeachtet
der Tatsache, daß sich die Millionen der Benutzer zum großen Teil aus
„Erem iten“ 1 zusammensetzen, aus Einzelnen, die (z.B . vor Radios
oder Fernsehschirmen sitzend) nur wenig Ursache oder Gelegenheit
haben, sich als Masse zusammenzufinden. U nd der Satz gilt ungeachtet
der Tatsache, daß jene effektive Massierung, die früher Menschen vor­
übergehend gleichgemacht hatte, heute bereits viel seltener stattfindet
als in der gestrigen Epoche des Totalitarismus, in der Masse (z.B . auf
den N ürnberger Parteitagen) zusammengeballt wurde, um diese durch
das Erlebnis ihrer selbst einzuschüchtern.' U nd ungeachtet der Tatsa­
che, daß diese Massierung heute sogar unerwünscht, und fü r diejeni­
gen, die die Masse dirigieren, sogar überflüssig geworden ist. D er Satz
„M assenw are erzeugt Masse“ gilt also für die Millionen, die, in Ein­
zelne aufgebrochen, entmachtet, aber als Gleichgemachte pauschal di­
rigierbar sein sollen.

Produkte, also D in g e , sind es, die den Menschen prägen. In der Tat
wäre es kaum eine Übertreibung, zu behaupten, daß Sitten heute fast
ausschließlich von Dingen bestimmt und durchgesetzt werden.
Das mag zw ar sonderbar klingen, w eil w ir gewöhnt sind, mit dem
Worte „Sitte” das System der (als üblich und gehörig angesehenen und
erwarteten) Umgangsformen zwischen Mensch und Mensch zu be­
zeichnen; nicht das der Umgangsformen zwischen Mensch und Ding
oder zwischen Ding und Mensch. A ber dieses System ist nicht mehr in
Kraft. Was gilt, ist vielmehr, daß die Produkte an die Stelle der M it­
menschen getreten sind; daß sie also auch die Weise, wie sich Mensch
zu Mensch benimmt, mitprägen. Charakteristisch für die gegenwärtige
Situation ist nicht nur, daß Moped oder Fernsehapparat oder die täg­
lich auf dem Schirm gezeigte Phantomwelt unser Benehmen gegenüber
diesen Produkten prägen, sondern daß sie (bzw. der Produktbesitz)
Wer ist der Nachbar, verglichen mit dem Kühlschrank? 261

damit auch die Umgangsform en mit den Mitmenschen, gleich ob mit


M utter, Lehrer oder girl friend, mitmodellieren. Sofern wir heute einen
Benehmenskodex haben, ist dieser von Dingen diktiert. U nd das gesell­
schaftliche Leben, das sich innerhalb der Produktewelt abspielt, ist ein
von dieser Produktew eh modelliertes Leben. Wie stolz auch die „ S o ­
cial P sych ology“ darauf sein mag, „entdeckt“ zu haben, daß es den
„E inzeln en“ gar nicht gebe, sie bleibt eine unzulängliche Wissenschaft,
da es den „gesellschaftlichen M enschen“ ebensowenig gibt, sondern
nur den gesellschaftlichen Menschen innerhalb der Produktions- und
Produktewelt. Fällig wäre daher eine Darstellung der menschlichen
Seele innerhalb der Produktewelt, die Schilderung der Verwandlung
der Seele durch die Produkte; die Darstellung der „U m gangsform en“ ,
die sich zwischen Mensch und Produkt (oder richtiger: zwischen P ro ­
dukt und Mensch) ausformen. Erst innerhalb dieses Rahmens mag es
dann eine „Social Psych ology“ geben. Aber eigentlich nur als Anhang
zu dieser neuen D isziplin - denn was ist schon der Nachbar, vergli­
chen mit dem Kühlschrank? U nd welchen K lubfreund wählte und
besorgte man mit der gleichen Sorgfalt wie seinen Wagen?

Z u den Fertigwaren, die, en masse geliefert, uns in M assenwesen


verwandeln, gehören natürlich auch die M einungen oder U rteile, die in
ihrer vorbereiteten Fertigwarenform eben „V orurteile“ heißen. Diese
werden uns nicht anders zugestellt als andere W aren; höchstens billi­
ger. U nd da w ir ja daran gewöhnt sind, uns mit zu konsumierenden
Fertigwaren zufriedenzugeben, konsumieren w ir also auch sie; werden
w ir also zu Meinungskonsumenten. W er, um diese Tatsache zu ver­
harmlosen, einwirft, das sei von jeher so gewesen, „Id eologien“ habe
es schließlich immer gegeben, der macht es sich zu leicht. D ie heute
gelieferten M einungen und U rteile „Id eologien“ zu nennen, heißt,
ihnen zuviel Ehre erweisen. Ideologien waren schließlich noch immer,
ungeachtet ihrer betrügerischen Funktion, theoretische G ebilde; ja so­
gar Systeme, die (darin der Philosophie ähnlich) das Ganze (der W elt,
der Gesellschaft) zu deuten vorgaben; und die zuweilen sogar (dann
nämlich, wenn es galt, neue, von den Ideologiestiftern nicht vorgese­
hene Tatsachen dem System einzupassen) eine gewisse geistige Selb­
ständigkeit erforderten. D avon kann heute keine Rede sein. D ie „ B il­
der aus aller Welt“ , die man uns pausenlos zuleitet, haben mit dem,
was man noch vo r fünfzig Jahren „ Weltbilder" nannte, überhaupt
nichts mehr zu tun. Immer sind es einzelne Bäum e statt des Waldes.
W eder wollen sie ein W eltbild ergeben, noch erfordern sie Verständnis
irgendeiner Art. Im Gegenteil: sie zielen geradezu darauf ab, durch
ihre sinnlose Fülle jedes mögliche Weltverständnis abzudrosseln. N u r
konsumieren sollen w ir sie, und uns durch ihren Konsum prägen las­
sen; und zw ar so, daß w ir nach mehr von der gleichen A rt hungern.
D ie Tatsache, daß Meinungen heute genau so geliefert werden wie
alle anderen Fertigw aren, ist allgemein anerkannt. N icht anerkannt ist
dagegen die Tatsache, daß dadurch den bestehenden Dem okratien ihre
Basis entzogen ist; oder daß (der Fall Deutschland) unentwickelten
Dem okratien dadurch die Chance der Entw icklung genommen ist.
Außerdem gilt - und das ist ebensowenig anerkannt - daß, w er das
Faktum der M einungsprägung einräumt (also zugesteht, daß die F rei­
heit, eine eigene M einung überhaupt zu formen und zu haben, gedros­
selt wird) damit auch die N ichtexistenz der Freiheit der Meinungsäu­
ßerung zugibt; daß er also konzediert, daß diese zweite Freiheit da­
durch hinfällig bzw. zum rein verbalen Ideal wird. „G le ic h “ , heißt es
in einer molussischen Geheimbestimmung, „gleich ob Sich-Äußernde
ihre Äußerungen bona fide für ,eigene‘ halten, oder ob sie sich die
Frage: ,Meine M einung oder nicht?* nicht mehr vorlegen, oder ob sie
diese Frage schon garnicht mehr verstehen - auf keinen Fall darf, was
sie äußern, ,eigene Meinung* sein, immer soll es ,gelieferte Meinung*
sein. Selbst dort, w o es als ratsam erscheint, Varianten zu erlauben,
sollen es vorgesehene Varianten des vorgeprägten Themas sein.“ Das
heißt: Mitgeliefert werden müssen in solchen Fällen der „erlaubte A b ­
weichungswinkel“ und die in Betracht kommende Variationsbreite.5
Mindestens gilt, daß d er Trend in diese Richtung weist. D e r Glaube,
daß über die entscheidenden Problem e Ansichten „ b y the people“
geäußert würden, ist naiv (obw ohl es natürlich keinen Glauben gibt,
der weiter verbreitet wäre). Verbreitet w ird er eben von denjenigen
Mächten und Instanzen, die unsere „Ä ußerungen“ effektiv produzie­
ren und uns liefern; und die unsere Entscheidungen effektiv treffen.
Denn deren Arbeitsprinzip besteht eben darin, mit H ilfe der M assen­
medien, die ihnen zur Verfügung stehen, die Entscheidungen, die sie
treffen, der Bevölkerung so zu verkaufen, wie jede Firm a ihre Waren
ihren Kunden verkauft: so als handele es sich bei dem Gelieferten stets
um die Erfüllung von etwas Gewünschtem , als seien die Kaufgebote
Angebote, die sie a u f Grund einer Nachfrage machten. D as heißt: um
zu diktieren, gibt man bescheiden vor, entgegenzukommen; nein,
überhaupt keine anderen Wünsche zu haben als die der K unden (die
man natürlich längst schon ihres Wunschrechtes beraubt hatte).
In der T at gehört es zum Bilde und zum Benehmenskodex des
Mächtigen von heute, daß er „ negativ protzt“ , das heißt: seine M acht­
position bagatellisiert, daß er so tut, als sei nicht er der H err, sondern
der K unde, den er nur bediene. Im m er wieder benutzt der Werbende
Verbiederungsvokabular, das heißt: er unterspielt sich als der N achbar
von nebenan, und er sorgt dafür, daß seine Gesten (statt die W ahrheit:
„M eine Wünsche müssen die Euren werden!“ ) besagen: „ Ich kenne
keine anderen Wünsche als eure!“ „W enn du deine H öhe halten
w illst“ , heißt es in dem soeben erwähnten molussischen Geheim be­
fehl, „dann erniedrige dich! Betone, daß du nichts Besonderes bist,
sondern lediglich einer von ihnen. U m nichts besser als sie (freilich
auch, hoffentlich, um nichts schlechter). U nd mache sie täglich darauf
aufmerksam, daß du dieselbe Zigarettenmarke rauchst wie sie. Dann
trauen sie dir. U nd dann kannst du über ihre K öpfe hinw eg, und auch
über ihre K öpfe, entscheiden.“

Z w ei Neutralisierungen sind fü r diese Situation aufs höchste charak­


teristisch:
Es ist zunächst plausibel, daß, wenn Entscheidungen als „g e ­
wünschte Entscheidungen“ geboten werden sollen, die Deutungen der
getroffenen Entscheidungen genau so fertig geliefert werden müssen
wie diese Entscheidungen selbst; daß zur Entscheidung also als inte­
grierender Bestandteil gehört, w ie diese gedeutet werden soll; daß auch
die Deutung vor-entschieden und unmittelbar mit der Entscheidung
mitgeliefert wird. D as bedeutet aber - und damit formulieren w ir eine
für die konformistische Situation wesentliche Neutralisierung:
„ Einen Unterschied zwischen ,Fakten‘ und deren ,Interpretation‘
darf es nicht geben. D ieser Unterschied muß verwischt bzw. unter­
schlagen werden.“
Dieses Prinzip w ird tatsächlich strikt durchgeführt. Niem als werden
Interpretationen als Interpretationen präsentiert, niemals als Ansich­
ten, sondern stets als Fakten. M odell ist die „B ildzeitung“ .
Diese Neutralisierung ist von entscheidender W ichtigkeit. Denn sie
enthüllt den totalitären Charakter dieses Mechanismus. Er ist „totali­
tär“ , w eil, w o („Fakten“ genannte) Entscheidungen oder Ereignisse
von vornherein in einer bestimmten Farbe geliefert werden, die überall
gleiche Interpretation durchgesetzt und verbürgt ist. W eil dann der
Gedanke, daß es sich um eine Interpretation handle, oder daß andere
Interpretationen überhaupt möglich wären, nein, daß es überhaupt so
etwas gebe wie „Interpretationen“ , von niemandem mehr gedacht
werden kann.
A ls ich in einem Gespräch mit einem Am erikaner das W ort ,In ter­
pretation“ ohne jeden A rg drei Male verwandt hatte, riß meinem G e ­
sprächspartner die Geduld. U nd er fuhr mit einem „W hat the hell do
you mean b y your damned interpretation?!“ dazwischen. Hätte er
begriffen, daß gerade seine Abscheu vo r Interpretation danach schrie,
interpretiert zu werden, nämlich als Verabscheuung der Denkfreiheit,
dann hätte er sich seinen A u sruf wahrscheinlich verkniffen. A b er der
M öglichkeit, das zu verstehen, war er eben, da seine Konform iertheit
bereits total war, schon beraubt. Seine Nachfrage beschränkte sich
ausschließlich auf das, was ihm als „fact“ zugeleitet wurde. O der rich­
tiger: darauf war seine Nachfrage eingeschränkt worden. Jedenfalls
w ar „fa c t“ seine Lieblingsvokabel, an „facts“ glaubte er, an „facts“
glaubte er gewöhnt zu sein. U nd obw ohl er schon nicht mehr die
mindeste Freiheit besaß, irgendein Faktum selbst zu beurteilen, er­
füllte ihn doch seine Ü berzeugung, pausenlos mit „facts“ überschüttet
zu werden, mit dem größten Selbstbewußtsein, nein mit einem stolzen
Freiheitsgefühl. „W elcher Gesellschaft hätte solche Inform ationsfülle
je zur Verfügung gestanden?“
G ew iß ist das W ort „fact“ auch schon der Liebling der zw ei oder
drei letzten Generationen gewesen, auch der V ater und der Großvater
meines Gesprächspartners hatten das Wort bereits im Munde geführt.
Das ist zw ar unbestreitbar, gibt uns aber nicht das Recht, daraus zu
folgern, daß die Vokabel nichts mit Konform ism us zu tun habe. Wenn
sein Vater und dessen Vater „faktengläubig“ gewesen waren, so weil
sie in Respekt vor den Wissenschaften, vo r dem Gewußten im G egen­
satz zum Geglaubten, aufgewachsen waren.4 Wenn mein Gesprächs­
partner faktengläubig ist, so weil er pausenlos unter der Bearbeitung
derer steht, die ein Interesse daran haben, ihn mit bereits gedeuteter
Welt zu beliefern und diese gedeutete Welt als „ Welt", also als „fact”
auszugeben - also gerade, weil er glauben soll. Faktengierig w ird er
gemacht, damit er nicht wisse, daß er dasjenige, was er zu wissen
glaubt, lediglich glaube5 . . . kurz: weil er betrogen wird. In der Tat ist
die Verwendung des Wörtchens „fact“ heute nicht nur das K ennzei­
chen des Betrügers, sondern auch das des Betrogenen. U nd der G rad
des K onform ism us und die H äufigkeit der W ortverwendung steigen
proportional.
A n sich ist diese Neutralisierung des Unterschiedes zwischen Inter­
pretation und Faktum in unserem Zeitalter nichts Verwunderliches.
Sieht man diese Tatsache im Rahmen der Welt, in der w ir heute leben:
also im Rahmen der Fertigwaren-W elt, dann ist sie sogar normal. A n
die Belieferung mit Fertigwaren sind w ir eben absolut gewohnt, das
„d o it yourself“ , das Selbertun betreiben w ir höchstens noch als
H o b b y, als Freizeitbeschäftigung. Begreiflich also, daß w ir Meinungen
in gleich fertigem Zustande entgegenzunehmen erwarten und bean­
spruchen, in dem wir alle anderen Waren entgegennehmen. Und
ebenso wenig sind w ir darüber erstaunt, daß w ir sie in diesem Z u ­
stande empfangen; und daß w ir auf Selber-Tun (das heißt in diesem
Falle: auf Selber-Urteilen und auf eigene Meinungsbildung) ver­
zichten.
Es ist vö llig norm al, daß w ir die produzierten Meinungen ebenso als
„gü ltig“ akzeptieren wie die üblichen produzierten W aren, deren Be­
stand und deren Erwerbbarkeit uns zum A priori des Lebens zu gehö­
ren scheinen. Tatsächlich ist die uns umgebende Welt, der eben mit
den anderen Gegenständen auch die Meinungen zugehören, eine sol­
che K raft, sie gleist unsere Lebensgewohnheiten so tief ein, daß sie uns
die Freiheit nimmt, aus den Geleisen zu springen, das heißt: eine an­
dere W elt, eine aus anderen Gegenständen bestehende W elt als m ög­
lich auch nur vorzustellen. „U n d in einer solchen Welt soll einer gelebt
haben?“ fragte mich halb entsetzt, halb kichernd - kurz: fassungslos
ein amerikanisches Collegegirl, nachdem w ir zusammen Beethovens
Geburtshaus besucht hatten. A ber ihr Kichern w ar keine individuelle
Albernheit. Was ihr fehlte, w ar nichts einzelnes, nicht zum Beispiel der
Plattenspieler, mit dem sie Beethoven zu assoziieren gewohnt war.
Was ihr fehlte, w ar mehr: ihre fertige W elt als ganze. U nd wenn sie
kicherte, so w eil sie unfähig w ar, zu glauben, daß Leben in einer W elt,
der die in ihren Augen apriorischen Lieferungen fehlten, überhaupt ein
„L e b e n “ war.
Die Identität von Faktum und Interpretation ist nichts anderes als
das Fertigwarenprinzip, angewandt auf die Lieferung von „ Geisti­
gem “ , von Meinungen bzw. Urteilen. - Durch diese Einsicht in den
Zusam m enhang wird die Tatsache als solche natürlich nicht besser. Im
Gegenteil: D er Zusammenhang beweist, daß es sich hier nicht nur um
eine Einzeltatsache handelt, nicht nur um eine, die in diesem oder
jenem politischen System auftaucht (etwa im totalitären), und mit die­
sem wieder verschwinden könnte; vielmehr daß sie tief verwurzelt ist
in unserem System der M assenproduktion und der Massenbelieferung.
U nd das macht die Sache ungleich fataler. Denn das bedeutet, daß das
Prinzip weder als politisches M ittel liquidiert, noch durch Liquidie­
rung politischer Systeme aus der Welt geschafft werden kann. U m ge­
kehrt spricht alles dafür, daß diese politischen Systeme letztlich nichts
anderes sind, als Reaktionen (und zw ar angemessene) auf diesen tech­
nischen Produktionszustand von heute; auf den Produktionszustand,
der, ungeachtet anderer entscheidender D ifferenzen im Westen und
Osten, der gleiche ist; und der, wenn überhaupt, nur mit ungleich
größeren Schwierigkeiten wird umgebaut werden können als politi­
sche Staatsformen. -

§2

Neutralisierung des Objektcharakters der gelieferten Waren

Diese Neutralisierung (des Unterschiedes zwischen Tatsache und


deren Deutung) kann sich freilich nur deshalb vollziehen, weil es einen
Vorgang gibt, der, wie m ir scheint, in der heutigen M assenproduk­
tions- und Konform ism usw elt eine geradezu entscheidende Bedeutung
annimmt. Ich meine den Trend zur „ Liquidierung“ .
Unter „Liquidierung“ verstehe ich6 die Tatsache, daß viele Liefer­
waren schon gar keine feste Gegenstandskonsistenz mehr annehmen,
sondern vom Kunden in demjenigen liquiden Zustande, in dem sie
ankommen (z.B . aus dem Rundfunk- oder Fernseh-H ahn herausquel­
len), unverzüglich, ungekaut, gewissermaßen sogar ungeschluckt rezi­
piert werden sollen und tatsächlich so rezipiert werden. D a die Lei-
,,We just can’t help being informed“ 26/

tungsröhre zwischen Sendung und Em pfang keine Unterbrechung


oder Stauung mehr erleidet; da das Gelieferte mit dem gleichen D ruck,
mit dem es aus dem H ahn schießt, unmittelbar in unsere Sinnesorgane
hineinfließt, kann von „K onsum ieren“ eigentlich keine Rede mehr
sein. Auch die Mastgans, der der Nudelbrei in den Hals hinunterge­
stopft wird, konsumiert ja nicht mehr. D as heißt: Sogar die, wie man
meinen sollte, letzte zur R ezeption gehörende Aktivität: das Selber-
schlucken ist uns bereits abgenommen. „W e are the best informed
people“ , beteuerte mir ein Am erikaner, „w e just can’t help being in­
form ed.“ H ätte er „conform ed“ gesagt, ich hätte nicht widersprochen.
- In anderen W orten: Kaum geliefert , ist die als ,,fact“ gelieferte M ei­
nung auch schon die des Konsumenten, immer schon assimiliert, immer
schon „ s e i n e U nd es w äre noch nicht einm al übertrieben, zu behaup­
ten, daß das ihm Eingeflößte „ihm aus der Seele gesprochen“ sei, da
seine Seele eben schon nichts anderes m ehr ist als das Reservoir der
bisherigen fact-Lieferungen, in das die gerade fällige Lieferung natür­
lich wunderbar hineinpaßt.
D ie Behauptung, derart „K on form ierte“ hätten eine Meinung, ist
ein sinnleerer Satz; ein Satz, dem man mit der Frage, was der A usdruck
„haben“ hier noch bezeichne, sofort ins W ort fallen sollte. U n d die
einzig zutreffende A ntw ort auf diese Frage würde lauten: Diese Men­
schen „haben“ ihre Meinung in keinem besseren Sinne , als die Insassen
von Konzentrationslagern „ih re“ (ihnen in den Arm gebrannten)
Nummern „gehabt“ hatten. Und diese „hatten“ sie eben als Zeugnis
dafür, daß sie „G eh ab te“ waren, nicht „H aben de“ . Sie „couldn’t help
having“ . Freilich hat die Geschichte der Entwürdigung des Menschen
seitdem schon w ieder einen Schritt nach vorn getan: denn im U nter­
schiede zu den Lageropfern mißverstehen nun die „K on form ierten“
ihr „G ehabt-w erden“ effektiv als ein „H ab en “ .

§J

Neutralisierung des Unterschiedes zwischen Sprechen und Hören

Diese Schilderung macht bereits deutlich, daß der anfangs behan­


delte Unterschied zwischen „Sache“ und „Interpretation“ nicht der
einzige ist, der der Neutralisierung verfällt. Es gibt noch eine weitere
Neutralisierung, die für den Konform ism us nicht weniger charakteri­
stisch ist. W en n die gelieferte Meinung eo ipso assimiliert, eo ipso als
eigene Meinung aufgefaßt wird, dann gibt es natürlich auch keine an­
dere, die geäußert werden könnte. Annulliert ist also außerdem der
U nterschi ed zwischen Hören und Sprechen. Diese Annullierung ist in
der Tat die Hauptarmullierung, diejenige, auf die die erste abzielte.
Was erzielt werden soll, ist „ höriges Reden” - wom it ich nicht nur
meine, daß der H örige dasjenige, was er höre, nachspreche, sondern
etwas Grundsätzlicheres: daß nämlich sein Sprechen überhaupt nichts
anderes mehr ist als eine Spielart oder eine Begleiterscheinung seines
Hörens. Ursprünglich ist Sprechen (wie die Redensart „etw as zu sagen
haben“ anzeigt) Z eug nis von Macht und Freiheit. H ören dagegen (wie
die W örter „gehÖren“ und „gehorchen“ nahelegen) Zeugnis von U n ­
freiheit. Die Definition des Menschen als zoon logon echon wird nun
entwertet. Denn ein Sprachwesen ist der Mensch nun nur noch deshalb,
weil er ein Wesen ist, das hört. Tatsächlich ist für die M ajorität der
Konform isten Sprechen bereits zum bloßen M itsprechen des pausen­
los Gehörten geworden. Sie sprechen nicht anders als die K onzertbe­
sucher singen, die die gehörte M usik mehr oder minder stumm mit-
sum m en .

Neutralisierung des Unterschiedes zwischen Gewalttätigkeit


und Sanftheit

Während es in der gesamten bisherigen Geschichte selbstverständ­


lich gewesen war, Unterdrückungen durch Gebote, vor allem durch
Verbote durchzuführen, tun das die heutigen „secret dictators“ durch
„Angebote” , und zw ar durch solche, die Refüsierung außerordentlich
schwer machen. O der anders: Ihre D iktatur üben sie nicht, mindestens
nicht primär, durch Zw ang zur Arbeit aus, sondern - was den Z w an gs­
charakter den Gezwungenen unerkennbar macht - durch Zw ang zum
Konsum . „K euchend unter der Last der täglichen Geschenke“ , heißt
es in dem molussischen T ext „G lan z und Elend des Schlaraffenlan­
des“ , „verlernten sie es schli eßli ch, ihren K opf zu heben. Je um fang­
reicher das Gepäck, um so mehr ähnelten sie Lastochsen. U nd endeten
als Schlachtochsen.“
Zugegeben: der Zustand sieht, verglichen mit dem nackten Terror,
der Europa zwischen 1933 und 1945 im G riff hielt, sehr milde aus. Die
Mittel sind nicht blutig, die Differenz zwischen dem offenen, klirren­
den Terror des Nationalsozialismus und dem Kaufterror, der
verschämt auftritt und der seine wahre Natur weder den Tätern noch
den Opfern zeigen will, ist unbestreitbar. Aber „verschämt“ ist doch
wohl ein irreführender Ausdruck. Wahr ist vielmehr, daß es sich die
Interessenten des „sanften Terrors“ , wenn es aus dem Walde nicht
mehr anders herausschallt, als wie sie in ihn hineingerufen hatten,
erlauben dürfen, ihr Zwangssystem als Freiheitssystem zu bezeichnen
und es, falsch etikettiert, hundertprozentig durchzusetzen. In der Tat
schämen sie sich nicht im mindesten (vor wem auch?), „Freiheit der
Meinungsbildung und -äußerung“ als ihr Prinzip zu proklamieren,
verbal also das Gegenteil von dem zu vertreten, was sie effektiv tun.7
Was aber die so Belieferten oder Geprägten betrifft, so spüren diese
von ihrem Beliefert- oder Geprägtwerden, oder von ihrem Beliefert-
und Geprägtsein nichts mehr. Die ihnen eingeprägten Ansichten halten
sie bedenkenlos für die ihren.8 Und da es nicht nur ihre Ansichten sind,
die durch diesen sanften Terror geprägt werden, da vielmehr ihre See­
len als ganze unterliegen, fühlen sie sich tatsächlich frei (und zumeist
sogar unglücklicherweise auch glücklich). Kein Wunder, daß sie -
darin gipfelt die Unwahrhaftigkeit des Zustandes - die wenigen w irk­
lich Freien, die die Kraft aufbringen, der Prägung Widerstand entge­
genzusetzen, bona fide fü r Saboteure der Freiheit halten, und als solche
behandeln. Es hat wohl niemals eine geschichtliche Bewegung gege­
ben, in der das Prinzip der Konterrevolution, das heißt: das Prinzip,
unfrei Gemachte unter dem Banner der Freiheit gegen sie selbst zu
mobilisieren, einen Triumph gefeiert hat, der an diesen Triumph des
Konformismus herangereicht hätte.

Die Sanftheit der „Konformismus“ genannten Spielart des Totalita­


rismus ist nichts weniger als ein Zeichen von Humanität. Wenn wir
mild behandelt werden, so ist das ein Stigma unserer Niederlage.
„N ach dem Frühstück lächelt selbst Polyphem.“ Unblutig ist der Kon­
formismus ausschließlich deshalb, weil er uns bereits verschluckt hat;
weil er es sich ersparen kann, überhaupt noch mit dem Aufkommen
jener Oppositionen zu rechnen, für deren Liquidierung der gestrige
Totalitarismus seinen Terror nötig gehabt oder nötig zu haben ge­
glaubt hatte. M ilde ist er, w eil er sich V erzicht auf D rohung und
Blutvergießen leisten kann.
A b er gleich, ob diese These zutrifft oder nicht, in einer H insicht ist
der Konform ism us gewiß nicht unblutig. Denn was zählt, ist nicht
allein, ob sich der Vorgang unserer Gleichschaltung, unseres Gleichge-
schaltet-Werdens, auf unblutige oder auf blutige Weise vollzieht, son­
dern ob die Zielsetzungen, die Drohungen und Risikos, die w ir, wenn
gleichgeschaltet, als unsere Zielsetzungen, unsere Drohungen und un­
sere R isikos vertreten sollen und effektiv vertreten, blutig oder unblu­
tig sind. D ie A ntw ort auf diese Frage heute im Atom zeitalter und im
Zeitalter des Koreakrieges ist ja bekannt. Sie lautet: Wie heimlich und
sanft sich auch die Bearbeitung unserer Seelen abspielen mag - ipso
facto unseres Bearbeitet- und Gleichgeschaltetseins drücken w ir unser
Einverständnis damit aus, zu M ördern zu werden (und unter Um stän­
den auch zu Ermordeten). Man darf w ohl vermuten, daß es ein be­
stimmtes Verhältnis zwischen dem Terror des Ziels und dem Terror
der Gleichschaltung gibt: daß die beiden nämlich in umgekehrtem
Verhältnis zu einander stehen. D as heißt: Die Verführungsmethoden
werden um so unblutiger und humaner sein, je blutiger und entsetzli­
cher die Ziele oder die Risiken sind, mit denen man uns gleichschaltet.
Soviel ist jedenfalls unbestreitbar: die Frage, ob w ir unsere G leich­
schaltung von einer blutbeschmierten und nackten totalitären Faust
erleiden, oder von einer gepflegten und glace-bekleideten konform isti­
schen H and, die ist heute, wie unglaublich das auch klingen mag, zu
einer Frage zweiten Ranges geworden. Was zählt, ist allein, daß man
wünscht, auf uns so zählen zu können, daß w ir nicht dabei zählen.
U nd das ist bei beiden Varianten der Fall.
1978

D IE T E C H N IK A L S S U B JE K T
D E R G E S C H IC H T E

D ie P olitik ist unser Schicksal ( 18 15 )


D ie W irtschaft ist unser Schicksal ( 1845)
D ie T echnik ist unser Schicksal (1945)

§1

Erste Einführung des Begriffs der „ Ungeschichtlichkeit“


Weder hat es Geschichte immer gegeben, noch sind alle Zeit- oder
Raumgenossen geschichtlich

Ich bestreite nicht die Behauptung, daß der heutige Arbeiter unver­
gleichlich kom fortabler lebt und arbeitet, als seine U rgroßväter gelebt
und gearbeitet hatten. A ber zu erwarten, daß er sich dieses Einstmals,
das er nicht miterlebt hat, und seines eigenen Aufstieges, also der
D ifferenz, bewußt bleibe, ist unrealistisch. E r lebt erinnerungslos, also
ungeschichtlich1. D en Arbeiter möchte ich sehen, dem es einfiele, z w i­
schen dem Lebens-und Vegetierniveau seiner Ahnen und seinem eige­
nen Lebensstandard einen Vergleich anzustellen; oder der sein Leben
deshalb als „m enschenwürdig“ oder als „unproletarisch“ einstuft, weil
dieses eben besser sei als das seiner Vorfahren.
Ü brigens gilt das auch vom Kleinbürger, der trotz der G röße der
konservativen Parteien, denen er oft zugehört, erstaunlich unge­
schichtlich lebt. Wenn ihm aber nach Vergleichen zumute ist - ich
verwende absichtlich diesen vagen Ausdruck, denn das Vergleichen
findet immer nur ganz ungenau statt - dann bewertet er nicht die
Gegenwart höher als die (kaum konkret vorgestellte) Vergangenheit,
sondern umgekehrt diese, die „gute alte Z eit“ , höher als die Gegen­
wart. U nd das tut er sogar auch dann, wenn seine Vergangenheit aus
Blutbädern bestanden hat. V on der das Erinnern durchweg begleiten­
den Wehmut gilt das, was Aristoteles vom Dasein als solchem behaup­
tet hatte, daß es ^öu n , etwas Süßes sei, und in der Tat macht das
Erinnern auch seinen Inhalt süß. In einem Wiener Kriegsverbrecher­
tribunal habe ich es miterlebt, wie einem ehemaligen Lagerhäftling
während seiner Zeugenaussage über die Lagergreuel eine Träne ins
Auge stieg, und diese war, wie seine W orte bewiesen, keine Träne der
T rauer oder der Em pörung, sondern eine der Wehmut.

„A ber der Mensch“ so beteuert ein amerikanischer College Profes­


sor (obwohl die meisten seiner M itbürger von ihren „ro o ts“ , die in
europäischem Boden gesteckt hatten, noch weniger w issen als meine
europäischen Zeitgenossen): „D er Mensch ist doch - das wissen w ir
doch mindestens seit D ilthey - ein geschichtliches Wesen! E r lebt doch
aus seinem G estern und Vorgestern heraus!“
M ag sein, daß der heutige Mensch vo n seiner Vergangenheit und
Vorvergangenheit, also von seinen V orfahren, den Sitten, der Religion
noch mehr oder weniger geprägt ist. G ew iß mehr weniger als mehr.
Denn geprägt ist er (abgesehen von dem noch selbst erlebten Gestern)
vo r allem von der Gegenwart. A b er unterstellt selbst, er sei von seinen
Ahnen geprägt - diese K ausalbeziehung ist durchaus keine Erinne­
rungsbeziehung. D as heißt: Es kann keine Rede davon sein, daß der so
Geprägte die Bilder dessen, was ihn geprägt hat, mit sich herumtrage,
oder daß er gar sein heutiges Dasein mit diesen Bildern vergleiche oder
auch nur vergleichen könne.
Meine H ypothese ist, daß nicht alle Menschen (d.h .: nicht alle im
Raum e unserer Geschichte „gleichzeitig Lebenden“ , die man besser
„Raumgenossen“ als „Zeitgenossen“ nennen sollte) geschichtlich sind.
U nd was von der Gegenwart gilt, gilt auch von der Vergangenheit:
W eder das Bewußtsein des Geschichtlichseins noch der B egriff der
„G eschichte“ haben immer existiert. Sogar den im Begriffe „ G e ­
schichte“ gemeinten Gegenstand, also den Prozeß der Geschichte
selbst, hat es nicht immer gegeben.' Wie absurd es auch klingen mag,
auch das Auftreten dieses Prozesses ist immer von gewissen (nur mit
Reserve als „geschichtlich“ zu bezeichnenden) Voraussetzungen
abhängig gewesen. Einm al (oder richtiger: jeweils) ist aus einem ge­
schichtsneutralen Zeitbrei (in dem steckenzubleiben w ohl außer dem
Menschen alle Lebewesen verurteilt sind) oder aus einem (für die A lten
und gewiß auch heute noch für einige Bauern selbstverständlichen)
Z eitzyklus nach M illionen Jahren Geschichte entsprungen. Wenn ich
aber sage „jew eils“ , so deshalb, weil Geschichte bis heute Geschichten
(so wie die Sprache bis heute Sprachen) gewesen ist; und weil sie erst
heute durch die Kom m unikation der V ö lk er und durch das tägliche
Engerwerden der Welt zur wirklichen „ Universalgeschichte“ w ird, die
bis gestern nur als Vokabel existiert hatte und nun erst anhebt; zur
globalen W eltgeschichte, die uns, sofern w ir nicht vorher global unter­
gehen, nun erst erkennbar, bevorsteht. Daß die heutige Zeit sowohl
durch den Beginn der Weltgeschichte wie durch das Ende des G e­
schichtlichseins gekennzeichnet ist, das ist eine Tatsache, deren W ider­
sprüchlichkeit w ir erst später werden aufklären können. D er T y p der
nationalen Singulärgeschichten, die es in der „Geschichte der Geschich­
ten“ nur für eine sehr kurze Zeit gegeben hatte, ist im Begriff, abzu-
sterben.J
Tatsächlich sind ja die Singulargeschichten schon immer n u r „g e ­
schichtliche Phänomene“ , also Intermezzi, gewesen: entweder sanken
deren Subjekte in das „n unc stans“ der Geschichtslosigkeit, aus dem
sie gekommen w aren, zurück; oder sie mündeten - was w ohl die R egel
w ar - in die breiteren Geschichtsström e von sie erobernden größeren
Geschichtssubjekten ein.

§2

Geschichte ist die der herrschenden Klasse


Die Beherrschten sind nur „mit-geschichtlich“

D ie pausenlos sich verändernde Gesellschaft, die trotz ihrer Verän­


derung fähig bleibt, auf gewesene Phasen zurückzublicken und ihr
H eute mit diesen Phasenbildern zu vergleichen, diese Gesellschaft ist
erst jüngeren Datums. U nd so wenig es immer Geschichtlichkeit gege­
ben hat, so wenig muß es auch in der Zukunft Geschichte immer
weiter geben. In der Tat halte ich es für möglich, daß die heutige
Gesellschaft im B egriff steht, ihre Geschichtlichkeit, sofern sie als
ganze (was sehr fraglich ist) eine solche je besessen hat, wieder zu
verlieren, also wieder a-historisch zu werden.

„Sofern sie als ganze eine (Geschichtlichkeit) besessen hat“ - diese


Einschränkung mache ich deshalb, weil es unrichtig wäre zu glauben,
daß w ir H eutigen (selbst wir, die w ir im geschichtsgesättigten euro­
amerikanischen Geschichtsraum leben) durchweg und im gleichen
Maße „geschichtlich“ seien. Denn Geschichte ist Klassengeschichte.
Dam it meine ich nicht etwa, daß jede Klasse ihre eigene Geschichte
gehabt habe, oder daß „gleichzeitige“ Klassengeschichten parallel ne­
beneinander her gelaufen seien oder liefen - gerade das ist niemals der
Fall gewesen. Vielm ehr, daß die Beherrschten, z .B . die Sklaven keine
eigene Geschichte gehabt haben, daß diesen im Verlauf ihrer G e ­
schicke eigene Geschichte höchstens dann und wann, in Ausbrüchen,
etwa in Rebellionen, gelungen ist, die, wie der Spartacus-Aufstand,
rasch wieder zurücksanken. W o freilich Rebellionen zu Revolutionen
w urden, und diese gelangen, wie in China oder Vietnam , da hat in der
Tat ein neues Geschichts-Zeitalter angehoben: Aus Geschichtsopfern
oder nur M it-geschichtlichen verwandelten sich dann die Rebellieren­
den oder deren Klassen in Geschichtssubjekte.
„ Geschichte" ist hier, wie man sieht, wiederum nicht nur als die
Nacherzählung des Gewesenen („narratio rerum gestarum“) verstan­
den, auch nicht nur als Erinnerung an das Gewesene („m em oria rerum
gestarum“ ), sondern vor allem als das Geschehen selbst („res gestae“ ).
D eutlicher: Ungeschichtlich ist die beherrschte Klasse nicht nur des­
halb, w eil sie unerwähnt bleibt,4 weil sie keine (weder eigene noch
fremde) schriftlichen Aufzeichnungen über ihre „G esch ich te" auf­
weist; auch nicht nur deshalb, weil sie kaum ein Vergangenheitsbe­
wußtsein besitzt - von der bäuerlichen Lebensweise seiner Vorfahren
ist der entwurzelte städtische Arbeiter total, wie durch einen A x t­
schlag, abgetrennt; auch nicht nur deshalb, weil er seine Vergangenheit
nicht durch eigene Sitten leben.dig erhält;5 sondern deshalb, weil er
kein Geschichts-Subjekt ist, dessen jeweilige Schicksale klassen-imma-
nent erklärbare Phasen einer eigenen Entw icklung wären - eine Tatsa­
che, auf die M arx ja eindringlich, wenn auch mit anderem Vokabular,
aufmerksam gemacht hat, als er, um das Proletariat zu einem, oder zu
dem, Subjekt der Geschichte zu machen, die H erstellung des Klassen-
„Mitgeschichtlichkeit” 27J

bewußtseins als dessen vorrangige Aufgabe proklamierte. W ollte man


eine Geschichte des Proletariats schreiben, dann könnte man immer
nur Responsives darstellen, die K ette der Reaktionen, mit denen es von
Tag zu Tag auf die geschichtlichen A ktionen und Situationen der h err­
schenden Klasse reagiert und geantwortet hat bzw. reagiert und ant­
w ortet.6 Wenn nicht selbst W örter wie „reagieren“ und „antw orten“
noch zuviel Spontaneität einräumen. Bis heute ist das Proletariat, ob­
w ohl bereits zur Geschichte gehörend, doch immer nur „m it-ge-
schichtlich“ gewesen. So kann man ja von den M illionen von Proletari­
ern, die z .B . im Ersten W eltkrieg ihren Blutzoll entrichteten, noch
nicht einmal behaupten, daß sie, ins Feld ziehend und fallend, auf die
geschichtlichen Aktionen der herrschendem Klassen „reagiert“ oder
„geantw ortet“ hätten. Vielm ehr haben sie einfach gehorcht, gehorchen
müssen, sind sie einfach O pfer gewesen. Im strengen Sinne „ih re “ sind
diese K riege also nicht gewesen; und schriebe man eine Geschichte des
Proletariats, so könnte man in dieser dem K riege deshalb kein selbstän­
diges Kapitel widmen, weil es kein Kapitel der Selbständigkeit wäre.
D as gilt ungeachtet der Tatsache, daß es den herrschenden Klassen
aller kriegführenden M ächte im Ersten W eltkriege gelungen ist, den
Proletariaten weiszumachen, daß, was sie tun m ußten, auch ihre eigene
Sache sei,7 daß es, wie W ilhelm am 2. August 19 14 ausdrückte, „keine
Parteien mehr gebe, sondern nur noch Deutsche“ - w oraufhin die
deutsche Sozialdem okratie durch ihre Reichstagsabgeordneten die
Kriegskredite mitbewilligte, sich also aus Scham davor, an dem mani­
pulierten Enthusiasmus nicht teilzunehmen, aufs erbärmlichste „m it­
geschichtlich“ aufführte. U nd noch w eiter als W ilhelm sind ja H itler
und G öring gegangen. Denn diese haben ja dem Proletariat nicht nur
G ehorsam befohlen, vielmehr von diesem verlangt, die Mitgeschicht­
lichkeit in Form einer ausdrücklichen Gleichschaltung zu besiegeln.
U nd diesen ersten Demagogen des Reproduktionszeitalters - gesiegt
hat 1933 gewissermaßen der Rundfunk - ist es ja in der Tat gelungen,
das Proletariat dazu zu verführen, die befohlene Gleichschaltung
enthusiastisch, und damit scheinbar von sich aus, durchzuführen. D er
Betrug w ar völlig neuartig, denn er bestand nicht nur in der Verm itt­
lung einer falschen M itteilung, sondern in der Herstellung eines (dem
M arxschen „falschen Bewußtsein“ entsprechenden) „falschen G e­
fühls“ ; und damit wiederum in der H erstellung eines „falschen H an­
delns“ . In anderen W orten: das Proletariat bejubelte nun zusammen
mit den übrigen das erzwun gene Mit-Geschichtlich-Sein als eigene G e­
schichte; und die Zahl der freiwillig in die tödliche Partei Eintretenden
stieg in die Hunderttausende. N icht nur durfte die Klasse, deren Par­
teien zerschlagen wurden, nicht mehr erkennen, „w e r“ sie war, son­
dern auch nicht, „w as” eigentlich gut für sie gewesen wäre. „W ollt Ihr
den totalen K rieg?“ - „ J a ! “

Ferner manifestiert sich d ie U n - oder M it-Geschichtlichkeit im G e ­


schichtsunterricht, an dem die Proletarierkinder wie die anderen teil­
nehmen, da sie in diesem fast ausschließlich mit Fremdgeschichte gefüt­
tert werden, kaum je mit der Geschichte des Leids, also mit der A bfolge
der von ihren Vorfahren erlittenen Demütigungen.
Und damit nicht genug. Denn selbst „n u r mitgeschichtlich“ sind sie
nur bestenfalls. Dam it leugne ich natürlich nicht das pausenlose und
unentrinnbare Einbezogensein der Proletarier in das w irkliche G e ­
schehen der jeweiligen Gegenwarten - auch Rösser partizipieren ja in
Kavallerieschlachten an der Weltgeschichte. Was ich behaupte, ist viel­
mehr, daß P r o l et arierkinder die in den Geschichtsbüchern überliefer­
ten Inha 11e der Vergangenheit kaum je auffassen* - wegen der Selten­
heit dieser Auffassung habe ich eben von „bestenfalls“ gesprochen.
G ew öh n l ich gleiten diese Inhalte am Proletarierkind einfach ab; und
d as sehr begreiflicherweise, beinahe berechtigter Weise, w eil diese mit
seiner eigenen W elt nicht im mindesten zusammenhängen, jedenfalls in
seinen Augen nicht; und weil, was keinen Lebensbezug hat - diese
Ausw ahl ist eine positive Intelligenzleistung - auch kaum wahrnehm ­
bar oder auffaßbar, geschweige denn erinnerbar ist,9 sondern höch­
stens einpaukbar;10 und da Nur-Eingepauktes sehr rasch wieder ver­
gessen wird. Aus diesem Grunde habe ich hier vornehmlich von prole­
tarischen Kindern gesprochen, nicht von Proletariern. Denn nach V er­
l a ssen der Schule beg e gnet denen ja Geschichte im Sinne von „narratio
rerum gestarum“ so gut wie nie mehr; die H istorizität der „geschicht­
lichen Fernsehschinken“ - der einzigen Geschichte, mit der 99 % der
Bevölkerung in Berührung kommen - erschöpft sich ja im Kostüm ;
Förderung des Geschichtsverständnisses kann solchen „features“ ja
nicht nachgesagt werden.
§j

Zukunft als Geschichte -


Mitgeschichtlichsein mit der Geschichte der Technik
Diese ist im L au f der jüngsten Geschichte d ie Geschichte geworden

Freilich, in einem anderen Sinne ist das Proletariat durchaus ge­


schichtlich, mindestens gewesen. Ich sage aber: „gewesen“ , weil es
sehr fraglich ist, ob die (sogleich folgende) Feststellung noch auf das
Proletariat zutrifft. Was ich meine, ist, daß dieses nicht durch Rückbe­
zug auf eine Vergangenheit und durch deren Bewahrung geschichtlich
war, sondern durch den Ausblick auf eine erhoffte Zukunft; dadurch
also, daß es sein bisheriges Dasein, in dem es noch nicht hatte mensch­
lich leben dürfen, zur Vorgeschichte degradierte, zur Vorgeschichte
eines, nein: des kommenden Zeitalters der Humanität oder der klas­
senlosen Gesellschaft. Jeder auch nur flüchtigste Kenner der G e­
schichte der Geschichte weiß, daß der Chiliasmus des frühen Christen­
tums den Begriff der „Geschichte“ überhaupt erst gestiftet hat; und
natürlich war der (selbst heute noch in den U SA und in der Sowjet­
union von Millionen als selbstverständlich gültig unterstellte) Progreß­
Begriff ebenfalls ,,futurologisch“ gewesen. Aber diese Futurologie war
doch, und nicht nur auf deutschem Staatsgebiet, in den ersten Jahr­
zehnten des 19. Jahrhunderts, zwischen 1800 und 1848, durch eine
vergangenheitsorientierte Geschichtsmentalität abgelöst worden.
Diese Mentalität wurde durch einen „Re-chiliasm«s“ wiederum
abgelöst. In der Tat herrschte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges
eine durchaus messianische Geschichtserwartung, der auch ich mich,
als damals Sechzehnjähriger, nicht entziehen konnte.” Wir waren
nicht stolz darauf, „wie weit wir es gebracht“ hatten, umgekehrt hoff­
ten wir darauf und kämpften wir dafür, es morgen oder übermorgen
„so weit zu bringen“ .
Freilich bleibt es offen, ob man diesen Richtungsumschlag des Ge­
schichtsbewußtseins der „Geschichte des Proletariats“ zurechnen soll;
oder ob man nicht sogar diesen Umschlag noch als ein Stück von „M it­
Geschichtlichkeit“ einstufen müsse, da ja der neue Geschichtsbegriff
nicht vom Proletariat selbst ausgedacht, diesem vielmehr von den
selbst nicht proletarischen Gründern des Sozialismus „ zugedacht"
worden war. Verm utlich handelt es sich hier um ein geschichtliches
Ereignis, das beiden „G eschichten“ , der der Bourgeoisie und der des
Proletariats, zugehört, um ein „o verlapping“ , das w ohl selbst eine
geschichtliche Rarität darstellt.

§4

Die Zukunft hat schon geendet

Natürlich spielt in unterentwickelten Ländern die chiliastische Z u ­


kunftsorientierung auch heute noch eine entscheidende Rolle. O der
sogar heute erst. Während „b e i uns“ : in Europa, Am erika und auch in
der Sowjetunion (wenn man von den obligatorisch optim istisch-offi­
ziellen Kam infeuer-Ansprachen und Parteitagsreden absieht) das H in­
leben auf eine ideale Zukunft bereits der Vergangenheit anzugehören
scheint. „D ie Zukunft hat“ , wenn nicht alles trügt, „schon geendet“ .
O der richtiger: unsere Geschichtsattitüde hat in den letzten Jahrzehn­
ten ein weiteres Stadium erreicht, nein, sogar deren zwei, also ein
drittes und ein viertes. D abei meine ich als dritte die Geschichtskon­
zeption der hie und da viel zu dünn gesäten R ufer in der Wüste der
Zeit, die es befürchten, daß sich die Menschheit nicht mehr im Z u ­
stande des „Noch nicht“ , sondern bereits in dem des „Gerade-noch“
befinde;” und die angesichts der technisch möglichen Apokalypse ihre
Stimme erheben, um vor deren höchst wahrscheinlich gewordenem
Eintreten zu warnen. („H öchst wahrscheinlich“ ist sie aber deshalb
geworden, w eil heute - und das definiert unsere Epoche - technische
M öglichkeiten durchweg als verbindlich gelten, weil ,,facibile fa-
ciendum“ ist, weil wir, was w ir machen können, angeblich auch ma­
chen sollen oder müssen, und deshalb auch effektiv machen.) Aber
nicht nur die W arner vo r diesem Ende habe ich im Auge, auch diese
verstehen die Gegenwart ja noch als „V orgeschichte“ , wenn auch nicht
eines „kom m enden Reiches“ , sondern des Endes, also als letzte
„Frist". i
Die Technik - das Subjekt der Geschichte

Diese dritte, heute w ohl realistischste, Geschichtsauffassung ist na­


türlich nicht die der M ehrheit der heutigen Menschheit. Heute ist eine,
mit der dritten eng zusammenhängende, vierte am weitesten verbreitet.
Was ich meine, ist die Tatsache, daß w ir - und unter „ w ir “ verstehe ich
die M ehrzahl unserer in Industrieländern lebenden Zeitgenossen inclu­
sive deren Staatsmänner - daß w ir darauf verzichtet haben (oder uns
zu diesem V erzicht haben zwingen lassen) uns selbst (oder die N atio ­
nen oder die Klassen oder die Menschheit) als die Subjekte der G e­
schichte zu betrachten, daß w ir uns entthront haben (oder haben ent­
thronen lassen) und an unseren Platz andere Subjekte der Geschichte,
nein: ein einziges anderes Subjekt gesetzt haben: die Technik, deren
Geschichte nicht, wie die der Kunst oder der M usik, eine unter ande­
ren „G eschichten“ , sondern nun die Geschichte ist, mindestens die
Geschichte im Laufe der jüngsten Geschichte geworden ist - was
durch die Tatsache, daß von ihrer Entw icklung und Verwendung das
Sein oder Nichtsein der Menschheit abhängt, aufs furchtbarste bestä­
tigt wird. N atürlich sind sich die meisten unserer Zeitgenossen der
epochalen Bedeutung dieses U mschlags nur sehr vage bewußt. Z w ar
leben alle fast ausschließlich in und mit und von und fü r ihre Apparate
(oder die der Anderen), und ohne sie könnten sie „keinen N u lang“
mehr „leben“ .14 A b er wenn man sie darüber befragen würde, so w ü r­
den sie doch, sofern sie diese philosophische Frage überhaupt verstün­
den, die Technik als etwas bezeichnen, was es in unserer geschichtli­
chen Situation gibt; nicht als das Subjekt der Geschichte. Dazu kommt,
daß der Ausbruch dieser neuen Situation (obw ohl er, mit w eltge­
schichtlichen Maßen gemessen, rasant gewesen ist) doch, mit der Elle
des Individuallebens gemessen, zu allmählich vo r sich gegangen ist, als
daß der Einzelne das Revolutionäre des Ereignisses registriert hätte;
und schließlich, daß (wie wir bald an einem Beispiel sehen werden) die
Einsicht in die Entthronung des Menschen und die Inthronisierung der
T echnik aufs geschickteste vernebelt w ird.
Einige unserer Zeitgenossen wissen freilich sehr genau über den
„U m schlag“ Bescheid, und zw ar deshalb, weil sie die neue Situation
zur Voraussetzung bzw. zum Gegenstande ihrer Geschäfte gemacht
haben. Ich spreche von den Science-Fiction-Autoren, den Zeichnern
der, interstellare Ereignisse darstellenden, cartoons, den Produzenten
der futurologischen Filme - in anderen W orten: von den uns Philo­
sophen um Jahrzehnte vorauslaufenden Vulgärpropheten unserer
Endzeit. D ie würden, wenn sie durch Z ufall etwas von uns hören
sollten, nicht nur verstehen, was w ir meinen, sondern unsere ver­
spätete „Entdeckung“ gelangweilt vom Tisch wischen, denn die hatten
ja diesen Subjekttausch als fait accompli und dessen Darstellung in
W ort und Bild als profitable Ware längst schon erkannt, schon in einer
Zeit, in der w ir noch vom „W esen des M enschen“ oder von dem
„zuhandenen Z eu g“ faselten. Denen war es ja seit Jahrzehnten selbst-
ver 5 tändlich, daß wir uns, um dem „ Zeug zuhanden“ zu sein, pausen­
los anstrengen müssen; und daß, wenn es, H eideggerisch ausgedrückt,
ein „ Wer der Geschichte“ gibt, dieses „W e r“ nicht w ir sind, sondern
eben die Technik ist. Und diese, schon seit Jahren gültige These, die
gilt natürlich ew ig, beziehungsweise, da Ew igkeit uns nicht vergönnt
sein wird, während der ganzen uns noch vergönnten Frist.

§6

Hirten der Produkte -


Nicht nur als Subjekt der Geschichte gilt die Technik,
sondern auch als deren Ziel. Produktion erfordert Zerstörung

Im engsten Zusammenhange damit steht die Tatsache, daß die


Staatsmänner von Truman bis Kissinger und Carter (und die amerika­
nischen Massenmedien durchweg), wenn sie von der G efahr des (ato­
maren) Unterganges sprechen, diesen niemals das „end of mankind“
nennen, sondern durchweg das „end of civilisation“ , daß also das, was
in ihren Augen unter keinen Umständen vernichtet, unter allen U m ­
ständen bewahrt werden muß, nicht die Menschheit mit ihrer V ergan­
genheit und Z uku nft ist, sondern die Welt der Produkte und Produk­
tionsmittel, der A utos, der Fabrikanlagen, der Kühlschränke, der
Bohrinseln, der Kassettenrecorder, der Interkontinentalraketen, der
nuklearen Kraftw erke, die, wenn „es“ geschähe, für nichts und wieder
nichts dagewesen wären - eine M öglichkeit, die diese Zivilisationsad­
vokaten mit Panik erfüllt; und zwar deshalb, weil sie dieses „E n d e der
D inge“ als die äußerste Vergeudung, und damit als unmoralisch, auf­
fassen.15 Wie absurd das auch klingen mag, aber sie sind tatsächlich
überzeugt davon, daß die Menschheit, genau so wie sie selber, so fest
an ihren Produkten und Produktionsmitteln hänge, daß sie den P ro ­
duktverlust und das Ende der Produktion schwerer würden ver­
schmerzen können als ihren eigenen Untergang. U nd das Wort „hän­
gen“ bezeichnet dabei nicht nur Anhänglich- oder Abhängig-sein,
sondern auch: „ Nur Anhängsel-sein“ ; und das bedeutet wiederum:
ontologisch unwichtiger sein als dasjenige, dem sie anhangen. Wenn
diese (unzulänglich betitelten) „Technokraten“ trotzdem auch die E xi­
stenz der Menschheit {ür erhaltenswürdig halten, so allein deshalb, weil
es in ihren Augen Eigentümer geben muß, die verhindern, daß die
Produkte und Produktionsmittel herren- und sinnlos, also erbarmungs­
würdig, herumexistierenl6, ein Gedanke, der ihnen nicht nur Panik,
sondern M itleid einflößt. „ Hirten des Seins“ , als die uns Heidegger,
noch sehr gut biblisch, nämlich anthropozentrisch, einsetzte - wobei
er „die Stellung des Menschen im K osm os“ (der sich einen D reck
darum kümmern würde, ob w ir noch da oder schon verschwunden
sind) maßlos überschätzte, - nein, „H irten des Seins“ sind w ir gewiß
nicht. W ohl aber verstehen w ir uns als die Hirten unserer Produkt-
und Gerätewelt, die uns, obwohl imposanter als w ir selbst, doch als
Diener (z.B . als Konsumenten oder Eigentümer) benötigt. Freilich,
diesen unseren Gedanken, den Königsgedanken unserer Epoche, daß
unsere Produkte uns Menschen onto- und axiologisch überlegen seien,
auszusprechen, nein, auch nur stumm zu denken, davor hüten w ir
Gerätehüter uns durchweg. D er Gedanke bleibt - denn nicht nur Se­
xuelles verdrängen w ir - ungedacht. U nd zw ar deshalb, weil w ir dun­
kel ahnen, daß unser alter ego durch ihn schockiert und skandalisiert
werden würde. A ber indirekt beweisen w ir den Sieg dieses ungedach­
ten Gedankens, dieser „ Überlebenslüge” , durchaus. Der unzweideu­
tigste Beweis für dessen Trium ph ist die H erstellung der (schon vor
etwa fünfzehn Jahren erfundenen) Neutronenbombe, die unsere tech­
nischen Anlagen als tabu, uns dagegen als „expendable“ behandelt;
theologisch form uliert: unser Gemachtes, die opera creata, als überle­
benswerter, als ontologisch wichtiger denn uns Macher, die creatores,
behandelt. Gleichviel, durch diese Erfindung und die ungeniert geäu­
ß e rte B e r e its c h a ft, d iese e in z u s e tz e n , hat d as W o r t „ u n m e n s c h lic h “
ein en S in n a n g e n o m m e n , d en es s e lb st in d e n k la s s is c h e n V e r n ic h ­
tu n g sja h r e n z w is c h e n 1 9 4 1 u n d 19 4 5 n o c h n ic h t g e h a b t h atte. W e n n es
eines K r o n z e u g n is s e s fü r d ie „ A n t iq u ie r t h e it d es M e n sc h e n “ b e d ü r fte ,
h ie r ist es. 1 7

§7

Die Neutronenbombe unmodern. Deren Invertierung


Die Ungeschichtlichkeit der Produkte. „Abgetriebene O bjekte“

U n d d o c h , d u rc h d iese A u fr e c h t e r h a ltu n g d es von u n se re n E lt e r n


e re rb te n S p a r - u n d S c h o n -Id e a ls b le ib e n w ir H e u t ig e h in te r u n s selb st
z u r ü c k . Ic h b in ü b e r z e u g t d a v o n , daß se lb st d as W o r t „ schonen“ (d as
ic h in d e r T a t n o c h n ie m a ls au s d em M u n d e ein es jü n g e r als F ü n f z i g ­
jä h r ig e n g e h ö r t h a b e) in h u n d e r t J a h r e n so altfränkisch klingen w ir d ,
w ie h e u te e t w a d as W o r t „ F r a u e n z im m e r “ k lin g t. D e n n u n se r h e u tig e s
P r in z ip ist es ja , Wegwerfobjekte h e rz u ste lle n , u n se re n P r o d u k t e n
K u r z le b ig k e it e in z u b a u e n , u m d u r c h d eren N ic h t - m e h r - B r a u c h b a r -
k e it n eu en B e d a r f u n d n eu e K ä u fe r z u e rz e u g e n . M e n sc h e n z u v e r n ic h ­
ten ist also g e w iß n ic h t d as erste Z ie l h e u tig e r P r o d u k t io n e n - w a s ich
Menschenvernichtun­
n a tü rlic h n ic h t z u d eren E h r e n r e t tu n g sage, d a ja
gen, w ie d ie in V ie tn a m o d e r K a m b o d s c h a , als Nebeneffekte ohne
Zaudern in K auf genommen w e r d e n . G le ic h v ie l, Ziel ist d ie ( d u r c h d ie
N e u t r o n e n b o m b e n o c h g e s c h o n te ) Produktewelt: d iese ist d ie h e u tig e
„ C a r t h a g o d e le n d a “ .
D a s id e a le P r o d u k t v o n h e u t e ist d a h e r d as K o n s u m g u t , d as, w ie d ie
S e m m e l, durch den Gebrauch sofort verbraucht w ir d . A ll e h e u tig e n
P r o d u k t e te n d ie re n u n d v e r s u c h e n (tr o tz d e r g e ra d e n o c h e x is t ie r e n ­
d en , a b e r o b so le te n W e r b u n g m it „ D a u e r h a ft ig k e it “ u n d „ S o l i d i t ä t “ )
d ie se m P r o d u k t id e a l d e r O b s o le s z e n z z u e n tsp re c h e n , a lso so k u r z le ­
b ig w ie m ö g lic h z u s e i n .'8 W o es a b e r n ic h ts m e h r g ib t, w a s v o n
g e ste rn sta m m t, w a s b le ib t o d e r b le ib e n s o ll, d a ist G e s c h ic h t e a b g e ­
s c h a fft. A n d iese s Id e a l d e r K u r z le b ig k e it ist d e r K o n s u m e n t sc h o n seit
la n g e m a d a p t ie r t w o r d e n - w a s z . B . d e r K ä u f e r d e r , W a s c h u n g n ic h t
Gegen­
m e h r b e n ö tig e n d e n , P a p ie r ta s c h e n tü c h e r b e w e is t. A u c h d ie
stände u n se re r W e lt sin d also ungeschichtlich. W e d e r s ta m m e n sie au s
d er V e r g a n g e n h e it, n o c h sin d sie fü r ein e Z u k u n f t b e stim m t. W ie
Säuglinge leben sie n u r im Jetzt. U n d manche kommen, da sie durch
neuere Modelle bereits verdrängt werden, ehe sie das Licht der Welt
erblicken, gar nicht „d ran “ , sie werden gewissermaßen vo r der G eburt
„ abgetrieben". Einen solchen „Abortus von Produkten“ habe ich be­
reits vor 3 5 Jahren in Los Angeles erlebt. Bei der H erstellung von für
H obbyzw ecke bestimmten Handwebstühlen erreichte den Unterneh­
mer die Nachricht, daß in N e w Y o rk bessere „hand weaving loom s“
billiger verkauft w ürden. W oraufhin die bereits expeditionsfertigen
Stücke samt Verpackung vermüllt wurden.
Aber lassen wir die Metaphern. In hochindustrialisierten Ländern ist
es bereits preiswerter, neue Gegenstände zu kaufen als alte reparieren
zu lassen - was oft überhaupt schon unmöglich (oder ein Luxus) ge­
w orden ist, da es Reparaturhandwerker außer für so kostspielige O b ­
jekte wie Autos, TV -A pparate und Kühlschränke schon kaum mehr
gibt. So ist der Um stieg von D auerware auf W egwerfware nicht nur
fü r die Industrie, sondern auch für den Kunden zum Gew inn gew or­
den. Freilich ohne sonderbare K onvulsionen ist dieser Um stieg nicht
vo r sich gegangen.

§8

Produzierte Gebrauchtheit. Blue Jeans

Eine Bewegung hat bereits vor vierzig Jahren eingesetzt, die die
Vorherrschaft ungeschichtlicher O bjekte aufzuhalten versucht. D abei
habe ich nicht nur den schwunghaften H andel mit echten, und die
enorme Produktion von falschen Zeugen einer (zumeist rustikalen)
Vergangenheit, der die meisten K äufer garnicht entstammen, z .B . von
gußeisernen Wirtshausschildern, Petroleumlampen und dergleichen,
im A u ge; sondern ein Phänomen, das noch dialektischer ist: D a Repa­
riertes bereits Seltenheitswert besitzt, werden (und zw ar von der W eg­
werfindustrie selbst) „repariert“ , und damit „geschichtlich“ ausse­
hende Produkte hergestellt; Produkte, die um so dialektischer sind, als
auch ihnen, obw ohl sie nach Vergangenheit riechen sollen, „O bsoles-
zenz“ eingebaut w ird. A b er da greifen w ir vor.
D ie prononciertesten Verkörperungen dieser neuen Produkte sind
die sogenannten „L e v y s “ , die Blue Jeans, deren Qualität in künstlich
hergestellter schlechter Qualität besteht, die geflickt, ausgewaschen
und zerfranst aussehen, also Vergangenheit, mindestens Gestrigkeit
simulieren müssen, um gekauft und verwendet zu werden. „O therw ise
they are not up to date“ (Ausspruch einer amerikanischen Sechzehn­
jährigen, die sich der D ialektik ihrer W orte natürlich nicht bewußt
war). W irklich haben sich die ersten K äufer und Träger dieser ge­
schichtsphilosophisch so interessanten Hosen als Rebellen gefühlt, als
Saboteure der „ungeschichtlichen“ Konfektionshosen, als Verächter
der „g lo ssy “ M assenkonfektion, als Protestierer gegen die Bügelfalte.
Blue-]eans-Träger aller Länder , vereinigt euch! In der Tat steckte et­
was von „konservativer Revolution“ in dieser neuen, Altsein vorspie­
gelnden Tracht. Zugleich schien sie, da sie von der Protestjugend
„klassenneutral“ , übrigens auch geschlechtsneutral, getragen wurde,
eine Bejahung der „E q u ality“ zu proklamieren, ein „w e are the
people“ -Gefühl. Schien. Denn im N u hatte sich die verpönte M assen­
konfektion des protestierenden Außenseiters angenommen, um aus
der neuen Tracht eine Kollektivm ode zu machen, deren D iktat sich
auch nach kürzester Zeit kein Jugendlicher mehr entziehen konnte,
wenn er es nicht riskieren wollte, als zum Establishment gehörig auf­
zufallen. Und schon seit Jahren dürfen es sich selbst die Kinder der
Fabrikanten nicht mehr leisten, diese unter Konform ism uszw ang ste­
henden Antikonform ism us-H osen nicht zu tragen, da sie sonst als
weltanschaulich bzw. politisch nicht up to date, als nicht zu „p eop le“
gehörig, kurz: als nicht-auffällig auf fallen würden.

§9
Waffen sind Konsumgüter. D ie Antiquiertheit der Feindschaft.
Krieg und Mode Zwillinge

A ber kehren wir zu den W egwerfprodukten zurück. Denn deren


prominenteste Verkörperung ist durchaus nicht die Mode, sondern die
Kriegsindustrie, da diese durch die ständige M odernisierung ihrer M o­
delle ihre vorigen M odelle nutzlos macht, also durch Produktion zer­
stört - ein Prozeß, der durch den W affenwettlauf der großen Mächte
noch angeheizt w ird. Freilich ist dieser W ettlauf nicht beiden W ettläu­
fern gleich willkom m en - die Sowjetunion und die anderen Oststaaten
sehen sich seit Jahrzehnten durch den Zw ang, „au f dem W affensektor
gleichzuziehen“ , zur Vernachlässigung des Aufbaus anderer, noch un­
terentwickelter, Industrien gezwungen. 19 F ü r die Vereinigten Staaten
gilt dagegen, daß die Erzeugung eines neuen M odells in der Sow jet­
union durchaus nicht unwillkom m en ist, da dieses ja die K onkurrenz­
fähigkeit des eigenen gestrigen M odells zunichte und die Produk­
tion eines neuen erforderlich macht - die letztjährigen Waffen werden
dann an orientalische Staaten verhökert - und etwas Besseres kann sich
ja die Industrie nicht wünschen. Insofern w ar (oder ist) der trotz seiner
angeblichen Beendigung noch außerordentlich warm e „k alte K rie g “
eine sehr günstige Situation für die kapitalistische Industrie. Aber die
größten Vorteile bietet natürlich erst der „heiße“ : denn die W affen,
mindestens die Geschosse, die Bom ben und die Chemikalien gehören
ja, wie sonderbar das auch klingen mag, da sie nur ein einziges M al
benutzt werden können, zu den „Konsumgütern“ . D en Krieg als eine
Zäsur im Leben der kapitalistischen Industrie anzusehen, wäre freilich
falsch. Vielm ehr stellt er, um die berühmte Clausewitzsche D efinition
abzuwandeln, nur eine Fortsetzung der friedlichen Produktzerstörung
mit anderen Mitteln dar.

W orauf die Industrie in erster Linie abzielt, ist also nicht (was uns
die Produktion der Neutronenbom be glauben machen könnte) die
Liquidierung der Personen- und Materialwelt des Feindes (auf den ihre
W affen zielen), sondern die ihrer eigenen Produkte. D ie Strategie des
Blitzsieges, des sofortigen Totalruins des Gegners, die vor 3 5 Jahren
offenbar noch als praktisch gegolten hatte, ist heute längst obsolet
geworden, sie wäre ein geschäftswidriges Unternehmen. Was die Indu­
strie am meisten liebt, ist der vertrauenswürdige Krieg, der K rieg, auf
dessen soliden jahrelangen Bestand man rechnen kann, also der K rieg
vom T yp des Vietnam krieges, der sogar mit einer militärischen N ie ­
derlage (was ja der Fall gewesen ist) enden darf, da er, gleich, ob
militärisch gewonnen oder nicht, auf jeden F all einen triumphalen Sieg
der kämpfenden Industriemacht, einen M aximalverbrauch von W eg­
werfprodukten darstellt. So gesehen, ist Vietnam nur scheinbar ein
Feind der USA gewesen. In Wahrheit w ar es, gleich ob es das wollte
oder nicht, deren bester Warenabnehmer, damit deren engster Alliier­
ter. Welcher andere Kunde außer einem solchen „F ein d “ hätte der
amerikanischen Industrie die Chance geschenkt, dreimal so viele B om ­
ben zu produzieren und zu verbrauchen wie im ganzen zweiten W elt­
kriege ?'° Das Bedürfnis nach einem solchen, „Feind“ genannten, K un­
den oder Alliierten, und das nach einer solchen, diese Beziehung er­
leichternden und „Patriotism us“ genannten Mentalität - diese B edürf­
nisse werden nicht weniger künstlich hergestellt als die nach drei­
dimensionalen Schallplatten oder nach Farbfernsehern. Die Fabriken,
in denen diese Bedürfnisse erzeugt werden, sind die M assenmedien.“
Fassen w ir zusammen: M odernisierung der Produkte und K rieg
sind einander steigernde Zwillingsphänom ene. Beide dienen, jede auf
ihre A rt, der Zerstörung der Produkte, die ihrerseits die Produktions­
kontinuität und -Steigerung gewährleistet. Diese Steigerung ist das ein­
zige, was als Konstante und als ew ig während gewünscht wird. P ro­
dukte dagegen sollen durchweg vergehen. Ebenso die Produktionsm it­
tel, und zw ar deshalb, weil deren unveränderte Benutzbarkeit die
Nichtsteigerung der Produktion beweisen würde - ganz abgesehen
davon, daß in den Augen derer, die diese erzeugen, Produktionsm ittel
ja ebenfalls Produkte sind, und als solche natürlich dem Gesetz des
möglichst schnellen Verbrauchs und der möglichst baldigen Ersetzung
durch andere unterliegen. D er N am e für den hier geschilderten Prozeß
ist - dieser B egriff hat in der Tat sow ohl im W esten wie im Osten alle
Krisen und Katastrophen des Jahrhunderts aufs beschämendste über­
dauert und ist der einzige ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht -
noch immer „Fortschritt“ .11

§ io

D er gute Superman als Saboteur der Wahrheit

A b er kehren wir zu unserem Hauptthema zurück. Ehe ich mich auf


die D iskussion der Zielsetzung der Produktion: Produktionszerstö­
rung einließ, w ar ich auf die entscheidende N euigkeit des heutigen
Zeitalters gestoßen: auf die Tatsache, daß heute die Technik das Sub­
jekt der Geschichte geworden ist; daß w ir mit dieser Geschichte nur
noch „mit-geschichtlich“ sind; und schließlich auf die Tatsache, daß
die Einsicht in diese Subjektwerdung der Technik gewöhnlich ver­
w ischt wird.
In der Tat geht diese Verwischung pausenlos vor sich, sowohl durch
die Vokabelw ahl der Medien wie durch die der Staatsmänner, die uns
in vulgär-philosophischer oder in vulgär-erbaulicher Sprache weism a­
chen wollen, vielleicht sogat (weil es bequemer ist, einer Lebenslüge zu
glauben als ständig mit ihr zu leben) w irklich glauben, daß w ir nach
wie vor die Subjekte der Geschichte seien, und daß es nur von unserem
guten Willen (den w ir natürlich hätten) abhänge, wie w ir in unserer
jeweiligen geschichtlichen Situation die Technik einsetzten, ob w ir
z. B., in Eisenhowers biederen W orten, die „atoms for peace“ verw en­
deten oder „fo r w ar“ . D ie Tatsache, daß schon die bloße Erzeugung,
der bloße Besitz, das bloße factum technicum, nein die bloße Erzeu­
gungs-Möglichkeit eine Art von Verwendung darstelle, daß „h abere”
heute mit „adhibere” , und „esse” mit „adhiberi” identisch ist;23 ge­
schichtsphilosophisch form uliert: daß es schief wäre, zu behaupten,
daß es in unserer Epoche auch Technik gebe, richtig allein, daß unsere
Epoche von der Technik konstituiert (und vermutlich auch beendet)
werde - diese Tatsache einzusehen geht über den H orizont der B efür­
worter, Erbauer, Eigentüm er und Verwender weit hinaus. Für sie
bleibt nach wie vor der Mensch der H err der Technik, und als solcher
wird er in ihren Augen natürlich auch überleben.

Es gibt nun eine V erkörperung dieser H erren- und Überlebenslüge;


der Lüge, daß die Entscheidung über unser Geschick doch noch in
unseren H änden liege, und nicht in denen der Technik, eine Figur, die
schon seit Jahrzehnten - unterdessen ist sie von mehreren anderen
eskortiert - in allen Massenmedien herumgeistert, und deren Populari­
tät gar nicht überschätzt werden kann, da sie (was ein Blick in jede
amerikanische Zeitung bestätigt) die H auptrolle auf der dortigen
Bühne des Infantil- und V ulgär-O lym ps spielt: ich meine den „Super­
man“ . Denn dieser, charakteristischerweise ohne Flugzeug flugfähige,
wie ein lenkbares Projektil den Raum durchschießende Mann besitzt
in dem cartoon-Universum , in das sein Erfinder ihn versetzt hat, Om-
nipotenz. U nd das bedeutet, daß die in W ahrheit der Technik inne­
wohnende Allmacht - durch welches W under, das bleibt dunkel - in
den Menschen zurückgewandert zu sein scheint, wenn „zurückgew an­
dert“ das rechte W ort ist, da ja, wie paradox das auch klingen mag, der
Mensch die Allm acht, die er der Technik verliehen hat, selbst niemals
besessen hatte. Gleichviel, seit Jahrzehnten kann sich nun jeder (ob
nun prä- oder postalphabetische) Analphabet mit dem Gedanken trö ­
sten, daß die Allm acht in den Händen eines Anthropoiden liegt, eines
Wesens, dem er ähnelt; und jeder kann sich mit dem Bilde dieses
H eros oder Halbgottes beinahe identifizieren.24

O bwohl in der cartoon-W elt ein göttlich-omnipotentes Wesen, ist


er in unserer w irklichen Welt als Diener angestellt, und zwar als D ie­
ner der Technokraten, die ihm die Aufgabe zugewiesen haben, die
Entthronung des Menschen, die Subjektwerdung der Technik und das
immense Interesse, das sie an diesen zwei Vorkom m nissen nehmen, zu
verwischen. Im Aufträge dieser Interessenten ist superman erschaffen
w orden, er ist deren Kreatur, auch wenn er sein Aussehen einem
Zeichner verdankt'5 - dieser war deren Hofmaler. Und da die A uftrag­
geber ferner wünschen, daß superman von den als Sklaven des mundus
technicus lebenden Millionen als Mensch gewordene (oder vielleicht
„gebliebene“ ) Technik bejaht werde, daß diesen die Identifizierung
mit ihm gelinge, entziehen sie ihm von vornherein das negative, un­
sympathische oder geradezu verhängnisvolle M erkm al, das der heuti­
gen Naturwissenschaft und den technischen Erfindungen wesensmä­
ßig zukom m t: die ]anusköpfigkeit,'6 das heißt: die Eignung, ebenso für
böse wie für gute Zw ecke eingesetzt zu werden. Dieser Makel geht
superman ab, von „G eb u rt“ an tritt er als ausschließlich moralisches
Wesen auf: M it seinen phantastischen (also, da die Technik ja phanta­
stisch geworden ist, mit seinen realistischen) Mitteln zielt er immer nur
auf die Besiegung des Bösen und auf den Trium ph des Guten, w obei
seine Vorstellungen von „g u t“ und „b öse“ den konventionellsten und
spießigsten middle-class-Idealen entsprechen. In gewissem Sinne ist er
nicht nur ein zweiter Prometheus, sondern auch ein zweiter Erzengel
Michael.
O bw ohl sich diese Promenadenmischung von H eros und Spießer
nur in den Vereinigten Staaten hatte ereignen können, findet der Ba­
stard doch Anhänger überall dort, w o es Technik gibt, oder wo für
Technik geworben wird, also überall.27 K ein Anblick hat mich vor
zw anzig Jahren bei meinem Aufenthalt in H iroshim a so tief entsetzt
wie der von zwei sieben- oder achtjährigen Mädchen, die, auf einer
Bank in Sichtweite der berühmten Einschlagstelle sitzend, ein Super­
m an-H eft begeistert zwitschernd kommentierten und damit selbst
dort den Gedanken der Zerstörung zerstörten.

§u

Der Kategorische Imperativ von heute

Aber kehren w ir zu der im letzten Exkurse vernachlässigten Frage,


in welchem Sinne w ir heute noch geschichtlich sind, zurück. W ir hat­
ten die A ntw ort bereits kurz vorweggenom men. Sie hatte gelautet: w ir
sind nur noch „mit-geschichtlich“ . Diese Kategorie hatten w ir ur­
sprünglich als A ntw ort auf unsere Frage nach dem Geschichtlich- oder
Nichtgeschichtlichsein des Proletariats eingeführt. N un, das M onopol
auf dieses schmähliche Nur-M itgeschichtlichsein hat das Proletariat
unterdessen eingebüßt. Denn „mit-geschichtlich” sind nunmehr wir
alle, gleich, welcher Klasse w ir angehören; und das sind w ir nicht mehr
mit der Geschichte einer anderen Klasse, sondern mit einer anderen
Klasse von Geschichte: nämlich mit der Geschichte des heutigen G e ­
schichts-Subjekts: mit der der Technik. In der T at ist unsere geschicht­
liche Rolle vis-a-vis der Geschichte der Technik keine andere, als es die
des Proletariats vis-a-vis der Geschichte der herrschenden Klasse ge­
wesen war. O der, in einem Vergleich, der der Wahrheit vielleicht noch
näher komm t: U nser Verhältnis vis-a-vis der Technik ist kein anderes
als das des Einzelarbeiters vis-a-vis „sein er“ M aschine: So, wie dieser
deren Vorrang, deren Autorität, deren Tem po etc. als verbindlich an­
erkennt (ungeachtet der Tatsache, daß seinesgleichen sie erdacht hat­
ten, und er selbst sie hätte entw orfen haben können, mindestens an
deren Konstruktion hätte mitbeteiligt gewesen sein können) - so, wie
dieser sich dazu verpflichtet fühlt, der Maschine „nachzukommen“ 1*,
w eil diese „vorgeht“ , so fühlt sich nun die Menschheit, so fühlen sich
mindestens die Bürger der hochindustrialisierten Länder, dazu ver­
pflichtet, dem jeweils erreichten Stand der Technik „nachzukom m en“ ,
w eil dieser Stand „vorgeh t“ . Wenn es heute einen kategorischen Im pe­
rativ gäbe, er würde nicht unser Verhältnis zum M itmenschen oder zur
Gemeinschaft oder zur Gesellschaft betreffen, sondern unser Verhält­
nis zum bestehenden oder künftigen Status der Technik. E r würde
lauten:
„ Handle so, daß die Maxime deines Handelns die des Apparats,
dessen Teil du bist oder sein wirst, sein könnte“
oder negativ:
„H andle niemals so, daß die Maxime deines Handelns den Maximen
der Apparate, deren Teil du bist oder sein wirst, widerspricht“ .
Diese Imperative sind fast überall in K raft, fast überall akzeptiert,
wenn natürlich auch, da die Technik grundsätzlich nicht aus der Schule
plaudert, nirgendwo ausgesprochen.29

§ 12

Invertierter Maschinensturm - D ie Rückübersetzung

Zuw eilen freilich gibt es Ausnahmen, Situationen, in denen die V er­


bindlichkeit des Apparats noch nicht völlig festzustehen scheint. Diese
Situationen nenne ich „ideologisch“ , und zw ar deshalb, weil zwischen
dem Apparat, der schon heutig ist, und der M oral, die noch von ge­
stern ist, ein Gefälle besteht, das dem bekannten Gefälle zwischen dem
(schon heutigen) „U nterbau“ und dem (noch gestrigen) „Ü b erb au “
entspricht. W ir werden gleich sehen, daß die Menschen dieses Gefälle
auf die D auer nicht aushalten, und daß sie dieses „korrigieren“ . Aber
greifen w ir nicht vor.
Was ich meine, ist der „doppelte Maßstab“ , der heute häufig zu
beobachten ist. Ein klassisches Beispiel dafür lieferte der Vietnam­
krieg. O bw ohl die Vorherrschaft des Vernichtungsapparates, in den
die G .I.s als Apparatteile eingebaut waren, außer Zw eifel stand, wurde
doch von diesen widerspruchsvollerweise erwartet und verlangt, daß
sie früheren, „vortechnischen“ , Verhaltenspostulaten noch ein biß­
chen treu blieben, sich also in ihrem direkten Handeln noch etwas
anders benähmen als die Apparate; anders, als sie selbst sich indirekt,
also als Bedienungsmannschaften von zwischengeschalteten Appara­
ten, hätten benehmen dürfen, nein sogar sollen. So durften die G .I.s
zum Beispiel das, was den Helikoptermannschaften m it H ilfe von
Bomben und N apalm zu tun erlaubt, nein befohlen w ar: nämlich
Dorfbevölkerungen mit Stum pf und Stiel auszurotten, direkt und mit
nackter Hand nicht durchführen.50 Eine solche D ifferenz, ein solches
Gefälle zwischen Apparat- und Humanmoral auf die D auer durchzu­
halten, das kann nun niemand leisten. D as bedeutet aber nicht etwa,
daß die Menschen verlangten, daß das, was ihnen verboten ist, den
Maschinen ebenfalls verboten werde. Wenn die G .l.s - und ich denke
da vo r allem an den epochalen Zwischenfall von M y L a i: ein „incident“
wurde das M assaker durchw eg genannt - aufbegehrten, so nicht gegen
die Tatsache, daß den Apparaten mehr erlaubt w ar als ihnen, sondern
gegen die, daß ihnen, den G .l.s , weniger erlaubt w ar als den Appara­
ten. „E v e n “ wollte sie sein. A lso richteten sie ein Blutbad an, das
„sondergleichen“ zu nennen völlig falsch wäre, w eil es ja gerade denje­
nigen Blutbädern glich, die ihre Apparate täglich anrichteten; und w eil
sie dieses M assaker nur deshalb anrichteten, w eil sie ihren Apparaten
zu gleichen wünschten. D er Imperativ, dem sie gehorchten, lautete
nicht etwa:
„ Verhindere deine Maschinen daran, nach Maximen zu operieren,
die die deines Handelns nicht sein könnten“ ,
sondern um gekehrt:31
„ Tue ruhig alles, was den Maximen des Apparates, in den du einge­
baut bist, nicht widerspricht; und beanspruche, so handeln zu dürfen.“

Ich nenne aber das M assaker von M yL ai, von dem w ir die heutige
Situation ablesen können, deshalb epochal, weil in ihm das Verhältnis
Mensch-M aschine ein qualitativ neues Stadium erreicht hat. Was der
Hiroshim apilot verübt hat, w ar „indirekter M assenm ord“ gewesen.
U nd ebenso indirekt waren auch noch die mörderischen A ktionen der
H elikopter im Vietnam krieg gewesen. Dagegen m arkiert das, was in
M y L a i geschehen ist, ein grundsätzlich neues, ein drittes Stadium, weil
hier die indirekte Handlung w ieder in „terms ofdirect action“ zurück­
übersetzt wurde. „R ückübersetzung“ ist in der T at der Schlüsselbe­
griff, ohne den, was in M y L a i geschehen ist, verschlossen bleibt.
V ollends deutlich läßt sich das Stadium, das die Beziehung M ensch­
Maschine hier erreicht hat, dadurch kennzeichnen, daß man es mit
demjenigen Stadium vergleicht, das die Maschinenstürmerei des vo ri­
gen Jahrhunderts dargestellt hatte. Während die Maschinenstürmer
gegen die Maschinenwelt als übermächtige Konkurrenzw elt aufbe­
gehrt hatten, haben die Massenm örder von M yL ai deren Existenz als
legitim, nein als selbstverständlichen Maßstab akzeptiert - genau so,
wie w ir alle die M aschinenwelt einfach auf G rund ihrer M ächtigkeit
und Unentbehrlichkeit als selbstverständlich akzeptieren. U ns eine
maschinenlose Welt zu wünschen oder auch nur vorzustellen, wie es
die M aschinenstürmer des vorigen Jahrhunderts w ohl noch hatten tun
können, dazu sind w ir nicht mehr imstande. W er die Maschinen (na­
türlich nur verbal, denn praktisch ist das längst schon undurchführbar)
bekämpfen würde, würde damit seiner eigenen täglichen Existenz w i­
dersprechen und sich selbst bekämpfen. Nein, wogegen die G .I.s von
M y L a i revoltiert haben, w ar die Tatsache, daß ihnen, die ja schließlich
auch zum Apparat gehörten, diejenigen Rechte, die diesem zustanden,
nicht ebenfalls zustanden. Nicht a u f den Ruin der Maschinen zielten
sie ab, sondern darauf, „sicut machinae“ zu werden, dasjenige, was
diese durften, ebenfalls zu dürfen. U nd wenn sie über etwas moralisch
indigniert waren, so darüber, daß ihnen noch humane Tabus, also
M oral, zugemutet oder zugetraut wurden. N ich t als Menschen nach
einem erhofften Tode der Maschinen wünschten sie zu überleben,
sondern als Maschinenteile nach dem erhofften, nein beanspruchten,
Tode des H um anums. Wenn irgendwo mein Schlagwort von der „ A n ­
tiquiertheit des M enschen“ einen Sinn hat, dann hier: nämlich als Titel
für die negative Attitüde des Menschen gegenüber seinem Menschsein.

Fün f G ruppen haben etw as mit dem M yLai-Zw ischen fall zu tun
gehabt: die massakrierende Einheit selbst; die befehlerteilenden V o r­
gesetzten; die mit dem Prozeß befaßten Personen; die Presse, die M il­
lionen W örter darüber veröffentlichte; und schließlich der H auptange­
klagte Lieutenant C alle y,J2 der seine A ttitüde nicht nur in seinen ge­
richtlichen Aussagen, sondern auch in einer (freilich „ghostw ritten“ )
Autobiographie zu formulieren versucht hat. A b er unter den Genann­
ten hat es nicht einen Einzigen gegeben, der das Grundsätzliche des
Ereignisses, das, was w ir die „R ückübersetzung“ genannt haben, ver­
standen oder gar in W orte gefaßt hätte. U nd das ist sehr begreiflich.
N icht nur deshalb, weil es der von der T echnik dominierten M ensch­
heit außerordentlich schwer fällt, ihren (technischen) Daseinsmodus
zu durchschauen - diese Hem m ungen sind ungleich größer und weiter
verbreitet als alle von der Psychoanalyse behandelten und etikettierten
Hemm ungen; sondern auch deshalb - und dieses Tabu ist die eigentli­
che Ursache dieser Hemm ung - weil niemand diesen seinen Daseins­
modus verstehen oder gar in W orte fassen sollte oder durfte: und dies
wiederum deshalb nicht, w eil jedes Verständnis, von Formulierungen
zu schweigen, einer Fundam entalkritik der Technik gleichgekommen
wäre, und eine solche K ritik natürlich unterbunden werden mußte.
Gleichviel, eine Ahnung davon, daß die am M assaker Beteiligten,
nicht anders als Aberm illionen ihrer Zeitgenossen, gewünscht hätten,
zu sein „sicut machinae“ , ist in den Wochen der Verhandlung als
Tatm otiv nicht ein einziges M al laut geworden. Erst durch unseren
B egriff der „R ückübersetzung“ gewinnt der Fall M yL ai grundsätzli­
che und historische Bedeutung, erst durch ihn w ird es sichtbar, daß
Lieutenant Calley das heutige Verhältnis zwischen Technik und Moral
genau so exemplarisch vertritt, wie vor fünfunddreißig Jahren Eich-
mann und Eatherly die damalige Situation vertreten hatten.

Fassen w ir den Fall zusammen: Täglich hatten die Calleys mitange­


sehen, wie Stücke der Kriegsmaschine, namentlich die H ubschrauber,
durch Streuung von Napalm D örfer samt ihren Einwohnern in Feuer­
höllen verwandelten. Diesen Maschinenstücken w ar die Liquidierung
von Zivilisten also erlaubt, nein sogar geboten. In den Augen der G .I.s,
die schließlich ein Recht darauf hatten, sich ebenfalls als Stücke der
Kriegsmaschinerie zu betrachten, mußte es nicht nur unbegreiflich,
sondern kränkend und ungerecht vorkommen, daß ihnen dasjenige,
was den anderen Maschinenstücken freistand, nein, w ozu diese ver­
pflichtet waren, nicht ebenfalls tun durften und sollten; daß das indi­
rekte Liquidieren erlaubt und geboten, das direkte dagegen verboten
sein sollte. Dieses G efälle zwischen dem Indirekten und dem D irekten
ertrugen sie nicht; es war zu unbillig. U nd so brachen sie in direktes
Handeln aus, und schossen, nicht anders als ihre V orbilder: die K riegs­
apparate, „indiscriminately” . So hieß es offiziell, so als wäre „discrim i-
nately“ zu morden erlaubt. So schossen sie also indiscriminately in
Frauen, Kinder und Greise hinein, und vermutlich genossen sie bei
dieser wilden Metzelei sogar die Genugtuung, daß sie, die sich bisher
stiefmütterlich behandelt gefunden hatten, sich endlich einmal für
„v o ll“ nehmen konnten. G anz freilich glichen sie dabei ihren V o rb il­
dern doch nicht: denn im Unterschiede zu den M ordmaschinen waren
sie von ihrem M assakrieren derart angestrengt, daß sie post festum
sofort das unaufschiebbare Bedürfnis verspürten, sich am Platz ihrer
A rbeit: also zwischen den zerfetzten Leibern ihrer O pfer, niederzuset­
zen, um sich mit H ilfe ihrer mitgebrachten Lunch-Rationen wieder
aufzutanken.

Taylorismus als politisches Prinzip

A ber diese Diskrepanz zwischen Maschine und Mensch, die w ir am


M y Lai-Falle exemplifiziert haben, ist doch eine Ausnahme. G ew öhn­
lich gilt das Postulat, uns mit dem Stand der Technik, deren G e ­
schichte die Geschichte geworden ist, gleichzuschalten, als selbstver­
ständlich. Gerade heute, da die Diskussion über den Bau oder die
Verweigerung von K ern-R eaktoren ihren H öhepunkt erreicht hat, ist
das besonders deutlich geworden. Leute wie Robert Jungk und ich, die
sich von dem „Im perativ“ , den der jeweilige Status der Technik angeb­
lich in sich birgt, nicht ins Bockshorn jagen lassen, und die sich erst
recht weigern - denn selbst das wird ja überall als selbstverständlich
verlangt - , den heute noch nicht erreichten (wahrscheinlich niemals
erreichbaren) Stand der Technik von übermorgen heute schon als obli­
gatorisch anzuerkennen, die werden von der Industrie und von den,
deren Geschäfte besorgenden, Politikern ebenso als „aufm üpfig“ ge­
rügt oder als „schlecht synchronisiert“ (so hieß es in einer Rezension
meines „E n d zeit“ -Buches) verspottet, wie ein Arbeiter als „au fm ü p­
fig“ gerügt oder verspottet oder gar entlassen werden würde, wenn er
- was freilich niemals geschieht - sich w eigern oder sich als unfähig
erweisen würde, „T a y lo r“ zu gehorchen, also mit dem Tem po „se i­
nes“ laufenden Bandes Schritt zu halten. Ich denke da vor allem an das
bisher absolut ungelöste, wenn überhaupt lösbare, Problem der Atom­
müll-Deponien, das w ir nur dann bewältigen könnten, wenn w ir pro­
phetisch in die geodätischen Geschehnisse künftiger Jahrtausende hin­
einblicken könnten; und an die Tatsache, daß die Industrie und die
deren Geschäfte besorgenden Staatsmänner, sich in die Brust (nicht in
die eigene, sondern in die der Wissenschaften) werfend, die Probleme
aufs stupideste - ich zitiere die W orte eines heute führenden Kanzlers
- als „ morgen selbstverständlich gelöst“ bezeichnen, da „in der G e­
schichte der Menschheit kein einziges technisches Problem aufge­
taucht“ sei, „das nicht zur Zeit seine Lösung gefunden“ hätte. So be­
gründen und rechtfertigen sie - zumeist aus Rücksicht auf tagespoliti-
se h e und p a r te ip o litis c h e E r f o lg e - ih re g e w is se n lo s e n M a ß n a h m e n m it
d e m H in w e is a u f L ö s u n g e n ü b e r m o r g ig e r E r f in d e r , o d e r a u f L ö s u n ­
gen , d ie v e r m u tlic h n ie m a ls g e fu n d e n w e r d e n w e r d e n . M a n m a c h e s ic h
Gleich­
k la r , w o r a u f so e t w a s h in a u s lä u ft : a u f n ic h t w e n ig e r als a u f
schaltung mit einer vermutlich niemals eintretenden Zukunft. „ M a n
m u ß b e r e it s e in “ , s c h lo ß n ic h t z u fä llig d ie R e d e d es o b e n z itie rte n
S ta a tsm a n n e s.
U n d das ist in der T a t e rs tm a lig . D e n n b e i d e n G le ic h s c h a ltu n g e n ,
d ie w ir b is h e u te als O p f e r o d e r B e o b a c h t e r m ite rle b t h a b e n , h a tte es
s ic h ja im m e r u m G le ic h s c h a lt u n g e n m it g e g e n w ä r t ig e n Z u s tä n d e n
g e h a n d e lt, h ö c h s te n s m it g e p la n te n ü b e r m o r g ig e n ; u n d stets u m s o l­
c h e , d ie v o n e in e r A u t o r it ä t g e fo r d e rt o d e r e r z w u n g e n w a r e n , d en en
m a n als U n t e r t a n o d e r als K u n d e anheimfiel. W e d e r d a s ein e n o c h d as
a n d e re ist h ie r d e r F a ll. D ie s o a rg u m e n tie r e n w ie u n s e r fa m o s e r S ta a ts ­
m a n n , d ie sc h a lte n s ic h m it e in e r (im a g in ä re n ) Zukunft g le ic h ; u n d da
sie se lb st s ic h g le ic h s c h a lte n , k a n n m a n a u c h n ic h t sag en , daß sie ein e r
g le ic h s c h a lte n d e n In s t a n z a n h e im fa lle n - es s e i d e n n , m an b e h a u p te ,
d aß sie v o n d e r T e c h n ik d a z u g e z w u n g e n w e r d e n , s ic h m it e in e r k ü n f ­
tig e n o d e r im a g in ä re n te c h n is c h e n S itu a tio n z u k o o r d in ie r e n .
A u c h h ie r b ie te t s ic h w ie d e r d e r V e r g le ic h m it ein e m A r b e it s v o r ­
g a n g an . D e n n in g e w is se m S in n e ä h n e lt d as M itr a s e n m it d e r Z e it , d as
w i r so e b e n g e s c h ild e rt h a b e n , d e m M itr a s e n d e s A r b e it e r s m it sein e m
la u fe n d e n B a n d . D ie h e u tig e n S ta a tsm ä n n e r a rb e ite n g e h e tz t, u m m it­
z u k o m m e n , am la u fe n d e n B a n d d e r T e c h n ik g e s c h ic h te . U n d es ist
Tayloris­
d u r c h a u s k e in e Ü b e r t r e ib u n g , w e n n m a n b e h a u p te t, d aß d e r
mus, der in se in e n A n fä n g e n n u r e in e s p e z ie lle und b e s o n d e r s p r o fit a ­
b le F o r m d e r In d u s t r ie a r b e it g e w e se n w a r , n u n m e h r zum Prinzip der
Geschichte geworden ist. D a s je w e ilig e T e m p o d es „ G e s c h ic h t s b a n ­
d e s “ se h e n d ie S ta a ts m ä n n e r , n ic h t a n d e rs als d ie am w ir k lic h e n la u fe n ­
d e n B a n d e A r b e it e n d e n , als v e r b in d lic h an . W e n n sie A n g s t ä u ß e rn , so
n ic h t e t w a d ie v o r d e n u n a b se h b a re n F o lg e n ih r e r A k t io n e n (a lso e t w a
v o r d e n e n d es R e a k t o r e n b a u s ) o d e r v o r d e r e v e n tu e lle n A u s lö s c h u n g
d es M e n sc h e n g e sc h le c h ts ( d u r c h A t o m k r ie g e o d e r U m w e lt v e r s e u ­
c h u n g ); d ie se Ä n g s t e h a lte n sie , d a ih re P h a n ta s ie u n fä h ig ist, s ic h so,
w ie es d ie h e u tig e R e a lit ä t e r fo r d e r t , a lso w ie es r e a lis tis c h ist, a n z u ­
spann en , fü r „überspannt“ - ein A u s d r u c k , m it d em ein b e k a n n te r
R e z e n s e n t m e in e D a r s t e llu n g d es n ä c h ste n W e lt k r ie g e s u n d m ic h a b ­
zuqualifizieren versuchte. Nein, wenn sie überhaupt angstfähig sind,
dann haben sie Angst davor, „ geschichtlich zurückzubleiben“ , wenn
nicht sogar aus dem Betrieb der Welt und aus der Zahl jener, die in
Betracht kommen, das heißt: konkurrenzfähig sind, hinauszufliegen.
In der Tat haben zahlreiche heutige Politiker, erst gestern Kanzler
Kreisky, dieses Argument vorgebracht, um den Bau von Atomkraft­
werken zu forcieren. Der Gedanke, daß sie eventuell nicht Schritt
halten, also zurückbleiben könnten, entsetzt diese Politiker, bzw. die
hinter diesen stehende und drängende Wirtschaft (in deren unhörba­
rem aber unwiderstehlichem Auftrag auch sozialistische Politiker spre­
chen, die nicht wissen wollen oder nicht wissen dürfen, daß sie deren
Mundstücke sind) - ich sage: der Gedanke, daß sie eventuell zurück­
bleiben könnten, erfüllt die Politiker mit so tiefem Entsetzen, daß sie
ihn als „unmoralisch“ , je nach politischer couleur als „asozial“ oder
als „antinational“ verleumden. Positiv: Die Tempi und die Effekte der
technischen Entwicklung akzeptieren sie als verbindlich, sogar als er­
freulich, obwohl die Tempi längst schon unnachvollziehbar, und die
möglichen Effekte längst schon unvorstellbar geworden sind. Und wie
sie sind natürlich wir alle, wie die Regierenden auch die Regierten, zu
Mit- oder Nachläufern der heutigen (zuweilen sogar zu Vorläufern
einer antizipierten) Technik geworden. Mit heraushängender Zunge
rennen wir hinter ihr, der vorwärtslaufenden, her und setzen diesen
Lauf selbst dann noch fort, wenn wir bereits ahnen, daß sie nicht nur
unser Schicksal geworden ist, sondern dessen Ende sein wird. Aber
diese Ahnung versuchen wir durch unser Hinterherhetzen zu übertäu-
ben. Aus unserer Angst davor, hinter Allen zurückzubleiben, werden
wir Alle es so weit bringen, daß wir die Letzten sein werden, und daß
von uns allen wirklich nichts „zurückbleiben“ wird.

§ 14
Wir sind alle Proletarier

Mit dem oben formulierten, wahrhaftig nicht spielerisch gemeinten,


Wortspiel hätte ich diesen Gedankengang gerne abgeschlossen. Aber
die Sache erfordert noch einen letzten Gedanken. Nämlich den, daß
wir alle, gleich ob wir als Arbeitgeber oder -nehmer, ob wir im Westen
oder im Osten morituri sind, während der Zeitspanne, die uns noch
vergönnt sein mag, ein heteronomes Leben führen werden, nein bereits
führen; und darum - ich weiß, wie tief sich der Sinn des Begriffs durch
diese neue Verwendung verändert - nun alle zu Proletariern werden,
richtiger: bereits geworden sind. Neben dem neuen Gegensatzpaar
Technik/Menschheit, das bisher (außer in den noch unzulänglich blei­
benden Ansätzen zur Umweltschutzbewegung und zu Antireaktor­
Aktionen) zu keinem Kampf, geschweige denn zu einem „Klassen­
kampf“ (im neuen Sinne) geführt hat, ist der Klassenkampf im her­
kömmlichen Sinne nun irrelevant geworden. Ganz unwahrscheinlich
ist es, daß wir Neo-Proletarier uns jemals vereinigen werden, um den
gemeinsamen Gegner zu zähmen. Dies ist deshalb so unwahrschein­
lich, weil wir, gleich ob Bewohner von „Hütten“ oder von „Palästen“ ,
bereits geeinigt sind; - weil wir nämlich bereits Schulter an Schulter
und blindlings dem gemeinsamen Friedhofsfrieden entgegenrennen.

§*5

Durch Technik werden w ir ungeschichtlich. Benjamins Bild

Aber zurück zu der Veränderung des Menschen durch die Technik.


Durch diese gerät die Menschheit, wie gesagt, nicht nur in eine andere
Geschichtsperiode, vielmehr in einen Zustand, den man nur als einen
der erneuten Ungeschichtlichkeit bezeichnen kann. Da uns jedes neue
Jahr, nein, jeder neue Tag mit einer „neuen Welt“ konfrontiert,
schiebt sich nun die Menschheit ohne jeden (ob zornigen oder nostal­
gischen) „Blick zurück“ von Tag zu Tag vorwärts, oder richtiger: nur
weiter. Sehr im Unterschiede zu dem von Benjamin als Symbolfigur
eingeführten Kleeschen „Engel“ , der (obwohl von dem sich in seinen
Fittichen verfangenden Geschichtssturm vorwärtsgetragen) sein Ge­
sicht zurückwendet. Denn die heutige Menschheit blickt ebensowenig
zurück, wie sie vorwärtsblickt. Vielmehr bleiben ihre Augen während
ihres Sturmfluges geschlossen, oder bestenfalls auf den jeweils gegen­
wärtigen Augenblick fixiert.
Und selbst die Behauptung, daß wir, seit die Technik über uns
verfügt, geschichtslos leben, ist noch unzulänglich. Die volle Wahrheit
ist vielmehr, daß sich unsere Geschichte in eine pausenlose Geschichte
des Vergessens des jeweiligen Jetzt verwandelt h a t, fr e ilic h in ein e G e ­
s c h ic h t e , d ie ih r e r selb st n ie m a ls b e w u ß t w ir d , a lso g ar n ic h t erst eigen s
ve rg e sse n w e r d e n k an n , u n d d e s h a lb n ic h t e ig en tlic h „ G e s c h i c h t e “ ist,
so n d e rn b lo ß ein unbeobachtetes Nacheinander. D a s b e d e u tet n un
ab e r - u n d d am it k e h re ich z u d e m G e d a n k e n z u r ü c k , m it d e m ich
d iesen E s s a y e r ö ffn e t h a tte : E s ist sin n lo s, v o m h e u tig e n M e n sc h e n ,
g a r v o m h e u tig e n P r o le t a r ie r , d em es d o c h „ s o g u t g e h e “ , z u v e r la n ­
gen , er s o lle , u m z u w is s e n , daß e r k e in P r o le t a r ie r m e h r sei, d o c h n u r
sein e n L e b e n s s ta n d a r d m it d em s e in e r A h n e n v e r g le ic h e n . T r o t z d e r
F ü lle an h e u tig e n G e s c h ic h t s b ü c h e r n (d ie a u s s c h lie ß lic h d ie B o u r g e o i­
sie lie st) ste llt er d en V e r g le ic h n ic h t an , kann er d en V e r g le ic h n ic h t
an ste lle n . W e n n m an d iese n V e r g le ic h d ire k t v o n A r b e it e r n v e r la n g e n
w ü r d e , m an stie ß e a u f ta u b e O h r e n u n d to ta le s U n v e r s t ä n d n is . V o n
sic h au s b lic k e n sie n ic h t z u r ü c k . U n d au ß er ein ig e n K ir c h e n u n d
B r ü c k e n (u n d n ic h t jede S ta d t ist so a lte rtü m lic h w ie P ra g , u n d a u ch
d e r A n b lic k v o n P r a g v e r m itte lt k e in B ild d es fr ü h e r e n L e b e n s) m ah n t
sie h e u te n ic h ts m e h r an „ i h r e " e h e m a lig e W e lt o d e r d ie ih r e r A h n e n .
Ih re V e r g a n g e n h e it ist g a r n ic h t m e h r ih re . B e t ä u b t v o n d er M a s s iv itä t,
d e r R a p id it ä t u n d d em L ä r m d e r g e s c h ic h tlic h e n V e r ä n d e r u n g e n , h a ­
b e n sie n ic h t n u r ih re n E r in n e r u n g s w u n s c h , s o n d e rn a u c h ih re E r in n e ­
r u n g s fä h ig k e it e in g e b ü ß t. D ie s o g e n a n n te „ N o s t a l g i e w e l le “ , d as h e iß t:
d ie M a s s e n p r o d u k t io n k ü n s tlic h e r E r in n e r u n g , b e w e is t n u r , d a ß E r i n ­
n e r u n g „ v o n sic h a u s “ n ic h t m e h r fu n k t io n ie r t . D a s P r o b le m d e r s o g e ­
n a n n te n „ u n b e w ä lt ig t e n V e r g a n g e n h e it “ ist v ie l b re ite r als w ir es g e ­
w ö h n lic h seh e n . D a ß es In h a lte g ib t, d ie v e r d rä n g t w e r d e n m ü ssen , ist
d ie A u sn a h m e . W e r v o n „ V e r d r ä n g u n g “ s p r ic h t, u n te r ste llt im m e r
sc h o n , daß E r le b t e s au s d em K e lle r d es U n b e w u ß te n in d ie h ö h e r e
E ta g e d es B e w u ß ts e in s h in a u fd r ä n g e . A b e r d a v o n k a n n k e in e R e d e
sein. D a es k e in e n K e lle r m e h r g ib t, s o n d e rn im m e r n u r d ie v o n T ie fe
o d e r H ö h e a u sg e s c h lo s se n e J e t z t - E b e n e , b r a u c h t im K e lle r n ich ts z u ­
rü c k g e s ta u t z u w e r d e n .
K u r z : W ir M e n sc h e n sin d w ie d e r so g e w o r d e n , w ie w ir es b is au f
d as In t e r m e z z o , d as n u r ein p a a r lu m p ig e J a h r t a u s e n d e g e w ä h r t h a t,
im m e r g e w e s e n w a r e n : ungeschichtliche Wesen.
1978

D IE A N T IQ U IE R T H E IT
D ER M O D ERN E

Die Antiquiertheit der Kategorie der „ Moderne“


Heute ist jedermann modern

W e r , aus d e r b le n d e n d e n E x h ib it io n is m u s - u n d W e r b e w e lt d es K a ­
p ita lis m u s k o m m e n d , in d ie S tra ß e n , a u c h d ie z e n tra le n G e s c h ä ft s s t r a ­
ß en e in e s s o z ia listis c h e n Sta a te s g e rä t - d e r Ü b e r g a n g v o n B e r li n - Z o o
z u B e r lin -F r ie d r ic h s t r a ß e ist e x e m p la r is c h - , d e r g la u b t n ic h t n u r, a u f
ein e m a n d eren K o n tin e n t g e lan d et z u sein , so n d e rn a u c h in e in e r an d e­
re n Z e it . N e in , n ic h t in d e r Z u k u n f t , so n d e rn in d e r Vergangenheit.
D ie s e r E in d r u c k r ü h r t d a h e r, d aß m an in e in e W e lt z u r ü c k v e r s e tz t ist,
d ie , w ie es d ie v e r g le ic h s w e is e u n v e r lo g e n e re v o r v o r g e s t r ig e W e lt u n ­
s e r e r V o r fa h r e n g eta n h a tte , nicht aus Reizbildern besteht, s o n d e rn
n o c h a u fs r e d lic h s t e au s O b je k t e n , d ie s o „ a u s s e h e n , w ie sie s in d “ . 1
D ie s e s G e f ü h l d e s Z u r ü c k v e r s e t z t s e in s sc h e in t u m s o w id e r s p r u c h s ­
v o lle r , als ja z u m m illio n e n fa c h a u s p o s a u n te n S e lb s tv e r stä n d n is d e r
s o z ia lis tis c h e n S ta a te n d ie Ü b e r z e u g u n g g e h ö r t , d e n n ic h t -s o z ia lis t i­
Fort­
sc h e n w e it v o r a u s , w e it „ fo r t s c h r it t lic h e r “ als d ie se z u sein . A b e r
schrittlichsein ist nicht identisch mit Modernsein. In d e r T a t h a t d er
O s t e n d ie K a t e g o r ie d e r „ M o d e r n i t ä t “ n a c h e in e r M o d e r n it ä t s - E r u p ­
tio n in d e n fr ü h e n z w a n z ig e r J a h r e n v o r ein e m h a lb e n J a h r h u n d e r t
b e re its a u s r a n g ie r t. D a s hat m e h r e r e G r ü n d e .' E in m a l d e n , daß d ie
K a t e g o r ie „ m o d e r n “ n u r in d e r k a p ita lis tis c h e n W e lt e n tste h e n , u n d
n u r in d ie se r G ü l t i g k e i t e r w e rb e n k o n n te . W e n n m a n d ie K a t e g o r ie im
Zusammenhange mit der der (immer modernen) „M o d e " sieht, ist das
ganz klar. Da es im Interesse der Produktion liegt, daß sie so viele
Produkte wie möglich absetze, hat sie auch so häufig wie möglich
neuartige neue zu erzeugen. Das Produkt P, das zuerst auf Grund
seiner Neuigkeit bei der ersten Modevorführung durch Auffälligkeit
verlockend, also „modern“ war; und dann (da ja im Westen jeder seine
Kleidung hat) nur von einer Elite, die sich Überflüssiges leisten kann
und sich durch diese als Elite auszuweisen wünscht und tatsächlich
ausweist, angeschafft wird, dieses Produkt P wird - dies ist der erste
dialektische Umschlag - da niemand nicht zur Elite gehören möchte
oder (aus Sozialzwang) darf, durch Werbung zu einem sogenannten
„m ust" gemacht, das heißt: zu etwas, was niemand nicht haben darf:
zur Allerweltsmode. Ist dieser Moment, in dem jedermann (bzw. jede
Frau) das Produkt trägt, also der Augenblick der Sättigung, erreicht,
dann setzt der zweite dialektische Umschlag ein: Nicht nur der Bedarf
wird vom Produzenten hergestellt, sondern, was weniger bekannt ist,
auch der Überdruß. Es gibt nicht nur eine Werbe-, sondern auch eine
Abwerbe-Industrie. Man redet also der Kundenwelt ein: „dieses
Zeug“ („old stuff“ ) „kann man nicht mehr tragen“ .3 Und da die ersten
modischen Käufer ihrer Prärogative, durch Produkt P aufzufallen, nun
wirklich beraubt sind, glauben sie auch wirklich, etwas Neues zu „be­
nötigen“ , nein, benötigen sie das Neue tatsächlich. Auf diesen Augen­
blick hat der Produzent, um die Weiterproduktion zu gewährleisten,
noch während P 1 in Mode war und von ihm hergestellt und verkauft
wurde, methodisch hingearbeitet; die Phasen von P i und P2 „über­
lappen“ . Noch während er für P 1 wirbt, entwirft er bereits P 2, das
dem P 1 den Garaus machen soll. Und ist dieses P 2 dran, dann
durchläuft es genau dieselbe vita wie sein Vorgänger: auch es wird
dann für jedermann „fällig“ gemacht, jedermann aufgezwungen, um
dann, wenn der Moment der Sättigung erreicht ist, dem von seinem
Produzenten hergestellten Überdruß anheimzufallen, und einer dritten
Produktgeneration den Platz zu räumen. Und was von der Kleidung
gilt, gilt mutatis mutandis von allen Produkten: von Stereo-Anlagen,
Autos, Maschinenpistolen, Tanks und Napalmbomben. Auch die wer­
den rasch unmodern (gemacht), auch die werden durch Modelle neuer
Generationen abgelöst. Und diese nie abreißende Ablösung der Pro­
duktmodelle ist nun die Geschichte von heute, zu der (wie schon oft,
aber ohne geschichtsphilosophische Einsicht bemerkt worden ist) ein
noch nie dagewesenes Prestissimo gehört. Ich füge freilich hinzu - und
durch diese Zufügung kehre ich zu dem vorhin erwähnten Unterschied
zwischen dem Aussehen der kapitalistischen und der nichtkapitalisti­
schen Welt zurück - : diese geschichtsphilosophischen Überlegungen
treffen ausschließlich auf die kapitalistische Welt zu. Daß in vorkapita­
listischen Zeiten „die Zeit langsamer vorwärtsgegangen“ ist als heute,
das heißt: daß Wechsel seltener eingetreten ist, das ist ja eine Binsen­
wahrheit. Aber auch in einem hochindustrialisierten nichtkapitalisti­
schen Lande wie der Sowjetunion ist, trotz der berühmt-berüchtigten
Forderung nach Steigerung des Tempo- und Plansolls, das Geschichts­
tempo langsamer als bei uns. Die spezifische Hektik des Kapitalismus,
die daher rührt, daß täglich im Wettbewerb nicht nur mehr Produkte,
sondern Produkte neuer Art erzeugt werden müssen, die gibt es nicht
in den sozialistischen Ländern, weil sie dort nicht erforderlich ist - es
sei denn, diese Länder fürchten, namentlich auf dem Rüstungssektor,
den Wettbewerb mit den kapitalistischen Ländern zu verlieren. Die
Kategorie des Tempos der Geschichte kann gar nicht wichtig genug
genommen werden. Geschichts- und Zeitphilosophien bleiben so
lange leer, als sie uns keine Auskunft über das ökonomische System
erteilen, dessen „Z eit“ sie untersuchen; und solange sie uns nichts über
das Tempo der untersuchten Zeit verraten. Geschichtliche Zeit ist so
wenig ein „Existenzial“ wie sie eine „Form der Anschauung“ ist. Viel­
mehr ist sie eine Form der Produktion, des Produktionswechsels und
des Konsums.

Der zweite Grund dafür, daß die Kategorie der „Moderne“ in sozia­
listischen Staaten verschwindet (oder, wenn früher nicht dagewesen,
erst gar nicht aufkommt) besteht in der Tatsache, daß „modern“ (min­
destens im Munde der Modemen) ein Auszeichnungswort ist, daß M o­
dernsein Sache einer Elite (oft einer sich als Elite verstehenden außen­
seiterischen Boheme) war, die von den „Unmodernen“ mit bis zur
Pogromhetze reichendem Ressentiment gehaßt und verfolgt wurde.4
Das Wort „modern“ ging zwar, namentlich zur Bezeichnung von
Konfektion, Autos und Kühlschränken, in den volkstümlichen
Sprachschatz ein; nicht aber zur Bezeichnung der eigenen geschichtli­
chen Existenz oder als Name der Epoche („die Moderne“ ). Daß das
elitäre, also anti-egalitäre (gleich ob aristokratische, boheme- oder in-
telligentsiahafte) Moment, das dem Begriff der „Moderne“ anhing,
vom Sozialismus sowenig wie vom Nationalsozialismus5 als Lebens­
ideal hat übernommen werden können, das liegt auf der Hand. Aber
für die weder sozialistischen noch faschistischen Massengesellschaften
des Westens ist dieses „Ideal“ ebenfalls inakzeptabel und unverwend­
bar. Es sei denn, man behaupte, daß in der heutigen Massengesellschaft
niemand unmodern sei. Ein amerikanischer Werbeslogan lautet: „ You
can}t help being up to date“ . In der Tat ist heute ein ganz ungewöhnli­
ches Maß an Widerstandskraft vonnöten, um unmodern zu sein. Und
zwar deshalb, weil heute jedermann dadurch, daß er Zwangskonsu­
ment ist, an den „neuesten Errungenschaften“ automatisch teilnimmt,
und weil jedermann, erzogen durch die „planned obsolescence“ , sich
weigert, sich Gestriges „bieten zu lassen“ - man horche in den D op­
pelsinn dieses Ausdrucks, der sowohl offerieren wie zumuten bedeu­
tet, hinein. Es kann keine Rede mehr davon sein, daß an Modernem
teilzunehmen noch ein Vorrecht oder eine Auszeichnung sei; daß es
noch „Geheimtips“ gebe. Dabei denke ich nicht etwa nur an blue
jeans, nicht nur an die last hits der Unterhaltungsmusik oder an die
Kassettenrecorder, die uns das Trivialste und „Gestrigste“ vermittels
der raffiniertesten und „heutigsten“ Technik ins Haus schleusen, son­
dern auch an die (wie es so schön barbarisch heißt) „Kulturwerte“ : an
diejenigen Produkte, die, etwa zu Beginn des Jahrhunderts, als der
Begriff der „Moderne“ noch modern war, vor allen anderen als „m o­
dern“ rangiert hatten: an die Kunstwerke. Heute gibt es niemanden
mehr, der die in Millionenauflagen reproduzierten und deshalb konsu­
mierten zeitgenössischen Avantgardisten nicht kennte. Sie sind „in “ .
Umgekehrt gilt heute, wer am Neuesten nicht teilnimmt, als nonkon­
formistisch und als spleenig. Durch Nichtbesitz der allerneuesten
„musts“ fällt man heute genau so auf und macht man sich genau so
verdächtig, wie man früher durch Vorwegnahme des Modernen als
„D and y“ aufgefallen war und sich verdächtig gemacht hatte. Seit Jah­
ren rechnet man es mir als Hochmut und als Zeichen „mangelnden
Demokratieverständnisses“ an, daß ich, da ich dafür keine Zeit habe,
keinen Fernseher besitze.
Dazu kommt, daß heute jedermann, wie paradox das auch klingen
mag, auch up to date der Spitzenleistungen der Vergangenheit zu sein
hat. Kein Zähneputzen ohne die „Unvollendete“ , kein Staubsaugen
ohne den „Liebestod“ . Möglich, daß dabei dann und wann ein Samen­
korn in fruchtbaren Boden fällt. Hoffentlich. Aber beabsichtigt ist das
durchaus nicht. Weder von den Produzenten noch von den Konsu­
menten. Was jene betrifft, so lieben diese - dies ist ihre etwa vor einem
halben Jahrhundert gemachte Entdeckung - die „Kulturwerte der Ver­
gangenheit“ deshalb so leidenschaftlich, weil sie diese gratis ausschöp­
fen können. Telemann oder Vivaldi brauchen sie keine Tantiemen zu
zahlen, die Kulturvergangenheit ist billig, eine Goldmine a discretion.
Und was die Staubsaugerinnen angeht, so ist ihnen wichtig allein, daß
etwas aus dem akustischen Wasserhahn strömt, nicht was. Aus diesen
Gründen wird auch Gewesenes „modern“ .

§2

Das heute Modernste: hergestellte Vergangenheit macht modern

Aber selbst damit ist die Dialektik der heutigen Situation noch nicht
erschöpft. Wie paradox es auch klingen mag: Heute gilt nämlich, vor
allem in den U SA, als modern derjenige, der (im Unterschied zu dem
ausschließlich im Jetzt lebenden „man in the street“ ) einen Bezug zur
Vergangenheit, etwas Stammbaumartiges, vorweisen oder vortäuschen
kann: der Pseudo-Aristokrat, der sich mit rustikalen (die Assoziation
„Landadel“ nahelegenden) oder mit „Continental“ (Kultur beweisen­
den) Stücken umgibt. „Leichenteile der Geschichte“ hat Brecht sie
einmal genannt - sehr zu Unrecht. Denn diese „Leichenteile“ verwe­
sen nicht nur nicht, vielmehr nehmen sie, je älter sie werden, einen um
so süßeren Duft an, sie werden durchwegs, wie früher nur Geigen oder
Weine, von Jahr zu Jahr wertvollerer Besitz; und um so köstlicher, als
jedermann weiß, daß sie nicht nur ein schönes Stück Geld gekostet
haben, sondern daß sie bei Wiederverkauf das Vielfache des Einkaufs­
preises erbringen werden; oder noch besser: erbringen würden, denn
als besonders prestigesteigernd gilt es, wenn einer, trotz der täglichen
Wertsteigerung seines Objektes, dieses nicht veräußert, nicht zu veräu­
ßern braucht. Tatsächlich ist es denen, die mit diesen Stücken handeln,
den Antiquitätenhändlern (im Unterschiede zu ihren Vorvätern, den
von Ort zu Ort ziehenden Altkleiderhändlern) gelungen, ihren Zeitge­
nossen, namentlich denen in „geschichtsarmen“ Ländern wie Ame­
rika, weiszumachen, daß alles, was sich aus alter Zeit erhalten habe,
durch dieses sein Alter gewissermaßen geadelt und dadurch ein Kunst­
werk sei; daß der Wert dieser gebrauchten Gegenstände den der
brandneuen und natürlich viel besser funktionierenden hoch über­
steige, weil er eben ein Pres tigewert sei. Oft freilich werden die alten
Gebrauchsgegenstände umfunktioniert und in das Gegenwartsleben
integriert, weil noch nicht alle Eigentümer, namentlich in Ländern mit
utilitaristischen Traditionen, gelernt haben, in der Bewandtnislosigkeit
eines Objektes eine Tugend zu sehen, und im Kantischen „uninteres­
sierten Wohlgefallen“ eine ausgezeichnete und auszeichnende Atti­
tüde. So habe ich in Hollywood einmal ein kirchliches Möbelstück
gesehen, das sich nicht einfach in ein Kunstwerk verwandelt hatte -
eines so zwecklosen Objektes hätte der Eigentümer sich geschämt -
sondern in eine elektrisch beleuchtete Hausbar. Gleichviel, niemals
werden diese ästhetischen Gegenstände einfach „betrachtet“ , vielmehr
besteht der „Kunstgenuß“ der Eigentümer fast immer darin, daß er sie
vorzeigt. Alte Objekte, die so aussehen, als bewiesen sie „roots“ , als
seien sie nicht käuflich erworben, sondern Erbgut, zu besitzen, das gilt
nun als ein Elitezeichen, der Eigentümer als „modern“ , aber gewisser­
maßen nicht deshalb, weil er ein Avantgardist wäre, sondern weil er
sich als ein „Apresgardist" gerieren kann.
Freilich ist auch damit noch nicht das letzte Stadium der dialekti­
schen Entwicklung erreicht. Denn da - diesen Umschlag der Elite­
mode in Massenmode hatten wir ja geschildert - jedermann am Elitä­
ren teilzunehmen wünscht und da dadurch schon seit vielen Jahren die
Nachfrage nach „echten“ Gegenständen unerfüllbar geworden ist, ist
eine „ Antiquitätenindustrie“ eingesprungen, die die Marktlücke aus­
füllt, und zwar mit Gegenständen, die viel älter und viel echter ausse­
hen als die wirklich alten und die echten echten. In der Tat darf man
von diesen unechten Stücken sagen, daß sie die echten Repräsentanten
unseres Zeitalters sind. Da neue Gegenstände besser sind als alte, sind
auch neue alte Gegenstände besser als alte alte. Und kein Partygast
erwartet von dem sinnlosen Spinnrad, das er im Living room seiner
Gastgeberin vorfindet, daß dieses wirklich echt sei. Im Gegenteil:
Schon vor mehr als dreißig Jahren habe ich es bei einer solchen Party
in California erlebt, daß die Wirtin, da sie darauf insistierte, daß ihr
altes Spinnrad wirklich ein „altes altes“ sei, als unsolidarisch empfun­
den wurde und sich äußerst unbeliebt machte.
Ich möchte diesen Paragraphen nicht schließen, ohne von einem
ähnlichen, ebenfalls kalifornischen Erlebnis zu erzählen. Vor fünfund­
dreißig Jahren habe ich in Westwood, California, in dem air condi-
tioned „A rt Room“ eines Hollywood-Would-be-stars ein am Plafond
aufgehängtes (ob echtes oder unechtes, wird es selbst nicht gewußt
haben) Rad eines Arizona-Planwagens gesehen (diese Wagen beziehen
ihren „sentimental value“ von der Rolle, die sie in sogenannten „West-
erners“ (Filmen) spielen); ein Rad, das seine Eigentümerin, wie sie mir
in naiver Schamlosigkeit erklärte, auf einer Prestige lizitierenden A u k­
tion erstanden hatte; und zwar für einen exzessiv hohen Preis, da, wie
gesagt, unverwendbarer Plunder durch seine wahre (oder hergestellte)
Seltenheit, durch seine Nostalgie-Gesättigtheit und dadurch, daß nur
Wohlhabende sich Unverwendbares leisten können, unvergleichlich
viel höhere Preise erzielt als der beste heutige Hausrat. Da hing nun
also das Rad, nicht wissend, wo seine tausend Geschwister (sofern es
in Massenproduktion erzeugt worden war) geblieben waren; und rat­
los, was es mit sich nun anfangen sollte. Denn so bewandtnislos her­
umzurotieren wie sein Pendant: das damals noch ziemlich unbekannte
und als „modern“ erst intendierte, ihm unbegreiflich bleibende „m o ­
bile“ , hatte es keine Lust; und es langweilte sich tödlich. Kurz: Moder­
nismus und Konservatismus (mindestens Protzerei mit einer vorge­
spielten Vergangenheit) schlossen einander nicht nur nicht aus, sie
vollzogen sich sogar zusammen - und das ist in der Tat ein höchst
merkwürdiger Modus von „Geschichtlichkeit“ .

Noch einmal: Unmodernität der Kategorie „m odern“

Aber kehren wir zu unserer Hauptthese zurück: zu der, daß der


Begriff „Moderne“ bereits unmodern sei. Der Hauptgrund für dieses
Unmodernwerden besteht in der Tatsache, daß die Technik zum einzi­
gen Subjekt der Geschichte geworden ist;6 die Technik, die - was nur
scheinbar paradox ist - immer nur aufs ödeste neu sein kann, aber nicht
eigentlich modern. Das gilt wiederum vor allem von den sozialisti-
sehen Oststaaten. Deren ideologische Weichensteller entwerten jedes
im Westen jeweils „modern“ Genannte immer als nur geschmäckle-
risch, als „formalistisch“ , als „bürgerlich“ , als „degeneriert“ ; damit als
eigentlich schon in statu nascendi überholt; damit schließlich als un­
oder gegenfortschrittlich. Und sie akzeptieren Schlüsselwerke moder­
ner Kunst - die Werke Schönbergs und Kafkas können für viele stehen
- erst nach Jahrzehnten; also erst dann, wenn sie schon nicht mehr
„modern“ , sondern bereits oder nur noch Stücke der Vergangenheit
sind, faits accomplis, die, da sie angeblich keine virulente Gefahr mehr
darstellen (denn unterdessen ist ja anderes, „moderneres Modernes“
aufgesprossen), nicht mehr bekämpft zu werden brauchen, auch nicht
mehr gut bekämpft werden können. Aber zum Verständnis ihrer eige­
nen geschichtlichen Gegenwart und zu deren sprachlicher Artikulie-
rung verwenden die Proletarier oder die sozialistischen Staaten die
Kategorie „m odern“ nicht mehr. Und selbst dieser Ausdruck „nicht
mehr“ ist bereits fragwürdig, da er ja noch zu implizieren scheint, daß
sie die Kategorie, die ausschließlich eine der Bourgeoisie und der
„Lumpenbourgeoisie“ : der Boheme, gewesen war, früher einmal ver­
wendet hätten, und daß bei ihnen die Erinnerung an die Vokabel noch
lebendig sei. Höchstens mit-verwendet hatten sie sie. Darum ist es
auch, wie hübsch das auch klingen würde, ungenau, von einem Unmo­
dernwerden der Kategorie „M odernität“ zu sprechen. Denn diese For­
mulierung würde es ja nicht ausschließen, daß Anderes noch modern
sein könne, und nur sie, die Kategorie selbst, nicht mehr modern sei.
Nun, unmodern werden kann eine Mode oder ein Kunstwerk oder ein
Autor nur in der Geschichte der einander ablösenden Moden. Nicht
aber die Kategorie der „Modernität“ selbst. So handelt es sich hier also
um ein geschichtsphilosophisch schwer zu charakterisierendes Ver­
schwinden, das freilich ein fundamentales Ereignis in der Geschichte
der Geschichtskategorien, wenn man will: in der „Geschichte der G e ­
schichte“ darstellt.
§4

Modernität und Fortschritt

Aber kehren wir zurück zu der geschichtsphilosophischen Differenz


zwischen Ost und West. Was wir hier zusammenfassen können, ist das
Folgende: Während der Osten, ohne sich freilich dieses Schrittes be­
wußt zu sein, die Kategorie „Moderne“ bereits hat einschlafen lassen
und viele moderne Meister und Werke des Westens als „unfortschritt­
lich“ abweist, verpönt umgekehrt der Westen (verpönen mindestens
die „fortschrittlichen“ , bzw. advantgardistischen, fürd en vo n d erG e-
sellschaft verwendeten kategorialen Apparat verantwortlichen, Intel­
lektuellen) als „unmodern“ diejenigen Zeitgenossen, die auch heute
noch, sei es in der UdSSR, sei es in den U SA , ohne jedes Vokabelmiß­
trauen die Kategorie „Fortschritt“ als gültig anerkennen und weiter­
verwenden, und die noch immer ihre halb naturalistischen, halb hero­
isierenden Skulpturen und Schinken für Parks und Parteihäuser am
laufenden Band herstellen. In den Grünanlagen einer oberschlesischen
Stadt hat man mich im Jahre 1965 nicht ohne Stolz und Feierlichkeit
zu einer Bronze-Statue einer etwa achtzehnjährigen, rüstig ausschrei­
tenden, eine Sichel schwingenden, natürlich von oben bis unten beklei­
deten Jungfrau geführt, und mir, der ich garnicht neugierig war, dieses
Mädchen näher kennenzulernen, erklärt, diese sei die „ Allegorie des
Fortschritts“ . Das wurde auch, vermutlich für diejenigen, die das nicht
gleich erkennen konnten, auf dem Sockel mitgeteilt. Daß die Maid aus
drei Gründen hochbetagt war: erstens weil sie hätte von Begas model­
liert sein können und noch nicht einmal die Modernität ihrer Urgroß­
mütter, der Statuen Meuniers, erreicht hatte; zweitens weil sie dazu
verurteilt war, etwas zu allegorisieren; und drittens weil sie (obendrein
ausgerüstet mit einem ganz antiquierten und für den Kohlenpott un­
charakteristischen) Gerät, ausgerechnet einen antiquierten Begriff ver­
körpern mußte - davon schwante meinem von keiner intellektuellen
Rechtschaffenheit angekränkelten Mentor nicht das mindeste. Meinen
mitleidigen Seufzer: „D ie Ärmste!“ hat er ganz gewiß nicht ver­
standen.
III

1978

D IE W E L T A L S S IR E N E

§1

Antiquiertheit der Tabus

Wenn ich behauptete, daß durch die „planned obsolescence“


und durch die Möglichkeit indirekter Zerstörung die Schonung alter
Objekte aufgehört hat, so ist damit die Antiquiertheit einer Weltbezie­
hung angezeigt. In der Tat werden nicht nur unsere Geräte täglich
ruiniert, sondern auch unsere Attitüden. So ist z.B. durch die techni­
sche Möglichkeit der indirekten Massentötung (Auschwitz und H iro­
shima) und durch die täglich en masse von den Massenmedien ins
Haus gelieferten Torturen- und Mordszenen der Tabu-Schauder vor
der Gewalttätigkeit abgetötet worden. Das Gleiche gilt von dem -
darin sind sich alle Ethnologen einig - ältesten und immer wieder neu,
zuletzt christlich, formulierten Sexualtabu. Dieses ist nicht nur durch
die Herstellung der Pille aufgehoben worden, sondern auch durch die
Erzeugung und den öffentlichen Verkauf von Pornobildern, -filmen,
-gadgets, von den überall seit zehn Jahren üblichen öffentlichen Schau­
stellungen von Sexszenen zu schweigen; kurz: die Produzenten dieser
Waren haben (weil es eine unverzeihliche Vergeudung wäre, etwas,
was als Ware verwendet werden könnte, nicht als Ware zu verwenden)
auch den Geschlechtstrieb in eine Nachfrage nach Waren, und damit
eo ipso in etwas zu Bejahendes umfunktioniert. Diese Entwicklung
ging von den USA aus und erreichte ihre (seitdem nicht wieder verlas­
sene) Klimax während des Vietnamkrieges - begreiflicherweise, denn
es liegt ja auf der Hand, daß man denjenigen Menschen, denen man die
tägliche Obszönität des Mordens erlaubte, nein: befahl, und den Fami­
lien back home, denen man täglich ohne die mindeste Scheu den ob­
szönen Anblick des Mordens ins Haus lieferte . . . , daß man diesen
Millionen nicht gut die andere, im Vergleich völlig harmlose, Sex­
Obszönität mißgönnen und vorenthalten konnte. Zwar ist die Tatsa­
che, daß das Sextabu nach Jahrtausenden seiner Herrschaft innerhalb
von zwei oder drei Jahrzehnten total gelöscht werden konnte, nieman­
dem unbekannt. Aber außer von ein paar prüden Frauenvereinen wird
diese Löschung von niemandem als das erkannt, was sie tatsächlich ist:
nämlich als eine der epochalsten Revolutionen in der Kulturgeschichte
der Menschheit'
Beinahe überflüssig, zu erklären, daß die herrschende Klasse an der
Freigabe, bzw. an der Demolierung dieses Tabus auch deshalb so leb­
haft interessiert ist, weil sie damit die Unantastbarkeit des für sie letzt­
lich allein interessanten: nämlich des Eigentumstabus erkauft -so fern
man hier von „erkaufen“ sprechen darf. Denn wo sich die Demolie­
rung des Sextabus in Form von Warenverkauf vollzieht, da kaufen ja,
sofern sie Lust haben, dem Angebot zu gehorchen, die Kunden; wäh­
rend für die Produzenten und Händler der Objekte die Freigabe des
Tabus, mit der sie die Nicht-Freigabe des Eigentumstabus „erkaufen“ ,
zugleich profitabel ist. Gleichviel, durch die systematische Freistellung
und Produktion sexueller Erregung besänftigt der Kapitalismus die
Möglichkeit politischer Erregung und moralischen und politischen Be­
wußtseins. So wie man früher körperliche Anstrengungen als Anti-
Sexualia empfohlen hatte, so empfiehlt man heute Sexualia als Anti-
Moralia und Anti-Politika. Unvergeßlich für mich, daß in New York
bereits eine Woche nach der Verwüstung von Hiroshima ein Burlesque
Theatre in N ew Y ork mit den Worten: „Sensational An-atomic
Bombs! Step Inside!“ die Passanten hereinzulocken versuchte. Durch
diese fünf Wörter war nach der Auslöschung der Stadt auch die Tatsa­
che dieser Auslöschung ausgelöscht. Die Aufhebung des Tabus, die
einmal - lang ists her - revolutionär gewesen war, ist, mindestens auch,
zur konterrevolutionären Maßnahme geworden.
§2

Die sirenische Welt

Diese Sexualisierung ist aber nicht etwa nur ein Einzelphänomen


innerhalb unserer Welt. Vielmehr ist sie zu deren Grundqualität ge­
worden, denn unsere Welt ist eine, die wirbt, und die alles, was Werbe­
kraft hat, zu diesem Zwecke einsetzt. Da aber nichts so erfolgreich um
uns wirbt wie der Sexualreiz, tritt die Welt nicht mehr als „sie selbst“ ,
sondern als „sirenische“ auf. Wer durch die Citycenters der Welt­
hauptstädte schlendert, der schlendert nicht mehr zwischen Häuser­
fronten, sondern zwischen meterhohen Lippen, Brüsten und Schen­
keln, die als Werbemittel für Waren jeder Art verwendet werden, auch,
nein: zumeist für solche, die mit Sexus nicht das entfernteste zu tun
haben, wie zum Beispiel - eine solche Werbung habe ich neulich in
Paris gesehen - für Winterreifen. Die „brüsteten“ sich nun mit ihrer
Qualität; oder richtiger - sie qualifizierten sich mit Hilfe von Brüsten.
Unsere Welt ist, wie paradox das auch klingen mag, „m it Nacktheit
bekleidet“ - diese „Nacktheit“ verdeckt die wirkliche Welt so voll­
ständig, daß diese zur Werbe-Unterlage degradiert ist. Von der kapita­
listischen Welt darf man, nein: muß man sagen, daß sie „nicht mehr so
aussieht, wie sie ist“ , daß ihr „eigentliches Aussehen“ (wenn es ein sol­
ches gibt) „ antiquiert“ ist. Während ich in dem kurzen Aufsatz (S. 34)
„D ie Antiquiertheit des Aussehens“ gezeigt hatte, wie Geräteversuchen,
weniger zu scheinen als sie sind, wenn nicht sogar „ nach nichts aus­
zusehen“ , zeige ich hier umgekehrt, wie die Warenwelt durch Stei­
gerung ihrer Sichtbarkeit versucht, mehr zu scheinen, als sie ist, sogar
als bildhafter „Vorschein“ der zu konsumierenden Welt spektakuläre
Sichtbarkeit zu gewinnen. In beiden Fällen besteht eine Diskrepanz
zwischen dem Ding und dessen Aussehen. Die Dinge unserer Umwelt
sind also nicht im gleichen Sinne sichtbar. Vielmehr zerfallen sie in
drei Gruppen: in die Gruppe der Dinge, die gewissermaßen „ so aus­
sehen wie sie sind“ ; die Gruppe derer, die „nach weniger aussehen“ ;
und schließlich derer, die „nach mehr aussehen“ . - Der Ausdruck
„Vorschein“ , den Bloch geprägt hat, und der bei ihm die Vorwegnah­
me des utopischen Glücks durch die Kunst bezeichnet, bezeichnet
hier die Reklame, die als blendender Bote den Waren vorausläuft.
Lücken werden nicht geduldet. Wie durch einen Zauber bedecken
sich über Nacht die, Baugründe abgerissener Häuser einzäunenden,
Bretterwände mit Reklame. Und selbst in einer so unmodernen Stadt
wie Wien dienen die Straßenbahnen als mobile Möbel- und Mineral­
wasserwerber; daß man in ihnen auch fahren kann, ist gewissermaßen
ein altertümlicher Restbestand. Aufs unerwartetste nimmt das Wort
„Werben“ seinen ursprünglichen sexuellen Sinn wieder an. N ur sind
eben die Subjekte des Werbens nicht w ir, sondern die Waren (bzw.
deren Produzenten), die eifersüchtig auf Kundenfang ausgehen, also
als Reizobjekte auftreten müssen. Sie stehen in queue, um uns als
Käufer zu erwerben. Oder sie treten Tag und Nacht als riesige Waren­
Revue auf. Oder schließlich - auch diese dritte Metapher trifft zu - als
ein ungeheurer Sklaven- oder Sklavinnenmarkt, der in manchen Cities
viele Quadratkilometer einnimmt. Diese Revuen oder diesen Marktbe­
trieb nicht zu sehen, ist nicht nur deshalb unmöglich, weil man es sich
im Broadway-Trubel der Weltstädte nicht leisten kann, wie „im Walde
nur vor sich hin“ zu gehen, sondern vor allem deshalb, weil - das
gehört in die noch nicht geschriebene ,,Erkenntnistheorie des Indu­
striezeitalters" - ein Umschlag in die Passivität eingetreten ist; womit
ich meine, daß nicht wir die Welt anblicken, w ir vielmehr von den
ausgestellten Waren und Werbebildern angeblickt werden, und zwar
unentrinnbar; und um so penetranter und schamloser, je künstlicher
das Bedürfnis ist, das aufgestachelt werden soll. Bilder von Semmeln,
die man ohnehin erwirbt und konsumiert, tanzen im Werbeballett
nicht mit, jedenfalls kaum je; immer dagegen die von „Kunstwaren“ ,
auf die jedermann ohne weiteres verzichten könnte. Und wir, die wir
als Bürger der kapitalistischen Welt, das heißt: als Kunden, den A uf­
enthalt auf diesen Märkten nicht vermeiden können (denn wo immer
wir hintreten, ist Markt), wir stellen nun eine Millionenmenge von
Zwangsvoyeurs dar. In solche haben uns die Produzenten, die Waren­
hausbesitzer und die publicity people verwandelt. In Voyeurs, die, von
den unentrinnbaren Bildern umstellt und angestarrt, fortzublicken
nicht mehr imstande sind, nicht mehr imstande sein sollen, nicht mehr
imstande sein wollen - ein Zustand, den sich die Produzenten freilich
nur als Provisorium wünschen: Denn natürlich hoffen diese, nein:
zielen sie ausschließlich darauf ab, daß wir unsere bloß visuelle Bezie­
hung nur als Mittel zum Zweck betrachten, daß wir diese also so rasch
und häufig wie möglich durch die reellere des Erwerbs und Konsums
ersetzen.'
Wir dürfen diese Schilderung nicht schließen, ohne darauf aufmerk­
sam zu machen, daß diese Verwandlung der Welt in eine sirenische
ohne die Erfindung des elektrischen Lichts niemals möglich geworden
wäre. Ohne dieses, also bei bloßem Tageslicht, bleiben die Waren und
die Werbungen zumeist nur „sichtbar“ , sie „sehen“ also nur „so aus,
wie sie sind“ ; sie heben sich nicht, wie sie es bei Nacht tun, vom
Dunkel (oder von der schwächer beleuchteten Konkurrenzware) ab,
sie sind noch nicht unentrinnbar. Genau so wie ihre zweibeinigen
Vorbilder, führen Waren und Warenwerbung ein Nachtleben, und
hätte nicht Gott die Nacht geschaffen, die Werbeindustrie hätte diese
erfinden und herstellen müssen.
Freilich nur erfolgreich ist dieses Nachtleben nicht. Denn den Kon­
kurrenzkampf, den die Waren miteinander führen, den setzen sie nun,
als beleuchtete Waren oder als Lichtreklamen, dadurch fort, daß sie
alle einander zu überstrahlen versuchen, wodurch sie paradoxerweise
ein allgemeines diffuses Gleißen erzeugen, von dem kein einziges
Stück sich mehr abheben kann. Sie löschen also durch ihr Leuchten
einander aus - ein genaues A bbild der kapitalistischen Welt. Gleichviel,
die Rolle der Elektrizität, namentlich des Flutlichts, geht so weit, daß
sie nicht nur Waren im engeren Sinne in Ausstellungsstücke verwan­
delt, sondern auch Stücke der Wirklichkeit, die sie dadurch zu Waren
macht: Gebäude, nein, ganze Stadtteile, werden für die Touristen in
Schauwaren verwandelt, die nun ihrerseits als Werbung für die Reise­
gesellschaftsagenturen und für die Hotellerien dienen. Diese beleuch­
teten Plätze entsprechen den Balkenüberschriften der Zeitungen, die
zum Kauf des Kleindruckteils der Zeitung auffordern. Die angestrahlte
Chiesa San Marco, die in einer Herrlichkeit aufblüht, die ihre Archi­
tekten niemals hätten erträumen können, macht nun Reklame für sich
selbst. Die Chie#sa della Salute hebt sich von der schwarzen Folie der
Lagune so ab, wie ein Juwel von dem Samt, auf dem es liegt. Aber auch
das freilich wieder mit zweifelhaftem Erfolg. Denn da die Posters, die
die Kunden zuhause dazu verführt hatten, ihre Gesellschaftsreise zum
„wirklichen Venezia“ zu buchen, bereits die im Flutlicht erstrahlenden
Kirchen abgebildet hatten, erscheinen den dort Angekommenen diese
wirklichen Kirchen als bloße dreidimensionale Kopien der Reizbilder,
als Kopien, auf die sie mit Langeweile und mit Überdruß reagieren -
was sie sich selbst natürlich nicht zugestehen. Die Medikation, derer
sie sich gegen diese „tristitia post“ bedienen, besteht durchwegs darin,
daß sie die „Pflichtkirchen“ photographieren, also wieder in Bilder
zurückverwandeln. Mit der „Herstellung“ dieser Bilder (die freilich
kaum mehr eine „Herstellung“ genannt werden kann, da der Apparat
selbst alles Erforderliche leistet) schließt sich der Kreis, der mit dem
Reklamebild in dem heimischen Reisebüro begonnen hatte.

Der unsirenische Osten

Aber kehren wir noch einmal, aus dem strahlenden Westen kom­
mend, nach Ostberlin zurück. Wenn dort keine blendenden Lichtre­
klamen um uns werben, so ist das wahrhaftig kein Wunder. Denn wo
Kunden nach Waren, nicht Waren nach Kunden schreien, und wo es
keine Konkurrenten gibt, deren Waren oder Warenbilder man mit
eigenen zu überschreien oder zu überstrahlen gezwungen wäre, da
erübrigt sich Werbung. Aus diesem Grunde sieht der sozialistische
Osten so entsetzlich farblos aus. Und damit sind wir noch einmal bei
der Auslöschung des Sextabus. Da die Universalisierung des Sexreizes,
der im Westen zur Werbung für alles dient, nicht erforderlich ist, hat
auch die Löschung des Sextabus als solchen im Osten offensichtlich
nicht stattgefunden. Und das gilt selbst von der D D R - was ich des­
halb hervorhebe, weil ja das dortige fernsehende Publikum nicht daran
gehindert werden kann, sich über diese Entwicklung zu informieren
und sich von dieser mit-affizieren zu lassen. Wie sonderbar diese Be­
hauptung auch klingen mag - wer vor fünfzig Jahren diese Prognose
gewagt hätte, wäre für toll gehalten worden3 - aber es kann kein Zwei­
fel darüber bestehen, daß die sozialistischen Staaten trotz. ihres Atheis­
mus und ihrer Kirchenrepression die Sexualmoral der monotheisti­
schen Religionen, die Monogamieregel und selbst den Sündenbegriff
(mindestens das schlechte Gewissen) ungleich besser konservieren, als
das die, die Freiheit der Religionen gewährleistenden, kapitalistischen
Staaten getan haben. Verantwortlich für diese auf einem Drittel des
Globus herrschende offizielle Zimperlichkeit ist natürlich auch die Tat­
sache, daß jede revolutionäre Orthodoxie zum Asketismus neigt, nein:
diesen vorschreibt und durchsetzt, weil sie die Lust, von „Libertinage“
zu schweigen, beargwöhnt, eine inkalkulable und Law and Order ge­
fährdende Naturkraft, eine Revolution innerhalb der Revolution, das
heißt: anarchisch zu sein. In China soll es ja angeblich sogar gelungen
sein - ich drücke mich so vorsichtig aus, weil die Sache absolut un­
glaubhaft klingt - die Prüderie so gründlich durchzusetzen, daß die
Mehrzahl der bis Dreißigjährigen ein geschlechtsloses Leben führe.
„Geworben“ wird angeblich erst, wenn man dieses Alter erreicht hat.
Und dann natürlich nicht fü r etwas, sondern um etwas. Eben um die
Partnerin.

Wir haben vorhin gesagt, daß uns die Straßen im Osten altertümlich
vorkommen und mit Zeitweh erfüllen, weil sie, wie in Großvaters
Tagen, die „Redlichkeit“ haben, so „auszusehen wie sie sind“ , und
sich nicht dazu hergeben, als bloße Werbungsfolie zu dienen. Diese
„Redlichkeit“ , die wir nicht wirklich als Tugend verstehen, sondern
als eine Folge von „for ce majeure“ , hatten wir damit erklärt, daß sich,
wo kein kapitalistischer Wettbewerb und kein Übergewicht des Ange­
bots über die Nachfrage bestehe, Werbung erübrige.
Nun, in dieser kategorischen Form ist unsere Behauptung nicht
aufrechtzuerhalten. Werbung, auch pompöse, gibt es auch im Osten.
Am ersten Mai sind die Häuser unsichtbar gemacht unter Bildern und
Transparenten. N ur handelt es sich dabei
1. nicht um Wettbewerb gegen Konkurrenten, die es ja (es sei denn,
man betrachte die gesamte kapitalistische Welt als die Konkurrentin
der sozialistischen) nicht mehr gibt; und
2. nicht um Werbung für Waren. Geworben wird vielmehr für den
Aufbau des Sozialismus oder für das, was sie mit diesem Namen be­
zeichnen; für dessen Macht, dessen Regierung, dessen „Klassiker“ , für
die Erfüllung des Plansolls. Und
3. nicht um Werbung mit Hilfe von Lockmitteln. Nicht mit Hilfe
von Busen und Schenkeln geht man auf Seelenfang, sondern durch
Ausstellung von Einschüchterungsinstrumenten wie Raketenabwehrra­
keten (die nicht „nach mehr aussehen“ als sie sind, sondern nach „w e­
niger“ 4); oder durch Herumtragen von (aufs lächerlichste in Kolossal­
Ikonen verwandelten) Marx- und Lenin-Photos; oder durch das sinn­
lose Vorzeigen von (vielleicht sogar sinnvollen, aber aufs beschämend­
ste in prä-alphabetische Riesenamulette transformierten) Texten. Zwar
kann man nicht leugnen, daß auch diese, am i. Mai regelmäßig ihren
Höhepunkt erreichenden, Werbungen das Aussehen der sozialisti­
schen Städte verändern. Da aber, im Unterschied zu den Lockbildern
des Westens, die von Tag zu Tag wechseln, weil sie es müssen, um uns
von neuem gierig und neugierig zu machen . . . da aber die Kolossalbil­
der dieselben sind wie am i. Mai des Jahres zuvor (und selbst bei
Ersetzung eines Kultporträts durch ein anderes beinahe dieselben
sind), gebricht es ihnen an jener die Neugierde aufstachelnden Attrak­
tionskraft, die man, ob man es will oder nicht, den westlichen Lockbil-
dern nicht absprechen kann. Ebensowenig kommt jener vorhin behan­
delte Effekt des Richtungswechsels zustande, durch den die Menschen,
statt Bilder anzublicken, von diesen angeblickt werden. Vielmehr blei­
ben beide: Bilder wie Menschen, gelangweilt und blicklos.5Und wenn
es bei diesen feierlichen Anlässen etwas gibt, was die Masse wirklich
überwältigt, so ist es höchstens - die Imposanz dieser Masse selbst.
1955

Phantastik als Realismus

Es gibt Erlebnisse, die man „historische Kurzschlüsse“ nennen


könnte: Augenblicke, in denen geistige oder künstlerische Erscheinun­
gen, deren Zusammenhang vorher unsichtbar geblieben war, plötzlich
zusammenschießen.
Jüngst war ich Zeuge eines solchen Kurzschlusses. Und da die fol­
genden kunstphilosophischen Überlegungen über „ Phantasie im Zeit­
alter der phantastisch gewordenen Wirklichkeit" ihr Dasein diesem
Kurzschluß verdanken, w ill ich von diesem Erlebnis berichten.
V or einiger Zeit besuchte ich, zusammen mit einer Achtzigjährigen,
einer außergewöhnlich gescheiten Dame, die in ihrer Jugend als ebenso
scharfzüngig wie kunstverständig gegolten hatte, eine Ausstellung sur­
realistischer Malerei. Für sie stellte dieser Besuch ihre erste Begegnung
mit dem Surrealismus dar, obwohl dieser natürlich alles andere ist als
eine heutige Bewegung - in der Tat nahm er ja vom Paris der zwanzi­
ger Jahre seinen Ausgang. Gleichviel: der Geschmack der alten Dame
war ein für allemal durch die französische Malerei des neunzehnten
Jahrhunderts geprägt worden, namentlich durch die große impressio­
nistische Malerei, die als „Moderne“ zu Beginn des Jahrhunderts
Deutschland erobert hatte. Was danach gekommen war, hatte sie (so­
fern sie davon überhaupt N otiz nahm) nur als Zeugnisse von Re-
Barbarisierung abgetan. Ich fühlte mich also nicht gerade sehr behag­
lich, die alte Dame, deren Mund mehr denn je auf dem rechten Fleck
saß, dazu überredet zu haben, diese „Expedition ins Übermorgen“ zu
unternehmen, und nicht ohne Ängstlichkeit beobachtete ich nun, wie
sie da, hart mit ihrem Krückstock aufschlagend, von Bild zu Bild
humpelte, und wie sich die Falte vor jedem neuen Bild tiefer in ihre
Stirn eingrub.
Aber was mich ungeduldig machte, war nicht nur, ihren privaten
Eindruck zu erfahren; sondern ich war gespannt auf etwas Grundsätz­
licheres; auf etwas geradezu Geschichtsphilosophisches: darauf nämlich,
wie der durch Manet, Monet und Renoir geprägte Geschmack von
Vorvorgestern auf die (von diesem Vorvorgestern aus gesehen) noch
„zukünftigen“ Kunstwerke reagieren würde; wie also die Begegnung
der beiden Zeitalter ausfallen würde. „N a “ , fragte ich schließlich, um
sie zu provozieren, denn sie war, obwohl wir, ohne auch nur ein
einziges Stück auszulassen, zwei vollgehängte Säle wortlos absolviert
hatten, völlig stumm geblieben.
Daß sie indigniert sein würde, hatte ich natürlich vorausgesehen.
Und indigniert war sie. Und doch war die brüske Bemerkung, die sie
nun machte, völlig überraschend. Was sie indignierte, war nämlich
nicht etwa, daß die Stücke zu übermorgig, sondern, daß sie zu vor­
gestrig waren. Als sie mit ihrer etwas krachenden Stimme hervorstieß:
„Alles Böcklin!“ , klang es wie ein Todesurteil.
Wir standen vor einem Stück, auf dem sich aus einer nackten, nur
von gipsernen Figurentorsi „belebten“ Landschaft höchst säuberlich,
beinahe pedantisch gemalt, eine Art von gigantischer Schreibmaschine
erhob, die transmissionsriemenhaft aussehende Wurzeln in den Boden
hinabschickte, während sie aus ihrer eingeweide-artigen Apparatur
teils hochrote Pfingstrosen, teils in gleicher Farbe manikürte Fingernä­
gel heraussprießen ließ. - „Böcklinhaft?“ fragte ich verblüfft.
„Was denn sonst, junger Mann!“ entgegnete sie. „Alles ist vergeb­
lich gewesen! N ur am Gegenständlichen kleben die Herrschaften also
wieder. Nur an ihren phantastischen Gegenständen! Genau wie die­
ser“ - sie suchte nach einem tödlichen Namen für den Mann, der für
sie der Inbegriff der Pseudokunst war - „genau wie es dieser Antiken­
Schwengel meiner Jugend gewesen war. Was damals seine Zentauren
waren, sind heute die sprießenden Schreibmaschinen. Aber die Quali­
tät der Malerei - des Malens wohlgemerkt, nicht die des gemalten
Sujets-, die interessiert sie überhaupt nicht!“
„M ir scheint“ , widersprach ich, „eine gewisse handwerkliche Per­
fektion kann man den Bildern nicht absprechen.“
„Eine gewisse gewiß nicht“ , gab sie höhnisch zu. „Eine gewisse
handwerkliche Perfektion spreche ich ja auch den schwermütigen
Schinken von Böcklin nicht ab. Glasiert sehen sie aus. Wie frisch ge­
bohnerte Melancholie.“ Bedrohlich erhob sie ihren Stock, um vor der
sprießenden Schreibmaschine hin und her zu fuchteln; und ich drehte
mich etwas ängstlich um. „Diese inferiore Art von Perfektion will ich
auch diesem Ding hier nicht absprechen. Geölt wirkt es. Lackiert.
Nicht anders als frisch lackierte Schreibmaschinen eben aussehen sol­
len. Aber Lackiertheit gehört zur Perfektion des Gegenstandes, den sie
darstellen; nicht zur Perfektion des Bildes. Quod erat demon­
strandum.“
Das gab ich zu, wenn auch nur, um ihren fuchtelnden Stock zu
beruhigen. Aber mein sacrificium war vergeblich. Denn nun war sie in
Gang. „Und von Phantasie“ , fuhr sie nämlich fort, „kann hier natür­
lich gar keine Rede sein. Wenn Phantasie irgendwo nötig war, so, um
die wirklichen Schreibmaschinen zu konstruieren oder die wirklichen
Flugzeuge. Der Erfinder ist heute der wahre Phantast; er ist es, der die
Wirklichkeit wirklich ummodelt. Aber um diese an sich schon phanta­
stischen Gegenstände noch einmal zu deformieren, so wie hier - daß
dafür Phantasie erforderlich ist, das, junger Mann, das werden Sie mir
nicht weismachen.“
Von neuem nahm ich Rücksicht auf den fuchtelnden Krückstock.
„Gewiß nicht“ , sagte ich.
„Von den Nähten natürlich ganz zu schweigen“ , fuhr sie fort.
„Wovon?“
N un geriet ihr Stock vollends in Rage. „H ie r und hier und hier.
Sehen Sie denn nicht alle diese Nähte zwischen den Tasten und den
Fingernägeln, zwischen dem Organischen und dem Unorganischen,
zwischen den mit pedantischstem Realismus ausgepinselten Einzelhei­
ten? Und wie die Nähte alle platzen? Und wie überall die Füllung
herausquillt?“
Mir lag es auf der Zunge, etwas einzuwenden über die Absichtlich­
keit des Kontrastes; darüber, daß in der heutigen Welt Disparatestes
zusammenmontiert, oder, in ihren Worten, „zusammengenäht“ sei;
Lebendes und Lebloses; daß es oft gerade das Lebendige sei, dem reine
Ding-Funktion zugemutet werde, während gerade Dinge - in Form
ungeheurer Institutionen oder ungeheuerlicher Geräte - das „L eb en “
unserer Epoche ausmachen; daß das bloße Nebeneinander, das Schein­
organische, die Sichtbarkeit „platzender Nähte“ . . . daß das alles gar
nicht Phantasieprodukt der Surrealisten sei, daß diese vielmehr durch
die Betonung dieser Züge die Realität unserer heutigen Welt erst voll­
ends sichtbar machten. Aber die Alte war nun außer sich, sie schalt wie
eine Hausfrau, die erbärmliche Schneiderarbeit zurückweist, kurz: Ihr
Ausbruch war ein Naturereignis, das zu unterbrechen völlig vergeblich
gewesen wäre. „M it so was wagt man, mir zu kommen?“ schrie sie
heiser, und die Ausstellungsbesucher blickten uns erstaunt an - „mit
solcher Flickarbeit? Habt Ihr Grünschnäbel denn niemals ein Monet­
bild gesehen?“
„D och “ , meinte ich betreten.
„Und? Habt Ihr da je eine Naht entdecken können? Keinen einzi­
gen Webefehler gibt es da! Alles aus einem einzigen Tuch! Und nicht
die mindeste Prätention dabei! - Aber das da? Da fällt ja alles auseinan­
der! Das hält ja nur der Rahmen zusammen! Das ist ja . . . “ „ Rein
additive Phantasie” ergänzte ich gegen meine bessere Überzeugung,
aber in der Hoffnung, ihren Katarakt in eine stillere und akademi­
schere Sprache hineinzukanalisieren. Denn ihre Stimme hatte sich
überschlagen, und das Publikum umringte uns bereits.
„N a, sehen Sie!“ krächzte sie triumphierend. „Reine Addition! Hier
die bloße Addition von Apparat und Gewächs, von Anorganischem
und Organischem - so wie bei unserem famosen Böcklin nichts gewe­
sen war, als reine Addition von Pferdeleib und Menschenkopf!“
„Richtig“ , sagte ich scheinheilig (denn die Leute um uns lachten
bereits), nahm sie ziemlich energisch unter den Arm, bahnte mir einen
Weg durch die Menge und führte sie in den Nebensaal, wo ich sie auf
einen Sessel placierte. „Im übrigen“ , meinte ich dann in der Illusion,
sie damit zu beruhigen, „soll es ja die Verbindung von Pferdeleib und
Menschenkopf auch schon früher gegeben haben; in der Mythologie
der Griechen zum Beispiel. Und nun verschnaufen Sie sich.“
„Ich mich verschnaufen?“ - meinte sie gekränkt. Mir kam der Arg­
wohn, daß sie sich gerne aufregte. „Haben Sie mich deshalb hierher
expediert?“
Das wies ich weit von mir.
„N a also. Was aber Ihre Griechen angeht, junger Mann, von denen
versteh ich nicht viel. Aber ich nehme an, die haben Wesen, die Tier
und Mensch waren, auch wirklich gemeint; und nur dasjenige darge­
stellt, was für sie eines war und was sie glaubten: also nicht erst mit
dem Pinsel die Kombination hergestellt, wie unser famoser Böcklin,
der das Kentaurische nur beteuerte. Phantasie ist nämlich nur dort
echte Phantasie, wo sie gar nichts davon weiß, daß sie phantasiert. Und
darum zeigen die antiken Kentauren auch keine Nähte.“
Das durfte ich wirklich bestätigen. „A ber daß gerade Sie Glauben
vermissen“ , meinte ich, „das überrascht mich doch etwas. Sind denn
Manets oder Monets Bilder vielleicht Glaubensdokumente?“
„O b Sie sie so nennen oder nicht, ist mir gleich. Vielleicht sind sie
auch gerade deshalb so überzeugend, weil sie nichts vorgeben, woran
sie nicht glauben. Im übrigen bin ich ziemlich fest davon überzeugt,
daß Monet oder Pissaro an die flirrende Hitze über dem sommerlichen
Garten tiefer geglaubt haben als Böcklin an seine Toteninseln oder
seine Pferdefüßler - ganz abgesehen davon, daß ihm eben, wie gesagt,
alle Phantasie fehlte!“
Da w ar es also wieder. „Gnädige Frau“ , sagte ich. „Darin übertrei­
ben Sie wirklich.“
Aber sie w ar dieser Sache so sicher, daß sie noch nicht einmal auf­
fuhr. „Niemals“ , sprach sie. „Aber, daß Böcklin originelle oder gar
phantastische Augen gehabt habe, das werden Sie mir nicht weisma­
chen können. Was er zusammenphantasierte, das war lediglich in sei­
nem Inhalt phantastisch. Aber die Art, wie er es präsentierte, war
völlig phantasielos. Eigentlich präsentierte er es wie etwas Wahrge­
nommenes, so, als hätte er das Phantasierte nach der Natur gemalt;
oder wie er, ohne durch die Reinigungsschule des Impressionismus
gegangen zu sein, Dinge wahrzunehmen glaubte. Ja, manches scheint
geradezu photographiert. Ist Ihnen denn niemals aufgefallen, daß sein
berüchtigtes ,Spiel der Wellen' aussieht wie ein um Jahrzehnte vor­
weggenommenes Farbphoto? Beinahe wie eine auf Glanzpapier ab­
gezogene Aufnahme einer mythischen Helgoländer Badeszene? Der
mit dem Schmerbauch, der übrigens nicht ohne Humor dargestellt
ist, sieht aus wie mein seliger Schwager: der typische Kommerzien­
rat.“
„N a sehen Sie“ , meinte ich froh, daß sie ihre Aufregung durch ihren
eigenen Humor überwunden hatte. „Daß man nicht straflos im Zeital­
ter der Photographie den Phantasten spielen kann, will ich gar nicht
leugnen. Sein hemmungsloses Phantasieren ist vielleicht geradezu eine
Antwort auf die Vorherrschaft der Photographie. Er war eben pole­
misch abhängig vom Zeitgeist.“
„Sehen Sie. Wie jeder Reaktionär.“
Das gab ich zu. „A ber wenn Sie Böcklin Phantasielosigkeit vorwer­
fen - finden Sie denn, die Impressionisten hätten mehr Phantasie be­
sessen?“
Sie blickte mich an, als hätte ich eine kapitale Dummheit von mir
gegeben. „A ber ich bitte Sie! Sich so freizumachen von der Sehge­
wohnheit von Jahrhunderten, wie es die Impressionisten taten - erfor­
dert das nicht größere Phantasie, als sich freizumachen von den Ge­
genständen, die wir wahrnehmen?“
Daran war etwas. „Vielleicht“ sagte ich.
„D ie originellsten Augen hatten sie. Obwohl sie ausschließlich
Wirkliches gaben - Monet nicht weniger als Manet oder Sisley. Jeder
sah auf eine andere Art; ihre Phantasie stak schon in ihrer Wahrneh­
mung, und sie hat unsere Wahrnehmung so tief beeinflußt, daß wir
heute noch mit ihren Augen sehen.“
„U nd die hier? D ie Surrealisten?“
„Sind eben auch darin Böcklinge. Sie konkurrieren mit Buntphotos.
Diese Schreibmaschine hier scheint eine direkt in die Einöde hinein­
montierte Katalogphotographie. Und phantastisch ist allein, daß sie
Blüten ansetzt. Und das ist nicht meine Sache.“
Mit diesen Worten erhob sie sich energisch. Und marschierte, ohne
meinen Arm anzunehmen, durch die Säle zum Ausgang. Als wir drau­
ßen standen, wies sie mit ihrem Stock auf den ersten blühenden R o t­
dorn. „D as nenn ich mir phantastisch“ , meinte sie schmunzelnd, „ob­
wohl er keine Tasten hat“ , winkte einem Auto und war verschwunden.

§2

Realismus als Phantastik

Seine Bilder sehen aus wie drittklassige Imitationen von Trübner-


schen Landschaften. Eines Tages aber erklärte er mir mit wahrhaft
entwaffnender Ignoranz - denn die Wellen der Kunstmoden und -dis­
kussionen hatten sein steirisches Städtchen niemals erreicht - , daß die
Kunst nun zeitnäher werden müßte und zeitgemäßer. Daß er sich
deshalb mit dem Gedanken trage, die Atombombe zu malen. Was ich
davon hielte.
„Wenig“ , antwortete ich.
„U nd warum das?“
„ Weil die Atombombe zu unansehnlich ist.“
Er glaubte, falsch gehört zu haben.
„Jaw ohl, zu unansehnlich, verglichen mit ihrer phantastischen Rea­
lität: also mit der Gefahr, die sie in sich birgt. Versuchen Sie einmal,
meine Behauptung in einem philosophischen Sinne zu hören: also in
dem, daß man der Bombe nicht ansieht, was sie ist. Und daß es grund­
sätzlich kein Aussehen geben kann, das dieser Realität wirklich ent­
spräche.“
Er runzelte die Braunen.
„ Ansehnlich nenne ich etwas“ , erläuterte ich, „dem man ansieht,
was es ist. “
„Zum Beispiel?“
„Ihr Gesicht. Oder meines. In meinem erkennen Sie mich. In Ihrem
sehe ich Sie. Mehr oder minder alle Dinge: denn alle haben ein Gesicht.
Auch Tiere. Auch Geräte. Auch das Haus. Sogar der Sommertag.
Darum ist es, wenn man derartiges schildern will, auch rechtmäßig,
deren An- oder Aussehen abzubilden.“
„Derartiges? - Eben haben Sie doch gesagt, alle Dinge hätten ein
Gesicht.“
„Hatten. Alle hatten eines. - Aber heute gibt es eben Dinge, die
irgendwie zwar aussehen; deren Aussehen ihrer Wirklichkeit aber so
unangemessen bleibt, daß es a u f bloßen Schein und Schwindel hinaus­
läuft. “
„Pah“ , meinte er in vager Erinnerung an irgendeinen erkenntnis­
theoretischen Gemeinplatz, „jedes Aussehen läuft auf Schein und
Schwindel hinaus.“
„Dann findet in unserem Falle eben ein doppelter Schwindel statt;
ein doppelter Schein.“
Das verstand er nicht.
„Schon daß diese Dinge ein Aussehen haben, ist dann eben ein
Schwindel; und Schein, wenn Dinge, deren Wirkung unabsehbar ist,
den Anblick übersehbarer sichtbarer Gegenstände darbieten. Es han­
delt sich dabei gewissermaßen um schwindelhafte Bescheidenheit: weil
sich ,Übersinnliches‘ mit dem harmlosen und unscheinbaren Aussehen
kommensurabler sinnlicher Dinge bescheidet.“
„Übersinnliches?“ wiederholte er stirnrunzelnd.
„Ja . - N ur dürfen Sie das Wort hier nicht in einem religiösen Sinne
verstehen. Aber doch in einem Sinne, der den Ausdruck vollauf recht­
fertigt. Eben in dem, daß unsere Sinnlichkeit grundsätzlich zu kurz
greift, wenn sie solche Dinge wahrzunehmen versucht; und daß, wer
sie nachbildet, gleichfalls versagt, gleichfalls grundsätzlich, weil das
Aussehen dieser Dinge deren Wahrheit eben nicht verrät. Und zu
dieser Klasse von Gegenständen gehört nun also die Atombombe.
Denn sie sieht aus wie ein Gegenstand unter anderen, also harmlos;
obwohl sie vielleicht das Ende aller Gegenstände überhaupt werden
kann. Ihr Aussehen ,vertuscht‘ somit bereits ihr Sein. Wenn Sie sie
malen wollten, würden Sie diese Vertuschung mitmalen müssen. Ob
Sie wollen oder nicht. Jedes noch so realistische Bild der A-Bombe
würde dadurch au f eine Verniedlichung hinauslaufen. Jedes würde
phantastisch unrealistisch‘ werden: jedes automatisch ein Genrebild.“
„Immer besser“ , rief er. „E in realistisches Bild automatisch ein
Genrebild!“ Er lachte dumm.
Ich nickte nur.
„Haben Sie noch mehr solche Widersprüche auf Lager?“
„Ich? Die Wirklichkeit hat sie auf Lager.“ Damit hoffte ich ihm den
Mund gestopft zu haben. -

Den aber länger als ein paar Augenblicke zu halten, ging über seine
Kraft. „U nd selbst wenn Sie recht hätten“ , begann er von neuem, und
sogar patziger als vorher, „wozu sind wir denn Künstler? Wozu haben
wir denn unsere Vorräte? Wenn unsere Wahrnehmung nicht ausreicht,
dann rufen wir eben unsere Phantasie zu Hilfe.“
„G ew iß.“
Er war verdutzt.
„Sie rufen also Ihre Phantasie zu Hilfe. - Meinen Sie, um den wirkli­
chen Gegenstand darzustellen? Den Gegenstand, dessen Aussehen zu
unansehnlich ist. Um diesen nun angemessener darzustellen? Oder gar
angemessen?“
„A ber natürlich“ , antwortete er mit großer Bestimmtheit, vermut­
lich ohne sich etwas sehr Bestimmtes dabei zu denken.
„.Natürlich* ist gar nichts. - Aber neuartig wäre das schon.“
„D ie Phantasie zu Hilfe zu rufen?“
„Das nicht. Aber wozu Sie sie beriefen. - Frühere Künstler hatten
das nämlich getan, um die Wirklichkeit zu übertreffen. Sie dagegen
täten es, um die Wirklichkeit zu treffen; um ihr dadurch besser ge­
wachsen zu sein: also um Realist zu bleiben. - Scheint das nicht auch
Ihnen neuartig?“ -
Gedanken, die er nicht sofort auffaßte, hielt er für Tricks: „Was Sie
einem nicht alles in den Mund legen“ , meinte er also vorwurfsvoll.
Und dann, und nicht ohne Stolz: „Im übrigen würde mich Neuartig­
keit nicht so sehr erschrecken.“
„Und mich Ihre Unerschrockenheit nicht so tief beeindrucken. Mut
zur Neuartigkeit auf dem Schlachtfeld des Zeichenblocks oder der
Leinwand ist kein so imposantes Heldentum.“
Er zuckte mit den Schultern.
„Im übrigen“ , fuhr ich fort, „sagt sich das viel zu leicht, daß man
seine ,Phantasie zu Hilfe rufe*. Versuchen Sie das einmal bei der Atom­
bombe.“
„Was meinen Sie damit?“
„D aß sie derart phantastisch ist, daß ihr nicht nur unsere Wahrneh­
mung, sondern auch unsere Phantasie nicht gewachsen ist.“
„Ach. - Und die Tatsache, daß wir sie uns haben ausdenken können?
Die beweist nichts?“
„Was soll die denn beweisen?“
„Daß unsere Phantasie ihr eben gewachsen ist.“
Ich schüttelte meinen Kopf.
„ Wir könnten uns also D inge ausdenken, die w ir nicht ausdenken
können?“ Er sah mich triumphierend an.
„ Genau das. Und ausgezeichnet formuliert. N ur müssen Sie die
Vorsilbe ,aus‘ dabei so verstehen wie in den Worten ,auspressen‘ oder
,austrinken‘ ; also ,ausdenken‘ in dem Sinne von: eine Sache bis auf
ihren letzten Tropfen denken. Und das können wir bei der Atom ­
bombe nicht. Wir sind kleiner als wir selbst; durchaus nicht a u f der
Höhe dessen, was w ir selbst erfinden und machen können; und selbst
unserer Phantasie, oder den Produkten unserer Phantasie, ist unsere
Phantasie nicht gewachsen; gewiß nicht deren Konsequenzen.“
Daß er auf diese Behauptung, die für mich der Angelpunkt des
Arguments war, mit einem witzelnden „dem bin ich nicht gewachsen“
reagierte, war wirklich entmutigend.
„Und ich bin Ihrem Unernst nicht gewachsen!“ fuhr ich ihn an.
„Liegt Ihnen etwas an Ihrem Problem oder nicht?“
E r blickte mich sehr überrascht an.
„Sonst gehe ich nämlich.“
Er nickte betreten. Sogar nicht ganz ohne Bewunderung. „Sie
verstehen es wirklich gründlich, einen durcheinanderzubringen.“
„Lernen Sie doch endlich dazu!“ rief ich. „Daß nicht ich es bin, der
Sie durcheinanderbringt. Sondern die Wirklichkeit! Die Sie so ver­
wirrt, weil sie selbst so verwirrt ist. Und sie, die eben unsere respekta­
ble Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Phantasie über den
Haufen gerannt hat.“
Er lehnte sich stöhnend nach hinten. „A lso schon wieder etwas
Neues.“
„Durchaus nicht. Sondern immer dasselbe. In immer neuer Wen­
dung. - Früher hatten wir doch wohl geglaubt, die Wahrnehmung
ziele auf Wirkliches; die Phantasie aber auf Unwirkliches. Oder?“
„Ich glaube schon“ , meinte er lustlos.
„U nd mit Recht. - Aber nun sind beide auf eines und dasselbe
bezogen: beide auf Wirkliches. Jawohl, auch die Phantasie. Denn dies­
mal ging es Ihnen ja, als Sie sie zu Hilfe rufen wollten, nicht darum, das
Wirkliche zu übertreffen; sondern darum, die ,phantastischen' W ir­
kungen des Wirklichen angemessen zu verbildlichen. Aber das gelang
Ihnen nicht. Ihre Phantasie blieb, genau so wie die Wahrnehmung, im
Unwirklichen; weil sie das Wirkliche, statt es zu treffen oder gar zu
übertreffen, nur untertreffen konnte. Da also beide: Phantasie wie
Wahrnehmung, gleicherweise zu kurz tragen und einander in ihrem
Versagen so gleichen, habe ich das Recht zu behaupten, daß sich der
Unterschied zwischen ihnen verwischt hat.“
Dazu schwieg er. Offenbar war er jetzt doch so weit desorientiert,
daß er auf extrakluge Bemerkungen keine Lust mehr hatte. Diese
Chance durfte ich nicht ungenützt lassen. „Glauben Sie aber nur
nicht“ , fuhr ich deshalb fort, „daß diese Überlegungen nur unsere
Beziehung zur Atombombe oder ähnlichen Geräten betreffen. Es geht
um Grundsätzlicheres. Nämlich um unsere Beschränktheit.“
„Auch dieses Wort im philosophischen Sinne?“
„A uch dieses Wort“ , sagte ich etwas hoffungsvoller. „Vergleichen
Sie doch einmal den Horizont unserer Sinnlichkeit (den unserer Augen
z. B „ den wir gewöhnlich ,Horizont‘ nennen) mit dem Umkreis des­
sen, wovon wir effektiv abhängen; was uns effektiv angeht; was uns
effektiv bedroht. Also sagen wir ruhig: mit dem Horizont unserer
heute wirklichen Welt.“
Er zeigte auf eines seiner Landschaftsbilder. „Sie meinen einen sol­
chen Horizont wie den da?“
„Ja . Diesen. Den Horizont unserer Sinnlichkeit. Den vergleichen
Sie einmal mit dem wirklichen. Ist er nicht lächerlich beschränkt? Weil
wir als sinnliche Wesen eben lächerlich beschränkt sind? Ist er nicht
ein Dorfhorizont? Ich gebe zu, daß Ihr Bild, im Sinne unserer Be­
schränktheit, durchaus realistisch ist. Aber unsere Beschränktheit ist
eben nicht realistisch. Wie realistisch Ihr Bild sich auch geben mag -
durch diesen seinen Dorfhorizont verleugnet es die Realität unserer
wirklichen Welt. Darum wirkt es, und gewiß nicht nur auf mich, be­
langlos und nichtssagend. Wenn nicht sogar unwahr.“
Er biß sich auf die Lippen.
„Ich weiß: was ich Ihnen jetzt sagen werde, wird Ihnen zuerst para­
dox klingen. Aber Sie sind ein Phantast, weil Sie noch ein ,Realist‘ sind.
Bestreiten Sie es nicht so hastig. Denn was ich meine, ist, daß Sie sich
als Realist in den engen Bezirk unseres sinnlichen Horizonts zurück­
ziehen; also, da dieser beschränkte Horizont nicht der wahre unserer
heutigen Welt ist, in einen unwirklichen und phantastischen. Als Rea­
list sind Sie Eskapist.“
„D as ist nun aber wirklich die Höhe“ , fand er. „Realismus als Eska­
pismus.“
„Ich habe Ihnen ja gesagt, es wird widerspruchsvoll klingen. Ich
gebe zu, das tut es. Besonders wenn man an die Leistung denkt, deren
Verdienst ja gerade darin bestanden hatte, den Schlupfwinkel des E s­
kapismus auszuräuchern.“
„Eben“ , sagte er, als hätte ihm dies Argument auf den Lippen
gelegen.
„Beide Schlupfwinkel sogar: den der Romantik und den des Klassi­
zismus.“
„E b en “ , wiederholte er.
„U nd trotzdem“ , sagte ich. „Denn heute hat sich die Situation eben
um 180° gedreht: Wer heute einen Weltausschnitt so wiedergibt, wie er
sich der Wahrnehmung bietet, also ,realistisch‘, der flieht, da das
Wahrnehmungsbild mit dem bildlosen Bild unserer heutigen horizont­
losen Welt nichts mehr zu tun hat, in einen Elfenbeinturm - auch
wenn er diesen Turm mit der Portalaufschrift ,Wirklichkeit‘ tarnt, um
sich und andere zu beschwindeln.“
E r machte ein beleidigtes Gesicht.
„A ber ich bitte Sie“ , beruhigte ich ihn. „W o Sie doch in so zahlrei­
cher Gesellschaft sind! Einer von Hunderttausenden! Was sind denn
z.B . unsere heutigen Filme - 99 % von ihnen - anderes als Eskapaden
von der Wirklichkeit, und zwar eben schwindelhafte, weil sie sich dazu
des realistischen Mittels der Photographie bedienen?“
E r winkte ab.
„U nd was tut denn die knipsende Menschheit anderes, die Legion
der Amateure, die herumzieht und Ihnen Konkurrenz macht!“
Er winkte noch verächtlicher ab.
„Durch ihre scheinbar realistischen Bilder versuchen sie, den phan­
tastisch horizontlosen Charakter der Welt abzublenden und sich weis­
zumachen, daß die Welt ganz normal aussehe und darum auch so sei.
Selbst die Photos aus der ,weiten Welt‘ , die in gewissem Sinne viel­
leicht den ,Horizont erweitern“ und ein gewisses globales Bewußtsein
schaffen mögen, verengen ihn doch, weil eben jedes einzelne Photo ein
bloßes ,H ier‘ gibt, obwohl die heutige, horizontlose Welt ,hier-los'
geworden ist. Kurz: der optische Ausschnitt als solcher, der eine zu
enge Welt vortäuscht, ist, da heute jeder Punkt der Erde von jedem
anderen her erreichbar, bedrohbar, ja bedroht ist, unwahr. Das gilt
vom Photo, das gilt vom gemalten Bilde: die Friedlichkeit Ihrer ein­
fach ,für sich' da liegenden impressionistisch gemalten Landschaft läuft
auf reine Fälschung hinaus.“
„A ber gerade deshalb“ , rief er fast weinerlich, „habe ich ja vor,
etwas so Reales und Heutiges hineinzusetzen wie die Atombombe.“
Ich zeigte wieder auf das Bild. „In diese Landschaft?“
„N icht unbedingt in diese.“
„A b e r in solche?“
Er nickte.
„D ie A-Bombe mit ihrem unübersehbaren Wirkungsradius in eine
Landschaft mit einem derart dörflichen Horizont?“
Er schwieg.
„Können Sie sich denn nicht vorstellen, was Sie damit ausrichten
würden? Genau das Gegenteil von dem, was Sie vorhaben. Völlig
unkenntlich würden Sie die Atom-Bombe machen; geradezu verleug­
nen würden Sie sie. Denn jeder Gegenstand infiziert sich kategorial an
der Welt, in die man ihn versetzt
„Was tut er?“ fragt er, beinahe erschreckt.
„Verzeihung. Aber die Sache ist sehr einfach: im Augenblick, in
dem Sie zum Beispiel einen heiligen Antonius in eine impressionistisch
getupfte Landschaft setzen würden, würde er seine Heiligkeit einbü­
ßen: sofort würde er sich an der ihm mitgegebenen Welt und an deren
Art infizieren und sich in einen Farbfleck verwandeln. - Was von ihm
gilt, gilt von der Atombombe.“
Das verstand er. „A b er was soll denn aus ihm werden?“ rief er
verzweifelt.
„A us wem?“
„A us dem H orizont!“
„A ber warum machen Sie sich denn um den solche Sorgen? Gar
nichts wird aus ihm werden. Horizonte sind auch früher schon abge­
schafft worden.“
„Wann? Von wem?“
„V on Kopernikus zum Beispiel. Oder von Kolumbus.“
Er war verwirrt.
„A ls die moderne Malerei vor fünfhundert Jahren die Fläche durch­
brach“ , erläuterte ich, „um in die Tiefe unserer Welt einzubrechen und
bis zum sinnlich glaubhaften Horizont vorzustoßen, da tat sie gewiß
einen epochalen Schritt. Aber unsere Generation hat einen Schritt von
ähnlich epochaler Bedeutung zu wagen: nämlich den damals erreichten
Horizont zu durchstoßen.“
„Und wie?“ fragte er, sich vorlehnend. Er sah aus, als hoffte er nun
doch, ein paar Schritte weiter in die Geheimnisse des Avantgardismus
von übermorgen eingeführt zu werden.
„Mein Lieber“ , warnte ich ihn, ehe ich antwortete, „reden Sie sich
um Gottes Willen nicht ein, daß ich Ihnen hier Rezepte gebe; oder daß
Sie dadurch vorwärtskämen, daß Sie von heute auf morgen ein einzel­
nes Element Ihrer Malerei ausließen: also den Horizont. Den auslassen
können nur solche Maler, die in jeder Beziehung anders als Sie malen
würden; und zwar derart anders, daß man es ihren Bildern überhaupt
nicht mehr ansehen würde, daß ihnen der Horizont fehle.“
Sein Gesicht verzog sich, halb erstaunt, halb, als wäre er betrogen.
„Man würde es bei ihren Bildern überhaupt nicht merken?“
„M an dürfte es nicht. So wenig wie man das Fehlen des Horizontes
bei einem byzantinischen Mosaik merkt.“
Er war also um keinen Schritt weitergekommen.
„Und was kann unsereins da tun?“ fragte er nach einer Pause.
„Sie meinen, um der Unwahrheit Ihrer Malart zu entgehen?“
Er nickte. - „G ib t es da gar keine Mittel?“
„Vielleicht doch“ , sagte ich.
„A lso?“
„Zum Beispiel Fliegerphotos machen.“
„Photos !“ wiederholte er schulterzuckend.
„A ber warum so hochmütig? Landkartenhafte Flugaufnahmen sind
nicht annähernd so ,beschränkt‘ wie Ihre Landschaften. Und ungleich
wahrer. - Und noch näher kämen Sie der Wahrheit mit einem im Fluge
gedrehten Film, da solche Filme den Horizont stetig verschieben, ihn
damit dialektisch aufheben, jedes im Flug gezeigte Hier flugs schon
wieder verschwinden lassen - kurz: die Tatsache, daß unsere Welt
heute ,hier-los‘ geworden ist, zum sinnlichen Ereignis machen.“
„Ja damit“ , gab er selbstgerecht zu, „könnten meine Landschaften
freilich nicht konkurrieren.“
„Dann lassen Sie die Finger davon! Um so eher, als sich ja durch
solche Filme herausstellt, daß Ihre Landschaften nicht nur aus der
Froschperspektive gemacht sind, sondern eben auch aus der Baum­
Perspektive. “
„Habe ich nie gehört.“
„Ich auch nicht. - Aber was mit dem Wort gemeint ist, ist ja deutlich
genug: daß eben jedes Ihrer Bilder einen unverrückten, unverrückba­
ren Standort voraussetzt . . . damit, ob Sie wollen oder nicht, die Welt­
erfahrung eines baumhaft eingewurzelten, stationären, seßhaften Men­
schen - was unserer heutigen Existenz und der heute ,fahrend‘ ge­
machten Welt-Erfahrung durchaus nicht entspricht; und was heute
unwahr wirkt.“
Während dieser Worte hatte er jenes Bild, in das er die Atombombe
hatte hineinmalen wollen, wütend fixiert.
„E s ist Ihnen gelungen“ , sagte er schließlich grollend.
„W as?“
„M ir mein Bild zu verleiden. Durch und durch. Plötzlich scheint es
auch mir zu eng: so als hätten Sie einen Zauberkreis um es geschlagen;
und zu starr: so als hätten Sie es verhext.“
Daß mir das leid täte, durfte ich nach meiner umständlichen Vorbe­
reitung natürlich nicht behaupten. Ich schwieg.
„A ber was soll ich denn nun tun?“ fuhr er unglücklich fort.
„Schließlich bin ich ja kein fliegender Kameramann. Ist denn für den
Maler nichts übrig geblieben?“
„D och“ , begann ich, „vielleicht auch für ihn. Es gibt ja schließlich
den Surrealismus. Und der war, auch wenn sich dessen zahlreiche
Theoretiker darüber nicht im klaren waren, die Gegenmaßnahme ge­
gen die Schwierigkeiten, über die wir in unserem Gespräch gestolpert
sind.“ -
Er horchte auf.
„Was bedeutet denn ,Surrealismus'?“ fragte ich. „O der ,sur-rea-
lite‘ ?“
„Überwirklichkeit“ , übersetzte er schulterzuckend.
„Sehen Sie. - Und nun erinnern Sie sich einmal an den Anfang
unseres Gespräches. Da hatten wir gewisse Gegenstände - ich gebe zu:
in einem etwas übertriebenen Sprachgebrauch - ,übersinnlich‘ ge­
nannt; und damit gemeint, daß sie in Wirklichkeit viel mehr seien, als
was ihr betrügerisch-bescheidenes sinnliches Aussehen vorgebe; daß
sie ihr eigenes Aussehen übertreffen; ,über‘ = ,sur‘ in ,sur-realisme'.
Und weiter hatten w ir gefunden, daß es sich nicht allein um eine
besondere Klasse von Gegenständen handele (wie etwa um die Atom­
bombe), sondern um unsere ganze, zu große, also horizontlos und
unabsehbar gewordene heutige Welt; unter dem ,zu groß“ hatten wir
ferner nicht nur das räumlich zu Große verstanden, sondern das in
seinen Konsequenzen Unabsehbare; und schließlich festgestellt, daß
dieser unabsehbaren Welt, obwohl sie unser Produkt oder das Territo­
rium unserer Eroberung ist, nicht nur unsere Wahrnehmung nicht
gewachsen ist, sondern auch unsere Phantasie nicht; sowenig wie die
alten Römer ihrem eigenen großen Imperium gewachsen waren.“
Das gab er nun alles zu. „N u r was das mit dem Surrealismus zu tun
haben soll, begreife ich nicht.“
„Daß die eigene Welt die eigene Auffassungskraft übertrifft?“
„Ja. - Viele solche Bilder habe ich zwar nichtgesehen. Aber ich habe
immer gehört, die haben mit Freud zu tun. Mit dem Unbewußten und
so.“
„Gewiß auch. Aber das eine widerspricht nicht dem anderen. Im
Gegenteil. Ist nicht auch das Unbewußte etwas, was sich der unmittel­
baren Wahrnehmung entzieht? Daß in unserer Epoche Innen- und
Außenwelt gleichermaßen zu ,sur-realites‘ werden, ist gewiß kein Z u ­
fall. Gleichviel, die Surrealisten gingen von den Schwierigkeiten aus,
die wir eben diskutiert haben: davon, daß das Wirkliche sich sowohl
der Wahrnehmung wie der Phantasie entziehe; davon, daß das Phanta­
stische heute wirklich, das Wirkliche aber so phantastisch ist, daß
eigens Phantastisches zu erfinden, Eulen nach Athen tragen hieße. - Ist
ihnen einmal aufgefallen, daß auf surrealistischen Bildern tote Dinge,
Geräte z.B., oft wie organisches Leben, ja geradezu wuchernd, ausse­
hen, während Menschen wie Roboter oder Gipsfiguren oder gar als
Gipsfiguren-Fragmente herumliegen?“
„Ja. - Widerlich“ , meinte er.
„U m so widerlicher, als manche heutigen Surrealisten das wu­
chernde Leben der Apparate und das zu Scherben geschlagene oder
verdinglichte oder roboterhafte Leben höchst adrett servieren; offen­
sichtlich als Genußobjekte; offensichtlich mit zynischer Freude.“
„Eben.“
„Aber das trifft auf den ursprünglichen Surrealismus durchaus nicht
zu. Worauf sie mit ihrer phantastischen Umkehrung von lebendig und
tot abzielten, war, eine, der Welt sonst nicht ,anzusehende' Wahrheit
,ansehnlich‘, also sichtbar, zu machen. Eben die Tatsache, daß heute
Dinge und Geräte (entweder in der Form wirklicher Apparate oder in
der gegenwärtig gewordener Institutionen) das Leben unserer Welt
ausmachen; während w ir Menschen dabei oft zu nichts anderem w er­
den als zu Rädern dieser Maschinerie, zu Dingen oder zu Trümmer­
stücken. Die Umkehrung ist also keine Erfindung des Surrealismus;
sondern ein Faktum. Aber eines, das durch bloßes Abkonterfeien von
Dingen oder Personen niemals sichtbar gemacht werden könnte. - Sie
sehen: was wir im Laufe unserer Unterhaltung festgestellt hatten, be­
stätigt sich immer von neuem: Phantastisches und Wirkliches sind
durcheinandergeraten. An Zeugnissen dafür ist wirklich kein Mangel.
Was finden Sie z.B . phantastischer: das mondlandschaft-artige, übri­
gens durchaus surrealistisch wirkende Bild Ihrer eigenen Haut, das Sie
wahrnehmen, wenn Sie durchs Mikroskop blicken; oder die Haut an­
geblicher Phantasiewesen auf einem Bilde Böcklins ?“
„Ehrlich gesagt: das mikroskopische Bild.“
„A lso das wahrgenommene. Das Instrument, daswirzwischen Welt
und Auge einschalten, macht das Bild des Wirklichen phantastisch,
andere Instrumente machen das Wirkliche selbst unwahrscheinlich; so
phantastisch und unwahrscheinlich, daß eige ns Phantasiewesen zu er­
finden, wie es etwa Böcklin getan hatte, völlig überflüssig wird. Sie
sehen also: der Böcklin ist heute genau so obsolet wie Ihr Trübner; der
Phantast genau so passe wie der Realist: wir stehen jenseits der Alter­
native. Und diese Position jenseits versucht der Surrealist einzu­
nehmen. “
„U nd wie tut er das nun?“
„Durch Austausch“ , antwortete ich. „U nd durch Schockwirkung.“
D as sagte ihm nichts. Er wartete.
„Die beiden Worte werden Ihnen gleich etwas sagen: Einen wichti­
gen Fall von ,Austausch‘ haben wir ja soeben kennen gelernt: den von
Leben und Tod; von Mensch und Ding. Und schockiert hat Sie der
Austausch offensichtlich, denn Sie nannten ihn widerlich . . . was be­
weist, daß er quer gegen Ihre Denk- und Sehgewohnheiten einschlug;
und daß er Sie zwang, einer Wirklichkeit, die zwar bekannt, aber
sinnlich sonst nicht sichtbar ist, doch ins Gesicht zu blicken. - Dieser
Austausch ist nun aber nur ein Fall unter anderen. Ihm zugrunde liegt
ein Austausch-Prinzip, ein Grundfall: und der ist eben der Austausch
von Empirischem und Phantastischem. Das heißt: um zu zeigen, daß
das Wirkliche das Phantastische ist, stellt der Surrealist alle uns ver­
trauten Gegenstände in phantastischer Umgebung dar oder in phanta­
stischer Verzerrung; während er andererseits alles Phantastische so
minutiös und mit so übertriebener Skrupelhaftigkeit darstellt, daß die
Darstellung den Eindruck erweckt, sie sei getreulich, ja pedantisch
,nach der N atur‘ gemalt. Zuweilen gehen die Maler so weit, daß man
von ihren Phantomen glaubt, grausam genaue medizinische Buntpho­
tos vor sich zu haben. Wenn aber Phantome ,empirisch' wirken, und
Empirisches phantastisch aussieht, dann ist das Entw eder-O der von
Wahrnehmung und Phantasie ,wirklich aufgehoben'; wir erkennen
,unsere Welt nicht mehr* - und genau das will der Surrealist erreichen:
denn er findet eben mit Recht, daß das gewöhnliche Aussehen der
Welt ein Betrug ist.“
„Womit Sie also glücklich zum Anfang unseres Gespräches zurück­
gekommen wären“ , meinte er. Er schien tief verstimmt über den Zu­
sammenhang des Gespräches, der ihm erst jetzt ganz aufging.
„Ja, wir sind angekommen“ , gab ich ausdruckslos zu.
„Bei meinem Problem. - Und Sie meinen also, ich könnte die Atom­
bombe nicht malen; der Surrealist aber könnte es.“
„Ja und nein“ , antwortete ich. „Denn der wahre Surrealist braucht
sie gar nicht eigens zu malen. Und zwar deshalb nicht, weil, was er
darstellt, schon ohnehin diejenige phantastische, unabsehbare und
,ausgetauschte‘ Welt ist, zu der eben auch die Atombombe gehört. Der
Schock, den ein solches Bild verursacht, ist in der Tat ein echter Zeit­
genosse jenes Schocks, den der Gedanke an die Atombombe mit sich
bringt.“ - Damit glaubte ich das Problem zu seinem Abschluß ge­
bracht zu haben. Und ich verabschiedete mich. -

Übrigens hat er, wie ich unterdessen erfahren habe, seine Atom ­
bombe doch stur in seine impressionistische Landschaft hineingesetzt.
Vielleicht hat er seinem Bilde dadurch eine unfreiwillig surrealistische
Note gegeben. Wie dem auch sei, diese Sturheit ist mir lieber, als wenn
er sich noch am gleichen Abend auf die Leinwand gestürzt hätte, um
nach Rezept ein surrealistisches Bild herzustellen.
1979

Carter erklärte laut Herald Tribune, die nuklearen Aufbereitungsan­


lagen könnten in „falsche Hände“ , in die von „Kriminellen“ fallen.
Welche Naivität! So als wenn es „richtige Hände“ , nichtkriminelle
Eigentümer des Monströsen gäbe! Wird nicht jede Hand, die solche
Installationen „hält“ , eben durch dieses ihr Halten, bereits zur „fal­
schen“ , zur kriminellen Hand? War etwa Trumans Hand und seine
Verwendung der zwei Bomben im Jahre 1945 deshalb weniger
„falsch“ , weil er erbärmlicherweise Präsident der U SA war? War nicht
umgekehrt seine Präsidentschaft dadurch moralisch falsch, daß er die
zwei Atombomben besaß? Jawohl: besaß. Denn das genügte bereits.
„Haben“ war bereits „ Verwenden“ . „Habere“ bereits ein „adhibere“ .
Die Amoralität bestand nicht erst im Abwurf, sondern schon im Be­
sitz, da dieser, wenn Hiroshima und Nagasaki nicht verwüstet worden
wären, automatisch auf Erpressung mit Genozid hinauslief.
Was von den Bomben gilt, das gilt mutatis mutandis auch von den
Installationen, aus denen Kernwaffen herzustellen heute nicht nur je­
der „w rong hand“ , sondern jeder Klempnerhand möglich ist.
1959

S [

Das Schlaraffenland

Wenn wir das, vermutlich zweifelhafte, Vergnügen hätten, im Schla­


raffenland zu leben, dann würden unsere Bedürfnisse unmittelbar ge-
stiüt werden. Nein, mehr als das: jeder unserer Wünsche, gleich ob der
nach einem Schweinsbraten oder der nach einer Parsifalaufführung,
würde etwas von einem „intuitus originarius“ an sich haben; er wäre
ein „appetitus originarius“ , das heißt: ein „appetitus“ , der sein Desi­
derat sofort gegenwärtig machen würde, der zureichender Grund sei­
ner eigenen unverzüglichen Verwirklichung wäre. Negativ ausge­
drückt: „Keine Ferne“ würde uns „schwierig“ machen; es gäbe keine
Taube, die uns nicht sofort in den Mund flöge; keinen Eisschrank, der
nicht sofort in unserer Küche stünde; keine „Lust auf . . . “ , die nicht
sofort in „Lust an . . . “ umschlüge. Kurz: es würde kein „desideratum“
existieren, das, um erfüllt zu werden, uns noch zumuten würde, einen
Weg zurückzulegen oder uns auch nur einen Augenblick lang zu ge­
dulden.
Da wir von Wegen unabhängig wären, da alles „da“ wäre, würde es
keine Distanzen geben: also wären wir raumlos.
Da wir auf Tun, Machen oder W arten nicht angewiesen wären, da
alles „im N u “ geschähe, würde es keinen Verzug geben; also wären
wir zeitlos.
DasSchlaraffendasein unterscheidet sich von dem in der „aetas au­
rea“ folgendermaßen: Während es in der aetas aurea kein Bedürfnis
mehr gibt, dieses also radikal aufgehoben ist, bleibt im Schlaraffenland,
da der Schlaraffe auf den Genuß der Aufhebung des Bedürfnisses, also
auf den Konsum, nicht verzichten will, das Bedürfnis bestehen. Oder,
verglichen mit unserem Dasein: Während in unserem Dasein (sofern
dieses noch nicht schlaraffiziert ist) Mahlzeiten nur deshalb existieren,
weil sie den Hunger stillen, existiert dort umgekehrt der Hunger nur
deshalb, weil ohne vorausgehenden Hunger Konsumieren überflüssig
und Genuß unmöglich wäre. Der Schlaraffe entbehrt zwar nichts; aber
da er auch den Genuß nicht entbehren will, will er auch die Entbeh­
rung nicht entbehren.

§2

Restitution der Unmittelbarkeit

Aber - gleich ob leider oder glücklicherweise - wir leben nicht im


Schlaraffenland. Vielmehr bleiben wir auf Vermittlung angewiesen und
dazu verurteilt, „W ege zu machen“ , diese zurückzulegen, die Erfül­
lung unserer Bedürfnisse im Schweiße unseres Angesichts zu erjagen,
oder diese zu erarbeiten oder abzuwarten.
Die Wege aber sind Wege durch den Raum. Und sie kosten Zeit. Als
Bedürftige sind wir also Raum- und Zeitwesen.
Dieser Status scheint endgültig. Aber wird er als solcher auch akzep­
tiert? Wird er auch heute akzeptiert)
Dessen bin ich nicht so sicher. Umgekehrt scheint mir vieles dafür
zu sprechen, daß wir darauf hoffen, diesen Status der „Angewiesenheit
auf Vermittlung“ aufzuheben; sogar, daß die Hauptambition der von
unserer Epoche ausgebildeten und eingesetzten Technik darauf abzielt,
dieses Hoffnungsziel zu verwirklichen.
Das klingt überraschend. Nicht nur deshalb, weil dieses Ziel uto­
pisch ist. Sondern deshalb, weil ja die Funktion jedes technischen Ein­
zelgerätes gerade in Vermittlung besteht. Sogar die der Technik als
ganzer. Wenn wir Geräte erfinden, so zu dem Zweck, um sie zwischen
Bedürfnis und Stillung, zwischen Mund und Beutestück einzuschalten,
damit sie dort, also in der „M itte“ , die Erfüllung des Bedürfnisses oder
die Herstellung des Produkts „vermitteln“ . Dieser Vermittlungs­
charakter der Technik läßt sich natürlich nicht bestreiten.
Aber ebensowenig läßt sich bestreiten, daß wir die technischen Ge­
räte deshalb erfinden und verwenden, um, eben vermittels dieser, jene
Distanz zu verkürzen oder auszulöschen, diejenigen Hindernisse zu
verkleinern oder auszuräumen, die sich in der Mitte zwischen Bedürf­
nis und Bedürfnisstillung, zwischen Wunsch und Verwirklichung
breitmachen, und die durch dieses ihr In-der-Mitte-Liegen die Erfül­
lung verzögern oder verhindern. Was Technik zu vermitteln versucht,
ist, die Vermittlung überflüssig zu machen.
Unter dem Titel „Kom fort“ ist dieses Ziel ja bekannt. Aber dieser
Name verhüllt das wirklich letzte Ziel. Denn letztlich erträumen wir,
die Unmittelbarkeit, die wir durch die Vertreibung aus dem Garten
Eden verloren haben, wiederherzustellen; also den paradiesischen Zu­
stand zurückzugewinnen.
Wie vermittelt und kompliziert die Technik auch sein mag; in wel­
ches Apparate-Dschungel sie die bisherige Welt auch verwandeln mag;
wie erfolgreich sie auch Teilziele vorschieben mag, ihr äußerstes Ziel
ist es gerade, diese Vermittlung und Komplikation abzuschaffen. Was
wir erhoffen, ist eine Wiederherstellung: die Wiederherstellung des
Schlaraffenzustandes, also des Zustandes, in dem nichts abwesend,
vielmehr alles „da“ ist. Und eine Wiedergewinnung: die Wiedergewin­
nung des „Desiderium originarium“ , also des Wunsches, dem die
Kraft innewohnt, seine Erfüllung durch sein bloßes Dasein herbeizu­
zaubern; die Rückkehr in den Komfort: also in dasjenige Dasein, das
entweder (weil es alles hat) keiner Bedürfnisse mehr bedarf; oder das
sich Bedürfnisse nur deshalb noch leistet, weil es weiß, daß die Chance
der Lust anders als durch Erfüllung von Bedürfnissen nicht sicherge­
stellt werden kann.
„ Unsere Technik läßt nichts mehr zu wünschen übrig” , heißt es in
einem Werbetext, mit dem eine Schiffslinie neulich für ihr neues Schiff
Reklame machte, „es ist alles fü r Sie da.” Womit sie nichts anderes
ankündigte als die „Restitution der Unmittelbarkeit“ .

§3

Grundformen der Behinderung

Es gibt keinen Flug zwischen Punkt A und Punkt B, sagen wir:


zwischen New York und Paris, der nicht grundsätzlich als zu lang
gälte. Die Bewältigung dieser Strecke erfordert heute noch sechs Stun­
den? Zu langsam. Und welche Blamage, wenn wir für die Überbrük-
kung dieser Strecke im nächsten Jahr mehr als fünf Stunden benötigen
und sie im nächsten nicht in vier leisten würden.
Was immer Dauer erfordert, dauert zu lange. Was immer Zeit bean­
sprucht, beansprucht zuviel Zeit. Das Faktum, daß Handlungen Zeit
kosten, gilt heute als Vergeudung. Gleich, wie kurz sie währen - nie­
mals sind sie kurz genug. Die bloße Tatsache, daß sie währen, macht
sie zu Verzögerungen. Zeit = Langsamkeit. Welch unsinnige Glei­
chung!
Aber wie unsinnig sie auch klingen mag, sie einfach beiseitezuschie­
ben und zur Tagesordnung überzugehen, das darf sich die Philosophie
nicht leisten. Denn deren Ziel hat ja darin zu bestehen, die Geheimma­
ximen der Epoche, also die nicht zugestandenen, aber allem Denken,
Fühlen und Benehmen zugrunde liegenden Voraussetzungen auszu­
sprechen. Diese sind ja, wie kontradiktorisch oder unsinnig das auch
klingen mag, die „Tagesordnung“ . N ur dasjenige zu studieren, was die
Zeitgenossen über Zeit und Raum zum besten geben, wäre völlig un­
zulänglich. Aufgeklärt werden muß vielmehr, da jedes Benehmen eine
Geheimtheorie enthält, das behavior: also wie die Arbeitenden, R ei­
senden, Freizeitkonsumenten, Ungeduldigen, Gelangweilten von
heute sich den Tatsachen Raum und Zeit gegenüber benehmen. Und
das Ergebnis solcher Beobachtungen wird dann die widersinnig und
unwissenschaftlich klingende Gleichung Zeit = Langsamkeit aufs ver­
blüffendste bestätigen. Denn Raum und Zeit werden sich (wenn wir
hier einen dem Kantischen Ausdruck „Formen der Anschauung“ ent­
sprechenden Ausdruck prägen dürfen) als Formen der Behinderung,
geradezu als die zwei Grundformen der Behinderung herausstellen.
Auch das klingt natürlich sonderbar, denn (so sollte man meinen)
behindern können nur massive Dinge; und Raum oder Zeit als Dinge
zu bezeichnen, wäre natürlich ontologisch absurd. Aber wissen wir
denn, was sie sind? Wie sie ontologisch angemessen zu charakterisie­
ren wären? Lassen wir daher diesen ontologischen Einwand erst ein­
mal in der Schwebe, und erläutern wir lieber, was mit dem Ausdruck
Behinderung gemeint ist.
Als Behinderungen erscheinen Raum und Zeit, wenn sie mit Schla-
raffen-Maßstab gemessen werden. Da sie sich zwischen Gier und Stil­
lung, zwischen Abreise und Ankunft, zwischen Anspruch und Befrie­
digung breitmachen, da sie Wege nötig machen, stehen sie uns (das
heißt: unserem Schlaraffenanspruch auf unmittelbare Gewinnung der
desiderata) im Wege. N icht „principia individuationis“ sind sie, son­
dern, da sie die Erfüllung von der Intention trennen, „ principia divi-
sionis“ .

§4

Der Hiob von heute

„What a shame“ , hörte ich über dem Eismeer einen Geschäftsreisen­


den aus N ew York, einen Hiob von heute stöhnen, „was hier alles
zwischen Schottland und Kanada herumliegt! Und dabei ist es nichts!
Nichts als nichts! Aber ausgedehnt muß es sein! Dazwischenliegen
muß es! Gerade gut genug für Luft und Wasser! Wozu das gut sein
soll!“
Das konnte ich ihm auch nicht beantworten.
„U nd diese Zeit! Um nichts besser! Ebenfalls nichts! Aber dauern
muß sie! Zwischen Abflug und Ankunft! Gerade gut genug für Warten
und Dösen! Wozu das gut sein soll?“
Auch darüber konnte ich ihm keine Auskunft geben.
„A llrigh t“ , versuchte er sich zu beruhigen. „Allright, ich weiß, der
Herr hat alles geschaffen. Muß er also wohl auch Raum und Zeit
geschaffen haben. Obwohl ich mir deren Produktion nicht recht vor­
stellen kann. Anyhow, vermutlich hat er sich etwas gedacht dabei.
Und gewußt, was er damit vorhatte.“
„Vermutlich.“
Sein Versuch, sich selbst zu beruhigen, w ar gescheitert. „Vermut­
lich!“ wiederholte er wütend. „Was heißt hier vermutlich? What a
mess! Was für eine Art Geschäftsgebaren ist denn das? Was für Belie­
ferung? Da kriegen Sie Waren ins Haus geschickt, Kilometer, und
Stunden, gleich ob Sie sie bestellt haben oder nicht. Zwangsannahme.
Und dann sitzen Sie da damit. Mit Raum und Zeit!“
Eine ungewöhnlichere Schilderung des Apriori hatte ich nie in mei­
nem Leben gehört.
„O der hat er Ihnen vielleicht verraten, was er damit vorhatte?
Warum Raum? Und wozu Zeit?“
Metaphysik im Geschäftsjargon war mir ungewohnt. „Wissen Sie
was,“ meinte ich zögernd, denn es war nicht einfach, sich in diese
Sprache so rasch hineinzufinden, „vielleicht hat der Herr versehentlich
zuviel produziert; mehr Dinge und Ereignisse, als er ursprünglich kal­
kuliert hatte. So daß ihm nachher nichts anderes übrigblieb, als das
Abundante an verschiedenen Stellen unterzubringen. An verschiede­
nen Stellen des Raumes. Und an verschiedenen Stellen der Zeit.“ - Ich
war ziemlich stolz auf diese improvisierte Deutung.
Er aber wies sie energisch ab. Nicht etwa deshalb, weil er sie zu
zynisch gefunden hätte, sondern weil er sich solche Geschäftsuntüch­
tigkeit nicht vorstellen konnte. „Dann hat er eben auch viel zuviel
Raum und viel zuviel Zeit geschaffen“ , widersprach er. „U nd wie
miserabel verpackt er die Dinge hat! Mit viel zuviel Zwischenraum!
Mit viel zuviel Nichts dazwischen! Ganz unwirtschaftlich!“ Er wies
zum Fenster hinaus. „Schauen Sie sich das doch einmal an! Diesen
unausgenutzten Raum! Wo er Schottland und Kanada so schön säu­
berlich hätte aneinanderlegen können! Kante an Kante! Dieser unaus-
genutzte Raum!“
„Zahlen Sie dafür?“ fragte ich.
„Natürlich“ , schrie er. „Wer denn sonst? Glauben Sie vielleicht, er
komme auf für mein Ticket?“
„D as habe ich nicht behauptet.“
„N a also! Nichts als Vergeudung, der Raum! U nd nichts als Zeitver­
lust, diese Zeit!“
„Zeit als Zeitverlust?“
„Klingt komisch“ , gab er brummend zu. Meinte dann aber doch:
„Stimmen tut es trotzdem!“ Und verstieg sich schließlich sogar zu
dem Ausdruck „Geschäftssabotage“ .
„Deren Sie ihn bezichtigen?“
Hilflos hob er seine Hand, um sie noch hilfloser fallen zu lassen.
„Wen sonst?“ fragte er wieder. Und dann, stöhnend: „W enn man sie
nur abschaffen könnte!“
„Was? den Raum? die Zeit?“
„Scheint so“ , antwortete er resigniert. Und schloß: „Ich hab sie
jedenfalls nicht bestellt. A ber wieder loswerden kann ich sie auch
nicht.“

Ins Wanken geratenes Gottvertrauen hat es natürlich auch früher


schon gegeben, und Hiobs in allen Epochen der Geschichte. Aber der
Grund, aus dem dieser Geschäftsreisende aus New York als ein Hiob
mit seinem Gott zu hadern begann, der Beschwerdepunkt, den er
vorbrachte - „sinnlose Installierung von Raum und Zeit“ -, der ist
doch wohl erstmalig. Für ihn waren die beiden jedenfalls nichts ande­
res als Obstruktionsfakten. Nichts anderes als Sabotagekräfte, die ihm,
gleich, wo und wann er etwas in Angriff nahm, deshalb im Wege
standen, weil sie Wege erforderten, also sein Schlaraffenideal der Un­
mittelbarkeit unerreichbar machten. Hätte er gewußt, wie, er hätte sich
ihrer entledigt, er hätte sie abgeschafft. Er haßte sie. Als Dinge, die es
eigentlich nicht geben durfte; als Skandale.
Man wird einwenden, dieser Mann sei ein Unikum gewesen. Und
gewiß geschieht es wirklich nicht häufig, daß jemand die Verdrießlich­
keit von Raum und Zeit so durchschaut, die Klage darüber so unver­
blümt ausspricht und dem Wunsch nach deren Abschaffung so un­
zweideutig Luft macht. Aber nur das war ungewöhnlich, nur dieses
Daß. Was er dagegen aussprach, das hätte er (wenn wir ihn dazu
bevollmächtigt hätten, aus der Schule der Epoche zu plaudern - was
wir natürlich nur ganz selten tun) in unser aller Namen verkünden
können. Denn damit verriet er ein Stück von uns allen, eine der G e­
heimmaximen unseres heutigen Daseins: Eben unseren Kam pf gegen
Raum und Zeit.
Von diesem Kampf, das heißt: von dem Versuch, Raum und Zeit
abzuschaffen (namentlich die Zeit), handeln die folgenden Seiten.

§S
Zeit und Bedürfnis

Natürlich spreche ich hier nur vom Trend, vom Ideal des Zeitalters.
Ich sage: Abzuschaffendes, nicht Abschaffbares. Daß es keine noch so
eindrucksvolle Reduzierung von Zeitdauer gibt, die nicht als wie­
derum reduzierbar gedacht werden könnte; daß wir, wie unermüdlich
wir auch bemüht bleiben, die Zwischenräume zwischen Wünschen
und Zielen zu verringern, immer einen untilgbaren Rest von Zeit in
unseren Händen zurückbehalten werden; daß unsere Versuche, Zeitlo-
sigkeit von Aktionen durchzuführen, ein für alle Male zum Asympto­
tischen, also zum Scheitern verurteilt bleiben werden; daß uns vom
Zeitalter der Zeitlosigkeit immer wieder, immer noch, Zeit trennen
wird - alles das liegt auf der Hand. Aber den Tatbestand des „Trends“
berührt diese Vergeblichkeit nicht. Trotz aller Undurchführbarkeit
besteht das letzte und äußerste Ideal des homo faber von heute darin,
fähig zu werden und die Mitwelt dazu fähig zu machen, alle Hand­
lungsziele magiergleich, nämlich unmittelbar, ohne Zeitverlust, ohne
Zeit zu erreichen. Abschaffung der Zeit ist der Traum unserer Zeit. Die
zeitlose (statt der klassenlosen) Gesellschaft die Hoffnung fü r morgen.
Und es gibt in dieser unserer Zeit kaum einen Augenblick, der nicht -
denn „Zeit spielt keine Rolle“ - dem Bemühen gewidmet wäre, die
Zeit abzuschaffen; die Zeit zu einer antiquierten Angelegenheit, zur
Sache von gestern, zu machen.
Wie gesagt, diese Antiquierung der Zeit, die Begierde nach Abschaf­
fung von Zeit ist deshalb völlig plausibel, weil ja das Ideal unserer Zeit
Schlaraffenland heißt. Und da es in diesem entsetzlich glücklichen
Lande Usus war, daß die gebratenen Tauben direkt in die Mäuler
flogen, war ja die Zeit zwischen Wunsch und Erfüllung, zwischen Gier
und Genuß inexistent gewesen; diese goldene „Z e it“ wiederherzustel­
len, ist der Traum unserer Epoche.
Um diese Behauptung zu verifizieren, wird es nötig sein, das Ver­
hältnis von Bedürfnis und Ziel deutlicher zu bestimmen; das heißt: die
Zeit aus dem Bedürfnis zu deduzieren.

Ehe ich in diese Deduktion eintrete, ein paar kurze methodische


Vorbemerkungen. Die Ausführungen über Zeit werden, was Anstoß
erregen wird, bereits Zeitbestimmungen enthalten. Das ist unvermeid­
lich, denn auch wer versucht, in die Wurzeldimension, der die Zeit
entspringt, hinabzusteigen, kann dabei nicht von dem Schicksal seiner
eigenen Zeitlichkeit absehen und sich nun plötzlich einer von Zeitvo­
kabeln völlig gereinigten Sprache bedienen.
Anstoß werden vermutlich vor allem die Ausdrücke „vorwärts“ und
„rückwärts“ erregen. In der Tat setzen diese ja Raum voraus, und der
Einwand, daß der Raum um nichts weniger interpretationsbedürftig
sei als die Zeit, also als Voraussetzung nicht unterstellt werden dürfe,
wäre begreiflich.
Aber nicht berechtigt. Und zwar deshalb nicht, weil die Richtungen,
die die Ausdrücke „vorwärts“ und „rückwärts“ anzeigen, hier nicht
als spezifische Raumcharaktere gemeint sind (ebensowenig als spezifi­
sche Zeitcharaktere), sondern als Charaktere vorspezifischer Natur, als
Charaktere, die dem Wesen des Lebens als solchem entspringen. Da es
nämlich zum Dasein lebendiger Wesen gehört, zu gefährden und ge­
fährdet zu werden, zu benötigen und benötigt zu werden, zu jagen und
gejagt zu werden, zu essen und gegessen zu werden, gierig zu sein und
verängstigt, zu attackieren und zu fliehen, lebt jedes Lebendige in
Zuwendung und Abwendung. - Und aus der Tatsache dieser zwei
Lebensrichtungen entspringt das, was wir das „V orn“ und das „H in ­
ten“ bzw. das „Vorwärts“ und das „Rückwärts“ nennen. N ur weil es
diese ontologischen Charaktere gibt, tauchen sie auch in unserem
Raum auf und in unserer Zeit. Aber eben nur „auch“ .
Entsprechendes gilt von dem Ausdruck Gegenwart, den ich gleich­
falls nicht primär als Zeitbestimmung meine. Gegenwärtig ist vielmehr
dasjenige, was im Falle einer Hinwendung keine Überbrückung einer
Distanz benötigt, im Falle der Abwendung diese erfordert. Gegenwart
ist primär also, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, ein onto-soziologi-
scher Charakter, nämlich Zusammensein. (So bedeutet die Aussage
„ich ertrage seine Gegenwart nicht“ nichts anderes als „ich ertrage das
Zusammensein mit ihm nicht“ . Das „Zusammen“ ist wiederum vor­
spezifisch, daher hat der Ausdruck „Gegenwart eines Menschen“ ei­
nen zugleich räumlichen und zeitlichen Sinn.)

Was ist mit dem Ausdruck „Deduktion der Zeit aus dem Bedürfnis“
gemeint?
Daß Zeit als Dauer, als Leere, als Zwischenraum dann und nur dann
auftaucht, wenn Ziele noch nicht erreicht sind; nur so lange, als deside­
rata, auf die (oder auf deren Gegenwart) wir aus sind, weil wir ohne sie
nicht leben können, abwesend bleiben. Zeit ist der Weg zum Haben.
Zeit gibt es nur deshalb, weil wir bedürftige Wesen sind; weil wir (und
zwar ständig) dasjenige, was wir eigentlich haben müßten, nicht ha­
ben; weil wir (und zwar ständig) genötigt sind, das Nötige uns zu
beschaffen. Zeit ist so leer, wie wir selbst sind, so leer wie der leere
Magen, und die Zeit ist jeweils erst „erfüllt“ , wenn der Magen gefüllt
ist. In anderen Worten: sie ist Dasein im Modus des Nichthabens, bzw.
im Modus der Beschaffung des Desiderats - gleich ob diese Beschaf­
fung im Erjagen oder im Herstellen besteht.1
Nicht „Form der Anschauung“ ist Zeit also, nicht einmal „Form der
Vorstellung“ , sondern Form der Nachstellung. Form unseres Lebens,
das weitergeht, während die Beute, hinter der wir her sind, entfernt
bleibt und sich entzieht oder sogar weiterflieht, bis wir sie endlich
ergriffen und gegenwärtig gemacht und uns an ihr gestillt haben. So
wie nur der Nichtsatte Hunger hat (weil er die Speise, die er eigentlich,
um zu sein, haben müßte, nicht hat), so hat auch nur der Nichtsatte
Zeit. Dem Glücklichen dagegen, demjenigen, der sich in der Gegen­
wart des ihm Nötigen befindet, dem Gestillten, schlägt keine Stunde.
Er ist zeitlos.
Jedenfalls vorübergehend. Denn die Zeitlöschung ist selbst zeitlich
begrenzt. Da wir, konstitutionell unzulänglich, auf anderes Seiendes
angewiesen sind, gibt es keinen Konsum, der uns ein für alle Male
stillte. Auch wenn er uns pumpsatt macht, er bleibt unzulänglich. Aus
dieser grundsätzlichen Inkomplettheit der Stillung ergibt sich die son­
derbare Tatsache, daß die Zeit, obwohl doch zweifellos vorwärtsge­
hend, zugleich rückwärts fließt. Die Stillung durch das Gegenwärtige
versagt; das, was gegenwärtig war, das Beutestück, ist gerade, weil es
als Gegenwärtiges einverleibt wurde, vernichtet; dadurch ist auch die
Gegenwart vernichtet, der Hunger bricht von neuem aus. Aber die
Stillung ist nicht etwa deshalb unzulänglich, weil sie vergänglich ist,
sondern sie ist vergänglich, weil sie grundsätzlich unzulänglich ist.
Wir sagen: die Zeit gehe vorwärts. Das tut sie deshalb, weil wir, vom
Bedürfnis getrieben, vorwärts fliehen, dem Ziel entgegen, weil wir das
Nötige tun, um das vor uns Liegende zu erreichen oder zu verwirkli­
chen und die Entfernung hinter uns zu bringen. Man wird einwenden,
das Gegenteil treffe zu. Denn man spüre die Flucht der Zeit um so
weniger, die Zeit sei um so deutlicher gelöscht, je intensiver man damit
beschäftigt sei, seinem Ziel nachzurennen. Aber das trifft nur auf die
Beschäftigungen zu, die selbst mit Interesse durchgeführt werden, die
selbst etwas Gegenwärtiges sind (und „Interesse“ besagt ja nichts an­
deres), die Spaß machen, die selbst zu Evegyeiai werden. In der Ar-
beits- und Jagdfreude verfliegt die Zeit „im N u “ - und das heißt: sie
ist, obwohl objektiv und uhrmäßig verfließend, doch detemporalisiert.
- Umgekehrt kann die Zeit auch zu nichts werden, wenn sie mit so
monotoner Beschäftigung ausgefüllt wird, daß Annäherung an das Ziel
(auf Grund der immer gleichen Wegschritte) nicht mehr spürbar ist.
Dann schlägt (jeder, der sich in die Bedienung einer Maschine eingear­
beitet hat, hat diese Erfahrung gemacht) die Langeweile in völlige
Zeitlöschung um. Darum ist die Arbeit, deren Eidos abmontiert ist3 -
und das ist heute bei nahezu jeder maschinellen Arbeit der Fall -
ungleich weniger quälend, als man gemeinhin vermutet. Daß sie so
wenig Qual verursacht, ist freilich ein Skandal, keine Tröstung.
N ur der vom Bedürfnis Gejagte „hat“ Zeit (nicht im Sinne von „viel
Zeit haben“ , sondern in dem von „als Zeitlicher leben“ ). Das Gejagt­
sein hat aber auch einen ungleich konkreteren Sinn. Nicht nur von
unserem Bedürfnis, also von unserem Hunger, sind wir gejagt, son­
dern auch von dem hungernden Anderen, der hinter uns her ist. Denn
nicht nur Fressende sind wir, sondern mögliches Futter. Wir sind nicht
nur „hinter etwas her“ , wir entfliehen auch demjenigen, der hinter uns
her ist. Und auch durch diese Grundgefahr unseres Daseins sind wir
„zeitlich“ . Der Verfolger, der hinter uns her ist, hat uns „noch nicht“ ,
„noch immer nicht“ - in der Flucht entsteht Zeit. Aber auch diese hört
wiederum auf, sobald wir uns in Sicherheit gebracht haben. Ideal wäre
das Dasein, dem niemand auf den Fersen wäre, dem also niemals die
Gefahr drohen würde, daß sich die Distanz zwischen dem Verfolger
und ihm verkleinere. Diese Situation - gleichfalls eine Schlaraffensitua-
tion - wäre genauso zeitlos wie die Situation nach der Mahlzeit. Auch
Sekurität löscht also Zeit - deren technische Herstellung geht auf das
gleiche Ziel los wie die Technik der Bedürfnisstillung. Und diese Situa­
tion ist effektiv verwirklicht im Schlaf, während dessen wir uns von
jeder Gefahr abzuschließen versuchen; und in dem, sofern sich keine
Angst in ihn einschleicht, auch die Zeit stagniert.

Ich sagte: das utopische Ideal unseres Daseins sei das Schlaraffen­
land, also das Dasein, in dem die Erfüllung magisch, ohne daß eine
Distanz überbrückt oder bewältigt zu werden braucht, dem Wunsch
auf den Fersen folge. Nichts anderes als die Annäherung an dieses
Schlaraffenziel erträumt unsere Technik. Wie unbestreitbar sie selbst
auch eine Vermittlung, also etwas „zwischen Wunsch und Erfüllung“ ,
ja geradezu ein Dschungel von Vermittlungen darstellen mag - ihre
letzte Abzweckung ist es eben, dasjenige, was dazwischen liegt, also
die Zwischenzeit zwischen Wunsch und dessen Erfüllung, bezw. zwi­
schen Angst und deren Nichterfüllung, auf ein Minimum hinabzu­
drücken. Oder am besten: diese abzuschaffen. Dies ist das Ideal unse­
rer Zeit. Das ungeduldige „L e t’s get it over with“ ist die Maxime
unseres heutigen Lebens.
Aber unsere Situation ist noch viel komplizierter, nein geradezu
dialektisch. Aus folgendem Grunde:
Was wir heute als wertvoll, als „worthw hile" (das heißt: „des Ver-
weilens würdig“ ) anerkennen, ist nämlich zumeist dasjenige, was Wert
hat für etwas: also ausschließlich das Mittel. Dasjenige hingegen, für
das das Mittel Wert hat, der Zweck, bringt uns in Verlegenheit, wir
empfinden diesen (es sei denn, er sei seinerseits wiederum von Wert für
einen weiteren Zweck, z.B. für die Gesundheit), sogar als wertlos, weil
es als Zweck eben kein Mittel ist. In anderen Worten: Da wir im
Zeitalter des schlechten Gewissens der energeia und des Genusses le­
ben, befinden w ir uns in einer hektisch-paradoxen Situation. Einerseits
sind w ir ungeduldig, weil Mittel und Wege „dauern“ , also Zeit in
Anspruch nehmen. Andererseits aber ertragen wir es nicht, am Ziele,
also bei der energeia, wirklich anzukommen, da durch diesen Aufent­
halt diejenige Zeit, die für die Zurücklegung von Wegen verwendet
werden könnte, erst recht vergeudet zu werden scheint. Bekanntlich
verläuft unser Leben heute oft doppelspurig. So hören wir z.B ., wäh­
rend wir auf dem Geleise unserer Hauptbeschäftigung fahren, auf fi-
nem Nebengeleise Radiomusik. Man glaube nur nicht, daß wir diese
Doppelspurigkeit des Daseins allein deshalb lieben, weil wir die N ot
der Arbeit mit der Süße der energeia (des Musikgenusses) überdecken
wollen. Umgekehrt suchen wir uns oft eine Arbeit während des Mu­
sikhörens, um der Unerträglichkeit des Genusses, der zu nichts, außer
für sich selbst, gut ist, auszuweichen. „1 just can’t enjoy Beethoven
without doing my knitting“ ist nicht der Ausspruch einer einmaligen
Käuzin, sondern ein Bekenntniswort der Epoche. Und jene armen
Männer, die an Ferien oder Pensionierung zugrunde gehen, sind
gleichfalls keine Einzelfälle, vielmehr charakteristische Gestalten, die
der Moliere unserer Zeit, wenn es diesen gäbe, in einer repräsentativen
Figur auf die Bühne stellen müßte. Diese Männer erreichen das Ende
ihrer Zeit, weil es Zeit für sie nur so lange gibt, als sie einem Ziel
entgegenlaufen. Wenn sie angekommen sind, sind sie in einem ganz
unmetaphorischen Sinne nicht mehr da, das heißt: dann sterben sie.
§ 6
Let’s get it over with

Ich hatte gesagt: das asymptotische Ziel unserer heutigen Bemühun­


gen gelte der Abschaffung der Zeit. So unglaublich das klingen mag,
hie und da ist dieses unmögliche Ziel schon effektiv erreicht. Nämlich
im Radio und im Fernsehen. Denn dort findet ja der Empfang des
Gesendeten (mindestens psychologisch) gleichzeitig mit dessen A b­
sendung statt - und das stellt einen Transfer dar, den es bisher nur in
der Form des Sprechens gegeben hatte (und in dessen telephonischer
Variante). Es ist kein Zufall, daß ich zum zweiten Male zu diesem
Beispielsgebiet Rundfunk und Fernsehen greife. Schon in einer frühe­
ren Arbeit4 hatte es sich herausgestellt, daß es für denjenigen, der den
Puls unserer Zeit, mindestens den der „schon beginnenden Zukunft“
zu zählen versucht, kaum Erscheinungen gibt, die mehr oder Charak­
teristischeres verraten als Rundfunk und Fernsehen. In der Tat zeigt
dieses Beispielsgebiet auch in diesem damals nicht berücksichtigten,
also im zeit-philosophischen, Zusammenhang, die Situation des heuti­
gen Menschen mit größerer Deutlichkeit und Entschiedenheit als ir­
gend ein anderes Beispielsgebiet. Was ich meine, ist das Folgende:
Sub specie „Abschaffung der Zeit“ bleibt der Mensch hinter sich
selbst, mindestens hinter den Bildern seiner selbst, zurück. Denn wäh­
rend er sein Aussehen durch Television und seine Stimme durch den
Hörfunk, ohne daß diese Wege Zeit beanspruchten, von einem Punkt
zum anderen (sogar gleichzeitig zu beliebig vielen anderen Punkten)
senden bzw. senden lassen kann, ist er selbst noch nicht „funkbar“
geworden. Wir selbst bleiben dem Stande unserer Technik nicht ange­
messene antiquierte Wesen, nämlich nach wie vor wie zu Großvaters
Zeiten darauf angewiesen, es uns Zeit kosten zu lassen, um an einen
anderen Raumpunkt zu gelangen. Was unsere Bilder können, können
w ir noch nicht. Aber diese Tatsache wirkt bereits altertümlich. Wenn
sich heutzutage Staatsmänner, um miteinander zu verhandeln, noch
„in the flesh“ treffen, so finden das unsere Kinder oder Enkel, die an
die im Fernsehen längst üblichen Zweier-, Dreier- und Vierergesprä­
che zwischen räumlich weit voneinander getrennten Sprechern ge­
wohnt sind, bereits leicht altertümlich und komisch.
Obwohl es uns also bereits gelungen ist, in Bildform Entfernungen
ohne Zeitverlust zu überbrücken: - uns selbst auf diese entzeitlichte
Art und Weise zu transportieren, sind und bleiben wir außerstande.
Und wenn die für unseren Transport erforderliche Zeitdauer auch nur
als infinitesimal winziges Residuum übrigbliebe - der Umstand, daß
dieser Rest untilgbar, also immer bleiben wird, figuriert in dem unge­
schriebenen Moralkodex des industriellen Zeitalters als unser mensch­
licher Makel. Die Tatsache der Zeit selbst gilt als Langsamkeit, und
unsere Langsamkeit als etwas Blamables.
Nun, das Reisen von einem Raumpunkt zum anderen ist natürlich
nur ein Beispiel. Denn nicht nur dieses stellt eine Überbrückung von
Distanzen dar. Jede Tätigkeit hat Zwischenräume zu überbrücken,
mindestens jede, die auf etwas, was noch entfernt ist, abzielt, also nur
durch Vermittlung, durch Zurücklegung eines Weges an ihrem Ende
ankommen kann, kurz: jede, die keine energeia ist. Die Blamage ent­
springt also nicht primär unserer Ortsbewegung, vielmehr unserer Be­
wegung in jedem Sinne, sofern diese eine abzielende Bewegung ist. In
anderen Worten: unser Makel resultiert (da wir, wie vorhin betont,
energeiai gar nicht mehr verstehen oder wünschen oder genießen, son­
dern selbst in erga ummünzen) aus unserem Leben als solchem. Der
Wunsch: „L e t’s get it over with as fast as possible“ , das heißt, etwas so
rasch wie möglich hinter sich zu bringen, weil alles, sofern es währt, zu
lange währt und aus diesem Grunde etwas Zeitraubendes, also etwas
Negatives ist - dieser Wunsch bezieht sich ausnahmslos auf alle Tätig­
keiten. Und es soll sogar vorkommen, daß diese Devise, die wir im
Flugzeug aus dem Munde des Raum und Zeit verabscheuenden Passa­
giers gehört hatten, auch bei anderen Gelegenheiten ausgesprochen
wird, z.B . im Bette, und daß damit nicht nur das möglichst rasche
Schlafen gemeint wird. Wenn aber die witzige, den Arbeitswettlauf der
Stachanoff-Arbeiter verspottende Mahnung: „Schlaf schneller, Ge­
nosse!“ im Westen so berühmt geworden ist, so nicht deshalb, weil
Konkurrenz oder Wettlauf so charakteristisch für Sowjetrußland wäre,
vielmehr deshalb, weil der Witz den Nagel auf den Kopf des Zeitge­
nossen überhaupt trifft.
Der Reisende, der so rasch wie möglich von N ew York nach Paris
fliegt (um keine Zeit zu verlieren), der wird also auch die Verhandlung,
um derentwillen er die Reise angetreten, wiederum aus dem gleichen
Grunde, so rasch wie möglich hinter sich bringen wollen. Überall wird
er im Interesse der Zeitgewinnung versuchen, die Zeit auf ein Mini­
mum zu reduzieren. Letztlich will er also alles so durchführen wie im
Schlaraffenland, nämlich unmittelbar, das heißt: ohne daß er Zeit zwi­
schen Wunsch und Erfüllung zu überbrücken braucht, und ohne daß
die Summe seiner Aktivitäten noch eine Dauer ergibt. Was in Wahrheit
dabei resultiert, ist freilich das Gegenteil dessen, was beabsichtigt ist.
Aus der Diskussion über die Probleme der Freizeit kennen wir ja das
Ergebnis dieser Aktionsverkürzungen: Was entsteht, ist nämlich ein
hydra-artiges Anwachsen von Zeit, und zwar einer Zeit, die ungleich
länger zu dauern scheint als jede mit Aktion gefüllte Zeit, ungleich
länger deshalb, weil sie „frei“ ist, nämlich frei von Wegtätigkeit und
sich deshalb nicht vom Fleck rührt. Gerade durch Aktionsverkürzung
gewinnen wir massenhaft Zeit, mit der wir nichts anzufangen wissen,
so viel Zeit, daß wir, von horror vacui erschreckt, gezwungen werden,
dieses Vakuum in möglichst viele zeitauslöschende Aktivitäten zu zer­
teilen bzw. mit solchen zeitauslöschenden Aktivitäten vollzustopfen.
Aber da selbst unsere Flucht noch an den Gebrechen krankt, denen
wir zu entrinnen versuchen, sollen selbst diese Aktivitäten so rasch wie
möglich erledigt sein: selbst die zum Zwecke der Kurzweil gelieferten
Beschäftigungen (Theaterstücke, Musiken) werden uns in Kurzfassun­
gen, in bereits vorverdautem („digested“ ) Zustande präsentiert - kurz:
es entsteht ein Pointillismus des Existierens, ein Dasein, dem jede
Kontinuität abgeht, weil es sich aus in jedem Moment neu geborenen
und nicht länger als einen Augenblick währenden Darbietungen zu­
sammensetzt.
So also sieht die heutige „Zeitlichkeit“ des Menschen aus. Daß auch
sie ein Fluch ist, und kein geringerer als der, der bis gestern als Fluch
der Zeitlichkeit gegolten hatte, ist deutlich. Viele der zur „Pathologie
unserer Zeit“ gehörenden Erscheinungen, nicht zuletzt die berühmte
„Unruhe der Jugend“ , bleiben unverständlich, solange sie nicht min­
destens auch als Racheaktionen gegen die Unauslöschbarkeit der Zeit
begriffen werden. Die Folie, vor der die Zeitlichkeit des Menschen als
Defekt oder als Skandal verstanden wird, ist allerdings nicht, wie noch
gestern, die „Ew igkeit“ , sondern die (ebensowenig wie die Ewigkeit
gewinnbare) Punktualität der Zeit.
§7

Uber den Unterschied zwischen Raum und Zeit

Würden wir einen Menschen mit gesundem Menschenverstand


darum bitten, uns zu sagen, worin eigentlich der Unterschied zwischen
Raum und Zeit bestehe, und aus welchem Grunde wir „zwei von
dieser Sorte“ benötigen - kein Zweifel, der so Angeredete würde un­
sere Bitte mit einem mitleidigen Blick quittieren. Und mit Recht. Denn
der Vernünftige, der Unphilosophische, betrachtet Definitionen nur
dann für erforderlich, somit für gerechtfertigt, wenn die Gefahr einer
Verwechslung von A und B besteht, wenn sich die Grenzlinie zwi­
schen dem A und dem B (auf deren Beobachtung es ihm aus prakti­
schen Gründen ankommt) verwischt hat. Sich außerhalb solcher
Situationen aufs Definieren einzulassen, scheint ihm albern. Die D if­
ferenz zwischen Raum und Zeit kommt ihm nicht definitionswürdi­
ger vor als die zwischen Zahl und Musik oder zwischen einem Rettich
und einem Strafgesetz. „Ich habe die zwei noch niemals miteinander
verwechselt“ , antwortet er also, „und ich wüßte noch nicht einmal,
wie ich es anstellen sollte, in die Gefahr zu geraten, die zwei zu
verwechseln. Wozu also definieren?“ So antwortet er und läßt uns
stehen.
Und dennoch wäre unsere Frage nicht falsch gefragt.
Ausgegangen waren wir ja vom Status unserer Bedürftigkeit und
Angewiesenheit; von der Tatsache, daß wir, um zu sein, Dinge, die uns
nicht unmittelbar zur Verfügung stehen, von denen wir also getrennt
sind (die „desiderata“ ), erreichen müssen. Davon, daß wir dazu verur­
teilt sind, die Trennung, d. h. die Entfernung zu überbrücken, um das
Abwesende, das unsere Welt ausmacht, anwesend zu machen. Daß wir
andererseits, durch die mögliche Anwesenheit von Feinden bedroht,
dazu gezwungen sind, diese durch Kampf oder durch Flucht abwesend
zu machen.
Dies also ist die Ausgangssituation. Es ist plausibel, daß uns diese,
selbst dann, wenn wir noch nichts von Raum und Zeit wüßten, das
Recht gäbe, die Welt zu definieren als ein ,,Medium der Distanzen” ,
oder vielleicht genauer: als ein Schema oder ein Inbegriff all jener
Dinge oder Situationen, deren Anwesenheit wir teils suchen, teils flie­
hen müssen - mit anderen Worten: als das „ Schema möglicher entfern­
ter desiderata und möglicher entfernter Gefahren“ .
Grundbegriff ist also der der Entfernung. Aber dieser Grundbegriff
bleibt noch völlig un- bzw. vorspezifisch: die Mahlzeit liegt entfernt -
sie findet nicht jetzt statt; das für die Mahlzeit bestimmte Beutetier ist
entfernt, nämlich nicht hier. Offenbar taucht die Kategorie Entfernung
sowohl im Raum wie in der Zeit auf.
Daß es Welt (als Inbegriff des von mir entfernten „Anderen“ ) gibt,
und zwar deshalb, weil wir als Bedürftige auf anderes, auf Distantes,
auf Abwesendes angewiesen sind, ist evident. 5 Nicht dagegen, warum
dieses Medium der Distanzen, in dem wir uns als jagend Gejagte her­
umtreiben, ein Doppelgesicht hat; warum es sich in zwei, und zwar
zwei völlig verschiedene Äste gabelt; warum Abwesenheit sich in zwei
Formen, die wir „räumliche“ und „zeitliche“ Abwesenheit nennen,
verwirklichen muß. Diese Struktur ist durch die Deduktion der Welt
aus dem Bedürfnis nicht mit-deduziert. Jedenfalls bis jetzt noch nicht.
Unsere Fragen: Warum zwei Formen der Abwesenheit? und: Warum
gerade diese? und: Wie unterscheiden sich die zwei voneinander? -
diese Fragen, die dem gesunden Menschenverstand albern klingen,
klingen in unserem Zusammenhange durchaus berechtigt. Vielleicht
läßt sich auch diese Gabelun g deduzieren.
Zw ei Aufgaben müßte diese Deduktion erfüllen. Sie müßte
1. die Doppelförmigkeit (Raum und Zeit) ableiten;
2. die spezifischen Charaktere, die Raum und Zeit voneinander un­
terscheiden, aus dieser Wurzel entwickeln.
Unterstellen wir einmal, es gebe ein autark-seliges Wesen, ein „ani­
mal stoicum“ , dessen ontologische Artung sich, da ihm weder Hunger
noch Bedrohung bekannt wären, von der unseren grundsätzlich unter­
schiede. Und dieses Wesen bäte uns darum, ihm Aufklärung darüber
zu geben, was wir unter Raum, und was wir unter Zeit verstehen.
Nicht Fragende wären w ir also, sondern die Befragten.
Seine Bitte zu erfüllen, würde uns (da wir als raumzeitliche Wesen
kaum, wenn überhaupt, auf Raum- und Zeitvokabeln verzichten
könnten) die größte Schwierigkeit verursachen. Nehmen wir einmal
an, wir versuchten es trotzdem. Natürlich hätten wir unsere Aufklä­
rung mit der Schilderung unserer Bedürftigkeit zu eröffnen. „A ls
nicht-autarke Wesen“ , würden wir also beginnen, „sind wir überall
und immer auf anderes angewiesen. Oder wir haben anderes, nämlich
uns Gefährdendes, abzuweisen“ . Weder dies noch jenes versteht er.
„Stets“ , so würden wir fortfahren, „geht es in unserem Dasein darum,
anderes zu haben, und von anderem nicht gehabt zu werden.“ Auf
seine Frage, was wir unter „anderem“ verstünden, hätten wir zu ant­
worten: „Dasjenige, über dessen Anwesenheit oder Abwesenheit wir
nicht ohne weiteres verfügen. Nicht z.B. über die Anwesenheit der
Speisen oder über die Abwesenheit der Verfolger. Diese müssen also
anwesend oder abwesend gemacht werden“ .
Nehmen w ir ferner an, der Frager (das autarke Wesen) habe diese
ontologischen Erläuterungen (die ihm nicht nur höchst ungewohnt,
sondern völlig unglaubhaft klingen müßten) akzeptiert und die Funk­
tion der zu überbrückenden Distanz verstanden. Dann stünde er an
jenem Punkte, an dem wir selbst stehen. Denn dann würde er, und mit
Recht, jene Frage stellen, die wir dem Mann des gesunden Menschen­
verstandes vorgetragen hatten, und die er als albern zurückgewie­
sen hatte. „U nd was ist nun Raum?“ würde er nämlich fragen, und:
„Was ist nun Zeit?“ - Oder: „Ist nun dieses Medium des Abwesen­
den dasjenige, was Sie als ,Raum', oder dasjenige, was Sie als ,Zeit‘
bezeichnen?“
„Beides“ , würden wir antworten müssen.
„Und warum gleich zwei?“ , würde er darauf fortfahren, „warum ist
es nötig, daß es beide gibt?“
„N ötig? Aber so ist es eben.“
„Bemerkenswert. - Und können Sie die zwei unterscheiden?“
„A ber gewiß. Es ist mir noch niemals passiert, die zwei zu verwech­
seln.“
„Bewundernswürdig. - U nd wie unterscheiden sie sich?“

Hätte das selig-autarke Wesen nicht recht, diese Frage zu stellen?


Warum also gibt es zwei „Formen der Anschauung“ bzw. „der
Behinderung“ , oder wie immer w ir Raum und Zeit nennen mögen?
Und warum gerade diese zwei? Beide haben mit Abwesenheit zu tun.
Auf verschiedene Weise? Wie verteilen sich die Rollen der zwei inner­
halb einer typischen Abwesenheitssituation?
Nehmen wir die elementare Hungersituation. Ein Lebewesen6,
gleich ob Fisch, Fuchs oder Mensch, verspürt Hunger. Nun ist es also
auf sein „desideratum“ aus. Auf das Essen. Ist dieses in räumlicher
Hinsicht abwesend oder in zeitlicher?
In beiden. Hier und jetzt ist es abwesend, wir stehen gewissermaßen
noch vor der Scheidung zwischen Raum und Zeit.
Oder vielleicht doch nicht mehr? Ist das „Essen“ im Sinne des zu ver­
speisenden Objekts (der Beute) vom Hier abwesend oder vom Jetzt?
Offenbar nurvom Hier. Denn die Beute existiert ja. Und sie wird als
existierend vom Hungernden gemeint.
Und das „Essen“ im Sinne des Akts des Verspeisens?
Offenbar nur vom Jetzt abwesend.
Die Unterscheidung zwischen Objekt und Akt scheint uns einen
Schritt vorwärts gebracht zu haben. Wiederholen wir: Als räumlich
abwesend wird die Existenz des Objektes verstanden. Anderswo exi­
stiert das Objekt (z.B. das Beutetier) zwar, auch jetzt; aber es ist nicht
hier, d. h. nicht „bei mir“ (dies der ursprüngliche Sinn von „hier“ );
und ich bin nicht bei ihm.
Als zeitlich abwesend gilt der Akt -d e r befindet sich nicht irgendwo
draußen, der „ist“ sogar hier; denn der Appetit ist gewissermaßen das
Essen bei Abwesenheit der Speise; und im Traum erschafft sich ja der
appetitus geradezu die imago seines Objektes, so daß der A kt effektiv
stattfindet, obwohl das Objekt des Aktes als „da“ nur imaginiert wird
(so z.B . im Sexualtraum).
Raum und Zeit sind also nicht Parallelformen, sondern durchaus
verschiedene „Weisen der Abwesenheit“ . Räumlich abwesend ist das
desideratum, insofern es ist, obwohl ich es nicht habe (oder es mich
nicht hat). Zeitlich abwesend und darum gewissermaßen nichtseiend ist
die Erfüllung des Desiderats, weil ich es nicht habe. - Und Vergangen­
heit?
Die in der Geschichte der Philosophie immer wieder auftauchende
Koordinierung von „Zeit“ und „Nichtsein“ - Vergangenheit ist nicht
mehr, Zukunft noch nicht und die Gegenwart nur ein hinfälliger Punkt
- ist ebensowenig zufällig wie die Tatsache, daß man der Welt als
seiender immer wieder Räumlichkeit zugesprochen hat, ja, daß man
ihr, wenn man ihr Sein aufs äußerste betonte, gerade Zeit ab-, nämlich
Ewigkeit zusprach. A uf die (scheinbar analoge) Idee dagegen, die Welt
als raumlos zu bezeichnen, um ihr Sein zu unterstreichen, ist niemals
eine Metaphysik gekommen.
Freilich gibt es eine Situation, in der der Unterschied zwischen
Raum und Zeit aufgehoben ist: nämlich die Situation, in der man die
Beute hat, die der Befriedigung. Dieses hic et nunc wird zur Gegen­
wart, in der das Objekt nicht mehr abwesend ist, da es eben gehabt
wird, also gegenwärtig ist. Es ist wahrhaftig kein Zufall, daß wir mit
diesem Worte „Gegenwart“ (und das nicht nur im Deutschen) einen
raumzeitlich-neutralen Sinn verbinden. Umgekehrt - es wäre unbe­
greiflich, wenn das nicht der Fall wäre.
Über Happenings’
1968

Der Anlaß zu den folgenden Überlegungen war eine Meldung, auf


die ich vor kurzem in einem amerikanischen Wochenmagazin gestoßen
war. Diese Meldung handelte von einer sich selbst ungeheuer wichtig
nehmenden Philologentagung, auf der zahllose „papers“ über die spe­
ziellsten Themen verlesen wurden. Plötzlich habe sich ein nacktes
Mädchen von der Galerie in den Saal hinuntergeseilt und sei dort,
Schokolade, Limonade, Eisbonbon ausrufend, Waren, die sie in einem
Bauchladen vor sich hertrug, durch den Saal gezogen. - Wenn das kein
Happening war, dann weiß ich nicht, was das Wort bezeichnet. Und
dieses Happening hat mir den Anstoß dazu gegeben, ein paar Bemer­
kungen über das Wesen oder Unwesen von Happenings zu machen.
Das erste, was auffällt, und was vermutlich die Philologen zuerst
empört hat, war: „Dieses nackte Girl benimmt sich so, als wenn unser
Tagungssaal, in dem wir, wirkliche Philologen, einen wissenschaftli­
chen Kongreß abhalten, nichts wäre als eine Bühne, und dazu die
Bühne eines Kabaretts oder eines absurden Theaters; und als wenn
wir, wie Schauspieler, nur im Modus des Als-ob existierten. Warum
tut sie das nur? Gleichviel: Eigentlich ist diese Szene so unwahrschein­
lich, daß sie gar nicht wahr sein kann !'
Das w ar vermutlich die erste Reaktion, und diese enthält auch schon
eine gewisse erste Wahrheit. Denn wirklich arrangieren die Veranstal­
ter von Happenings diese so, als wenn diese Vorfälle nicht ganz real,
nicht ganz gültig wären. Diese Ungültigkeit stellen sie mit demselben
Mittel her, mit dem sie die Happenings so schockierend machen: näm­
lich dadurch, daß sie diese ohne jedes ersichtliche Motiv aufführen und
als völlig isolierte Intermezzi in den Kontext des wirklichen Gesche­
hens hineinknallen.
Das ist freilich mißverständlich. Denn als unmotiviert, sinnlos, un-
wahrscheinlich scheinen Happenings immer nur aus der Perspektive
derer, denen die Happenings angetan werden. Die die Happenings
veranstalten, die wissen, warum sie das scheinbar Sinnlose tun. Was sie
beabsichtigen, ist nämlich stets, die Situation, in die sie ihre Happe­
nings hineinpflanzen, in etwas ebenfalls Unwahrscheinliches und Sinn­
loses zu verwandeln. Der Saaldiener zum Beispiel, dem die Aufgabe
zufiel, das nackte Mädchen abzuführen, der wurde natürlich, ganz
gleich, wie er sich dabei benahm, einfach durch die Tatsache seiner
Teilnahme ebenfalls zur Possenfigur. Und die Philologen, die vielleicht
gerade einem paper über „Kafka und das Wörtchen ,und'“ lauschten,
konnten diesem Schicksal natürlich genausowenig entgehen, denn
gleich, ob sie die Nackte beäugten oder ob sie krampfhaft von ihr
fortblickten - auch sie waren nun plötzlich lächerliche Figuren, jeder
von ihnen in den Augen der anderen. Und das war natürlich das Motiv
des Mädchens, das seinen scheinbar unmotivierten Kabarettakt durch­
führte. Ich glaube, wir dürfen erst einmal definieren:
Happenings sind Akte, deren Sinn darin besteht, durch ihre Sinnlo­
sigkeit diejenige Realität, in die sie hineinplatzen, ebenfalls sinnlos zu
machen, oder richtiger: diese als sinnlos oder lächerlich zu demaskieren
und anzuprangern.
Die Veranstalter wissen also, was sie tun. Als Opfer wählen sie sich
allein solche Situationen oder Einrichtungen, die ihnen lächerlich zu
sein scheinen, die sie zu verändern, abzuschaffen oder zu zerstören
wünschen. „A ber warum“ , wird man nun fragen, „zerstören sie das,
was ihnen obsolet und zerstörungswert scheint, mit Hilfe von so extra­
vaganten Methoden?“
Mit dieser Frage kommen wir zum zweiten grundsätzlichen Punkt.
Die Antwort lautet nämlich: Mit Happenings arbeiten allein diejeni­
gen, die machtlos sind; die die Möglichkeit, die zu bekämpfenden
Einrichtungen effektiv zu verändern oder effektiv abzuschaffen, nicht
besitzen. Happenings sind durchweg N ot- und Ersatzveranstaltungen,
zuweilen sogar geradezu Verzweiflungsakte, durch die Machtlose ihre
Ansprüche anmelden. Und das bedeutet zugleich, daß sich Inhaber
von Macht (wie albern und happeningartig ihre Aktionen, namentlich
ihre Würde- und Machtdemonstrationen oft auch aussehen mögen),
niemals genötigt sehen, Happenings zu veranstalten. Tatsächlich
könnten die das auch gar nicht. Denn Besitz von Macht macht deren
Eigentümer oft so tierisch ernst, daß sie unfähig werden, Witze zu
verstehen. Und erst recht unfähig, den Witz von Happenings zu
verstehen, da diese sich ja nicht verbal als Witze zu erkennen geben,
sondern in Verkleidung: nämlich als Aktionen, auftreten.
Politisch gesehen: Happenings brechen allein in denjenigen ge­
schichtlichen Augenblicken aus, in denen die Möglichkeiten wirkli­
chen Widerstandes, von Revolutionschancen zu schweigen, gleich null
sind; in denen aber andererseits den Opponierenden der totale Ver­
zicht auf Widerstand, Aufruhr oder Revolution von Tag zu Tag qual­
voller wird; so unerträglich schließlich, daß die Begierde danach durch
bloß literarische oder bloß künstlerische Verhöhnung: durch Pam­
phlete oder Karikaturen nicht mehr befriedigt werden kann, da diesen
ja statt massiver Existenz im dreidimensionalen Raum der Wirklichkeit
nur Phantomexistenz auf dem zweidimensionalen Papier vergönnt ist.
Erforderlich ist also in dieser Situation (da das eine: die Wirklichkeit,
zuviel, nämlich unerreichbar; und das andere: das Phantom, zuwenig,
nämlich unbefriedigend ist) eine Zwischenlösung, eine hybride Aktion,
die zwar noch kein realer politischer Akt, aber doch auch nicht nur
Literatur oder Kunst ist. Und diese Bedingung wird durch das Happe­
ning eben erfüllt. Während sich die Leser einer Satire über die ihnen
verhaßten oder von ihnen verachteten Institutionen oder die Betrach­
ter einer Karikatur darauf beschränken müssen, die Verhöhnung oder
Verachtung nur zu konsumieren, nämlich als ein Stück Literatur oder
Kunst - genießen ja die Teilnehmer an Happenings den Vorzug, an der
Verhöhnung und Diskreditierung wirklich und persönlich teilzuneh­
men und sich selbst dabei wirklich zu befriedigen und auszutoben.
Zweite Bestimmung des Happenings: Ein Happening ist eine Posse,
die nicht nur geschrieben und gelesen wird, nicht nur auf Buchseiten
erscheint, deren „ Realisierung“ auch nicht nur a u f der Bühne vor sich
geht, sondern in der Realität selbst, in einem öffentlichen Lokal, in
einer Universität, in einem Gerichtssaal oder au f der Straße. N ur
Machtlose, so sahen w ir, greifen zur Waffe des Happenings, es ist eine
Ersatzwaffe. Und diese Ersatzwaffe wird nun häufig, da man an die
Einrichtung, die man zu stören oder zu zerstören eigentlich vorhat,
nicht wirklich herankommt, gegen Ersatzobjekte eingesetzt. Nun liegt
es auf der Hand, daß nicht jedes Objekt als Ersatzobjekt taugt, daß die
Störung oder Zerstörung allein dann Wirkung verspricht, wenn das
Objekt als höchst wertvoll oder gar als heilig gilt. Dies ist der Grund
dafür, daß in Happenings so häufig Tabus attackiert werden; daß so
häufig sexuelle Exhibitionen oder sogar anale Spektakel bei solchen
Veranstaltungen im Mittelpunkt stehen.
Die Verletzung der Tabus, namentlich die der stärksten, mag zwar
für die Happening-Veranstalter eine gewisse Genugtuung mit sich
bringen; diese mögen auch glauben, daß sie durch die Zerstörung der
am tiefsten eingewurzelten Tabus dem Establishment eine wirkliche
Wunde schlagen. Aber oft irren sie. Denn dem Establishment, das
durch die Tabubrüche schockiert werden soll, sind diese Ersatzattak-
ken, da sie politisch unschädlich bleiben, oft gar nicht so unwillkom­
men. Und oft sind diese nicht nur unschädlich, sondern geradezu vor­
teilhaft. Es nützt nämlich dem Establishment, wenn sich die Opposi­
tionellen in nicht-politischen Aktionen verausgaben. Man darf ja nicht
vergessen, daß das Establishment selbst, um die Beherrschten von poli­
tischer Opposition abzulenken und um ihnen zugleich Lust und das
Gefühl von Avantgardismus zu schenken, sexuelle Tabus, die noch vor
zwanzig Jahren mindestens der Majorität als unantastbar gegolten hat­
ten, ununterbrochen und methodisch mit Hilfe von Millionen von
abgebildeten Nuditäten, Brüsten, Schenkeln und Geschlechtsakten
verletzt. Wenn nun die Opposition dieses Ablenkungsmanöver dem
Establishment abnimmt und selbst durchführt, kann das dem Esta­
blishment nur angenehm sein - was es freilich nicht im mindesten
davon abhält, auch das konträre Lied zu singen: nämlich das Lied, mit
dem es sich an die Philister, die jeden korrekt gekleideten Kriminellen
jedem sich indezent aufführenden Demonstranten vorziehen, wendet,
um die Oppositionellen bei diesen als obszön anzuschwärzen. Der
Schaden, den manche Happenings, die dann vom Establishment ausge­
schlachtet werden, verursachen, ist so groß, daß man sich zuweilen
kaum des Verdachts erwehren kann, daß die Tabubrecher als „agents
provocateurs“ bezahlt werden - was höchstens in einem ganz indirek­
ten Sinne zutrifft.

Aber kehren wir zurück zu den Erfolgen der Happenings, denn zu


behaupten, daß sie nichts erreichen, das wäre ja, wie wir vorhin gese­
hen hatten, falsch, da ja die beabsichtigte Sinnlosigkeit der Happenings
die realen Institutionen, in die sie hineinplatzen, als sinnlos demaskie­
ren kann. Tatsächlich gelingt das so gut, daß diese realen Ereignisse
nun selbst plötzlich den Eindruck von Happenings, gewissermaßen
von Happenings im vernünftigen Weltlauf, machen. Nicht die Happe­
ning-Veranstalter, z.B. die Münchener Studenten, die als Spötter dem
pomphaften Aufzug der in Talaren kostümierten Professoren voran­
tänzelten, wirkten absurd; absurd, sogar wie Veranstalter eines Hap­
penings, wirkte vielmehr durch sie der Zug der Talarträger. Und wie
Schauspieler wirken in gewissen Gerichtsverhandlungen nicht nur die
„teuflischen“ Angeklagten - durch die Unbefangenheit oder Frechheit
ihres Auftretens zwangen diese vielmehr ihre Gegenspieler: die Wür­
defiguren des Justizrituals, dazu, ebenfalls wie Schauspieler zu wirken;
auch diese benehmen sich nun so, als verstünden sie ihre Funktionen
nur noch als Rollen, als Rollen in einer Posse, deren Absicht es ist, sie
selbst dem Gelächter preiszugeben.
Ein weiterer Vorzug der Happenings ist es, daß sie aufgrund ihrer
Ambivalenz stets Alibi-Chancen bereitstellen. Da es ja immer offen
bleibt, wieweit ein Happening nur ein Jux oder schon ernst ist, genie­
ßen deren Veranstalter, wenn sie des Aufruhrs beschuldigt werden, die
Chance, sich an die Brust zu schlagen und - wodurch sie ein neues
Happening stiften - herzzerreißend zu beteuern, sie seien Unschulds­
lämmer, sie hätten sich bloß einen Scherz erlaubt; und seien verblüfft
und empört darüber, daß sie allen Ernstes für etwas, was sie selbst ja
nicht ernst gemeint hätten, zur Rechenschaft gezogen werden sollen;
und was auf dem Pflaster wie Blut aussehe, das sei ja in Wahrheit -
meine Herren, bitte prüfen Sie selbst! - nur rote Ölfarbe aus mitge­
brachten Cellophansäckchen gewesen; und da könnte man ja auch,
nachdem der Vorhang über der Hamlet-Vorstellung gefallen, die
Schauspieler als Totschläger oder Mörder gerichtlich belangen.
Zuweilen haben sie mit diesen Argumenten Glück. Zuweilen freilich
hat die Ambivalenz der Happenings die genau entgegengesetzte Wir­
kung: Aus dem Scherz wird nämlich dialektischerweise oft gerade
deshalb Ernst, w eil er nur Scherz ist, weil gerade der Scherz „aufs
Blut“ reizt. Nichts ist der Exekutive, die ja Verspieltheit nicht gerade
pflegt und auf Ambivalenz nicht gerade spezialisiert ist, mehr zuwider,
als wenn man sie zum besten hält, und jedem Polizisten ist es hundert­
mal lieber, es mit ehrlichen Messerstechern zu tun zu haben - da weiß
man, woran man ist - als mit Oppositionellen, denen noch nicht ein­
mal daran liegt, wirklich Blut zu vergießen, sondern allein daran, sie,
die Polizisten, mit roter Olfarbe zu besudeln und sie damit zu Schein­
opfern ihres Berufs zu machen. Sehr wahrscheinlich, daß Polizisten
zuweilen gerade deshalb, weil sie keine Lust haben, nur auszusehen,
als wenn sie bluteten und selbst zu Happenings zu werden, ganz be­
sonders hart und aggressiv werden. D er „ Schein“ der Happenings
schlägt dann in „Sein “ um2
Es kann also durchaus geschehen, daß gegen Vietnam protestierende
Studenten deshalb schwerverwundet auf dem Pflaster liegen bleiben,
weil sie die Polizisten, statt sie zu bekämpfen, nur geneckt haben.
Zuweilen freilich mag dieser dialektische Umschlag von „Schein“ in
„Sein“ , von roter Farbe in richtiges Blut, von den Happening-Autoren
beabsichtigt werden. Denn es ist begreiflich, daß den Oppositionellen
viel daran liegt, zu beweisen, daß nicht sie die ersten Gewalttätigen
sind.

Aber selbst damit ist die den Happenings innewohnende Dialektik


noch nicht erschöpfend behandelt. Aus zwei Gründen nicht:
1. Niemand wird behaupten, daß die Mai-Unruhen in Paris nur
Happenings gewesen seien. Die Härte, mit der die Bewegung von der
Regierung niedergeschlagen worden ist, beweist ja, daß sie auch von
denen, gegen die diese Bewegung losbrach, ernstgenommen wurde.
Aber es ist, da das im Interesse der Sieger liegt, durchaus denkbar, daß
die ernst gemeinten Aufstände der Studenten und deren ebenfalls ernst
gemeinte Versuche, die Arbeiterschaft in ihre Bewegung mit hineinzu­
reißen, nachträglich als ein bloßes Happening dargestellt und dadurch
lächerlich gemacht werden. Schlimmer noch, es kann sogar vorkom­
men, daß Rebellierende von sich aus dieser Mißdeutung Vorschub
leisten. Ein Beispiel dafür ist die höchst merkwürdige Tatsache, daß
Sympathisierende der Kämpfer, noch während draußen auf der Straße
die Kämpfe tobten, bereits eine Ausstellung von Photos dieser V or­
gänge eröffneten - wodurch diese Kämpfe natürlich zum Vorwand für
eine „Vernissage“ erniedrigt wurden.
Ein weiteres Beispiel für nachträgliche Verwandlung ernstester Ge­
schehnisse in Happenings ist die Behandlung der zweiten Selbstver­
brennung in Prag. Zu betonen, daß die Selbstverbrennungen von sich
aus keine Happenings sind, ist überflüssig, denn wo wirkliche Opfer
fallen und wo das Sterben anfängt, da hört das Reich der Verspieltheit
auf. Andererseits aber gilt, daß sich die Selbstaufopferung von Jan
Zajic nachträglich durch die Verachtung, die den darüber schreibenden
CSSR-Journalisten nahegelegt oder befohlen worden war, in ein nicht
ernstzunehmendes Spektakel, also in ein Happening verwandelt hat.
2. Es ist durchaus denkbar, daß in geschichtlichen Situationen, in
denen politische Oppositionsgruppen aller wirklichen Oppositions­
möglichkeiten beraubt sind, allein durch eine Kontinuität von Happe­
nings eine minimale Kontinuität von Opposition gesichert und durch­
gehalten werden kann. In früheren Geschichtsepochen ist es ja zuwei­
len geschehen, daß solche Kontinuität allein durch Dichter und Philo­
sophen garantiert werden konnte. Wer weiß, ob nicht die Happening­
Verfasser eine ähnliche Funktion ausüben werden. Jedenfalls ist es
besser, daß Ideen, die nicht verwirklicht werden können, mindestens
noch „gespielt“ , als daß sie ganz und gar aufgegeben werden. J e ernster
die Lage, um so ernster kann die Funktion des Unernstes werden.
197a

I. DIE ZW EI W U RZELN
DER S IN N L O S IG K E IT

§ 1

Die Eidoslosigkeit des Arbeitens

Grundlos ist es wahrhaftig nicht, daß wir von der ,,Sinnlosigkeit des
heutigen Lebens“ sprechen. Was wir vor allem damit meinen, oder
richtiger: was diesem unseren sehr berechtigten Gefühl zugrundeliegt,
ist etwas, was man akademisch die „ negativ-intentionale Struktur un­
seres heutigen Arbeitens“ nennen könnte. Damit meine ich nicht nur,
daß wir nicht Eigentümer der Produktionsmittel sind, mit deren Hilfe
wir arbeiten - dieser berühmte Defekt ist nur einer unter anderen, die
durchwegs Folgen der einzigen „Weltrevolution“ sind, die sich im
letzten Jahrhundert wirklich ereignet hat: der hüben wie drüben sieg­
reichen technischen Revolution. Meine Analysen sind also, genau so
wie die des ersten Bandes, „system-neutral“ .
Mit dem so umständlichen Ausdruck „negativ-intentionale Struktur
unseres heutigen Arbeitens“ , den ich im Verlaufe meiner Untersu­
chungen möglichst vermeiden werde, bezeichne ich die Tatsache, daß
wir (im Unterschied zum Handwerker, etwa zum Schuhmacher, der
weiß und sieht, was er tut, und der während seines ganzen Arbeitsgan­
ges auf sein schön spiegelndes Endprodukt hinarbeitet) während der
Arbeit die Endprodukte, die wir herstellen (richtiger: deren Teile und
Teilesteile wir mit-herstellen) nicht vor uns sehen; daß wir vielmehr
währenddessen „eidoslos“ ' und die Produkte „transzendent“ bleiben.'
Das ist der Fall deshalb,
1. weil der Weg zwischen unserem ersten (Fließband-)Handgriff
und dessen schließlichem Produkt unendlich vermittelt ist;
2. weil in „unser“ Produkt zahllose Leistungen Anderer mit-einge-
hen, und der eigene Beitrag durch das Gestrüpp der anderen Beiträge
nicht hindurchscheint. In der Tat wäre der Versuch, während der A r­
beit am laufenden Bande an das Schlußprodukt zu denken, albern. Die
Beziehung bliebe, da wir unseren eigenen Beitrag im Bilde des Schluß­
produktes nicht mehr ausmachen könnten, eine rein äußerliche, eine
bloß „gewußte“ ;
3. weil wir uns auf denjenigen Teil des Teils, an dem zu arbeiten uns
jeweils obliegt, und auf den Jetztpunkt der jeweiligen Arbeit konzen­
trieren sollen; und das auch, um genau zu arbeiten, müssen; und das
schließlich sogar auch wollen;
4. weil wir nicht auf den Gedanken kommen sollen, „unsere“ Pro­
dukte (gar deren Bewandtnis) zu beurteilen oder zu kritisieren oder gar
zu sabotieren - was wir nicht nur unterlassen sollen, sondern wie­
derum auch wollen. Und unterlassen wollen wir das deshalb, weil wir
uns, namentlich in Zeiten der Arbeitslosigkeit3, selbst damit sabotieren
würden.

Offensichtlich sind „Eidoslosigkeit“ und „Transzendenz“ , die es,


wenn auch unbenannt, schon seit mehr als hundert Jahren gibt, nichts
weniger als bloß zufällige, empirisch feststellbare Arbeits- und Pro­
duktionsqualitäten. Vielmehr sind sie, da sie der irrevokablen indu­
striellen Revolution entspringen, Wesensmerkmale unserer heutigen
Arbeit, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Die allerortens beliebte
Rede von der fälligen „Humanisierung der Arbeit“ ist daher unredli­
ches Gerede, eine contradictio in adjecto. Eine solche Humanisierung
kann es genau so wenig geben wie eine solche des Krieges, weil das
angeblich zu Humanisierende hier wie dort das Prinzip der Inhumani­
tät von vornherein in sich einschließt.
Mit dieser „Eidoslosigkeit“ und „Produkt-Transzendenz“ hat es
aber nicht sein Bewenden. Die Negativität ist breiter gefächert. Nicht
nur vom Bilde unserer Produkte sind wir ausgesperrt, sondern damit
auch von der Freiheit, über die Verwendung unserer Produkte mitzu­
verfügen. Und damit wiederum von der Möglichkeit, die (zuweilen bis
ins Genozidale reichenden) Effekte unserer Produkte (also unseres
Produzierens, also unsere Effekte) zu beurteilen und zu verantworten.
Und, wie gesagt: all das können w ir nicht nur nicht, das sollen wir auch
nicht. Und das sollen wir nicht nur nicht, das sollen w ir auch nicht
können. Und das sollen wir nicht nur nicht können, das sollen wir auch
nicht mehr können wollen -k u rz : das tun wir nicht. Unser Arbeitspro­
dukt geht uns nichts an. -
Diese uns auferlegte, aber von uns auch als selbstverständlich und
harmlos akzeptierte „Transzendenz der Produkte“ , der Verwendung,
der Effekte: die unendlich breite Kluft zwischen unserer Tätigkeit und
dem, was durch diese irgendwann irgendwo bewirkt wird, macht nun
unser Leben - und damit sind wir beim Thema - tatsächlich sinnlos.
Wenn von „Sinn der Arbeit“ überhaupt noch die Rede sein kann, dann
besteht dieser nun - was wahrhaftig nicht verächtlich gemeint ist - im
Empfang der Lohntüte. Da die Mehrheit unserer in den hochindustria­
lisierten Ländern lebenden Zeitgenossen nur diesen Sinn noch kennen,
nur diesen noch kennen können, müssen wir von dieser Mehrzahl
sagen, sie führe ein sinnloses Leben. Wobei wir freilich zugestehen
müssen, daß das „sinnlose Arbeiten“ vielleicht - nein: nicht sinnvoller,
aber doch wohl erträglicher ist als das sinnlose Herumvegetieren der
Arbeitslosen, denen noch nicht einmal sinnloses Arbeiten vergönnt ist.
Es gibt nichts Herzzerreißenderes als das Heimweh der Arbeitslosen
nach den guten alten Zeiten, in denen sie noch hatten sinnlos arbeiten
dürfen.

§2

Das Mittel-Universum

Der zweite Grund für unser Gefühl der Sinnlosigkeit besteht in der
Tatsache, daß wir dazu verurteilt sind, in einem „ Mittel-Universum“
zu leben. Darunter verstehe ich die, durch die zweite industrielle R e­
volution geschaffene, künstliche Welt, in der es keine Akte oder G e­
genstände mehr gibt, die nicht Mittel wären, die nicht Mittel sein
sollen, deren Zweck nicht darin bestünde, die Produktion oder War­
tung weiterer Mittel zu gewährleisten, weiterer Mittel, deren Zweck
wiederum darin besteht, weitere Mittel zu erzeugen oder erforderlich
zu machen usw. Einen „ Wert“ stellt ein Akt oder ein Produkt unter
diesen Umständen nur dann her, wenn dieser (bzw. dieses) „ gut fü r
etwas“ , also kein Sinn ist, sondern einen nur hat. Aber hier von „nur“
zu sprechen, ist unzulässig, weil ja ein Mittel für etwas zu sein als das
höchste, als das einzige gilt, was Existenz rechtfertigt.4 Endziele hätten
also, sofern solche (was niemals der Fall ist) in dem Mittel-Universum
auftauchen würden, keinen „Sinn“ - gerade sie wären (darin besteht
die Dialektik der Sinnlosigkeit) „sinnlos“ . Höchstens bestünde ihr
Sinn darin, daß sie der „Sinn der Mittel“ wären, da diese ja auf ihre
(der Ziele) Verwirklichung aus sind. Sinnlos ist also, da in diesem
Universum alles nur Mittel und nichts Zweck ist, dieses Universum als
ganzes, und der Zwang, in einem solchen sinnlosen Universum unent­
rinnbar leben zu müssen.

II. DI E V E R D R Ä N G U N G DER S I N N L E E R E

Wenden w ir uns nun, nachdem wir die zwei Wurzeln der Sinnlosig­
keit bloßgelegt haben, den Mitteln zu, mit denen Abhilfe gegen diese
versucht wird. Deren gibt es zwei: die Fremdhilfe und die Selbst­
hilfe.

Die Fremdhilfe

Jeden, der die Literatur über diesen Gegenstand auch nur anblättert,
müßte es eigentlich verblüffen (was freilich nicht der Fall ist), daß von
der tatsächlichen Sinnlosigkeit unseres Lebens nur ganz selten, man
darf wohl sogar sagen: niemals die Rede ist, sondern immer nur vom
Gefühl der Sinnlosigkeit - so als wäre dieses Gefühl das eigentliche
Unglück, nur dessen Beseitigung erforderlich; so als wäre der Zahn­
schmerz die Krankheit. Bei keinem Autor findet man den unzweideu­
tigen Satz: „Jawohl, unser Leben ist effektiv sinnlos.“ Bei keinem die
Frage, ob das Verlangen nach Sinn überhaupt sinnvoll sei.
Natürlich ist das nicht grundlos so. Denn es liegt auf der Hand, daß
wer die Sinnlosigkeit als Tatsache zugestände, damit von der Technik
(die, wie wir gesehen haben, die Wurzel der Sinnlosigkeit ist) abrücken
würde; und ferner, daß sich jedes Establishment, gleich ob hüben oder
drüben, durch Distanzierung von der Technik selbst zum Tode verur­
teilen würde. Aus diesem Grunde wird die Sinnlosigkeit fast durchweg
verdrängt. Und das nicht nur von den arbeitgebenden Establishments,
sondern auch von den Millionen von Arbeitern, da diese ja, wenn sie
der Sinnlosigkeit ihrer Arbeit und ihres Lebens wirklich ins Auge
blickten, total aufgeben müßten. In der Tat ist die Zahl der Ehrlichen,
also derer, die ihre Sinnlosigkeit zugeben - wir werden bald von ihnen
sprechen - ungleich geringer als die der „Verdränger“ . Diese - und es
handelt sich um hunderte von Millionen - betonen sehr begreiflicher­
weise (und die von Arbeitslosigkeit Bedrohten und die effektiv A r­
beitslosen am emphatischsten), daß Arbeit als solche ein heiliges
Grundrecht sei, auf das sie Anspruch hätten. Und da es in ihren Augen
absurd wäre, etwas, was sie als heiliges Recht proklamieren, als „sinn­
los“ zu bezeichnen, verhindern sie sich erfolgreich daran, die Sinnlo­
sigkeit ihrer Arbeit zu erkennen. Daß Arbeit, sogar die sinnvollste:
nämlich die unmittelbar Bedürfnisse stillende, ursprünglich und bis
vor noch ganz kurzem als Fluch gegolten hatte, das könnten sie, wenn
man sie an diese Bibelwahrheit erinnern würde, einfach nicht mehr
nachvollziehen, trotz der Tatsache, daß ihr Arbeiten „ verfluchter“ ist
als alle bisherige Menschenarbeit. Und zwar eben deshalb nicht, weil
sie unfähig sind, etwas gleichzeitig als „positiv“ , nämlich als heilig,
und als „negativ“ , nämlich als sinnlos und als Fluch, zu erleben.

III. DIE B EK Ä M PFU N G DES G EFÜ H LS


STATT DER SACHE

§4
,,Sinn-Racketeers“

So also argumentieren Millionen (wenn man von „argumentieren“


reden kann, denn ausdrücklich formuliert wird dieses Argument nie­
mals). Aber eben nicht alle Millionen leiden, und wie wir vorhin gese­
hen hatten: mit vollem Recht, an der Sinnlosigkeit. Zu diesen kehren
wir also zurück.
Und da muß man gleich mit der Erklärung beginnen, daß dieses
Leiden, obwohl es heute zur Mode geworden ist, über das Gefühl der
Sinnlosigkeit zu reden, nicht wirklich ernst genommen wird. Was sich,
wie oben schon berührt, darin zeigt, daß man eben, statt die effektive
Sinnlosigkeit nur das Gefühl der Sinnlosigkeit behandelt. Und wenn
ich sage: „behandelt“ , dann meine ich nicht nur die theoretische, son­
dern auch die therapeutische Behandlung.
Gewöhnlich wird diese Unterscheidung gar nicht gemacht, die phi­
losophische Darstellung des Problems bleibt stets ganz unartikuliert.
Soviel aber kann als Regel gelten, daß nicht die Sache selbst, nicht die
gefühlte Sinnlosigkeit als der Zustand gilt, auf dessen Kurierung es
ankommt, sondern das Gefühl der Sinnlosigkeit. Es gibt, namentlich in
den Vereinigten Staaten, Legionen von Therapeuten - nennen wir sie
die „Sinn-Racketeers“ - die in der Existenz dieses Gefühls ihren Le­
benssinn sehen, nämlich von dessen Existenz leben; und die nicht nur
behaupten, dieses Gefühl zu kurieren, sondern schamloserweise sogar
verkünden, dem Leben „Sinn verleihen” zu können. Und diese Tau­
sende brauchen wir noch nicht einmal aufzusuchen, sie kommen auch
in Europa zu uns. Täglich rinnt das Gefasel gegen dieses Gefühl um
eine bestimmte Uhrstunde aus den Radiomündern von Trivialpsycho­
logen, - geistlichen und - philosophen aller Denominationen, und diese
gleichen einander, wenn sie ihren Unsinn über „Sinn“ und „Sinnver­
lust“ von sich geben, wie ein Ei dem anderen. Durchweg sind sie stolz
darauf, als moderne Zeitgenossen bereits von der „Dritten Psychoana­
lytischen Schule” Kenntnis genommen zu haben, die nun an die Stelle
des Odipus- oder des Minderwertigkeitskomplexes das Gefühl des
Sinnverlusts als die Krankheit von heute inthronisiert hat. Und nicht
nur sich selbst stellen sie als die Jünger dieser Dritten Schule dar, sie
haben sogar die erstaunliche Kühnheit, Gott sowohl wie Jesus jenes
Vokabular in den Mund zu legen, das sie - denn die Bibel kennt
unseren heutigen Begriff von „Sinn“ nicht - allein den Schriften des
Gründers dieser Schule, also Viktor E. FranklsS entnommen haben
können - eine Verfälschung, die sie sich bei der offenbar dürftigen
Bibelkenntnis der Rundfunkgemeinde ungestraft herausnehmen kön­
nen. Genau kommt es diesen Sinnpredigern freilich nicht darauf an,
denn sie beteuern - Hauptsache, das Wort „Sinn“ kommt vor - einan­
der aufs schroffste widersprechende Redensarten: Einmal heißt es, daß
Gott oder Jesus der Sinn sei (oder - was auch schon etwas anderes ist:
daß es der „Sinn“ unseres Daseins sei, Gott oder Jesus nachzufolgen).
Eine Minute später ermahnen sie uns dann aber (auch dies eine Frankl­
Redensart) „ Willen zum Sinn“ aufzubringen - was auf einen blanken
Widerspruch herausläuft, da diese Formel ja unzweideutig ausdrückt,
daß wir den (weiß Gott von welchem genie malin sinnloser Weise
verborgenen) Sinn selbst suchen und finden, nein sogar (in sog. „Sinn­
gebung“ ) erfinden sollen oder müssen. Tatsächlich ist neulich die self-
made-man-Formel „Je d er ist seines Sinnes Schmied“ aus dem nicht
weniger als Papier geduldigen Radio geronnen. Und nicht genug, daß
diese Rundfunkprediger der „Dritten Wiener Schule“ uns schulter­
klopfend versichern, daß wir, wenn wir nur einen „rechten Willen
zum Sinn“ aufbringen würden, auch das Ziel schon halb geschafft
haben würden („W o ein Wille ist, da ist ein Sinn“ - die gleiche Quelle),
auch diese sinnlos-optimistische Redensart, die in den U SA natürlich
stürmisch applaudiert wird, wagt man als Mahnungen Gottes oder
Jesu auszugeben: Einen „Willen zum Sinn“ , versicherte neulich sogar
einer dieser Weisen aus Radioland, habe Gott „eigentlich“ gemeint, als
er uns erschaffen habe - „eigentlich“ : Offenbar weiß der Magister
besser als Gott, was dieser zwar intendiert, aber leider so gut wie ein
Franklist noch nicht hatte formulieren können. Voll Scham verhüllt
der Ungläubige sein Haupt.
Die uns dazu auffordern, das Sinnlosigkeitsgefühl zu bekämpfen -
und deren gibt es heute bereits Abertausende -, die sind nicht besser
als es Politiker wären, wenn sie den Hungernden in der Sahelzone den
Ratschlag gäben, gegen ihr Brotlosigkeitsgefühl anzukämpfen - ein
Zynismus, den sich noch kein Staatsmann je herausgenommen hat.
Und wenn es Psychotherapeuten gar wagen, den Millionen, die wirk­
lich sinnlos in Büros oder Fabriken oder als Arbeitslose vor Fernseh­
schirmen herumexistieren, einen „ Willen zum Sinn“ aufzuschwatzen,
dann sind sie nicht besser, als es Staatsmänner wären, die den Hun­
gernden einen „Willen zum Sattsein“ empfehlen und ihnen weisma­
chen würden, dieser Wille sei bereits das halbe Brot, mit dem sie sich,
wenn sie nur richtig wollten, unverzüglich sättigen könnten.
Tausende von Psychotherapeuten führen die, sie wegen chronisch
gefühlter „Sinnleere“ konsultierenden, Patienten mit solchem feierli­
chen Gerede in die Irre. Statt den Patienten redlich zuzugestehen: „Sie
haben recht, Ihr Gefühl ist legitim. Für Sie hat das Leben, das Sie (als
Arbeiter in der Nadelfabrik oder als lebenslänglicher face lifter oder als
Verkäufer von Lotterielosen) führen, auch wenn Ihre Tätigkeit für den
oder jenen Menschen vielleicht von Nutzen sein sollte, auch wenn
diese ,humanisiert‘ wäre, in der Tat keinen Sinn. Aber glauben Sie nur
nicht, der von Ihnen verwendete Ausdruck ,Sinn des Lebens* habe
irgendeinen Sinn, oder Sie hätten das, was Sie so schmerzerfüllt bei mir
als Verlustobjekt anmelden, vorher jemals besessen; was vorher gewe­
sen war, war nicht Sinnbesitz gewesen, sondern ein Zustand, in dem
Sie nach Sinn gar nicht gehungert hatten. Oder gar, Sie könnten sich
für einen angeblich verlorenen Sinn eine ,Sinnprothese‘ anfertigen las­
sen. Warum setzen Sie eigentlich voraus, daß ein Leben, außer dazu­
sein, auch noch etwas ,haben‘ müßte oder auch nur könnte - eben das,
was Sie ,Sinn‘ nennen? Lassen Sie es sich doch nicht weismachen, daß
Sie Ihren Lebenssinn fin d en könnten (denn der ist nicht irgendwo
versteckt, vielmehr gibt es ihn nicht); oder gar, daß ein Anderer, z.B.
ich, der angebliche Therapeut, diesen für Sie finden und Ihnen dann
wie einen Stiftzahn einsetzen könnte? Nein, dasjenige, was Sie nicht
verloren haben, weil Sie es gar nicht besessen hatten, das kann beim
besten Willen auch niemand ,wiederfinden‘ .6 Und unterstellt selbst,
Ihr Leben ,habe‘ einen ,Sinn‘ : wie erbärmlich, wie in sich wider­
spruchsvoll, um nicht zu sagen: wie unmoralisch muß ein Sinn sein,
wenn er sich (obwohl er doch angeblich den ,Sinn‘ hat, als Leitziel und
Rechtfertigung Ihres Lebens zu dienen) so tief versteckt, daß er unauf­
findbar und unerkennbar bleibt, also seine Funktion total verfehlt. Die
trivialphilosophische Umgangssprache benutzt zwar mit Vorliebe den
Ausdruck ,tiefer S i n n und einen solchen tiefen Sinn soll das Leben
oder die Welt angeblich haben - aber diese Rede von ,Tiefe' rührt
allein daher, daß die Suche nach dem Sinn, da sinnlos, vergeblich bleibt
- woraufhin man immer ,tiefer‘ gräbt. Je weniger man findet, um so
tiefer muß er sein. Je schlechter, desto besser.“ Ich muß daran erin­
nern: das sind nicht meine Worte. Vielmehr die fiktiven eines redlichen
Psychotherapeuten.

Nein, nicht ein pathologisches, einer Behandlung bedürfendes Sym­


ptom ist das Gefühl der „ Sinnlosigkeit des Lebens“ , sondern ange­
sichts des Faktums der Sinnlosigkeit ein völlig berechtigtes Gefühl, ein
Zeichen von unbeschädigter Wahrheitsbereitschaft, um nicht geradezu
zu sagen: ein Symptom von Gesundheit. Diese Wahrheitsbereitschaft
verlangt freilich, wie paradox immer das auch klingen mag, daß wir
nach „Sinn“ zu suchen aufhören. - Gleichviel: die wirklich Kranken
sind diejenigen - und das sind Hunderte von Millionen - die es niemals
gespürt haben, daß sie faktisch ein sinnloses Leben führen, die es
nämlich früh erfolgreich gelernt haben, in der Sinnlosigkeit zu leben
und nichts anderes zu erwarten.
Was aber die Abertausenden von Therapeuten betrifft, so gleichen
diese jenen Barkeepers auf den Goldrush-Plätzen des Wilden Westens,
die nicht selber nach angeblichem Gold gruben, vielmehr durch die, zu
99% zugrundegehenden, Goldgräber zu Gold kamen. Oder, in einem
anderen Bilde: sie gleichen Ärzten, die Hungrigen, statt diese ins Gast­
haus zu schicken, eine Spritze gegen das Hungergefühl verabreichen.
Gegen Honorar.

Sinn als Mittel. Kaffee fürs Volk

Aber wenden wir uns noch einmal Frankl zu. Richtig beobachtet er
- und da spricht er aus Erfahrung - daß in Auschwitz und Dachau
diejenigen, die auf einen „Sinn“ ausgerichtet gewesen wären - und
damit meinte er Gläubige jeder couleur: Christen sowohl wie Juden
wie Zeugen Jehovas wie Kommunisten oder Patrioten - am besten
befähigt gewesen seien, das Grauen zu überleben. Er hätte, analog zu
„Lebensmitteln“, von „ Überlebens-Mitteln“ sprechen können. Die
Konsequenz, die Frankl aus dieser Beobachtung zieht, wenn er sie
auch nicht expressis verbis so formuliert, würde lauten: Um leben und
überleben zu können, sollten wir jedes Auf-einen-Sinn-Ausgerichtet-
sein, jedes An-einen-Sinn-Glauben bejahen und fördern. Das klingt
zwar pluralistisch und tolerant, damit unanstößig und sogar empfeh­
lenswert; für den Philosophen dagegen ist diese Einstellung schlecht­
hin inakzeptabel. Und zwar deshalb, weil damit völlige Gleichgültig­
keit gegenüber der Frage: Wahrheit oder Unwahrheit des Geglaubten
proklamiert wird. Schon Lessing, der in seiner Ringfabel gelehrt hatte,
daß alle drei Ringe „echt“ seien, hatte das Unglück der Wahrheitsneu­
tralisierung (die allein dem Nichtglaubenden zusteht) angerichtet;
schon er an die Stelle der Wahrheit des Geglaubten die subjektive
Wahrhaftigkeit des Glaubenden gesetzt. Im Vergleich mit der heutigen
Wahrheitsneutralisierung war die seine freilich noch harmlos gewesen,
da er ja die drei Religionen nicht nur deshalb als gleich wahr hinstellt,
weil sie alle Glauben waren, sondern vor allem deshalb, weil sie im
Hauptcredo: nämlich im monotheistischen, übereinstimmten. Aber
selbst diesen Generalnenner verlangt der heutige Pluralist, der heutige
Psychotherapeut, nicht mehr als Bedingung. Für ihn ist alles schon in
Ordnung, wenn nur überhaupt geglaubt wird, gleich ob die Dogmen
„Trinität“ oder „klassenlose Gesellschaft“ heißen. Das bedeutet: statt
Glauben an bestimmte Inh alte bejaht er den Glauben an den Glauben.
Nämlich den Glauben an dessen Überleben fördernde Leistung.
Daß Frankl mit diesem seinem Postulat gerade in den angelsächsi­
schen Ländern ein so überwältigendes Echo hervorgerufen hat, ist
natürlich kein Zufall. Die Voraussetzung der dortigen Toleranz hatte
ja schon seit langem darin bestanden, daß der zu Tolerierende glaube,
gleich was. Schon das war ein Sieg des Glaubens als seelischer Tätigkeit
über den Glauben als inhaltliches Credo gewesen. Dabei unterstellt
man naiv, daß alle Religionen gleichermaßen Varianten von „G lau ­
ben“ seien - was, da „Glauben“ im heutigen Sinne eigentlich erst mit
dem Christentum aufkam, gar nicht zutrifft. Gleichviel: Nicht einen
bestimmten Glauben verlangte man, sondern die Bestimmtheit, mit
der jemand glaubte. Noch das England des vorigen Jahrhunderts hat
von einwandernden Juden erwartet, daß sie orthodoxe Juden seien -
und die ohnehin orthodoxen erfüllten diese Bedingung natürlich
gerne. N ur unter dieser Bedingung (also kurioserweise unter der Vor­
aussetzung der Nicht-Assimilierung) wurden sie als gleichberechtigt
geachtet. Und selbst in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts
konnte derjenige Bewerber für eine Universitätsposition in den Verei­
nigten Staaten, der auf einem Formular die Frage „Religious affilia­
tion?“ unausgefüllt ließ, ins Hintertreffen geraten.
Frankl spricht in der Tat so, als stammte er aus dieser Tradition.
Freilich begründet er sein Votum für Glauben (für das, nicht den)
nicht mehr religiös, vielmehr ausschließlich - und auch das klingt den
pragmatistischen Amerikanern natürlich _sehr vertraut - rein pragma­
tisch. Nicht deshalb, weil er alle Religionen, wie Lessing, für Spielarten
einer einzigen Wahrheit hielte, ergreift er Partei für das Glauben; son­
dern deshalb, weil, wie er nicht ohne Berechtigung feststellt, alle Reli­
gionen gleichermaßen Kraft verleihen, weil ihnen allen der gleiche stär­
kende, der gleiche therapeutische Wert zukommt. Das ist in seinen
Augen deren gemeinsamer „Sinn“ . Nicht als „Opium fürs Volk“ gel­
ten ihm die Religionen, sondern als „ Kaffee fürs Volk“ . Verschmitzt
lächelt jemand im Hintergrunde: der große Mann, der schon vor mehr
als hundert Jahren behauptet hat, „w ahr“ sei nur ein Tarnwort für
„lebensfördernd“ : der jeden „Sinn“ bestreitende und jeden Glauben
weit von sich weisende Urvater des Nihilismus: Nietzsche. Die Kluft
zwischen den beiden ist freilich unüberbrückbar. Denn während
Nietzsche den Begriff der Wahrheit deshalb für unhaltbar hielt, weil
dieser, wie er glaubte, auf den bloß biologischer Nützlichkeit hinaus­
lief, gesteht der so viel „positivere“ Frankl allem, was lebensfördernd
ist, eben auf Grund dieser Qualität, „Wahrheit“ bzw. „Sinn“ zu. Um
wieviel mutiger war doch der gewesen, der den Begriff der Wahrheit in
Frage zu stellen wagte, als derjenige, der alles Fördernde für „sinnvoll“
hält, dem also „jede Wahrheit recht“ ist. Aber es kommt noch schlim­
mer: Denn Frankl verkündet ausdrücklich, daß es (so wörtlich) „keine
Situation gibt, die nicht einen Sinn hat“ (was schier unbegreiflich ist
nach seinem Auschwitz-Aufenthalt); und daß ,,Sinn nicht nur gefun­
den werden muß, sondern auch kann“ ! Nun, das ist freilich die frohe­
ste Botschaft, die einem Sinnhungrigen überbracht werden kann. Und
daß diese, namentlich im Lande der „Public Relations“ , eine ganz
außerordentliche Werbe- und Anziehungskraft ausgeübt hat und aus­
übt, das ist wenig erstaunlich. In der Tat besagt diese Botschaft ja:
„Wie miserabel immer du dich fühlen magst, aus deiner, nur scheinbar
hoffnungslosen, Lage der Sinnleere ist dir nicht nur zu helfen, nein,
eigentlich ist dir, da diese Lage ja, wenn auch auf verborgene Art,
,sinnvoll‘ ist, immer schon geholfen.“ (Kein Zitat.) Und das ist nun
freilich eine Lehre, der gegenüber der Ausdruck „Opium fürs Volk“
eine unerlaubte Höflichkeit wäre.
§6

Der „ Kunstsinn“

Zwar betont Frankl wiederholt, daß „Sinn“ nicht erfunden, sondern


immer nur gefunden werden könne (und das setzt voraus, daß „Sinn“
auf irgendeine Weise „dasei“ - eine Supposition, die für den Philo­
sophen eine harte Nuß ist). Trotz dieser metaphysischen Behauptung,
deren ontologische Implikationen er nicht im entferntesten ahnt, plä­
diert Frankl doch pausenlos für etwas, was man wohl am besten als
„Kunstsinn“ bezeichnet. Darunter verstehe ich natürlich nicht Sinn für
Kunst, sondern, analog zu „Kunststoff“ , künstlich hergestellten Sinn.
Denn der „Sinn“ , den er den Patienten, namentlich jenen Rentnern
empfiehlt, die unglücklich darüber sind, ihren Beruf (der in 99 von 100
Fällen sinnlos gewesen war) nicht mehr auszuüben; und die sich durch
den Abbruch ihrer früheren Arbeit nun erst vollends sinnlos vorkom­
men - ich sage: der Sinn, den Frankl diesen Unglücklichen aus thera­
peutischen Gründen empfiehlt, besteht ja zumeist, ob er ihnen nun
Laubsägearbeit verschreibt oder Briefmarkensammeln, aus einer er­
fundenen Beschäftigung. Der allgemein akzeptierte Terminus für
diese, Sinngefühl und Sinnglück erzeugende, Tätigkeit ist „H o b b y “ .7
Schwer zu entscheiden, ob wir von diesen erfundenen Hobbies sagen
sollen, daß sie Sinn „haben“ , oder daß sie Sinn „seien“ . Beides ist wohl
richtig. Denn einerseits haben sie den Sinn, dem Sinnhungrigen weis­
zumachen, er tue dadurch, daß er irgendetwas, und zwar etwas Über­
sehbares, tue, auch etwas Sinnvolles. Andererseits ist das Beschäftigt­
sein der Sinn der Beschäftigung und damit der Sinn eines solchen
Lebens, um dessen willen der an Sinnlosigkeit leidende Patient nun
doch noch gerne weiterlebt: „Wenn ich meine Briefmarkensammlung
nicht hätte!“ Zugleich ist die Beschäftigung freilich auch nur ein Mittel
(nicht zur Herstellung der Hobby-Produkte, die ja im Kreislauf der
Wirtschaft überflüssig, mithin „sinnlos“ , sind, sondern eben) zur H er­
stellung der Zufriedenheit oder gar des Glücks des Beschäftigten. Das
Produkt ist also Mittel zur Herstellung von (Schein-)arbeit, nicht - dies
ist der Normalfall - Arbeit das Mittel zur Herstellung von Produkten.
Man sieht, wir stehen hier vor einem ungewöhnlich komplexen Phäno­
men. Soviel aber ist klar, daß das Verhältnis von Beschäftigung und
Sinn hier auf den Kopf gestellt ist: Während es zur „normalen“ Be­
schäftigung (etwa zum Tischlern oder zum Jagen) gehört, daß diese ein
Ziel (das deren „Sinn“ ist) verwirkliche, wird hier die Beschäftigung,
bzw. die Satisfaktion durch Beschäftigung, als Ziel eingesetzt. Wäh­
rend derjenige, der ein Ziel verfolgt (dies ist der Sinn seiner Tätigkeit),
darauf abzielt, dieses zu erreichen oder zu verwirklichen, zielt die
Beschäftigungstherapie darauf ab, ein Ziel künstlich herzustellen oder
zu simulieren, damit der Patient durch den Schein der Verfolgung
dieses Ziels die Qual der Sinnleere loswerde. Nicht der Patient lebt für
sein Ziel, vielmehr dient das artifizielle Z iel (oder der ,,Sinn“) als ein
Mittel fü r sein Leben. Das Verhältnis von Mittel und Zweck, wie es
etwa in der beliebten Redensart „Kein Zweck heiligt die Mittel“ zum
Ausdruck kommt, ist offensichtlich überholt. Heutzutage, da Zwecke
zu Mitteln und Mittel zu Zwecken werden; da es nicht nur das Ziel
aller Tätigkeiten ist, Mittel herzustellen, sondern da nun auch Ziele
erfunden werden, um als Mittel eingesetzt zu werden; und da schließ­
lich Beschäftigungen erfunden werden, damit diese zugleich als Mittel
und als Zwecke dienen - nein, heutzutage sind solche simplistischen
Formeln sinnlos geworden. Beiläufig: Heute gilt nicht mehr das Postu­
lat: „Kein Zweck heiligt die Mittel“ , sondern umgekehrt: „Kein Mittel
heiligt die Zwecke“ : Die Tatsache, daß es das Mittel „Atombombe“
gibt, heiligt nicht dessen Ziel: den Einsatz.

IV. D E R K AMP F G E G E N DI E S I N N L E E R E

§7

Übersicht über drei Typen

i. Die Majorität derer, die ein sinnloses Leben führen, ist sich dieses
ihres Unglücks noch nicht einmal bewußt. Durch das ihnen aufge­
zwungene Leben werden sie daran gehindert, dessen Sinnlosigkeit
wahrzunehmen. Daher tun sie auch nichts dagegen. Oder richtiger:
selbst dasjenige, was sie dagegen tun, ist etwas, was ihnen angetan,
ihnen nämlich geliefert wird. Damit meine ich: Da sie ihrer Selbstän­
digkeit bzw. der Chance, selbständig zu werden, beraubt sind, bleiben
sie unselbständig auch während ihrer angeblichen „Freizeit“. Skla­
visch, genau so sklavisch wie ihren Job, absolvieren sie ihren Genuß.
Wozu sie täglich vor ihrem TV-Schirm sitzen, was aus ihnen wird
durch den täglichen TV-Konsum - denn durch diesen werden sie na­
türlich umgeformt, also zu Produkten gemacht8, und zwar zu unüber­
bietbar trivialen - all das interessiert sie nicht nur nicht, all das bleibt
ihnen genau so unbekannt wie die Bewandtnis ihrer Arbeitsprodukte.
Nichts ist entsetzlicher als dieses kollektive „ Was aus uns wird, geht
uns nichts an” . Aus der einen Sinnlosigkeit: der der Arbeit, wechseln
sie über in die zweite: die der Muße, die einen gewissen Sinn freilich
doch besitzt: eben den, Erholung von der ersten Sinnlosigkeit zu bie­
ten. Diese Erholung ist sogar unentbehrlich für sie geworden: Ohne
ihren täglich stundenlangen TV-Konsum können, wie Statistiker ge­
zeigt haben, mehr als 75% unserer Zeitgenossen nicht mehr leben, da
sie nicht wissen, was sie „mit sich anfangen“ sollen. Es ist keine Über­
treibung, von „Zwangsmuße” analog zur Zwangsarbeit zu reden.9
Und diesen Zwang akzeptieren sie nicht nur und nicht nur gerne, sie
machen einen geradezu moralischen Anspruch auf die ihnen ins Haus
zu liefernde Mußeware geltend. Ihrem, angeblich heiligen, Recht auf
den Arbeitsplatz entspricht ihr angeblich heiliges Recht auf den Fern­
sehplatz. So die millionenfache Majorität.
2. Eine winzige Minderheit (wenn auch ihre absolute Zahl hoch ist)
läßt sich, wie wir gesehen haben, weismachen, daß ihr sehr berechtig­
tes Sinnleere-Gefühl eine Krankheit sei. Und diese wenden sich nun an
die „racketeers der Sinnlosigkeit“, die Therapeuten, um von diesen
kuriert zu werden. -
3. Es bleibt eine dritte Gruppe, die zwar, verglichen mit der ersten,
klein, aber durch ihr lärmendes Außenseitertum am auffälligsten ist:
die derer, die ihr Elend der Sinnlosigkeit selbst in die Hand nehmen,10
oder richtiger: die aus ihrem Elend eskapieren; und die den Eskapis­
mus (der ja durch die Vergnügungsindustrie ohnehin schon organi­
siert, aber doch noch ins öffentliche Leben integriert ist) so überstei­
gern, daß sie nun aus der Gesellschaft herausfallen. Ich spreche von
den Abertausenden, die Hasch oder Heroin konsumieren oder als
Hippies oder flippies nach Osten vagabundieren oder den diversen
Sekten zuströmen: den „TM“-Gruppen („Transcendental medita­
tion“), den „Ananda Marga“ , den „Earth play“, der (von der CIA
patronisierten antikommunistischen) „Mun-Sekte“ , den „Children of
God“ , den „Jesuskindern“ , der „Scientology Church“ und wie die
(nicht zufällig ausnahmslos aus den U SA stammenden) Heilslehren,
-praktiken und -gruppen sonst noch heißen mögen. Die Glaubwürdig­
keit der Behauptung dieser Millionen, daß sie deshalb zur Nadel grei­
fen oder sich deshalb diesen Sekten anschließen, weil sie die Sinnlosig­
keit ihres Lebens nicht mehr ertragen könnten, ist unbestreitbar. Nach
dem Scheitern der Versuche während des letzten Jahrhunderts, das
Leben durch politische Revolutionen menschenwürdig, mindestens
menschenwürdiger, zu machen; namentlich nach der Erfahrung, daß
die Entfremdung (da diese eben zu 90% der technischen Entwicklung
und nicht den Eigentumsverhältnissen entstammt) auch in sozialisti­
schen Ländern nicht die geringsten Anstalten gemacht hat, auszuster­
ben oder auch nur abzunehmen - nach dieser Erfahrung ist es kein
Wunder, daß sie in total apolitische, noch nicht einmal utopische,
sondern reine Trunkenheits-Zustände ausweichen. Erstaunlich ist um­
gekehrt die Tatsache, daß die Zahl der Eskapisten bis heute noch ver­
hältnismäßig niedrig geblieben ist, daß die Bewegung noch nicht H un­
derte von Millionen mitgerissen hat. Aber dieses Faktum gründet eben
- ich wiederhole mich hier bewußt - in der Sache selbst, das heißt:
darin, daß die Meisten durch ihr Elend von der Erkenntnis ihres Elends
ausgeschlossen bleiben; daß sie bereits zu krank sind, um eben, wie die
Süchtigen, mit einer „Krankheit“ darauf zu reagieren.

§8

Vergleich mit dem sogenannten „ Weltschmerz“

Häufig hat man mich, wenn ich im Gespräch die Frustration der
heutigen Jugend ernst und wichtig nahm, mit dem sinnlosen Wort
(denn ein Übel wird nicht durch die Tatsache vergangener Übel gerin­
ger) vertröstet oder abgefertigt, dieses Phänomen sei wahrhaftig nichts
Erst- oder Einmaliges, denn Weltschmerz habe es auch früher, vermut­
lich sogar immer, schon gegeben. 11 Ist dieser Einwand berechtigt?
Handelt es sich heute um einen „Weltschmerz“ ?
Nein. Denn Schmerz, Schwermut, Ekel und Empörung derer, die
im vorigen Jahrhundert unter „Weltschmerz“ litten, hatten sich ja
noch nicht, wie die heutige Krankheit, auf die „Sinnlosigkeit“ von
Leben und Welt bezogen, sondern auf deren Misere; vor allem auf das
von Schopenhauer so eindrucksvoll behauptete Übergewicht des krea-
türlichen Leidens über alle kreatürliche Lust. Das heutige Elend dage­
gen ist, wie wir eingangs gesehen haben, Folge von etwas ganz Ande­
rem: einmal davon, daß wir unser Leben mit Arbeiten zu verbringen
haben, die uns nichts angehen; und dann Folge davon, daß wir unent­
rinnbar in ein „Mittel-Universum“ eingebaut sind. Für den Welt­
schmerzkranken sind Leben und Welt deshalb sinnlos, weil sie misera­
bel sind. Für uns Heutige dagegen sind Welt und Leben deshalb mise­
rabel, weil sie sinnlos sind.
Und doch: in etwas stimmen die zwei Typen überein: Beide bleiben
nämlich unpolitisch, beide sind frustrierte Revolutionäre. Da der Welt­
schmerzkranke es nicht in Betracht zog (es zumeist nicht in Betracht
ziehen durfte und dadurch auch nicht konnte), denjenigen Zustand,
unter dem er eigentlich litt: den politisch-sozialen, anzuklagen oder in
diesen gar gewaltsam einzugreifen, ersetzte er diesen „eigentlichen Ge­
genstand“ seiner Kritik durch einen viel allgemeineren und dadurch
paradoxerweise viel harmloseren: nämlich durch die Welt. Er „m undo-
fizierte" das gesellschaftliche Elend. Unerträglich war nun nicht die
reaktionäre Regierung oder das physische Elend der Bevölkerung,
sondern das Universum. Und seine Anklage sublimierte er zur Klage:
aus seiner Empörung machte er einen „Kulturwert“ - was den jeweils
Herrschenden natürlich niemals unwillkommen war. Tatsächlich hat
kein noch so strenger Zensor jemals etwas gegen ein literarisches, phi­
losophisches oder musikalisches Dokument des Weltschmerzes einzu­
wenden gehabt. 12

In der Tat handelt es sich auch heute um einen solchen Ersatzmecha­


nismus: Diejenigen, die an der durch die Technik verursachten „Sinn­
losigkeit" ihres Arbeitens und an ihrem „Nichts-als-Mittel-sein" im
„M ittel-U niversum " leiden, die fälschen ihr Elend, die ersetzen den
Gegenstand ihres Malaise ja ebenfalls: Denn statt den Weltzustand
„Technik“ als Wurzel zu erkennen oder zu bekämpfen, beschränken
sie sich ja darauf, über den durch diesen Weltzustand verursachten
eigenen Seelenzustand zu klagen bzw. diesen auszulöschen, also Ur­
laub von der Sinnleere zu nehmen. Auch sie sind „frustrierte Revolu­
tionäre“ , wenn nicht dieser Ausdruck sogar schon zu ehrenvoll ist;
denn abgesehen von einigen Tausenden amerikanischer Jugendlicher,
bei denen politische Militanz und Drogensucht „überlappten“ , und
einigen anderen Tausenden, die aus der Anti-Vietnamkrieg-Szene aus­
geflippt und in die Drogen-Szene übergewechselt sind, hatten ja die
wenigsten (freilich eben aus politischen Gründen) als politische Oppo­
sitionelle begonnen. Vielmehr sind die meisten, die Politik „links lie­
gen lassend“ , direkt in die Drogen- oder in die Sekten-Szene hineinge­
raten. 13
Und auch von diesen gilt, daß sie (wie die „Weltschmerzler“ ) dem
Establishment nicht ganz ungelegen kommen - was wiederum plausi­
bel ist, da ja eine ernsthafte Nachforschung nach der Wurzel des Lei­
dens auf die Technik stoßen würde, und weil natürlich kein Establish­
ment, weder ein westliches noch ein östliches, einen massiven Angriff
auf diese zulassen könnte. Hüben wie drüben verhöhnt man, so als
hätte sich die Rolle der Technik seit 1 50 Jahren nicht verändert, auch
nur die leisesten Ansätze von Technik-Kritik aufs obsoleteste als »M a­
schinenstürmerei“ . Und daß man in Amerika der wuchernden Aus­
breitung der Psychoanalyse, da diese die Sinnleere statt als Effekt der
Technik als einen, in solistischer oder group therapy, psychologisch
kurierbaren Zustand behandelt, so positiv gegenübersteht; und daß
man gleichzeitig in der Sowjetunion die Psychoanalyse, die man ein
halbes Jahrhundert lang proskribiert hatte, nicht mehr ganz so ver­
ächtlich beurteilt wie früher, das hat denselben Grund. Es wäre in der
Tat wenig erstaunlich, wenn die Regierungen der hochindustrialisier­
ten Länder, wiederum sowohl die östlichen wie die westlichen, unter
gewissen Bedingungen die Drogenindustrie ebenso zulassen würden
wie die von dieser ja gar nicht so verschiedene Amüsierindustrie, oder
sie gar patronisieren würde, da in ihren (wiederum sowohl östlichen
wie westlichen) Au gen der Drogenkonsument ungefährlicher ist als der
aktive „dissenter“ , und da der Konsum von Drogen ja den Ausbruch
politischer Unruhen vereiteln könnte. Aber damit haben wir vorge­
griffen.14
Denn wir haben uns noch einmal dem Unterschied zwischen den
zwei Miseren: zwischen der des Weltschmerzes und dem Leiden an
der Sinnlosigkeit zuzuwenden. Diese Differenz gibt der letzteren ein
schärferes Profil.
Wenn die „Weltschmerzler“ nach etwas fragten - freilich waren sie
zumeist eher Klagende als Fragende - dann in guter Theodizee-Tradi­
tion: Wozu Elend und Nöte der Kreaturen: deren Krankheiten und
Sterblichkeit daseien. A lso nach dem Sinn des Negativen. Nicht so die
heutigen Sinnfrager (sofern man sie noch so nennen darf). Denn diese
fragen nicht nach dem Sinn des Leidens, sondern - und das ist ein
gewaltiger Unterschied - nach dem des Daseins selbst, das ihnen nicht
deshalb, weil es von Leiden gepeinigt ist, als sinnlos gilt, sondern umge­
kehrt deshalb als „ unleidlich“ gilt, weil es sinnlos ist. Ich sage: „ist“ ,
nicht: „gilt“ , weil sie ja von vornherein - auf Grund wovon, das haben
wir ja eingangs gezeigt - von dem ihnen unbezweifelbaren Faktum der
Sinnlosigkeit ausgehen.15
Ebenso fundamental wie von den „Weltschmerzlern“ unterscheiden
sie sich aber - das hatten wir bereits gestreift - von den anderen Nicht­
Gleichgeschalteten: von den Revolutionären. Denn ihnen fällt es schon
gar nicht mehr ein, eine Welt, die für sie einen Sinn oder für die sie
einen Sinn haben könnten, aufzubauen. Statt neues Leben zu verwirk­
lichen, weichen sie aus in bloßes Erleben, und zwar eben in das Erleben
von Zuständen, in denen ihr Fragen nach dem Sinn nicht mehr negativ
beantwortet w ird; oder in denen sie unter Sinnlosigkeit deshalb nicht
mehr leiden, weil in ihnen keine Sinnlosigkeit mehr vorherrscht - was
freilich nicht bedeutet, daß sie nunmehr positiv einen bestimmten Sinn
anerkennten oder genössen, sondern allein, daß sie sich während ihrer
Zustände in einer „sinn-neutralen“ Dimension aufhalten. Diese Z u ­
stände (die sie „high“ nennen) als „Räusche“ zu bezeichnen, würde, da
in diesem W ort viel zu viel Dionysisches mitschwingt, an der Sache
vorbeitreffen. Was sie suchen und vermutlich auch finden, ist noch
nicht einmal ein „paradis artificiel“ , sondern das reine Nirwana. Und
das gilt nicht nur von den Zuständen, die durch Drogen erzeugt sind,
sondern von allen ihren Aktivitäten (wenn man die auf Selbstpassivi-
sierung abzielenden Akte so nennen darf): sowohl von ihrer tösenden
Musik, durch die sie „außer sich“ geraten, wie von ihrer Sexualität. '
Da sie auf das Nichts aus sind, kann man ihrer, vor allem in der U SA
bereits alltäglichen, Berufung aufdem Buddhismus, trotz der ununter­
bietbaren religionsgeschichtlichen Unbildung der „Jünger“ , eine ge­
wisse Berechtigung nicht absprechen.
§9

Opium - Religion fürs Volk

Vorbei ist die Zeit, in der Religion als „O pium fürs Volk“ bezeich­
net werden durfte. Vielmehr ist nun umgekehrt Opium (das hier für
alle Arten von Drogen steht) zur Religion fürs Volk geworden. Worauf
sie aus sind und was sie in der Ekstase erfahren, ist (obwohl sie das
Unglück der Sinnlosigkeit, mindestens vorübergehend, hinter sich las­
sen) nicht „Sinn“ - kein Rückkehrer von einem Trip hatjemals mitge­
teilt, er habe nun die Absenz von Sinnlosigkeit, oder gar positiv: einen
„Sin n “ , den der Welt oder des eigenen Daseins, erfahren. Vielmehr
berichten sie alle „nur“ von der Seligkeit, die sie erlebt hätten. Und
diese ist offenbar absolut, das heißt: sie hat weder etwas mit Sinn noch
mit Sinnlosigkeit zu tun. Keine Frage: der Gegenzustand gegen die
Unerträglichkeit der Sinnleere heißt nicht „Sinnbesitz“ , sondern
Glück, genauer: „Kunstglück“ - worunter ich kein Glück an der
Kunst, sondern künstlich hergestelltes Glück meine. Seit etwa i 5 Jah­
ren leben wir - die süchtigen G. I.’s in Vietnam und die Blumenkinder
waren unsere ominösen Vorboten - in einem eudämonistischen, nein:
hedonistischen Zeitalter. Was, da die Möglichkeit einer universellen
Katastrophe von Tag zu Tag wächst, auch von Tag zu Tag allgemeiner
bekannt wird, nicht nur befremdlich ist, sondern empörend. Aber
wenn man diesem Verhängnis euphorisch statt angsterfüllt entgegen­
taumelt, so nicht deshalb, weil man die Gefahr nicht kennt, auch nicht,
obwohl man sie kennt. Sondern wohl deshalb, weil man sie kennt. -
Das Glück, das sich unsere Väter und Vorväter und auch wir selbst
noch durch Verwandlung der menschenunwürdigen Gesellschaft in
eine menschenwürdige aufzubauen gehofft hatten, das verschaffen sie
sich nun also durch „ Transzendenzpillen und -injektionen“ . Und ich
argwöhne, daß sie das nicht nur können, sondern oft auch dürfen,
wenn nicht sogar sollen. Denn dem politischen Establishment sind
solche de-politisierte und de-moralisierte „Glückselige“ gar nicht so
unwillkommen. Viel willkommener jedenfalls, als es politische Oppo­
sitionelle wären. Das Opium läßt man durchgehen als Religion fürs
Volk; wenn man es nicht sogar positiv als solche einsetzt und fördert.
Den Hiroshima-Piloten Claude Eatherly fütterte man mit tranquilli­
zers, um ihn daran zu hindern, sich (angeblich „krankhafte“ ) Gedan­
ken über die moralischen und politischen Implikationen des Bomben­
abwurfs, an dem er mittelbar beteiligt gewesen war, zu machen. Also
um ihn zu demoralisieren und zu depolitisieren. Der Behauptung, der
U.S.High Command in Vietnam habe sich vergebens darum bemüht,
den Drogenkonsum, den sich ein sehr beträchtlicher Teil der dortigen
G .I.’s angewöhnt hatte, zu drosseln - dieser Behauptung kann man
nur schwer Glauben schenken. Das High Command hat in Vietnam
schwierigere Probleme gelöst. Daß es, wie es in Molussien der Fall
war, den Drogenhandel und -konsum heimlich selbst organisiert habe,
das behaupte ich zwar nicht; wohl aber, daß es dem Schwarzmarkt
gegenüber beide Augen zugedrückt hat, weil es sich darauf verlassen
konnte, daß die Drogenabhängigen nicht aufmüpfig werden würden,
sondern alles, also auch die mörderischsten „Missionen“ , mitmachen
würden, ohne sich über deren Sinn oder Unsinn oder über deren Mo­
ral oder Unmoral den Kopf zu zerbrechen. Soviel steht fest, daß diese
„M ittel gegen Sinnlosigkeit“ als M ittel gegen „dissent“ und als Mittel
zur Herstellung bedingungsloser „loyalty“ , also als Gleichschaltungs­
mittel gedient und sich bewährt haben. - Interessant übrigens der
Unterschied zwischen der Taktik im Osten und der im Westen: Wäh­
rend man hier geistige Störung einreißen läßt, um politische Störung
zu vereiteln und um „dissent“ nicht aufkommen zu lassen, sperrt man
drüben politische dissenters oder Oppositionelle als angeblich geistig
Gestörte in Gefängnisse. Welche der zwei Praktiken die erfreulichere
ist, ist Geschmackssache.

Aber nicht nur gilt, daß das „Opium zur Religion fürs Volk“ ge­
worden ist; umgekehrt gilt auch - und damit scheinen wir zur ur­
sprünglichen Fassung der Redensart zurückzukehren -, daß die zahl­
losen, namentlich in Amerika aufsprießenden, aber bereits die gesamte
westliche Hemisphäre überziehenden Sektenreligionen nichts Anderes
und nichts Besseres leisten als diese Drogen: daß sie also als Opium
funktionieren. Freilich meine ich damit nicht - das war der ursprüngli­
che Sinn der berühmten Redensart gewesen -, daß die herrschende
Klasse diejenigen, die sich die kostspieligen Drogen nicht leisten kön­
nen, um sie lammfromm zu halten, mit dem billigeren Ersatz „R eli­
gion“ abspeise; vielmehr, daß sich die neuen Sekten (die ja wahrhaftig
nicht im „V olk “ , sondern im Mittelstande aufsprießen) strukturell den
Drogen angeähnelt haben: daß nämlich das Einzige, worauf es den
Sektierern, ohne daß sie sich dieser Tatsache bewußt werden, an­
kommt, der psychische Zustand ist, in den sie durch ihre Drogen und
Ritualien versetzt werden; daß die Dogmen im Vergleich damit un­
wichtig geworden sind und ohne große Einbuße über Bord geworfen
werden könnten. Dogmen und Ritualien spielen im besten Falle die
gleiche Rolle wie die Drogen, und sind heute, da diese als Waren leicht
beschafft werden können, zumeist bereits obsoleter und schwerfälliger
Drogenersatz. Zwar gibt es noch hunderte von Sekten, die irgendwel­
che, scheinbar neue, zumeist aber aufgewärmte alte „Trivialdogmen“
propagieren17 - was heißt: „noch“ , da deren Zahl ja täglich steigt, da
das (aus der Geschichte des Protestantismus stammende) Wuchern von
religiösen Splittergruppen erst heute seinen Höhepunkt erreicht zu
haben scheint. Aber die Vielfalt trügt. Ich bin überzeugt davon, daß
die Hundemausende, die glauben, daß sie einen bestimmten Glauben,
einen „echten Ring“ , als Vehikel benötigen, um sich in den von ihnen
ersehnten Nirvanazustand zu versetzen, und daß nur ihr Ring „w ill do
the trick“ , sich das nur einreden. Denn die Dogmen sind austauschbar
geworden. Ob ein sektenanfälliger Mr. Smith vom Dogma der Sekte A
und Mr. Miller vom Dogma der Sekte B infiziert wird, das ist reiner
Zufall - ein Zufall, wie der, ob Mr. Smith auf Veronal und Mr. Miller
auf Geronox verfällt und schwört. Ein Dogma wirkt so gut wie jedes
andere, 99% sind ohnehin reine „Placebos“ - eine Behauptung, die
Smith und Miller, obwohl spinnefeind, natürlich mit dem gleichen
Eifer und mit der sie gleichmachenden Indignation zurückweisen wür­
den. Gleichviel, Glaubensinhalte sind degradiert zu Rausch- und N ir-
vanamitteln, die, philosophisch gesprochen, avEU l-oyou sind und in
einer Reihe stehen mit Lebens- und Schlafmitteln.

V. D E R S I N N DE S B E G R I F F E S S I N N 18

Daß man vom eigenen Leben oder von Kreaturen oder Staaten oder
geschichtlichen Abläufen oder gar vom Universum als ganzem erwar­
tet oder gar verlangt, daß sie nicht nur seien, sondern außerdem noch
einen Sinn haben - diese Zweiheit ist alles andere als selbstverständlich.
Für denjenigen, der sich von allen Vorurteilen, die ihm Umwelt- und
Alltagssprache eingeflößt haben, loseisen kann; der etwa wie ein die
Erde besuchender Marsmensch zu denken vermag - für den ist diese
Doppelheit sogar höchst merkwürdig. Wodurch entstand der Begriff
„Sinn“ ? Welchen Sinn verbinden wir mit ihm?

§ 10

Das Sinnmonopol

Fragen wir erst einmal, um uns zu orientieren, nach welchem (oder


wessen) Sinn niemals gefragt wird. Ganz pauschal können wir darauf
erst einmal, freilich erst einmal änigmatisch, antworten: Niemals nach
dem Sinn von „Positivem “ . Niemals, mindestens kaum je, ist gefragt
worden, wozu es die Welt als ganze gebe, welches ihr „Sinn“ sei (wenn
die Philosophen auch über deren Existenz oder Kontingenz aufs tiefste
beunruhigt waren). Oder wozu Leben existiere? Oder wozu dieses
oder jenes Volk?19 Oder Eichbäume oder Mücken oder Quallen? Oder
gar diese Mücke oder diese Qualle? Oder gar, welchen Sinn dieser oder
jener Zwischenfall im Leben dieser oder jener Qualle habe. Wer so
gefragt hätte, wäre gewiß als irrsinnig betrachtet worden. Warum ei­
gentlich? Denn es gibt ja etwas Positives, das man auf seinen Sinn hin
befragte, und das auf seinen Sinn hin zu befragen nicht als sinnlos gilt:
nämlich den Menschen. Offensichtlich war der Sinn von Sinn, da man
nach der Rolle des Menschen im Kosmos, nicht dagegen nach dem der
Mücke fragte, anthropologisch eingeengt. Geistesgeschichtlich ist die­
ser Anthropozentrismus allerdings leicht erklärbar, nämlich durch
Rückverweisung auf die auch heute noch lebendige Anthropologie des
Alten Testaments, die den Menschen nicht nur als Herrscher über alles
heraushob, sondern auch als dasjenige Wesen, für das alle anderen
Wesen geschaffen worden sind, und das dadurch auch deren „Sinn“
ist. Wenn man dieses Sinn-Monopol statt mit den Augen des Geistes­
wissenschaftlers mit denen des Naturwissenschaftlers, z.B. eines Dar­
winisten ansieht, dann wirkt es freilich einfach albern. Ernsthaft kann
doch niemand glauben, daß etwas so Fundamentales wie „Sinn“ ge­
wissermaßen als kontingentes Attribut ausgerechnet und ausschließ­
lich derjenigen unter den Millionen Spezies, der man zufällig selbst
zugehört, zukommen soll; daß die Menschheit gewissermaßen als
„auserwähltes Volk“ unter allem Seienden, als einziges genos in das
metaphysisch „gute Töpfchen“ gehöre, während sich die Millionen
von anderen Spezies und Lebewesen, von der Amöbe bis zum Wal­
fisch, von den Pflanzen zu schweigen, damit abfinden müssen, sich im
metaphysisch „schlechten Töpfchen“ : dem der Nicht-Sinnträger, zu­
sammenpferchen zu lassen.20

§n

Sinn = das im Sinne Gehabte. D er Tod des Sinnes

Aber wir verwenden da einen noch ganz undurchsichtigen Begriff


von „Sinn“ . Den Begriff verstehen wir erst dann, wenn wir es uns klar
machen, daß „Sinn“ ursprünglich kein Abstraktum gewesen ist, son­
dern ein, wenn man so sagen darf: „Psychologicum“ . Damit meine
ich, daß die erste Frage nicht gelautet hat: „Welchen Sinn hat dies oder
jenes?“ , sondern: „Was hatte Gott, als er dies oder jenes schuf oder
schickte oder auch nur zuließ, ,im Sinne'}“ Ohne die Unterstellung
eines Im-Sinne-Habenden wäre die ursprüngliche Verwendung des
Wortes „Sinn“ unsinnig gewesen; und das gilt auch heute noch für
Millionen. Selbst uns Atheisten fällt es schwer, „Sinn“ ohne diese
Hypostase aufzufassen - was freilich nicht bedeutet, daß wir uns dem
„Sinn“ zuliebe, also um an „Sinn“ zu glauben, zu re-religiosifizieren
hätten; sondern umgekehrt, daß wir die Kategorie „Sinn“ , wenn über­
haupt, nur mit der äußersten Vorsicht benutzen dürfen. Denn worin
der Sinn von „Sinn“ , von „meaning“ , noch bestehen soll, wenn kein
etwas „im Sinn“ habender Gott mitgemeint ist, das ist kaum zu beant­
worten. Tatsächlich ist unser Sinnbegriff eben nur geschichtlich ableit­
bar, aber philosophisch nicht aufklärbar. Selbst die Sinngläubigen sind
ja des Sinnes, in dem sie von „Sinn“ sprechen, gar nicht so sicher, da
sie ja immer wieder (eigentümlicherweise mit einer gewissen salbungs­
vollen Eitelkeit) versichern, daß Sinn gewöhnlich ,,verborgen“ und
damit unerkennbar bleibe - eine Tatsache, deren Sinn natürlich selbst
befragt werden müßte. Denn wo stünde es geschrieben, daß es zum
Sinn des Sinnes gehöre, daß er „geheim“ sei? Was hatte Gott im Sinn,
als er Sinn zwar schuf, diesen aber verborgen bleiben ließ? Diese Fra­
gen kann man nicht durch das Gefasel von „tiefem Sinn“ aus der Welt
schaffen. Warum Sinn gewöhnlich als geheim gilt, das ist selbst ein
Geheimnis, das man nur dadurch lüften kann, daß man den Sinn der
Kategorie „Sinn“ selbst in Frage stellt.
Den Mut, zusammen mit „Gottes Tod“ auch den „ Tod des Sinnes”
zuzugestehen und zu proklamieren; den Mut, den schon Nietzsche
vor hundert Jahren als das Reifezeugnis des modernen Menschen hin­
gestellt hatte: den, einzuräumen, daß wir als „Nichtgemeinte“ unge­
steuert durch den Ozean des Seienden treiben, den haben außer den
Naturwissenschaftlern (die es sich gewöhnlich nicht klar machen, wie
kühn sie da versehentlich sind, und die sich über die atheistischen
Konsequenzen ihres Tuns kaum jemals expressis verbis äußern) nur
ganz Wenige unter uns aufgebracht. Und, wie gesagt, gewöhnlich auch
die Naturwissenschaftler nicht, da diese ja die Lücke, die durch den
Verlust der göttlichen Absicht entstanden war, sofort mit der omnipo­
tenten Kausalität verstopften, wodurch sie an die Stelle des wüsten
Weltozeans eine erfreulich ordentlich funktionierende Weltmaschine
setzten. Daß deren Existenz ihrerseits sinnlos sein könnte, das haben
sie freilich, geblendet durch die Schönheit der Notwendigkeit, auch
nicht gesehen.11 Gleichviel, wir Nicht-Naturwissenschaftler haben un­
ter dem Tarn-Etikett „Sinn“ den Begriff „A bsicht“ beibehalten, aber
wir machten diese, wie gesagt, zu einer Absicht ohne Beabsichtigenden,
wir de-deifizierten diese.

§ 12

Sinn = säkularisierte Rechtfertigung

Nun erst, nachdem wir den ursprünglichen Sinn von „Sinn“ als das,
was Gott „im Sinne“ gehabt hatte, aufgeklärt haben, erhellt sich unsere
eingangs gemachte und rätselhaft klingende Behauptung, daß fast nie­
mals nach dem Sinn von „ Positivem“ gefragt worden sei. Damit meine
ich, daß sich die Sinnfrage fast ausschließlich angesichts der Existenz
von Negativem entzündet hat, angesichts von Bösem und Entsetzli­
chem, dessen Dasein prima, aber auch ultima, vista mit dem Im-Sinne-
Haben, also mit dem Willen Gottes, nicht vereinbart werden konnte,
und das Rechtfertigung erforderte.“
Niemals wäre es zum Begriff „Sinn“ gekommen, wenn es nur Posi­
tives auf der Welt gegeben hätte. Die gesunden Brüder Hiobs hatten
keine Ursache gehabt, zu fragen, was Gott mit ihrem Wohlbefinden
wohl im Sinne gehabt habe. N ur der seine Schwären schabende Hiob
hatte die Sinnfrage nötig, und nur er konnte diese fragen. - Solange
Lissabon stand, wäre es Voltaire nicht im Traume eingefallen, zu fra­
gen, wie er die Existenz der heilen Stadt rechtfertigen könne, also den
„Sinn“ der Stadt Lissabon zu erforschen. Nach der Verwüstung der
Stadt dagegen hat er Gott zur Rede gestellt und ihn aufgefordert, die
Katastrophe zu rechtfertigen. Als dieser Gedanke der Rechtfertigung
verblaßte, blieb an dessen Stelle nicht nichts, sondern eben der des
„Sinns“ , so daß wir sagen können: ,,Die Sinnfrage ist die säkularisierte
Version der Theodizee-Frage. Oder die getarnte Rechtfertigungs/rage
des Atheisten. “

§ i]
Exkurs über das „F ü r“

Natürlich kann sinnvoll von „Sinn“ gesprochen werden. Abgesehen


davon, daß man mit Recht vom „Sinn“ eines Textes reden darf - aber
dieser „Sinn“ steht auf einem anderen Blatte -, ist es durchaus sinnvoll,
von dem von Geräten zu sprechen. Diesen Sinn haben Geräte freilich
allein deshalb, weil es (s.o.) jemanden gegeben hat, der etwas „im
Sinne“ gehabt hatte, als er diese erzeugte; und weil es Benützende gibt,
die etwas mit ihnen „im Sinne“ haben.
A ber in diesem Sinne haben w ir Menschen, oder hat unser Dasein,
keinen Sinn. Kaum jemand wird es wohl wagen, zu behaupten, daß
Gott oder unsere Eltern, als sie uns erzeugten, im gleichen Sinne etwas
Bestimmtes damit „im Sinn“ gehabt hätten, wie der Schlosser, der
Schlüssel für ihre bestimmte Verwendung (die eben deren „Sinn“ ist)
erzeugt, daß sie uns nur deshalb zur Welt gebracht hätten, damit wir,
wie Geräte, bestimmte, außerhalb unser liegende Zwecke, genannt:
„Sinn“ , verwirklichten. In der Tat können wir heute den Titel: „D ie
Bestimmung des Menschen“ , den Fichte noch ohne zu zögern nieder­
geschrieben hat, kaum mehr arglos in den Mund nehmen. Würde das
heute jemand tun, so bewiese er damit „anthropologischen Größen­
wahn“ , weil (abgesehen davon, daß wir keinen uns Bestimmenden
mehr anerkennen) der Ausdruck etwas extrem Unwahrscheinliches
und niemals Beweisbares unterstellen würde: nämlich daß wir, das
kleine Geziefer auf der Oberfläche eines eine drittrangige Sonne um­
kreisenden drittrangigen Planeten, für das außermenschliche Univer­
sum etwas, gar etwas Ausschlaggebendes, bedeuten. Vollends sinnlos
ist es, von einer „Bestimmung“ (nicht nur „des Menschen“ , sondern)
des Individuums zu reden, so als wäre jedem von uns eine bestimmte
Funktion bzw. ein bestimmter „Sinn“ in die Wiege gelegt worden.
Solche gesegneten Wiegen gibt es nicht mehr (wenn es sie überhaupt je
gegeben hat). Wir benötigen heute Arbeitsämter und Berufsberatun­
gen, die (oft sogar mit Hilfe von Computern) „bestimmen“ , welchen
freien Platz (wenn überhaupt einen) wir auf Grund der globalen und
lokalen Wirtschaftslage ausfüllen dürfen. Zu behaupten, daß die uns
durch ein Gerät zugewiesene Arbeit dann unser „Sinn“ sei, das wäre
trotz des Geredes vom „heiligen Anrecht auf den Arbeitsplatz“ un­
überbietbar zynisch. -
Wenn ich vorhin sagte: „W ir erfüllen keinen, außerhalb unser selbst
liegenden, Sinn“ , so tat ich das deswegen, weil wir, wenn wir etwas als
„sinnvoll“ bezeichnen, stets damit meinen, daß es „fü r etwas“ Sinn
haben soll. Ohne ein solches „F ü r“ ist die Rede von „Sinn“ unsinnig:
einen gewissermaßen auf nichts bezogenen, „frei schwebenden Sinn“
gibt es nicht. Ihren Sinn haben die Hände fü r den Organismus (bzw.
dieser ist deren Sinn). Ihren Sinn hat die Taste fü r die Schreibmaschine
(bzw. diese ist deren Sinn). Ihren Sinn hatten die Sklaven fü r die Plan­
tagenherren. Die Herren selbst hätten vermutlich, wenn man ihnen
nachgesagt hätte „to have a meaning“ , und wenn sie diese (unwahr­
scheinliche) Aussage überhaupt verstanden hätten (was ebenso un­
wahrscheinlich ist), energisch dagegen protestiert. Und zwar deshalb,
weil „Sinn haben fü r .. .“ immer bedeutet: heteronom sein, Mittel für
einen Zweck sein, unfrei sein. Ist es wirklich so gewiß, daß Sinn­
Haben ein Ehrenprädikat, und daß keinen Sinn zu haben, ein Manko
ist? Läuft nicht vielleicht letztlich unsere Suche nach „Sinn“ a u f Suche
nach Dienstbarkeit hinaus, auch wenn wir diesen Sinn (weil w ir ihn
nicht finden) „tief“ nennen, und auch uns selbst, weil wir vergeblich in
uns herumsuchen, mit diesem Epitheton schmücken?
VI. DIE ITERA TIO N

Wenn w ir anerkennen, daß „Sinn haben“ stets „Sinn haben fü r . . . “


ist, dann kommen wir um eine frustrierende Tatsache, die jede Sinn-
Attribuierung sinnlos zu machen droht, nicht herum. Ich nenne diese
Tatsache die „Iteration des Sinns“ . Damit meine ich, daß wir, sofern
wir uns nicht widersprechen wollen, es nicht vermeiden können, die
Sinnfrage von einer Stufe zur nächsten, von der nächsten zur über­
nächsten und so ad infinitum weiterzuschieben. Wenn A ’s Sinn darin
besteht, B zu dienen, dann müssen wir, um diesen Sinn A ’s anzuerken­
nen, unterstellen, daß auch B Sinn zukomme, da es sinnlos wäre, für
etwas selbst Sinnloses Sinn zu haben usw. Freilich gibt es, abgesehen
von uns närrischen Philosophen, niemanden, der sich deshalb, weil er
logisch dazu gezwungen ist, auch moralisch dazu verpflichtet fühlte,
diese Iteration durchzudenken und aus diesem Denken Konsequenzen
zu ziehen. Nichtphilosophen geben sich gewöhnlich damit zufrieden,
Sinn für etwas zu haben, das sie nicht selbst auf ihren Sinn hin
abfragen. Darin besteht ja die von mir ad nauseam, sowohl in „Endzeit
und Zeitenende“ wie in anderen Essays dieses Bandes angeprangerte
„moralische Beschränktheit“ des heutigen Menschen. Andererseits
aber scheint es so, als ob auch der Gedanke der „Iteration ad infini­
tum“ , der Gedanke, daß ich nicht weiß, was die letzte Folge der Fol­
gen der Folgen der Folgen meines Tuns sein wird, also welchen „Sinn“
letztlich mein Tun hat, und wofür ich letztlich verantwortlich bin -
daß auch dieser Gedanke demoralisiert, weil sich, wer diesem verfällt
und nachgibt, der Fähigkeit beraubt, überhaupt noch zu handeln.
So scheinen wir dazu verdammt, zwischen dem zu engen und dem
zu weiten Horizont, zwischen Punktualität des Lebens und der
unendlichen Perspektive, zwischen moralischer Beschränktheit und
„moralischer Maßlosigkeit“ zu wählen. Das ist wahrhaftig eine furcht­
bare Alternative, eine Aporie, die sich nicht auflösen, sondern nur wie
der gordische Knoten durchhauen läßt. Damit meine ich, daß wir als
moralische Wesen ebensowenig wie sub specie des nunc, sub specie
infiniti handeln dürfen; daß wir uns mit dem Zeitraum „zwischen Jetzt
und Ewigkeit“ abfinden müssen. So fest es steht, daß wir in einem über
den Jetztpunkt hinausreichendem Zeitraum zu leben und zu handeln
haben (also zu fragen haben: Was sind die Effekte der Effekte meines
Handelns, also was ist dessen „Sinn“ ?), ebenso fest steht es, daß wir
diese Iteration der Verantwortung nicht ad infinitum durchdenken
dürfen (ganz abgesehen davon, daß wir das gar nicht können). Pragma­
tisch gesprochen: die Kategorie „Sin n “ hat vermutlich allein dann
Sinn, wenn wir uns gegen das endlose Iterieren abschirmen, wenn wir
dieses in einem limitierten Horizont verwenden und ihm einen nur
pragmatischen Sinn einräumen.23 Es ist ganz in der Ordnung, daß sich
die Mutter, die ihren Lebenssinn in der Aufzucht ihrer Kinder sieht,
keine Zeit nimmt zu fragen, welchen Sinn denn deren Kinder einmal
haben werden, und dann deren Kinder usf. Und wahrscheinlich hat sie
nicht nur nicht die Pflicht, dieser absurden Gedankenkette nachzuge­
hen, umgekehrt hätte sie, wenn sie (unbegreiflicherweise) durch diese
Iteration versucht würde, dieser Versuchung zu widerstehen.
Nein, wir stehen nicht vor der Alternative zwischen dem punktuel­
len Jetzt und der Unendlichkeit. Das besagt aber nicht, daß wir das
Postulat der Iteration zurücknehmen. Sind wir auch nicht dazu ver­
pflichtet, sub specie infiniti zu leben und zu arbeiten, so haben wir
doch - und unter „w ir“ verstehe ich hier uns alle, uns in der Produk­
tion arbeitende Jedermanns, vom „Ungelernten“ bis zum Minister für
öffentliche Arbeiten - aus dem Jetzt herauszutreten und uns in einen
sehr breiten, oft unwahrnehmbaren, nur vorstellbaren, oft noch nicht
einmal vorstellbaren, sondern nur denkbaren, Raum der Voraussicht
und der Verantwortung hinein zu begeben. Auch was wir nicht mit
Augen sehen, haben wir vorauszusehen. Der Imperativ von heute lau­
tet: „Antizipiere!“ Erst heute ist Prometheus, mit dessen Namen ich
den ersten Band eröffnet hatte - denn der Name bedeutet ja: der
Vorausdenkende - zu unserer moralischen Symbolfigur geworden.
Die Frage nach dem „Sinn“ unseres Tuns, namentlich unseres Arbei-
tens, läuft also auf die antizipierende Frage hinaus: Was ist der Effekt
des Effektes des Effektes der Verwendung des Produktteils, den ich
mit-herstelle, und dessen Herstellung vorgibt (da sie mich ja beschäf­
tigt), meinem Leben „Sinn“ zu verleihen? Der wirkliche Sinn meines
Tuns, wie partikular und momentan dieses auch sein mag, ist der letzte
Effekt, derjenige, der nach einer Kette von Iterationen einsetzt. Wieder
nehme ich das obige Beispiel: Der Sinn meiner Arbeit an dem Ma­
schinenteil einer Maschine, deren Sinn darin besteht, einen anderen
Maschinenteil herzustellen, und zwar für eine Maschine, die für die
Herstellung einer Vernichtungswaffe erforderlich ist, deren Sinn wie­
derum in der Liquidierung von Millionen von Menschen besteht - ich
sage: der letzte Sinn meines so harmlos aussehenden Arbeitens an dem
ersten winzigen Stück besteht im Schlußeffekt des Schlußproduktes,
obwohl dieser zeitlich und räumlich sehr weit von mir entfernt ist, und
obwohl ich mich während der Arbeit nur auf die tadellose Erzeugung
des ersten Stückes konzentriert hatte. D er letzte Sinn eines bescheide­
nen Handgriffes kann „G en ozid“ heißen.
Ad infinitum brauchen wir, wie wir sehen, die Iteration nicht durch­
zuführen. Der Sinn meiner Arbeit liegt nicht im Unendlichen, sondern
nur im weit Entfernten. Die moralische Wahrheit liegt in der Mitte
zwischen Jetzt und Unendlichkeit. So geboten es ist, über das punktu­
elle Jetzt hinauszudenken, so überflüssig ist es, die Sinnfrage ad infini­
tum weiterzuschieben. Erkennen wir als letzten Sinn eines Produktes,
an dem wir mitarbeiten, die Vernichtung der Menschheit, dann wissen
wir, was wir zu tun, bzw. zu unterlassen haben. Die weitere Frage,
etwa die, welchen Sinn es haben solle, daß es eine Menschheit gebe und
nicht vielmehr keine, ist höchstens im Bereich der theoretischen Ver­
nunft sinnvoll (wenn auch unbeantwortbar), fü r die „praktische Ver­
nunft“ dagegen uninteressant. Den Moralisten geht sie nichts an. Er
begnügt sich mit dem Vorletzten. Und er kann von Glück sagen, wenn
er für die vorletzte Stufe etwas ausrichtet.

Selbstverständlich mache ich mir keine Illusionen. Nahezu 100%


aller Arbeiter - und dazu rechne ich auch die Wissenschaftler, die
Ingenieure und die Staatsmänner - halten solches Iterationsdenken,
solches Fragen nach dem entfernten Sinn ihres Tuns (sofern ihnen ein
solches Denken jemals begegnet ist) für eine lächerliche Zumutung.
Aber was sie „Zumutung“ nennen, das ist die Forderung der Stunde
und aller der Stunden, die uns Menschen vielleicht noch vergönnt sein
mögen. Da es seit "I945 um das „to be or not to be“ der Menschheit
geht, ist es wahrhaftig nicht zu teuer bezahlt, wenn man sich durch
diese „Zumutung“ der Lächerlichkeit aussetzt. „Wenn ich eines Ta­
ges“ , heißt es bei dem molussischen Philosophen Mo, „nicht mehr ver­
lacht werden sollte, dann würde ich erschrecken, aus Argwohn, etwas
Falsches gesagt oder etwas Richtiges zu sagen unterlassen zu haben.“
1979

Zwei Umkehrungen sind fällig:

Zwar behält die (dem angeblich jesuitischen Prinzip „der Zweck


heiligt die Mittel“ widersprechende) Maxime „kein Zweck heiligt die
Mittel“ nach wie vor ihre Gültigkeit. Nicht minder wichtig, wenn
nicht sogar wichtiger als sie ist jedoch ihre Umkehrung: „K ein Mittel
heiligt den Zw eck“ .
Beispiel: Die Tatsache, daß es das Vernichtungs- und Erpressungs­
mittel „Atombombe“ gibt, stellt keine Rechtfertigung dafür dar, daß
dieses für seine ihm eingebauten Zwecke eingesetzt werde.
Indiskutabel ist es - dieses Motiv war eines der Trumanschen gewe­
sen, als er sich im Jahre 45 dazu entschloß, die zwei „vorrätigen“
Mittel zur Auslöschung von Hiroshima und Nagasaki zu verwenden -
indiskutabel ist es, die Verwirklichung eines Zweckes deshalb zu be­
fürworten oder durchzuführen, weil die Nichtverwendung von dafür
zur Verfügung stehenden Mitteln, in die man, bzw. die Steuern zah­
lende Bevölkerung, „soviel investiert“ habe, auf - Vergeudung hinaus­
laufe.
Von den „Kernreaktoren“ genannten, nuklearen Zeitbomben mit
unfestgelegtem Explosionstermin gilt das genau so. Wer, um Vergeu­
dung zu vermeiden, für die Inbetriebnahme von noch nicht „angewor­
fenen“ Kernkraftwerken plädiert - was gewisse mitteleuropäische
Kanzler immer wieder tun - dessen moralisches Niveau liegt um nichts
höher, als das Trumans gelegen hatte. Damit nicht genug. Die sich für
die systematische und - dieser Zynismus ist nicht auf meinem Mist
gewachsen - „optimale Errichtung von Atomreaktoren“ einsetzen, die
tun das nämlich auch deshalb, weil sie vor dem Gedanken zurück­
schrecken, daß Energie, die hergestellt werden könnte, durch die Bau­
Unterlassung am Wirklichwerden gehindert werden würde. N ich t nur
die Nichtverwendung fertiger Installationen, sondern schon die N icht­
herstellung möglicher Installationen scheint ihnen unerlaubte Ver­
schwendung.

II

Das Problem, mit dem wir bald konfrontiert sein werden, wird nicht
mehr das der Energieverknappung sein, sondern das des Energie­
Überflusses. Als verwendbar stehen uns nicht, wie heute noch, die
limitierten Restvorräte an organischen Stoffen wie Kohle oder 01 be­
vor, sondern unerschöpfliche Naturkräfte wie die Sonnenenergie.
Darin sind sich Robert Jungk und ich völlig einig. Die morgige Frage
lautet: „ Wird die Industrie soviel Energie, wie man wirdproduzieren
(richtiger: melken, am richtigsten: sich in den Schoß wird fallen lassen)
können, nötig haben? Nötig haben können?“
N icht die bedürfnisstillenden Materialien und Energien werden be­
grenzt sein, sondern umgekehrt die Bedürfnisse, da diese nicht, wie es
heute noch als selbstverständlich gilt, ad infinitum erweitert werden
können. Schon heute ist ja der - sit venia verbo - „ Vorrat an Bedürf­
nissen“ derart verknappt, daß eigens solche erzeugt werden müssen;
diese Erzeugung von Bedürfnissen ist ja sogar schon zu einem der
mächtigsten Produktionszweige geworden, da ohne deren Existenz die
bedürfnisstillenden Produkte umsonst da wären. Aber selbst wenn
eine infinite Erweiterung der Bedürfnisse möglich wäre, sie wäre
absolut sinnlos. Außer für die Wirtschaft, die der Bedürfnisse bedarf.
Der Wettlauf, auf den wir uns schon heute gefaßt machen müssen,
wird sich also zwischen (limitierten) Bedürfnissen und (illimitierten)
Energiequellen abspielen. D ie Bedürfnisse werden versuchen müssen,
den Energiequellen - die Metapher ist ärgerlich, aber unentbehrlich -
„gewachsen“ zu bleiben. Nicht nach „untapped sources“ werden wir
bohren - die werden gratis oder nahezu gratis sprudeln - , sondern
nach „untapped needs“ . Nicht um das tägliche Brot werden wir beten,
sondern um den täglichen Hunger. Nicht Energie wird notwendig
sein, um die Produktion zu gewährleisten, umgekehrt wird es notwen­
dig sein, zu produzieren, um zu verhüten, daß die aus den unzu-
schraubbaren Energiehähnen strömenden Energien verschwendet wer­
den. Nicht Energien zu beschaffen und zu schaffen, wird unsere A u f­
gabe sein, sondern Aufgaben zu schaffen, deren Zweck es ist, zu ver­
hüten, daß das zu erwartende Quantum an Energie brach liege. Die
Zauberlehrlingsklage „die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht
los!“ wird sich bald nicht mehr nur auf die Katastrophengeräte bezie­
hen, sondern auf die verfügbaren Energien als solche, da deren bloße
Kolossalität katastrophal werden wird.
Natürlich kommen diese meine Formulierungen, die durchwegs Va­
riationen über ein und dasselbe Thema sind, wie die meisten meiner
Formulierungen, zu früh. Auch sie werden, statt als Prognosen, als
unzutreffende Diagnosen verhöhnt werden. Aber sie können sich ge­
dulden. Die Höhnenden, die auch heute noch den Teufel der mangeln­
den Energie an die Wand malen, die sind von gestern.
Eine neue Tugend und Weisheit wird nötig werden: nämlich die
Situation auszuhalten, in der man mehr bekommen kann, angeblich
soll, als man bewältigen kann. Bescheidung - nicht angesichts von
Knappheit, sondern angesichts von Überfluß. Freilich bezweifle ich,
daß es uns gelingen werde, uns zu einer Kultur der Bescheidung zu
erziehen. Lieber als dem Wirt etwas zu schenken, werden wir unseren
Magen verrenken.
1975

Je weiter meine erste Formulierung dessen, was ich das „ promethei-


sche Gefalle“ genannt habe (nämlich das Mißverhältnis zwischen unse­
rer Vorstellungs- und Herstellungskraft, die Tatsache, daß wir weniger
vorstellen als herstellen können) zurückliegt, um so deutlicher wird es
mir, daß ich damit nur einen speziellen Unterfall innerhalb einer gan­
zen Gruppe von für die Menschheit von heute charakteristischen Miß­
verhältnissen dargestellt hatte. Die seinerzeit verwendete Formel:
„D er Mensch ist kleiner als er selbst“ bewahrheitet sich nicht nur durch
die damals behandelte Diskrepanz. Nicht minder wichtig ist z.B. das
Gefälle zwischen Zerstörungs- und Aufbaukraft - womit ich nicht
etwa» wie die banalen Lobhudler des „Positiven“ , meine, daß wir lei­
der mehr zerstören als aufbauen können, sondern umgekehrt, daß wir
in gewissen, höchst wichtigen, Gebieten unseres Daseins leider sehr
viel mehr aufbauen als zerstören können; daß, um die Spießerredensart
umzukehren, „ aufbauen leicht, zerstören dagegen sehr schwer“ ist.
Natürlich muß diese Umkehrung provokant klingen, und das um so
mehr, als sie aus dem Munde eines Mannes kommt, der bereits als
Opfer einer idee fixe gilt, weil er seit dreißig Jahren nicht müde gewor­
den ist, auf die Möglichkeit eines atomaren Selbstmordes der Mensch­
heit hinzuweisen. Wenn ich trotz dieser niemals unterbrochenen War­
nung behaupte, daß der Mensch mehr aufbauen als zerstören kann,
dann liegt natürlich nicht einfach eine Revision, oder gar Umkehrung,
meiner apokalyptischen Hauptthese vor. Was ich meine, ist vielmehr,
daß wir trotz der unsäglichen Schwierigkeiten, die wir zu überwinden
hatten, ehe der erste Explosionstest gelang, ungleich größere Schwie­
rigkeiten haben, nein: schlechthin unfähig dazu sind, das einmal G e­
schaffene zu zerstören, es abzuschaffen. Unfähig deshalb, weil, auch
wenn wir (eine beinahe sinnlose Annahme) einmal vorübergehend
keine Atomsprengköpfe besäßen, unser know how unzerstörbar übrig­
bleiben würde. Die Idee überlebt, Plato siegt.
Auch hier gilt also wieder der Satz: „d er Mensch ist kleiner als er
selbst“ - aber in diesem Falle beweist er sich als kleiner deshalb, weil er
den Zustand der verlorenen atomaren Unschuld nicht wiederherstellen
kann, nicht (wie ursprünglich definiert), weil er „weniger vorstellen als
herstellen“ kann. Kurz: Wir sind unfähig, das einmal Gekonnte nicht
mehr zu können. Nicht an Können fehlt es uns also, sondern an Nicht­
können.
1966

§1
D er verwandelte Zauberlehrling

Der Titel des Themas, über das zu sprechen ich gebeten worden
war, lautete ursprünglich: „Ü b er Religion im technischen Zeitalter“ .
Ich hatte noch nicht die zweite Seite meines Textes erreicht, als ich
mich dazu entschloß, ihm den Untertitel ,,D er verwandelte Zauber­
lehrling“ zu geben. Den Haupttitel habe ich schließlich, als ich nun
nach dreizehn Jahren den Text erneut prüfte, durch: „D ie Antiquiert­
heit der Bosheit“ ersetzt.
Nun, die Behandlung des Themas „Religion im technischen Zeital­
ter“ könnte man sich leicht machen. Man könnte nämlich schildern,
empirisch, vielleicht sogar statistisch, wie es den Weltreligionen und
den kleineren religiösen Gemeinschaften in der hypertechnisch gewor­
denen Welt ergehe, oder wie es ihnen ergehe trotz deren Hypertechni­
fizierung; welchen Platz in dieser Welt sie noch einnehmen, ob und
wie sie zu dem Phänomen „Technik“ Stellung nehmen, ob es religiöse
oder kirchliche Technik-Theorien gebe und welche, und ob sie sich
schließlich mit Erfolg oder ohne Erfolg technischer Errungenschaften,
wie z.B . des Fernsehens, bedienen. -
Über diese Probleme und Tatsachen wissen Abertausende, nament­
lich kirchlich tätige Menschen, besser Bescheid als ich. Mein Aus­
gangspunkt ist ein anderer. Nicht die bestehenden Kirchen befrage ich,
ich untersuche nicht, was diese von der Technik halten - meine Be­
handlung des Themas ist, trotz meiner notorischen Irreligiosität, un­
gleich direkter. Was ich behaupte, ist nämlich, daß die zwei Verände­
rungen, die heute festzustellen sind:
1. die Veränderung, die der Mensch als Erzeuger, Teil und Opfer
dieser seiner technischen Welt durchgemacht hat,
und 2. die Veränderung, die die Welt durch ihre Technifizierung
erfahren hat,
so fundamentaler Natur sind, daß die Begriffe, mit deren Hilfe man
diese zu behandeln hat, wohl als theologische bezeichnet werden kön­
nen, vielleicht müssen.
Ehe ich zu diesem Religionsproblem komme, möchte ich erst einmal
über unser Verhältnis zur heutigen technifizierten Welt sprechen.

Was Goethe in seiner berühmten Ballade „D er Zauberlehrling“ ge­


schildert hat, das brauche ich wohl kaum in Erinnerung zu rufen: Ein
Famulus hat seinem Meister jene Zauberformel abgelauscht, die den
toten Besenstiel in einen selbständig arbeitenden Knecht verwandelt.
Ohne sich um die Folgen seines Tuns zu kümmern - denn was ihn
interessiert, sind allein Machtgenuß und die unmittelbare Verwertbar­
keit des Verwandelten, nicht die Rückverwandlungsformel -, spricht
der Famulus das Zauberwort und befiehlt dem nun als Roboter ihm
zur Verfügung stehenden Geräte, Wasser zum Füllen des Bades heran­
zuschleppen. Und siehe da, der Verwandelte gehorcht, selbständig
macht er sich ans Werk - nein, er gehorcht zu gut, er gehorcht schließ­
lich fürchterlich gut: denn wie selbständig er seinem neuen Beruf auch
nachkommen mag, seine Selbständigkeit wieder aufzugeben, dazu ist
er nicht selbständig genug - kurz: den Weg zurück kennt er genauso
wenig wie sein H err: der Lehrling, der ihn auf den Weg geschickt hat.
Automatisch, blindlings, und ohne sich im mindesten für die Effekte
seines Tuns zu interessieren, rast der Besen zum Brunnen, um seine
Eimer zu füllen, zurück, um diese auszuschütten, hin und her, und so
ohne Ende. Daß seine Güsse zur Sturzflut anschwellen, daß Haus und
Straße zu versaufen drohen, das ist ihm egal, das sieht er noch nicht
einmal. Sehr im Unterschiede zu seinem angeblichen Herrn: dem Zau­
berlehrling, dem es nun nämlich immerhin zu dämmern beginnt, was
er da in Gang gebracht hat: daß er nämlich einen Geist gerufen hat,
ohne zu wissen, wie, nein ob er diesen je wieder los werden könne. -
Aber diese seine verspätete Einsicht und die Panik, in die er nun hin­
eingerät, die bleiben wertlos, sogar schlimmer als das: Denn da er sich
nun auf seinen so fürchterlich betriebsamen Knecht wirft, um ihm das
Handwerk zu legen, ehe es zu spät ist, und da er versucht, diesen
unschädlich zu machen: ihn nämlich in zwei Hälften zerhaut, da er­
reicht er nur das Gegenteil dessen, was er vorgehabt hatte: Statt der
N ot ein Ende zu setzen, verdoppelt er diese. Denn sofort verwandelt
sich nun jede Hälfte des Knechtes in einen ganzen Knecht, und statt
des Einen sind es nun zwei, die das Flutgeschäft besorgen. Dem E r­
trinken nahe und nunmehr völlig verzweifelt schreit der Lehrling nach
dem Meister. Daß ihm dieser im letzten Moment wirklich noch zu
Hilfe kommt und durch das Aussprechen der Rückverwandlungsfor­
mel: „sei’s gewesen“ die Katastrophe doch noch im letzten Moment
zum Stehen bringt, das ist ein happy ending, auf das der Lehrling wohl
schon kaum mehr zu zählen gewagt hatte; und auf das wir Heutigen -
aber damit greifen wir vor - nicht zählen dürfen. -
Nun, als wir vor einem halben Jahrhundert auf der Quarta den
„Zauberlehrling“ auswendig lernten, da ahnten wir natürlich nicht,
daß Texte wahrer werden können, als sie am Tage ihrer Abfassung
gewesen waren; daß Goethes Ballade bereits sehr viel realistischer war
als zu dessen Zeiten, und daß sich in den knappen hundertfünfzig
Jahren die gesamte Menschheit in ein Milliardenheer von „Zauberlehr­
lingen“ und die Welt selbst in ein Milliardenheer von „Geistern“ ver­
wandelt hatte. Freilich, zu glauben, daß wir das heute nun endlich
wissen, wäre illusionistisch. Im Gegenteil: Heute wissen wir Zauber­
lehrlinge nicht nur nicht, daß wir die Entzauberungsformel nicht wis­
sen, oder daß es keine gibt; sondern noch nicht einmal, daß wir Zau­
berlehrlinge sind. Und zwar deshalb nicht, weil es das Prinzip der
heutigen „ Negativ-Information“ ist - diese ist ungleich umfangreicher
als die positive Information und vollzieht sich pausenlos durch die
Belieferung mit scheinbar positiven Informationen - , uns nicht zu
verraten, daß wir durchweg Zauberlehrlinge und die von uns manipu­
lierten Geräte durchweg „Geister“ sind. Sofern - und das ist wieder
ein neuer Schritt - diese Unterscheidung überhaupt noch sinnvoll ist.
Denn da ja nicht wir selbst uns den Befehl zu unserem irrsinnigen Tun
gegeben haben, sind wir noch nicht einmal „ Lehrlinge“ , sondern selbst
bereits „G eister“ . Und auch das: daß Lehrlinge und Geister nun zu­
sammenfallen und daß nur eine Kleinigkeit fehlt: nämlich ein „M ei­
ster“ , der das Geschehen revozieren könnte - auch das wird uns natür­
lich nicht verraten.
§2

Irrationalismus als Moral

Man wird an meiner Übernahme der Goetheschen Metapher „G e i­


ster“ Anstoß nehmen und mir vorwerfen, ich sei naiv, und ich er­
kennte nicht an, daß die Zeit des „Irrationalismus“ hinter uns liege
und daß wir im Zeitalter der rationalistischen Naturwissenschaft und
Technik lebten. Aber Anstoß an dieser Metapher werden ausschließ­
lich die „Geister“ selbst nehmen, das heißt: diejenigen, zu deren we­
senlosem Wesen es eben gehört, ihrer Ratio beraubt zu sein. In der Tat
triumphiert der Irrationalismus, und zwar eben durch die Form unse­
rer Arbeit, erst heute. Wir wissen noch nicht einmal, daß w ir nicht
wissen, was w ir als Arbeitende tun. Wenn das nicht Irrationalismus ist
(und zwar nicht nur als philosophische Theorie, sondern als Zustand
der Menschheit), dann weiß ich nicht, was das Wort bedeutet. Dieser
Irrationalismus ist also offensichtlich kein Überbleibsel aus einer vor­
rationalistischen Vergangenheit. Vielmehr verdankt er - was ge­
schichtlich erstmalig ist - sein Bestehen dem Rationalismus selbst:
nämlich den Naturwissenschaften, der Technik und der Arbeitsorgani­
sierung. Da wir auf Grund dieser Faktoren zusammenhanglos und
ohne Vor-Sicht arbeiten, da wir immer nur an dasjenige denken (und
denken wollen, sollen und können), was mit dem jeweils momentanen
Erfordernis unserer speziellen, durch Arbeitsteilung uns zufallenden,
Aufgabe zu tun hat; niemals dagegen an das, was „außerhalb“ liegt -
„außerhalb“ sowohl im räumlichen Sinne wie in dem der zeitlichen
Konsequenz - , und da wir uns dieser Tatsache nicht bewußt sind und,
wie gesagt, nicht wissen, daß w ir uns ihrer nicht bewußt sind - hat
unser Irrationalismus eine „H öhe“ erreicht, die kein Irrationalismus
vor ihm je erreicht hatte.
Oder benehmen wir uns vielleicht „rational“ , wenn wir unseren
Beitrag a zur Herstellung des Produkts A leisten, aber nicht darüber
nachdenken, auch gar nicht zu wissen wünschen, wie sich dieses Pro­
dukt (und zwar einfach durch die Tatsache, daß es nun einmal da ist)
weiterentwickeln könnte?
Und wenn wir nicht darüber nachdenken, was es uns, oder unserem
Lebensstil, oder dem unserer Kinder, antun könnte?
Und wie sich die Welt als ganze durch dessen Dasein verändern
könnte?
Und welche anderen Produkte auf Grund seiner Existenz nötig wer­
den könnten?
Und ob nicht der Fortbestand der Menschheit durch seine Existenz
bedroht sein könnte?
Und ob nicht dieses äußerste Risiko vielleicht deshalb gewagt und
deshalb ignoriert wird, weil das System der Wirtschaft, damit auch das
der Herrschaft, durch Abbruch der Produktion dieses Produktes be­
schädigt werden könnte?
Ich frage noch einmal: benehmen wir uns rational, wenn wir - und
unter „w ir“ verstehe ich 99% der heute tätigen Menschen - unsere
„Pflichten“ erledigen, ohne uns diese Fragen vorzulegen? Wer von uns
legt sie sich denn schon vor? Vielleicht die Naturwissenschaftler unter
uns? Die die theoretischen Fundamente der Technik und der Produk­
tion liefern, und die Wert darauf legen zu betonen, daß sie nur „reine
Wissenschaft” treiben, d. h. daß sie sich mit dem Gedanken, welcher
Gebrauch oder welcher Mißbrauch mit ihren Erfindungen getrieben
werden könnte, um Gottes willen nicht verunreinigen wollen, und die
dieses programmatische Desinteressement mit leidenschaftlichem In­
teresse verteidigen? - Gewiß, Ausnahmen gibt es, ein paar tausend
großartige Wissenschaftler schlagen sich mit diesem Gewissenspro­
blem herum, aber repräsentativ für unsere heutige Welt sind diese paar
tausend nicht. - Oder legen sich vielleicht die Arbeiter diese Fragen
vor? Die Arbeiter, die nur für Sonderhandgriffe angestellt sind, die das
Fertigprodukt oft überhaupt gar nicht zu Gesicht bekommen, und
denen man es wahrhaftig nicht verdenken kann, wenn sie sich für die
Bewandtnis der Produkte, und für deren Effekte und für die Effekte
dieser Effekte nicht interessieren; denen man diese Indolenz um so
weniger verübeln kann, als sie ja wissen, daß es, wenn sie ihre Mitar­
beit verweigern würden, immer Andere gäbe, die bereit wären, für sie
einzuspringen und sich an ihrer Stelle für ihre Arbeit und für ihre
Uninteressiertheit bezahlen zu lassen?
Nein, wenn wir in einer Welt totaler Irrationalität, also als Zauber­
lehrlinge, leben, wenn wir unvorsichtig und ohne Vorhersicht unseren
„Besenstielen“ die abenteuerlichsten und geisterhaftesten Funktionen
zuerteilen; wenn wir es uns nicht klarmachen, daß diese „Geister“ ,
sind sie erst einmal herbeigerufen, niemals mehr auf uns Rücksicht
nehmen werden - dann nicht, obwohl wir in einem System extremer
Arbeitsteilung und extremer Durchrationalisierung leben, sondern
deshalb, weil w ir in einem solchen rationalen System leben.

Der Irrationalismus ist heute mithin ungleich schlimmer als jeder


frühere. Während es sich zu Beginn des Jahrhunderts nur um eine von
einigen überschwänglichen und ungebildeten Möchtegernphilosophen
wie Klages vertretene Modetheorie gehandelt hatte, um die These, daß
wir mit Hilfe der Ratio niemals bis zum „Wesenskern“ Vordringen
könnten (was seriöse Denker niemals behauptet hatten), handelt es
sich heute um das Prinzip aller Zeitgenossen, mindestens aller derer
(aber wer gehörte nicht dazu?), die etwas mit der Produktion zu tun
haben - und das sind die Konzernherren nicht weniger als die Physi­
ker, und diese nicht weniger als die gesamte Arbeiterschaft der Welt.
Und was dieser neue Irrationalismus behauptet, ist nicht unsere Unfä­
higkeit, dieses oder jenes denkend zu bewältigen, also nicht die Unzu­
länglichkeit unserer Ratio, sondern (sofern das, was er vertritt, als
„Behauptung“ qualifiziert werden kann) die Inopportunität des D en­
kens. Es besteht also in dem Postulat: „D u sollst von deiner Ratio
keinen Gebrauch machen!“ Genauer: „D u sollst die Konsequenzen
deines Tuns, auch wenn diese deinem Denken zugänglich sind, nein
gerade wenn und w eil sie deiner Ratio zugänglich sein könnten, nicht
bedenken!“ D er heutige Irrationalismus ist mithin keine theoretische
Lehre (gegen Theorie) mehr. Vielmehr ist er ein Verbot; und zwar
eines, das (gleich ob im Westen oder im Osten) methodisch erzeugt
und uns eingeflößt wird. Nicht, daß wir dieses oder jenes nicht wissen
können, verkündet der heutige Irrationalismus, vielmehr daß wir die­
ses oder jenes nicht wissen sollen. Irrationalismus als Moral.

§3

D er beneidenswerte Zauberlehrling

Machen wir uns nichts vor. Das, was Goethe als ein Entsetzen erre­
gendes und einer Ballade würdiges abenteuerliches Ausnahme-Ereig­
nis bedichtet hatte, das stößt uns ununterbrochen zu, das passiert uns
pausenlos - sofern wir da überhaupt noch von „passieren“ reden dür­
fen: denn von „passieren“ zu reden, ist ja eigentlich nur dann sinnvoll,
wenn das, was passiert, sich als Ausnahme von der Folie einer harmlo­
sen und regelhaften Alltäglichkeit abhebt. Und gerade das ist heutzu­
tage nicht der Fall. Was unsere Zeit abenteuerlich macht, das ist ja
umgekehrt, daß das Wahnsinnige, statt aufzufallen, gerade die Regel
ist; daß die mit Autonomie ausgestatteten „Besenstiele“ , also die Ap­
parate (sowohl die im administrativen Sinne wie die im physikalisch­
technischen Sinne), daß diese Apparate: die Kraftwerke, die atomaren
Raketen, die Weltraumgeräte, die industriellen Großanlagen, die für
deren Herstellung benötigt werden, zusammen unsere alltägliche Welt
ausmachen. Millionen leben davon, daß die Produktion dieser Geräte
autonom geworden ist; die Ökonomie ganzer Kontinente würde zu­
sammenbrechen, wenn die Erzeugung dieser Objekte plötzlich ein
Ende fände - alle diese Tatsachen sind heute ja keine Ausnahmen,
keine Sensationen, die man balladesk besingen könnte, wie das sensa­
tionelle Ereignis, das Goethe besungen hat.
Und ebenso gehört es ja zur Regel, zur Alltäglichkeit, daß wir nicht
daran denken, gegen das, was diese unsere „Geister“ tun und von uns
verlangen, aufzubegehren. Umgekehrt sehen w ir in der autonomen
bzw. automatischen Wirksamkeit unserer Produkte, die in Goethes
Augen noch etwas Schreckenerregendes gewesen war, etwas Normales,
nein sogar etwas Erfreuliches: nämlich die Garantie dafür, daß auch
unser eigenes Dasein glatt funktionieren werde, und daß uns die Last
eigener Verantwortung (die wir bereits als etwas Altertümliches, als
eine Mode von vorgestern empfinden) ein für allemal abgenommen
bleiben werde.
Und dazu kommt schließlich, daß diesen „Geistern“ die Sucht inne­
wohnt, sich zu erweitern und zu vermehren; daß sie also nicht nur so
unabhängig von uns bleiben, wie sie es direkt nach ihrer „G eburt“
gewesen waren, sondern daß sie sich immer unabhängiger machen;
und umgekehrt uns durch diese ihre akkumulierende Macht und Un­
abhängigkeit immer abhängiger machen. Goethe hat, als er den in zwei
Hälften zerschnittenen Roboter als ein Roboterpaar weiterarbeiten
ließ, eine ähnliche Akkumulation bereits im Auge gehabt. Wir wissen
ja, daß Apparate durchweg von der Tendenz getrieben sind, ineinander
zu greifen und sich (wie es in der Elektrotechnik heißt) zu „ N etzen"
vereinigen.1 Und daß das von den Netzen selbst ebenfalls gilt, d. h. daß
auch diese sich wieder, und ohne Rücksicht darauf, was sie uns damit
antun könnten, zu Netzen höherer Ordnung verflechten. Kurz: wäh­
rend bei Goethe ein einziger einsamer, auf tolle Art autonomer Besen­
stiel (und dann ein Besenstielpaar) auftrat, leben wir Heutigen in einem
dichten und immer dichter werdenden Walde von Besenstielen. Und
da es keine Möglichkeit gibt, diesen Wald abzuholzen oder diesem zu
entkommen, ist dieser unsere Welt.
Glückliche Zeiten waren es also, in denen man, wie Goethe, das
Roboterereignis als einen haarsträubenden Sonderfall darstellen durfte,
statt als den alltäglichen modus operandi der Welt; und in denen man
dieses Problem noch in Gedichtform behandeln durfte - was heute (im
Sinne des Adornoschen Dictums über L yrik nach Auschwitz) bereits
problematisch, vielleicht sogar ungehörig wäre; glückliche Zeiten, in
denen man es sich noch, ohne zu riskieren, als ahnungslos und unreali­
stisch verhöhnt zu werden, erlauben durfte, die Figur eines Meisters
einzuführen, eines Mannes also, der den Gegenzauber beherrscht, und
der nur seine Lippen zu öffnen brauchte, um das happy ending doch
noch zustandezubringen. Wahrhaftig, glückliche Zeiten! Verglichen
mit uns Heutigen ist ja sogar der Zauberlehrling selbst, trotz der tiefen
Not, in die er sich hineinmanövriert hat, und trotz der gellenden Ver­
zweiflung, mit der er nach Hilfe schreit, noch eine beneidenswerte
Figur. Aber was heißt hier „trotz“ ? Denn beneidenswert ist er ja um­
gekehrt gerade deshalb, weil er, im Unterschied zur heutigen Mensch­
heit, die Gefahr, die er heraufbeschworen hat, doch noch mit eigenen
Augen wahrnimmt, weil er ja noch begreift, daß ein Anlaß zur Ver­
zweiflung vorliegt; und weil er ja deshalb noch den Versuch unter­
nimmt, das, was er da angerichtet hat oder anzurichten im Begriffe
stand, doch noch aufzuhalten. Gemessen an unserer Situation, war die
des Goetheschen Zauberlehrlings eine bloße Kalamität; eine aufre­
gende Episode.
§4

Theologie der atomaren Situation

Nun werden Sie fragen: „Was hat das alles mit Religion zu tun?“
Die Antwort, die ich auf diese Frage gebe, wird, wie ich es bereits zu
Beginn angekündigt habe, anderer Art sein als die, die Sie vermutlich
erwarten. Wie wichtig es vielleicht auch wäre, sich die Attitüde klarzu­
machen, die die existierenden Religionen unserem Zauberlehrlings­
Status und der Verwandlung unserer Welt in eine Roboterwelt gegen­
über einnehmen2 - ungleich wichtiger ist es, so scheint es mir, auszu­
sprechen, daß die Lage, in die wir hineingeraten sind, selbst ein „reli-
giosum“ ist. Natürlich klingt das aus dem Munde eines notorisch anti­
religiösen Mannes etwas erstaunlich. Was ich meine, ist, daß die Ver­
wandlung, um die es sich hier handelt, so fundamental ist, daß zu ihrer
Charakterisierung andere als theologische, mindestens von der Theo­
logie geliehene Kategorien nicht mehr ausreichen würden. Was meine
ich im einzelnen?
Erstens, daß wir uns mit Hilfe der von uns selbst geschaffenen G e­
räte (und nicht etwa nur der atomaren) göttergleich, sogar gottgleich,
gemacht haben. Zwar „gottgleich“ nur im negativen Sinne, denn von
einer „creatio ex nihilo“ kann natürlich keine Rede sein;3 wohl aber
davon, daß wir nun einer totalen „reductio ad nihil“ fähig sind, daß
wir als Zerstörende wirklich omnipotent geworden sind. Denn als
„Allmacht“ dürfen wir es ja wirklich bezeichnen, daß wir (oder richti­
ger: unsere „Besenstiele“ : die von uns gerufenen Geräte) die gesamte
Menschheit und Menschenwelt auslöschen können; daß wir unser ge­
samtes Gewesensein von Adam an, unsere Vergangenheit annihilieren
können; und daß wir fähig sind, das schauerliche „zw eite Futurum“
Salomonis „w ir werden gewesen sein“ durch das zukunftlose Futur
„w ir werden nicht gewesen sein“ noch zu übertrumpfen. In der Tat ist
alles, was sich seit einem Jahrhundert als angeblicher „Nihilism us“
aufgespielt hat, neben dieser Möglichkeit der „Annihilierung“ reine
Kultursalbaderei gewesen. Nietzsche, auch der tierisch ernste Heideg­
ger, wirken vor der Folie dieser Möglichkeit unernst. Gleich was wir
glauben oder nicht glauben, ob wir etwas glauben oder nichts glauben
- sowohl unser Status in der Welt als auch der, den die Welt durch das
Faktum der Technik angenommen hat, sind so von Grund auf verän­
dert, daß andere als religiöse Begriffe zur Kennzeichnung nicht mehr
ausreichen.
Dieser unserer völlig neuartigen Allmacht entspricht zweitens eine
völlig neuartige Ohnmacht.
„Was soll das heißen?“ höre ich einwenden. „Ohnmächtig sind w ir
ja als Sterbliche sowieso und immer schon gewesen.“ - Gewiß. Aber
dieser Hinweis auf unsere gute alte und bewährte Ohnmacht und
Sterblichkeit stammt gewöhnlich von denjenigen, denen es opportun
scheint, die Ungeheuerlichkeit der neuen Situation zu verwischen. -
Die Antwort auf diesen Einwand lautet nämlich: Nicht alle Ohnmach-
ten sind einander gleich; nicht alle Sterblichkeiten solche derselben Art
und derselben Würde. Auf keinen Fall ist es ein und dasselbe, ob wir
als Geschöpfe eines Gottes bzw. der Natur ohnmächtig bzw. sterblich
sind; oder ob wir das durch unser eigenes Tun sind. Damit meine ich,
daß w ir heute primär nicht ,,sterbliche", sondern „tötbare“ Wesen
sind. Die Ereignisse Auschwitz und Hiroshima können zwar aus dem
Gedächtnis (sofern sie je in dieses eingedrungen sind) verdrängt w er­
den - und das ist in der Tat geschehen. Nicht verdrängt werden kann
dagegen deren Wiederholbarkeit. Seit diesen zwei Ereignissen - das
heißt: seit nun über zwanzig Jahren - ist das sogenannte „natürliche
Sterben“ zu einer obsoleten Sonderbegünstigung geworden, ist die
Möglichkeit der gewaltsamen Selbstaustilgung der Menschheit pausen­
los virulent. Und seitdem sind wir durch diese pausenlose Möglichkeit
pausenlos definiert. Aufs Furchtbarste definiert. Denn „die Möglich­
keit unserer endgültigen Vernichtung ist, auch wenn diese niemals ein­
tritt, die endgültige Vernichtung unserer Möglichkeiten“ • Die letzten
Boten eines würdigen Sterbens waren jene Konzentrationslagerhäft­
linge, die, um nicht kollektiv vertilgt zu werden, dem Gas durch den
Suizid zuvorkamen.* -
Ferner gehört drittens zum neuen „religiösen“ (oder infernalischen)
Charakter unserer heutigen Situation, daß wir, wenn wir getötet wer­
den, im Unterschiede zu unseren Vorfahren, kaum je von Mitmen­
schen direkt getötet werden, kaum je „Tätern“ (selbst dieses Wort ist
schon unverdiente Ehre) zum Opfer fallen, die ihr Töten als Töten
gemeint (nein, auch nur in actu erkannt, nein, es wirklich auf uns
abgesehen, nein, auch nur von unserer Existenz etwas gewußt) hätten.
„Sterb ich, so tröst ich mich doch, von Menschenhänden zu sterben.“ 6
Selbst dieser Minimaltrost ist uns mißgönnt. Denn entweder kommen
wir durch Handlungen um, die Täter irgendwo, tausende von Kilome­
tern von uns entfernt, als pflichtgemäße Arbeit verrichten; oder eben
durch hirn- und augenlose Geräte, die sich längst von den Händen
oder Absichten ihrer Erzeuger und Bediener emanzipiert und die das
Werk des Liquidierens nun völlig selbständig übernommen haben. Der
angeblichen Emanzipation der Menschen (sofern es diese überhaupt
jemals irgendwo gegeben hat) ist nun die unbestreitbare Emanzipation
der Objekte: der „Besenstiele“ gefolgt. Denen mit zum Opfer zu fal­
len ist - und das meine ich wahrhaftig nicht zynisch - nicht tragisch,
sondern was viel furchtbarer ist, läppisch. Tragisch ist höchstens dieses
Fehlen der Tragik, also die Läppischkeit des Todes, der uns bevorsteht.
Und auch diese „Läppischkeit“ würde ich als ein „religiöses“ Faktum
bezeichnen: denn die totale Unwichtigkeit unserer Existenz, die mit
diesem Wort angezeigt ist, können wir wohl kaum anders denn als die
äußerste Negation der „Ebenbildlichkeit“ auffassen.
Und viertens gehört es zu unserer neuen „religiösen“ (oder inferna­
lischen) - aber auch das Infernalische ist ja ein theologischer Begriff -
conditio humana, daß wir nun nicht mehr nur als Einzelne sterblich
oder tötbar sind, sondern daß wir nun alle zusammen - freilich nur
„zusammen” , wohl nicht „ gemeinsam” - umkommen können. In der
Tat besteht, seit es das Überangebot an Nuklearwaffen gibt, ununter­
brochen die Möglichkeit (richtiger: die Wahrscheinlichkeit), daß wir
alle, und zwar eben (wie indirekt auch immer) durch eigene Hand
ausgelöscht werden. Und unter „uns allen“ verstehe ich dabei nicht
nur uns heute Lebende, sondern auch unsere Ahnen, da diese ja, von
niemandem erinnert, einen zweiten und endgültigen Tod sterben wür­
den. Und schließlich auch unsere noch ungeborenen Kinder und Kin­
deskinder, die ihren Tod schon vor ihrem Leben zu absolvieren haben
würden. Oder: werden.
Rilke hat vor einem halben Jahrhundert in feierlicher Larmoyanz
um das Geschenk des „eigenen Todes“ gebetet, und Heidegger hat,
wenn auch nicht flehend, sondern trotzig, in diesen Wunsch einge­
stimmt. Dieser gehört nun schon einem vergangenen Zeitalter an. Wir
haben, sofern wir überhaupt zu beten haben, wahrhaftig um etwas
anderes zu beten als um den eigenen Tod: eben darum, daß wir nicht
durch eigenes Tun den gemeinsamen Tod erleiden. - Übrigens ist es
auch damals, zu Rilkes Zeiten, in einer Welt, in der nur einer ver­
schwindenden Minderheit ein Anrecht auf eigenes Leben zugestanden
war, abgeschmackt gewesen, um die Gnade eines eigenen Sterbens zu
beten. Ganz abgesehen davon, daß nichts so wenig wie das den Einzel­
nen seiner Einzelheit beraubende Sterben etwas „Eigenes“ sein kann.

Daß diese Reflexionen, obwohl in ihnen kein Gott figuriert, nicht


anders denn als „theologisch“ bezeichnet werden können, das läßt sich
wohl nicht bestreiten. Wie anders sollte ich das Enorme klassifizieren?
Und damit spreche ich ja nun wirklich über das mir ursprünglich
zugewiesene Thema: „ Religion im technischen Zeitalter“ . Die Tatsa­
che, daß ich als notorisch Areligiöser dies zugebe, bedeutet freilich
nicht, daß sich nun Kirchenmänner, Theologen oder gar homines reli-
giosi durch dieses Zugeständnis bestätigt fühlen dürften. Denn was
hier als „religiosum“ eingeräumt wird, ist ja nichts Positives, sondern
nur die (von keinem Gott vereitelte) alles Menschenmaß transzendie­
rende Furchtbarkeit des menschlichen Tuns. Schelers Dictum, daß er
(im Unterschiede zu den liberalen Christen seiner Generation, die
zwar an die Existenz Gottes glaubten, nicht jedoch an die des Teufels)
an die Existenz des Teufels glaube, kann einem in diesem Zusammen­
hange einfallen. Allerdings ist die Furchtbarkeit, die ich einräume,
auch nicht identisch mit dem klassischen religiösen Negativum, also
mit der Erbsünde. Um so weniger, als die Entsetzlichkeit der heutigen
Situation, wenngleich unser Werk, doch nicht von uns verschuldet ist.
Nicht einmal schuldig sind wir mehr, nicht einmal schuldig dürfen wir
mehr werden. Vielmehr ist es der Effekt unserer, über unsere Köpfe
hinweggehenden, menschlichen Geschichte.

Das wirklich Ernste

Natürlich hat es diese in vierfachem Sinne „religiöse“ Situation nie


zuvor gegeben. Unsere Endzeit unterscheidet sich grundsätzlich von
der im Christentum gemeinten/ die ja in dessen Augen der jüngste
Tag, obwohl vom Menschen verschuldet, so doch nicht als von ihm
hergestellt gegolten hatte. Dazu kommt - und das muß natürlich sakri-
legisch klingen - daß uns die damalige Rede vom Weltende nunmehr,
nun vor der Folie der realen Bedrohung, als eine nur noch metaphori­
sche vorkommt. Dies um so mehr, als sich das frühe Christentum mit
seiner Erwartung des „jüngsten Tages“ - ich bitte noch einmal um
Entschuldigung, aber die Dinge, um die es geht, sind zu ernst, als daß
uns Tabus noch schrecken dürften - vor der Wirklichkeit blamiert hat:
Das Universum hat von der Bedrohung, die man ihm nach- bzw.
vorhersagte, keine N otiz genommen, die Weltgeschichte ist bis heute
weitergegangen. Von jenem Staunen darüber, daß das von ihm zitternd
erwartete Weltende, bzw. die Parusie, nicht eintrat, auch im Jahre 1000
noch nicht eintreten wollte, hat sich ja das Christentum bis heute noch
nicht ganz erholt. Immer wieder hat es sich, um der unverzichtbaren
Enderwartung das Odium zu ersparen, einfach eine Fehlprognose ge­
wesen zu sein, darum bemüht, den Begriffen „Ende“ , „Reich“ , „G e ­
richt“ einen (angeblich von Anfang an gemeinten) symbolischen Sinn
zu verleihen und deren symbolische Gültigkeit zu retten.
Nun, die heutige Endzeit ist von „massiverer“ Art. Sie bedarf keiner
Symbolisierungen. Für die Möglichkeit (und das heißt, wenn es sich
um Technik handelt: Unentrinnbarkeit) gibt es geschichtliche Bei­
spiele: die Fakten Hiroshima und Nagasaki und die von niemandem
geheimgehaltenen Feststellungen über die „overkill“ -Kapazität der
heute lagernden Waffen. In unserer Situation ist die Tatsache, daß das
Ende noch nicht eingetreten ist, keine Widerlegung der Realität der
Gefahr, kein Gegenbeweis gegen die Tatsache, daß unser Zeitalter
eine, bzw. die Endzeit ist.
In anderen Worten: die heutige apokalyptische Gefahr ist, obwohl
sie kaum je im feierlichen Gewand einer religiösen Sprache auftritt,
ungleich ernster, als es frühere Apokalypse-Gefahren je gewesen sind.
Ernster eben deshalb, weil nun Mittel zu deren Herstellung seit zwei
Jahrzehnten bereitliegen und sich täglich (sofern von „Steigerung“ zu
reden überhaupt noch einen Sinn hat) noch steigern.
Natürlich ist mit den zwei Behauptungen, daß die heutige Gefahr
ernster ist als jede frühere; und daß die Entscheidung über Sein oder
Nichtsein der Welt und unserer Zukunft nun in unserer Menschen­
hand liegt, nicht gesagt, daß die Menschheit, gar die ganze Menschheit,
dieses Ende wünsche oder beabsichtige; noch nicht. einmal, daß es
einzelne „kosmo-herostratische“ Individuen oder Gruppen gebe; ob­
wohl solche natürlich jederzeit auftreten könnten - die Versuchung,
ein solches (das Wort reicht nicht) „Verbrechen“ zum Jux zu begehen,
könnte bei der heute herrschenden Langeweile, Aggressions- und De­
struktionslust gewiß einmal unwiderstehlich werden. Nichtsdestowe­
niger scheint es mir, daß die Gefahr, wenn sie nur von solchen luziferi-
schen Individuen oder Gruppen ausginge, nicht annähernd so groß
wäre wie die heute tatsächlich bestehende. Nicht deshalb, weil diese
Täter (was fraglich ist) immerhin noch wüßten, was sie täten, weil sie
(was ebenso fraglich ist) noch handelnde Subjekte wären, und nicht
nur Wesen, die sich dem automatischen Wuchern ihrer Geräte blind­
lings überließen. Das könnte uns, wenn das der Fall wäre, nur wenig
trösten. Sondern deshalb, weil es vielleicht doch möglich wäre, Ein­
zelne oder Einzelgruppen zu identifizieren und dingfest zu machen -
während das Faktum der Großtechnik, das unserer Gefahr zugrunde­
liegt, unidentifizierbar bleibt und weder bekämpft noch dingfest ge­
macht werden kann.

Gute Zeiten waren das, als die Bosheit noch in Boshaften oder Bös­
artigen verkörpert war, und als man noch hoffen durfte, das Böse
durch Kampf gegen Böse bekämpfen zu können. Auch dadurch, daß
wir das nicht mehr erhoffen dürfen - nun schließt sich der Kreis -, ist
unser neuer „religiöser Status“ mitdefiniert. Nicht deshalb, weil wir
von Natur aus oder durch einen „F all“ sündig geworden wären, be­
drohen wir heute den Fortbestand der Welt, sondern deshalb,
weil wir Zauberlehrlinge sind, das heißt: weil wir mit bestem Gewis­
sen nicht wissen, was wir tun, wenn wir unsere Produkte herstellen;
weil w ir es uns nicht klar machen, wonach diese, wenn sie erst
einmal unseren Händen entglitten sind, verlangen;
weil w ir es uns nicht vorstellen, daß diese, wenn sie erst einmal
funktionieren (und das tun sie bereits durch ihr bloßes Dasein), weiter
zu funktionieren wünschen, nein, weiterfunktionieren müssen, und
daß diese sich automatisch zusammenschließen, um ein Maximum an
Macht, und eben auch über uns: ihre Erzeuger, zu gewinnen; und daß
sie, wie jedes andere Erzeugnis, wie jede andere Ware, begierig darauf
sind, verwendet und verbraucht zu werden, um der Produktion neuer
Produkte nicht im Wege zu stehen; kurz: daß sie sich selbst in Einsatz
bringen werden, gleich ob dieser oder jener von uns den Einsatz aus­
drücklich wünscht oder als politisches Ziel propagiert. -
Zauberlehrling-sein bedeutet:
nicht wissen, was man tut;
nicht wissen, daß Produzieren ein Handeln ist;
und sich nicht vorstellen, oder nicht fürchten, oder nachträglich
nicht bereuen können, was man durch das, was man herstellt, oder was
das, was man hergestellt hat, anstellen könnte.

Mit diesen Formeln - auch sie definieren unseren religiösen Status -


ist ein Bruch innerhalb unserer (und zwar erst unserer heutigen) E xi­
stenz bezeichnet, ein Gefälle, das an Wichtigkeit jenes zwischen
Fleisch und Geist oder zwischen Pflicht und Neigung, oder wie immer
die Differenzen geheißen hatten, die als die entscheidenden gegolten
hatten, weit übertrifft, nein, als unernst erscheinen läßt. Was ist schon
unsere „Fähigkeit“ , zu stehlen oder die Ehe zu brechen oder Gott zu
lästern oder zu morden neben unserer „Fähigkeit“ , einen Genozid,
nein, schlimmer als das - dieser Ausdruck muß eingeführt werden -
einen „ G lobozid" zu begehen? Oder was ist schon unsere Unfähigkeit,
jene Versuchungen abzuwehren, neben unserer Unfähigkeit, dieser
Versuchung, nein richtiger: diesem Zwang (denn die Versuchung spielt
wahrscheinlich nur ganz selten eine Rolle) Widerstand zu leisten?
Der Teufel hat eine neue Wohnung bezogen. Und wenn wir auch
unfähig sind, ihn über Nacht auszuräuchern - wenn wir ihn überhaupt
ausräuchern wollen - dann müssen wir mindestens wissen, wo er sich
verbirgt, und wo wir ihn auffinden können. Damit wir ihn nicht in
einem Winkel bekämpfen, in dem er schon längst nicht mehr hockt;
und damit wir nicht aus dem Nebenzimmer von ihm gefoppt werden.
M E T H O D O L O G IS C H E
NACH GEDANKEN

1979

§1

Über Systematik

Daß dieser zweite Band gerade mit diesem Aufsatz über die „A n ti­
quiertheit der Bosheit“ schließt, ist zufällig. Die Reihenfolge von Ka­
piteln in philosophischen Büchern hat stets etwas Beliebiges an sich, da
diese, Kugeloberflächen vergleichbar, weder Anfang noch Ende ken­
nen, und da alle ihre Aussagen mit Recht Anspruch darauf erheben
(um ein berühmtes Ranke-Wort zu variieren) „gleich nahe zur Wahr­
heit“ , also Voraussetzung und Folge zugleich zu sein. Die Reihenfolge
der Kapitel gehört also ausschließlich zur Präsentierung der Sache,
nicht zur Sache. Die Zufälligkeit ist in unserem Falle um so größer, als
es sich hier um kein System handelt, sondern um Einzelaufsätze, die
jeweils okkasionellen Beobachtungen entsprungen sind, und denen ich
noch weitere folgen lassen könnte. Diese Beliebigkeit schließt aller­
dings nicht aus, daß die Aufsätze - und das stelle ich nachträglich nicht
ohne Genugtuung fest - verraten, daß sie einer und derselben Werk­
statt entstammen. Damit komme ich hier am Ende dieses Bandes noch
einmal auf das Problem der „Systematik“ zu sprechen, das ich bereits
im Vorwort gestreift hatte.

Wenn ich betone, kein philosophisches System vorzulegen, so weiß


ich mich dabei in guter Gesellschaft. Das System als Philosophie-Typ
stirbt aus oder ist bereits ausgestorben. In der Tat waren die großen
Philosophen nach Hegels Tod: Feuerbach, Nietzsche oder Kierke­
gaard keine Systematiker, Systeme sind seitdem ausschließlich von
zweitrangigen Denkern wie Comte, Rickert, Driesch versucht w or­
den. Und selbst solche, z.B. Rickert, haben sich bereits halbherzig zu
„offenen Systemen“ bequemt - was immer diese contradictio in ad-
jecto bedeuten mag. In diesem Absterben der Systematik sehe ich, wie
gesagt, nichts Bedauerliches. Höchstens einen ästhetischen Defekt -
aber wo stünde heute noch geschrieben, daß die Wahrheit „schön“ zu
sein habe wie ein „Tempel“ (eine Metapher, die Hegel tatsächlich noch
für die fällige Philosophie verwendet hat) oder auch nur ein konstru­
iertes Gebäude oder auch nur ein „Ganzes“ ? Nicht nur ist es ein
Vorurteil, nur „im Ganzen das Wahre“ zu sehen - ein Singular, der
selbst bereits der Aufklärung bedürfte. Vielmehr ist es durchaus denk­
bar, daß das Seiende kein „G a nzes” \st, daß sogar -d ies die Klimax der
Ketzerei - der Singularausdruck „ die Welt“ bereits ein ontologisches
Vorurteil, vielleicht ein falsches, darstellt.1 Da unsere Welt, und nun
meine ich ausschließlich die menschliche Welt (nur von dieser: nämlich
von unserer heutigen Welt der Geräte, handeln ja meine Analysen) -
eine geschichtliche ist, Geschichte aber per definitionem weitergeht, ist
die „G änze der Geschichte" niemals erreicht, kann von einem „System
der Geschichte” (da Systeme das Ganzsein abbilden) keine Rede sein.
Es ist wahrhaftig kein Zufall, daß Spengler (dem ich mich sonst nicht
gerade nahe fühle) seine „Morphologie der Geschichte“ nicht als Sy­
stem, sondern als Pluralität von Systemen, von (mit Organismen ver­
glichenen) Geschichten dargestellt hat. Der große Versuch Hegels,
Geschichte und System zu versöhnen, war von Anfang an zum Schei­
tern verurteilt gewesen. Lassen wir uns, ungeachtet der Tatsache, daß
wir durchweg Hegels Urenkel sind, auf den Versuch, ein geschlossenes
System herzustellen, erst gar nicht ein. Principiis obsta. Das Zeitliche,
mindestens das geschichtlich-Zeitliche, läßt sich nicht in einem System
„feststellen“ . „Festgestellt“ kann immer nur Räumliches werden. In
der Tat ist „System“ ein räumliches Charakteristikum. Sobald die Zeit
führender Charakter einer Philosophie wird - und das ist bei der He-
gelschen auch dort, wo sie nicht thematisch als Geschichtsphilosophie
auftritt, der Fall - wird „System“ zum Widerspruch (nicht, wie er
hoffte, Widerspruch zum Prinzip des Systems). Sein Versuch, Zeit und
System durch Ernennung eines bestimmten geschichtlichen Stadiums
(ausgerechnet des preußischen Staates) zur Verwirklichung der Welt­
geschichte miteinander auszusöhnen, ist, weltgeschichtlich beurteilt,
nur komisch.' Aber ebensowenig folge ich Marxens Versuch. Denn
dessen These, daß die bisherige Geschichte, als „Klassengeschichte“ ,
nur „Vorgeschichte“ eines nachgeschichtlichen messianischen Reiches
der Freiheit sei, war natürlich ein Versuch, Geschichte und System,
mindestens Geschichte und Harmonie, zu verbinden - was bei ihm
freilich nicht als „System der Geschichte“ gemeint war; diese gehörte
dem System vielmehr nur darum an, weil sie in ein triumphierendes
System einmünden würde, in dem die Klassengeschichte (und dadurch
verblüffenderweise auch Geschichte überhaupt) aufgehoben sein
würde. Diese Hoffnungsphilosophie, sofern man einen Messianismus
„Philosophie“ nennen darf, war noch (obwohl Marxens erwartete Pa-
rusie nicht eingetreten war und sich eine nicht gerade messianisch
weitergehende Geschichte in der Sowjetunion seit 50 Jahren vor aller
Augen abgespielt hatte) diejenige Blochs, dem man nicht mehr, wie
Marx, nachsagen kann, daß er, von Hoffnung geblendet, falsch pro­
gnostiziert habe; sondern nachsagen muß, daß er sich gegen die Reali­
tät, trotz seines Hasses auf die DDR, systematisch blindgemacht hat.

Was ich als kleines, gewissermaßen „negatives“ , Erbstück des Ideals


philosophischer Systematik mitübernehme, ist, daß keine meiner The­
sen einer anderen widersprechen dürfe; obwohl ich mich frage, ob
nicht selbst dieses methodische Mindest-Verlangen bereits ein Vorur­
teil darstellt; ob ich damit nicht als selbstverständlich voraussetze, daß
die Welt selbst widerspruchsfrei sei. Damit bin ich bei meinem Haupt­
bedenken gegen den Philosophie-Typ „System“ . Dieses lautet: Syste­
matik ist nicht nur eine literarische Darstellungsform, sondern eine
vorweggenommene metaphysische Aussage, eben die, daß der Gegen­
stand „W elt“ selbst, den das System abzubilden vorgibt, selbst ein
System sei - was wahrhaftig erst zu beweisen wäre, denn es wäre
durchaus denkbar, daß sich die Welt „als ganze“ in Desintegration
befindet, was von unserer Menschenwelt sogar mit großer Wahr­
scheinlichkeit gilt - womit gesagt wäre, daß der Seinsgrad des Zusam­
menhanges geringer wäre als der der partikularen Entitäten, daß, ge­
gen Aristoteles, „das Ganze weniger wäre als die Summe seiner Teile“ .
Ein Apriori des philosophischen Denkens, so scheint mir, stellt das
Denkmodell „System“ (das wir in außereuropäischen, aber durchaus
nicht unphilosophischen, Kulturen kaum finden) nicht dar.3 Soviel
steht fest: Der Philosophie-Typ „System“ hat immer ein inhaltliches
Vorurteil impliziert, immer eine, jeder Partikularaussage vorausge­
hende Aussage über die Welt - wir zaudern zu sagen: „über die Welt
als Ganze“, weil ja, wie wir schon sahen, auch der Begriff der „Ganz­
heit“ schon ein Vorurteil darstellen könnte. Auch Heidegger ist noch
Opfer dieses Vorurteils geblieben, immer wieder hat er vom „Sein als
Ganzem“ oder dem „Seienden als Ganzem“ gesprochen, immer wie­
der hat er diese Frage als die Urfrage der abendländischen Philosophie
bezeichnet, ohne je auf den Verdacht zu kommen, daß trotz ihrer
scheinbaren Formalität schon diese Frage eine vorurteilshafte Aussage
enthalten könnte. Gleichviel, gelingen konnten in Systemform auftre­
tende Weltpräsentierungen immer nur dadurch, daß all dasjenige, was
ins Schema nicht hineinpaßte, abgeblendet oder zum „symbebekos“
degradiert oder einfach als „nichtseiend“ abgestritten wurde. Und der­
artiges zu tun, bin ich nicht bereit.

§2
Nicht nur kein System, auch keine Philosophie
Alle Menschen sind Afghanen

Wie gesagt: Meine Überlegungen gehen stets von ganz konkreten


Einzelphänomenen unseres heutigen Lebens aus. Da ich nicht unter­
stellen darf, daß diese okkasionell aufgegriffenen Gegenstände zusam­
men ein System bilden, beanspruche ich auch nicht, daß meine Unter­
suchungen dieser Gegenstände systematisch seien. Ich verzichte indes­
sen auf noch viel mehr. Denn es kommt mir noch nicht einmal darauf
an, ob meine Analysen als philosophische klassifiziert werden oder
sonstwie. Philosophie ist schließlich ein geschichtliches Phänomen, das
es nicht immer gegeben hat, und das es - die philosophische Rede vom
„Ende der Philosophie“ stammt bereits aus der ersten Hälfte des vori­
gen Jahrhunderts - wahrscheinlich nicht immer geben wird. Vielleicht
kann man auch hier vom „Ende einer Illusion“ sprechen. Jedenfalls
wäre es absurd, den Menschen als „animal philosophans“ zu bestim­
men, weil diese Definition (im Unterschied zu ^üov Aoyov E:xov oder
„homo faber“) nur auf eine verschwindende Minderheit zutreffen
würde; und weil sie, träfe sie auf alle zu, nur etwas über den Menschen,
aber nichts über die Rechtmäßigkeit des Wahrheitsanspruchs der Phi­
losophie aussagen würde. Vorauszusetzen, daß es Aussagen gebe, die
sich als philosophische von anderen „grundsätzlich“ unterscheiden -
was heißt da „grundsätzlich“, und von wessen Grundsätzen ist da die
Rede, und auf Grund wovon wären diese verbindlich? -, ist wahr­
scheinlich selbst ein Vorurteil und eine Konvention, die ungeprüft zu
übernehmen, einem vorgeblichen „Philosophen“ wenig anstünde.
Wenn ich also offenlasse, ob die von mir vorgetragenen Reflexionen
„philosophische“ seien, so aus „philosophischer Skrupelhaftigkeit“ .
Vielleicht sind sie einfach sozialpsychologische oder - der Terminus
und die Sache sind fällig - „technikpsychologische .4 Für einen, der ein
halbes Jahrhundert lang einer Beschäftigung nachgegangen ist, die er
„Philosophieren“ genannt hat, ist es höchste Zeit, sich die Frage vor­
zulegen, was er da eigentlich getrieben habe; oder wie Philosophie
überhaupt möglich sei. Oder, da selbst diese Frage noch von dem
unbezweifelten Faktum ausgeht, daß es Philosophie „gebe“ und aus
diesem Faktum schließt, daß sie auch möglich sei (dann müßte freilich
auch Astrologie möglich sein), die noch radikalere Frage: „Ist Philo­
sophie überhaupt möglich< Und worin besteht dasjenige, dessen Mög­
lichkeit er da erfragt<“
N u n , natürlich wäre es lächerlich, vorzugeben, - auch ich kann auf
dieses Wort nicht verzichten - diese extrem „grundsätzliche“ Frage
hier, im Nachwort einer Essaysammlung über „Mensch und Tech­
nik“, erschöpfend beantworten zu können. Aber ein paar Winke
möchte ich doch zu geben versuchen.
Diejenigen, die vom Faktum der Philosophie auf deren Legitimität
und Möglichkeit schließen; nein, die niemals in die Versuchung gera­
ten sind, deren Rechtmäßigkeit anzuzweifeln, sind sofort mit dem
Hinweis darauf bei der Hand, daß Philosophie sich ausschließlich mit
dem „ Wesen“ , nicht dagegen mit dem Empirisch-Kontingenten be­
fasse. Wie primitiv, nein sogar falsch, diese Beteuerung auch sein mag,
diese liegt nicht nur jeder Philosophie unausgesprochen zugrunde; die
Verwendung dieses Wortes selbst ist bereits ein metaphysisches Vor­
urteil. Sie setzt nämlich voraus, daß es rechtmäßig sei, die Welt in
Seiendes von zwei Arten zu zerfallen, nein: zu behaupten, daß die
Welt derart zerfalle. Das aber ist selbst eine metaphysische Aussage:
nämlich die, daß es zum Wesen der Welt gehöre, daß diese auch U nwe­
sentliches enthalte. Da diese widerspruchsvolle Formulierung lächer­
lich klingen könnte, will ich ein Beispiel geben. Niemand wird be­
haupten, daß es eine Philosophie gebe oder geben könne, deren G e­
genstand die Afghanen wären. Daß es diese gibt, gilt als ein kontingen­
tes Faktum, also als eines, das auch nicht sein könnte, und das allein
von Empirikern, etwa Ethnologen oder Historikern, behandelt wer­
den könnte. Andererseits aber würden wir, wie schon gesagt, nicht
bestreiten, daß es zum „Wesen“ der Welt gehöre, daß es in ihr derart
„Unwesentliches“ gebe. Und nicht nur das. Im Gegensatz zu den A f­
ghanen würde nämlich „der Mensch“ als rechtmäßiger Gegenstand der
Philosophie gelten, was heißt: „würde“, da es ja tatsächlich eine „ phi­
losophische Anthropologie" gibt. Die unausgesprochene Vorausset­
zung dieser Philosophie ist es offenbar, daß das Dasein von Menschen,
im Unterschied zu dem von Afghanen (oder von Sperlingen oder von
Brennesseln) nicht kontingent sei - eine rein theologische Vorausset­
zung, denn sie gilt allein dann, wenn man einen vorsehenden Gott
unterstellt, der mit dem Menschen etwas „vorhatte“ , der diesem, und
allein ihm, bei seiner Erschaffung eine bestimmte Rolle zuerteilt hat
(oder gar, wie in der jüdisch-christlichen Überlieferung, der W elt eine
bestimmte Rolle gerade für ihn). Wer dagegen diese Unterstellung
nicht mitmacht, wer also, wie es hier geschieht, das Dasein von Men­
schen (auch das der Welt, selbst das der Naturgesetze, die von ungenau
Denkenden gerne als Gegenteil von Zufall ausgegeben werden) als
kontingent betrachtet, kurz: wer in dessen Vorkommen eine empiri­
sche Tatsache, also in allen Menschen gewissermaßen „ Afghanen"
sieht, der darf oder kann den Unterschied zwischen Wesens- und Fak­
tenerkenntnis nicht mehr mitmachen. Und der wird, im Gegensatz zu
Hegel, der im Wirklichen, weil es wirklich war, etwas Vernünftiges
sah, nun in jeder Erkenntnis, weil jede etwas Kontingentes zum G e­
genstand hat, empirische Erfahrung sehen und damit auf den Ehrenna­
men „Philosoph“ verzichten. Das tue ich hiermit. Meine Überlegun­
gen waren unphilosophisch - was freilich nicht nur von meinen Refle­
xionen gilt.s

Ich sagte: zwar gebe es eine „philosophische Anthropologie“, nicht


dagegen eine „philosophische Afghanologie“ . Versucht wird derglei­
chen freilich immer wieder. So stellen z. B. alle (zumeist zum nationali­
stischen Vokabular gehörenden) mit der Nachsilbe „ .. .turn“ enden­
den Wörter („Afghanentum“) Versuche dar, Singularem, Aposteriori­
schem, Kontingentem die Dignität von Wesenheiten zuzuschanzen.
Gerade die (Brechts Wort) „Tüm elnden“ lieben es, sich als Philo­
sophen, sogar, was immer das bedeuten mag, „tiefe Philosophen“ zu
gerieren. Uns sogenannten „Philosophen“ stünde es besser an, angeb­
liche „Wesenheiten“ ihrer Würde zu entkleiden, also den Mut zum
„Entwesen“ aufzubringen.

Es scheint also, daß man über nichts philosophieren könne oder


dürfe. Wenn aber diese höchst befremdliche Tätigkeit (worin diese nun
noch bestehen sollte, ist schwer zu beantworten) doch erlaubt sein
sollte - difficile est non philosophari - , dann müßte der Philosoph
freilich über alles philosophieren dürfen und können. Auch über das
Okkasionellste. Denn ein Kriterium, das uns in Stand setzte, zwischen
Philosophiewürdigem und -unwürdigem, zwischen philosophisch Be­
handelbarem und Nichtbehandelbarem zu unterscheiden, kann es ja,
wenn, wie es hier geschieht, alles Seiende, selbst dessen Sein, als kon­
tingent betrachtet wird, nicht mehr geben. Eine solche Unterscheidung
zu machen, wäre - unphilosophisch. Der sehr zu Unrecht vergessene
Georg Simmel ist uns mit solcher Gelegenheitsphilosophie schon vor
dem Ersten Weltkrieg (z.B. mit seinen philosophischen Reflexionen
über die „Ruine“) vorangegangen. Das in der Philosophie höchst Sel­
tene war in Dichtung und bildender Kunst zwar nicht selbstverständ­
lich, aber doch weniger rar. Was z.B. van Gogh gekonnt hat: ein Paar
ausgelatschter Stiefel zum Gegenstand oder zum Startplatz einer „Bot­
schaft“ zu machen, das müßten wir, sofern wir beanspruchen zu „phi­
losophieren“, ebenfalls leisten können. Und ich würde so weit gehen
zu behaupten, daß sich diejenigen, die unfähig bleiben, angesichts aus­
gelatschter Stiefel ins Philosophieren zu geraten; nein, die fähig sind,
angesichts ausgelatschter Stiefel nicht ins Philosophieren zu geraten,
daß sich die als Philosophen nicht qualifizieren können. Wenn es eine
von höchster Instanz durchgeführte Philosophenprüfung gäbe, dann
würden diese ebenso durchfallen wie jene, die sich als unfähig erweisen
würden, im angeblich Selbstverständlichsten: also in der Tatsache, daß
es „Seiendes gibt und nicht nichts“, etwas Kontingentes zu sehen, und
angesichts der Kontingenz der Welt das Existenzrecht von Philo­
sophen anzuzweifeln; und die es niemals erwogen haben, auf den
Elite-Titel „Philosoph“ zu verzichten, um sich mit dem kommuneren
des, „Empirikers“ zu bescheiden. Gleichviel, ob meine hier vorgetrage­
nen Überlegungen über die Rolle des Menschen in der Welt der Tech­
nik bzw. über die Rolle der Technik in der Menschenwelt „philo­
sophisch“ genannt werden werden oder „empirisch“, darauf kommt es
mir nicht an.

Schon vor fünfundzwanig Jahren habe ich meine theoretischen Be­


mühungen als „Gelegenheitsphilosophie“ bezeichnet; und die Frage
gestellt, ob denn das Etikett „Philosophie“ auf diese Überlegungen
passe, und warum den Äckern, die ich aufpflüge, die Dignität philoso­
phischer Gebiete zukomme. Diese Frage stellte ich nicht aus Beschei­
denheit - eine solche hat mir noch niemand nachgesagt -, umgekehrt
aus Hochmut: darum, weil ich nicht den geringsten Wert darauf lege,
ob mich Berufsphilosophen (die deshalb, weil sie unbezweifelbarer­
weise der philosophischen Fakultät zugehören, auch die Existenz von
Philosophie für unbezweifelbar halten, und die statt über das Wasser,
das uns' bis zum Munde steht, über Philosophie philosophieren) - ob
mich diese Philosophen zu den Ihren zählen oder nicht, und wie sie
mein Tun klassifizieren. Sie wären vielleicht bereit, mich als „Sozial­
psychologen“ anzuerkennen, wogegen nun wieder die Sozialpsycho­
logen protestieren würden, da ich ihr als Vereinsabzeichen verwende­
tes Vokabular nicht mitverwende - kurz: es gäbe ein nicht endendes
Hin- und Herschieben. Ich sage „wären“ und „würden“ und „gäbe“,
weil das nur dann geschähe, wenn meine Arbeiten in ihren durch
Universitäten definierten Umkreis überhaupt eintreten würden.6
Wenn der erste Band dieses Werkes, das echolos zu nennen negative
Protzerei wäre, weder jemals von einem Berufsphilosophen noch von
einem Berufspsychologen in Fachzeitschriften abgekanzelt worden ist,
so rührt das in der Tat allein daher, daß diese Akademiker dem Buche
überhaupt nicht begegnet sind. Es gibt wohl kaum etwas, was uns
beschränkter machte als die ausschließliche Beschäftigung mit der Phi­
losophie von Kollegen (deren größte Vertreter von Kant an ich wahr­
haftig verehre). Aber noch der „Windelband“ , aus dem ich, als ich
noch in philosophischen Windeln lag, gierig trank, enthielt weder den
Namen von Marx noch den von Kierkegaard, von Feuerbach oder
Nietzsche zu schweigen. Nichts liegt mir ferner als zu erhoffen, eben­
falls je einen so negativen Platz einnehmen zu dürfen, aber ich würde
einen solchen natürlich als einen Ehrenplatz betrachten. Wie ein heuti­
ger „Windelband“ meine Schriften, wenn er diesen versehentlich be­
gegnen sollte, klassifizieren würde, das ist so lange uninteressant, als
bei diesen nur etwas „herausgekommen“ sein sollte. Und ob das der
Fall sein wird, das wird nicht mit der Elle von Fachmännern gemessen
werden.

§3

Bedeutung der Deutung

Und doch: ableugnen, daß sich meine Untersuchungen, obwohl ihre


Gegenstände empirisch sind, von dem, was man gewöhnlich so nennt,
irgendwie unterscheiden, das kann ich natürlich nicht. Denn ich bin ja
über die empirischen Funde - ob diese nun die „Selbstakkumulation
der Maschinen“ oder die „Antiquiertheit der Geschichte“ oder die
„Sinnlosigkeit des Sinnbegriffs“ oder die „Abschaffung von Raum und
Zeit“ geheißen haben - insofern hinausgegangen, als ich die Funde zu
deuten versucht habe.
Wenn ich dieses Wort für ein Stichwort halte, so nicht deshalb, weil
es bewiese, daß ich doch Philosophie treibe - es gibt ja Deutungsdiszi­
plinen, wie die Physiognomik oder die Graphologie, deren Methode in
Deutung besteht, ohne daraufhin beanspruchen zu dürfen, sich „Phi­
losophie“ zu nennen. Philosophisch ist dagegen wohl doch die nach­
trägliche Rückbesinnung auf diese sonderbare Tätigkeit, die wir „deu­
ten“ nennen, und auf die Deutbarkeit der Welt. N icht nur die Frage,
worin Deuten bestehe, sondern vor allem die, warum Deuten über­
haupt nötig ist, und wie es möglich ist; und was die Erforderlichkeit
und die Möglichkeit des Deutens über die Welt und über unsere Posi­
tion in ihr aussagt. Ich betone: „nötig“ , nicht nur: „möglich“ . Durch
diese Doppelfrage weiche ich von der klassischen transzendental-phi­
losophischen ab, da sich diese, ausgehend von der in den Naturwissen­
schaften unbezweifelbar vorliegenden Erfahrung, allein mit den „Be­
dingungen ihrer Möglichkeit“ beschäftigt hat.
i. Die Erforderlichkeit und die Möglichkeit von Deutung sagt ein
Doppeltes aus: sowohl etwas über das zu Deutende, also über das
Objekt; als auch über den Deuter, also über das Subjekt. Diese Z w ei­
teilung erfordert eine Unterteilung: erforderlich ist Deutung sowohl
für das Subjekt wie für das Objekt; und auch „möglich“ bedeutet
sowohl, daß das Objekt deutbar, wie daß wir deutungsfähig sind.
2. Ehe wir uns der Betrachtung der „Dialektik der D eutung“ zu­
wenden, stellen wir ein Axiom an die Spitze. Dieses lautet: Gedeutet
werden und sich deutlich machen kann allein Lebendiges. Und zwar
deshalb, weil allein Lebendiges sich äußert. Nur Äußerungen lassen
sich deuten. Der Mond nicht. Wohl aber ein Mondscheinbild von
Elsheimer. Und viele wollen sogar gedeutet werden, sind zu diesem
Zwecke da. Lebendiges äußert sich allein deshalb, weil es nicht autark,
vielmehr nur in Verständigung mit anderem Lebendigen, A nicht ohne
B und B nicht ohne A, existieren kann.
3. Wenn ein Etwas Deutung verlangt, dann „bedeutet“ diese Tatsa­
che erst einmal, daß dieses Etwas nicht offen zutage liegt. Wäre ein
Wesen fähig, sich reservelos zu äußern, läge es restlos zutage, dann
wäre Deutung überflüssig. Dieser Gedanke einer reservelosen Selbst­
äußerung ist freilich paradox, und zwar deshalb, weil das Seiende, das
sich total äußern würde, sich dadurch total „entäußerte“ , sich gewis­
sermaßen „umstülpen“ , also nur noch in seinem Außen bestehen
würde.
Wenn Deutung nötig ist, so ist damit also implicite etwas über das
zu Deutende, das Seiende, gesagt: nämlich daß dieses nicht ganz ver­
rate, was es ist, daß es sich partiell verberge. Das klingt nach Heideg­
ger, und die Erinnerung an ihn ist hier in der Tat geboten. Denn von
ihm stammt zwar die These, daß das Seiende „sich verberge“ 7 und daß
„Wahrheit“ - so übersetzt er, und gewiß mit Recht, das griechische
Wort &l.rfEia- „Unverborgenheit“ bedeute. Was die Tatsache, daß es
eigentlich verborgen ist, über das Seiende aussagt - diese Frage hat
Heidegger, obwohl das eigentlich in der Linie seines ontologischen
Philosophierens gelegen hätte, sonderbarerweise nicht aufgeworfen.
Natürlich muß sie gestellt werden. Denn es genügt nicht, Verborgenes
zu entbergen. Philosophisch ebenso erforderlich ist es, die Tatsache der
Verborgenheit selbst zu „entbergen“ . Im Blick gehabt hat dieses Pro­
blem gewiß Leibniz, wenn er seine Monaden grundsätzlich „fenster­
los“ sein ließ. Einen kleinen Schritt macht man vielleicht in Richtung
auf die Aufklärung der hier vorliegenden Komplexität durch die (oben
bereits angestellte) Überlegung, daß sich jedes individuell Seiende in
sich selbst verstecken müsse, weil es sich, wenn es das nicht täte,
restlos entäußern würde. Verborgensein tst wahrscheinlich die conditio
sine qua non individuellen Seins. Die Ding-an-sich-Frage ist eine Indi-
viduum-an-sich-Frage. Wahrheit wird verhindert durch das In d ivi­
duum-sein. Gelänge es uns, in das (individuierte) Seiende einzudrin­
gen, dann würden wir es de-individuieren, also vernichten. Dem be­
liebten „irrationalistischen“ Gerede, daß „Erkennen“ oder „der
Geist“ „lebenstötend“ sei, liegt also eine, wenn auch sehr vage, A h­
nung der Wahrheit zugrunde. - Ebensowenig deutet Heidegger die für
den unbefangenen philosophischen Blick höchst eigentümliche Tatsa­
che, daß wir, mindestens partiell, fähig sind, Seiendes zu „entbergen“ .
D ie Fähigkeit ist die Antwort auf die Nötigkeit - w om it ich sage, daß
kein lebendiges Leben in einer total abgedunkelten Welt auch „nur ein
N u lang“ leben könnte. -

Jedes Verstehen eines menschgemachten Produkts geht zurück: zu­


rück auf den Ursprung. Verstehen wir ein Produkt, dann verstehen
wir, was der Herstellende oder Prägende ursprünglich damit gemeint
hatte, mindestens, wie er gewesen war. Deuten wir es - „Deuten“ ist
jede Methode, die zum Verstehen führt -, dann erdeuten wir aus dem
Produkt die Bedeutung, die das Subjekt (der Künstler, die Gesell­
schaft, das Zeitalter) diesem ursprünglich mitgegeben hatte. Weder im
unmittelbaren Verstehen noch im Deuten handelt es sich um Syllogis­
mus-Operationen. Vielmehr sehen wir in der expressio den exprimens -
entweder direkt, also verstehend; oder indirekt, also durch Deutung.
Es kann z.B . keine Rede davon sein, daß wir aus dem Gesichtsaus­
druck unseres Gegenübers auf Wut schließen, vielmehr nehmen wir
den Wütenden immittelbar als Wütenden wahr; nein, wir können ihn,
wenn er wütend ist, gar nicht anders wahrnehmen. Zu glauben, daß
eine solche Geste erst einmal, angeblich „objektiv“, als nichtssagendes
Datum Mienenspiel gesehen werde, und daß wir diesem Wahrneh­
mungsdatum dann nachträglich eine Bedeutung („W ut“ ) aufkleben, ist
absurd. Umgekehrt ist es außerordentlich schwierig, eine expressive
Geste nicht zu verstehen. Der Versuch, das Mienenspiel eines Wüten­
den als nichtssagendes Wahrnehmungsbild zu sehen, erfordert einen
ganz widernatürlichen Abstraktionsakt, der selbst dem routiniertesten
Experimentalpsychologen mißlingt. Genausowenig schließen wir aus
der vielfach verschlungenen Unterschrift auf Selbstgefälligkeit des
Schreibers, vielmehr sehen wir diese wiederum direkt in der eitlen
Schleife. Und auch die Deutung (die wir unternehmen, wenn die A us­
drucksqualität nicht direkt erkennbar ist), besteht in keiner Konklu­
sion. -
Daß wir als Verstehende und Deutende „ zurückverstehen“ und
„ zurückdeuten“ , gilt auch dann, wenn wir „nach vorne“ verstehen
(oder deuten): wenn wir nämlich die Bewandtnis eines Produkts
verstehen (oder deuten). Auch dann sehen wir dem Produkt an, welche
Bedeutung dessen Autor diesem zugedacht und mitgegeben hatte. So­
wohl für den unmittelbar Verstehenden als auch für den durch Deu­
tung zum Verständnis Vorstoßenden gilt die Produktewelt - nicht
etwa nur die der Kunstwerke, sondern die alles Gemachten - als Aus­
druck. Dieser ist oft nicht völlig transparent - wäre er das, dann wäre
Deutung überflüssig; aber auch nicht völlig opak - wäre er das, dann
wäre Deutung unmöglich.

§4

Rückprägung und prognostische Deutung

Zwar ist das Wort „Ausdruck“ (namentlich das „seif expression“ )


eine der meistbenutzten Vokabeln unseres Zeitalters. Aber da lasse
man sich nicht irreführen. Am häufigsten und liebsten verwenden
diese Vokabel heute diejenigen, die, zu reinen Konsum- bzw. Ein­
druckswesen degradiert, keine Zeit mehr haben, sich auszudrücken;
und die, wenn sie dazu Zeit hätten, dazu auch gar nicht mehr imstande
wären, weil sie schon kein „seif“ mehr besäßen, das sie ausdrücken
könnten. In der Tat ist die Epoche des Ausdrucks antiquiert. Und was
von uns Menschen gilt, gilt auch von unseren Produkten. Die meisten
der fü r unsere Epoche bezeichnenden Erzeugnisse, vor allem unsere
Maschinen und Apparate - und die meisten unserer Produkte gehören
zu dieser Klasse - bleiben ausdruckslos, sie „sehen nicht mehr aus“ , sie
zeigen von uns nichts; höchstens die Tatsache, daß wir uns in ihnen
nicht zeigen wollen, also daß wir „sachliche Menschen“ sind.8 Dieses
Manko hat man schon vor einem halben Jahrhundert durch das Etikett
„N eue Sachlichkeit“ oder durch die Gleichung von Zweckmäßigkeit
und Schönheit ins Positive zu wenden versucht. Aber daß unsere Pro­
dukte nun, statt etwas über uns auszusagen, etwas über sich selbst
aussagen, davon kann ebenfalls keine Rede sein. Fast keinem Produkt
ist anzusehen, wozu es da ist: N icht nur ihren Ursprung verschweigen
sie also, sondern auch ihre Bewandtnis.9 Fast keiner heutigen Maschine
sieht man - ein Gang durch CERN ist mir, da er völlig nichtssagend
war, unvergeßlich - ihren sie definierenden Effekt an. Die Bewandtnis
bleibt für uns entweder deshalb unsichtbar, weil Technik so kompli­
ziert geworden ist, daß ihr die Sinnlichkeit nicht mehr gewachsen ist
(in der Tat ist Technik heute „übersinnlich“); oder deshalb, weil Ma­
schinen kein auf Angeschautwerden berechnetes Aussehen mitgegeben
wird, sondern so gebaut werden, wie es ihren Funktionen am besten
entspricht, sie also gewissermaßen nur nebenbei und zufälligerweise
auch „aussehen“ . So sehen z.B . die Kernkraftwerke (sofern sie nicht
absichtlicherweise den Blicken der Mitwelt entzogen werden) „nach
nichts“ aus, etwa wie Moscheen mit Schornsteinen; und zeigen nicht
im mindesten, was sie ausrichten sollen und anrichten können (auch
das gehört zu ihrer Bewandtnis), welche enorme Leistung sie bergen
und welche enorme Drohung sie verbergen. Es ist wahrhaftig kein
Zufall, daß Kernkraftinteressenten ihren Propaganda-Schriften immer
wieder idyllische Photos von solchen Anlagen beifügen, um zu „be­
weisen“, wie harmlos diese sind. „Verharmlosung“ findet nicht nur
(wie ich es, als ich den Ausdruck vor einem Vierteljahrhundert prägte,
gemeint hatte) mit den Mitteln falscher Vokabulare statt, sondern auch
mit den „Mitteln der Wahrheit“ : denn die Photos sind ja im vulgären
Sinne von Nicht-Manipuliertheit nicht unwahr. Die Zyklon-B-Ge-
fäße, mit deren Inhalt man Millionen ermordet hatte, glichen - ich
übersah sie anfangs bei meinem Auschwitzbesuch - Marmeladedosen;
und es wäre auch unmöglich gewesen, ihnen, wenn man das gewünscht
hätte (ein sinnwidriges „Wenn“ ), ein ihrer Bewandtnis angemesseneres
Aussehen mitzugeben. Oder man macht die Produkte dadurch ausse­
henslos, daß man sie wirklich unsichtbar macht, also effektiv forträumt
und versteckt, wie zum Beispiel die Abertausende von in Europa ge­
stapelten Atomsprengköpfen - ich kenne weit und breit niemanden,
auch keinen Atomgegner, der je ein solches Produkt mit eigenen Au­
gen gesehen hätte - kurz: unsere aus Monstren bestehende Gerätewelt
ist entweder nichtssagend und unscheinbar, oder sie ist unseren Augen
willentlich entzogen. Aber wer statt Augen, die heute nichts nutzen,
Phantasie im Kopf hat, der sieht gerade in dieser Unscheinbarkeit oder
Unsichtbarkeit der Monstren die Monstrosität von heute: denn durch
diese Unsichtbarkeit werden wir in Wesen verwandelt, die, weil sie
aufs antiquierteste ihren Augen trauen, blindlings an den Geräten vor-
bei-leben, bis zu dem Tage, an dem sie nicht mehr Zeit haben werden,
festzustellen, daß auf ihre Augen heute kein Verlaß mehr ist.
3. Und ebensowenig, wie sie etwas über uns: ihre Macher und über
ihre Bewandtnis aussagen, ebensowenig verraten sie etwas - und damit
kehre ich zum Generalthema der zwei Bände zurück - von dem, was
sie aus uns machen.' ° Denn es gibt eben keine Geräte, die uns nicht,
gleich ob wir deren Bediener oder deren Konsumenten sind, total
veränderten. Präger und Geprägte sind ausgetauscht. Wenn es heute
Prägende gibt, dann sind nicht wir es, die die Geräte prägen, sondern
umgekehrt die Geräte, die uns prägen. Wir werden deren „A bdrücke“ ,
deren (wenn wir das Wort so paradox verwenden dürfen) „Ausdruck“ .
„Invertierte Prägung.“

Prognostische Hermeneutik

Die Drehung - man könnte sie, analog zur „kopernikanischen“, die


„Tayloristische“ nennen - ist also vollkommen. Jeder, der einmal an
einer Maschine gearbeitet hat, wird die Beobachtung gemacht haben,
daß er diese erst dann als „seine“ betrachtet hat, wenn seine von ihrem
Gange erforderten Handgriffe eingegleist waren und automatisch vor
sich gingen - wenn er also ihrer war. Erst dadurch, daß wir uns an die
Geräte adaptieren (nein, selbst diese Formulierung unterstellt noch
zuviel Spontaneität), erst dadurch, daß die Geräte uns an sich adaptie­
ren, kommt diejenige „adaequatio“ , nämlich „producti et hominis“ ,
zustande, die es uns dann nachträglich erlaubt zu glauben, daß unsere
Welt „unsere“, daß sie Ausdruck von uns heutigen Menschen sei. In
einem dialektischen Sinne ist sie das freilich auch. Denn die Menschen,
die von den Geräten geprägt werden, sind ja niemals Menschen „im
Naturzustande“, sondern immer bereits solche, die durch frühere G e­
räte konditioniert und dadurch für weitere bereitgemacht worden w a­
ren. Gleichviel, wenn uns das „Weltkleid“ so gut und wie nach Maß
geschneidert sitzt, so weil es uns zuvor sich selbst angemessen hat.
Überflüssig zu bemerken, daß die heutige Adäquationsformel nicht,
wie die frühere „adaequatio rei et intellectus“ , die Wahrheit definiert,
sondern unser unwahres Verhältnis zur Welt, bzw. unser opportunes
Verhältnis zur bestehenden unwahren Welt.
Schriebe ich hier einen akademischen Text, dann würde ich den
Terminus „prognostisches Verstehen“ einführen, und die Lehre von
diesem Verstehen „prognostische Hermeneutik“ nennen. Aber solche
gespreizten termini technici erübrigen sich, da es keinen akademischen
Vertreter dieser Disziplin gibt, vielmehr die meisten Philosophen, ih­
rer Zeit nachhumpelnd, wenn sie „verstehen“ oder „interpretieren“ ,
noch immer ausschließlich das auszufinden suchen, was die Autoren
der (nicht nur literarischen) Produkte mit diesen gemeint hatten; nicht
das, was die Produkte aus uns machen werden. Selbst unter den Fu­
turologen gibt es da kaum Ausnahmen. In der Tat finden wir Darstel­
lungen der von den Maschinen geprägten Menschen fast nur bei belle­
tristischen Autoren, bei den Huxleys, Orwells oder Lems. Diese, die
noch nicht einmal die Ambition haben, als Philosophen (die sie sind)
zu gelten, lassen die gleichzeitigen professionellen Philosophen weit
hinter sich. Wo es aber von Wissenschaftlern betriebene Prognosen
gibt - und diese wuchern ja in den letzten Jahrzehnten - , da beziehen
sie sich fast ausschließlich auf den zukünftigen Zustand der Geräte­
welt; oder, sofern sie Menschen ins Auge fassen, auf das physische
Akkumulieren oder Verhungern der Weltpopulation - Untersu­
chungsthemen, deren Wichtigkeit zu verkleinern mir natürlich ganz
ferne liegt. Aber die von ihnen an die Wand gemalten Zustände sind
doch fast durchweg bloße „Verlängerungen“ des jeweils heutigen
technischen Status der Gerätewelt, die auch Geräte: nämlich Compu­
ter, durchführen könnten. Wir Menschen dagegen, die „Natur des
Menschen“ dagegen, werden, wenn auch nicht ausdrücklich und pro­
grammatisch, aufs naivste als konstant unterstellt. 11 Der Gedanke etwa
- denn nicht nur unsere „Seele“ (wie es im Untertitel des ersten Bandes
geheißen hat: „Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen
Revolution“) mutiert durch die industrielle Revolution, sondern auch
(wenn ich für einen Moment diese unzulässig simplifizierende Unter­
scheidung übernehmen darf) unser Geist - der Gedanke, daß sich un­
sere Kategorien verändern könnten; oder daß unser Räumlich- und
Zeitlichsein, also sogar die „Formen der Anschauung“ schon im Begriff
sind, zu veralten," dieser Gedanke hat sich in den Voraussagen der
Experten, etwa des „Club of Rome“, niemals gefunden, wie atembe­
raubend diese sonst auch sein mögen. Die wissenschaftlichen Progno­
sen sind in dieser Hinsicht den populären (zwecks Veränderung des
Menschen millionenfach reproduzierten) space cartoons oder den
Weltraumfilmen wie „Wars of the Worlds“ kaum überlegen. Nur daß
die Wissenschaftler aus den monströsen Veränderungen der Welt
nicht, wie die cartoon makers, Genußobjekte für die zu Verändernden
machen. Aber hier wie dort bleibt der Mensch, wie marsmäßig er
jeweils auch kostümiert sein mag, letztlich doch noch der „alte
Adam“ : immer eine Kreuzung von Middle-West-Middle-Class-Wesen
und SS-Männern (bzw. Burlesque Girls) - eine Asynchronisiertheit,
die freilich ganz unwahr auch nicht ist, da ja das Verwandlungstempo
der Geräteverwender immer ungleich langsamer ist als das der Geräte.
O bwohl es für diese modernen Cartoon-Ikarusse bereits zum Alltag
gehört, die galaktischen Systeme zu durchsausen, also, wie es in ent­
setzlicher Vulgarisierung und falscher Buchstabierung des Wortes
heißt: „cosmic“ zu sein, haben sie doch ihren Regionalismus, ihren
„Southern Drawl“ aus Memphis oder Charleston nicht abgelegt; und
selbst die uns auf U fos besuchenden Wesen erweisen uns den Gefallen,
N ew Yorker Slogans (sogar unter sich) zu verwenden. Und was von
diesen Cartoon- und Film-Kreaturen gilt, das gilt auch von den w irkli­
chen Raumschiffern und Mondbesuchern, da diese ja „A bbilder der
B ilder” ' sind. Wer sich an ihre banalen Äußerungen erinnert, na­
mentlich an ihre für den Augenblick der Mondankunft auf der Erde
ghostwritten salbungsvollen Texte, der wird gewiß einräumen, daß
diese Mondgäste als spießige Nachzügler" hinter den avantgardisti­
schen technischen Errungenschaften, deren Angestellte (um nicht zu
sagen: Opfer) sie sind, aufs lächerlichste zurückgeblieben sind. In der
Tat gilt, daß unser jeweiliger Seelenzustand immer nur das technische
Stadium von gestern zurückspiegelt. Die kesse Spottfrage: „Glaubst
du vielleicht, ich bin von gestern?“ muß durchweg positiv beantwortet
werden. Jeder von uns ist heute „von gestern“ . In diesem „gap“ be­
steht der ideologische Zustand unseres Zeitalters, das Gefälle, das ich
im ersten Bande das „prometheische“ genannt hatte. Und unser Ver­
hängnis.
§6

Die Rückprägung

Die Behauptung, daß wir uns unserer Geräte bedienen, ist also un­
genau und zu euphemistisch. Denn wir, die wir in die Gerätewelt
„geworfen“ sind, die wir freilich rasch nach dem „Wurf“ als die ein­
zige und selbstverständlich akzeptieren, können uns nicht dagegen
wehren, von dieser in Dienst genommen zu werden - kein Bürger der
industrialisierten Welt kann darüber befinden, ob er im Alltagsleben
Gas oder elektrisches Licht oder Fließwasser oder Radio verwenden
soll oder nicht. Er muß. Und muß gerne. Wenn diese Beispiele die
einzigen wären, so dürfte, nein: müßte man ergänzen: uns soll nichts
Schlimmeres passieren. Aber diese Gegenstände, die wir gottseidank
verwenden müssen, sind nicht die einzigen, unter deren Zwang wir
stehen. Es gibt keine, unter deren Zwang wir nicht stünden. Der Kon­
sumterror,1'’ dessen Bild ich vor zwanzig Jahren entworfen hatte, ist
nur ein kleiner Teil eines viel breiteren: des Verwendungsterrors.
Durch unser Geräte-Universum sind wir in Wesen verwandelt, die
dieses zu verwenden gezwungen sind. Damit behaupte ich natürlich
nicht, daß die Geräteproduzenten und -verkäufer diesen Zwang unbe­
dingt aus bösem Willen ausüben, daß sie unsere Verwandlung durch
ihre Produkte bewußt beabsichtigten; die meisten denken gar nicht so
weit. U nd man darf ruhig behaupten, daß selbst die großen Werbe­
Agenturen letztlich nicht begreifen, was sie tun - die Unschuld des
heutigen Lebens ist unüberbietbar. Denn auch sie stehen unter Zug­
zwang. N icht nur können sie es nicht verhindern, daß ihre Produkte
(von denen sie natürlich ebenfalls geprägt sind) uns so oder so prägen;
sie haben auch nicht die Freiheit, für ihre uns prägenden Produkte
nicht zu werben. N icht Ziele, die sie bewußt anpeilen, habe ich also im
Auge, sondern die Effekte, die die Geräte unentrinnbaraufdiejenigen
ausüben, die unter Verwendungszwang stehen.
Überflüssig zu betonen, daß es nicht genüge, diese Tatsachen, na­
mentlich die der „invertierten Prägung“, festzustellen. Vielmehr haben
wir, da unser morgiges Schicksal und das Aussehen des morgigen
Menschen davon abhängt, ob und wieweit wir fähig sind, in den Gerä­
ten von heute die von diesen geprägte Menschheit zu erkennen, diese
unsere Fähigkeit auszubilden. Deuten ist heute nicht das Spezialge­
schäft von „Geisteswissenschaftlern“ , vielmehr ist es zur moralischen
Aufgabe von uns allen geworden. Daß solche „prognostische Interpre­
tation“ möglich ist, bezeugen viele frappante utopische Romanciers,
die nicht vom Heutigen auf das Morgige „ schließen“ , vielmehr im
Heutigen das Morgige „sehen“ . D ie Bedeutung Jules Vernes, den man
zum Kinderautor verharmlost hatte, ist ungeheuer. Er war der Prophet
der technischen Revolution, wie Marx der der sozialen gewesen war. -
Gleichviel, wir haben das zu lernen, was die „vates“ der Antike getan
oder zu tun sich eingeredet hatten: die Zukunft vorauszusehen. Die
Gedärme, die wir prognostisch lesen zu lernen haben, sind nicht die
der Opfertiere, sondern die der Apparate. Diese verraten uns die Welt
von morgen und den Typ unserer Kindeskinder, sofern es solche noch
geben wird. Und wenn sie das nicht von selber tun, dann haben wir sie
dazu zu zwingen. In Molussien hat es eine Redensart gegeben, die auf
deutsch lauten würde: „D ie Dinge foltern, bis sie ihr Geständnis
ablegen“ . Wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir das drohende
Verderben nicht kupieren können. Die Wahrscheinlichkeit des Gelin­
gens schlage ich wahrhaftig nicht hoch an. Aber solange dessen U n ­
möglichkeit nicht bewiesen ist, bleibt es moralisch unmöglich, auf die
Versuche zu verzichten.

Wie solches „prognostisches Verstehen“ und „Deuten“ vor sich


geht? Da kann ich nur antworten: „Auch ich würde das gerne wissen“.
Und es ist auch nur ein schwacher Trost, daß wir nicht nur nicht
wissen, wie prognostisches Verstehen, sondern auch nicht, wie
Verstehen überhaupt vor sich geht. Obwohl man mir niemals Mangel
an Prägnanz oder Präzision oder Methodik nachgesagt hat; und ob­
wohl ich es mir nicht vorzuwerfen brauche, mich je auf „Intuition“
oder „Evidenzgefühle“ berufen zu haben - nie zuvor habe ich diese
zwei peinlichen Wörter niedergeschrieben, dazu sitzt mir der Husserl
noch zu kräftig in den Knochen - , antworte ich: wie immer sie vor sich
gehen - sie müssen gelingen. Skrupelhafte Einzelwissenschaftler wür­
den sich natürlich nicht dazu entschließen können, Funde anzubieten,
wenn sie nicht auf Anfrage mitteilen könnten, auf welchem Wege sie
dieser habhaft geworden sind. So skrupelhaft bin ich also nicht. Darf
ich nicht sein. Und zwar deshalb nicht, weil es eine Skrupelhaftigkeit
gibt, von der Einzelwissenschaftler keine Ahnung haben. Die Gefah­
ren, die wir Futurologen prognostizieren, sind immens, also zu groß,
als daß wir sie deshalb verschweigen dürften, weil wir über die Metho­
dik ihrer Auffindung keine zufriedenstellende Auskunft erteilen kön­
nen. Die Maßstäbe für Skrupelhaftigkeit liegen wahrhaftig außerhalb
der Wissenschaften. Deren Ernst als den letzten Ernst ernstzunehmen,
beweist profunden Unernst, den wir auf unernstere Tage, also auf den
Sanktnimmerleinstag, aufzusparen haben.
Aber vielleicht kann ich doch mit einer Hypothese aushelfen. Diese
lautet: Von der prognostischen Erkenntnis gilt dasselbe, was vom
„Ausdrucksverstehen“ gilt. Denn auch dieses geht ja ohne Zuhilfe­
nahme von Indirektheiten oder Syllogismen, also unmittelbar, vor
sich. Vermutlich sehen die Interpreten (etwa die vorhin erwähnten
futurologischen Romanciers) den Geräten direkt an, was durch sie „in
the offing“ ist, und in was für Wesen sie uns, wenn wir ihnen nicht in
ihren mechanischen Arm fallen, verwandeln werden. So direkt, wie
wir einer zum Schlag erhobenen Faust ansehen, was der Effekt des
Schlages sein wird. Auch hier wird ja Futurisches direkt erfahren.
Dieses Beispiel ist deshalb wichtig, weil das Verstehen der Geste zu­
gleich Ausdrucks- und Effektverstehen ist. Wahrscheinlich leisten die
genannten futurologischen Romanciers, die in den Geräten die „blue
prints“ der Menschheit von morgen sehen, etwas Ähnliches. Jedenfalls
ist der Blick in die Zukunft für diejenigen, die eine Spur von Phantasie
besitzen - und daß diese die „Wahrnehmung von heute“ ist, das habe
ich ja bis zum Überdruß wiederholt - , nicht schwieriger als der Blick
in die Vergangenheit, oft vielleicht sogar weniger schwierig. Vor
i 80 Jahren hat Friedrich Schlegel die Historiker „rückwärts gekehrte
Propheten“ genannt. Hätten wir nicht heute das Recht, Prognostiker
als „vorwärts gekehrte Historiker“ zu bezeichnen?
ANM ERKUNGEN

Vorwort

1. Diese bisher von keinem Politiker verstandene „kopernikanische Drehung“


hatte ich bereits in meiner spezielleren These formuliert, daß es falsch sei, zu
behaupten, in unserer politischen Situation gebe es auch Atombomben,
richtig allein: die Politik finde innerhalb der atomaren Situation statt. Siehe
des Verfassers „Endzeit und Zeitenende“ , S. 204 ff.
2. S. des Verfassers „Endzeit und Zeitenende“ , S. 170ff .
3. S. des Verfassers „Pathologie de la Liberte“ in: „Recherches Philo-
sophiques“ , Boivin, 1936, S. 40 H.
4. Ausgezeichnet ist das G rover Foley in seinem in Vorbereitung befindlichen
Bande „Denker des Unterganges“ gelungen.
5. „Der Mann auf der Brücke“ , München 1959. „O ff limits für das Gewis­
sen“ , Hamburg 1961, „Endzeit und Zeitenende“ , München 1972.
6. „Visit beautiful Vietnam“ , Köln 1968.
7. Freilich kann ich nicht behaupten, daßich während der Niederschrift dieser
Reflexionen auf einen siegreichen Abschluß des Krieges zu hoffen gewagt
habe. Vielmehr rechnete ich diesen Kampf und meinen äußerst bescheide­
nen Beitrag zu diesem zu den, obwohl aussichtslosen, so doch unabweisba­
ren Pflichten der Epoche. Und auch heute noch stehe ich dem Sieg Nord­
vietnams und des Vietkong argwöhnisch und ungläubig gegenüber, da er
meiner Überzeugung vom bereits errungenen Sieg der Technokratie wider­
spricht. Unterdessen hat sich dieser Sieg auch wirklich schon als dialektisch
entpuppt: denn der angeblich Besiegte hat sich ja auf Grund seiner techno­
kratischen Superiorität seine Niederlage achselzuckend leisten können,
seine Übermacht ist durch den Sieg der Vietnamesen nicht im leisesten
tangiert worden; während sich die Sieger ihren Sieg nicht haben leisten
können, sich von diesem noch immer nicht erholt haben (1978) und wohl
bald wieder in die mehr oder minder getarnte Abhängigkeit von ihrem
angeblich geschlagenen Gegner geraten könnten. Man sieht: auch dieses
Buch stellt als Kritik der Technik eine paraphrasierende Ergänzung zur
„Antiquiertheit des Menschen“ dar, ebenso wie meine im „Blick vom
Mond“ (München 1970) vorgetragene Verurteilung der Weltraumflüge, von
denen ich nicht deshalb abrückte, weil sie mißglücken könnten, sondern
umgekehrt deshalb, weil mir ihr tadelloses Glücken ein entsetzliches Omen
zu sein schien, ein Vorzeichen dafür, daß andere kolossale Unternehmun­
gen, z.B. nukleare Bebombungen aus dem Weltraum, ebenso entsetzlich
tadellos „glücken“ könnten.

Einleitung

1. Zur heutigen Situation gehört es sogar, daß jede Maschine die Mit-Voraus-
setzung, damit die Mit-Herstellerin oder Mitinstandhalterin jeder anderen
Maschine ist; und daß die Legion der bestehenden Maschinen letzlich dahin
tendieren, zu einer einzigen Mega-Maschine zusammenzuwachsen und da­
mit schließlich den „ Totalitarismus der Dingwelt“ zu begründen. (Siehe
den Essay „Die Antiquiertheit der Maschinen“, S. i i o ).
2. In dieser Bemühung um die Aufrechterhaltung der Produktion durch Kon­
sum besteht, mindestem im Kapitalismus, die heutige „Sorge“ . Und darin
bestand sie auch schon vor 50 Jahren, als Heidegger, in dessen „Sein und
Zeit“ die Wirtschaft ebenso fehlte wie der Hunger oder das Geschlecht,
diese Kategorie als düsteres „Existenzial“ einführte.
3. Auch diese iteriert wiederum. Denn die Werbefirmen machen für sich selbst
genau so Werbung wie für andere Produkte. Siehe S. i6off.
4. Natürlich läßt man es nicht dabei bewenden, auch nach solchen Produkten
wird, oft post productionem, Nachfrage produziert, und zwar im Profitin­
teresse der Produzenten, die ihre eigenen Interessen betrügerisch als Natio­
nalbedürfnis darstellen. So hat die Lobby der Schwerindustrie in den USA,
und nicht nur während des kältesten Krieges (der ebenfalls ihr Produkt
war), durch Produktion falscher, die sowjetische Waffenproduktion betref­
fender, Ziffern ein Sicherheits- und Schutzbedürfnis in der „Freien Welt“
produziert, auf Grund dessen nun die wildeste Produktion der monströse­
sten Waffen und deren Ankauf durch die „Armed Forces“ gerechtfertigt
und in die Wege geleitet wurde.
5. Das immer wieder als Gegenbeispiel angeführte Giftgas macht da keine
Ausnahme, da dieses sich bereits 1918 wegen Gefährdung der eigenen Rei­
hen als unverwendbar herausgestellt hatte.
6. Die Ausnahmen: doping oder Sporttraining oder Schönheitsoperation sind
nicht der Rede wert.
7. „Pathologie de la Liberte“, 1929. In: „Recherches Philosophiques“, Paris
1936.
8. Kritik der praktischen Vernunft, I. Buch, 8. Hauptstück. Kants Behauptung
freilich, daß, wie es an dieser Stelle heißt, „außer dem Menschen alles was
man will und worüber man etwas vermag“, als Mittel verwendet werden
dürfe (eine Behauptung, auf die sich die Ausrotter von Walen und Seehun­
den berufen könnten), die haben wir niemals unterschreiben können. Diese
fürchterliche General-Lizenz, die nichts außer dem Menschen ein Tabu
zugesteht und alles andere als für den Menschen geschaffen unterstellt, und
das heißt: ihm zur Verfügung stellt, hat es außer im monotheistischen Raum
der jüdisch-christlichen Tradition (Gen. I, Kap. 26-28) nirgendwo gegeben,
weder in den Systemen der Magien noch in Polytheismen. Sie ist das Manko
unserer „abendländischen“ Ethik. Allein im Rahmen der anthropozentri­
schen Tradition, in der die Welt als dem Menschen „untertan“ , also als
dessen Diener, Gegenstand, Lebensmittel gegolten hatte; und in der der
Mensch, obwohl auch „creatura“ , doch nicht als Stück der Natur, sondern
als unbeschränkter Herrscher über alles sonst Geschaffene gegolten hat -
nur in diesem Rahmen hatte Naturwissenschaft, damit Technik, damit
schließlich Industrialismus, entstehen können. Daß der Mensch Ziel, und
die Welt Mittel sei, dieser Anthropozentrismus war der (nur selten durch
pantheistische Intermezzos unterbrochene) Generalnenner der europä­
ischen Philosophien und Vulgär-Weltanschauungen, deren zahllose Ver­
schiedenheiten im Vergleich mit dem, was ihnen gemeinsam war, kaum
zählen. Heute haben natürlich Naturwissenschaften und Technik, die ohne
den theologischen Anthropozentrismus niemals hätten entstehen können,
auch bei denjenigen Völkern Fuß gefaßt, die, wie z.B. die Japaner, die
theologischen Voraussetzungen für diese nicht mitgebracht hatten. Aber
diese Voraussetzungen sind auch im jüdisch-christlichen Kulturkreis längst
vergessen. Nunmehr sind die technokratischen Länder nicht durch einen
Glauben geeint; umgekehrt verbindet sie der (zwar nur selten ausgespro­
chene, aber doch ausgeübte) Atheismus, der (trotz der gelegentlichen Glau­
bensbeteuerungen von Physikern) die Basis der Naturwissenschaften ist.
9. Ein amerikanischer Unternehmer, den ich über diese Entwicklung befragte,
replizierte gekränkt und ohne zu ahnen, wie sehr seine als Frage formulierte
Antwort derjenigen Kains ähnelte: „Why should I be responsible for the
regrettable fact that there are too many workers in the world? Am 1 their
nurse?“
10. Ihre Ersetzung durch die (selbst bereits industriell hergestellte) Porno-, Do-
it-yourself-und Sportwollust siehe S. 103.
1 1. Man dürfte annehmen, daß sich solche Schaffner ihrer Rückversetzung auf
die Ebene von Geräten (oder, da sie schlechter arbeiten als diese: unter
deren Ebene) schämen. Aber einer solchen Scham, die eine Spielart der im
ersten Band eingeführten „Prometheischen Scham“ wäre, bin ich kaum je
begegnet. Möglicherweise gibt es sie gar nicht - was freilich eine zweite
Beschämung rechtfertigen würde, da es ja nicht gerade sehr ehrenvoll ist,
sich mit der „Verdingung“ abzufinden. Denkbar, daß ich mich vor fünf­
undzwanzig Jahren, als ich die „Prometheische Scham“ einführte, verspe­
kuliert habe: nämlich ein Postulat als Tatsache dargestellt und dadurch die
Grenze zur „Philosophy Fiction” überschritten habe. Vielleicht muß ich
also diese Scham-These revozieren. Nicht revoziere ich hingegen, daß auch
dann, wenn Scham dieser Art nicht verspürt werden sollte, das vorliegt, was
die englische Sprache „shame“ nennt: nämlich eine Schande.

Die Antiquiertheit des Aussehens

1. Es gibt keinen Ausdruck, der (dem akustischen „stumm“ entsprechend) das


„Sich-nicht-sehen-lassen-Können“ bezeichnete. Das Wort „opak“ reicht
nicht.
2. Ideal ist diese Koinzidenz in Kunstwerken verwirklicht, da in diesen Wesen
und Phänomen zusammenfallen, und da sie nicht nur stumm bleiben, son­
dern nichts als Sprechen sind.
3. Adolph von Menzels vor hundert Jahren gemaltes „Eisenwalzwerk“ zeigte
zwar die Großartigkeit des schwerindustriellen Betriebs, aber noch nicht
die „Unsichtbarkeit“ der Maschinen. Sinnvolles taten erst die „maschinisti-
schen“ Maler (Leger), die aus der Schule plauderten, nämlich verrieten, daß
die von ihnen entworfenen Maschinen oder maschinisierten Menschen
nichts mehr verraten, deren Sujet also nicht die Maschinenwelt, sondern
deren Stummheit war. Natürlich haben manche Kunstkritiker diese Aussa­
gen über das Nichtssagende der Geräte als Glorifizierung der Maschinen­
welt schief gelobt. Ebenso schief war der Tadel derer, die die dargestellte
Dehumanisierung, so als wäre diese deren Werk, den Künstlern ankreide­
ten. - Daß diejenigen, die etwas aus der Schule plaudern, für die Existenz
des Ausgeplauderten verantwortlich gemacht werden, ist ja (siehe Psycho­
analyse) keine Neuigkeit.

Die Antiquiertheit der Produkte

1. Aus den „Molussischen Industriehymnen“ (übersetzt von G. A.).


2. Ich weiß kein anderes Beispiel, das die so oft beteuerte, aber nur so selten
aufgewiesene Abhängigkeit des jeweiligen Moralstatus vom jeweiligen Sta­
tus der Technik mit solcher Konkretheit zeigt wie dieses.
3. „Der Blick vom Mond“ , S. 156.
4. Freilich ganz unschuldig ist auch die Industrie nicht. Ein gewisses Maß von
Verantwortung dafür, daß sie ihr utopisches Traumstadium noch nicht er­
reicht hat, trägt auch sie selbst. Denn immer wieder passiert es ihr ja (teils
aus Versehen, teils, weil sie durch die Qualität der Konkurrenzwaren doch
zu einer gewissen dosierten Haltbarkeit ihrer Erzeugnisse gezwungen
wird), daß sie ihre Produkte zu haltbar herstellt. Und „zu haltbar“ bedeu­
tet: so haltbar, daß der Abstand zwischen dem Produktionstempo, das sie
sich wünscht oder das sie benötigt, und unserem, selbst unserem rücksichts­
losesten Verbrauchstempo für sie zu groß, die Differenz für sie unerträglich
wird. - Freilich hat sie dagegen Mittel zur Hand, Korrektive, die derartige
Differenzen ausgleichen. Zum Beispiel kann sie es durchsetzen, daß Repa­
raturen alter Stücke, selbst leichte Reparaturen, teurer zu stehen kommen
als die Anschaffung neuer. - Ihre Hauptmethode besteht allerdings im „So­
zialzwang“ . Das heißt: darin, daß sie uns dazu veranlaßt, unsere Eigen­
tumsstücke, auch wenn diese technisch noch aufs beste funktionieren, als
„ sozial untauglich” , als prestigeschädigend, zu verwerfen und fortzuwer­
fen. Um dem Nachdruck zu verleihen, hat sie ja einen ganzen eigenen
Produktionszweig entwickelt: die Reklame, deren Aufgabe darin besteht,
aus dem Rohstoff „Angebote“ die Fertigware „Gebote“ herzustellen, An­
gebote in Gebote umzumünzen, also diese Gebote auf so eindrucksvolle,
auf so heimtückisch unauffällige und unterschwellige Weise in uns hinein­
zuschleusen, daß wir unfähig gemacht sind (psychologisch sowohl als auch
moralisch), diesem Druck Widerstand entgegenzusetzen.
5. Diejenigen Tiere, die nur konsumieren, also noch nichts auf speichern (es sei
denn im eigenen Leibe), kennen weder Dauer noch Gegenstand noch E i­
gentum. Die drei bilden ein kategoriales Syndrom.
6. Zusatz 1979: Die sogenannten ,,SALT“ -Verhandlungen sind ungeheuer
umständliche und aufwendige Blindenkongresse. Durch „SALT II“ , das
gestern hier in Wien mit Backenküssen abgeschlossen wurde, hat sich nicht
das Mindeste verändert.
7. Das Prinzip der Konservierung von Konsummitteln ist kein Gegenargu­
ment. Denn Güter, die konserviert werden, bleiben trotzdem Mittel, die
verbraucht, also vernichtet werden sollen. Davon, daß sie durch „canning“
in die Klasse der Gebrauchsgüter aufrücken, also Kollegen von Hose oder
Hammer werden, kann gar keine Rede sein. Worauf es ankommt, ist nicht
so sehr, an welchem Zeitpunkt ein Produkt konsumiert wird, sondern ob es
im Moment der Verwendung auch schon konsumiert wird oder nicht; ob
Verwendung und Konsum identisch bleiben oder nicht. Und sie bleiben
eben identisch auch bei konservierten Konsumgütern. D ie Gleichung:
„ Verwenden ist A u f brauchen” ist gewissermaßen mit-konserviert. Und im
Augenblicke, da wir den Büchsenöffner ansetzen, springt sie lebendig aus
der Dose.
8. Darunter wird hier die Industrie, die Sendungen herstellt, nicht diejenige,
die Sende- oder Empfangsgeräte erzeugt, verstanden.
9. Umgekehrt stelle man sich vor - dieser Gedanke liegt, obwohl er surreali­
stisch und entsetzlich wirken mag, durchaus im Bereich des Möglichen-, in
einer total verwüsteten Stadt seien die Lautsprecheranlagen intakt geblie­
ben, und die Sendungen überschwemmten Tag und Nacht die Trümmer­
Straßen. Im Unterschiede etwa zu automatisch dort weitergedruckten Bü-
ehern, die Simultankonsum nicht erfordern, würden sie, da sie ihre Mission:
im Moment der Sendung auch konsumiert zu werden, verfehlen würden,
gespenstig bleiben. Und gespenstig in einem ganz neuen Sinne: denn nicht
Totes erschiene Lebendigen, sondern Lebendiges Toten.

D ie Antiquiertheit der Menschenwelt

1. Dieser und der diesem folgende Aufsatz „Die Antiquiertheit der Masse“
basieren auf Tagebucheintragungen aus Tokio 1958. Geschrieben 1961.
2. Diese Weigerungssituation ist heute allgemein, sie herrscht in konformisti­
schen Gesellschaften nicht weniger als in offen totalitären, wenn sie auch -
aber das macht ihr Wesen eben mit aus - nicht gesehen wird. Zum Wesen
der Verblendung, die hergestellt wird, gehört eben primär, daß sie selbst
nicht erkannt, auf keinen Fall aber als Verblendung erkannt werden darf.
Die Aufregung der Amerikaner über das östliche „brain washing“ ist eine
konformistischen Konsumenten konform gelieferte Aufregung über Her­
stellung von Konformismus im Gegenlager. Und die Indignation Sowjet­
rußlands über kapitalistische Meinungsmonopolisierung ist nicht weniger
hypokritisch. Die Tabuierungen der Anderen werden zwar gesehen, aber
die Erkenntnis, daß man selbst unter analogen Tabus lebt, bleibt immer
selbst unbekannt und tabu.
3. Ergänzung dieser Deutung, s. des Verfassers „Faule Arbeit und pausenloser
Konsum“ in Homo ludens, Januar 1959.
4. Im Frieden (der ja die Fortsetzung des Krieges mit anderen, sogenannten
„kalten“ , Mitteln ist) ist diese Zerstörungslust um nichts weniger wirksam,
nur wird sie durch verschiedene Maßnahmen und Umstände verdeckt. In
Massenproduktionsländern, z.B. in den Vereinigten Staaten, bleibt sie
durch die Tatsache, daß sie der Produktion nutzt, verdeckt, ja durch diese
wird sie geradezu in etwas Positives umfunktioniert. Da es nämlich im
Interesse der Produktion liegt, soviel wie möglich herzustellen, ist sie gierig
darauf, daß ihre Produkte so rasch wie möglich aufgebraucht, also zerstört
werden. Dadurch wird im öffentlichen Urteil Schonungslosigkeit, also auch
Zerstörungslust, ehrlich gemacht und sogar zur Tugend erhoben. Ja, die
Produktion hat geradezu neue Formen der Liquidierung produziert, einge­
führt und verbindlich gemacht, um sich in Gang zu halten: Die jedes Jahr
neu aufgezwungenen Mode-Diktate sind nichts anderes als Gebote, gewisse
Produkte, selbst dann, wenn diese noch „halten“ , als liquidationsreif abzu­
stoßen.
5. Tatsächlich ist der Typ des Automationsarbeiters ganz neu. Obwohl einsam
wie ein Flickschuster arbeitend, hält er doch niemals ein Produkt, ge­
schweige denn ein eigenes Produkt in seiner Hand, vielmehr beobachtet er
nur Signale des ohne ihn ablaufenden Prozesses. Und obwohl unange­
strengt dasitzend wie ein Buchschreiber, avanciert er dadurch nicht etwa
zum geistigen Arbeiter, sondern lediglich zum Polizisten der Maschine, zu
einem Polizisten, dessen Arbeit darin besteht, darauf zu hoffen, nichts und
niemanden arretieren zu müssen.
6. „Die Antiquiertheit des Menschen“ , Bd. \, S. 66ff.
7. Ich spreche hier nicht von Claude Eatherly, der ja nur das go-ahead-Signal
gegeben hat.
8. S. i^oH.
9. Einführung des Begriffes in Band I dieses Werkes, S. 36ff. Was mit „imita-
tio“ oder „kategorialer Angleichung“ gemeint ist, kann man sich an der
Analogie mit der Musik klar machen: Wer eine Musik spielt, der nimmt die
Struktur dieser Musik an; nicht nur im (unter Dacapozwang ablaufenden)
Sonatensatz herrscht zyklische Zeit, sondern auch im Sonatenspieler. Das
heißt: solange der Musizierende „in Musik“ ist, ist deren Gangart seine
Gangart, in gewissem Sinne sogar deren Seinsart seine Seinsart. - Entspre­
chend wird der Gang der Maschine zum Gang des Maschinenbedieners -
nur (dieses „N ur“ ist freilich entscheidend) daß sich hier der Mensch mit
etwas Nichtmenschlichem auf gleiche Weise und im gleichen Grade identi­
fizieren muß wie der Musiker mit der (ihn nicht entmenschenden) Musik.

Die Antiquiertheit der Masse

1. „Die Antiquiertheit des Menschen“ Bd. I, S. io iff.


2. Man hat meiner Schilderung des Zeitgenossen nachgesagt, sie sei einseitig,
da sie sich auf Konsumsituationen und -akte beschränke, namentlich auf die
Rundfunk- und Fernsehsituation. Dieser Vorwurf verfehlt die Pointe mei­
ner Theorie deshalb, weil meine These gerade darauf hinausläuft, daß sich
nahezu alle Beschäftigungen des Menschen an Konsumbeschäftigungen ent­
weder angehängt oder gar in solche verwandelt haben. Der während der
Arbeit gelutschte Kaugummi oder die während dieser subliminal gehörte
Rundfunkmusik verwandeln das Arbeiten in ein Anhängsel oder in eine
Variante von Konsum. Nicht mehr gilt heute, daß Konsum zuweilen unser
Nichtkonsum-Dasein unterbreche, sondern umgekehrt, daß, und zwar sel­
ten, Nichtkonsum-Akte innerhalb unseres Konsum-Kontinuums auftau­
chen.
3. Diese „echte Polytonalität“ hat Ferdinand Kürnberger bereits im ersten
Kapitel seines Romans „Der Amerikamüde“ geschildert.
4. Nunmehr ist es den Technikern der akustischen Apparate gelungen, dieses
sinnliche Paradox zur letzten Vollkommenheit zu bringen: nämlich durch
das Stereophonmachen der Grammophonplatten, tapes und Radiogeräte.
Der Verfasser hat diese technische Entwicklung vorausgesagt in „The
Acoustic Stereoskope“ (Journal f. Philosophy and Phenomenol. Research
1948).
5. Selbst die Tatsache, daß diejenigen, die in sozialistischen Bewegungen auf­
gewachsen waren und die dem Wortteil „Sozialismus” in dem Worte „N a­
tionalsozialismus“ Glauben schenkten, die Mechanik nicht durchschauten,
ist nicht verwunderlich. Denn diese vermeinten eben in den Erlebnissen, die
die Monsterversammlungen ihnen vermittelten, die Fortsetzungen ihrer
früheren Massenerlebnisse zu erleben. Und nicht nur deren Fortsetzungen,
sondern deren äußerste Verwirklichung. Neben dem apotheotischen Aus­
maß dessen, was ihnen da geboten wurde, mußten ihre früheren Erlebnisse
verblassen.

Die Antiquiertheit der Arbeit

1. In meiner Fabrikarbeiterzeit habe ich da keine Ausnahme dargestellt. Frei­


lich hatte es damals noch kein Fernsehen gegeben, sondern allein das Radio.
Aber in dessen Gesellschaft habe auch ich damals gelebt.
2. Wie aus einem anderen Zeitalter klingt uns Marxens Satz „Die Verkürzung
des Arbeitstages ist die Grundbedingung“ (des „Aufblühens“ des „wahren
Reiches der Freiheit“ ). „Das Kapital“ III, Berlin 1953, S. 873.
3. S. 101 ff.
4. Das Argument, Sonderband 19, S. 92.
5. Das molussische Theologoumenon, daß die von Gott geschaffene Welt die­
sem über den Kopf gewachsen sei, entstammt vermutlich ähnlichen Erfah­
rungen.
6. „N ur eine halbe Stunde am Tag“ , heißt es im Spiegel vom 21. 11. 1977,
„verbringt der Bauer Groth, der jährlich 2000 Schweine schlachtreif mästet
(Umsatz: 700000 Mark) in seinem 280000 Mark teuren Stall. Die Arbeits­
hähne auf- und zuzudrehen. Alles andere läuft von selbst .. . So lassen sich
bei io Melkplätzen 80 Kühe in gut einer Stunde abfertigen , bequem und
ohne Kraftakte ... Danach geht Groth a u fd ie Pirsch." Nebenbei: daß Herr
Groth die Zeit, in der er sein Vieh nicht mehr schlachtreif zu machen
braucht, dazu verwendet, andere Tiere abzuschlachten, das ist bemerkens­
wert.
7. Ich verwende diesen Husserlschen Ausdruck, da er gewöhnlich (schon von
Scheler) für konservative Ziele mißbraucht worden ist, nur höchst ungern.
Hier aber ist er unvermeidbar.
8. In ihrer Angst davor, das Zeitalter der freien konkurrierenden Wirtschaft
könnte ein Ende nehmen, greifen die Trivialideologen, wie in Osterreich
z. B. Taus, auf die naivsten philosophischen Schmuck- und Schmockredens­
arten der frühen Zwanziger Jahre zurück, z.B. auf die „Kreativität“ , die
„Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung der Persönlichkeit“ , die von
ihnen angeblich gewährleistet, durch die Sozialisten dagegen vereitelt,
werde. Nichts ist unredlicher als die Unterstellung, daß jemals einem Ab­
hängigen, etwa einem Bauern oder Bankbeamten oder Schweißer die
Chance zugestanden worden sei, eine „Persönlichkeit“ zu werden oder
diese gar zu „entfalten“ . Noch nicht einmal Hohngelächter erregen solche
Feiertagsvokabeln, sondern, und zwar berechtigterweise, stures Unver­
ständnis. Die von „Selbstentfaltung“ sprechen, die meinen durchweg die
Aufrechterhaltung der „Selbstentfaltung“ von Kapital.
9. In der Sowjetunion ist die Konkurrenz künstlich wieder eingeführt worden:
Belegschaften, die einen gewissen output in kürzerer Zeit erzeugen als an­
dere, werden als „Helden der Arbeit“ glorifiziert. Aber Konkurrenz dieser
Art ist keine echte mehr. Was sich in Wahrheit hier abspielt, ist, daß die
Belegschaft es mit heraushängender Zunge fertigkriegt, mit der schneller als
anderswo eingestellten Maschine Schritt zu halten. Mit dieser rennt sie also
um die Wette, nicht mit anderen Belegschaften.

D ie Antiquiertheit der Maschinen B

1. Reflexionen anläßlich des Netzkollaps in den Vereinigten Staaten 1965.


2. Ich bediene mich des Ausdrucks „totalitär“ so selten wie möglich, und zwar
deshalb, weil ich ihn für mißbraucht halte, für kaum weniger suspekt als die
Sache, die er bezeichnet. Wenn ich ihn hier trotzdem verwende, so, um ihn
richtigzustellen, d. h. auf denjenigen Platz zu verweisen, auf dem er zustän­
dig ist. Bekanntlich wird der Ausdruck fast nur von solchen Theoretikern
und Politikern verwendet, die beteuern, Bürger von nicht- oder antitotalitä­
ren Staaten zu sein - was zumeist entweder auf Selbstgerechtigkeit oder auf
Schmeichelei hinausläuft. In 99 von 100 Fällen gilt der Totalitarismus als
eine primär politische Tendenz bzw. als ein primär politisches System. Und
das halte ich für unwahr. Im Unterschiede dazu wird hier die These vertre­
ten, daß die Tendenz zum Totalitären zum Wesen der Maschine gehöre und
ursprünglich dem Bereiche d er Technik entstamme; daß die jeder Maschine
als solcher innewohnende Tendenz, die Welt zu überwältigen, die nicht
überwältigten Stücke parasitär auszunutzen, mit anderen Maschinen zu­
sammenzuwachsen und mit diesen zusammen als Teile innerhalb einer ein­
zigen Totalmaschine zu funktionieren - daß diese Tendenz die Grundtatsa­
che darstelle; und daß der politische Totalitarismus, wie entsetzlich immer,
nur Auswirkung und Variante dieser technologischen Grundtatsache dar­
stelle. Wenn Sprecher von technisch höchst entwickelten Weltmächten seit
Jahrzehnten behaupten, dem Prinzip des Totalitären (im Interesse der
„freien Welt“ ) Widerstand zu leisten, so läuft, da das Prinzip des Totalitä­
ren ein technisches P rinzip ist und als solches von den „Anti-Totalitären“
natürlich nicht bekämpft wird und nicht bekämpft werden kann, diese
Behauptung auf Irreführung hinaus, im besten Falle auf Einsichtslosigkeit.
3. Entsprechend „sabotierte“ ein durch die Zündung vorzeitig gelockerter
Steckkontakt den Abschuß der Gem ini-6-Rakete am 12. 12. 1965.

Die Antiquiertheit der philosophischen Anthropologie

1. Von den damaligen Diskutanten Adorno, Hannah Arendt, Goldstein,


Horkheimer, Mannheim, Riezler und Tillich ist keiner mehr am Leben.
2. Zur geschichtlichen Stellung dieses Textes vgl. Wolfgang F. Haug, „Jean­
Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden“ , Frankfurt 1966,
S. 106-107 und 227-228.

Die Antiquiertheit des Individuums

1. „Der Blick vom Mond“ , München 1970.


2. Selbst ob diese als echte Phantasten gelten dürfen, ist fraglich. Letztlich
wohl auch sie nicht; und zwar deshalb nicht, weil ihnen, da es nun einmal
ihr tägliches Geschäft ist, die bereits phantastisch hohen Leistungen von
heute noch weiter aufzustocken, gar nichts ander es übrigbleibt, als noch
Phantastischeres zustandezubringen. „We poor guys can’t help being ge-
niusses“ (Ausspruch eines Raketen-Ingenieurs).
3. Es liegt auf der Hand, daß, wenn ficta als facta ausgegeben werden können
(wie es in der üblichen Science Fiction geschieht), umgekehrt auch facta als
ficta getarnt werden könnten, daß man also die Wahrheiten, die man zu
verbreiten oder zu verraten wünscht, als literarische Lüge ausgeben könnte.
Warum diese subtile Chance für Verrat bisher in keinem politischen Lager
ausgenutzt worden ist, das ist schwer zu erklären. Der einzige, der diese
Inversion versucht hat, ist wohl Huxley. Nicht auszudenken, was heutige
Swifts, die den dieser literarischen Gattung innewohnenden Möglichkeiten
gewachsen wären, aus der Science Fiction machen k önnt en.
4. Das Wort „Tendenzkunst“ wird hier überraschend klingen. Aber nur des­
halb, weil wir, mindestens in der „freien Welt“ (in totalitären Systemen
liegt das Dienstverhältnis von Kunst und Unterhaltung viel offener zutage),
daran gewöhnt sind, unter „Tendenzkunst“ nur diejenige Kunst zu
verstehen, die oppositionelle Tendenzen oder Kritik äußert. Es gibt aber
nichts Tendenziöseres als diese Einengung des Tendenzbegri ffe s. Es ist die
Tendenz jeder herrschenden Macht, zu verhüten, daß ihre eigenen Tenden­
zen als „Tendenzen“ bezeichnet werden, vielmehr wünscht jede, als der
Nullpunkt, als die „normale Realität“ zu gelten, sodaß nur, was von diesem
Nullpunkt abweicht, als „tendenziös“ erscheint. Es würde also ihrem Inter­
esse widersprechen, wenn diejenige Kunst, die mit ihren Tendenzen kon­
form geht, als „tendenziös“ bezeichnet würde. Sprecher, die nicht wider­
sprechen, figurieren daher fast niemals als ausdrückliche Jasager, sondern
als „reine Künstler“ ; und was mit den herrschenden Tendenzen überein­
stimmt, gilt deshalb nicht als „tendenziös“ , sondern als „frei“ . - Nur weil
wir uns, gleich ob bewußt oder unbewußt, dieser Sprachregelung fügen,
halten wir die Einengung des Begriffs für legitim.
5. Die Taktik, Vorgestrigeres für die Verwirklichung des Übermorgen einzu­
setzen, ist übrigens allen Machtgruppen gemein. So gibt es z.B. auch nichts
musikhistorisch „Vorgestrigeres“ als jene Lieder, die für revolutionäre
Zwecke verwendet werden, und wenn die musikalischen Konservatoriums­
gesetze des 19. Jahrhunderts noch irgendwo konserviert werden, so allein in
diesen.
6. Damit ist natürlich kein Freibrief für Konformismus ausgestellt. Erforder­
lich ist vielmehr, daß sich der Nonkonformist über sich selbst im klaren sei,
d.h. darüber, wie weit nicht mitzumachen überhaupt möglich ist; was er
mitmachen muß, um als Kritiker leben und Widerstand leisten zu können.
Das Problem ist nicht unbekannt: es ist das der „Kollaboration“ , freilich im
breitesten, nicht nur politischen, Sinne.
7. Zuweilen geschieht es sogar, daß die Lockkreaturen selbst uns recht geben
und, scheinbar gegen ihr eigenes Interesse, betonen, daß „kein Mensch
müssen müsse“ . „D u brauchst ja nicht“ , lautet eine an den „zwanglosen
Herrn“ adressierte Hutreklame, „aber kannst du mich nicht gelegentlich
probieren?“ - womit diese Sirene bezeugt, wie viel ihr daran liegt, unsere
Freiheitsillusion zu nähren und ihre angebliche Sorge um unsere Freiheit zu
plakatieren.
8. Ob der Ausdruck „Medialität“ (Band I, S. 286) den Anspruch erheben darf,
eine philosophische Kategorie zu sein, das bleibe dahingestellt. Auf jeden
Fall aber kann er als ein Warnungsschild dienen, das uns davor bewahrt, in
die Verwendung der ungültig gewordenen Alternativbegriffe zurückzufal­
len; oder als ein Hinweis auf den „Ort des Desiderats“ d.h.: auf die Stelle,
an der die kategoriale Arbeit einzusetzen hätte.
9. Was uns vor dreißig Jahren (1933) entsetzt hatte: die Verknechtung einer
Bevölkerung in der Form eines Sich-Erhebens, war in der Tat nur ein ganz
besonders spektakuläres und blutrünstiges Beispiel für das Gleichschal­
tungsgeschehen, das auf unscheinbarere Art in der sich „frei“ nennenden
konformistischen Welt jeden Tag vor sich geht. Natürlich wird diese Ähn­
lichkeit mit dem Totalitarismus systematisch verwischt, nein, sogar in einen
globalen Gegensatz umgemünzt. Aber unser Gleichgeschaltetsein beweisen
wir gerade dann, wenn wir uns dazu verführen lassen, dieses Verwischen
und dieses Ummünzen mitzumachen und vor dieser Ähnlichkeit die Augen
zu verschließen. Kein Tun ist heute unfreier, keines deutlicher gleichge­
schaltet als das allgemeine Mitgerede von der „freien Welt“ . Denn es ist,
wie empörend das auch klingen mag, unbestreitbar, daß die power-Elite des
Konformismus im Entscheidenden hinter ihren angeblichen Antagonisten,
den Diktatoren, nicht zurückbleibt: auch sie kann unsere Aktivitäten als
reine „Prozesse“ , als Teilstücke maschineller Abläufe, einsetzen - und was
sie kann, das tut sie auch. Und auch sie kann uns trotzdem pausenlos in der
Illusion der Selbständigkeit, der Freiheit und der Aktivität halten - und
auch das tut sie. Freilich deshalb, weil sie anderes gar nicht tun kann -
womit gesagt ist, daß auch sie, bzw. der Machtapparat, den sie dirigiert,
„medial“ ist. Denn was dieser tut und uns antut, das tut er auf Grund der
Erfordernisse seines Bestandes und Fortbestandes so automatisch, daß auch
ihm gegenüber die Suche nach der „Demarkationslinie“ zwischen Aktivität
und Passivität fragwürdig wird. Vieles scheint dafür zu sprechen, daß wir
die Opfer eines Monstrums sind, das selbst das Opfer seines eigenen Be­
standes und Fortbestandes ist.
10. S. iio ff.
11. Der enge Zusammenhang zwischen dem Konformismus und der optischen
Wandlosigkeit: der Glasarchitektur, ist evident.
12. Diese Austauschbarkeit ist heute nicht nur allgemein akzeptiert, sie wird
sogar in unüberbietbarer Naivität ganz ausdrücklich vorgeführt: im Rund­
funk ist ja der oft geradezu irrsinnig wirkende, angeblich der „Dramatisie­
rung“ dienende, Brauch eingerissen, Textvorlesungen auf mehrere Stimmen
zu verteilen; und zwar so, daß es dabei gleichgültig bleibt, ob Lesestimme A
den Satz A und Lesestimme B den Satz B spricht oder umgekehrt - nur
mehrere Stimmen müssen es eben sein, damit das tote Schema der Leben­
digkeit, also die Illusion des Hin und Her, gesichert bleibe.
i 3. Da es uns normal scheint, daß Wissenschaften als akademische Theorien zur
Welt kommen, um dann vielleicht auch angewandt und vielleicht auch po­
pularisiert zu werden, klingt die Behauptung, daß die raison d’etre der
Psychologie in der Erfüllung dieses Auftrages bestehe, unglaubwürdig. Zu
Unrecht. Denn historischer Ursprung und heutiger Daseinsgrund sind
zweierlei, die Frage: „Woher stammt die Erscheinung X?“ muß stets durch
die andere: „Auf Grund wovon ist die Erscheinung X noch da?“ ergänzt
werden. Und mit unserer Behauptung, daß Psychologie heute nur deshalb
da sei, weil sie sich als verwendbare Adaptierungshilfe bewährt habe, ant­
worten wir eben auf diese Ergänzungsfrage.
14. Dabei sehe ich ganz davon ab, daß die Psychologen durch die Anerkennung
dieser Tatsachen ihren eigenen Gegenstand: die „psyche“ , verspielen und
sich selbst damit „gegenstandslos“ machen würden.
15. Siehe S. Daß es sich dabei um Science Fiction-Autoren handelte, das
hat, seit wir die Ebene der Grundsätzlichkeit erreicht haben, schon nur
noch zweitrangige Bedeutung.
1 6. Daß sich die Werbung unter dem Druck der Spezialisierung selbst wie­
derum in eine Sonderbranche, genannt „Public Relations“ , verwandelt hat,
als solche eine ungeheure Rolle spielt und zuweilen sogar, so als wäre sie
nur eine ihrer werbebegierigen Kundinnen, für sich selbstwirbt, das wider­
spricht nicht der Tatsache, daß sie ihrem Wesen nach nichts Spezielles,
sondern eine Modalität unserer Welt ist.
17. Anmerkung 1979: Bezog sich damals auf den Kampf Kennedy-Nixon.
18. Dem entspricht, daß jenes Wesen, das im 19. Jahrhundert als so aufregend
gegolten hatte: die Prostituierte als Ware, zu einer langweiligen Figur ge­
worden ist. Es gibt nichts Verstaubteres als Theaterstücke, in denen Huren
eine Rolle spielen. Da die Ware als Prostituierte, bzw. das Waren-Univer-
sum als Prostitutions-Universum zur Herrschaft gelangt ist, hat die Modell­
figur den Glanz ihrer Verruchtheit verloren. Sie ist der Fülle der ihr ange-
ähnelten Objekte, also der Universalisierung ihres Prinzips, zum Opfer
gefallen.
19. Die Behauptung, die kommunistische Welt sei in gar keinemSinne „Werbe­
welt“ , wäre natürlich auch schief. Umworben ist der Mensch dort aber
nicht von den offerierten Produkten oder deren Reizbildern, sondern von
den Zielen der Produktionsplanung und von den Bildern derer, die als die
Inkarnation dieser Planung gelten.
20. Entsprechendes gilt natürlich von der Zeit totaler Arbeitslosigkeit. In wel­
chem Maße, das hat z.B. die Anfälligkeit der Arbeitslosen für die national­
sozialistische Werbung in den Jahren 32/33 bewiesen. Wenn Ähnliches als
Folge der Einführung der Automation in den heutigen USA eintreten
würde, wäre das alles andere als erstaunlich.
2 1. Dazu siehe des Verfassers „Siamo tutti come Eichmann?“ Mondo Nuovo,
6. 1. 63.
22. Auf uns, die wir den „Verschiebungsmechanismus“ und den „Umweg über
den Genuß“ nun kennen, wirkt es natürlich komisch, daß gerade dieses
Wort „Geheimagent“ , das die Wahrheit ganz enthüllte, Jahrhunderte lang,
und sogar gerade von den prominentesten Molussologen, beargwöhnt oder
mit dem Aplomb der Borniertheit direkt als „verdorben“ bezeichnet
wurde. Aber die Chance, den neuen Sinn des Wortes zu begreifen, die blieb
den Philologen natürlich verwehrt. Wahrscheinlich stellte diese ihre Be­
schränktheit wiederum ihre Geheimdienstleistung dar. Denn daß sie durch
die Verläßlichkeit und die Hartnäckigkeit, mit der sie ihre Verständnislosig­
keit aufrechterhielten, einen Dienst leisteten, das wurde wiederum ihnen
nicht verraten.
23. „Die zum Töten Angestellten“ , heißt es in einem molussischen Lehrbuch
für Generalstäbler, „sollen das ihnen Aufgetragene hemmungs- und beden­
kenlos ausführen. Um das zu tun, dürfen sie die Illusion ihrer Harmlosig­
keit nicht einbüßen. Nichts gewährleistet die Aufrechterhaltung dieser Illu­
sion mit solcher Sicherheit wie die Tarnung ihrer Pflichterfüllung als Lust.
Die Lust, die wir ihnen schenken, ist also nur eine Form der erforderlichen
Beraubung. Die wir genießen lassen, denen verdunkelt sich der Blick auf
den Gegenstand ihres Handelns.“
24. Übrigens wird diese Möglichkeit, Affekt und Affektbewandtnis auseinan­
derzureißen, von der Unterhaltungsindustrie zuweilen schon als Trick ver­
wendet. Unvergeßlich bleibt mir eine Szene aus einem italienischen Film,
die Großaufnahme eines Säuglings, der herzzerreißend an der Leiche seiner
Mutter weinte. Dem Gefühl, das ich während der Vorführung hatte: näm­
lich nie zuvor gewußt zu haben, was es für ein Kind bedeute, seine Mutter
zu verlieren, war lange Dauer freilich nicht beschieden, denn bald mußte ich
erfahren, wie diese Schreie und Tränen zustandegekommen waren: daß man
diese nämlich mit Hilfe von Nadelstichen hervorgebracht hatte. Wie empö­
rend das auch gewesen sein mag, man nenne es nicht beispiellos. Die artifi­
zielle Munterkeit, in die Arbeiter mit Hilfe von Arbeitsmusik hineingesto­
ßen werden, ist um nichts weniger empörend. Die zwei Fälle sind Zwil­
lingsfälle, hier wie dort gilt, daß der Affekt und dessen Bewandtnis ausein­
andergerissen sind, und daß den Akteuren das Recht auf die Synthese
versagt bleibt. Diese Synthese findet vielmehr immer an einem dritten Orte
statt; einmal in der Seele des erschütterten Filmbesuchers; das andere Mal
im Hauptbuch, das die .Produktionssteigerung anzeigt.
2 5. Anders natürlich, wenn Dienstleistende, im Sinne Epiktets, solche Tarnung
selbst durchführen, wenn z.B. ein auf Botengang geschickter Sklave diesen
so genießt, als wäre er ein Spaziergang: das stellt einen souveränen Frei­
heitsakt dar.
26. Beispiel für die Überwindung solchen Kompromisses: Viele jener Autoren,
die gestern noch Heimarbeiter gewesen waren, erledigen ihre Arbeit heute
bereits als Angestellte an den Schreibmaschinen der Betriebe.
27. Siehe Band I, S. 10. Die lärmende Freude, mit der das Fernsehen als Chance
der „Renaissance der Privatheit“ von oben gepriesen und von unten be­
grüßt wurde, klingt noch in aller Ohren.

Die Antiquiertheit der Ideologien

1. Dies um so weniger, als auch diese nicht mehr „unsere“ sind. Vielmehr
stehen sie, wie alles Naturale, der Bearbeitung zur Verfügung, auch sie sind
längst schon Produkte. Mein Durst nach Coca Cola ist durchaus nicht
„meiner“ , sondern etwas vom Coca Cola-Produzenten in mir Hergestell­
tes, nicht weniger Fertigware als das Gebräu selbst. Und zwar ein Gerät,
dessen Zweck und Leistung darin besteht, den Profitdurst der Produktion
zu stillen. Der Dürstende stillt also durch seinen Durst, bzw. durch dessen
Stillung, den Durst des Betriebs. Er leistet Auftragsarbeit.
2. Das Wort, das bei Marx ausschließlich die einem falschen Bewußtsein ent­
sprungene Theorie bezeichnet hatte, bezeichnet heute (übrigens auch im
sowjetbeeinflußten Teil der Welt) jede Theorie, so daß man dort anstands­
los, also ohne sich dadurch lächerlich zu machen, von der eigenen Ideologie
sprechen kann.
3. Wo, was heute schon der Fall ist, „falscher Wille“ ohne „falsches Bewußt­
sein“ oder sogar „falsche Praxis“ ohne „falschen Willen“ erzeugt werden
kann, da erübrigt sich bereits die Herstellung von „falschem Bewußtsein“
bzw. „falschem Willen“ . Der atomare Knopfdrücker z.B. benötigt keine
Theorie oder Weltanschauung mehr, um gegen sein eigenes Interesse zu
wollen oder zu handeln - womit natürlich nicht gemeint ist, daß er ein
„wahres Bewußtsein“ habe, sondern nur, daß er genau so „jenseits von
wahr und falsch“ steht, wie er „jenseits von gut und böse“ steht: also in der
totalen Gedankenlosigkeit.
4. In unserer atomaren Situation ist es uns durchaus gelungen, diesen Zustand
herzustellen: die Indignation, die man erzeugt, wenn man Menschen auf
ihre wahren Wünsche (also auf das, was sie eigentlich wollen müßten)
aufmerksam macht, und darauf, daß sie, wenn sie Atomrüstung „mitwol­
len“ , ihren eigenen Untergang wollen, ist wahrhaftig eines bessern .Anlasses
würdig.

D ie Antiquiertheit des Konformismus

r. Siehe Band I, S. 96 ff.


2. Die Verständnislosigkeit der Amerikaner für vergangene geschichtliche
Epochen und für außeramerikanische Länder und Mentalitäten hat darin
ihren Grund.
3. Die zahllosen gerade in den Vereinigten Staaten erscheinenden, scheinbar
Phantasie beweisenden Utopien besagen dagegen nichts. Sie alle sind nur
„Verlängerungen“ der in der kompletten Welt bereits eingegleisten Wege.
4. Auch die Freiheit des Schlafes ist bereits bedroht. Die Technologen des
Subliminalen planen bekanntlich bereits, durch unterschwellige akustische
Sendungen den Schlaf zu perforieren und den Menschen während seiner
Entspannung mit Angeboten, also „Geboten“ zu beliefern.
5. Diese Identität bestätigt sich auch in der Psychopathologie. Kurt Goldsteins
Untersuchungen an Gehirnverletzten zeigen z.B., daß die unfrei Geworde­
nen auch unfähig werden, Konditionalsätze aufzufassen.
6. Auch die so oft gescholtene oder verhöhnte Hypokrisie der USA ist kein
Laster im konventionellen Sinne, sondern eine objektive Folge des Beliefe­
rungsmechanismus.
7. Nachbemerkung 1979: Unterdessen hat sich ja der Vorschlag fernsehfreier
Tage als undurchführbar erwiesen.
8. Siehe Band I, S. 286ff.
9. Es gehört zum Bilde der konformistischen Welt, daß in ihrlndividuen nicht
mehr sich selbst opfern, sondern nur noch geopfert werden; aber auch, daß
diese, da ihr Widerstand bereits gebrochen ist, geopfert werden können.
Wer bereit ist, sich von sich aus für etwas Nichtverlangtes, also Nonkonfor­
mes, zu opfern, macht sich bereits verdächtig. - Mit diesem Absterben des
Opferbegriffes bezeugt diese konformistische Welt ihren Regreß in eine
nicht nur vor-heroische, sondern subhumane Phase.
10. Bemerkung 1971. - Unterdessen ist es zur Mode unter Konformisten ge­
worden, sich als non-konformistisch aufzuspielen. Aber dieser N o n k o n ­
formismus ist ein Massenphänomen, von dem sich auszuschließen einen
Grad von Non-Konformismus verlangt, den nur die Wenigsten aufbrin­
gen.
11. Dem scheint die Tatsache zu widersprechen, daß es in der heutigen öffentli­
chen Diskussion, z.B. in kulturkritischen Feuilletons, bereits konformisti­
sches Geschwätz über, sogar gegen, Konformismus gibt; ja daß gewisse
selbst konformistische Organe im Begriff stehen, die Diskussion des Kon­
formismus zu ihrem feinen Lieblingsthema zu machen. Der Widerspruch
ist aber nur scheinbar. Da es im Interesse des Konformismus liegt, allen ihn
gefährdenden Themen den Wind aus den Segeln zu nehmen, muß er sich
selbst als Thema in die Hand nehmen und die Diskussion seiner Problema­
tik selbst steuern. In der Kulturpolitik ist die Besetzung feindlicher Positio­
nen ebenso wichtig wie deren „Zerstörung“ .
12. Siehe Band I, S. 2.
13. Siehe das „Plädoyer gegen Kassandra“ (Süddeutsche Ztg. 18. i. 58), dessen
Autor Horst Krüger leider vergessen hat, daß die große Ahnfrau, deren
Namen er, um die heutigen Urenkel lächerlich zu machen, heraufbe­
schwört, mit allen ihren Untergangswarnungen recht behalten hat. Daß sie
also eine echte Prophetin gewesen ist.

D ie Antiquiertheit der Privatheit

1. Vorgetragen unter dem Titel „Akustische Nacktheit“ in der Lessing-Ge-


sellschaft Hannover, Oktober 1958.
2. S. 99t f.
3. Beziehungsweise die Wohnung wandert uns entgegen: Denn die „Beliefe­
rung des Menschen mit Welt“ bestätigt sich auch dadurch, daß das Bild der
Welt selbst dann noch fortfährt, zu uns zu kommen und uns eigene Bewe­
gung und eigenes „Entgegenkommen“ zu ersparen, wenn es in unserem
Zuhause bereits angekommen ist.
4. In der Sendereihe „People are Funny“ hat sich deren Erfinder Art Linklet­
ter die ungeheuerliche Kühnheit herausgenommen, die Villa eines Ehepaa­
res, das er unter irgendwelchen Vorspiegelungen auf Ferien geschickt hatte,
in deren Abwesenheit abmontieren zu lassen; so daß die Heimkehrer, als sie
nun statt vor ihrem Haus vis-a-vis de rien parkten, sehr begreiflicherweise
ihre Fassung verloren und panisch begannen, dem öv nachzujagen. -
Aber das „so daß“ ist falsch: Denn der famose TV-Mann hatte sich ja diesen
netten Trick nur deshalb ausgedacht, «m diese Fassungslosigkeit und diese
Gehetztheit herzustellen und «m sie seinem Publikum als süße Speise ser­
vieren zu können. Der Prozeß entspricht dem der künstlichen Perlenpro­
duktion: Man verwundet das lebendige Wesen, «m dessen Wunde zum
Genußobjekt zu machen.
5. Die Besuchs-Situation in den Sendungen kann durch die folgenden zwei
Überlegungen verdeutlicht werden: 1. Die Situation ist undeutlich: Einer­
seits bleiben wir Zuschauer zuhause; als faktisch zuhause Sitzende sind
offenbar w ir die Empfangenden, die Besuchten. - Andererseits aber zeigen
sich die „Besucher“ gerade in ihrem Zuhause; also scheinen sie die Empfan­
genden, die Besuchten, bzw. wir die Empfangenen, die Besucher. 2. Die
Situation ist phantomhaft: Obwohl sich jeder bei jedem aufzuhalten
scheint, hält sich offensichtlich niemand bei irgendwem auf. Vielmehr voll­
zieht sich der Verkehr ohne gegenseitige Kenntnis der Partner: Während
die „ausgelieferten“ Personen blind gegen uns, die Zuschauer, bleiben, ist es
uns, den belieferten Zuschauern, unmöglich, mit den Ausgelieferten in ei­
nen mehr als voyeurhaften Kontakt zu treten.
6. Während in der Welt des magischen Daseins, für das jedes Bild als Stück des
abgebildeten oder gar als identisch mit diesem galt, Bilderdiebstahl, zumeist
in der Form des Götterdiebstahls, zu den alltäglichen Lokaldelikten gehört
hatte, hat er in unserer nach-magischen Welt keine ausschlaggebende Rolle
mehr gespielt. Daß dieser Delikt-Typ in unserem Dasein nun wieder auf­
taucht, scheint zu beweisen, daß uns eine dialektische Entwicklung in ein
Stadium zurückgeworfen hat, das überwunden zu haben, den Stolz des
rationalistischen Europas mitausgemacht hatte.
7. Vielleicht ist diese Illusion noch dadurch verstärkt, daß wir als Photogra­
phierende die Bilder selbst erzeugen. Der Gedanke, daß etwas von uns
selbst Erzeugtes zugleich etwas Entwendetes sein könnte, ist ja wirklich
höchst befremdlich.
8. Nachbemerkung 1979. Nicht wer verdächtig ist, wird mechanisch beobach­
tet und „recorded“ ; vielmehr gilt, wer sich der Beobachtung zu entziehen
sucht, als verdächtig. Denn als verdächtig, um nicht zu sagen: als schuldig,
gilt bereits derjenige, der, aus welchen läppischen bürokratischen Gründen
immer, „recorded“ ist.
9. „Binnentranszendenz“ kann in Systemen der diversesten Art nachgewiesen
werden. Alle heute als „unbewußt“ klassifizierten Vorgänge gehören dazu.
- Die meisten leiblichen Prozesse bleiben uns, obwohl sie sich „in uns“
abspielen, ungegeben und unerreichbar, mithin „binnentranszendent“ .
Aber „binnentranszendent“ bleiben auch dem an Luftreisen, also an das
Springen von Punkt zu Punkt gewohnten Zeitgenossen die überflogenen
Zwischengebiete; oder dem Musiker die zwischen den diatonischen Schrit­
ten liegenden Zwischentöne. - Daß diese Spielart von Transzendenz in der
Philosophie niemals behandelt worden ist, hat seinen Grund natürlich in
dem theologischen Ursprung des Begriffs.
10. Durchaus möglich, daß der Triumph der transparenten (nämlich Glas-)
Architektur, den wir im letzten Jahrhundertviertel miterlebt haben, mit der
heutigen Deprivatisierung zusammenhängt.
11. Es ist für den Totalitarismus kennzeichnend, daß er jedes fatum in ein
factum, in etwas Getanes (z.B. Judesein in eine boshafte Tat) ummünzt.
12. Diese Ausdrücke verstehe man als terminos technicos.
13. Anmerkung 1978. Die Zahl der auf derWelt existierenden Apparate hat sich
seit 19 58 vervielfältigt; die Qualität ungeheuer verbessert.
14. Geschrieben im Jahre 1957. Unterdessen haben sich die „Wanzen“ natür­
lich noch weiterentwickelt.
15. Näheres siehe im nächsten Paragraphen über „Schamlosigkeit*'.
16. Hätte man ihm die Pathos-Chance gegeben, erhätte ausgerufen: „Die Frei­
heit ist in Gefahr! O nein, nicht nur meine, nicht nur die Freiheit des
Verkaufs! Sondern auch die des Käufers, sein ehrlich erworbenes Geld so
zu verwenden, wie es ihm beliebt! Und sind wir nicht alle Käufer und
Verkäufer? Also ist unser aller Freiheit in Gefahr!“ Und er hätte sich als
Erwecker der Nation gefühlt.
17. „The truth about Wire Tapping“ by H. E. M. Bernhard and Harry
M. Kean. In: „Pageant“ , August 5 5.
18. Siehe: „Wired for Sound“ by William L.Roper, „Frontier“ 57.
19. Man beachte, mit welcher Selbstverständlichkeit hier Konformismus und
Gesundheit gleichgesetzt werden. Diese Gleichsetzung ähnelt strukturell
der nationalsozialistischen: Auch im Nationalsozialismus wurde ja politi­
sche Gleichschaltung und Zugehörigkeit zur gesunden Rasse identifiziert.
20. Die Mehrzahl der folgenden Beispiele entnehme ich demjenigen Gebiet, das
seit eh und je als die Heimstätte der Tabus und damit der Scham gewesen
war: dem Sexualgebiet. Es ist plausibel, daß Scham, wenn sie selbst dort
abstirbt, anderswo abzusterben erst recht keine Scham hat.
21. Am kompetentesten durch Herbert Marcuse in „Eros and Civilization“ ,
The Beacon Press 1955, S. 238ff.
22. Übrigens gilt das nicht nur vom sanften Totalitarismus. Denn das Verhält­
nis zwischen „Schamlosigkeit“ und „Unverschämtheit“ , das wir behaup­
ten, ist, strukturell gesehen, nicht neu. Es entspricht einem Verhältnis, das
uns aus offen totalitären Diktaturen geläufig ist: nämlich dem Verhältnis
von Terror und voluptas contritionis. Bekanntlich hat es ja in den politi­
schen Prozessen Sowjetrußlands immer Angeklagte gegeben (darunter völ­
lig „unschuldige“ ), auf die Pressionen auszuüben, sich als überflüssig er­
wies; und zwar deshalb, weil die Angeklagten die Arbeit selbst übernah­
men, weil sie sich selbst bezichtigten, und das sogar mit Gier und Wollust.
Zu behaupten, daß es sich bei diesen „Konfessionen“ um etwas Mysteriöses
gehandelt habe, ist ebenso töricht, wie dieses Benehmen medikamentös zu
erklären. Dieses erklärt sich vielmehr daraus, daß die Angeklagten schon
immer, also schon vor dem Prozeß, einfach auf Grund ihres langjährigen
oder lebenslänglichen Parteifunktionär-Daseins deprivatisiert waren; und
das so gründlich, daß sie, obwohl sie nunmehr dazu bestimmt waren, dem
Terrorsystem zum Opfer zu fallen, doch noch als positive Stücke des Sy­
stems funktionierten, dieses also automatisch mitstützten. „Mysteriös“
scheint ihr Benehmen allein dann, wenn man von der falschen Unterstel­
lung ausgeht, daß die Angeklagten sich als Individuen selbst bezichtigt
hätten. Gerade das aber war nicht der Fall. Vielmehr agierten sie noch
immer als Teile des Terrors selbst.
23. Diese Ausdrücke verwende ich in einem Sinne, der viel breiter ist al s der
gebrä uchli che.

Die Antiquiertheit der Wirklichkeit

1. Unter dem Titel „Maschinelle Infantilisierung“ vorgetragen in der Berliner


Komödie am 20. November 1960.

Die Antiquiertheit der Freiheit

1. Band 1, S. 102.
2. Nachbemerkung Juni 1979: Wenn die fernsehende Menschheit auf die tat­
sächliche Massierung einer wirklichen Masse beim Papstbesuch in Polen
fassungslos (teil s entsetzt, teils enthusiasmiert) reagiert hat, so weil sie be­
reits daran gewöhnt ist, daß Massenhaftigkeit zur bloßen Qualität ihrer
selbst (der Masseneremiten) geworden ist. In der Tat ist ja der Schrecken
über die Masse als Menschenquantum (statt als- bloßer Menschqualität)
nicht von einer wirklichen Masse erlebt worden, sondern wiederum von
Millionen von einsam oder zweisam vor ihren Bildschirmen sitzenden Kon­
sumenten.
3. Daß es in der Kultur die größte Buntheit gibt, beweist nichts dagegen. Denn
es gehört zum Wesen der sanften Diktatur, daß sie Felder für Nichtkonfor­
mes beläßt, Ventilprovinzen. - Freilich auch, daß sie bestimmt, welche
Felder als „Ventile“ frei bleiben dürfen. In Gedichten darf man mehr sagen
als in Leitartikeln, um so mehr, als die Zahl der Gedichteleser nicht der
Rede wert ist.
4. Das ging bekanntlich so weit, daß sie sogar ihren christlichen Glauben
dadurch legitim und glaubhaft zu machen suchten, daß sie ihn in eine
„Christian Science“ verwandelten.
5. Wenn die Formulierung paradox klingt, so weil die Situation selbst paradox
ist: weil nämlich mit „Wissen“ derjenige Glaube bezeichnet wird, der nicht
wissen soll, daß er nur Glaube ist.
6. Siehe S. 201.
7. Aber nicht weniger gilt, daß dieses Geheimterrorsystem seine zivile Hülle
von einem Tage zum anderen fallen lassen wird und den Harnisch, den
es unter dieser trägt, offen zeigen wird, wenn es das für opportun
hält.
8. Es gibt neue Experimente - ob sie sich bewähren werden oder nicht, dar­
über sind die Meinungen noch geteilt, aber das Prinzip entscheidet - mit
sogenannter „subliminarer“ Bearbeitung des Menschen. Das heißt: Man
beeinflußt, Leibnizisch gesprochen, mit „petites perceptions“ , mit unter­
schwelligen Reizen, von denen man erwartet, daß sie, obwohl nicht apper-
zipiert, doch wirksam sein werden. Zum Beispiel mit Kauf-Imperativen, die
zwischen die Bilder eines Films eingeschoben, dem Auge des Zuschauers
nur so kurz dargeboten werden, daß dieser sich von ihnen keine Rechen­
schaft ablegt (nachher aber, so hofft man, wie unter posthypnotischem
Zwang, die gebotene Ware kaufen wird). Es kann kein Zweifel darüber
bestehen, daß diese oder ähnliche Methoden, wenn sie sich bewähren soll­
ten, von der Politik übernommen werden. - „Geistesgeschichtlich“ ist diese
Barbarei besonders interessant: Das Subliminare, das wie gesagt eine (im
Zusammenhang mit dem Begriff des „Differentials“ konzipierte) Idee von
Leibniz gewesen war, ging als Begriff des „Unbewußten“ in Freud ein;
Freud wurde (aus Gründen, die hier nicht interessieren) in Amerika zum
Allgemeinbesitz. Dann stieß man auf der Jagd nach locos minoris resisten-
tiae des Käufers auf sein Unbewußtes und nahm es sofort in Arbeit. Dies ist
der Gang der Geistesgeschichte. Das Leibnizische Erbe ist also als psycho-
technischer Trick des Massenbetrugs zu Ehren gekommen. Wahrhaftig, kein
Philosoph kann voraussehen, als Diener welcher morgiger Herren er
schließlich Unsterblichkeit gewinnen wird.
1. Der Begriff stammt von Marx und Engels. Beide unterschieden „unge­
schichtliche“ von „geschichtlichen“ Völkern. Als „ungeschichtlich“ be­
trachteten sie wohl vor allem agrikulturelle Völker, wie denn Marx das
Landleben einmal „idiotisch“ nannte. Polen, das ja wiederholt das Opfer
„geschichtlicher Mächte“ gewesen war, hat er eine eigene Geschichte nicht
zugestanden.
2. Wie befremdlich diese Behauptung auch klingen mag, sie ist noch ganz
harmlos im Vergleich mit der spektakulären These Plotins, daß es noch
nicht einmal die Zeit immer gegeben habe. (Enn. 45, 98 ff.)
3. Gegen diesen Trend der Weltgeschichte werden jene Völker, die heute erst,
das 19. Jahrhundert nachholend, ihre nationale Identität zu erkämpfen
versuchen, nicht aufkommen. Die arabischen und zionistischen National­
bewegungen z.B. sind, weltgeschichtlich gesehen, absurde Anachronismen.
4. Brecht hat mit seiner Frage, von wem die Pyramiden erbaut worden seien,
auf diese Unerwähntheit, damit Ungeschichtlichkeit, der Sklaven hingewie­
sen und durch seinen Hinweis versucht, diese nachträglich, nach 6000 J ah-
ren zum ersten Male in das ihnen gebührende Licht der Geschichte zu
rücken und dadurch, um einen Rilkeschen Ausdruck zu verwenden, zu
„retten“ - wovon sie freilich nicht das Geringste mehr gehabt haben.
5. Schon Zola hat ihre (nicht mit Unsittlichkeit zu verwechselnde) Sittelosig-
keit, z.B. in „Germinal“ , meisterhaft dargestellt - was um so bewunderns­
werter ist, als die Schilderung einer solchen „Leere“ einer lebenden Gruppe
ungleich schwieriger ist als die einer in einem positiven Sittesystem funktio­
nierenden Gruppe.
6. Wahrscheinlich gilt das sogar von dem Proletariat nach seiner „Machter­
greifung“ , also in der Sowjetunion, da es ja in Wirklichkeit nicht die herr­
schende Klasse ist.
7. Im Zweiten Weltkrieg war die Situation anders: der Krieg gegen Hitler war
wohl (mindestens auch) einer im Interesse des Proletariats.
8. Ob es um die Kinder der Bourgeoisie in dieser Hinsicht viel besser bestellt
ist, darf man bezweifeln.
9. Die auf Inhalte, die ihn eigentlich nichts angehen, gerichtete Wißbegierde
des Wissenschaftlers ist freilich eine Ausnahme, die nicht unterschätzt wer­
den darf, nein der sogar philosophisch-anthropologische Bedeutung zu­
kommt. In der Tat ist der Mensch das einzige animal, das Objekte „an­
geht“ , die es „nichts angehen“ ; das einzige, das nicht „beschränkt“ ist, das
gerne „fremdgeht“ , von „Transzendieren“ zu schweigen. Mit seinem in der
„Kritik der Urteilskraft“ eingeführten Begriff der „Interesselosigkeit“ hat
Kant bereits in diese Richtung gewiesen.
10. Darum waren und sind alle Gedächtnistests mit sinnlosen Silben, Zahlen­
konglomeraten und dgl. völlig sinnlos, sie sagen über das Gedächtnis der
Versuchspersonen garnichts aus (um so mehr freilich über die Unintelligenz
der Testpsychologen). Sinnloses (z.B. Kursbücher) auswendig wissen nur
gestörte Kinder. Die bezuglose Neugierde ist nur ganz selten „Altgierde“ ,
also curiositas, die auf Gewesenes aus ist. Die in der heutigen populären
Sachbuch-Literatur herrschende „Archäologie-Welle“ widerspricht dieser
These nicht. Denn die Gegenstände dieses Interesses sind Substitute, das
Interesse entspringt fast ausschließlich der Angst vor der Bewältigung der
jüngsten Vergangenheit. An deren Stelle setzt man uralte Fremdvergangen­
heit. Die Bilder der Auschwitzmörder werden verdrängt, in die so entste­
hende Lücke schiebt man die Bilder der Etrusker oder Hittiten.
i i. Deren letzter Vertreter war der professionelle Hoffer Ernst Bloch gewesen,
der sich durch kein Auschwitz und kein Hiroshima einschüchtern oder
enttäuschen ließ.
i 2. Auf der Platte eines Seminartisches einer deutschen Uni fand man folgenden
Vers eingeschnitten:
PRINZIP VERZWEIFLUNG ODER EINMAL ETWAS ANDERS
ernst bloch spricht:
„wir sind noch nicht.“
ernster als bloch
wäre: „gerad’ noch.“
anders wär:
„nicht mehr.“
13. Siehe des Verfassers „Endzeit und Zeitenende“ , S. 1 7off.
14. Die Do-it-yourself-Bewegung, der Vegetarismus, die Nacktkultur und was
es an Maschinenstürmereien und Rousseauismen des kleinen Mannes noch
geben mag, sind nur die Eskapaden, die die Regel bestätigen. Im übrigen
sind sie ohne maschinelle Hilfsmittel gar nicht durchführbar: Zum Nudi­
stenstrand fliegt man, und die Rohgemüse zersaftet man elektrisch.
15. Siehe des Verfassers Fabel „Das Ende“ , in: „Der Blick vom Mond“ , Mün­
chen 1968.
16. Siehe des Verfassers Fabel „Die Kanne“ , in: „Der Blickvom Mond“ , Mün­
chen 1968.
17. Auschwitz, wo man Hunderttausende als bloße Behälter von Haaren und
Goldzähnen einstufte und die Behälter vernichtete, um sich der Inhalte zu
bemächtigen, kann man als die Probebühne für diese „reine Menschenver­
nichtung“ (in der Tat wird die Neutronenbombe ja als „saubere Waffe“
empfohlen) betrachten.
18. Das ungeheure Anschwellen der Konservenindustrie, die ja nicht Obsoles-
zenz, sondern Ewigkeit, mindestens Dauerhaftigkeit, zu planen und zu
erzeugen scheint, widerspricht nicht unserer These. Auch die Konserve
benützen wir ja nur ein einziges Mal, auch sie verbrauchen wir ja durch
Gebrauch. Davon, daß wir die „canned peaches“ oder Gänseleber „scho­
nen“ , davon kann also keine Rede sein. Was wir tatsächlich gewinnen, ist
die nahezu freie Bestimmung des Zeitpunktes, an dem wir sie durch Ge­
brauch verbrauchen.
19. Das hat die sonderbare Tatsache zur Folge, daß gerade in den sozialistischen
Staaten jenes „Schonen“ der Alltagsgegenstände, von dem ich vorhin gesagt
hatte, daß es bei uns bereits ausgestorben sei, noch nicht unmodern gewor­
den ist; daß sich also gerade dort noch, wie jeder Reisende verblüfft fest­
stellt, die Attitüden unserer Urgroßväter erhalten haben.
20. Umgekehrt haben die Vietnamesen die ungeheuren Metallmassen, die in
Form von Bomben auf ihrLand niederregneten, als Rohstoff fürihre eigene
kleine Industrie verwandt, also den Feind zugleich als Gratislieferanten
benutzt.
21. Freilich kann der Versuch, solche Bedürfnisse zu erzeugen, auch fehlschla­
gen. Wir haben es vor einigen Jahren miterlebt, wie die Millionen von
Fernsehern, die durch die Vietnamkriegs-Sendungen eigentlich für diesen
hatten gewonnen werden sollen, programmwidrig reagiert haben, und zwar
nicht etwa nur mit Indifferenz, sondern mit Abscheu und Empörung. In
der Tat hätte die Anti-Vietnamkrieg-Bewegung ohne die tägliche Offerie-
rung der Kriegsereignisse durch das Fernsehen niemals die politische Stoß­
kraft gewinnen können, die sie tatsächlich gewonnen hat. Diese Erfahrung
widerspricht meiner im ersten Bande entwickelten Charakterisierung des
Fernsehens. Die in Television gesehenen Vietnam-Greuel erreichten die
Zuschauer offenbar nicht nur als „Phantome“ . Meine damalige Analyse
bedarf einer Revision.
22. Nach dieser Darstellung der Zerstörung als Zieles der Produktion muß
die Einschätzung der Neutronenbombe revidiert werden. Offenbar ist
diese, die Produktewelt schonende, Waffe für unsere heutige Situation gar
nicht so charakteristisch, wie es gewöhnlich angenommen wird: vielleicht
sogar geradezu ein Irrweg - was ihre Erfindung und ihren eventuellen
Einsatz natürlich um nichts besser macht. Es würde mich aber durchaus
nicht überraschen, wenn übermorgen die „negative Neutronenbom be“ er­
funden werden würde, deren Auswahlprinzip dem der heutigen Neutro­
nenbombe entgegengesetzt wäre: die also - was viel besser dem Interesse
der Industrie dienen würde - ausschließlich Produkte vernichten und auf
die Liquidierung von Menschen keinen sonderlichen Wert legen würde.
Schon heute kann ich die „humanistische“ Rechtfertigung dieser Erfindung
hören.
23. „Endzeit und Zeitenende“ S. 183.
24. Jawohl, wir dürfen ihn einen „Halbgott“ nennen, und das nicht nur aus
dem formellen Grunde, weil ihm zugleich menschliche Gestalt und über­
menschliche Kraft zukommt, sondern aus dem spezielleren Grunde, weil er
das Pendant des wichtigsten Halbgottes der Antike ist: nämlich des Prome­
theus: weil er als Prometheus von heute das uns aus der Hand gesunkene
Feuer (angeblich) wieder zurückgebracht hat. - Die Klassifizierung ist auch
deshalb rechtmäßig, weil er, wie fast jeder etwas auf sich haltende Gott oder
Heros, als Ausgewachsener zur Welt gekommen, und seit damals überhaupt
nicht gealtert ist. Soweit man heute „ewig“ sein kann, ist Superman das -
das heißt: er wird uns, solange unser technisches Zeitalter und damit die
Menschheit und die Welt überhaupt bestehen werden, begleiten.
25. Auch das hat Superman mit allen mythischen Figuren gemein, daß sein
Erfinder (im Unterschied zu allen Bildern seit dem 15. Jahrhundert) an­
onym bleibt. Selbst wenn dessen Name eruiert werden könnte (was vermut­
lich möglich wäre, da er den von ihm erfundenen Gott - keinem Gotte vor
ihm ist diese Ehre erwiesen worden - durch eine Copyright-Nummer ge­
schützt hat): für die Millionen seiner Bewunderer und Anhänger blieb der
Name des Erfinders irrelevant, da sie die Figur als eine betrachten, die es
schon seit ihrer frühen Kindheit, nein, wohl seit eh und je, gegeben hat.
26. „Endzeit und Zeitenende“ S. 1 55.
27. Außer wohl in der kommunistischen Welt - für diese ist der amerikanische
Gott, der politisch immer sehr systemfreundlich gewesen war und während
des kalten Krieges keine Hand vor den Mund, bzw. vor die Sprechblase
genommen hatte, natürlich politisch untragbar. Ob es in der stark an­
schwellenden (und zum Teil sehr geistvollen) sowjetrussischen und polni­
schen Science-Fiction-Literatur eine Pendant-Figur zu Superman, also eine
Figur der menschgewordenen Technik gibt, ist mir unbekannt.
28. Nicht nur im zeitlichen Sinne.
29. Sogar die Vernichtung der Juden durch den Nationalsozialismus ist ja,
soweit es möglich war, diskret durchgeführt worden. Ab er daß sie über­
haupt hat durchgeführt werden können, daß normale Zeitgenossen, Leute
wie meine Nachbarn, gewissenhaft Millionen ihresgleichen hatten umbrin­
gen können, diese Tatsache bliebe, wenn unsere Imperative nicht anerkannt
wären, schlechthin unbegreiflich.
30. Freilich scheint das „epochale Ereignis“ MyLai schon heute, nur drei Jahre
nach dem Höhepunkt der globalen Publizität des Falles, vergessen, das
heißt: verdrängt, sogar in tiefere Tiefen verdrängt zu sein, als das 25 Jahre
zurückliegende Auschwitz. Im übrigen hatte es natürlich schon vorher
zahllose MyLais gegeben, und vermutlich haben sich auch nach dem be­
rühmten Fall noch zahllose weitere abgespielt. - Daß gerade der eine Fall
solche Publizität erreicht hat, ist reiner Zufall gewesen .
3 1. Freilich handelt es sich dabei nicht um einen echten Imperativ, sondern um
eine Lizenz, um eine Anrechtsanmeldung.
32^ Natürlich suchte man die Schuld ausschließlich einem „little fish‘‘, eben
dem genannten CaUey, anzuhängen. Aber selbst wenn man so fair gewesen
wäre, die Verantwortung auch in höheren Rängen zu suchen und diesen
zuzuweisen, die wirkliche, die „technologische“ , Bewandtnis des Falles
wäre damit nicht erhellt worden.

Die Antiquiertheit der Geschichte I I

1. Auch die kolossalen Hochhäuser im Konditorstil, die man vor dreißig Jah­
ren in die Hauptstädte des Ostblocks hineingepatzt hatte, und die zwar
(denn Architektur ist Schicksal) noch lange werden stehen müssen, aber die
doch auch dort schon als Zeugen (namentlich der aufgedrängten Sowjet­
macht) behandelt werden, die man nicht mehr gerne vorzeigt, die also auch
dort schon der Vergangenheit anzugehören versuchen - auch diese Bauten
waren primär nicht als Werbe-Objekte gemeint. Ihre Gestik war nicht so
sehr die der Verlockung, als die der Einschüchterung . Selbst die erbärmli­
chen Ornamente, die diesen gigantischen Eisbomben angekitscht wurden,
dienten nicht der Attraktion, sondern nur der Machtprotzerei. Sie gleichen
jenen Medaillen, mit denen sich Stalin (der sie sich selbst verliehen hatte)
gerne photographieren, oder, um die „Kultur“ vollzumachen, abpinseln
ließ.
2. Auch bei uns beginnt übrigens die Kategorie „modern“ , die erst sehr spät
im i 9. Jahrhundert aufgetaucht ist (bei Nietzsche klingt sie noch modern)
und nur wenige Jahrzehnte lang „modern“ gewesen war, unmodern zu
werden. Sartres direkt nach Kriegsende für seine Zeitschrift verwendeter
Titel „Temps Modernes“ war damals schon ebenso unmodern wie Cha­
plins Filmtitel „Modern Times“ . An die Stelle des unmodern gewordenen
Wortes „modern“ ist das weniger anspruchsvolle „neu“ getreten. Der So­
zialismus hofft nicht auf einen „moderneren“ , sondern auf einen „neuen“
Menschen. Das Unmodernwerden des Begriffes „modern“ begann bereits
vor einem halben Jahrhundert, Beispiele: „Neue Sachlichkeit“ , „nouvelle
vague“ , „new look“ .
3. Ober die unerwachsene Reaktion darauf: die „Blue Jeans“ und deren Prin­
zip: „N ur Getragenes, nein Abgetragenes, ist up to date“ , siehe S. 283 ff.
4. Auf dieses Ressentiment spekulierte der Nationalsozialismus, der die Mo­
derne dort, wo sie vergleichsweise unwichtig war: also in der Kunst (nicht
in der Technik), der Volkswut preisgab.
5. Dieser machte freilich zwecks Irreführung das ganze Volk zur Elite - für die
er eine Folie der Nicht-Elite, des „Ungeziefers“ , brauchte. Als Folie sind
Millionen Sklaven und Juden liquidiert worden. Dazu siehe des Verfassers
„Besuch im Hades“ , München 1979, S. 212.
6. Siehe S. 279.
D ie A n tiq u ie rth eit d er G eschichte I I I

1. Die Berufung auf Freud als Autorität stellt, da dieser die Anerkennung und
Einhaltung von Tabus als Voraussetzung der Zivilisation bejaht hat, ein
kolossales Mißverständnis dar.
2. Manche Werbebilder versprechen den Berufsvoyeurs, die den Schritt in den
wahren Konsum aus finanziellen oder sexualpathologischen Gründen nicht
tun können, die also ewig im Provisorium des bloßen Schauens verharren,
Bilder, durch die sie auf ihre Art auf ihre Kosten kommen werden. Ich
denke da z.B. an die vor Pornokinos ausgestellten Lockphotos (die soge­
nannten „stills“ ), die gewissermaßen Bilder der „wirklichen Bilder“ , der
„pictures“ oder die Wegweiser zu diesen sind (die nun ihrerseits wieder
durch „commercial spots“ , also durch Reizbilder von anderen Waren oder
für andere Waren durchsetzt sind). - Sowohl in den Augen der Produzen­
ten als auch in denen der Kunden gilt das bloße Anschauen der „pictures“
als deren eigentlicher Konsum. Die „stills“ , selbst Bilder, werben also fü r
Bilder. - Daß sich die „Iteration der Abbildung“ , die Plato bereits, freilich
mit völlig anderen Absichten, formuliert hatte (gemalte Bilder der Welt
seien eidola von eidola), heute wiederholt, ist höchst merkwürdig. (Dazu
siehe die philosophische Glosse „Die Antiquiertheit des Materialismus“ )
- Vor kurzem habe ich in einer Ausstellung „Geschichte des Plakats“
Werbebilder aus den Zwanziger Jahren gesehen, die (da die propagierten
Produkte unterdessen ausgestorben waren) kein Wozu mehr hatten und
sich dadurch in Kunstwerke verwandelt hatten. Viele Bilder religiösen In­
halts entsprechen heute diesen Plakaten.
3. Ich kann mich noch daran erinnern, daß in den ersten Jahren nach der
bolschewistischen Revolution in reaktionären Blättern Europas und der
USA diese mit „Weibergemeinschaft“ identifiziert wurde. „Gruppensex“
ist ganz woanders zur Sitte geworden.
4. Siehe oben: „Die Antiquiertheit des Aussehens“ , S. 37ff.
5. Daß es den Nationalsozialisten so viel besser gelungen ist als den russischen
Machthabern, Werbeveranstaltungen durchzuführen, hat seinen Grund
darin, daß jene bereits auf die Werbe- und Ausstellungstechniken des Kapi­
talismus zurückgreifen konnten; und weil sie nicht erst durch Degeneration
ihrer Prinzipien, sondern prinzipiell und ab ovo, Betrüger waren. Von den
überwältigenden Massenexhibitionen des Ufafilms „Metropolis“ zu den
Riefenstahlschen der Nürnberger Parteitage war es nur ein sehr kleiner
Schritt - was Fritz Lang, der Regisseur des bombastischen Ufa-Films, den
ich im Jahre ' 1940 auf die frappierende Ähnlichkeit aufmerksam machte,
stumm nickend zugegeben hat.
i. Zuerst veröffentlicht in „Die Sammlung“ , März 1955.

Die Antiquiertheit von Raum und Zeit

1. Zuerst veröffentlicht in Scheidewege, Jg. 1972, Heft 3.


2. Darin liegt die relative Wahrheit der Heideggerschen Koordination von Zeit
und Sorge. Freilich hat Heidegger das wirkliche Bedürfnis des Menschen
unterschlagen und in die höchst undurchsichtige „Sorge“ umgemünzt, also
an die Stelle der Koordinierung Bedürfnis-Zeit die Koordinierung Sorge­
Zeit gesetzt - was er wohl nicht nur deshalb getan hat, weil es seinem
ontologischen, dem Menschen eine Sonderstellung garantierenden Ansatz
widersprochen hätte, wenn er den Menschen als etwas Ontisches dargestellt
hätte, als ein Stück Welt unter anderen, als eines, das, um zu sein, die
Einverleibung oder Gegenwart anderer Stücke Welt benötigt; sondern vor
allem wohl deshalb, weil dieses Zugeständnis ihn in eine gefährliche Nach­
barschaft zum Materialismus gebracht hätte. (Dazu siehe des Verfassers:
„On the Pseudo-Concreteness of Heideggers Philosophy“ , in: Philosophy
and Phenomenological Research, Vol. III, S. 337ff.).
3. Siehe dazu Band 1, S. 292.
4. Band i, S. 98 ff.
5. Überflüssig, zu betonen, daß das „Andere“ nicht als „Nicht-ich“ auf Fich-
tesche Manier „ gesetzt” wird. Vielmehr ist es durch die Tatsache des Be­
dürfnisses immer schon vorausgesetzt, denn der Hunger weiß von der Mög­
lichkeit der Hungerstillung, also vom Dasein des Anderen; der Hunger
beweist das Brot, die Lunge die Luft, der Durst die Mutterbrust. Der
Gedanke, daß der von der Mutter in die Welt gesetzte Säugling die Mutter
als Nicht-ich „setze“ , wäre absurd.
6. Vermutlich gelten unsere Analysen nur für Wesen, die die Raumbewegung
kennen bzw. benötigen. Grob gesprochen also nur für Tiere, nicht dagegen
für Pflanzen, die in gewissem Sinne ein Schlaraffendasein mit allen dessen
Vor- und Nachteilen führen, da sie dasjenige, was sie benötigen, ihre „desi­
derata“ , sofern sie diese finden, dort finden, wo sie sich aufhalten; diese also
gegenwärtig haben; freilich wenn sie diese dort nicht haben, zugrunde ge­
hen. Oder die (etwa bei Befruchtung) auf anderes: Wind oder Insekten,
angewiesen sind.
1. Zuerst veröffentlicht in Merkur, April 1969.
2. Diese Behauptung hat unterdessen (März 1969), drei Monate nach der Nie­
derschrift, durch die weitere dialektische Entwicklung der Situation ihre
hundertprozentige Wahrheit eingebüßt. Am 27. Februar 1969 hat nämlich
das „Establishment“ den ersten Versuch unternommen, Gleiches mit Glei­
chem zu vergelten, also ebenfalls mit Happenings zu arbeiten - was am
Tage der Ankunft Nixons in Rom geschehen ist. Die römische Polizei
hat die gegen den Aufenthalt des amerikanischen Präsidenten prote­
stierenden Studenten mit rotem Wasser bespritzt, so daß nun diese wie
Blutende aussahen und, da sie nicht recht wußten, ob sie wirklich bluteten
oder nicht, ihre Orientierung verloren. - Daß Studenten, denen wirkliche
Waffen nicht zur Verfügung stehen (denn die obsoleten Pflastersteine kön­
nen beim heutigen Stand der Waffenproduktion als Waffen nicht klassifi­
ziert werden) aus Verzweiflung „Spielen“ als Methode verwenden, ist ver­
ständlich. Moralisch deprimierend ist es aber, daß die Polizei mitspielt.
Während die Studenten deshalb spielen, weil sie über ernste Waffen nicht
verfügen und mehr, mindestens im Augenblick, nicht leisten können, spielt
die Polizei deshalb, weil sie sich das leisten kann, nämlich genau weiß, daß
sie im Notfall immer auf richtige Waffen zurückgreifen kann.

D ie Antiquiertheit des Sinnes

1. Siehe des Verfassers „Endzeit und Zeitenende“ , S. ij8 ff.


2. Ich vermeide das zur Scheidemünze gewordene Wort „Entfremdung“ . Und
zwar deshalb, weil es in den Ohren derer, die auch nur ein Minimum an
Sprachgespür haben, genau das Gegenteil dessen anzeigt, was es sagen will:
analog zu „Enteisung“ oder „Entschuldigung“ scheint es ja auszusagen,
daß etwas seiner Fremdheit entkleidet werde. Daß der Ausdruck sich so
lange hat halten können, nein, heute inflationär geworden ist, ist unbegreif­
lich. Oder leider begreiflich.
3. Wie paradox es auch klingen mag, als vollends sinnlos empfinden wir uns
dann, wenn wir arbeitslos, also von der sinnlosen Arbeit ausgeschlossen
sind. Denn dann wissen wir ja sogar nicht mehr, was wir tun sollen, nicht
nur nicht, wie in der guten alten Zeit der Beschäftigung, was wir tun. In der
Tat scheint aus der Arbeitslosen-Perspektive die Zeit des Arbeitens, des
(was Sinnloses immer) Arbeiten-Dürfens als sinnvoll. Aber damit greifen
wir vor.
4. Eng damit zusammen hängt das Sinnlosigkeitserlebnis, das dann einsetzt,
wenn ein loyaler Bürger des „Mittel-Universums“ auf Stücke, zumeist der
Natur, stößt, die offensichtlich für nichts „Mittel“ sind. „What is it good
for?“ stöhnte frustriert mein Nachbar, als wir die polare Eiswüste überflo­
gen. (Siehe „Die Antiquiertheit von Raum und Zeit“ , in diesem Band S.
335 ff.) Die Tatsache, daß es etwas gab, was nicht „für etwas“ da war, die
fand er nicht nur unerträglich, sondern unmoralisch. Sie schien ihm Ver­
schwendung.
5. Auch ich bewundere die Kraft und Tapferkeit, mit der Frankl das Grauen
der Konzentrationslagerjahre durchgehalten hat. Aber das kann nicht be­
deuten, daß wir die aus den Erfahrungen gezogenen theoretischen Konse­
quenzen für tabu halten dürfen oder gar müssen.
6. Brot und Sinn stehen für uns alleine dann im Vordergrunde, wenn sie nicht
da sind. Diesem höchst wichtigen „Prim at des N egativen “ für das Bewußt­
sein können wir hier nicht nachgehen. Sinn ist „sinnvoll“ und erlebbar
allein in seiner Negation. Der Satte ist sich seines Nicht-Hunger-habens
nicht so bewußt, wie der Hungrige sich seines Hungers bewußt ist. Sattsein
nagt nicht. Analog: der glückliche Mensch ist sich seines „Sinns“ nicht so
bewußt, wie der Unglückliche sich seiner Sinnleere bewußt ist. Unsere
Großmütter, denen eine Handvoll von Kindern an den Rocksäumen hin­
gen, hatten nicht nur keine Zeit dafür, nach dem Sinn ihres Lebens zu
suchen, sie wären auch gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß es einen
solchen haben sollte. Hunger und Krankheit fürchteten sie, aber nicht Sinn­
leere. Die ist Luxus.
7. Alle diese Hobbies bleiben grundsätzlich - das ist ihre raison d’etre - hinter
dem technologischen Stand der heute üblichen Arbeit zurück, sie sind ge­
wissermaßen absichtlich rustikal. Denn bei der Ausübung der Hobbies
sollen wir ja - das ist deren Sinn - dasjenige genießen dürfen, was uns in der
„seriösen“ , der wirklichen, Tagesarbeit mißgönnt bleibt: nämlich das Eidos
unseres Tuns vor uns zu sehen und zu verwirklichen.
8. Siehe meine Analyse des Fernsehens im 1. Band, S. 97ff.
9. Siehe in diesem Band S. 131. - Zuerst veröffentlicht in Merkur, März 1963.
10. Auch die freilich wähnen nur, das spontan zu tun, denn ohne mafiahafte
Organisationen, die ihnen Mittel zuspielen und die sie manipulieren, gäbe
es auch die dritte Gruppe nicht.
1 1. Unter diesem Gefühl, das ein wichtiges Kapitel in der (von mir vor 25 Jah­
ren vergebens als Desiderat angemeldeten) „Geschichte der G efühle“ zu
spielen hätte (siehe Band 1, S. 3 i i ff.), haben nicht etwa nur kleine lar­
moyante Romantiker gelitten, sondern Männer von der Größe und Ver­
schiedenheit wie Byron und Heine (von Schopenhauer zu schweigen).
Keine Frage: dieser Affekt stellte die erste Manifestierung des Gegengefühls
gegen die damals in Philosophie, Naturwissenschaft und Technik aufblü­
hende Progreß-Euphorie dar.
12. Aus dem Dresdener Revolutionär Wagner wurde der Komponist des Tri­
stan, dieser hatte seine politische Indignation in Sehnsucht verwandelt, und
zwar in eine grundsätzlich unerfüllbare, die (eben da sie unerfüllbar blieb)
so ungeheuer anschwoll, daß sie die Sehnsucht der ganzen Welt darzustellen
schien. Und dieser ungeheueren, unerfüllbaren Sehnsucht gewann er (da sie
eben nur Lust auf ... also endlos, und nicht Lust an .. . also zeitlich limitiert
war) so unendliche Süße ab, daß selbst wir, die total desillusionierten und
den Mechanismus der Falschmünzerei längst schon durchschauenden Urur-
enkel noch heute, 125 Jahre später, gegen sie nicht gefeit sind.
13. Auch sie verleihen ihrer Qual musikalischen Ausdruck. Denn in der Rock­
musik (auch früher schon im Jazz) imitieren sie ja den tosenden Lärm und
den gegen den Humanrhythmus verstoßenden synkopischen Ding­
rhythmus der Maschinen, um sich orgiastisch mit diesem zu identifizieren.
14. Schon im Jahre 1959 habe ich dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly von
der ihm in einem Veterans Hospital aufgezwungenen Einnahme von Che­
mikalien gegen seine politischen und moralischen Skrupel abgeraten. - Was
dem Kranken befohlen wird, das wird dem Gesunden erlaubt. Aber im
Zeitalter des „Sanften Terrors“ ist solches Erlauben immer schon eine Art
von Nahelegen (siehe des Verfassers „O ff limits für das Gewissen“ , 1960
passim).
1 5. Zusätzlicher Grund dafür, daß sie statt vom Dasein der Leiden vom Dasein
als Leiden ausgehen, ist die Tatsache, daß sie in der Mehrzahl der Bourgeoi­
sie entstammen, für die physische Leiden keine vordergründige Rolle spielt,
bei der weder der Magen noch der Sex verhungert. Wo bei ihnen physisches
Leiden auftritt, ist dieses vielmehr immer die Folge der Sinnleere-Krank­
heit: der Wozu-Frage entfliehend, greifen sie zu Drogen, durch die sie dann
verkommen oder wirklich umkommen. Die heutigen Lumpenproletarier,
wie man sie etwa in New Yorker oder Berliner U-Bahnhöfen beobachten
kann, entstammen so wenig dem Proletariat wie die Terroristen. Man sollte
den Terminus „Lumpenbourgeoisie” einführen.
16. Diese bleibt übrigens, trotz ihrer (in der Weltgeschichte erstmaligen) tota­
len De-Tabuisierung, aufs sonderbarste unpersönlich und liebefern. Die
Partner sind austauschbar wie Pillen, was in Suchanzeigen nach anderen
Paaren mit trockener Offenheit zugegeben wird. - Aber da kein Orgas­
mus so lange anhält wie ein Drogentrip, kann kein Partner mit Drogen
konkurrieren.
17. Jawohl: trivial. Denn die Sektengründer sind durchweg Viertelgebildete, die
Mystik ist zu einem Mittelstandsphänomen heruntergekommen, und die
Anhänger der Sekten sind, nicht obwohl, sondern weil sie Sektenblättchen
lesen, Analphabeten.
18. Ehe ich in meine eigentlichen Überlegungen einsteige, schicke ich etwas
Grundsätzliches über den Sinn des Wortes „Sinn“ voraus. Man macht es
sich nämlich gewöhnlich nicht klar, daß das Wort in zwei verschiedenen
Bedeutungen verwendet wird, daß die zwei Bedeutungen aber nicht vonein­
ander unterschieden werden, und man sich dadurch in den unauflösbarsten
Unsinn verstrickt. Die Klärung des Begriffs hat eine weit mehr als linguisti­
sche Bedeutung. - 1. Man spricht davon, daß Etwas (a), z.B. ein Teil, einen
Sinn habe für ein Anderes (A), z.B. ein Ganzes. Und 2. daß ein Etwas (A),
z.B. ein Ganzes, der Sinn eines anderen Etwas (a), z.B. eines Teiles, sei.
Offensichtlich sind die zwei Verwendungen des einen Wortes verschieden.
Genauer: sie stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander. Damit
meine ich, daß wenn ein Etwas (a) für ein anderes Etwas (A) einen Sinn hat,
dies A der Sinn von a ist. Beispiel: eine Taste hat einen Sinn für das Klavier
(und wäre ohne dieses ein sinnloser Gegenstand, ein kafkaeskes Odradek).
Das Klavier ist deren Sinn. Der Teil hat Sinn fürs Ganze; dieses ist dessen
Sinn.
19. Nur Hegel hat, Kontingentes apriorisierend, die tollkühne Frage nach dem
Sinn der ägyptischen oder der römischen Zivilisation gestellt, das heißt:
nach der Rolle, die diese Zivilisation in der zur Entwicklung des Weltgeistes
hochgejubelten Menschengeschichte gespielt haben. Und sogar geglaubt,
diese Fragen beantwortet zu haben.
20. Heidegger, der als letzter nach dem Sinn des Menschen gefragt hat - denn er
hat ja diesem die ontologisch abenteuerlich unbescheidene Rolle eines
„H irten des Seins“ zugesprochen, ist auch noch ein Enkel des alttestamen­
tarischen Anthropozentrismus. - Seine These, ein Jahrhundert nach dem
„Origin of Species“ , stellt die äußerste Spitze von Antinaturalismus dar, die
es in der nicht-religiösen Philosophie von heute gibt. Offenbar gehört der
Mensch, wenn er ontologischer „Hirt“ ist, nicht zur Herde des Seienden,
das heißt: nicht zur Natur. Das ist freilich nur harmlos und metaphysisch
komisch. Gefährlich dagegen und furchtbar ist die letztlich ebenfalls auf
Genesis I beruhende „Metaphysik des Industrialismus", die dem Menschen
den „Sinn“ zuerteilt, „Ausbeuter des Seienden “ zu sein und den Sinn des
Seienden darin sieht, Rohstoff fü r den Menschen zu sein.
2 1. Die unsichere, oft plötzlich ins Dilettantisch-Theologische umkippende Re­
aktion mancher Naturwissenschaftler auf die durch die Quantentheorie
verursachte „Kausalitätskrise“ können wir hier nur erwähnen.
22. Die Tatsache, daß wir heute radikal sowohl das Allerallgemeinste auf seinen
Sinn hin befragen (mit Schelling und Heidegger: „Warum ist Seiendes und
nicht vielmehr nichts?” ), als auch das Allerpartikularste („Wozu bin ich
eigentlich da?“ ), macht es deutlich, daß wir beides, und damit alles, als
kontingent, mithin als negativ, empfinden: als Tatsachen, die der Rechtferti­
gung bedürfen, ebenso bedürfen, wie in den Augen Leibnizens oder Voltai­
res Naturkatastrophen einer Rechtfertigung bedurft hatten. - Die klassi­
schen Antworten (Plotins) sowohl wie die modernen (Leibnizens) sind
beide auf die niemals ganz redlich klingende Beteuerung hinausgelaufen,
daß keine Welt, die nicht auch Schlechtes enthielte, Bestand haben würde,
daß das Böse die Hefe sei, ohne die der Teig nichts tauge; daß es stets, mit
Goethes Faust, „das Gute tue“ ; daß die Böses enthaltende Welt die beste
aller möglichen Welten sei; schließlich daß die Freiheit zum Bösen der Preis
für die (positive) Freiheit des Menschen sei. Ohne diese Antworttradition
hätte es niemals zu Hegels „Sinn“ und „Negativität“ so eigentümlich ver­
einigendem Optimismus kommen können. Seine Philosophie ist die Krö­
nung einer Tradition der Unredlichkeit gewesen.
2 3. Tun wir das nicht, dann läuft der Gedanke so: Wenn es etwas Letztes gäbe,
in dem ein Vorletztes seinen „Sinn“ sähe, dann dürfte von diesem Letzten
nicht mehr ausgesagt werden, daß es einen Sinn „habe“ , da es ja Sinn nur
„wäre“ - was immer die tiefsinnig klingende Floskel „Sinn sein“ bedeuten
möge. Tatsächlich hat niemand außer Hegel nach dem „Sinn des Ganzen“
gefragt oder gar wie dieser die Tollkühnheit oder die metaphysische Naivi­
tät besessen, die Frage angeblich zu beantworten. Aber dessen Antwort
„Die Selbstverwirklichung des Geistes“ ist gegen die Iterationsfrage natür­
lich auch nicht gefeit. Die Frage, welchen Sinn diese Selbstverwirklichung
denn haben solle, und für was, ist ebenso berechtigt, wie sie unbeantwort­
bar ist. Gott gegenüber hat man die Frage, welchen „Sinn“ er habe, niemals
gestellt. Eben deshalb niemals, weil es nichts Höheres mehr gäbe, fü r das er
Sinn haben könnte. (Was nicht verhindert hat, daß es zahllose Drugstore­
Bücher mit dem schamlosen Titel „The meaning of God“ gibt.)

Die Antiquiertheit der Bosheit

1. Siehe in diesem Band „Die Antiquiertheit der Maschinen“ , S. 110.


2. Mir ist übrigens keine einzige, über feierliche Trivialitäten hinausgehende,
Stellungnahme religiöser Organisationen bekannt. Nicht anders als das so­
ziale Problem werden sie auch das Problem Technik ein Jahrhundert zu
spät „entdecken“ , um dann nichtsdestotrotz darüber ex cathedra zu predi­
gen. Das Problem des Überlebens ist zu ernst, als daß man es den Speziali­
sten für Ewiges Leben überlassen dürfte.
3. Ober die Erschaffung von Neuem durch den Menschen siehe S. 22.
4. Siehe des Verfassers „Endzeit und Zeitenende“ , Motto.
5. Siehe des Verfassers „Schrift an der Wand“ , S. 272.
6. Vergil, Aeneis III 604.
7. „Endzeit und Zeitenende“ , S. 2ioff.
1. Das gilt auch schon - aber darauf können wir hier nicht eingehen - natur­
philosophisch. In der Tat ist es unmöglich, die Welt (wie wir es im Unter­
schied zu den Griechen tun) als zwar unendliche, aber doch als eine, gar als
ein System zu denken. Ebenso unmöglich ist es, die Welt (wie wir es seit
Hegel tun) als Prozeß, und trotzdem als Ganzes, gar als wohlgeordnetes
Ganzes, also als „Kosmos“ zu meinen. - Ganz abgesehen davon, daß dieser
Prozeß - das ist unbeurteilbar - vielleicht ein Desintegrationsprozeß sein
könnte; was bedeuten würde, daß wir dem „Ganzen“ nicht mehr den glei­
chen „Seinsgrad“ zusprechen dürften wie den particularia, in die das
„ Ganze“ vielleicht zerfällt; und daß die Einzelwissenschaften „wahrer“
wären als die Philosophie.
2. Neben dieser Messianisierung von Preußen war Heideggers Ja zum NS-
Regime ein ephemerer Opportunismus.
3. Wenn man der Genealogie des Systems nachgehen würde, dann würde man
wohl auf einen politischen Ursprung stoßen. (I' Das erste System war ver­
mutlich der in sich geschlossene, hierarchisch geordnete, gesetzmäßig funk­
tionierende Stadtstaat. Angesichts dieses wurde die Kategorie wohl gestif­
tet. (II) Aber aus der Politik sprang der Begriff nicht direkt in die Philo­
sophie über, da es diese als Tätigkeit, geschweige denn als „Fach“ sui gene­
ris erst spät, und durchaus nicht überall, gegeben hat. Vielmehr diente das
Bild des Staats erst einmal als Paradigma für das Planetensystem; in diesem
endlichen System - ich betone: „endlich“ , ein System des Unendlichen ist
eine contradictio in adjecto - stellte man Ganzheit, Gesetz und Harmonie
fest. Daß selbst wir noch von „N atur-G esetzen“ sprechen, so als gäbe es in
der Natur etwas Herrschendes, und ein Verhältnis von Befehl und Gehor­
sam, ist kein Zufall. Gleichviel, zum System von Doktrinen kam es allein
deshalb, weil deren Gegenstand: der Himmel mit dessen Zentrum „Sonne“ ,
als „System“ verstanden, oder, wie man glaubte: erkannt war. Dann (III)
reichte die Astronomie (bzw. Astrologie) den Begriff an die Philosophie
weiter, sofern man von „Weiterreichen“ reden darf oder zu reden braucht,
da es unmöglich ist, eine Grenzlinie zwischen Astronomie und philosophi­
scher Kosmologie zu ziehen. Jedenfalls stiftete die Kosmologie das Modell
des endlichen, geordneten, in sich stimmigen Kosmos. Die Abbildung dieses
Modells ist das, was wir auch heute noch ein „philosophisches System“
nennen. Sonderbarerweise hat sich diese Form von Philosophie - und damit
machen wir einen weiteren Schritt (IV) - auch dann noch erhalten, als der
politische und der astronomische Ursprung der Philosophie bereits unwirk­
sam geworden war. Und sonderbarerweise auch dann noch, als das Univer­
sum ausdrücklich nicht mehr als endlich, sondern als unendlich, also nicht
mehr als „Kosmos“ , sondern eben als „Universum“ gemeint war. Wenn
sich aber das Modell „System“ trotz äußerster Veränderungen der philoso­
phischen Inhalte im Abendland erhalten hat, so deshalb (V), weil „Welt“ in
der jüdisch-christlichen Überlieferung nicht nur als harmonisches Endli­
ches, sondern als geplante Schöpfung, und die Geschichte nicht als Zyklos,
geschweige denn als waberndes Sich-verändern verstanden wurde. „S y­
stem“ waren Welt und Geschichte nun also deshalb, weil diese von Gott
geplant waren und sogar - was ja dem Begriff sehr entgegenkam - als ein
zeitlich begrenztes Geschehen. Und wenn Philosophien „systematisch“
blieben, so deshalb, weil die Philosophen Gottes Planung „nach-dachten“ -
dieses Wortspiel kommt bei Hegel bekanntlich vor. Ob freilich das System
im Planen und Verwirklichen der Welt (also in etwas „Geistigem“ ) oder in
der geplanten und verwirklichten Welt bestand, das blieb zweideutig, da ja
nichts als so seiend anerkannt wurde, wie der Planer, also Gott. - Bis sich
(VI) der Gottesbegriff zum bloßen „Prinzip“ verdünnte, von dem, wie
gesagt, nicht mehr ausgemacht werden konnte, ob es ein Prinzip des Seien­
den darstellte oder ein Prinzip (oder Prinzipien) des Geistes - diese, von der
Theologie geerbte Zweideutigkeit ist von Hegel noch einmal ausdrücklich
durch die Identifizierung von Geist und Wirklichkeit besiegelt worden.
Aber der Systemgedanke hielt sich auch dann noch, als der Hegelsche
Geistbegriff zugrundegegangen war. Denn nun (VII) wurde die Welt als
kolossales Abbild der von Menschen entworfenen, konstruierten und kon­
trollierten Systeme, der wirklich optimal geschlossenen Systeme, in denen
jedes Systemstück jedes andere mitbedingt und von jedem anderen mitbe­
dingt wird: der Maschinen. Daß die Welt als geschlossenes Kausalitätssy­
stem trotz ihrer Unendlichkeit galt, ist höchst merkwürdig. - Bis (VIII) der
Anspruch der Kausalität auf Allgemeingültigkeit in eine Krise geriet. Ob
auch nach dieser Krise der Systemgedanke noch aufrechterhalten werden
kann, oder ob dieser durch diese Krise sein endgültiges Ende erreicht hat,
das zu beurteilen, entzieht sich meiner Kompetenz.
4. Welch tiefe Kluft zwischen der vorigen Generation und der unseren! Mein
Vater hatte noch das unselige Wort „Psychotechnik“ geprägt, wenn er auch
nicht wie seine Kollegen damit prahlte, entdeckt zu haben, daß die Seele
technisch bearbeitet werden könne. Wir dagegen meinen, wenn wir von
„Technikpsychologie“ sprechen, die Untersuchung und die Kritik des Ein­
flusses, den die bestehende Technik auf den Menschen ausübt.
5. Das gilt selbst von den zwei angeblich total abstrakten Wissenschaften der
formalen Logik und der Arithmetik. Die formale Logik setzt nicht nur
voraus, daß es soetwas gebe wie Denken, sondern auch, daß es etwas gebe,
von dem etwas ausgesagt werden kann. In einem - sit venia verbo - „akos-
mischen Raum“ wäre es nicht nur nicht möglich, sondern nicht sinnvoll, ein
Urteil zu fällen. Was aber Arithmetik betrifft, so setzt diese eine pluralisti-
sehe Welt voraus, eine, zu deren Wesen es gehört, daß sie in Mehreres, d. h.:
Abzählbares zerfällt. Logik enthält unausgesprochene Ontologie. - In einer
eleatischen Seinskugel gäbe es keine Arithmetik. Zu behaupten, daß die
„noemata“ der Arithmetik ohne jede, diese meinende, noesis „dawären“ ,
und ihre Sätze, auch wenn sie niemals gedacht werden könnten, „gelten“
würden, ist ein Nonsens, dem der frühe Husserl häufig sehr nahe gekom­
men ist.
6. Die einzige rühmliche Ausnahme war die Berufung 1959 an die Berliner
„Freie Universität“ , die ich nicht angenommen habe.
7. Eine solche These gab es in Molussien, wo es sowohl bedeutete, „daß das
Seiende sich zusammennehme“ , wie auch, daß es „sich schäme“ .
8. Daß gegen diese Ausdruckslosigkeit, die offenbar als frustrierende Insuf­
fizienz empfunden wird, Protest laut wird, ist wahrhaftig begreiflich. Schon
vor der Jahrhundertwende hat, wie ich in einer umfangreichen Studie im
Jahre 1951 nachgewiesen habe, der Jugendstil einen solchen Protest gegen
die Ausdruckslosigkeit der Welt dargestellt und sich verzweifelt darum
bemüht, die ausdruckslosen Objekte in reine Ausdrucksträger zu verwan­
deln. Die unbegreiflicherweise oft „unbegreiflich“ genannte Renaissance
dieses Stils, die etwa um 1950 einsetzte, entsprang der gleichen Frustration.
9. Auch diese Tatsache ist von den Künsten „positiviert“ und zum Gegen­
stande ihrer Produktion gemacht worden. Seit etwa 1960 gibt es bildende
Künstler, die nicht nur Gegenstandsloses darstellen, sondern die sogar be­
wandtnislose Gegenstände herstellen: namentlich bewandtnislose Maschi­
nen konstruieren, die, da ihnen genau so wenig anzusehen ist, wozu sie
dasind, wie richtigen Maschinen, genau so wie diese aussehen; aber nun
nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich ohne jede Bewandtnis funktionie­
ren. Diese irrsinnigen Maschinen (wie Kunstwerke, nein: als Kunstwerke in
Galerien ausgestellt) symbolisieren die Unerkennbarkeit der wirklichen Ma­
schinen. Und dadurch sagen sie tatsächlich etwas Wesentliches über unsere
heutige Welt aus. - Analoges gibt es seit einem Vierteljahrhundert auch in
der Musik.
10. Es gibt einige Ausnahmen. So sieht, wer etwas Phantasie besitzt, den Autos
an, daß diese ihre Fahrer in (im Vergleich mit Buspassagieren) skrupellose,
wettrennsüchtige Wesen verwandeln, in Wesen, die für den Appell zur
Solidarität taub werden werden. Es gibt wohl kein Ding, das der Arbeiter­
bewegung einen so unrevidierbaren Schaden zugefügt hat wie das Auto.
1 i . Die einzige Ausnahme bildet die sogar schon in die Welt der cartoons
eingedrungene Beschäftigung mit der Gen-Manipulation.
12. Siehe S. 3 35ff.
13. Siehe Bd. 1, S. i88ff.
14. Siehe des Verfassers „D er Blick vom Mond“ S. 82 ff.
15. Siehe in diesem Band „Der sanfte Terror“ , S. 131.
G ü n th er A n d ers
G e s a m m e l t e S c h r if t e n in E in z e l b ä n d e n
im V e r la g C . H . B e c k

D ie m o lu s s is c h e K a ta k o m b e
Roman

H i r o s h i m a is t ü b e r a ll
D er Mann auf der Brücke (Tagebuch aus H iroshim a und Nagasaki,
1958). O ff limits für das Gewissen (Der Briefwechsel zwischen
dem H iroshim a-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders,
1959-1961 ). D ie T oten (Rede über die drei W eltkriege, 1964)

D i e a to m a r e D r o h u n g

B e s u c h im H a d e s
A uschw itz und Breslau 1966 /N a c h ,H olocaust‘ 1979

W ir E i c h m a n n s ö h n e
Offener Brief an Klaus Eichmann

M e n s c h o h n e W e lt
Schriften zur Kunst und Literatur

K e t z e r e ie n

D e r B li c k v o m T u r m
Fabeln. M it 12 A bbildungen von A. Paul Weber

T a g e b ü c h e r u n d G e d ic h te

L ie b e n g e s t e r n
N o tizen zur Geschichte des Fühlens

Über Günther Anders:


Konrad Paul Liessmann (Hrsg.)
G ü n th e r A n d e r s k o n tr o v e r s '
D e r erste B a n d des H a u p tw e r k e s v o n G ü n th er A n d e rs
im V erlag C. H . B eck

D ie A n tiq u ie r th e it d es M e n s c h e n
E rster B a n d
Ü b e r d ie Seele im Z eita lter der z w e ite n
in d u strie lle n R e v o lu tio n
7. Auflage. 1987. IX, 3 Seiten.
Paperback (Beck’sche Reihe 3 19 ) und Leinen

„D iese W elt analysieren bedeutet, moderne Situationsanalyse be­


treiben. Günther Anders betrachtet sie aber nicht um ihrer selbst
willen; ihn interessiert etwas anderes: die Metamorphosen, die die
menschliche Seele, der menschliche Habitus im Zeitalter der z w ei­
ten industriellen R evolution inmitten jener technischen W elt und
unter ihrer überwältigenden Prägekraft hat durchmachen müssen.
Erweisen sich diese Metamorphosen als eine fortschreitende D e-
humanisierung, als eine erregende und erschreckende Verwüstung
des M enschen, so wird die Situationsanalyse notw endig zur Situa­
tionskritik, also zur Kritik der T echnik.“
Frankfurter Allgem eine Zeitung

„Ein aufregender, ja aufreizender Titel, dem der Inhalt nicht das


geringste nachgibt. In der Radikalität seiner Fragen und Antworten
steht dieses Buch innerhalb der gegenwärtigen Kulturkritik allein
auf weiter Flur . . .
Der fundamentale Unterschied zwischen dem M aschinensturm­
Problem unserer heutigen industriellen Revolution und der vorigen
besteht darin, daß es sich dieses Mal keineswegs um eine Debatte
zwischen den Vertretern zweier verschiedener Produktionsstufen
handelt. Wer heute durch die Maschinen gefährdet ist, ist nicht der
Handwerker (den gibt es im klassischen Sinne kaum mehr), auch
nicht der Fabrikarbeiter, dessen Entfremdung seit einem Jahrhun­
dert gesehen wird, sondern jedermann, weil jedermann effektiv
Konsument, Verwender und virtuelles O pfer der Maschinen und
ihrer Produkte ist. D ie materiellen Voraussetzungen für die M eta­
morphosen der Seelen hat die zw eite industrielle R evolution der
Seele längst bereitgestellt . . . " M erkur
Paul]. Crutzen/Michael Müller (Hrsg.)
D a s E n d e d e s b la u en P la n eten
Der Klimakollaps: Gefahren und Auswege
3. Auflage. 1991. 271 Seiten, 21 Abbildungen, 9 Tabellen.
Paperback
Beck’sche Reihe Band 385

Jo sef H erkendelll Eckehard Koch


B o d e n z e r stö r u n g in d en T r o p en
1991. 184 Seiten, 19 Abbildungen und 15 Tabellen.
Paperback
Beck’sche Reihe Band 436

Vittorio Hösle
P h ilo so p h ie der ö k o lo g is c h e n K rise
Moskauer Vorträge
1991. 1p Seiten. Paperback
Beck’sche Reihe Band 432

Peter]. Opitz (Hrsg.)


D a s W e ltflü c h tlin g sp r o b le m
Ursachen und Folgen
1988. 238 Seiten. Paperback
Beck’sche Reihe Band 367

Manfred Wöhlcke
U m w e ltz e r s tö r u n g in der D r itte n W elt
1987. 12 3 Seiten. Paperback
Beck’sche Reihe Band 33 1

Peter]. Opitz (Hrsg.)


G ru n d p r o b le m e d er E n tw ick lu n g slä n d e r
I99I- 336 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Tabellen
Paperback
Beck’sche Reihe Band 45 1

V e r la g C . H . B e c k M ü n c h e n
„Dieses Buch von Inders ist, so meine ich,
eines der wichtigsten in diesen Jahren,
unerläßlich für jeden, der wissen wil, in
welcher Welt wir leben, und der in dieser
Welt über seinen Privatbereich hinaus mit-
wirken,ja verändernd wirken will. Aktionen
und Progr^^me, die nicht durch das Fege­
feuer der Anders’schen Beobachtung gegan­
gen sind, dürften sich vor dem Be^ginen
schon als überholt erweisen. Philosophie,
die von dieser Philosophie sich nicht
berühren läßt, dürfte sich als Luxus
erweisen.“ Helmut GoUwiteer

ISBN 3- 406- 31784-7

16.80

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