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Die Antiquiertheit
des Menschen 2
Über die Zerstörung des Lebens
im Zeitalter
der dritten industriellen Revolution
beckfejhe
GÜ N TH ER ANDERS
Die Antiquiertheit
des Menschen
Band, I I
Ü b e r d ie Z e r s t ö r u n g
des L eb en s
im Z e it a lte r
d e r d r it te n in d u s t r ie lle n
R e v o lu t io n
V E R L A G C .H .B E C K M Ü N C H E N
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Anders, Günther:
Die Antiquiertheit des Menschen / Günther Anders. -
München : Beck
Bd. 2. Anders, Cünther: Über die Zerstörung des Lebens im
Zeitalter der dritten industriellen Revolution. - 4., unveränd,
Aufl., Nachdr. - 1992
(Beck’sche Reihe ; Bd. 320)
ISBN 3 406 31784 7
NE: 2. GT
IS B N 3 406 31784 7
Vorwort ......................................................................... 9
Einleitung. Die drei industriellen Revolutionen . . 15
Die Antiquiertheit . . .
des Aussehens ..................................................... 34
des M aterialism us.................................................. 37
der Produkte ........................................................ 38
der Menschenwelt ............................................... 58
der M a s s e ............................................................... 79
der A r b e i t ............................................................... 9 1
der Maschinen ..................................................... 110
der philosophischen A n th ro p o lo g ie .................1 28
des Individuums ..................................................13 1
der Ideologien .................... ................................ 188
des K o n fo rm ism u s.............................................. 193
der Grenze ............................................................208
der P riv a th e it........................................................ 210
des S te rb e n s............................................................247
der Wirklichkeit ..................................................248
der F r e i h e it ............................................................2 59
der Geschichte . .................................................. 271
der Phantasie ......................................................... 3 1 6
der „Richtigen“ . .................................................. 334
von Raum und Z e i t ...............................................33 5
des Ernstes ............................................................3 5 5
des „Sinnes“ .........................................................362
der Verwendung ..................................................391
des Nichtkönnens ...............................................394
der Bosheit ............................................................396
Ich sage: dieser Band ist eine Philosophie der Technik. Das klingt
vielleicht so, als zeigte ich ein System an. Davon kann, wenn man unter
„System“ einen Rahmen versteht, in dem man nachträglich diejenigen
empirischen Fakten unterbringt, die mehr oder minder glatt in ihn
hineinpassen, keine Rede sein. Die empirischen Tatsachen sind stets
Ausgangspunkt gewesen. Von jedem der im Folgenden entwickelten
Gedankengänge gilt das, was ich schon von denen des ersten Bandes
gesagt hatte: daß sie „Gelegenheitsphilosophie“ seien; daß ich also stets
von bestimmten Erfahrungen ausgegangen bin - sei es von der Erfah
rung der Arbeit am laufenden Band, sei es von der in Automationsbe
trieben, sei es von denen auf Sportplätzen. In der Tat ist dieser, aller
Konstruktion abholde „plein air“ -Charakter meines Theoretisierens
dessen Charakteristikum, von dem ich wohl hoffen darf, daß es die
Vernachlässigung einschlägiger Literatur aufwiegen könne.
Aber trotz des, wenn man will: impressionistischen Charakters die
ser Untersuchungen, trotz der Tatsache, daß ich keinen Augenblick
lang etwas zu erfinden versucht habe, vielmehr immer nur auf
„Funde“ aus war, und daß ich keiner meiner Einzelbeobachtungen
oder -thesen ein ausgearbeitetes Konstruktionsschema (also ein
Schema von Vorurteilen) untergelegt habe, - daß meine Untersuchun
gen unsystematische seien, würde ich trotzdem nicht behaupten. Ihr
durchgängiger Zusammenhang war freilich nicht geplant, er ist viel
mehr eine „Systematik apres coup“ . Wenn, wie ich behaupte, keine
einzige der hier vorgetragenen Thesen auch nur einer einzigen der
vielen anderen widerspricht, nein, sogar jede jede andere stützt, so ist
das nicht deshalb der Fall, weil ich eine „prästabilisierte Harmonie“
vorweggenommen, also die Thesen von vornherein aufeinander abge
stimmt hätte. Umgekehrt ist mir diese Harmonie erst nachträglich
bewußt geworden, nämlich bei der für die Publikation nötigen noch
maligen Durchsicht der zum Teil vor Jahrzehnten und in großen A b
ständen verfaßten Texte. Die Systematik ist für mich selbst eine (nicht
unerfreuliche) Überraschung gewesen, und nur eine solche, apres coup
entdeckte, scheint mir rechtmäßig zu sein. Das gilt nicht nur von den
in den zwei Bänden der „Antiquiertheit“ präsentierten Thesen, son
dern von denen in allen meinen Büchern, da diese durchwegs nur
Paraphrasierungen des Hauptwerkes sind. Vermutlich wäre es ein
leichtes, aus den Thesen dieser Bücher ein „System“ im konventionel
len Sinne zu konstruieren,4 aber das betrachte ich nicht als meine
Aufgabe, da ich nicht einzusehen vermag, warum Wahrheiten dadurch
„wahrer“ werden sollten, daß sie in Form eines „Gebäudes“ präsen
tiert werden. Nichtwidersprüchlichkeit genügt durchaus.
Man wird mich fragen, warum ich diesen zweiten Band dem ersten
erst heute, nach beinahe einem Vierteljahrhundert, folgen lasse. Diese
Frage ist um so berechtigter, als viele der hier vereinigten Essays schon
vor 1960, manche sogar schon gedruckt, vorgelegen haben, ich also
einen Nachfolgeband längst schon hätte herausbringen können.
Was hatte mich dazu veranlaßt, mein Hauptthema: die Zerstörung
der Humanität und die mögliche physische Selbstauslöschung der
Menschheit, im Stich zu lassen, meine umfangreichen Konvolute fort
zuschieben, nein: deren Existenz geradezu zu vergessen? Welche ange
nehmeren Themen hatten mich zur Desertion verführt?
Die Antwort darauf lautet: Ich hatte das Hauptthema (obwohl ich
der Versuchung, dieses zu verdrängen, oft nur schwer widerstehen
konnte) nicht verdrängt, ich hatte keinem anderen Thema den Vortritt
gelassen, ich war nicht desertiert.
Wenn mich etwas zum philosophischen Verstummen gebracht hat,
so die Einsicht und das Gefühl, daß vis-a-vis der Gefahr des wirklichen
Unterganges der Menschheit nicht allein die Beschäftigung mit deren
„bloßer Dehumanisierung“ ein Luxus war, sondern daß selbst die
ausschließliche Beschäftigung mit der Gefahr eines effektiven Unter
gangs, sofern sie sich auf eine nur philosophisch-theoretische be
schränkte, wertlos blieb. Vielmehr empfand ich es als unabweisbar,
soweit das in meiner Macht stand, wirklich teilzunehmen an dem von
Tausenden geführten Kampf gegen die Bedrohung. Wenn ich meinen
ersten Band im Stich gelassen habe, so also deshalb, weil ich nicht
gewillt war, die in diesem vertretene Sache im Stich zu lassen.
Ein moralisch ebenso dürftiger wie spekulativ großartiger, unterdes
sen weltberühmt gewordener Philosoph hat mich vor mehr als fünfzig
Jahren mit dem ihm eigenen Genuß am Verachten davor gewarnt, „je
in die Praxis zu desertieren“ . Das Wort habe ich nicht vergessen kön
nen, schon damals empfand ich diese moralisierende Warnung vor der
Moral als tief unredlich. Gleichviel: Genau das habe ich getan. Und
warum, das bedarf wohl, da sich, wie man munkelt, „das Moralische
von selbst versteht“ , keiner Rechtfertigung.
Nun, während dieses, vor allem der Praxis gewidmeten Lebensab
schnittes sind nun freilich auch Schriften entstanden, und durchaus
nicht untheoretische, die aufs allerengste mit den Überlegungen des
ersten Bandes zusammenhängend Da ich aber mit diesen Schriften
sofortige und weiteste Alarmwirkung zu erzielen hoffte, wäre es un
sinnig gewesen, ihre Veröffentlichung jahrelang aufzuschieben, um sie
dann einmal später als Teile in den zweiten Band der „Antiquiertheit
des Menschen“ zu integrieren. Verspätete Warnungen sind albern.
Dazu kam, daß sich die Warnschriften eines Stils bedienten, der nicht
nur für Berufsphilosophen gemeint war und der in ein rein philosophi
sches Buch nicht hineingepaßt hätte.
Aber auch nachdem ich das, was ich zur Atomgefahr melden zu
können glaubte, gemeldet hatte, blieb mir die sofortige „H eim kehr“ in
die Philosophie verwehrt. Zum zweitenmal wurde ich „abgelenkt“
(wenn man vom Ruf der Pflicht sagen kann, daß er ablenke).• Denn in
den sechziger Jahren erreichte mich eine andere Aufforderung, eine,
die ebenfalls mit den Hauptsorgen der „Antiquiertheit des Menschen“
zu tun hatte: nämlich die Aufforderung, am Kampf gegen den Geno
zid in Vietnam, der ja als maschinell betriebener ein schauerliches
Exempel für meine maschinen-philosophischen Thesen war, teilzu
nehmen. Freilich kann man auch hier keine genaue Grenzlinie zwi
schen Theorie und Praxis ziehen; auch aus dieser Aktivität ist nämlich
ein Buch abgefallen, das ein Stück „Kritik der Technik“ darstellte.•
nämlich von dem Idiom handelte, das die mörderische Technokratie
Desertion in die Praxis
Juni J979 G .A .
E IN L E IT U N G
D IE D R E I I N D U S T R I E L L E N
R E V O L U T IO N E N
1979
§*
Im Jahre 1956 habe ich dem ersten Bande den Untertitel „O ber die
Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution” mitgegeben.
Das war damals bereits eine Untertreibung gewesen. Denn wenn man,
statt (was ebenso seicht wie üblich ist) das Kriterium für die Unter
scheidung der Revolutionen in die Verschiedenheit der Energiequellen
(Wasser, Dampf etc.) zu verlegen, diese philosophisch definiert, dann
ist die folgende Zählung geboten: Von einer wirklichen „industriellen
Revolution“ , also von der ersten, kann erst in demjenigen Augenblick
gesprochen werden, in dem man damit begann, das Prinzip des Ma
schinellen zu iterieren, das heißt: Maschinen, oder mindestens Ma
schinenteile, maschinell herzustellen. Seit diesem Moment, dessen Da
tierung nicht von Belang ist, hat sich diese Iteration rapide potenziert.
Denn nun ist die Herstellung von Maschinen durch Maschinen kein
Ausnahmevorkommnis mehr, sondern die Regel.1 Der Mechanismus
unseres Industriekosmos besteht nun aus der (durch Produkte, und
zwar Produktionsmittel, bewerkstelligten) Herstellung von Produk
ten, die ihrerseits als Produktionsmittel auf Herstellung von Produk
ten abzielen, die ihrerseits . . . u. s. f. - bis eine jeweils letzte Maschine
Finalprodukte auswirft, die keine Produktionsmittel mehr sind, son
dern Konsummittel, das heißt: solche, die durch ihr Gebrauchtwerden
verbraucht werden sollen, wie Brote oder Granaten. N ur am Anfang
dieser Produktionsketten (als Erfinder oder Handwerker) und an de
ren Ende (als Verbraucher) stehen Menschen. Aber selbst von diesen
Finalprodukten zu behaupten, daß sie ausschließlich Produkte, keine
Produktionsmittel seien, ist unerlaubt. Denn auch diese letzten sollen
ja - die Iteration kennt keine Unterbrechung - durch ihr Verbraucht
werden wiederum etwas produzieren: nämlich Situationen, in denen
eine, wiederum maschinelle, Erzeugung weiterer Produkte erforder
lich wird. In solchen Fällen sind es nicht eigentlich die Produkte selbst,
die als Produktionsmittel figurieren, sondern unsere Konsumakte -
eine wahrhaftig beschämende Tatsache, da sich nun ja unsere, der
Menschen, Rolle darauf beschränkt, durch den Produktekonsum (für
den wir überdies noch zahlen müssen) dafür zu sorgen,.daß die Pro
duktion in Gang bleibe. 1
Nicht: „Unser täglich Brot gib uns heute“ , heißt es in einem molus-
sischen Aphorismus, würden wir, wenn wir ehrlich wären, heute be
ten, sondern: „ Unseren täglichen Hunger gib uns heute“ - damit die
Brotfabrikation täglich gesichert bleibe. Sofern das heute fällige Gebet
überhaupt noch aus unserem menschlichen Munde kommt, da es ja
eigentlich die Produkte sind, die beten. Nämlich: „ Unsere täglichen
Esser gib uns heute.“
In der Tat trifft dieser molussische Aphorismus auf 99% aller Pro
dukte durchaus zu. Denn die meisten Produkte - selbst kaum artifiziell
zu nennende, wie die Butter, die sich in Butterbergen auftürmt und
ihre Bekömmlichkeit beteuert - hungern nach Konsumiertwerden, da
sie nicht ohne weiteres mit einem ihnen entgegenkommenden mensch
lichen Hunger rechnen können oder dürfen. Damit sie auf ihre Rech
nung kommen, das heißt: damit die Produktion in Gang bleibe, muß
ein weiteres Produkt (eines zweiten Grades) erzeugt und zwischen
Produkt und Mensch gezwängt werden, und dieses Produkt heißt
„B ed a rf". Aus unserer Perspektive formuliert: Um Produkte konsu
mieren zu können, haben w ir es nötig, diese zu benötigen. Da uns aber
dieses Benötigen nicht (wie der Hunger) „in den Schoß fällt“ , müssen
wir es produzieren; und zwar mittels einer eigenen Industrie, mittels
eigener zu diesem Zwecke maschinell produzierter Produktionsmittel,
die nun Produkte dritten Grades sind. Diese Industrie, die den Hunger
der Waren nach Konsumiertwerden und unseren Hunger nach diesen
auf gleich bringen soll, heißt „ Werbung “3 Man produziert also Wer
bemittel, um das Bedürfnis nach Produkten, die unser bedürfen, zu
produzieren; damit wir, diese Produkte liquidierend, den Weitergang
der Produktion dieser Produkte gewährleisten.
§2
§3
nun eine dritte Version geben. Denn dieses besteht nun zwischen dem
Maximum dessen, was w ir herstellen können, und dem (beschämend
geringen) Maximum dessen, was wir bedürfen können. Jawohl, wie
widersprüchlich das auch klingen mag: „bedürfen können". Denn die
Menschheit befindet sich in der Lage jenes zum Tode Verurteilten in
Tausendundeiner N acht, dem man mitteilte, er w ürde begnadigt
werden, wenn er 100 Brote, die man ihm vorlegte, verzehren würde.
Auf 100 Appetit zu haben, war er natürlich außerstande, und das hatte
seine Folge. - N ur daß heute w ir selbst es sind, die sich die 100 Brote
vorlegen; und die versagen. Unmetaphorisch: Unsere heutige Endlich
keit besteht nicht mehr in der Tatsache, daß wir animalia indigentia,
bedürftige Lebewesen, sind; sondern umgekehrt darin, daß wir (zum
Bedauern der untröstlichen Industrie) viel zu wenig bedürfen können
- kurz: in unserem Mangel an Mangel.
§4
§5
§6
Postzivilisatorischer Kannibalismus
Jener Text, der für die Besten unserer Generation verbindlicher ge
wesen und geblieben ist als jeder andere: jener Kants, der besagt, daß
kein Mensch jemals „bloß als M ittel" , also als Werkzeug, also als
Sklave, gebraucht werden dürfe, der ist heute bereits antiquiert.8Und
das nicht deshalb, weil es solche, im wahrsten Sinne des Wortes „ Ver
mittelung“ des Menschen, also Sklaverei, nicht mehr gäbe (das Gegen
teil beweisen hunderte von Konzentrations- und Arbeitslagern zwi
schen Santiago und Wladiwostok), sondern deshalb - und das macht
das Wesen oder Unwesen des hier zur Rede stehenden Stadiums der
„industriellen Revolution“ aus - weil eben das, was mittlerweile einge
treten ist, die Verwendung des Menschen als Rohstoffes, die von Kant
verbotene Verwendung des Menschen als Mittels oder als Werkzeuges
in den Schatten stellt und geradezu als human erscheinen läßt. Das,
was im Verlauf der Geschichte der mechanistischen Naturwissenschaf
ten vor sich ging: daß nämlich, da Ausnahmen dem Prinzip widerspro
chen hätten, auch der Mensch als Maschine („homme machine“ ) ver
standen wurde, das wiederholt sich heute auf anderer Ebene: Da die
Welt prinzipiell als Rohstoff gilt, muß auch das Weltstück „Mensch“ ,
damit das Prinzip nicht verletzt werde, als solcher behandelt werden.
Und „behandelt“ nicht nur im theoretischen Sinne, sondern auch im
praktischen (wenn nicht sogar die praktische Behandlung der theoreti
schen vorausgeht). Daß dieses Stadium - man darf es wohl das des
„postzivilisatorischen Kannibalismus“ nennen - so spektakulär ist, daß
es als „Industrielle Revolution“ sui generis anerkannt werden dürfte,
wird wohl niemand bestreiten. Wenn wir das nicht tun, so eben aus
dem Grunde, den wir oben angegeben hatten: weil sich diese Revolu
tion innerhalb jener dritten Revolution abspielt, die als „F rist“ die
letzte ist.
Wir hatten anfangs von der fixen Idee der dritten industriellen Revo
lution gesprochen: nämlich von der obligatorischen Qualität, die das
Machbare angenommen hat; von der Tatsache, daß die („moralische“ )
Entscheidung darüber, ob ein Produkt erzeugt, ein Effekt ausgelöst
werden solle oder nicht, ausschließlich davon abhänge, ob Erzeugung
oder Auslösung möglich sei; daß die Nicht-Erzeugung von etwas Er
zeugbarem als Skandal gelte und daß nach diesem Kriterium die („m o
ralische“ ) Qualität der herzustellenden Effekte (und handelte es sich
um die mehrfache Auslöschung der Menschheit) nicht eigentlich zähle
- kurz: daß kein Preis zu hoch sei.
Diese fixe Idee der dritten industriellen Revolution äußert sich aber
noch anders: als skandalös wird nämlich nicht nur die Nicht-Verwer
tung eines möglichen Rohstoffes betrachtet; nein, sogar die Unterlas
sung, in etwas Vorhandenem Rohstoff zu erkennen und dieses als
Rohstoff zu behandeln. Die Welt gilt als eine auszubeutende Mine.
Nicht nur sind w ir dazu verpflichtet, alles Ausbeutbare auszubeuten,
sondern auch dazu, die Ausbeutbarkeit, die angeblich in jedem Dinge
(auch im Menschen) verborgen liegt, auszufinden. Die Aufgabe der
heutigen Wissenschaft besteht also nicht mehr darin, das geheime, also
verborgene Wesen oder die verborgene Gesetzmäßigkeit der Welt oder
der Dinge aufzuspüren, sondern darin, deren geheime Verwertbarkeit
zu entdecken. Die (gewöhnlich selbst verborgene) metaphysische Vor
aussetzung der heutigen Forschung ist also, daß es nichts gibt, was
nicht ausbeutbar wäre. „W ozu dient der Mond?“ (molussisch). D aß er
zu etwas dienen müsse, wird keinen Augenblick bezweifelt.
Die Frage nach dem, was als „W elt“ angesehen werde - in diesem
Sinne hat das dubiose Wort „Weltanschauung“ vielleicht seine Berech
tigung - ist im Laufe der Geschichte sehr verschieden beantwortet
worden, z.B. mit dem Worte „K osm os“ oder mit „Schöpfung“ oder
„Gegenstand der Erkenntnis“ oder „Inbegriff physischer Prozesse“ .
Stellt man heute die Frage, so kann die Antwort also nur lauten: „R o h
stoff“ . Gemeint ist die Welt also nicht als ein „an sich“ , sondern als
eine „fü r uns“ , dies freilich nicht im Sinne des „Idealismus“ , sofern
dieser, grob gesprochen, Welt als Korrelat des Bewußtseins definiert,
sondern im Sinne eines, wenn man so sagen darf: „pragmatischen
Idealismus” , daß Seiendes Korrelat der Verwendung sei. Freilich ist
diese idealistische Pointe oft verschleiert, da wir, wie wir gesehen ha
ben, Weltgegenstände oft nicht unmittelbar „für uns“ , sondern „für
etwas“ (was wir verwenden) verwenden. Wozu kommt, daß wir Pro
dukten nachjagen, obwohl wir diese nicht direkt benötigen, nein, ob
wohl wir deren Verwendbarkeit und unser Bedürfnis nach ihnen noch
nicht kennen, diese vielmehr erst erfinden und erzeugen müssen.
„ Welt” ist also nicht nur der Inbegriff dessen, woraus sich etwas ma
chen ließe, sondern Inbegriff dessen, woraus etwas zu machen w ir
verpflichtet sind - wobei unausgesprochen unterstellt wird, daß es,
weil nichts sein kann, was nicht sein darf, letztlich nichts gibt, woraus
sich nicht etwas machen ließe. Umgekehrt gilt, daß demjenigen, w or
aus sich nichts machen ließe, Existenz abgesprochen werden muß, daß
es, wo es uns im Wege ist, vernichtet werden darf. Analog zu dem
nationalsozialistischen „lebensunwerten Leben“ gibt es „existenz
unwertes Seiendes” . Kurz: Rohstoffsein ist criterium existendi, Sein ist
Rohstoffsein - dies ist die metaphysische Grundthese des Industrialis
mus, von dem nun die einzelnen Essays handeln werden.
Diesen zweiten Band möchte ich mit einer kurzen Überlegung
eröffnen, die direkt an den Hauptgedanken des Eingangsessays des
ersten Bandes anknüpft, aber weit über diesen hinausgeht und uns
gleich mit der Radikalisierung, die meine philosophischen Reflexionen
erfahren haben, vertraut macht. In dem „D ie prometheische Scham“
betitelten Essay hatte ich unseren heutigen Grunddefekt vorgestellt:
nämlich unsere Unfähigkeit, uns soviel vorzustellen, wie w ir her- und
anstellen können; und hatte betont, daß wir uns nur auf Grund dieses
fatalen Gefälles auf die ominösen Geräte, die wir produzieren und
verwenden, und auf die Verursachung apokalyptischer Effekte durch
diese einlassen. Zu behaupten, daß diese spektakulären Effekte „unab
sehbar“ seien - ein Adjektiv, das ebenso häufig wie gedankenlos ver
wendet wird - , wäre ungenau, da wir auf diese Effekte ja umgekehrt
geradezu abzielen, wenn wir sie auch - ich wiederhole die Formel, weil
der in ihr bezeichnete Defekt tatsächlich den Schlüsseldefekt unseres
heutigen Daseins in dem von uns produzierten Technik-Universum
darstellt - nicht vorstellen können.
Diesem unserem Defekt entspricht nun - und damit komme ich zu
meinem Gegenstande - einer auf der Seite der von uns gemachten
Dinge; nicht nur der Einzeldinge, sondern auch, nein, sogar vornehm
lich, auf der unseres ganzen, netzartig zusammenhängenden, Geräte
systems. Wenn wir als Vorstellungsunfähige blind sind, so sind die
Geräte stumm:1 damit meine ich, daß ihr Aussehen nichts mehr von
ihrer Bewandtnis verrät. Freilich, ganz präzise ist dieser Ausdruck
„stumm“ nicht, denn Wahrnehmbarkeit kann ihnen ja nicht abgespro
chen werden. Aber sie bleiben, obwohl irgendwie wahrnehmbar, doch
unerkennbar. Sie schützen ein Aussehen vor, das mit ihrem Wesen
nichts zu tun hat, sie scheinen weniger als sie sind. Auf Grund ihres zu
bescheidenen Aussehens kann man ihnen nicht mehr ansehen, was sie
sind. Viele sehen geradezu, wie z.B. die in Auschwitz eingesetzten
Negative Protzerei 35
Cyclon B-Gas-Dosen, die sich kaum von Fruchtkonservenbüchsen
unterschieden, „nach nichts” aus. Diese „negative Protzerei” , dieses
„M ehr sein als scheinen” hat es in der Geschichte nie zuvor gegeben.
Da das an ihnen Wahrnehmbare mit ihrer Bewandtnis nichts mehr zu
tun hat, könnte man sie „verlogen“ nennen; oder „ideologisch“ - ein
Ausdruck, der bis heute zu Unrecht immer nur zur Charakterisierung
von Begriffen oder Theorien, nicht zu der von Objekten, benutzt
worden ist. Auf jeden Fall sind diese Geräte das „ Unphysiognomisch-
ste” , was es je gegeben hat - womit ich meine, daß ihnen die Fähigkeit
oder der Wille abgeht, das, was sie sind, auszudrücken, daß sie in
extremem Maße „nicht sprechen“ , daß ihr Aussehen nicht mit ihrem
Wesen koinzidiert. Solche Koinzidenz gibt es nicht nur im Bereich der
lebendigen Mimik, sondern auch noch in dem der einfachen Geräte:
denn Hämmern, Stühlen, Betten, Hosen oder Handschuhen ist es
noch anzusehen, wozu sie da sind, sie „sehen aus” .1 Nichts dagegen
zeigen z.B. Kernreaktoren, die genau so harmlos und unscheinbar
aussehen wie jede beliebige Fabrikanlage und weder etwas von ihren
virtuellen Leistungen noch von den ihnen inhärierenden Drohungen
verraten. „ Was soll denn daran so schlimm sein?” fragte höhnisch und
selbstgefällig ein bekannter europäischer Politiker, als man ihn aus
einem (noch nicht in Gang gesetzten) Kernreaktorenbau, durch den
man ihn wie durch eine Schuhfabrik geführt hatte, herauskomplimen
tierte. Aufs Vorgestrigste glaubte dieser sonst gar nicht so unintelli
gente Biedermann (der freilich nicht intelligent genug war, um zu
erkennen, was es heute zu erkennen gilt), daß man sich auch heute
noch auf seine Augen und auf einen verstaubten Begriff von „Em pirie“
verlassen dürfe, nein solle und müsse. Daß wir, wenn überhaupt, die
heutigen Geräte allein dann adäquat aufzufassen und zu beurteilen
fähig sind, wenn wir unsere Phantasie: die „ Wahr-nehmung von
heute” , anstrengen - denn diese Anstrengung hat heute an die Stelle
der Hegelschen „Anstrengung des Begriffs“ zu treten - , davon hatte
unser progressiver Staatsmann noch niemals etwas läuten hören, und
das zu verstehen, wird er sicher auch weiter zu vereiteln wissen.
Aber um zum Prinzip zurückzukehren: die ominöse Installation
verbal zu verharmlosen, das war nicht mehr erforderlich, weil diese
durch ihre Unscheinbarkeit sich selbst bereits verharmlost hatte. Philo
sophisch formuliert : solche Geräte sind, wenn man mit Heidegger
darunter etwas „sich Zeigendes“ versteht, keine „Phänomene“ mehr.
Umgekehrt besteht ihre Leistung darin, daß sie nicht zeigen, was sie
sind, also darin, daß sie sich verbergen. Obwohl ich mir im klaren
darüber bin, daß ich das Wort strapaziere, halte ich es doch nicht für
unangemessen oder blasphemisch zu behaupten, daß das „ Mysterium“
von heute in den Kolossalgeräten und Gerätkomplexen liege, da diese
nur scheinbar sichtbar sind, in Wahrheit aber unsichtbar bleiben. D er
Versuch, ihren Sinn vermittels unserer Sinne wahrzunehmen, wäre ein
völlig unsinniges Unterfangen. - Und das gilt nicht etwa erst heute,
sondern schon seit mehr als einem Jahrhundert. Was sie waren, haben
auch schon die Maschinen unserer Urgroßväter der Wahrnehmung
nicht mehr verraten. Aus diesem Grunde ist es auch unsinnig, Maschi
nen, die ja nichts verraten, in realistischen Gemälden wiederzugeben,
wie es die sowjetrussischen und die DDR-M aler in ihren „soziali
stisch-realistischen“ Schinken zu tun pflegen. Sie tun in der Tat etwas
Ähnliches, wie die von Plato in seiner Politeia verhöhnten Maler, de
nen er vorwarf, „Abbilder noch einmal abzubilden“ . Wenn die Ma
schinen selbst, wie lärmend sie auch arbeiten mögen (übrigens tun sie
das immer weniger, Satelliten oder Computer dröhnen nicht an
nähernd so wie die Maschinen der Schwerindustrie des 19. Jahrhun
derts), - wenn die Maschinen selbst „stumm“ bleiben, dann müssen
die Abbildungen der Stummen erst recht stumm bleiben.3
1978
1958
§1
§3
Wenn diese These zutrifft, dann gibt es in der Tat nichts Kurzsichti
geres, als unsere heutige Schonungslosigkeit ausschließlich in unseren
kriegerischen, also in den manifest zerstörerischen Handlungen erken
nen zu wollen. Und nichts Törichteres, als in unserer Reproduktions
technik ein Gegengift zu sehen, also ein Mittel, mit dessen H ilfe wir
unserer Zerstörungslust entgegenarbeiten könnten. Daß hinter unse
rem heutigen Wiederaufbau der im zweiten Weltkrieg zerstörten
Städte eine Mentalität wirksam sei, die der kriegerischen entgegenge
setzt sei, das ist höchst zweifelhaft. Der nicht unzufriedene Berliner
Chauffeur, der im Jahre 1953 die Trümmerlandschaft des Tiergarten
viertels mit den Worten kommentierte: „Bauplätze habense uns im
merhin in hellen Mengen jeschafft“ , kommt der Wahrheit zwar schon
nahe, da er immerhin auf den Zusammenhang von Destruktion und
Konstruktion aufmerksam machte.' Aber die volle Wahrheit hat er
doch nicht ausgesprochen, da er die Tatsache, daß der Produktion
selbst das Destruktionselement innewohnt, noch unausgesprochen ge
lassen hat.
Wirklich ans Licht tritt die Wahrheit erst in demjenigen Augen
blicke, in dem man sich klar macht, wie es heute mit der alten, auf ihre
Positivität so stolzen, Redensart: „zerstören ist leicht, aber aufbauen!“
steht. Denn diese Redensart, die früher nur trivial gewesen war, die ist
heute nun einfach sinnlos geworden. Und das nicht nur deshalb, weil
im Zeitalter der Serienproduktion statt der „Sache selbst“ immer nur
Exemplare zerstört werden können (was schon Hitlers Bücherver
brennung zu einer ideologischen Aktion, nein zu einer Farce gemacht
hat); und nicht nur deshalb, weil das Quantum, das sich heute in einem
gegebenen Zeitraum herstellen läßt, kaum mehr kleiner ist als das
Quantum, das im gleichen Zeitraum vernichtet werden kann; sondern
- und damit kehren wir zu unserer Hauptthese zurück - deshalb, weil
Zerstören und Wiederaufbauen gar nicht einander entgegengesetzt
sind, sondern einer und derselben Wurzel entspringen: eben dem Re
produktionsprinzip; und weil dieses Prinzip als solches destruktiv,
nämlich am Ruin seiner Produkte interessiert ist. Wenn man einmal
versuchen würde, in einem utopischen Gemälde die Situation zu ent
werfen, in der alle Blütenträume der heutigen Reproduktionstechnik
gereift wären, also die Schlaraffenlandsituation (nicht des Konsumen
ten, sondern des Erzeugers) eingetreten wäre, dann hätte man eine
Welt zu schildern, in der es Gebrauchen überhaupt nicht mehr gäbe,
sondern nur noch schonungslosestes Verbrauchen; in der alle Produkte,
gleich ob Damenstrümpfe, Wasserstoffbomben, Autos oder Städte,
nicht anders als die Produkte der Lebensmittelindustrie oder als die
der Pappteller oder der Papierservietten durch Gebrauchtwerden un
mittelbar vernichtet würden; kurz: eine Welt, in der sich die gesamte
Industrie in eine einzige alles umfassende Konsummittelindustrie ver
wandelt hätte3
Wenn dieses Bild utopisch bleibt, so (aus der Perspektive der Indu
strie gesprochen) vor allem durch unsere Pflichtvergessenheit.4 Näm
lich deshalb, weil w ir Kunden es versäumen, gegen die Unterentwick
lung unserer Schonungslosigkeit mit genügender Energie anzukämpfen
und den idealen Möglichkeiten, die zur Verwirklichung drängen,
durch angemessenes konformistisches Benehmen entgegenzukommen.
So sieht es jedenfalls aus der Perspektive des Reproduktionsprinzips
aus. Und so falsch ist diese Perspektive nicht. Denn wirklich sind wir
alle ja antiquiert geblieben. Sehr im Unterschiede zu Benjamin machen
wir ja auch die Serienprodukte, obwohl diese im Augenblicke des E r
werbs unauratisch gewesen waren, nachträglich auratisch, wir „aurafi-
zieren“ sie, wir durchtränken sie mit unserer Daseinsatmosphäre: an
die von der Stange gekauften Hosen hängt sich unser Herz nicht min
der fest als an maßgeschneiderte, die Sentimentalität dringt in unsere
Beziehung zu Massenwaren genau so tief ein wie in unsere Beziehun
gen zu Unikaten. Auch die Fabrikprodukte behandeln wir als „diese
Stücke“ , als „unsere Stücke“ , als „unersetzliche Stücke“ , statt (wie es
sich in der heutigen Situation gehörte) als „solche“ Stücke, als eigentü
merlose Stücke, als ersetzbare Stücke. Und wenn wir Stücke abstoßen
sollen, sind wir oft unfähig, diejenige Indifferenz oder gar diejenige
Genugtuung aufzubringen, die im Zeitalter, in dem Schonungslosig
keit zur Tugend geworden ist, eigentlich geboten wäre. Wer weiß, ob
es nicht bald psychoanalytische Spezialisten geben wird, die es sich zur
Aufgabe machen werden, unsere Tabu-Hemmungen d er Dingwelt ge
genüber aufzulockern und uns instandzusetzen, Produkte mit Gusto
und mit gutem Gewissen zu vergewaltigen. Zum Kursus mitzubrin
gen: tadelloses Porzellan und ein schwerer Hammer.
§4
D er unerwünschte Eigentümer
Si
D i e ,Fabrikw ärm e“
§6
Als wirkliches Eigentum gehören uns also allein die uns die Waren
zuleitenden Geräte, nicht die zugeleiteten Waren selbst. Wir sind, pa
radox ausgedrückt, Souveräne einer bloßen Passivität; wenn nicht so
gar, da man ja wünscht, daß w ir die uns zugeleiteten Waren konsumie
ren, Eigentümer dessen, wozu wir verurteilt sind. Figuren also, die um
nichts weniger komisch sind, als die von Marx verhöhnten Stirner-
schen „Eigentümer ihres eigenen Hungers“ .
„Souveräne unserer Passivität“ : denn was w ir besitzen, ist allein
unser Beliefertwerden-können. Die Waren dagegen, mit denen wir be
liefert werden, die besitzen wir nicht, da wir sie konsumieren, ehe wir
sie besitzen könnten. Deren Herstellung, Form, Auswahl überlassen
wir ja auch weitgehend dem Lieferanten bzw. dem Produzenten. Mil
lionen von uns drehen, wenn sie nach der Arbeit nach Haus kommen,
die Knöpfe blindlings an, also ohne zuvor zu wissen, was dem Kultur
wasserhahn entströmen werde. Hauptsache ist uns eben, daß über
haupt etwas entströmt; daß wir überhaupt an der optischen oder aku
stischen „Mutterbrust“ liegen. Eigentumsgier und Habestolz sind in
der Mehrzahl der Fälle durch den Besitz des Geräts bereits gesättigt.
Nunmehr ist es ein Kinderspiel, uns auf dem Umweg über dieses unser
Eigentum ad libitum zu enteignen.
Nun, wenn diese Überlegungen ausschließlich den Sonderbereich
des Rundfunks und des Fernsehens aufklären würden, dann wäre ihre
Einschaltung hier kaum berechtigt gewesen. Aber was in diesem Son
derbereich vor sich geht, das ist ein Beispiel für einen viel allgemeine
ren Tatbestand. Damit ist freilich nicht gesagt, daß, was vorn Rund
funk und Fernsehen gilt, nun auch schon von der Industrie als ganzer
gelte. Aber doch, daß, was dort verwirklicht ist, überall bereits als
lebendiger Trend nachgewiesen werden kann. Im Übrigen gibt es be
reits Sektoren, für die unsere Schilderung zutrifft, z.B. Zeitungen.
Denn diese werden ja durch ihre Benutzung, nämlich durch deren
einmalige Lektüre, bereits verbraucht und entwertet. Dasselbe gilt von
jenen Spielarten von Zeitungen, in die sich das gesamte heutige Lese
material zu verwandeln anschickt. Daß 99% aller Bücher, die in den
Vereinigten Staaten gelesen werden, in denselben Läden, nämlich m
den Drugstores, ausliegen, in denen die ihnen entsprechenden Kon
sumartikel Ice Creams oder Sodas verkauft werden, zum Kauf auslie
gen, ist kein Zufall.
Außerdem gilt die Schilderung auch schon für alle heute rapide sich
entwickelnden, Wäsche überflüssig machenden Papier-, Pappe- und
Watte-Artikel, die nur für eine einzige Verwendung gemeint sind und
nach dieser bzw. durch diese zugrundegehen. Oder, ganz genau: deren
Zweck darin besteht, an ihrer einmaligen Begegnung mit der Welt
zugrundezugehen.
Aber selbst wenn unsere Analyse nur für den Rundfunk und für das
Fernsehen gelten würde - das „n u r “ wäre falsch. Man lasse sich nicht
durch die Tatsache, daß diese Produktionen nur zwei Zweige unter
zahllosen anderen Zweigen darstellen, irreführen. Die zwei sind ent
scheidend für den Welt- und den Gegenstandsbegriff von heute ge
worden. Was die beiden liefern, ist keine Spezialität in dem Sinne, in
dem Krawatten- oder Seifen- oder Nadelindustrien Spezialitäten er
zeugen. Vielmehr produzieren Rundfunk und Fernsehen eine zweite
Welt: jenes Bild der Welt, in der die heutige Menschheit zu leben
vermeint. Und außer dieser „zweiten“ Welt auch noch die dritte, näm
lich die Unterhaltungswelt, kurz: alles. Und was entscheidet, ist eben,
daß dieses „alles“ keine Gegenstands- oder Eigentumsform mehr an
nimmt, daß es vielmehr flüssig bleibt; oder überhaupt nicht „bleibt“ ,
sondern in diesem fiüssigen Zustand, in dem es aus der Fabrik fließt,
sofort „eingeht“ . In der Tat geht es so glatt ein, daß von einem Akt des
Empfangs oder gar von einer bewußten „Aufnahme“ schon gar nicht
mehr die Rede sein kann. Das ist durchaus keine Übertreibung. Denn
wir wissen ja, daß es heute bereits Methoden gibt, Sendungen so „un
terschwellig“ zu machen, daß sie zwar perzipiert, aber nicht apperzi-
piert werden. So machen z.B. gewisse Firmen für ihre Markenware
dadurch Reklame, daß sie den Markennamen wiederholt in Filme ein
schalten, aber eben doch nur so kurz, daß das Auge unfähig ist, es
überhaupt zu entdecken.
Diese vor-gegenständliche Welt-lieferung kann '..aum ernst genug
genommen werden. Denn sie ist die für den gegenwärtigen Zustand
der „beq u em en U n fre ih e it“ , die in der Konformismuswelt von
heute herrscht, außerordentlich bezeichnend. Sie unterdrückt jede
Die Scheinfreiheit 55
mögliche Aktion, und das bedeutet eben sowohl die Chance der Faul
heit wie die der Unfreiheit.
In wessen Ohren diese Behauptung widerspruchsvoll klingt, der hat
einen altertümlichen Begriff von „Unfreiheit“ , der assoziiert mit U n
freiheit noch den gespürten Druck oder gar die lastende oder scheu
ernde Kette. Gerade davon kann heute keine Rede mehr sein. Wem die
präparierte Welt in flüssigem Zustand durch die Kehle fließt, wer nicht
mehr zu schlucken braucht, der ist bereits so tief chloroformiert, daß
keine Empfindung von Unfreiheit mehr in ihm aufsteigt. Beraubt sirtd
wir eben des Gefühls des Beraubtseins - und dadurch scheinbar frei. -
Wahrhaftig, die Situation des zwanzigsten Jahrhunderts unterschei
det sich fundamental von der des neunzehnten. Hatte es in einem der
berühmtesten Worte des letzten Jahrhunderts geheißen, die Majorität
der damaligen Menschheit habe „nichts zu verlieren als ihre Ketten“ ,
so muß es heute heißen: Die Majorität glaubt a u f Grund ihrer (nicht-
gespürten) Ketten, alles zu besitzen. Da es zum Wesen dieser Ketten
gehört, daß sie von ihren Trägern nicht gespürt werden (so wenig wie
irgendein apriori), kommt es freilich niemals zur Angst vor dem Ver
lust der Ketten. Aber wenn man uns Heutige, etwa durch plötzliche
Requirierung aller jener Instrumente, die uns die Welt in liquidem
Zustande einflößen (also vor allem durch Requirierung der Radios und
Fernsehgeräte) in den „kettenlosen“ Zustand versetzen würde, in ei
nen Zustand, in dem wir nun plötzlich die Welt in Form von Gegen
ständen vor uns sähen, in einer Konsistenz, in der sie sich nicht durch
Sofortkonsum liquidieren ließe - zwar wären wir dann nicht in der
Lage, die absolute Abhängigkeit von der bearbeiteten Welt, in der wir
bis dahin gelebt hatten, wirklich zu durchschauen, aber wir würden
wohl in Panik geraten, in eine A rt von Hungerpanik: in die Panik des
Zahnlosen, der, gewohnt an die Fütterung mit Brei, sich zwischen Bro
ten, Äpfeln und Salamis dem Hungertode gegenübersähe.
Was ist die Lehre, die wir den vorstehenden Überlegungen entneh
men können?
Daß der Ausdruck „Verdinglichung“ , mit dem die Tendenzen unse
res Zeitalters seit einem J ahrhundert charakterisiert worden waren, zur
Kennzeichnung der heutigen Situation nicht mehr ausreicht; daß wir
vielmehr an der Schwelle zu einem neuen Stadium stehen: zu einem
Stadium, in dem umgekehrt die Dingform vermieden, das Ding ver
flüssigt wird. Mindestens daß für dieses Stadium die Verflüssigung des
Dinges ebenso charakteristisch sein wird wie die Verdinglichung des
Nichtdinglichen. Für diesen von der Theorie bisher vernachlässigten
Tatbestand schlage ich den Terminus „ Liquidierung“ vor.
Revision 1979
1958 / 1 9 6 1 1
Desiderat: Dingpsychologie
§2
Erst einmal negativ: Nicht auf diese Spielgeräte selbst. Und wenn er
sich rächen will, so nicht an diesen Maschinen. Diese haben ihm nichts
angetan. Und man könnte sie beinahe „unschuldig“ nennen. Freilich
nur „beinahe“ , und diese Einschränkung ist wichtig. „N u r beinahe“
nämlich deshalb, weil sie Komplizinnen der Schuldigen sind. Kompli
zinnen sind sie aber deshalb, weil sie keine andere raison d’etre haben
und nichts anderes zu leisten wünschen als die Wut, die den Schuldi
gen gilt, auf sich selbst abzuleiten - kurz: weil sie „Abreaktionsgeräte“
darstellen. „Juckt es dir in den Fingern“ , so rät eine molussische Haus
regel, „deine Familie zu verprügeln, dann verprügle deine Jungfer!
Und hast du keine Jungfer, dann schaff dir zu diesem Zweck eine an!“
- Solche „Jungfern“ sind diese Geräte. Zu solchem Zweck sind sie
geschaffen. Zu solchem Zweck angeschafft.
Wer aber ist in diesem Falle die „Familie“ , der die Prügel gelten?
Die Maschinen, mit denen sie tagein, tagaus ihr Leben zu verbringen
haben. Denen sie tagein, tagaus zu dienen haben. Deren tägliche Skla
ven sie sind. Denen gilt ihr Ressentiment. Denen ihr Haß.
Das klingt unglaubhaft. Das klingt so, als knirschte an allen Ecken
und Enden unserer Welt der Sand in den Maschinen und als flögen
überall die Maschinen in die Luft. Davon kann keine Rede sein. Tat
sächlich ist die Sandmenge in den heutigen Maschinen minimal, direkte
Ausbrüche von Maschinenstürmerei gibt es nirgendwo.
Direkte gewiß nicht. Aber das habe ich auch nicht behauptet. Was
ich unterstelle, ist vielmehr, daß den Arbeitenden, solange sie an ihren
Maschinen arbeiten, ihre eigene Wut unbekannt, gewissermaßen ver
drängt, bleibt und sich aufstaut bis zu dem Augenblicke, in dem sie die
Arbeitshallen verlassen; daß ihr Ressentiment dann aber, und zwar
sofort, ausbreche und an anderen speziellen, allein zu diesem Zwecke
erfundenen und aufgestellten Maschinen, eben an den Pachinkos, ab
reagiert werde.
Wie gesagt, der Antimaschinen-Affekt ist denjenigen, die an 'diesem
kranken, unbekannt. Daß er diesen unbekannt bleibe, ist unerläßlich.
Denn wüßten die Maschinenhasser über ihren Haß Bescheid und gä
ben sie diesem nach - das würde die Grundlagen der gesamten Pro
duktion unterminieren, also die Subversivität, die Sabotage schlechthin
darstellen. Die Kenntnis des Ressentiments muß also prophylaktisch
mundtot gemacht, die Sabotage verhindert werden.
Im Vergleich mit dieser Verhinderung der Verhinderung wird die
„Sabotage“ im üblichen Sinne (also die der Maschinen durch uns) zum
Sekundärphänomen. -
Bewerkstelligt wird sie durch „Psychotechnik“ im breitesten Sinne,
also dadurch, daß man unsere Seele bearbeitet. Technisch gesprochen
dadurch, daß man den bloßen Gedanken, dieser Affekt sei auch nur
möglich, verpönt. Oder richtiger (da selbst der Ausdruck „verpönen“
zu kraftlos bleibt) dadurch, daß man ihn tabuiert. -
In der Tat ist dieser Affekt bei Arbeitern ebehso tabu wie bei Arbeit
gebern. Im Zeichen dieses Tabus sind die zwei Lager Alliierte, die
durch dick und dünn zusammenmarschieren. Und nicht weniger soli
darisch sind in dieser Beziehung Westen und Osten. So gewiß wie
jeder amerikanische Unternehmer, der vor die Alternative gestellt
wäre, zwischen der Anstellung eines eingestandenen Maschinenstür
mers und der eines Kommunisten zu wählen, für den Kommunisten
entscheiden würde, so gewiß würde umgekehrt jeder sowjetrussische
Betrieb, vor ein analoges Entweder-Oder gestellt, den kapitalistischen
Kandidaten dem offen maschinenstürmerischen vorziehen. Das heißt:
Das auf Technik bezogene Tabu ist klassen- und systemneutral. Es ist
ungleich machtvoller als alle diejenigen Tabus, die sich aus den hüben
und drüben verschiedenen politischen oder wirtschaftlichen Herr
schaftsformen oder „Philosophien“ ergeben. Es ist global. Es ist das
Tabu von heute. Und was dabei tabuiert wird, ist - wir betonen das
noch einmal - nirgendwo nur der eventuelle maschinenstürmerische
Akt. Die Verbotskraft reicht grundsätzlich tiefer: Verboten ist immer
bereits der bloße Gedanke, daß es Maschinen-Ressentiment überhaupt
geben könnte. Damit weist sich das heutige Tabu auch als „echt“ aus,
d.h.: als eines, das jenen Tabuierungen, die wir aus früheren Gesell
schaften kennen, strukturell entspricht. Denn auch in diesen war es ja
stets schon der Gedanke gewesen, der unterdrückt wurde: z.B. der
Gedanke, daß es im Menschen (gar in jedem) Libido-Ziele oder -Va
rianten, die die Grundlage der Familien- oder Clanstruktur erschüt
tern könnte, überhaupt geben könnten. So etwas „gibt es nicht“ , weil
„nicht sein kann, was nicht sein darf‘‘ . Perfekte Tabuierungen beste
hen mithin nicht nur in Verpönung, sondern in Ableugnung, und zwar
in der denkbar radikalsten. Das heißt: nicht nur in der Weigerung des
Verstandes, Tatsachen anzuerkennen, sondern auch in der Weigerung
der Sinne, Tatsachen überhaupt wahrzunehmen.2
Und dies ist nun, wie mir scheint, die Situation, in der wir uns heute
befinden. Das Tabu unseres Zeitalters funktioniert perfekt, d. h.: Es
gibt niemanden (wie gesagt: weder im Osten noch im Westen, weder
unter Arbeitern noch unter Arbeitgebern), dessen Blick frei und selb
ständig genug wäre, um das Maschinen-Ressentiment zu erkennen.
Denjenigen, der von der Existenz des Maschinen-Ressentiments
überzeugt ist, den macht die Blindheit zuweilen geradezu fassungslos.
Denn die Fakten, die dieses Ressentiment bestätigen (oder die ohne
Unterstellung dieses Ressentiments undurchsichtig bleiben) sind ja je
dermann bekannt, ja sie akkumulieren von Tag zu Tag, und auch das
wieder in globalem Ausmaß. Da gibt es z.B. die überall, auch jenseits
des „Vorhangs“ , ausbrechenden, oft in wirkliche Rebellionen ausar
tenden Halbstarkenkrawalle. Daß diesen Wut und Rachelust auf der
Stirne geschrieben stehen, wird von niemandem geleugnet. Die Frage,
wogegen die Jugendlichen eigentlich rebellieren, und an wem sie sich
eigentlich in ihrem Zerstörungsfuror rächen wollen, ist auch wieder
holt gestellt worden. Aber die plausible Antwort: daß die Zerstörungs
wut aus den Arbeitsstunden, in denen sie sich nicht austoben darf, in
die Mußestunden verlagert und nun, statt an den Arbeitsmaschinen, an
falschen und zufälligen, von der Mußewelt zur Verfügung gestellten,
völlig unschuldigen Ersatzobjekten gekühlt werde, diese plausible Ant
wort ist niemals gegeben worden.5
Aber die Tatsache der Halbstarken-Krawalle ist natürlich nur ein
Beispiel unter anderen, wenn auch deren auffälligstes. Denn es gibt
heute - und ich spreche nicht etwa nur vom Kriege - ein gewaltiges
Ansteigen positiver Zerstörungslust,4 von der Indolenz gegen Zerstö
rung ganz zu schweigen. Diese ist heute ja, zum Beispiel als Gleichgül
tigkeit gegenüber der Totalvernichtung durch einen eventuellen Atom
krieg, eine beinahe universelle Erscheinung. Ohne die Unterstellung
einer allgemein schwelenden Rachelust wäre diese Indolenz schwer
begreiflich. Und vollends unbegreiflich wären jene blasierten „U nd-
wenn-schon-Apokalyptiker“ , die sich darin gefallen, die Drohung mit
einem „und warum nicht?“ abzutun. A u f die Frage, wem dieser ihr
A ffekt denn gelte, müßte die Antwort wohl lauten: „ D er ganzen Ma
schinerie.“ Das heißt: Der Maschine der heutigen Welt, in deren Gang
sie hineingezwungen sind, und der zu entrinnen sie alle Hoffnung
aufgegeben haben. Vermutlich sind sie von der Tatsache, daß auch
diese Maschine ihrer selbst nicht total sicher ist und daß sie sich unter
Umständen in einer allgemeinen Maschinendämmerung selbst in die
Luft sprengen könnte, fasziniert. Jedenfalls erfüllt sie dieser Gedanke
mit so ungeheurer antizipatorischer Schadenfreude, daß daneben die
Angst davor, auch mit draufzugehen, nicht zählt.
Aber warum? Aus welchem Grunde sollte der heutige Mensch die
Maschine hassen?
Antwort: Weil er von ihr betrogen ist.
Diese Anklage klingt selbst antiquiert. In der Tat ist sie ja wiederholt
erhoben worden, zum Beispiel von den Heimarbeitern des 19. Jahr
hunderts, die, durch die Maschine ausgebootet, ihr Existenzminimum
verloren hatten. Oder von jenen „vorwissenschaftlichen“ Sozialisten,
die sich, als Nichteigentümer der Maschinen, um die Frucht der Arbeit
betrogen sahen. Zum größten Teil sind diese Vorwürfe heute natürlich
überholt. Während es Heimarbeiter, mindestens mit Maschinenarbeit
konkurrierende, nicht mehr gibt, ist der Lebensstandard der Fabrikar
beiter ins Märchenhafte gestiegen. Und nicht weniger antiquiert wäre
natürlich der Vorwurf, der zur Maschinenarbeit Verurteilte werde um
seine physische Gesundheit betrogen. Im Vergleich zu dem Anstren
gungs-Quantum, das, solange es menschliche Arbeit gegeben hat, in
Land-, Bau- oder Straßenarbeit investiert worden ist, auch heute noch
investiert wird, ist Maschinenarbeit leichte Arbeit. Wo sich die Ma
schine darauf beschränkt, Steuerungs- und Kontrollgriffe zu verlan
gen, ist die erforderte physische Investition kaum mehr der Rede wert.
Und im vollautomatischen Betrieb schrumpft sie geradezu zu Null
zusammen, so daß es nun umgekehrt das Fehlen physischer Anstren
gung ist, die Ähnlichkeit der Arbeit mit Nichtstun und Muße, was
zum Problem wird.5
Damit sind w ir aber in der Nachbarschaft desjenigen Betrugs, um
den es sich hier handelt. Betrogen ist der an der Maschine arbeitende
Zeitgenosse nämlich weder um seine physische Gesundheit - die ist
weniger gefährdet als die seiner vormaschinell arbeitenden Vorfahren -
noch um seine physische Weiterexistenz - die wird heute mit massive
ren Mitteln bedroht; noch um den Lohn für das von ihm Gemachte -
der ist heute höher als der gestrige oder vorgestrige Arbeitslohn. B e
trogen ist er vielmehr um sein Machen selbst. Was heißt das?
Daß, was er heute, um zu leben, zu tun hat und tut, also seine
Arbeit, kein „Machen“ mehr ist. Und das bedeutet wiederum, wenn
man die Wesensdefinition des Menschen als „homo faber“ ernst
nimmt: daß er um dasjenige betrogen ist, was sein Wesen ausmacht.
Auch das klingt wieder befremdlich. „Machen“ , so wird man ein
wenden, „bedeutet schließlich ,Produzieren‘ . Und ,produziert‘ wird
heute mehr als früher. Sogar unendlich mehr als früher.“
Richtig. Ökonomisch unbestreitbar.
Aber nur ökonomisch. Behavioristisch nicht.
Und diese Unterscheidung bedeutet wiederum: Die Tatsache, daß
bei Maschinenarbeit „Gemachtes“ , und sogar in unabsehbaren Men
gen, abfällt, die ist noch kein Beweis dafür, daß die Tätigkeit, die diese
Produkte zur Welt bringt (oder richtiger: ohne die diese Produkte
nicht zur Welt kämen) ihrem Typus nach wirkliches „facere“ , wirkli
ches „Machen“ darstelle. Wahr ist vielmehr das Gegenteil. Denn es
gibt nichts, was für die heutige Produktionssituation charakteristischer
wäre, als die Umkehrung der Proportion von ökonomischem und Be-
havioristischem. Diese Umkehrung ist geradezu die Regel. Je mehr
Gemachtes es heute nämlich gibt, um so weniger davon ist, im wahren
Sinne des Wortes, „gemacht“ . Beziehungsweise: Je geringer unter den
heute Tätigen die Zahl derer ist, die, im eigentlichen Sinne des Wortes,
etwas „machen“ , um so größer ist der Ertrag des „Gemachten“ . - In
der Tat ist die klassische Formel „causa aequat effectum“ („der Effekt
entspricht der Ursache“ ) noch niemals so unwahr gewesen wie heute.
Heute gilt vielmehr: „Effectus transcendit causam.“ Was bedeutet
diese Formel?
Sie bedeutet: Der Effekt (das Arbeitsprodukt bzw. dessen Leistung)
überholt die angebliche „causa“ (die Arbeit des Arbeiters), und zwar
nicht nur seiner Größenordnung, sondern auch seiner Art nach. Das
„Gefälle“ zwischen causa und effectus ist so groß, daß (nunmehr psy
chologisch gesprochen) der Kausierende (also der Arbeitende) den E f
fekt seines Tuns gar nicht mehr als seinen erkennt, sich also mit „sei
nem“ Produkt nicht mehr identifiziert.
Aber diese erste Erläuterung der Behauptung: „Effectus transcendit
causam“ reicht nicht. Denn sie läßt ja noch die Möglichkeit offen, daß
der „Kausierende“ (also der Arbeitende) eine solche Identifizierung
ursprünglich versuche, daß dieser sein Versuch nur eben scheitere.
Aber auch davon kann keine Rede sein. Nicht nur um die Identifizie
rung ist er nämlich betrogen, sondern auch um das Scheitern seiner
Identifizierung. Denn er denkt schon gar nicht mehr daran, zu
versuchen, den Effekt (also das Schlußprodukt) als Leitbild seiner Tä
tigkeit zu verwenden.
Aber auch diese zweite Erläuterung unserer These „effectus trans
cendit causam“ reicht nicht. Denn in ihr scheint ja noch unterstellt,
daß der Arbeitende, wenn er es nur wollte, versuchen könnte, die
Identifizierung durchzuführen; daß er es nur nicht wolle. Aber auch
Neuer Sinn von „prometheischem Gefälle” 6j
davon kann keine Rede sein. Nicht nur um die Lust, den Versuch zu
unternehmen, ist er nämlich betrogen, sondern um die Fähigkeit. Wahr
ist vielmehr, daß er den Versuch, den Effekt als Leitbild zu verwenden,
schon gar nicht mehr unternehmen kann; daß er (etwa wenn ihm
nahegelegt würde, sich während seiner Arbeit das Endprodukt als
Leitbild vor Augen zu halten) gar nicht mehr wüßte, wie er es bewerk
stelligen sollte, diese Leitbild-Vorstellung mit seiner effektiven Tätig
keit zu kombinieren. Und selbst diese dritte Erläuterung reicht noch
nicht. Denn in ihr scheint noch unterstellt, daß der Arbeitende die
Identifizierung durchführen dürfte, wenn er es nur könnte. Aber auch
das kommt nicht in Betracht. Nicht nur um die Lust und Fähigkeit ist
er nämlich betrogen, sondern auch um das Recht, die Identifizierung
durchzuführen. Wahr ist also: Da der Identifizierungsversuch, gleich
ob er gelänge oder mißlänge, die Arbeit stören, also auf Sabotage
hinauslaufen würde, ist es dem Arbeiter nicht erlaubt, den Effekt als
Leitbild seiner Arbeit zu verwenden.
§4
Vollends deutlich wird unsere These, wenn wir für einen Augen
blick aus der Dimension des „Machens“ in die des „Handelns“ hin
überspringen. Denn dort liegen die Verhältnisse ganz entsprechend.
Das heißt: Sowenig es noch „Machen“ gibt, sowenig gibt es noch
„Handeln“ .
Die Behauptung z. B „ daß der Hiroshima-Pilot, als er auf seinem
Knopf drückte, „gehandelt“ habe, klingt ungenau.7 Aber vielleicht
könnte man, da die physische Anstrengung, die ihm sein „T un “ hätte
bestätigen können, ganz geringfügig war, sogar behaupten, er habe
nichts getan. Jedenfalls war diese Anstrengung so minimal, daß er das
Gefühl gehabt haben mag, nichts getan zu haben. Und gesehen hat er,
da der Rauchpilz, den er wahrgenommen hat, mit den Verbrannten
nicht identisch ist, den Effekt seines „Tuns“ ja gleichfalls nicht. -
Nichtsdestoweniger befördert er mit Hilfe dieses seines „Nichtstuns“ ,
gewissermaßen in einer „annihilatio ex nihilo“ , zweihunderttausend
Menschen aus dem Leben in den Tod. - Angenommen, dieser unselige
Mann säße uns gegenüber. Was hätten wir ihn zu fragen? Offenbar
nicht „H ast du es getan?“ Denn daß er es gewesen war, das würden
wir und er ja wissen. Sondern: „H ast du es getan?" Was bedeuten
würde: „Kann, was da mit deiner Hilfe vor sich gegangen ist, über
haupt noch als Tun bezeichnet und dir zugerechnet werden?“ Was er
wohl mit den Worten: „N ein, ,getan‘ habe ich eigentlich nichts, höch
stens habe ich nur ,mitgetan“ ‘, verneinen würde. Und das zu Recht.
Denn die Worte „Tun“ oder „Handeln“ wären ja wirklich schon des
halb unangemessen, weil er den Effekt seines „Tuns“ nicht nur nicht
gemeint hatte und diesen nicht nur (auf Grund der Limitiertheit seines
Vorstellungsvermögens) nicht hätte meinen können; sondern weil es
ihm noch nicht einmal erlaubt gewesen war, diesen zu meinen oder
auch nur meinen zu können. Die „M oral von der Geschichte“ besteht
also darin, daß er daran gehindert wurde, die Bewerkstelligung der
Aktion, für die er verwendet wurde, wirklich aufzufassen und an deren
Moral oder Unmoral teilzunehmen. Sogar von der Teilnahme an der
Unmoral der Aktion war er ausgeschlossen, sogar das Recht auf
schlechtes Gewissen war ihm genommen, nicht einmal unverantwort
lich durfte er sich fühlen; durfte er sich fühlen können.
In anderen Worten: Die Tatsache, daß Ursache und Wirkung aus
einandergerissen sind, die Diremption zwischen „causa“ und „effec-
tus“ , die wir im heutigen Machen festgestellt haben, die liegt auch hier
vor. Wenn ich im ersten Bande die Vermutung ausgesprochen habe,8
daß die traditionellen Ethiken heute hinfällig werden, so aus diesem
Grunde. Also deshalb, weil in ihnen die Wirklichkeit von „Handlun
gen“ unterstellt worden war und auch heute noch unterstellt wird,
obwohl es sich bei dem, was heute „getan“ wird, mindestens bei denje
nigen Tätigkeiten, die moralisch heute zählen, nicht mehr um „Hand-
Kein Recht auf schlechtes Gewissen 69
§S
Wer sich eines Instruments, etwa einer Zange, bedient, der bedient
nicht die Zange. Im Gegenteil: er beherrscht sie, da er sie ja zu seinem
Werkzweck, dem ergon, das er im Auge hat, einsetzt. E r beherrscht sie
beinahe im selben Sinne wie seine eigenen „Werkzeuge“ : die Organe;
wenn auch als deren Verlängerungen, Verfeinerungen oder Verstär
kungen. Damit ist nicht gesagt, daß man sich nicht auch der Maschinen
auf diese Weise „bedienen“ könnte. Im Gegenteil: Der Produzent tut
das ja, da er sie als Werkzeuge verwendet, mit deren Hilfe er sein
Ergon, die Erzeugung seiner Waren, durchführt. Da er sich aber
(selbst dann, wenn er Eigentümer eines vollautomatischen Betriebs ist)
nicht allein-laufender Maschinen bedienen kann, muß er sich gleich
zeitig Arbeitender bedienen. Dieser bedient er sich also, damit er sich
erfolgreich seiner Maschinen bedienen kann. Nicht die Arbeiter be
dient er mit Maschinen, vielmehr bedient er die Maschinen, damit er
sich ihrer bedienen kann, mit Arbeitern. Zu behaupten, daß sich diese
Arbeiter der Maschinen bedienen, wäre wiederum unsinnig. Vielmehr
dienen die Arbeiter dem erfolgreichen Dienst, den die Maschinen lei
sten: Sie bedienen diese. Was die Arbeiter im Auge haben, ist dabei
nicht das Produkt, sondern der tadellose Gang der Maschine. Um
diesen aufrecht zu erhalten, mögen sie sich ihrerseits eines Instruments
„bedienen“ . Aber das steht auf einem anderen Blatte.
Damit ist ein Dreifaches gesagt:
i. Die Arbeit des Arbeiters ist telos-los. - Obwohl der Betrieb, in
dem er arbeitet, ein Produktionsbetrieb ist, hat er in ihm, wie die
englische Sprache korrekt unterscheidet, nur etwas „to da“ , aber
nichts „to m ake". Das gilt von allen Arbeitenden in dem Betrieb.
Regel: Wenn ein Produktionsprozeß in zahllose Schritte dividiert, und
wenn jeder Arbeitende nur in eine Etappe des Machens eingeschaltet
wird, dann zerfällt der Produktionsprozeß nicht in Teilproduktionen,
sondern lediglich in Teiltätigkeiten; dann ist kein Machender mehr ein
Machender, jeder vielmehr nur ein Tuender; und nicht dann ist das
telos dieser Tätigkeiten erreicht, wenn ein Produkt fix und fertig da ist,
sondern dann, wenn so und so viel getan, wenn so und so lange gear
beitet worden ist, also bei Feierabend. Ob dann „etwas“ , nämlich ein
Produkt, fertig vorliegt, das geht den Arbeitenden nichts an, das inter
essiert ihn auch nicht: „m an ist fertig“ für heute, nicht das Produkt. -
Nun, an sich ist gegen „Tun“ (im Gegensatz zum „Machen“ ) natür
lich nichts einzuwenden. Wer gut zu lesen oder anständig Klavier zu
spielen (also nur zu „tun“ ) versteht, der ist dem, der etwas „macht“ , in
keiner Weise unterlegen. Aber um ein solches echtes „Tun“ handelt es
sich bei der Maschinenarbeit durchaus nicht. Während Lesen oder
Klavierspielen, aristotelisch gesprochen, EvtEAExEim sind, also ihr tE-
1.oc; und damit auch ihre Genugtuung in sich selbst tragen, ist Maschi
nenarbeit gewissermaßen „Ä v-iQ yaa“ , weil sie vom EQyov, bzw. vom
Interesse an diesem, von dessen Kenntnis ausgeschlossen ist. Ein G ru
benpferd w ird nicht dadurch zum Spaziergänger, daß es geblendet
seine Arbeit tut. Das telos des Machens ist in diesen Tätigkeiten ab
montiert, das Machen ist gewissermaßen „geköpft“ . Arbeit wird hier
zum „ Tun“ lediglich a u f G rund dieser Verstümmelung.
Wer sich an das Krisendeutschland vor etwa dreißig Jahren erinnert,
der wird noch das Bild jener Notstandsarbeiter vor Augen haben, die
Gräben auszuheben hatten, und während der Arbeit genau wußten,
daß die nächste Schauflerschicht die Aufgabe haben würde, die Gräben
wieder hübsch säuberlich einzuebnen. Kein Wunder, daß diese Arbei
ter oft nur so taten, als ob sie täten, daß sie diese ihre teloslose Tätig
keit oft in ein Spielen ausarten ließen. - Man wird einwenden, dieser
Fall sei extrem gewesen. Gewiß. Und trotzdem darf man heute alle
Arbeiter als Kollegen dieser Notstandsarbeiter betrachten. Denn auf
welche Weise Arbeit teloslos wird: ob so, daß das telos als bloßes
Manöverziel vorgespiegelt wird, wie im Falle der Notstandsarbeiter;
oder so, daß das telos die Arbeitenden nichts angeht, wie im Falle
normaler Fabrikarbeit, das läuft psychologisch beinahe auf Eines her
aus. In beiden Fällen wird Arbeit (sogar die körperlich leichte) zur
Zumutung, da sie von den zwei Genugtuungen, auf die der Mensch ein
Recht hat, ausgeschlossen ist: sowohl von der Genugtuung, die die
sichtbare Entstehung des Produktes dem Produzierenden verschafft;
wie von der Genugtuung, die das auf ein äußeres telos nicht angewie
sene echte Tun mit sich bringt. Kein Wunder, daß man heute bereits
offiziell versucht, das durch die „Köpfung des Machens“ entstandene
unechte „ Tun“ durch Musikbegleitung und dergleichen schmackhafter
zu machen, also es in eine Art von Tanz zu verwandeln, um ihm den
äußeren Anschein einer manifest telos-loseii Beschäftigung, eben wie
derum des Spiels, zu verschaffen.
2. Die Arbeit ist anstrengungslos. Das klingt natürlich erst einmal
erfreulich. Aber gerade dadurch wird die Arbeit ihres Charakters voll
ends beraubt. Denn die Freude an Arbeit beschränkt sich ja nicht nur
auf die Freude, die der Machende am Entstehen seines Produkts hat.
Vielmehr besteht sie mindestens auch in der Investition von Anstren
gung, darin, daß der Machende sich ausarbeitet. In der Arbeit (etwa
der vollautomatisierten), deren Anstrengungsquantum auf ein Mini
mum reduziert ist, vollzieht sich nun eine potenzierte Degeneration.
Denn nun besteht die Entartung nicht nur darin, daß das „Machen“
zum bloßen „Tun“ wird, sondern auch darin, daß das „Tun“ nun zu
einer Art von „Nichtstun“ verkümmert. Freilich nur zu einer „A rt
von“ . Sowenig das „geköpfte Machen“ als echtes „Tun“ klassifiziert
werden darf, so wenig darf nun das „geköpfte Tun“ , etwa das des
Kontrolleurs im Automationsbetrieb, als „echte Muße“ klassifiziert
werden. Die Attitüde, in die er hineingerät, ist vielmehr eine Schein
Muße, eine verstümmelte Attitüde, ein bloßer Rest. Denn trotz der
Tatsache, daß er sich nicht zu rühren braucht (ja, sich unter Umstän
den nicht einmal rühren darf), hat ja der Automationsarbeiter noch
aufs konzentrierteste auf dem qui vive zu sein - genau so wie der
Maschinenarbeiter doch aufs energischste tätig zu sein hat, auch wenn
er kein Produkt mehr zu machen hat. Nunmehr freilich besteht die
Arbeit in bezahlter Aufmerksamkeit bei physischer Reglosigkeit. Der
Tuende wird zum bloßen Maschinenpolizisten, der, im Sessel sitzend,
darauf hofft, nicht eingreifen zu brauchen; sofern er nicht heimlich
doch eine Störung erhofft, um doch noch einmal die Chance zum
Eingreifen zu haben und um zu spüren, daß er etwas tut.
Und selbst mit dieser Schilderung der zwei Degenerationsstufen der
Arbeit ist noch nicht alles gesagt. Kehren wir von unserem avantgardi
stischen Automationsarbeiter zum heute noch normalen zurück: also
demjenigen, der mindestens seine Maschine noch zu bedienen hat. Was
hat der durchzuführen, um diese Bedienung anständig zu erledigen?
3. Die „imitatio instrumenti"". Er hat sich nach seiner Maschine zu
richten, ja sich zu deren Diener zu machen. Diesen Ausdruck mißver
stehe man nicht. „N ach etwas richten“ müssen wir uns natürlich in
jeder Arbeit, sogar in der gerätelosesten. Da wir „etwas aus etwas
machen“ wollen, gibt es a priori eine ganze Reihe von Bedingungen
(z. B. den Stoff oder die Grenze unserer technischen Fähigkeiten), nach
denen wir „uns zu richten“ haben. Darüber klagen wir nicht. Machen
ist menschlich, gleich ob wir im Machen-müssen einen Fluch oder im
Machen-können ein Freiheitszeugnis sehen. Wer bereits in den aprio
rischen Bedingungen des Machens, also in der Tatsache, daß er, wenn
er zu machen beginnt, mit einer Welt zu rechnen hat, aus der er macht,
eine Freiheitsberaubung sieht, der beansprucht, „frei“ zu sein in einem
absurden Sinne, nämlich in dem von „weltlos“ ; und ist einfach ein
metaphysischer Querulant. - Gleichviel, nur wenn der Arbeitende mit
dem Gang seiner Maschine Schritt hält, nur wenn er die „imitatio“ 9
durchhält, wird seine Bedienung perfekt sein. Das Hegelsche Modell
von „H err und Knecht“ darf auf die Beziehung Mensch-Maschine
bedenkenlos übertragen werden.
§s
Der Abend der Rache
Damit hätten wir also eine kurze Schilderung dessen, was heute
„A rbeit“ ist, gegeben. Und damit auch eine Schilderung des durch
schnittlichen Tages des einbeinigen Japaners im „Pachinko“ .
1. Auch er hatte nicht eigentlich etwas hergestellt.
2. Auch er hatte seine Maschine nur bedient.
3. Auch er hatte sich mit deren Gang gleichschalten müssen.
4. Und auch ihn ging es nichts an, wenn trotz alledem etwas zu
standekam.
Und dann wurde es Feierabend.
§2
Parallelfall - Das in die Welt mitgenommene Zuhause -
Unsere „Schizotopie“
1977
§I
Die Frage, ob der heutige Arbeiter noch Proletarier sei oder nicht,
ist nicht durch Feststellung seines niedrigen oder hohen Lebensstan
dards zu beantworten - so gesehen, sind tatsächlich Hunderte von
Millionen von Arbeitern keine Proletarier mehr - , sondern durch die
Feststellung seines Freiheitsstandards. Und dieser ist in der Tat so tief,
daß die Frage hundertprozentig bejaht werden muß. Unfrei ist er nicht
etwa nur deshalb, weil er vom Eigentum an „seinen“ Produktionsmit
teln oder Produkten ausgeschlossen ist, sondern weil er das Ganze des
Produktionszusammenhanges, in das er integriert ist, nicht übersieht;
und ebensowenig das Endprodukt und dessen Bewandtnis kennt -
diese bleiben gewissermaßen „transzendent“ ; ebensowenig die morali
schen oder unmoralischen Qualitäten „seines“ Produkts; ebensowenig
dessen Nutznießer, Verwender oder dessen Opfer. All das - und damit
auch sein eigenes Arbeiten - findet gewissermaßen hinter seinem eige
nen Rücken statt. So ist es mir und der Belegschaft, innerhalb derer ich
arbeitete, vor schon mehr als 3 5 Jahren in einer kalifornischen Fabrik
gegangen.
Das Einzige, was wir „vor uns sahen“ , war das auf uns zu- und dann
sofort wieder von uns fortwandernde Produktstück, für dessen Bear
beitung wir eingesetzt waren - wir wünschten auch nicht mehr, mehr
zu wissen oder zu sehen, die Neugierde war uns fortmanipuliert wor
den; uns fehlte jedes Interesse an unserem Tun - warum hätten wir
auch mehr wissen oder sehen sollen, was hätten wir davon schon
gehabt? Vor allem: Wir sollten an dem, was wir verrichteten, kein
Interesse haben, wir sollten ohne Bewandtnis arbeiten. Hätte einer von
uns den Vorarbeiter oder sonstwen nach der Bewandtnis unseres Tuns
gefragt, er wäre im besten Falle als Kauz abgefertigt worden, „that’s
none of your damned business“ , und ein paar Jahre später, in der
McCarthy-Periode, hätte er als „security risk“ gegolten. In der Tat
wäre es auch falsch und zuviel Ehre für unser damaliges Tun gewesen,
dieses „Arbeiten“ zu nennen. Da es zielblind vor sich ging, war es eher
eine Art von Gymnastik, die wir täglich 8 Stunden lang zu treiben
gezwungen waren; eine Gymnastik, die aus sich immer gleich bleiben
den Freiübungen bestand, oder richtiger: aus „ Unfrei-Ubungen“ ,
denn was an diesen, vom Fließband diktierten, Bewegungen wäre denn
noch „ fr e i” gewesen? Schon vor Jahrzehnten hatte Chaplin diese „U n-
frei-Übungen“ vorgeführt, in seinem Film „Modern Times“ , der einen
Mann zeigt, der abends, von seiner Fließbandarbeit heimkehrend,
nicht mehr frei genug ist, sich von diesen unfreien Bewegungen freizu
machen; und der nun fassungslos dem Tanz seiner, fremden Tieren
gleichenden, Hände zuschaut: „Chaplinitis” . Wahrhaftig, angst und
bange kann einem werden, wenn man es sich klarmacht, daß auch
jetzt, in diesem Moment, Hunderte von Millionen mit solcher Gymna
stik beschäftigt sind, und daß diese Hunderte von Millionen sogar
noch dankbar dafür sind, daß es ihnen, im Unterschied zu Millionen
weniger Glücklichen: den Arbeitslosen, noch vergönnt ist, diese Gym
nastik zu treiben; und daß sieverbissen das Recht auf diese Gymnastik
als politisches Grundrecht proklamieren, in der Tat proklamieren müs
sen, weil sie ohne derart nichtige Gymnastik im Nichts stehen, oder -
aber dieses , ,Tun“ ist nur eine Verbrämung -von Nichtstun - vor dem
Bildschirm sitzen würden; und weil sie gezwungen wären sich täglich
durch den sich immer neu vor ihnen aufstauenden Zeitbrei durchzu
fressen. Und noch banger muß einem werden, wenn man bedenkt, daß
diese Gymnastik durch keine bestimmte Art von Revolution zum Still
stand gebracht oder auch nur korrigiert werden kann; daß unsere Dar
stellung auf die Arbeit in sozialistischen Ländern genau so zutrifft wie
auf die in kapitalistischen Ländern; daß sich also mit der Veränderung
der Eigentumsverhältnisse die Folgen der Technik überhaupt nicht mit
verändert haben oder mitverändern werden; daß die Rede von der
„Humanisierung der Arbeit“ und die von der „Aufhebung der Ent
fremdung“ so lange, als wir in einer durchtechnisierten und sich weiter
durchtechnisierenden Welt leben, mithin endgültig, bloßes Gewäsch
ist.
Und damit bin ich bei der leichtsinnigen, heute so oft geschwätzten
und nachgeschwätzten Behauptung, daß es keine Proletarier mehr
gebe. In Wahrheit gibt es heute mehr als je. Denn wenn diejenigen, die
die Hauptzeit ihres wachen Lebens mit „Unfrei-Obungen“ verbringen
- und das sind nahezu alle Lohnarbeiter - und am Feierabend nur noch
für „frei“ ins Haus gelieferte Amüsierprodukte Kraft haben;1 oder
wenn diejenigen, die sogar von dieser Chance, unfrei zu arbeiten,
ausgeschlossen sind, also die Arbeitslosen - wenn die keine Proletarier
sind, dann weiß ich nicht mehr, was das Wort überhaupt noch anzei
gen soll.
Aber die Umwälzung, die das Arbeiten heute durchmacht, ist durch
den Hinweis auf die Rationalisierung nicht erschöpfend bezeichnet.
Mindestens ebenso fundamental wie die durch die Automation verur
sachte Revolution ist diejenige, die darin besteht, daß heute Mittel und
Zweck ausgetauscht sind. Daß die zwei Umwälzungen nur Faktoren
einer einzigen sind, wird sich schnell herausstellen. Zwar trifft es auch
heute natürlich noch zu, daß jeder Einzelne sein Arbeiten als Mittel
(zum Kauf von Lebensmitteln im weitesten Sinne) einsetzt. Aber wäh
rend früher das Ziel der Arbeit darin bestanden hatte, Bedürfnisse
durch Erzeugung von Produkten zu befriedigen, zielt heute das Be
dürfnis auf Arbeitsplätze; Arbeitsbeschaffung wird zur Aufgabe,
Arbeit selbst w ird zum herzustellenden Produkt. Zum Ziel, das allein
dadurch erreicht werden kann, daß Zwischenprodukte erzeugt wer
den. Diese neuen Produkte heißen „neue Bedürfnisse“ , die vermittels
einer Arbeit, die „Werbung“ heißt, hergestellt werden. Sind diese
neuen Bedürfnisse erzeugt, dann ist auch neue Arbeit als Endprodukt
erfordert und ermöglicht.
Freilich nicht ad libitum. Nicht nur deshalb nicht, weil unser „ B e
dürfen können“ nicht unbegrenzt ist (was sollten wir uns nach Kauf
einer „unter Wasser operablen Schreibmaschine“ noch wünschen kön
nen?); sondern vor allem deshalb, weil durch den unaufhaltsamen A u f
stieg der Technik: durch die unaufhaltsame Vervollkommnung der
Rationalisierung und der Automatisierung die Zahl der jeweils für eine
Leistung L benötigten Arbeiter kontinuierlich zurückgeht. Das Postu
lat der Vollbeschäftigung w ird also um so weniger erfüllbar sein, je
höher der technologische Status einer Gesellschaft ist. Wenn gewisse
mitteleuropäische Politiker vorgeben, den technologischen Stand ihrer
Länder deshalb steigern zu wollen, weil sie nur dadurch Vollbeschäfti
gung gewährleisten könnten, dann sind sie entweder denkunfähig oder
Volksbetrüger. Man kann nicht höchste Rationalisierung, die die Zahl
der erforderten Arbeiter senkt, und Vollbeschäftigung zugleich auf
Programm setzen. Nirgends außer in der Politik dürfte man sich einen
derartigen logischen Schnitzer erlauben. Die Dialektik von heute be
steht in diesem Widerspruch zwischen Rationalisierung und Vollbe
schäftigung. Dies offen zuzugeben, das bringt kein Politiker über sein
Parteiherz.
D er WQ
§4
i960
Si
§2
Daß sie Rohstoffe, Energien, Dinge, Menschen als „sie selbst“ an
sprächen, das kommt gar nicht vor; lediglich daß sie diese beanspru
chen. Selbst der allgemeinsten Redensart, daß es „Dinge gebe“ , korre
spondiert in ihrer Ontologie nichts mehr; „geben“ , „Gegebenheiten“ ,
„data“ , bleiben ihnen unbekannt. Was nicht als „zu Nehmendes“ , als
Beute auftaucht, klassifizieren sie nicht als „seiend“ ; die Wörter „sei
end“ und „nehmbar“ sind aus ihrer Perspektive austauschbar: „esse =
capi“ . „ Welt“ ist mithin der Titel fü r ein virtuelles Besatzungsgebiet;
Energien, Dinge, Menschen sind ausschließlich mögliche Requisitions
materialien. Als im strengen Sinne „da“ gelten ihnen diese Materialien
erst von dem Augenblicke an, in dem sie unterjocht und integriert, also
zum Mitfunktionieren gezwungen sind. Ob die Apparate ihre Beute
als Rohstoff, Maschinenteile im engeren Sinne oder als Konsumenten
verwenden, spielt keine Rolle; denn auch Rohstoff und Konsument
gehören in den maschinellen Vorgang. Im strengen Sinne sind auch sie
„Maschinenteile“ .
Was gewisse vulgär-mechanistische Welttheorien des vorigen Jahr
hunderts als Schilderung des faktischen Zustandes des Universums
unterstellt hatten: daß dieses nämlich ein maschinenartig arbeitendes
Ganzes sei, das hat die Technik nun also zu ihrem Ziele gemacht; für
sie soll das Universum zur Maschine werden. Der ehemals freundlich
leuchtende, nun in eine Fernseh-Relaisstation transformierte Mond
kann uns in Vertretung zahlloser anderer, nicht minder beweiskräfti
ger Weltstücke als Signallicht für dieses sich in eine Maschine verwan
delnde Universum dienen.
Monokratischer Endzustand
1 969
Maschinenexpansion
Vor kurzer Zeit hat sich in den Vereinigten Staaten etwas ereignet,
was nicht nur im alltäglichen Sensations- und Kolportagesinn unalltäg
lich gewesen ist, sondern was für alle diejenigen, die sich philosophisch
mit den Problemen der Technik auseinanderzusetzen versuchen, na
mentlich mit denjenigen der Planung und Zentralisierung, von äußer
ster Wichtigkeit gewesen ist. Ich meine jenen Zusammenbruch des
Kraftwerkenetzes im Nordosten der Vereinigten Staaten und im Süd
ost-Zipfel von Kanada, der so etwas wie eine viele Stunden währende
Paralysierung eines von Millionen besiedelten Gebietes zur Folge ge
habt hat. Was wir aus diesem Ereignis zu lernen haben, können wir
nur erkennen, wenn wir ein paar Vorüberlegungen anstellen, und zwar
über das Wesen von Technik überhaupt, genauer: von Maschinen
und Apparaten überhaupt. Auf das Wort „überhaupt“ lege ich deshalb
Wert, weil es sich dabei um Überlegungen grundsätzlicher Natur han
delt. Das heißt um solche, die unabhängig von der Aufspaltung unserer
heutigen Welt in zwei verschiedene Wirtschafts- bzw. Gesellschafts
systeme bleiben, deren Ergebnisse also entweder hier und dort gelten,
oder weder hier noch dort. - Meine Überlegungen werde ich in zehn
Thesen zusammenfassen.
D er Netzkollaps
Und nun kommen wir auf das anfangs genannte Ereignis in den
Vereinigten Staaten zurück. Dort hat sich also etwas sehr Merkwürdi
ges zugetragen, das den Trend, den wir eben geschildert haben: den
aus dem Wesen der Maschine selbst entspringenden und in Richtung
„Totalmaschine“ sich entwickelnden Prozeß der Expansion, in einem
unerwartet neuen Lichte erscheinen läßt. Und das wohl jeden denken
den Menschen, also jeden Nichtdoktrinären, dazu veranlassen muß,
sich dem Problem der „Dialektik der Maschine“ von neuem zu stellen.
Was ist geschehen? Irgendwo im Winkel eines Gerätteiles eines Ge
rätteiles eines Gerätteiles des gigantischen und vielschichtigen Netzes,
zu dem die Geräte zusammengewachsen waren - in irgendeinem win
zigen Winkel hatte es, denn Irren ist nicht nur menschlich, eine win
zige Panne gegeben.3 Nein, keine winzige; denn was heißt „w inzig“
bei solchen Konsequenzen? Durch diese Panne bewiesen nun Tau
sende von Maschinen, daß sie keine Maschinen mehr waren, sondern,
wie wir es in unserer These 3 formuliert hatten, nur noch Maschinen
teile. Was sich positiv als Kollaboration zahlloser Maschinenteile in
Form eines „Netzes“ verwirklichte, bedeutete zugleich negativ, daß
jeder Maschinenteil von jedem anderen, also auch von der Fehlleistung
jedes anderen Maschinenteils, abhing. Plötzlich erlitt, weil in einem
einzigen Teil eine Panne eingetreten war, das ganze Netz ein Panne;
plötzlich zeigte es sich, daß der den Maschinen „eingeborene“ Expan
sionsdrang, das Zusammenwachsen der Einzelmaschinen zu Maschi
nenkomplexen, zugleich auch eine Steigerung der Bedrohung jeder
einzelnen Maschine, richtiger: jedes einzelnen Maschinenteils, zur
Folge hatte.
Die elektrischen Züge liefen nicht. Wohl aber die Autos. Was be
deutet das?
Offensichtlich, daß die Maschinen um so verläßlicher waren, je
deutlicher sie noch als „Individuen“ funktionierten, je weniger sie auf
kontinuierlichen Anschluß an andere Maschinen angewiesen waren.
Ich sage aber: „auf kontinuierlichen Anschluß“ , weil selbstverständ
lich auch die Autos keine unabhängigen Apparate, vielmehr auf das
Tanken angewiesen sind, weil sie also ihre „Selbständigkeit“ der Ma
schinerie der Gasolinversorgung verdanken und nur vorübergehend,
zwischen Tanken und Tanken, „selbständig“ sind. Das ist freilich
nicht nichts, denn der Zusammenbruch der Tankstellen (etwa durch
Streik) hätte ja nicht den unmittelbaren Funktionszusammenbruch der
Einzelmaschinen zur Folge, diese Maschinen können ja den Tankstreik
unter Umständen, wenn dieser nämlich nur kurz währte, überdauern.
In anderen Worten: Während die Eisen- und Untergrundbahnen
gelähmt herumstanden und darauf warteten, wieder zu Maschinen
stücken und dadurch auch wieder funktionstüchtig zu werden, liefen
die ihre eigenen Kraftreserven mindestens für eine kurze Zeit selbst
mit sich tragenden Autobusse und Personenwagen weiter, so als wäre
nichts geschehen. Wie gesagt, damit ist keineswegs gemeint, daß es
zwei grundsätzlich voneinander verschiedene Typen von Apparaten
gebe. Nicht, daß die einen nur als Apparatteile eines ungeheuren Zen
tralapparates arbeiten, während die a.nderen, z.B . die Autos, autarke
Wesen und ausschließlich auf sich selbst angewiesen wären, also derar
tigen Katastrophen wie dem Zusammenbruch des Kraftwerkenetzes
sorgenlos entgegensehen könnten. So einfach ist die Sache nicht. Ohne
ein Netz der Zulieferung, das seinerseits wiederum abhängt von Im
porten, die ihrerseits wiederum abhängen von Ölgewinnungen, die
ihrerseits wiederum abhängen von politischen Machtkonstellationen -
ohne all das wäre natürlich kein einziges Auto an jenem dunklen
Abend in der Lage gewesen, „aus eigener Kraft“ und autark weiter zu
laufen, während die elektrischen Züge zum Stillstand verurteilt waren.
Aber eine Einsicht ist aus diesem Unterschied doch zu gewinnen:
Achte These: D er Großapparat, an den die individuellen Apparate so
angeschlossen sind, daß sie nur noch die Rolle von Geräteteilen spielen,
hat, so lange er funktioniert, jedem dieser Apparatteile eine eiserne
Ration mitzugeben, eine Uberbrückungsration, die so lange vorzuhal
ten hätte, als er, der Großapparat, ausfällt. - Oder anders: Die Zen
trale hat für die mögliche Notsituation der Dezentralisiertheit, in die
sie geraten kann, Vorsorge zu treffen: sie hat stets so zu funktionieren,
daß sie sich, mindestens vorübergehend, überflüssig macht.
So wenig daran gezweifelt werden kann, daß die (in der Energiewirt
schaft wohl am weitesten vorgeschrittene) Interkonnektion aller Anla
gen und Apparate ungeheure Vorteile mit sich bringt, so wenig kann
daran gezweifelt werden, daß mit der Größe der Großmaschine auch
die Größe der Gefahr wächst. Je größer der Komplex, desto größer die
Katastrophe, wenn der Komplex versagt. Nicht nur gilt, daß die in
Großnetze integrierten Betriebe durch diese gefährdet werden können,
umgekehrt stellen die Großbetriebe ein solches Risiko dar, daß die
etwas kleineren sich vielleicht als praktischer erweisen könnten. Jen
seits einer bestimmten, in jedem speziellen Falle abzuwägenden, Maxi
malgröße könnten Apparatkomplexe unwirtschaftlich, weil zu riskant
werden.
Neunte These: Eine der Hauptaufgaben aller Planungen (und das
heißt ja: der Zentralisierung von tausend Aktivitäten und Apparaten,
ihrer Ausrichtung auf ein einziges Ziel hin) wird künftig in der Dosie
rung der Größe von Großmaschinen bestehen. Durchaus möglich, daß
nicht nur nicht der kleinste, sondern auch der größte Apparat nicht der
beste ist.
In den vorstehenden Seiten haben wir aus der Dialektik der Ma
schine Folgerungen gezogen, und zwar solche, die - darüber mache ich
mir keine Illusionen - mißdeutet werden könnten. Mißdeutet nicht
nur als reaktionäre Polemik gegen Planwirtschaft, sondern sogar als
Polemik gegen Technik als solche, also als Appell zur „Maschinenstür
merei“ . Tatsächlich ist dieser Ausdruck zuweilen in Besprechungen
von Arbeiten von mir gefallen, und zwar sowohl in Angriffen, die von
kapitalistischer, wie in solchen, die von kommunistischer Seite her
kamen. Dazu möchte ich zwei Bemerkungen machen.
1. Es genügt nicht zu beteuern, man solle die Technik für gute statt
für böse Zwecke, für aufbauende statt für destruktive Aufgaben benut
zen. Dieses Argument, das man aus den Mündern vieler hommes de
bonne volonte bis zum Überdruß hört, ist indiskutabel kurzsichtig.
Was heute gefragt werden muß, ist, ob wir so frei über Technik verfü
gen. Diese Verfügungsgewalt darf man nicht einfach unterstellen. In
anderen Worten: Es ist durchaus denkbar, daß die Gefahr, die uns
droht, nicht in der schlechten Verwendung von Technik besteht, son
dern im Wesen der Technik als solcher angelegt ist.
2. Reaktionär sind diejenigen, gleich ob hüben oder drüben, die
Angst davor haben, als Maschinenstürmer verspottet zu werden. Der
Glaube, daß es Provinzen gebe, die von Selbstwiderspruch und Dia
lektik frei wären, und daß ausgerechnet die Technik eine solche angeli-
sche Provinz sei, ist kindisch. Daß vor- oder antimarxistische Fort
schrittsgläubige so naiv sind, Technik unter allen Umständen zu prei
sen, ist wenig verwunderlich. Aber Marxisten, die in dem Wort „D ia
lektik“ mehr als eine offizielle Visitenkarte respektieren, dürften das
nicht. Vielmehr sind sie dazu verpflichtet, die der Technik als solcher
innewohnenden Widersprüche, also auch die potentiellen Gefahren
der Technik, anzuerkennen, zu untersuchen und zu bekämpfen.
Nichts ist lächerlicher, als in diesen Gefahren etwas Lächerliches, und
in der Untersuchung dieser Gefahren etwas lächerlich Un-Marxisti
sches zu sehen. Da Marx den Apparat und die Technik der kapitalisti
schen Gesellschaft für die Entfremdung verantwortlich gemacht hat,
und da er die Selbstverwandlung des kapitalistischen Systems in ein
sozialistisches, gleich ob zu Recht oder nicht, verkündet hat, hat auch
er ja schon, nein, hat gerade er den dialektischen Umschlag an der
Technik bejaht.
Natürlich liegt mir nichts ferner (und nichts läge natürlich weniger
in meiner Macht), als mit meiner Kritik der Technik den technisch
unterentwickelten und durch die Überlegenheit der technischen Groß
mächte erpreßten Völkern nun davon abzuraten, sich auf das „A ben
teuer Technik“ einzulassen. Die Attitüde gegenüber der Technik hat
sich in den unterentwickelten Ländern völlig von der zu unterschei
den, die wir in den technisch höchst entwickelten einzunehmen haben.
Das Fehlen der Technik ist in unterentwickelten Ländern eine ungleich
größere Gefahr als deren Existenz. In diesen Ländern muß die War
nung vor der Technik, die für uns bereits gilt, wahnsinnig klingen.
Vorbemerkung 1970
Dieser Essay stammt aus dem Winter 1962/63 und erschien (bis auf
einige Paragraphen) unter dem Titel „D e r sanfte Terror" im Frühjahr
63 im „M erkur“ . Damals hatte ich diesen Text nicht als eine in sich
geschlossene Schrift geplant. Vielmehr entstand er als Ableger eines
anderen Textes: meiner (zuvor ebenfalls im „M erkur“ erschienenen)
ersten Reflexionen über die damals gerade beginnende Raumfahrt.
Diesen speziellen Themenkreis haben die Gedanken über den „K o n
formismus“ so tief in den Hintergrund verdrängt, daß es mir nun, nach
sieben Jahren, unmotiviert und unberechtigt zu sein schien, die zwei
Texte zusammen, gar als Teile eines größeren Ganzen, vorzulegen. Ich
habe die zwei Stücke also auseinandergeschnitten und den ersten Teil
(die Raumfahrtbetrachtungen) mit einem später verfaßten Text über
denselben Gegenstand, also über Raumfahrt, kombiniert;1 und lege
den zweiten Teil, also den hier nachstehenden Text, nun isoliert vor.
Freilich ist es mir klar, daß diese Mitteilung nicht ausreicht; daß der
Leser, und zwar mit vollem Recht, zu erfahren wünschen wird, wie die
zwei Stücke ursprünglich zusammengehangen hatten, auf Grund wo-
von ich sie, mindestens vorübergehend, für Teilstücke einer einzigen
Schrift hatte halten können; oder anders: wie eine Konformismustheo
rie aus Ausführungen über Raumflug hatte entstehen können; worin
der Generalnenner der zwei Themen bestande n hatte.
Die Antwort auf diese berechtigte Frage lautet: „Science F i c t i o n Es
war mir nämlich, und nicht als einzigem, aufgefa11en, wie frappierend
die Raumflüge denjenigen fiktiven Ereignissen und Abenteuern äh
nelten, die seit Jahren in den von Science-Fiction-Autoren und den
(von allen Zeitungen der USA täglich veröffentlichten) „cartoons“
geschildert worden waren. Aus dem Staunen über diese frappierende
literarische und zeichnerische Antizipation der heutigen Wirklichkeit
entstand aufs natürlichste die Frage nach der Funktion dieser „Künst
ler“ in der heutigen Welt - eine Frage, auf die die Antwort lautete, daß
diese Männer so schrieben und zeichneten, als wären sie nicht freie
Schriftsteller oder Künstler, sondern Angestellte der Technokrate; so
als wäre es ihr bezahltes Amt, die Zeitgenossen, also uns, zu guten und
widerspruchslosen, kurz: konformen Mitbürgern der technischen Welt
vor-zuerziehen. Wie weit es sich hier nur um ein „A ls ob“ handelt, das
ist pauschal kaum zu beantworten, um so weniger als sich die Autoren
durch ihre Klassifizierung als „Auftragsarbeiter“ nicht gekränkt füh
len würden. - Gleichviel, im Verlaufe des Weiterschreibens verloren
dann die Figuren der Science Fiction, der Cartoon-Zeichner und der
Konsumenten der Produkte ihre exemplarische Bedeutung. Was mich
interessierte, und was ich nun zum Thema machte, waren die Vor
gänge der Gleichschaltung und der Erziehung zur Gleichschaltung als
solche: Vorgänge von so grundsätzlicher und genereller Bedeutung,
daß diese weiterhin mit den Beispielen von Cartoon-Zeichnern oder
Science-Fiction-Autoren zu belegen, sinnlos gewesen wäre. So geschah
es also, daß der ursprüngliche Startpunkt vergessen, oft die Erinnerung
an diesen auch absichtlich abgeschnitten, und eine generelle Theorie
der Gleichschaltung entworfen wurde.
Die Propheten als Diebe
§2
Anwendung:
Diejenigen, die uns zu unterwerfen entschlossen sind (in unserem
Falle die Interessenten der Technik, bzw. diese selbst als Interessen
tin), wünschen ihre prospektiven Opfer so widerstandslos und so auf
nahmebereit wie möglich. Da diese „power elite“ nun weiß,
1 . daß unser Widerstand nur dann minimal, unsere Aufnahmebereit
schaft nur dann optimal ist, wenn wir mit Unterhaltung beliefert
werden,
2. daß es keine Inhalte gibt, die sich wehren, also keine, die nicht in
Unterhaltungsmaterial umgewandelt und als solches aufgetischt wer
den könnten,
tarnt sie jeden Inhalt, von dem sie wünscht, daß er assimiliert werde,
erst einmal als „ Unterhaltung“ . „ Unterhaltung“ ist mithin die Ten
denzkunst der Macht. Sogar (da mit ihrer H ilfe die für morgen und
Wer unfrei konsumiert, konsumiert Unfreiheit 139
§4
Gewiß nicht. Aber ebenso unbestreitbar ist es ja, daß die Texte so
abgefaßt sind, als wenn sie bestellt wären; als wenn sie von perfekt
gleichgeschalteten Autoren, um nicht zu sagen: von höchst anstelligen
Angestellten stammten. Und dieser Schein würde, wenn der Zw i
schenrufer recht hätte, mysteriös bleiben. Wie steht es also? Hatte
unser Zwischenrufer recht, oder hatte er unrecht?
Unrecht. Und was vorliegt, ist auch nicht einfach ein „Schein“ . In
der Tat kam der Einwand von einem Manne, der die eigentümliche
Funktionsart „konformistischer Gesellschaften” nicht durchschaut.
Was hatte er sich nicht klargemacht?
Daß „konformistischen Gesellschaften“ gegenüber zwei Unter
scheidungen, deren Rechtmäßigkeit zu bezweifeln wir früher keine
Ursache gehabt hatten, hinfällig geworden sind. Welche Unterschei
dungen?
1. Die zwischen ausdrücklichem und unausdrücklichem Zwang.
2. Die zwischen Sichgleichschalten und Gleichgeschaltetwerden.
§J
Alles und Nichts
§6
Daß die Heimwelt für den Rundfunkhörer und den Fernseher durch
keine Wand mehr von der Außenwelt getrennt ist, davon war bereits
im ersten Bande die Rede gewesen." Aber dieses Verschwinden der
Wand ist nicht etwa eine Kuriosität, die sich aus der zufälligen techni-
sehen Eigenart dieser Kommunikationsmittel erklären ließe. Ihren E r
folg verdankt diese Eigenart vielmehr ausschließlich der Tatsache, daß
sie einem der charakteristischsten Erfordernisse des konformistischen
Systems aufs genaueste entspricht. Dieses Erfordernis heißt: , ,Wand-
losigkeit“ .JT Denn Wände sind im konformistischen System überhaupt
nicht mehr geduldet. Demontiert ist nicht nur die Wand zwischen
Aktivität und Passivität; nicht nur die zwischen privater und öffentli
cher Sphäre; sondern sogar die zwischen „Seele und Welt“ . Was heißt
das?
Daß der optimale Konformist nicht nur Konformist ist, sondern
„ Kongruist".
Und das bedeutet wiederum, daß er sich den ihm zugedachten und
gelieferten Inhalten nicht nur anformt, sondern daß sich der Inhalt
seines Seelenlebens schließlich mit diesen Inhalten deckt. Konkret:
Daß er nur dasjenige noch benötigt und nur dasjenige noch benöti
gen kann, was ihm aufgenötigt wird;
nur dasjenige noch denkt und nur dasjenige noch denken kann, was
ihm zugedacht wird;
nur dasjenige noch tut und nur dasjenige noch tun kann, was ihm
angetan wird;
daß ihm nur noch so zumute ist und nur so noch zumute sein kann,
wie es ihm zugemutet wird.
Es liegt auf der Hand, daß zwischen solchen, mit Gleichem (bzw.
Identischem) „Kongruenten“ gegenseitige Verständigungsschwierig
keiten nicht mehr auftauchen können. Jeder versteht jeden, die D iffe
renz zwischen Selbsterkenntnis und Fremderkenntnis ist aufgehoben,
der Vorname verdrängt den Nachnamen, jeder ist jedem, wenn auch in
einem neuen Sinne, „proximus“ ; keiner fühlt sich mehr bemüßigt, sein
Recht auf Privatheit geltend zu machen; keiner sieht einen Anlaß, seine
Geheimnisse seinen Mitmenschen nicht mitzuteilen; und keinem von
ihnen liegt noch etwas daran. Wirkliche Geheimtresors, wirkliches
geistiges oder seelisches Privateigentum besitzen Kongruisten garnicht
mehr - auch das, was sie für ihr Privateigentum halten mögen, gehört
zu den gelieferten Stücken; und geliefert ist ihrien ja sogar ihr Wahn,
daß das ihnen Gelieferte ihr Privateigentum sei. Kurz: ihre „privata“
teilen sie immer schon ohnehin mit den Anderen. Wenn es aber ge
schieht, daß einem „Kongruenten“ doch noch eine Eigenart, die er mit
den Anderen nicht teilt, gewissermaßen als Webfehler oder Muttermal,
anhängt und auffällt, dann teilt er diese den Anderen nachträglich mit -
was ihm keine Schwierigkeiten bereitet, da ihm die Psychoanalyse, die
für solche Fälle bereitsteht, die Mittel und Methoden dafür in die
Hand gibt. Schon heute gilt in der konformistischen Gesellschaft
Schamlosigkeit als Offenheit, also als Tugend, und diese Tugend als
Loyalitätszeugnis. Unter den Aussprüchen unserer Zeitgenossen
wüßte ich keinen, der für unsere Epoche so repräsentativ wäre wie
Eisenhowers berühmtes (natürlich vor der gesamten Fernsehnation
abgelegtes) seinen kranken Leib betreffendes Geständnis „ / have
nothing to hide” . Gerade durch die Unbefangenheit, mit der er diese
Worte aussprach (und aussprechen durfte), machte er sie zu einem
klassischen Dokument der konformistischen Gesellschaft. Geben wir
uns keinen Illusionen hin. Die Exhibitionsbereitschaft, die wir unter
dem „sanften Terror“ , also in der konformistischen Gesellschaft, aus
gebildet haben, ist für uns genau so charakteristisch, wie es die Selbst
bezichtigungsmanie für die unter blutigem Terror, also in totalitären
Diktaturen, lebenden Menschen ist. Warum unser Defekt weniger
schlimm und weniger entwürdigend sein soll als der der Anderen, den
zu verachten w ir nicht müde w erden, das ist nicht einzusehen. N u r
w eniger propagandistisch verbreitet ist er.
Der Kollektivmonolog
Niem and hat also Geheimnisse, jeder steht jedem offen. - Und
trotzdem wäre es für einen „P hilosophy Fiction“ schreibenden A u tor,
der die perfekt konform istische Gesellschaft von übermorgen zu schil
dern hätte, eine große Verlockung, die Enkelgeneration als verstummt
zu schildern; und zw ar als total verstummt, nicht nur als so sprachver-
kümmert, wie auch w ir es ja schon sind.
N atürlich klingt das widerspruchsvoll. Restlose gegenseitige O ffen
heit und Verstummtsein scheinen einander auszuschließen. A ber so
scheint es nur. Denn Verstummen tritt nicht nur dann ein (dies freilich
der häufigste Fall), wenn die K luft zwischen Person und Person zu
breit oder zu gefährlich für Ü berbrückung ist, sondern auch dann,
wenn die Kluft zu schmal ist, um sprachliches Brückenschlägen über
haupt noch nötig zu machen. Jedes Sprechen erfordert eine M indest
distanz: M itteilung hat allein dann Sinn, wenn es ein G efälle zwischen
Sprecher und H örer gibt; wenn ein A , der Bescheid weiß, einen B, der
nicht Bescheid weiß, an seinem Wissen teilnehmen läßt. Dieses M ini
mum von D ifferenz w ird es aber bei den Kongruisten, aus denen sich
die perfekt konformistische Gesellschaft übermorgen zusammensetzen
w ird, nicht mehr geben. D a sie alle mit dem Gleichen beliefert sein
werden, werden sie alle das Gleiche wissen. U nd das heißt: Jeder
H örer wird dort nur dasjenige noch hören können, was er selbst
gleichfalls sagen könnte; und jeder Sprecher nur dasjenige noch aus
sprechen können, was er von jedem anderen hören könnte - und unter
solchen Umständen den Mund oder die Ohren noch aufzumachen, das
w äre natürlich sinnlos. Schöne Aussichten. Denn philosophisch gese
hen bedeutet das, daß der triumphierende Konform ism us nicht nur
einzelne Differenzen (wie die zwischen „ak tiv“ und „passiv“ ) zum
Verschwinden bringen w ird, sondern sogar unsere differentia speci-
fica: also unser J.Oyov e)(£iv.
Nun, ganz so weit sind wir heute noch nicht. Aber doch schon ein
gutes Stück auf dem Wege dorthin. Die Frage, ob in unserer heutigen
konformistischen Welt bereits weniger geredet wird als in der gestri
gen und vorgestrigen Welt geredet wurde, die läßt sich zwar kaum
entscheiden. Unverkennbar ist es dagegen, daß es bereits ominöse Ver
stummungs-Situationen gibt, z.B . die Situation der vor dem Fernseh
schirm sitzenden, während der Simultanabspeisung wortlosen, Fami
lie. Und noch wichtiger als diese Spezialsituation scheint mir die neue
Funktion, die das Sprechen in der konformistischen Gesellschaft ange
nommen hat. Sofern das Wort „Funktion“ hier noch am Platz ist.
Denn, mindestens auf den ersten Blick, scheint unser Sprechen nun zu
einer völlig sinnlosen Beschäftigung verkümmert zu sein; womit ich
meine, daß wir, wenn wir miteinander sprechen, eine und dieselbe (uns
gelieferte) Erlebniswelt in Worte kleiden, und zwar in Worte, die ei
nem und demselben (uns gelieferten) Vokabelschatz angehören; daß
wir mithin ein durch und durch tautologisches Tauschgeschäft betrei
ben. Von den meisten unserer Gespräche, namentlich vom „small
talk“ , gilt es bereits, daß die Worte oder Wörter, die wir mit unseren
Partner wechseln, den zwischen Tennisspielern hin und her fliegenden
Bällen gleichen; d.h.: daß die „Bälle“ , die wir sprechend „geben“ ,
identisch sind mit denen, die wir hörend empfangen haben; und daß
die, die wir empfangen, identisch sind mit denen, die wir gegeben
haben - kurz: daß Nehmen und Geben austauschbar geworden sind'\
Wenn Herr A eine (ihm von der Großbäckerei G zugestellte) Semmel a
an Herrn B verkaufen würde, und wenn dieser, um für diese Semmel a
zu zahlen, Herrn A eine (ihm von derselben Firma gelieferte, der
Semmel a gleichende) Semmel b aushändigen würde - diese Transak
tion wäre um nichts absurder als die Transaktion, die in unserem
alltäglichen Sprechen vor sich geht.
In anderen Worten: das millionenstimmige Geräusch, das heute er
zeugt wird, stellt - und darin besteht die neue Funktion des Sprechens
heute - nichts anderes mehr dar als einen einzigen, mit verteilten R ol
len gesprochenen „ Kollektiv-M onolog“ . D ie konformistische Gesell
schaft als ganze redet mit sich selber. Das klingt zwar seltsam, aber
Seltsamkeit ist kein Gegenargument. Berechtigt ist es dagegen zu fra
gen - denn so sinnlos, wie sie auf den ersten Blick scheint, kann diese
Beschäftigung ja nicht sein - , warum die konformistische Gesellschaft
ihr derart verkümmertes Sprechen noch nicht total hat einschlafen
lassen, warum sie auch heute noch Wert darauf legt, pausenlos wei
terzumonologisieren. Und darauf lautet die Antwort: Das tut sie im
Interesse ihres eigenen Daseins. Also deshalb, weil ihre Maschinerie
niemals völlig tadellos läuft, weil sie ständig in der Gefahr schwebt,
ihre bereits gewonnene Form, ihren Konformitätskoeffizienten, wie
der einzubüßen, weil sie ständig etwas verbesserungsbedürftig und
-fähig ist - weil sie also ständig Mittel einsetzen muß, um sich auf
rechtzuerhalten und sich zu korrigieren.
Nun, daß wir durch zahllose Aktivitäten (natürlich ohne deren Be
wandtnis zu durchschauen) unser Konfomierungspensum absolvieren,
das hatten wir ja vorhin schon betont. Letztlich gibt es wohl sogar
keine einzige Aktivität, die nichts dazu beitrüge. Und eine dieser Akti
vitäten, vermutlich sogar deren wichtigste, ist unser tausendstimmiges
Miteinander-sprechen. Denn dadurch, daß wir miteinander sprechen,
schleifen wir diejenigen Differenzen, die zwischen uns noch übrigge
blieben sein mögen, ab; positiv gesprochen: dadurch schleifen wir, um
perfekt zusammenzustimmen, unsere Konformität zurecht. Das Wort
„zusammenstimmen“ kommt wirklich wie gerufen. Denn es legt uns
ein Bild nahe, das unser Sprechen ungleich genauer trifft als unser
Vergleich mit dem Tennisspiel: nämlich das Bild des stimmenden O r
chesters. Dadurch, daß wir miteinander sprechen, „stimmen“ wir un
sere Instrumente, „stimmen“ wir uns aufeinander „ab“ , bis das Kam-
mer-a der Gesellschaft gesichert ist. - Hier freilich endet die Gültigkeit
des Bildes. Denn bei der Symphonie, derzuliebe wir uns aufeinander
abstimmen, handelt es sich um ein ungewöhnliches Stück, um ein
Stück nämlich, das gar nicht mehr erklingen soll. Das Zusammenspiel,
für das wir uns da laut vorbereiten, das soll ja so perfekt werden, daß es
lautlos bleiben kann. Das ist nicht widersinnig, mindestens ist das
Paradox banal, denn schließlich gibt es heute ja hunderte von Arbeiten,
die nicht weniger paradox sind, da wir ja auch sie heute nur deshalb im
Schweiße unseres Angesichts durchführen, weil wir hoffen, daß sie
dadurch morgen antiquiert sein werden. Und vom Sprechen gilt das
heute eben auch: Sprechend steuern w ir auf den idealen Zustand restlo
ser Konformität los; auf einen Zustand, in dem alles „selbstredend”
stimmt, und das heißt eben: in dem sich unser Selber-reden erübrigt. In
der Zukunftswelt unseres fiktiven „Philosophy Fiction“ -Autors wird
unser Selber-sprechen genau so antiquiert sein, wie es heute bereits
unser Selbst-auf-die-Jagd-Gehen oder unser Selbst-Brot-Backen ist.
Und wenn dieser Zukunfts-Reporter den Triumphtag der Schande, an
dem das totale Verstummen einsetzt, als Ergebnis unseres heutigen
„Kollektiv-M onologs“ darstellen würde, dann würde er vollkommen
recht haben.
Ergo sum
Die Adaptierungshilfe
§ ii
Wenn wir behaupten, daß die Züge des von uns Portraitierten nun
endlich Umriß angenommen haben und deutlich hervortreten, so
klingt das vielleicht etwas unglaubhaft. Denn was sich herausgestellt
hat, ist ja gerade, daß die differentia specifica des Konformisten in
Undeutlichkeit besteht, daß ihm jede scharfe Kontur fehlt; daß alle
jene Grenzlinien, die uns selbstverständlich scheinen (die zwischen
Spontaneität und Zwang, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen
Benötigen und Genötigt-werden, zwischen Innen und Außen, zwi
schen Individuum und Individuum) in der Existenz des Konformisten
total verwischt sind.
Aber ein Ergebnis stellt auch das natürlich dar, zur positiven Be
stimmung des Nebels gehört eben dessen Unbestimmtheit. Und da wir
nun also wissen, was es mit dem Konformisten auf sich hat, sind wir
vielleicht auch in der Lage, jene Tatsache, die uns zu Beginn so frap
piert und die unsere Überlegungen in Gang gebracht hatte, aufzuklä
ren. Hiermit kehren wir also zu unserer ursprünglichen Frage zurück.
Gelautet hatte diese: Wie kommt es, daß gewisse Erzeugnisse, die zw ei
fellos nicht von Angestellten herrühren, doch so wirken, als wenn sie
das Werk anstelligster Angestellter w ä re n ? '
Gehen wir, um diese Frage nun zum zweiten Male in Angriff zu
nehmen, von einen Ausdruck aus, mit dem wir vorhin die Dinge unse
rer heutigen Welt belegt hatten. Wir hatten sie „sirenisch“ genannt.
Warum?
Weil sie werbende Dinge sind.
§ 12
So also sieht unsere heutige Welt aus. Und da, akademisch gespro
chen, ontische Veränderungen von so revolutionärem Ausmaß ontolo
gisch nicht folgenlos bleiben können, bedeutet das, daß das „In-der-
werbenden-Welt-sein“ einen ontologischen Status eigener Art dar
stellt; daß wir, die wir als Mitbürger einer werbenden Welt leben, in
einem anderen Sinne „da“ sind, als unsere Eltern und Voreltern „da“
gewesen waren: daß sich unser Leben als ein pausenloses „ Umworben
sein“ abspielt. - Aber was bedeutet das wieder? Was bedeutet das für
uns Heutige?
Darüber kann es nun keinen Zweifel mehr geben. Da uns das Bild
des „Kongruisten“ nun vertraut ist, da wir nun wissen, daß wir als
„Kongruisten“ unfähig geworden sind, zwischen Spontaneität und
Zwang, zwischen Benötigen und Genötigt-Werden zu unterscheiden,
lautet die Antwort: „W ir leisten der Werbung Folge“ . Und das bedeu
tet wiederum: „ Wir leben so, als wenn w ir zum Mitmachen effektiv
angeworben wären, als wenn w ir Auftragsarbeit leisteten.“
Aber warum verwenden wir noch immer dieses ängstliche „als
wenn“ ? Haben wir diese Zurückhaltung wirklich noch nötig? Hängt
denn die Antwort auf die Frage, ob wir angeworben sind oder nicht,
ob wir Auftragsarbeit leisten oder nicht, wirklich davon ab, ob wir
ausdrücklich zur Mitarbeit angeheuert worden sind? Oder nicht viel
mehr davon, ob wir die Freiheit besitzen, der Werbung zu w ider
stehen?
Allein davon. Außer der Widerstandsfreiheit gibt es hier kein Krite
rium.
Und deshalb darf die Antwort anders lauten. Muß sie sogar anders
lauten. Da wir diese Widerstandsfreiheit nicht besitzen, gilt: „W ir sind
beauftragt“ und: „W ir sind angeworben.“
Regel: Wenn Wesen, die der Freiheit, der Werbung zu widerstehen,
beraubt sind, umworben werden, dann werden sie dadurch angewor
ben. Ihr Dasein ist dann „Angeworben-sein“ .
Pausieren wir hier für einen Augenblick. Denn nach den vielen
Kreuz- und Querwegen, auf denen wir, um uns auf dem Terrain des
Konformismus umzusehen, herumgezogen sind, haben wir nun doch
wieder den Punkt erreicht, von dem wir ausgegangen waren: das Pro
blem des „Angestellt-seins“ . Vom „Angeworben-sein“ zum „Ange-
stellt-sein“ ist es wirklich nur ein verbaler Schritt, statt von „A nge
worben-sein“ dürfen wir ruhig von „Angestellt-sein“ sprechen. Der
Gleichung, auf die wir von vornherein abgezielt hatten, steht nun
nichts mehr im Wege. Sprechen wir sie nun endlich aus: „ Unser kon
formistisches Sein ist Angestellt-sein” .
§13
Gewiß ist es wahr, daß uns diese Aufträge als Aufträge zumeist
unkenntlich bleiben, daß wir unser Verwenden und Aufbrauchen als
Pflichterfüllung und als Arbeitsleistung fast niemals durchschauen.
Aber diese unsere Blindheit als Einwand gegen die Realität unseres
Anstellungsverhältnisses ins Feld zu führen, das wäre, da ja dieses
Verhältnis seine Festigkeit und seine Unkündbarkeit gerade unserem
falschen Bewußtsein verdankt, natürlich sinnlos.
Durchaus sinnvoll ist es dagegen, nein sogar unerläßlich, zu fragen,
mit welchen Mitteln unser falsches Bewußtsein erzeugt wird. Unerläß-
lieh deshalb, weil sich der in der konformistischen Welt arbeitende
Betrugsmechanismus von den uns aus früheren Zeiten vertrauten Be
trugsmechanismen unterscheidet. Wie also kommt unser falsches Be
wußtsein zustande?
Erst einmal negativ: Nicht dadurch, daß uns falsche Theorien oder
„Ideologien“ eingeflößt würden. Ausschlaggebend sind Ideologien je
denfalls nicht mehr, das heute bereits zum Schlagwort gewordene
Wort „Entideologisierung” ist durchaus berechtigt. Nicht berechtigt,
nein sogar betrügerisch, ist dagegen die Genugtuung, mit der man
dieses Wort, so als zeigte es das Ende des Betrugs an, zu verwenden
liebt. Von einem „Ende des Betrugs“ kann keine Rede sein. Wenn
Ideologien nun abzusterben beginnen, so umgekehrt gerade deshalb,
weil sie überflüssig gemacht worden sind; weil sie nun nämlich - damit
sind wir bei der positiven Bestimmung des Betrugsmechanismus -
einem Prinzip weichen dürfen, das ungleich betrügerischer ist als das
„ideologische“ : dem der „falschen Z u s t e llu n g Was ist mit diesem
Ausdruck gemeint?
Die Taktik der heutigen Auftraggeber, die Aufträge, deren Erfül
lung sie von uns erwarten, falsch zu klassifizieren, uns diese in getarn
ter Version zuzustellen, unter Pseudonymen, mit Etiketten, deren
Aufschriften die wirkliche Bewandtnis der Aufträge nicht nur ver
schweigen, sondern diese ausdrücklich in eine andere Bewandtnis um
lügen: uns nämlich die diversesten Spielarten sogenannter „Freizeitge
staltung“ , also von Nicht-arbeiten, einreden. Den jedermann bekann
ten „Warenfälschungen“ entsprechen heute die (mit diesen aufs engste
zusammenhängenden) „Aktivitätsfälschungen” , die zwar als Prinzip
unbekannt, aber gerade deshalb um so verhängnisvoller sind. Wie ver
hängnisvoll, das beweist z.B. die falsche Etikettierung „Brausebad“ ,
die die Vergasungsräume in den Vernichtungslagern zierte. Durch
diese Aufschrift wurde der Arbeitsauftrag, der wirklich gemeint war,
nämlich der Auftrag „Werde Abfall“ in einen Freizeitauftrag, nämlich
in den „Erfrische dich durch eine Dusche!“ , umgewandelt. Das Ergeb
nis ist bekannt.
Dieses Beispiel genügt, um das Mißverständnis des Ausdrucks „fal
sche Klassifizierung“ zu verhindern. Wer in (gleich ob sachgerechten
oder -ungerechten) Klassifikationen lediglich von Akademikern an
Schreibtischen post festum durchgeführte Einordnungen sieht, nur
theoretische, und deshalb angeblich folgenlose Denkoperationen, der
hat über die pragmatische Bedeutung des Denkens niemals nachge
dacht. Der säuberlichen Unterscheidung zwischen „wirklichen Vor
gängen“ hier, und nachträglichen, „bloß theoretischen“ , und deshalb
folgenlosen „Klassifikationen“ dort entspricht in praxi nichts - womit
freilich nicht bestritten ist, daß diese Unterscheidung oft ungeheuer
praktisch ist. Gleichviel, Klassifizierungen sind immer schon prakti
sche Maßnahmen; und viele von ihnen gehen sogar, statt der Wirklich
keit nachzuhumpeln, dieser voraus. Und zwar deshalb, weil ob und
wie wir Aufträge ausführen, davon abhängt, als was (und das bedeutet
eben: wie klassifiziert) sie uns zugewiesen werden. Und etwas Folgen
schwereres, mithin Wirklicheres, als dieses „O b und Wie“ läßt sich ja
wohl kaum vorstellen.
Nicht mit Hilfe eines uns separat gelieferten „ Überbaus“ werden
wir also belogen, sondern mit Hilfe von etwas, was der Realität bereits
„eingebaut“ ist. Die heutige Lüge befindet sich immer schon „a lib i“ ,
d. h. anderswo, eben immer schon versteckt im Inneren der Praxis
selbst. Und dieses Alibi ist die größte Chance, die der Lüge blühen
kann: Da der Betrug nun auf Sonderexistenz verzichtet hat, also nicht
mehr als identifizierbarer oder widerlegbarer Lügensatz oder als
selbstbewußt ausgebreitete Doktrin auftritt, ist er nun imstande, genau
so zu handeln, wie sein klassischer Meister, der im Dunkel der Höhle
Polyphem auflauernde Odysseus, gehandelt hatte, nämlich in schein
barer Bescheidenheit zu lügen, daß er „niem and“ sei. Und durch die
ses sein angebliches Niemand- und Nicht-sein kann auch er seine Geg
ner nun blenden und über diese triumphieren. -
Vollends deutlich wird diese Taktik der Umfälschung von Auftrags
arbeit in Freizeitbeschäftigung dann, wenn wir sie als Stück eines grö
ßeren Ganzen, eines breiteren Betrugssystems, erkennen. Dieses breite
System ist der „ Verschiebungsmechanismus“ . Was verstehe ich dar
unter?
Einen Mechanismus, dessen Prinzip es ist und dessen Leistung darin
besteht, die Irreführung systematisch zu regulieren, nämlich alle Akti
vitäten falsch einzuordnen. Und zwar so, daß die in Wahrheit der
Klasse A zugehörenden Aktivitäten als solche der Klasse B, die in
Wahrheit der Klasse B zugehörigen als solche der Klasse C auftreten,
u. s. f. D a A in die Sparte B verschoben wird und B in die Sparte C,
ist die Wahl des Ausdrucks „Verschiebungsmechanismus“ ein
leuchtend.
Nichts wäre in der Tat falscher als zu glauben, daß nur unser „A r
beiten“ der falschen Klassifizierung zum Opfer falle. Ebenso gibt es
die Umkehrung dieses Vorgangs, ebenso üblich ist es, Aktivitäten, die
in Wahrheit keine „Arbeiten“ sind, als „Arbeiten“ auszugeben. Nach
Beispielen für solche Umkehrung brauchen wir nicht zu suchen, die
beiden klassischen heißen Auschwitz und Hiroshima. Diese Vernich
tungen, die in Wahrheit natürlich Taten, und zwar Untaten gewesen
waren, waren ja denjenigen, die diese Taten zu begehen hatten, als
„ Arbeiten“ bzw. ,,jobs“ zugewiesen worden. Welche Folge diese fal
sche Klassifizierung nach sich gezogen hat - ich meine nicht die letzte
Folge: nicht Schutt und Asche, sondern die vorletzte: die Wirkung auf
die Täter - das ist ja bekannt. Da diese als Kreaturen des industriellen
Zeitalters gelernt hatten, daß Arbeit niemals „olet“ , nein noch nicht
einmal stinken kann; und daß sie eine Beschäftigung ist, deren End
produkt uns und unser Gewissen grundsätzlich nichts angeht, erledig
ten sie eben die ihnen mit dem Etikett „Arbeit“ zugewiesenen Massen
mord-Aufträge genau so widerspruchslos wie jede andere Arbeit. Wi
derspruchslos, weil mit bestem Gewissen. Mit bestem Gewissen, weil
ohne Gewissen. Ohne Gewissen, weil durch die Art der Zuweisung
vom Gewissen absolviert. „O ff limits für das Gewissen.“
B statt A, und C statt B. Die Entsprechung ist perfekt. So wie da
mals das Handeln in die Klasse „A rbeit“ verschoben wurde (und na
türlich in ähnlichen Fällen auch heute verschoben wird), so wird unser
Arbeiten häufig in die Klasse „Freizeitgestaltung“ verschoben. Und
sowenig Bombenflieger oder Liquidationsbeamte wußten, daß sie han
delten, und was sie als Handelnde da auf sich nahmen, so wenig wissen
wir als konformistische Kunden und Konsumenten - denn wir glauben
ja, unsere Freizeit frei zu verwenden -, daß wir einen Auftrag ausfüh
ren, und welchen Auftrag wir da ausführen. Absicht und Wirkung der
zwei Verschiebungen sind also identisch, die Entsprechung ist perfekt:
Hier wie dort wird unser hemmungsloses Mitmachen gesichert, hier
wie dort Widerstand, sofern solcher sich rühren sollte, im Keim er
stickt. Und vieles, was wir zu tun zögern oder direkt ablehnen w ür
den, wenn es uns nach Feierabend als ausdrückliche Auftragsarbeit
zugemutet werden würde, erledigen wir, wenn es uns falsch klassifi
ziert zuerteilt wird, ohne Widerspruch, nein sogar eifrig, nein sogar
mit Genuß.
Seit mehr als hundert Jahren hat man versucht, den Arbeiter durch
Lieferung von „falschem Bewußtsein“ daran zu hindern, zu erkennen,
daß er Arbeiter ist - denn auf nichts anderes war ja die Taktik, die
Ausbildung seines Klassenbewußtseins zu drosseln, hinausgelaufen. Es
läge nahe anzunehmen, daß die unglaubliche Verbesserung, die das
Leben des Arbeiters in den letzten Jahrzehnten erfahren hat und die in
manchen Ländern sogar den Ausdruck „Proletarier“ schon ausge
löscht hat, auch dieser Verhinderungsaktion ihr Ende bereitet habe.
Das Gegenteil ist der Fall. Denn die Verhinderungsaktion hat sich so
ungeheuer verbreitet, daß nun niemand mehr nicht zu den Opfern des
Betrugs gehört. Warum, das liegt nun ja auf der Hand. Da einerseits
Konsum zur Auftragsarbeit geworden ist, da es andererseits nieman
den gibt, der Nicht-Konsument, mithin Nicht-Angestellter wäre, ist es
erforderlich geworden, uns allen d ie Einsicht in unseren Status und in
die Art unserer Beschäftigung unmöglich zu machen. Das bedeutet
aber, daß w ir, welcher Klasse w ir auch entstammen mögen, durchweg
zu Enkeln der Proletarier von gestern geworden sind: zu Betrogenen.
Gewisse Publizisten scheinen es niemals überdrüssig zu werden, mit
leisem Vorwurf, zuweilen sogar mit Schadenfreude, zu wiederholen,
daß der Lebensstandard des heutigen Arbeiters mindestens ebenso
hoch sei wie der gestrige Lebensstandard der bürgerlichen Klasse. Die
Feststellung ist gewiß wahr: vermutlich sogar eine Untertreibung.
Wahr freilich nur dann, wenn man sie nur als eine Hälfte der Wahrheit
sieht. Denn ebenso wahr ist es, daß der „Wahrheits-Standard“ (wor
unter ich nicht den Maßstab unserer subjektiven Wahrheitsliebe
verstehe, sondern, analog zum „Lebensstandard“ , das Maß der uns
zugestandenen Wahrheit) - daß der „ Wahrheitsstandard“ der heuti
gen, angeblich klassenlosen Konsumgesellschaft als ganzer mindestens
ebenso tief ist wie der Wahrheitsstandard des Proletariats des vorigen
Jahrhunderts, wenn nicht sogar noch tiefer. Die unbestreitbare An-
ähnelung der Klassen aneinander ist nicht nur in Form eines Aufstiegs
vor sich gegangen, also von unten nach oben, sondern gleichzeitig auch
in Form eines Abstiegs, also von oben nach unten.
§ 14
Die nach-vertragliche Knechtschaft. Wir sind Geheimagenten
§ 16
Was sich in der konform istischen W elt abspielt, ist durch die N e n
nung der festgelegten Fabrikarbeit und des kommandierten Konsum s
natürlich nicht erschöpft. Daneben gibt es zahllose andere Arten von
Aktivitäten, unter diesen solche, die von Einzelnen erledigt werden.
A lso z .B . unsere, die des freien Schriftstellers. U n d da w ir unsere
T exte privat herstellen, als Heim arbeiten, am eigenen Schreibtisch und
im Vollgefühl der eigenen Schöpferkraft, scheinen w ir dem K onfor-
m ierungsdruck und -betrug nicht unterworfen zu sein.
A b er so simpel und undialektisch liegen die Verhältnisse im kon for
mistischen System nicht. D ie Tatsache, daß eine Arbeit privat ausge
führt w ird, beweist noch nicht, daß sie keine Auftragsarbeit ist, und
hat das auch früher nicht bewiesen. Schließlich waren auch die T extil
Heimarbeiter des 19. Jahrhunderts Auftragsarbeiter gewesen: M ate
rial, Qualität und Masse des Hausgewebten waren vom Fabrikanten
bestimmt; Realität hatten die Erzeugnisse allein dadurch gewonnen,
daß sie von diesem übernommen, weiterverarbeitet und verm arktet
wurden. U nd ganz veraltet ist dieser T yp von H eimarbeit auch heute
noch nicht. Gewisse Autoren, namentlich Filmautoren, dürfen, trotz
ihres luxuriösen Lebensstandards - man braucht nur das Wort „ Texti
lien " durch das Wort „ Texte“ zu ersetzen - als die Enkel der Heimar
beiter des letzten Jahrhunderts angesehen werden.
A b er das ist nicht der T yp von Heimarbeit, den ich hier im Auge
habe. Im Falle des Webers und des Film autors handelt es sich ja um
Übergangsarrangements (zwischen Handarbeit und m aschineller E r
zeugung), die zumeist als Kom prom isse erkannt w erden,26 und die die
Unternehm er deshalb in K auf nehmen, weil sie ihre Überw indung
bereits voraussehen können.
N ichts dergleichen in unserem Falle. D ie H eim arbeit, von der hier
die Rede ist, stellt w eder ein Übergangsarrangement dar noch einen
Kom prom iß. Vielm ehr entspringt sie einem Prinzip. - Dies meine H y
pothese: Die Interessenten des konformistischen Systems bejahen und
fördern Heim arbeit ganz ausdrücklich. U nd zw ar deshalb, weil sie den
größten Wert darauf legen, zu verwischen, daß ihr System bereits total
(und damit ein System totaler Freiheitsberaubung) ist. U nd diese V er
wischung bewerkstelligen sie dadurch, daß sie ihre Arbeitsaufträge
„ streuen", also Einzelnen als Heimarbeiten zuweisen - Einzelnen na
türlich, die nicht wissen, daß sie und warum sie beauftragt sind. U n
sere H ypothese stellt mithin ein Analogon zu unserer Konsum theorie
dar: Hatten w ir in dieser behauptet, daß, wer im konformistischen
System genieße, damit eine (getarnte bzw. ihm „falsch zugewiesene“ )
Auftragsarbeit durchführe, so behaupten w ir nun von dem individuell,
sogar von dem in Einsamkeit Arbeitenden dasselbe: also daß auch
er einen A u ftrag durchführe. Mißtrauen gegenüber der Vereinzelung
unserer Arbeit ist genau so geboten wie gegenüber unserem K o n
sum.
§ 17
D er gestreute Konsum
Keine Frage, daß sich die Vereinzelung, bzw . das, was w ir da eben
zur Charakterisierung unserer Einzelarbeit „S treu u n g“ genannt hat
ten, im K onsum am deutlichsten verwirklicht und von diesem am
deutlichsten abgelesen werden kann. In welchem Sinne ist Konsum
„gestreut“ ?
D ie Antw ort darauf kann als Regel form uliert werden. Diese lautet:
Die heutige, auf Gleichschaltung und Vermassung abzielende Belie
feru ng geht niemals so vor sich, daß die Masse als Masse abgefüttert
(oder sonstwie bedient) wird, sondern so, daß Einzelne, wenn natür
lich auch zahllose Einzelne, bedient werden und als Einzelne rezipie
ren. Vermassung vollzieht sich „ solistisch“ . A u f „Solisten“ verstreut
w ird z .B . die Rundfunksendung: M illionen sitzen isoliert vo r ihren
Apparaten und empfangen die Sendung im trauten H eim .27
N atürlich steht diese Förderung der Vereinzelung (von Lieferung
und Empfang) mit dem Gleichschaltungsziel nicht im W iderspruch,
umgekehrt ist sie selbst ein H ilfsm ittel der Gleichschaltung. Sie zielt ja
nicht darauf ab, den Einzelnen zu prägen oder Privatheit abzusichern,
vielmehr umgekehrt, darauf, Verm assung zu erzeugen. M ithin stellt
auch sie wieder einen Fall von „falscher Zuw eisung“ dar.
§ 18
Eine Ethik wie vor 175 Jahren mit dem Postulat des „guten Willens“
zu beginnen, das kommt heute nicht mehr in Frage. Das Postulat
unterstellte als selbstverständlich, daß wir einen Willen „haben“ , jeder
seinen. Diese Unterstellung wird selbst von demjenigen gemacht, der
mit der Schwierigkeit des Moralisch-seins anhebt, also zugibt, daß der
„gute Wille“ zumeist durch „Bedürfnisse und Neigungen“ (Kant)
daran gehindert werde, guter Wille zu sein. Was als behindert oder gar
als ruiniert gilt, ist immer nur der gute Wille. Und als Faktor der
Behinderung gilt immer nur das Zwillingspaar „Bedürfnis und N ei
gung“ . Gute Zeiten, in denen nichts gefährdet war als der gute Wille.
Denn was heute auf dem Spiel steht, ist der Wille als solcher. Und
was diesen gefährdet, beschränkt sich durchaus nicht nur auf unsere
„Bedürfnisse und Neigungen“ '. Die Unterstellung, daß jeder von uns
einen eigenen Willen „h abe“ , die ist heute, sowohl unter dem sanften
wie unter dem harten Terror, also im Zeitalter der Massenbeeinflus
sung, genau so unberechtigt wie die Unterstellung, daß jeder von uns
eine eigene Meinung „habe“ .
Diese Unterstellung eines „eigenen Willens“ war z.B. noch in den
klassischen Dokumenten der Demokratie gemacht worden, denn die,
„Meinung“ betreffenden, Rechtsansprüche, die in diesen Dokumenten
angemeldet werden, die setzen ja die Freiheit, eine Meinung zu „ha
ben“ , voraus und bezogen sich auf die zweite Freiheit, nämlich die als
„gehabt“ unterstellte Meinung frei zu äußern. Diese Unterstellung hat
nun heute bereits an Boden verloren. Zwar daß jeder von uns irgend
wie Meinungen „habe“ , das kann auch der skeptischste Skeptiker nicht
bestreiten. Aber wir sind doch, namentlich seit Marxens tödlicher A t
tacke auf den Stirnerschen Eigentumsbegriff, dem gegenüber, was „ha
ben“ bedeutet, äußerst argwöhnisch geworden. „H a ben “ kann man
schließlich auch Hunger oder eine eintätowierte Häftlingsnummer.
Welches „habere“ heute wirklich noch „habere“ ist, und nicht (um
m it, bzw. gegen Aristipp zu sprechen) ein „haberi” , ein G ehabtw er
den, das ist kaum zu beurteilen. G ew iß aber ist es, daß unser M einung
haben ein solches Gehabt-w erden darstellt, daß also unsere Meinungen
und W eltbilder geprägt werden, daß w ir mit diesen beliefert werden -
kurz: daß „m eine Meinung” nicht „m eine” M einung, „unsere“ nicht
„unsere” ist. D as ist heute ja nicht nur als W ahrheit anerkannt, son
dern sogar als unbestrittene W ahrheit - womit ich sagen will, daß die
Produzenten unserer Meinungen keine Furcht vor der Demaskierung
der Tatsache haben, daß sie die Produzenten unserer Meinungen sind;
und daß sie sogar ein Recht darauf haben, diese Dem askierung nicht zu
fürchten, da diese von den O pfern gewissermaßen nur einen A ugen
blick lang zur Kenntnis genommen wird, aber konsequenzenlos bleibt.
Z ur Trivialität (z.B . zum selbstverständlichen Bestand der angel
sächsischen „Social Science“ ) ist diese Einsicht allerdings erst vo r ku r
zem geworden, nämlich in demjenigen geschichtlichen Augenblicke, in
dem diese Einsicht bereits ideologisch, der B egriff „Id eologie“ selbst
obsolet zu werden begann. Denn Ideologie ist heute bereits selbst zur
ideologischen Vokabel geworden .* U nd das dadurch, daß die Interes
sentengruppen von heute, die uns in „falschem Bewußtsein“ zu halten
wünschen, es sich ersparen können, uns mit falschen Theorien oder
mit künstlich hergestellten Weltanschauungen auszurüsten. D as kön
nen sie sich deshalb ersparen, weil die künstlich hergestellte Welt,
namentlich die Gerätew elt, mit der sie uns umgeben, selbst als „die
Welt” auftritt, uns also so blind macht und unser Bewußtsein so w ir
kungsvoll prägt, daß die Herstellung spezieller meinungprägender
Weltanschauungen sich erübrigt. Da es in der Macht dieser Interessen
tengruppen liegt, uns mit farbigen Wänden zu umstellen, können sie
den Betrieb jener Werkstätten, die früher farbige Ideologiebrillen pro
duziert hatten, einschränken oder sogar stillegen. N ichts ist für denje
nigen, der die letzten Jahrzehnte (von dem Prunk der nationalsoziali
stischen Ideologie zu schweigen) bewußt miterlebt hat, so auffällig wie
die D ürftigkeit des Ideologiebestandes in der heutigen westlichen
Welt, namentlich in der Bundesrepublik - was aber (dies ist, wie ge
sagt, der Punkt, auf den es ankom m t) durchaus nicht bedeutet, daß die
westliche Welt bzw. .die Bundesrepublik unverlogen oder unheuchle
risch wären; sondern umgekehrt, daß sie, um ihre Ziele zu gewinnen,
nicht mehr in gleichem Maße Ideologien benötigen, wie das in frühe
ren Zeiten nötig gewesen war. D a das Ideologische in die Produkte-
(namentlich in die Geräte-) Welt selbst eingegangen ist, stehen wir nun
bereits in einem nach-ideologischen Zeitalter. D as Bild dieses Zustan
des ist das parodistische N egativ jenes Zustandes, den M arx im Auge
gehabt hatte, als er weissagte, die Philosophie w ürde durch die W ahr
heit der künftigen Menschheitssituation „aufgehoben“ , nämlich über
flüssig gemacht werden. G anz analog ist nun die Lüge durch die mas
sive Unwahrheit der heutigen Menschheitssituation „aufgehoben“ , das
heißt: überflüssig gemacht worden. Ihr Nichtsein ist ihr N icht-m ehr-
nötig-Sein. Noch nicht einmal zu lügen braucht man mehr. O ft darf
man sogar volle Wahrheiten aussprechen, da diese innerhalb des R ah
mens der massiv falschen Welt kraftlos bleiben, reine „K u lturw erte“ ,
und ganz unwirklich wirken. U nd sogar zur D ekoration können
Wahrheiten um funktioniert werden - was z .B . der Kulturkritik des
Schreibers dieser Zeilen zugestoßen ist.
Was von Meinungen gilt: daß sie, auch wenn sie „m eine“ oder
„deine“ sind, dennoch Produkte darstellen, die, von Interessenten er
zeugt, m ir und dir eingeprägt worden sind, das gilt natürlich erst recht
vom Willen.
Ideologische Meinungen sind ja nicht einfach im Feld-, W ald- und
Wiesensinne falsche Theorien. D ies um so w eniger, als ja sogar wahre
Aussagen ideologisch verwendet werden können. Falsch sind sie viel
mehr dadurch, daß sie, obw ohl in W ahrheit Instrumente, fälschlich
oder falschmünzerisch als Theorien auftreten. M arxens Demaskierung
von Philosophien als Ideologien und seine Forderung „E in h eit von
Theorie und Praxis“ sind nicht zw ei disparate Stücke seines Lehrge
bäudes, sondern zw ei Aspekte eines einzigen Gedankens. N icht so
sehr durch das, was sie aussagen, sind Ideologien falsch (das freilich
auch), als dadurch, daß sie sich als Aussagen oder Aussage-System e
verbrämen. M ag auch ihr N ächstziel darin bestehen, „falsches Be
wußtsein“ herzustellen, so ist ja auch dieses letztlich für sie nur ein
Instrument: nämlich eines, das seinerseits „falschen Willen“ erzeugen
soll. U nd auch dieser ist schließlich nur ein Gerät, das letzte: nämlich
das Gerät zur Produktion falschen Handelns. In anderen W orten: D er
Z w eck der „Id eologien“ genannten Instrumente besteht darin, das
Tun und Lassen der mit ihnen Belieferten einzuspuren - „falsches
Bewußtsein“ ohne „falsches Wollen” wäre völlig wertlos? Die Wahr
heit der Ideologie (das heißt: die wahre Erfüllung des ihrer Herstellung
zugrundeliegenden Interesses) ist die falsche Praxis. Eine Theorie, die
unfähig bleibt, falsche Praxis einzuspuren oder aufrechtzuerhalten, ist
m ithin keine „w ahre Ideologie“ , sondern nur eine w ahre oder falsche
Theorie; freilich, gleich ob sie w ahr oder falsch ist, eine falsche aus der
Perspektive des Ideologie-Produzenten. Was nicht nutzt, ist unwahr.
D ieser Satz gehört nicht nur zum axiomatischen Bestand des angel-
sächischen Pragmatismus, sondern auch zur Praxis der totalitären
Wirtschaftsführung. In diesem Punkte ist Verständigung zwischen den
zw ei W elten überflüssig, w eil Einigkeit von vornherein vorhanden.
U m diesen Punkt brauchte wahrhaftig kein kalter K rieg ausgefochten
zu werden.
Ideologie ist, da sie prim är am Tun und Lassen der mit ihr Beliefer
ten interessiert ist, prim är ein moralisches Problem. Niem als hat es
Ideologien gegeben, die auf anderes abgezielthätten als darauf, falsches
Handeln einzuspuren und den Ideologie-O pfern weiszumachen, daß
sie dasjenige, w as sie ihrem eigenen Interesse zuw ider zu tun haben,
auch selber w ollen und sogar gew ollt haben. D as Endziel besteht
darin, die Untertanen so zurecht und „fe rtig “ zu machen, daß sie
anders als falsch gar nicht mehr handeln können und a u f Grund ihres
So-gehandelt-habens davon überzeugt sind, ihre Handlungen auch ge
wollt zu haben. So daß sie, wenn sie von uns auf ihre wahren Interes
sen, auf das, was sie „eigentlich“ w ollen oder gew ollt haben müßten,
aufm erksam gemacht werden, indigniert protestieren oder auf uns ein-
schlagen.4 Wären sie imstande, der Geheimm axime, die sie befolgen,
A usdruck zu geben (aber daß sie das nicht können, das gehört natür-
lieh zum gewünschten Zustand), dann müßten sie die „norm ale“ R e i
henfolge von W ollen und Tun um kehren und sprechen: „ Wir tun, also
haben w ir es gewollt. “ Das ist nicht nur dann ihre M axim e, wenn sie
durch totalitären D ru ck zu Anhängern oder Helfershelfern eines tota
len Staates gemacht w orden sind, sondern genau so auch dann, wenn
sie, „hidden persuaders“ zum O pfer fallend, ein Backpulver kaufen,
das nicht so sehr ihren H unger als den Profithunger der Produktion
stillt - denn die Unterschiede zwischen den M ethoden der heutigen
Backpulverpropagandisten und denen der G oebbels sind nicht sehr
beträchtlich. D ie zw ei sind echte Zeitgenossen. Beide verfolgen das
gleiche Z iel; das, uns der Freiheit so restlos zu berauben, daß uns noch
nicht einmal der letzte Rest bleibe, nämlich die Freiheit, von unserer
U nfreiheit zu wissen.
D as Endziel besteht in der willentlichen H erstellung einer W illens
liquidierung, einer „A b u lie“, freilich einer solchen, der im Unterschied
zu deren pathologischen Form en wie Indolenz oder Stupor das B e
wußtsein des Unfreiseins fehlt. Als w irklich gelungen kann die
W illensabtötung allein dann gelten, wenn sie (beim Beraubten) mit der
Illusion von Selbstbewußtsein und K raft verbunden ist; wenn derje
nige, der seines Willens beraubt worden ist, zugleich überzeugt davon
ist, daß er ein K erl sei. Ohnmacht und Nagelstiefel sind, wie jeder
gewesene SA-Mann bestätigen kann, Zwillingsgeschenke. Die Stiefel
verwandeln die von oben gewünschte Abulie in Pseudobulie. Wenn
der Mächtige den ohnmächtig Gemachten dazu ermächtigt, gewalttätig
aufzutreten, dann tut dieser das in dem Gefühl, aus eigenem Willen
und durch eigene K raft zu handeln. M it H ilfe dieser in Pseudobulie
verwandelten Abulie können die als „T ä te r“ auftretenden O pfer dann
Taten w ollen und tun, die sie eigentlich gar nicht wollen können
dürften.
I9j8
Schon diese erste Skizze zeigt uns eine höchst verwickelte Situation;
eine Situation, die einer genauen Aufklärung bedarf.
Aber diese A ufklärung durchzuführen, ist nicht so einfach. Erst
einmal scheitert der Versuch. U nd zw ar aus einem eigentümlichen
Grunde:
Wie deutlich nämlich das Bild auch ausfallen mag, das wir entwer
fen, immer scheint es das deutliche B ild einer Undeutlichkeit zu sein.
Keine der zwei uns interessierenden Figuren: w eder der Herrschende
noch der Beherrschte, scheint w irklich K ontur anzunehmen. D as klas
sische, so säuberlich artikulierte „H e rr und K necht“ -Verhältnis bleibt
im N ebel, noch ehe es sich auf die bekannte dialektische Weise verun-
klärt. In der Tat kommen w ir erst in demjenigen Augenblick weiter, in
dem w ir uns entschließen, diesen N ebel selbst als ein Stück erkannter
Wirklichkeit zu identifizieren. D ieses, zw ar nicht ganz unbekannte,
aber niemals ausdrücklich thematisierte oder auch nur etikettierte
Stück der heutigen W irklichkeit könnte man den „sozialen Agnostizis
mus“ nennen. D ieser Ausdruck soll anzeigen, daß die Rollenträger der
Gesellschaft einander in ihren R ollen nicht erkennen. O der sogar (wie
es heute weitgehend der Fall ist) ihre eigenen Rollen, also sich selbst,
nicht erkennen. Partiell w ar dieses Faktum im M arxismus gesehen
w orden: Wenn M arx gegen das Fehlen des Klassenbewußtseins an
ging, so bekämpfte er die Tatsache, daß der Rollenträger „Proletariat“
seine eigene Rolle nicht erkannte. A b er dieser „A gnostizism us“ ist nur
ein Viertel des ganzen „sozialen Agnostizism us“ . Denn dessen kom
plettes Schema zeigt vier Blindheiten:
1. Blindheit: D er Herrschende (bzw. Vergewaltigende) erkennt im
Beherrschten (bzw. Vergewaltigten) nicht den von ihm Beherrschten
(bzw. Vergewaltigten).
2. Blindheit: D er Herrschende erkennt in sich selbst nicht den H err
schenden.
3. Blindheit: D er Beherrschte erkennt im Herrschenden nicht den
über ihn Herrschenden.
4. Blindheit: D er Beherrschte erkennt in sich selbst nicht den B e
herrschten.
§2
Was jede Sitte vor jedem Gesetzbuch voraushat: nämlich daß sie so
gilt, daß man (wie die Sprache sagt) dies oder jenes nicht tun „kan n “
(während das Gesetzbuch ausschließlich festlegt, was man nicht tun
darf), das hat die gegenwärtige, durch die Produkte- und Gerätewelt
herrschende Macht vor der noch zu einzelnen Gewaltakten genötigten
Diktatur alten Stils voraus. U nd so wenig, wie der innerhalb eines
Sitte-Schemas Lebende die Sitte spürt (jedenfalls nicht als Einengung
seines Tuns und Lassens, höchstens als dessen Geleise), so wenig emp
findet der Konform ierte heute das, seine H andlungen, G efühle, M ei
nungen etc. festlegende, Geräte-Schema als Beh inde rung oder als F rei
heitsberaubung.
In anderen W orten: wie werden durch einen Prozeß konform iert,
dessen W irksam keit unspürbar bleibt, von dessen Wirksamkeit wir
nicht N o tiz nehmen. U nd zw ar nehmen w ir deshalb keine N otiz von
ihm, w eil er mehr ist als ein einzelner Vorgang oder gar als einer, den
w ir als eine einzelne Zwangsmaßnahme auffaßten. Vieim ehr ist der
Prozeß pausenlos w irksam und letztlich nichts anderes als der M odus
des Behandeltwerdens, den w ir ständig „erfahren“ (das heißt: von dem
w ir ständig affiziert werden). U nd gerade deshalb „erfahren“ w ir ihn
nicht (nunmehr im Sinne von: apperzipieren w ir ihn nicht). Denn was
man ständig erfährt (im Sinne von „affiziert werden“ ), das erfährt man
nicht (im Sinne von: „apperzipieren“ ). Bedingungen der Erfahrung
sind nicht Gegenstände der Erfahrung. D as ozeanische G ew icht, das
Tiefseefische pausenlos „erfahren“ (das heißt: von dem sie pausenlos
affiziert werden), das „erfahren“ sie nicht (im Sinne von: das apperzi
pieren sie nicht). V ielm ehr ist dieses G ew icht von vornherein in ihren
Bewegungsmechanismus, ja in den ganzen Bau ihrer Leiber einkalku
liert. Das „ Zwangsschema“ ist zur conditio sine qua non ihres Lebens
geworden, so daß sie, wenn sie von Tiefseefischern an Bord gehievt
werden, platzen. - A nalog: D ie Tatsache der Gravitation „erfährt“ der
Fußgänger nicht; und gewiß nicht als eine spezielle, ihn einengende
Zwangsmaßnahme. Vielmehr ist die Tatsache der Gravitation von
vornherein in seinen A k t des Gehens, ja schon in die Struktur seines
Leibes miteinkalkuliert, so daß er sich, wenn di e Gravitation aussetzen
würde, nicht mehr auf den Beinen halten könnte.
Dasselbe gilt nun auch von künstlichen, also menschgemachten B e
dingungen. In unser D asein ist der M odus unseres Behandeltwerdens,
dem w ir ständig ausgesetzt sind, bereits einkalkuliert. D aher „erfah
ren“ w ir diesen Modus nicht. Höchstens dann, wenn er einmal vor
übergehend aussetzt: Denn nur die Absenz macht die tägliche Präsenz
sichtbar. U nd dann erscheint er uns als das unentbehrliche So-sein des
Lebens selbst. A ls das würde er uns erscheinen, wenn irgendeine K ata
strophe von einem Tag zum anderen den M atrizendruck, der uns täg
lich durch Rundfunk, Fernsehen, Reklame etc. prägt, von uns nehmen
würde. O der wenn - das ist ein ganz neuer Typ von Streik, der als
M öglichkeit am H orizont auftaucht - wenn die uns mit Bildern belie
fernden Mächte, um die Konsumenten (und das heißt: die gesamte
Bevölkerung) einzuschüchtern, von einem Tag zum anderen die F o r
men der Belieferung stoppen würde. Ein derartiger Streik „v o n oben“
würde - darüber kann wohl kein Zw eifel bestehen - wie eine kosm i
sche W indstille wirken. Die Bevölkerung w ürde in Panik und A tem
not geraten und schließlich um Gnade flehen.7
Wie dem auch sei: N ich ts liegt dem seine zwanzig Wochenstunden
vo r den Empfangsapparaten sitzenden Konsumenten ferner, als dieses
sein Beliefertwerden, obw ohl es reine Passivität, also reines Erleiden,
ist, als Leid oder als Zw an g zu klassifizieren. Vielm ehr ist diese K o n
sumzeit sein Leben; ja, sogar seine dolce vita.
Als ich vor zwanzig Jahren auf dem Tokioter Antiatom -Kongreß
erklärte, daß der B egriff der Grenze (damit der des nur nationalen
Verantwortungsbereiches) bald antiquiert sein werde, da sich radiover
seuchte Niederschläge einen D reck darum kümmern würden, welches
Terrain unten als „h ü ben “ gelten würde und welches als „d rüben“ , da
blieb ich, da zum Kongreß nur technisch, politisch oder geistlich inter
essierte Personen gekommen waren, nicht aber philosophisch interes
sierte, erst einmal echolos. Einige der sehr patriotischen Gastgeber
erschraken auf tiefste, als ich erklärte, daß sich, da die Effekte dessen,
was man „zuhause“ täte, in anderen Ländern stattfinden würden, auch
der B egriff der Souveränität relativieren würde. -
D ie Wirkungen der Testexplosionen sind wahrhaftig nicht der ein
zige G rund für das Verlöschen der Geltung des Begriffs „G re n ze “ . So
ist es heute für die D D R -R egieru ng unmöglich, ihre Bürger „bei der
Stange zu halten“ , denn ihre Mußezeit verbringen sie gewissermaßen
in der Bundesrepublik, da sie vo r der Fernsehtruhe sitzen, die ihnen
die Teilnahm e am dortigen Leben, auch dem politischen, an dem dorti
gen Geschm ack, am dortigen Idiom verm ittelt. A uch Wellen kümmern
sich nicht um politische Grenzen. D as geht so weit, daß die D D R -
Teens sich bereits genau so anziehen wie die B R D -T een s: ein B ild in
einer skandinavischen Illustrierten zeigt D D R -Jugen dliche, die nicht
nur Blue Jeans tragen - das wäre in den Augen der D D R -R egieru n g
noch nicht so gefährlich (obwohl diese Verwahrlosungsm ode dem dort
geltenden Im perativ der sozialistischen Adrettheit widerspricht); einer
der Abgebildeten trägt sogar ein T-Shirt mit dem A ufdruck I 0 W A
U N I V E R S I T Y . O b dieses amerikanische H em d über die G renze ge
schmuggelt worden oder als Geschenk hinübergekommen ist, oder ob
sich der Jugendliche das H emd nach einem im "TV gesehenen M odell
selbst zurechtgeschneidert hat, das ist ziemlich egal. Was gilt, ist, daß
im Zeitalter der Elektronik dem B egriff der „G re n ze “ kaum mehr
etwas entspricht. D ie Berliner M auer war, schon als sie gebaut wurde,
das obsoleteste Bauw erk des zwanzigsten Jahrhunderts.
A bsurd die seit zehn Jahren international werdende M ode der D ia
lektdichtung. W enn die Vertreter dieser neuen M ode aus Franken,
dem Baskenlande, Brasilien oder Burm a zu ihrem T reffpunkt in N e w
Delhi anjetten, dann widersprechen sie durch ihre R eise-A rt: durch
das bequeme Überspringen aller Grenzen, ihrem Reiseziel, das in der
D iskutierung und G lorifizierung der Enge besteht. Provinzler aller
Länder, vereinigt euch! A ber einigen können sie sich in N e w D elhi nur
mit H ilfe von Dolm etschern oder dadurch, daß sie alle dieselbe, über
die G ren zen hinw eg verständliche und die Enge negierende englische
Hochsprache radebrechen. Einander ihre provinziellen T exte vorzule
sen, kom m t nicht in Frage, da ja keiner keinen verstehen w ürde, und
da jedem ja sogar die dialektfeindliche Hochsprache jedes anderen
spanisch bleibt. D ies ist das dritte Beispiel fü r die D ialektik der Grenze
heute.
1958
§r
§2
A ber wir wissen durchaus nicht immer, daß wir ausgeliefert sind
und konsumiert werden. V or allem akustisch sind w ir ahnungslos A u s
gelieferte. Ich spreche davon, daß es heute, mit H ilfe des sogenannten
„tapping“ , möglich und usuell ist, unsere Gespräche und unsere G e
räusche, auch die allerintimsten, abzufangen.
„ N e in !“ höre ich einwenden. „V o n effektiver Auslieferung zu re
den, ist Irreführung. So wenig die durch Radio oder T V gesendete
Welt dadurch, daß sie in unsere Zim m er einströmt, dort ihre Existenz
verliert, wo sie wirklich ist; so wenig sie hinter ihren Reproduktionen
aufhört, die zu sein, die sie ist; so wenig hören wir auf, w ir selbst zu
sein, wenn man unsere Stimme abzapft, um sie an einen anderen O rt
zu schleusen oder an viele andere O rte zugleich. U nd so wenig die
durch R adio oder "TV in unsere H äuser transferierte W eit die wirkliche
Welt ist, sondern deren phantomhafte Doppelgängerin, so wenig w er
den w ir, wenn w ir angezapft sind, w irklich forttransportiert, also im
physischen Sinne ausgeliefert.“ -
Soweit der Einwand.
A ber diese Analogien sind schief, der Einw and trifft nicht. U nd
zw ar aus folgenden zw ei Gründen nicht:
1 . Es ist nicht wahr, daß sich die Originale der uns ins Haus geliefer
ten Gegenstände und Ereignisse „hinter ihren Reproduktionen“ intakt
erhalten; daß sie die bleiben, die sie „sin d "; daß es im K on sum -K os
mos „D in ge an sich“ gebe.
W ahr ist vielmehr, daß sie durch ihr Reproduziertwerden, ja schon
durch ihre Reproduktionsbereitschaft, affiziert w erden; daß sie sich
ihren Reproduktionen zuliebe verändern.
So findet z .B . eine fü r M illionen von Fernsehkunden mitbestimmte
Parlaments- oder Gerichtssitzung auf andere Weise statt, als sie statt
finden würde, wenn sie nicht gezeigt werden würde. Z u r „w irklichen
W irklichkeit“ kommt es also gar nicht.
2. Es ist nicht wahr, daß diejenigen, die uns belauschen oder die
unsere Äußerungen in bleibender D ingform aufbewahren (also uns
„recorden“ ), nur „R eproduktionen“ erfahren oder nur „R eprod uktio
nen“ von uns in der H and hätten. D ie Stimme, die sie nun hören oder
besitzen, mag zw ar „n u r“ Reproduktion sein. A ber pragmatisch gese
hen besagt dieses „n u r“ gar nichts. Ü ber das stimmlich M itgeteilte
verfügen sie nun effektiv, und damit effektiv auch über uns.
W ahr ist also, daß w ir, die wirklichen M enschen, dadurch, daß sich
Reproduktionen von uns in der Verfügungswalt A nderer befinden,
w irklich in die Verfügungsgewalt Anderer geraten, daß w ir wirklich
ausgeliefert (z. B . privat oder geschäftlich oder politisch erpreßbar)
sind. D ie Ergebnisse des Phantomisierungsbetriebs sind neue W irk
lichkeiten. - Daten, die das bestätigen, werden w ir bald kennen
lernen.
D ie Annahm e, w ir blieben, obw ohl geraubt, beraubt, bestohlen
oder auch nur bestehlbar, untangiert und w ir selber, ist also falsch. Das
zu betonen, ist deshalb w ichtig, weil man uns unsere Untangiertheit,
um uns indolent zu machen, einzureden versucht; und w eil diese Indo
lenz zu den wesentlichen Lebenslügen unserer Epoche gehört. D ie
Funktion dieser Lüge besteht darin, daß sie die total veränderte Lage,
in die wir hineingeraten sind, verharmlost oder geradezu unsichtbar
macht. Verändert aber ist unsere Lage durch die Tatsachen,
i. daß es einen absolut neuen Typ von Dieb gibt: den Bilderdieb;
bzw. ein erstmaliges Eigentumsdelikt: den Bilderdiebstahl;
und 2. daß wir einer absolut neuen Gefahr ausgesetzt sind: der,
unseres Aussehens und unserer Äußerungen beraubt zu werden.
Denn dies ist die charakteristische Chance des Diebs im Reproduk
tionszeitalter: Da er sich darauf beschränken kann, sich, anstelle von
Menschen und Dingen, Bilder von Menschen und Dingen anzueignen,
hat er bei jedem Diebstahl die Möglichkeit zu behaupten (ja sogar sich
selbst weiszumachen), daß er nicht stehle, jedenfalls nicht wirklich
stehle.
Die Tragweite dieser Chance ist ungeheuer. Vermutlich hat es in der
Geschichte nur wenige Heuchelei-Chancen von gleicher Verführungs
kraft gegeben, und nur wenige, die so allgemein und so bis ins Letzte
ausgenutzt worden wären wie diese. Denn aus der Chance, mit gutem
Gewissen Bilder zu stehlen, hat sich eine reguläre „Ik o n o k le p to m a -
n ie “ entwickelt, das heißt: die Gewohnheit und die Sucht, den Dingen
der Welt (namentlich denjenigen, deren Eigentümer man nicht ist) ihr
Aussehen zu entwenden und dieses Aussehen (d. h. deren Bilder) als
Eigentum zu betrachten.6 Und dieser „Ikonokleptomanie“ verfallen
sind ja nicht etwa nur Einzelne, nicht nur diese oder jene Kriminelle,
sondern wir alle. Jeder von uns ist ja daran gewöhnt, das Warenhaus
der Welt zu durchstöbern, die Stücke, die ihm ins Auge stechen, mit
gehen zu lassen und diejenigen prominenten Zeitgenossen, die er „ha
ben“ oder verkaufen möchte, festzuhalten, eben im Bilde. Und nie
mand von uns kommt auf den Verdacht, damit ein Eigentumsdelikt zu
begehen. Jeder bleibt vielmehr in der Illusion, daß er die Originale in
statu quo und dort belasse, wo sie sich vor der Entwendung befunden
hatten.7
D ie Chance, die der Photograph oder der Abhörer genießt, wenn er
sich darauf beschränkt, Reproduktionen von uns (oder von Äußerun
gen von uns) zu entwenden, ist also die, stehlend nicht zu stehlen. Auf
dieses „nicht“ kommt es an. Dieses „nicht“ ist es, auf das jeder sich
berufen kann, und das unserem scheinheiligen Zeitalter sein gutes Ge
wissen und seinen Heiligenschein schenkt. Dem Geschäftsmann, des
sen Telephon von einem „snooper“ abgehört w ird, w ird seine G eld
börse nicht entwendet. N ic h t . D em aus dem Versteck heraus in
„cheese cake“ -Position photographierten G irl w ird seine Jun gfern
schaft nicht geraubt. N i cht. Abgesehen davon, daß sich der V orrat an
beplauderten M agnetophonbändern um ein paar M eter verlängert hat
und daß es ein paar Film e m ehr auf der W e ltgib t, scheint also nicht das
m indeste passiert zu sein.
N ein , nicht das mindeste. Denn nicht nur w ir sind ahnungslos.
N icht n u r w ir O pfer scheinen nach dem Eigentumsdelikt genau so
weiterzuleben w ie vo r diesem, also ohne den Verlust zu spüren. V iel
mehr sind eben auch die Diebe und die Räuber selbst ahnungslos, da
sie, obw ohl um ein Beutestück reicher, doch nichts in der H and halten,
was einem Anderen nun fehlt. So wie uns nichts zugestoßen ist, so
haben sie nichts getan, uns nichts angetan. Während die klassischen
Ahnherren: die rechtschaffenen W egelagerer und Taschendiebe, ein
deutige Tatbestände schufen: nämlich Situationen, in denen den O p
fern die entwendeten O bjekte effektiv fehlten, schaffen die heutigen
E nkel eine ganz undeutliche Situation, nämlich eine, in der den B e
stohlenen (also uns, die w ir von der Bild-Entw endung nichts spüren)
nichts zu fehlen scheint, in der also, so paradox das klingen mag, das
Fehlen fehlt.
W ährend die Ahnen sehr genau wußten, was sie taten, wenn sie
Louisdors oder Taschenuhren entwendeten, bleiben deren Enkel, die
photographierend oder „tap p in g“ nur Reproduktionen ihrer O pfer
erzeugen, so entsetzlich arg- und ahnungslos, daß sie ihrem G ew erbe
mit dem besten Gew issen von der Welt weiternachgehen können. Z u r
Rede gestellt, können sie im m er ihre Hände in U nschuld waschen und
sich im mer auf ein A lib i berufen. U nd zw ar im m er (dies eine zusätzli
che Eigentüm lichkeit) auf das A libi ihrer O pfer, also auf unser Alibi,
da sie ja immer die M öglichkeit haben, auf uns zeigend, das „nicht“ zu
beweisen, also nachzuweisen, daß w ir uns nicht in ihrer Hand b efin
den, sondern uns „a lib i“ aufhalten, das heißt: anderswo; eben dort, wo
w ir „w irk lich “ seien; und daß w ir unverändert, unangerührt, ohne
verifizierbare Einbuße als diejenigen weiterleben, als die w ir vo r dem
Eigentum sdelikt gelebt hätten. K u rz: V on einem Täter, einer Tat, einer
U ntat, einer Schuld, von Ursachen fü r Scham oder Reue scheint über
haupt keine Rede sein zu können.
N ichts ist schwieriger, als den Zusammenhang zwischen dem jew ei
ligen geschichtlichen Stand der Technik und dem der M oral zu durch
schauen. W ir haben das noch nicht gelernt. Darum klingt unsere Be
hauptung, daß die in unserem Zeitalter selbstverständlich gewordenen
Reproduktionsverfahren im B egriff sind, unser Gew issen und unser
Schuldbewußtsein zum Verkümmern zu bringen, befremdlich. W ir
werden dazulernen müssen.
S4
Beispiele
Die Beispiele, 13 die ich nun bringe, stammen ausnahmslos aus den
Vereinigten Staaten. W ir beschränken uns auf sie, w eil dort - w as in
ausgesprochen totalitären Staaten nicht m öglich wäre - die auf diese
Geräte bezüglichen Daten mitgeteilt und die durch die Verwendung
dieser Geräte aufkommenden Probleme und G efahren öffentlich dis
kutiert w erden; sow ohl offiziell (in den „State Judiciary Com m ittees“ )
wie durch Zeitungen etc. Weil also die amerikanischen Daten offener
zu Tage liegen als die aus anderen Ländern. -
Ich beginne nun mit drei ganz zufällig zusammengestellten B ei
spielen.
1. Im Zeitraum der Jahre 19 4 0 -19 57 sind, wie es sich durch Sachver
ständigenvernehmungen vor dem „States Judiciary Com m ittee“ in
Californien ergeben hat, mehr als iooo Gebäude in der Stadt Los
Angeles mit Abhörinstallationen versehen worden.
2. Im Jahre 1952 (also 6 Jahre nach dem Kriege) haben die Gerichte
der Vereinigten Staaten die Polizei beauftragt, 5 8 ooo Personen, Firmen
und Vereine abzuhören. D as ist keine Phantasiezahl, sondern eine von
W illiam O . D ouglas angegebene Z iffer. W illiam O . D ouglas ist einer
der judges o f the Supreme C ourt.
3. D ie Polizei ist nicht die einzige Instanz, die abhört. Vermutlich
die kleinste. O ffiziell wird jedenfalls geschätzt, daß das „legale“
Abhören (sofern dieses Wort „leg al“ am Platz ist) nur ein Fünftel des
effektiv durchgeführten Abhörens ausmacht. Dam it kommen w ir be
reits fü r das Ja h r 1952 auf die eindrucksvolle Z iffer 290000; 290000
Personen, Firmen, Vereinigungen also, die „ akustisch nackt“ dastan
den: das heißt: die, wenn sie sprachen, in lauschende O hren oder auf
Band sprachen. - Ich sage „Personen, Firm en, und Vereinigungen“ .
Denn belauscht und recorded werden nicht etw a nur politisch oder
krim inell Verdächtige; oder jene Abertausende, unter denen man einen
politisch oder sonstwie „Schuldigen“ vielleicht finden zu können
hofft; sondern Parteileute durch Parteileute; offizielle Stellen durch
andere offizielle Stellen; Forschungsinstitute durch M ilitär; Firmen
durch K onkurrenzfirm en; Kunden durch Geschäftsleute; Geschäfts
leute durch K unden; Ehefrauen durch Ehemänner; Ehem änner durch
Ehefrauen; und schließlich Abertausende von privaten und öffentli
chen Personen durch sogenannte „snoopers“ (das heißt: durch
Schnüffler, die davon leben, daß sie abgehörte Geheimnisse verkaufen
oder zu verkaufen drohen).
Schon diese Z iffe r 290 ooo reicht hin, um zu beweisen, daß es sich
hier weder um nur hie und da angewandte politische Notmaßnahmen
noch um kuriose Einzelskandale handelt, sondern um die K ontrollie-
rung eines breiten Sektors der Bevölkerung, um eine Gefährdung der
Privatheit als solcher.
Aber dies gilt um so mehr, als die genannte Z iffer viel zu niedrig
gegriffen ist. Z u niedrig deshalb, w eil es niemanden gibt, der mit Si
cherheit wüßte, und niemanden, der wirklich nachprüfen könnte, ob
nicht auch er belauscht wird.
Dieses Nichtwissen ist ein sozialer Faktor allerersten Ranges. Aus
der D iktaturzeit wissen w ir ja, daß man sich von dem Augenblicke an,
in dem man es für möglich oder auch nur fü r nicht unmöglich hält, daß
man unter Kontrolle stehe, anders fühlt und anders benimmt als vor
diesem Augenblicke. Näm lich konformistischer, wenn nicht sogar
ganz und gar konformistisch. D ie unüberprüfbare Möglichkeit des
Uberprüftseins hat entscheidende Prägekraft. Sie prägt die Bevölke
rung als ganze.
D ie Technik des A bhörens ist um nichts w eniger märchenhaft als
dessen Effekt. Ein paar Überlegungen und Daten werden uns das so
gleich bestätigen.
1. Machen w ir uns einmal klar, was durch Telephon-Abzapfen,
durch das sog. „tapping“ aufgenommen w ird, mindestens aufgenom
men werden kann. D as ist nämlich nicht etwa nur (analoge einem
diskreditierenden Geheimphoto) eine einzelne Situation, ein einzelnes
Gespräch. Vielm ehr kann, wenn ein Apparat einmal angezapft ist, jede
Unterhaltung belauscht werden; und nicht etwa nur jede ausdrücklich
über den Apparat geführte, sondern effektiv jede, die sich in demjeni
gen Raum e abspielt, in dem das Telephon steht: Denn die Leitung
auch dann „leb en dig“ zu halten, wenn der „H ö r e r“ scheinbar einge
hängt ist, das ist ein kinderleichter und tausendfach geübter Trick.
2. Die Distanz zwischen Lauscher und Belauschtem: Diese ist irrele
vant, ja N u ll geworden. Ein Geschäftsmann in Seattle braucht heute
nur den H örer abzuheben, um alles, was in seiner Filiale in N e w Y o rk
gesprochen w ird, mitzuhören. D as heißt: die Luftlinie - sie entspricht
etwa der Lissabon-M oskau - ist fü r ihn, da er jeden Platz an jedem
anderen auftauchen lassen kann, Luft.
D ie „Schrum pfung der Entfernungen“ ist heute zw ar in aller
M unde. A ber ihre philosophische Bedeutung: nämlich die O m n i
p r ä s e n z des Menschen, ist noch nicht ins Bewußtsein der Zeit ge
drungen; und in das der immer nachhumpelnden Philosophie natürlich
erst recht noch nicht. Während bis vor kurzem die Raumstelle das
principium individuationis des Menschen gewesen w ar und damit eine
pragmatische R olle gespielt hatte, das heißt: w ährend man früher dort
unwirksam war, w o man nicht war, und „Sein “ stets bedeutet hatte,
„an einer bestimmten Stelle sein“ , kann man jetzt eben an mehreren
Stellen, virtuell überall zugleich sein.
Man w ird einwerfen: D a man nicht mehr in das Gefängnis seiner
beschränkten Raum stelle eingesperrt sei, beweise dieses „Ü berallsein
können“ eine neue Freiheit, eben die Freiheit von Entfernungen - und
in gewissem Sinne ist dieser Einw and nicht unrichtig. A ber ungleich
wichtiger ist das Gegenargument, daß das Überallseinkönnen Unfrei
heit zur Folge habe, nämlich für die Erreichbaren und die Erreichten.
Wenn die Anderen in der Lage sind, sich an der Raumstelle, an der ich
mich befinde, gleichfalls aufzuhalten, und zwar unmerklich, dann
habe ich aufgehört, Monopolist meiner Raumstelle zu sein und damit
das letzte und form alste M inimum meiner Freiheit eingebüßt. Die
Anderen sind - und diesen Ausdruck verstehe man als einen terminus
technicus für das heutige Verhältnis Mensch-Mensch, bzw . Staat
Mensch - „unentrinnbar“ geworden.
M indestens ebenso wichtig wie angezapfte Telephone sind die
„b u g s“ , auf deutsch: die „W anzen“ . So bezeichnet man jene ganz
minutiösen M ikrophone, die man heimlich in W ohnungen einbaut, um
zu erfahren und zu registrieren, was in diesen vor sich geht; oder
richtiger: die man in diesen eingebaut hat. Denn in den letzten Jahren
hat die W anzenzucht ein neues, wahrhaft triumphales Stadium er
reicht. 14 Sich in den Häusern selbst einzunisten, ist fü r die gelehrigen
Tierchen nämlich überflüssig geworden, da man es ihnen beigebracht
hat, aus der Entfernung von mehreren hundert Metern zu zielen und
das entfernte Geräusch aufzusaugen, um es zu „recorden“ oder wei
terzuleiten. Also kann man die „bugs“ nunmehr außerhalb der H äuser
ansiedeln oder sie gar - denn die Ausw ahl ist reichhaltig - niemandem
sichtbar, am Leibe versteckt, mit sich herumtragen. Wenn diese lau
schige Sorte fernzielender Wanzen besonders beliebt ist, so w eil sie, so
befremdlich das klingen mag, die M oral des Zeitalters zu retten
scheint. Denn es ist ja evident, daß jemand, der akustischen H ausfrie
densbruch auszuüben wünscht, einen H ausfriedensbruch im konven
tionellen Sinne nicht mehr zu riskieren braucht: daß er also „nichts
mehr zu tun braucht, wenn er etwas tut“ ; mindestens nichts U ngesetz
liches.
Beispiele: D er Präsident der Stephens Tru-sonic-Inc. Bart Berland
berichtete vor dem „State Judiciary Com m ittee“ am 27. 1 1. 56 über
4 /JC-Apparate,
die aus der Entfernung von 500 Metern Gespräche auf
zeichnen. U nd ein Firmeneigentümer erklärte vo r demselben G re
mium, daß er der Polizei Geräte von einer W inzigkeit geliefert habe,
daß er sich weigern müsse, vor der Ö ffentlichkeit darüber Aussagen zu
machen. - Was aber Bandaufnahmen betrifft, so brauchen sie Briefta
schenformat nicht zu überschreiten. Die, übrigens in der Bundesrepu
blik hergestellten, „Minifone pocket recorder“ sind noch winziger;
und in Chicago werden als Taschenuhren getarnte Mikrophone auf
offenem Markte angeboten und verkauft.
Damit kommen wir zu einem weiteren abenteuerlichen Punkt, zum
Thema der Beschaffbarkeit.
Ich sage „abenteuerlich“ , weil mindestens die Telepohon-Anzapfge-
räte für einen Pappenstiel erworben werden können. Die paar Utensi
lien, aus denen sich heute ein „complete wire tap kit“ (also ein voll
ständiges „Anzapfungszeug“ ) zusammenstellen läßt, beliefen sich -
ich zitiere die Zeitschrift „L IF E “ 1955 - auf DM 9.50. Was begreiflich
ist, da mehr als eine Induktionsrolle und ein normaler Verstärker nicht
erforderlich sind. Wie weit die Freiheit der Freiheitsberaubung ging, ist
einfach unglaubhaft. In jener technisch noch rückständigen Zeit, in der
es noch unvermeidbar war, in die Häuser jener, die man belauschen
wollte, einzubrechen, um in ihnen die „bugs“ zu setzen - in jener Zeit
wurden nämlich die notwendigen Einbruchswerkzeuge gleich mitver
kauft, ja sogar in den Katalogen der Firmen mit aufgeführt. So nachzu
lesen in der Zeitschrift „F R O N T IE R “ vom Januar 57. Und das schien
in gewissem Sinne „in Ordnung“ , weil ohne diese Vorbereitungswerk
zeuge die Abhörapparate eben untauglich gewesen wären, etwa so
untauglich wie ein Angelhaken ohne eine Angelschnur. Die diesen
Katalogen zugrundeliegende Maxime würde, wenn man sie formuliert,
etwa lauten: „Ist eine Ware A, der moralisch nichts nachgesagt werden
kann, nicht verwendbar ohne eine andere Ware B, so ist deren Verkauf
und Verwendung gleichfalls moralisch gerechtfertigt; so kann deren
Verwendung nicht unmoralisch sein.“
Aber die Gefahren, die mit dieser Belauschung verbunden sind, sind
damit nicht erschöpft. Denn gefährdet ist nicht etwa nur der Be
lauschte, sondern auch der Lauscher; der an Indiskretion und an den
Genuß der Indiskretion Gewöhnte.15 Dabei habe ich aber nicht etwa
nur die Handvoll von Polizei-Agenten oder Detektiven im Auge, die
professionell Zutritt zum Privatleben angezapfter Personen gewinnen
(was vermutlich zumeist unerträglich langweilig ist, denn zu lauschen
ohne die Freiheit zu haben, sich das Opfer seines Lauschens auszusu
chen, ist kein beneidenswerter Job), vielmehr das Publikum: denn um
ein Publikum handelt es sich ja heute im Reproduktions-Zeitalter, da
jede Aufnahme eines Gespräches oder eines Geräusches als Matrize
verwendet und in zahllosen Kopien reproduziert werden kann. So gibt
es z .B . in Kalifornien bereits einen florierenden Schwarzm arkt in
Grammophonplatten, die man, analog zu Pornographien, „ P o r n o -
p h o n ie n “ nennen könnte. A u f diesen sind diejenigen W orte, Töne
und Geräusche, die sich in den intimsten Situationen menschlichen
Zusammenseins ergeben, heimlich aufgenommen. Sie sind gewisser
maßen Ding gewordene und verkäufliche Schlüssellöcher. Wenn es sich
bei den durchs Schlüsselloch belauschten O pfern um „öffentliche Per
sönlichkeiten“ handelt, so steigt natürlich (da die Identifizierung eines
Nackten erst die volle Schadenfreude mit sich bringt) der Preis der
akustischen N udität: und sind auf solcher Platte gar Intimitäten festge
halten, die als verboten gelten (etwa ehebrecherische), dann gilt das
O bjekt, da es zusätzlich den Genuß der Erpressungsmöglichkeit bietet,
geradezu als ein rarissimum; und dadurch schon beinahe als ein K u l
turgut. - Daß die Erpressungsm öglichkeit, um genossen zu werden,
garnicht ausgenutzt zu werden braucht, braucht nicht betont zu
werden.
Daß Menschen, gar Jugendliche, von solchen Waren umgeben sind;
daß sie sich die extreme Indiskretion kaufen können: daß sie es lernen,
sich zu belustigen an der Lust der Anderen: daß sie Sexualität auf dem
Umweg über Dinge genießen und vermittels der völligen Wehrlosig
keit der Belauschten - das ist derart widerwärtig, daß im Vergleich
damit die vulgärsten Lustbefriedigungen einfach zum Inbegriff von
Rechtschaffenheit und Sauberkeit werden.
Diese wenigen Tatsachen sollen uns erst einmal genügen. Fragen w ir
nun, wie die Reaktion auf sie aussieht.
Z u behaupten, daß gegen diese Entw icklung nichts unternommen
werde, wäre unfair. D ie Erregung in einigen Gruppen der Ö ffentlich
keit ist beträchtlich. Legislativen verschiedener Staaten versuchen
ernsthaft, sich ein rechtes Bild von dem Ausmaß des akustischen
Hausfriedensbruchs zu machen und zu überlegen, welche Maßnahmen
in dieser neuen Situation getroffen werden müßten; die Presse (beider
Parteien) diskutiert das Problem . Ein hoher Richter wie O liver
W. Holmes vom „Suprem e C ou rt“ hat offen ausgesprochen, daß es
(seine Worte) „besser wäre, wenn ein paar Kriminelle nicht gefaßt
würden, als daß sich die Regierung auf derart schmutzige M ethoden
einlasse“ . Fragt sich nur, ob diese Gegenkräfte erfolgreich sein kön
nen. Und das ist nicht nur deshalb fraglich, weil die an der Kontrollie-
rung der Bevölkerung interessierten Mächte, die politischen sowohl
wie die wirtschaftlichen, ungeheuer stark sind; auch nicht nur deshalb,
weil die Bevölkerung, sofern sie ihrer Deprivatisierung nicht geradezu
entgegenkommt, dieser nur minimalen W iderstand entgegensetzt;
auch nicht nur deshalb, w eil das Vorhandensein von Geräten deren
Verwendung immer schon einschließt; sondern vor allem deshalb, weil
sich der Kontrollierungsbetrieb selbst der Kontrolle fast ganz entzieht;
das heißt: weil sich die Verwendung der Mittel nur in den seltensten
Fällen nachweisen läßt; w eil der M ißbrauch von jedermann getrieben
werden kann. U nd natürlich glaubt es sich der Staat, jeder Staat, nicht
leisten zu können, auf technische Mittel zu verzichten, die von Privat
personen beliebig verwendet werden können; und die Polizei erst
recht nicht. -
Eine Entscheidung ist freilich bereits getroffen: der sogenannte
Cahan-Act. In diesem ist zweierlei festgelegt und zum Gesetz ge
w orden:
Erstens, daß durch derartige Methoden gewonnene Daten als E v i
denz in Prozessen nicht verw endet werden dürfen,
und zweitens, daß das heimliche Pflanzen von „b u g s“ , also von
M ikrophonen in frem den H äusern Hausfriedensbruch darstelle.
D iese Entscheidung klingt freilich eindrucksvoller als sie ist.
Denn die Verwendung von derart gewonnenen D aten in Prozessen
stellt ja schließlich nur eine unter zahlreichen anderen Verw endungs
m öglichkeiten dar: U m einen Menschen zu diskreditieren, um ihn
gesellschaftlich, geschäftllich oder politisch zu ruinieren, um ihm jener
Privatheit zu berauben, dazu benötigt man ja schließlich keine prozes
suale Verwendung.
Was aber die „bugs“ betrifft, so sind diese durch die gesetzliche
Bestimmung nicht verboten. Was verboten und strafbar ist, ist ja allein
deren Installierung innerhalb fremder Häuser. N u n sind ja, wie w ir
wissen, solche internen Installierungen schon gar nicht mehr erforder
lich. Die Entscheidung ruft also ins N ichts hinein, sie verurteilt eine
bereits vergangene Situation - während sie die Hauptsache gesetzgebe
risch noch unbewältigt läßt. Denn die Hauptaufgabe besteht darin,
unzweideutig auszusprechen, daß der konventionelle und bis jetzt aus
reichende Begriff des „H ausfriedensbruches“ , der körperliches E in
dringen m eine fremde Wohnung gemeint hatte, heute nicht mehr
ausreicht. Form ulieren wir es also: Nicht allein die zum Zwecke des
Abhörens unternommenen Vorbereitungsschritte, also die Installierun
gen, stellen Hausfriedensbruch dar, sondern die Akte des Abhörens
selbst, gleich aus welcher angeblichen Entfernung diese vor sich gehen,
weil sich auch derjenige, der von „draußen“ zuhört, bei dem Anderen,
in dessen Geheimnis und damit auch in dessen Hause aufhält. Ich sage
aber „angebliche Entfernung“ , w eil die Geräte ja auf nichts anderes
abzielen als darauf, die Entfernungen zu anullieren und diese Anullie-
rung auch wirklich leisten, also die Grenze zwischen „außen“ und
„innen“ aufheben.
D a unsere Privatheit durch die „b u g s“ genau so zerstört ist, wie sie
es wäre, wenn w ir in gläsernen Häusern w ohnen würden, in denen w ir
(obwohl von niemandem körperlich überrumpelt) jedermanns O pfer
wären, ist es unerläßlich, die Begriffe des „akustischen Hausfriedens
bruches“ und des „akustischen Raubes“ als rechtliche Begriffe einzu
führen.
Aber der Hauptmangel des Cahan-Acts ist damit noch nicht getrof
fen. Denn der besteht in einem Prinzip: darin nämlich, daß er als
„V ergehen“ allein die „V erw endung“ ansieht, bzw. darin, daß er den
Begriff „V erw endung“ zu eng faßt. Was heißt das?
Ein Vergleich:
Wenn allein „V erw endung“ sträflich wäre, dann wäre nichts dage
gen einzuwenden, wenn w ir Aktphotos von Menschen machten, die
nichts davon ahnen, daß sie uns als Modelle dienen. Strafbar würden
wir uns erst in demjenigen Augenblicke machen, in dem w ir die Pho
tos verkaufen oder anderswie verwendeten. D er entscheidende G e
danke, daß die Heim lichkeit des Beobachtens und Photographierens
selbst bereits eine „V erw endung“ darstellt, nämlich einen freiheitsbe
raubenden Mißbrauch der Privatheit des Anderen, würde dabei unter
den Tisch fallen. Daß diese zu enge Fassung des Begriffs „V erw en
dung“ vulgär ist, ist w ohl unbestreitbar. U nd auch dem Cahan-Act
kann diese Vulgarität nicht abgesprochen werden.
D azu kommt, daß das Objekt der Scham auf charakteristische Weise
verfehlt w ird:
D er wirkliche Schamhafte schämt sich ja nicht deshalb, jedenfalls
nicht nur deshalb, w eil seine heimlichen Laster oder Vergehen aufge
deckt werden, sondern w eil er aufgedeckt wird. Während fü r ihn das
Private „ o ff limits“ ist, weil es das Private ist, unterstellt der Vulgäre,
also der Konform ist von heute, als selbstverständlich, daß das Private
nichts anderes sei als der Vorwand fü r die Unterschlagung verbotener
Handlungen. Die aus dem Munde ganz argloser Am erikaner so häufig
zu hörende Redensart (z.B . dann, wenn man sie auf offene Türen
aufmerksam macht): „B u t I have nothing to hide“ beweist, daß Scham
(im Sinne von „Scham nötig haben“ ) bereits mit Unmoral identifiziert
wird; und Schamlosigkeit (im Sinne von „Scham nicht nötig haben“ )
mit M oral -
Verharmlosungs-Argumente
Wie gesagt, neben diesen massivsten, und durch ihre Massivität bei
nahe schon entwaffnenden, Schamlosigkeiten gibt es eine ganze Reihe
von indirekteren, „kultivierteren“ , scheinheiligeren Tätigkeiten, die
sich ohne Mühe als Varianten, gewissermaßen als „verschämte Scham
losigkeiten“ durchschauen lassen.
5. Zum Beispiel die „seif expression “ . - Wenn ein John Doe wähleri
scher ist als die anderen John Does, wenn er es seinem Sozialprestige
zu schulden meint, Wege zur Preisgabe seiner Individualität und zum
Konformismus zu finden, die individueller und weniger konformi
stisch sind als die seines Nachbarn, dann greift er zu einem der (ihm
von Kulturmarkt zur Auswahl angebotenen) Verfahren, die ihn dar
über belehren, wie er seiner Persönlichkeit „Ausdruck verleihen“ und
sich dadurch den Anderen offenbaren und sichtbar machen kann. Da
das Lager der zu diesem Zwecke vorrätigen Methoden außerordentlich
reichhaltig ist, da es Symphonienschreiben ebenso enthält wie Laubsä
gen, kann jeder John Doe die ihm entsprechende „self expression“
finden. In der Tat machen Hunderttausende von dieser Fülle G e
brauch, und man kann geradezu von einem „ seif expression-racket“
sprechen, sogar von einem ingeniösen. Aber ingeniös ist der racket
nicht allein deshalb, weil er jedem Gebraucher „seine“ seif expression
zu bieten hat, sondern vor allem deshalb, weil er jedem eine unge
wöhnliche Chance der Heuchelei zum Geschenk macht. Jede seif ex
pression erfüllt nämlich zwei Wünsche gleichzeitig, und sogar zwei
einander widersprechende:
Erstens verschafft sie die Genugtuung, hervorzuragen: denn als
„sich Ausdrückender“ gehört John nunmehr zur Bruderschaft der
„creative ones“ , der Michelangelos, der Beethovens und van Goghs.
Zweitens wirkt sie als Purgierungsmittel, sie verhütet Johns seelische
Konstipation, sie verhindert, daß Reste seines privaten Innenlebens in
ihm verhärten und dadurch der Gesellschaft vorenthalten bleiben. Es
ist evident, daß jeder jedem sichtbar werden würde, und das Ideal der
Schamlosigkeit und der Abschaffung der Privatheit erfüllt wäre, wenn
sich jeder dieser Purgierung unterzöge. Darum w ird die Verwendung
des Mittels allgemein empfohlen: nicht etwa nur Künstlern, die durch
sie vielleicht etwas Unerhörtes mitteilen könnten, sondern ebenso dem
Kleinkinde, der Hausfrau, der Grandm a Moses oder dem G rundstück
makler, der vielleicht am Sonntag nicht wüßte, was er mit sich anfan
gen sollte, und der in die G efahr geraten könnte, ein Sonderling, und
damit ein Nonkonform ist, zu werden. -
U nd drittens schließlich ist es John D oe natürlich immer möglich,
auf die Psychoanalyse zurückzugreifen, mindestens auf deren populäre
Abarten. Denn diese bieten sich ihm ja als sozialhygienische Beicht-
und Preisgabetechniken an; als Methoden also, die ihn „extravertie
ren“ ; und damit befähigen, sich sozial zu adaptieren und sich konform
zu machen.
Was von der „seif expression“ gilt, daß sie eine Doppelrolle spielt,
das findet auf die Psychiatrie gleichfalls Anwendung. Deren D oppel
rolle besteht darin, daß sie
a) John D oe die Genugtuung verschafft, an einer modernen B ew e
gung teilzunehmen, up to date zu sein, und dadurch sein Selbstbe
wußtsein steigert;
und b) seine „adaption“ herstellt und dadurch seinen K onform is
mus gewährleistet.
Dieser W iderspruch ist nicht erstmalig. Jede M ode lebt davon, daß
sie dem Menschen Auffälligkeit und K onform ität zugleich zusichert.
Sieht man die Inflation der Psychoanalyse in Am erika aus unserer
Perspektive, also im Rahmen von „U nverschäm theit“ und „Scham lo
sigkeit“ , dann wird das (immer wieder und von den verschiedensten
Seiten geäußerte) Befremden darüber, daß diese Inflation „tro tz “ des
heiklen Gegenstandes und „tro tz “ der puritanischen Vergangenheit
des Landes möglich war, sofort gegenstandslos.
Um gekehrt ist diese Inflation völlig in O rdnung. D a es die K o n fo r
mismus-Instanzen selbst sind, die darauf hinarbeiten, jedes Geheimnis
zu Tage zu fördern, jeden jedem vernehm bar zu machen, jede Reserve
als Hemmung abzufertigen, jede Privatheit als Treubruch anzupran
gern; niemanden bei geschlossenen Fenstern leben zu lassen und nichts
nicht unter Kontrolle zu haben; umgekehrt jede freiwillige Selbstaus
stellung als Loyalität und als Gesundheit, ja sogar als Glücksquelle
anzupreisen und zu belohnen - da also sie selbst es sind, die die Ver
breitung und Kultivierung der Schamlosigkeit organisieren, würden sie
ja die törichtste Selbstsabotage treiben, wenn sie dem Psychoanalytiker
weniger Chancen einräumen würden als dem Detektiv, dem Geheim
polizisten und jenen zahllosen Abhörapparaten, die sie zu diesem
Zweck arbeiten lassen. In anderen Worten: sie akkordieren ihm mit
Freuden, zur „Entschämung“ des Menschen das Seine beizutragen.
Nicht nur gilt: „ It pays to be frank.“ Nicht nur - was Psychoanalyti
kerhonorare bestätigen können - „itp a y s to make them frank“ , son
dern eben auch: „ I t pays to have them made fran k.“
Wenn in der letzten Zeit nachgewiesen worden ist", daß die Psy
choanalyse in den Vereinigten Staaten sich mit dem amerikanischen
„w ay of life“ , und zwar mit dem konformistischen der letzten zehn
Jahre, schamlos gleichgeschaltet und dadurch ihre Prinzipien in ihr
Gegenteil verkehrt habe, so ist damit also noch nicht die ganze Wahr
heit gesagt. Denn vollständig wird die Wahrheit erst durch die Ergän
zung, daß Amerika sich der Psychoanalyse zum Zwecke der Durch
setzung des Konformismus bedient.
„Sinn“ nimmt die heutige „Schamlosigkeit“ allein dann an, wenn sie
als Gegenstück der „Unverschämtheit“ verstanden wird. Da es nichts
gibt, was Beraubtwerden wirkungsvoller erleichtert, als die Selbst
preisgabe des prospektiven Opfers, suggeriert der Räuber diesem, sich
selbst zu enthüllen. Letztlich ist dessen Preisgabe also ein Hilfsakt der
Beraubung, eine Methode, die der Räuber anwendet, um seines Opfers
mühelos Herr zu werden. Jedem von uns wird die Hausaufgabe ge
stellt, sich durch Schamlosigkeit zum Mitarbeiter an seiner eigenen
Deprivatisierung zu machen.
Damit ist natürlich nicht behauptet, daß wir diesen Trick gewöhn
lich durchschauen. Im Gegenteil: Wenn uns suggeriert wird, uns der
Kleidung unserer Privatheit zu entledigen, oder wenn uns diese effek
tiv vom Leibe gezogen wird, bleiben wir fest davon überzeugt, uns
selbst zu entkleiden. N ur höchst selten haben wir, wenn wir den A uf
trag durchführen, eine Ahnung davon, daß es sich dabei um einen
Auftrag handelt. Oft sind wir stolz auf unsere Unbefangenheit und
Vorurteilslosigkeit, obwohl wir gerade durch diese den Auftrag unse
rer Auftraggeber erfüllen. Nichts tut der sanfte Totalitarismus lieber,
als seinen Opfern den Wahn der Selbständigkeit zu belassen oder gar
diesen Wahn überhaupt erst zu erzeugen.“
Nach dem Vorhergehenden leuchtet es ein, daß, wer in „U nver
schämtheit" und „Schamlosigkeit" zwei gesonderte Vorgänge sieht,
sich um die Chance betrügt, das Funktionsganze des Zustandes, in
dem wir heute leben, zu durchschauen.
Und so wenig die beiden Vorgänge von einander gesondert werden
dürfen, so wenig dürfen es deren Subjekte: also der Spitzel und der
Exhibitionist. ' Vielmehr fungieren diese beiden Typen als Partner auf
ein und demselben Spielfelde. Ja, sogar als auswechselbare Partner.
Denn wer jeweils auf welcher Spielfront steht, das bleibt sich gleich.
Tatsächlich ist es ja alltäglich, daß die Spieler ihre Rollen austauschen.
Niemand wird Anstoß daran nehmen oder auch nur darüber staunen,
wenn etwa ein Fernsehreporter, der gestern einen Mitmenschen in
flagranti eines Schreikrampfes ertappt und diesen Schreikrampf seinem
Publikum als Genußobjekt serviert hat (also unzweideutig auf der
Front der „Unverschämtheit" gestanden hat), sich heute auf einem
Bildschirm hemmungslos preisgibt (also im Lager der „Schamlosen"
steht). Dieser Rollentausch von „Spitzel" und „Exhibitionist" ist ge
nau so selbstverständlich wie der Rollentausch, der in jeder Unterhal
tung zwischen Hörenden und Sprechenden stattfindet. Und diesen
Vergleich meine ich ernsthaft, da die „Unterhaltungsmedia" der Mas
sengesellschaft eben wirklich Methoden sind, mit deren Hilfe die Glie
der dieser Gesellschaft ihre „Unterhaltung" (im Sinne von „Konversa
tion") miteinander führen. Genau so also wie wir
a. sprechende und hörende Wesen sind; und
b. sprechende und hörende zugleich; und
c. sprechende nur insofern, als wir virtuell auch hörende sind (und
umgekehrt),
genau so sind wir
a. „schamlos" und „unverschämt"; und
b. beides zugleich; und
c. schamlos nur insofern, als wir virtuell auch „unverschämt" sind
(und umgekehrt).
Die zwei Figuren: Spitzel und Exhibitionist sind also nur Spielarten,
ja nur Seiten einer einzigen Figur, der Figur des Zeitgenossen. Darum
ist es auch kein W under, daß die jeweils „Scham losen“ von den jeweils
„U nverschäm ten“ niemals als „scham los“ , und die jeweils „U n v e r
schämten“ von den jeweils „Scham losen“ niemals als „unverschäm t“
empfunden werden; daß sie sich vielmehr gegenseitig als normal be
trachten, als Spielpartner, als ihresgleichen; und daß ihr Zusammenle
ben, aus ihrer Perspektive gesehen, nichts zu wünschen übrigläßt.
W ir hatten vorhin, bei der Aufzählung von Zeugnissen für Scham lo
sigkeit, das W ort „ Allgemeinbesitz“ verwendet; z .B . das Leben des
Individuums einen „Allgem einbesitz“ genannt.
Verm utlich hat dieser Ausdruck, da er an Sozialismus anklingt, den
Leser stutzig gemacht. W irklich müßte ja die Behauptung, daß ein
Land, das jede A n von Sozialismus bekäm pft, einen Sozialismus eige
ner Art praktiziere, dem Leser sonderbar Vorkommen. U nd es wäre zu
begreifen, wenn er den Ausdruck metaphorisch verstehen würde.
A b er nichts liegt mir hier ferner als M etaphorik. Was ich meine, ist
tatsächlich, daß der Zustand, auf den der Konform ism us abzielt, eine
A rt von Allgemeinbesitz darstellt; ja man darf sogar behaupten, daß
die Entwicklung zu diesem Allgemeinbesitz gerade von denjenigen
gesteuert wird, die den Kam pf gegen den Sozialismus steuern. Was
heißt das?
Um diese Frage zu beantworten, haben wir die Variante von Sozia
lismus, die wir meinen, deutlich gegen das abzugrenzen, was gewöhn
lich Sozialismus genannt w ird:
Was John D oe durch die Expropriierung einbüßen soll, ist nicht das,
was gewöhnlich als sein „Eigentum “ gilt. W eder die H eiligkeit seines
A u tos noch die der Produktionsm ittel, über die er verfügen mag, so l
len angetastet werden. Abgeben soll er „lediglich“ seine „Eigentüm
lichkeit“ , seine Personalität, seine Individualität und Privatheit; ledig
lich sich selbst. Im Unterschied zur üblichen Sozialisierung, die das
betrifft, was der Mensch h a t, handelt es sich hier also „n u r“ um eine
Sozialisierung dessen, was der M ensch ist.
Soweit macht der Gedanke keine Schwierigkeit. Schwieriger dage
gen, ja widerspruchsvoll klingt der zweite Schritt: nämlich die Behaup
tung, daß diese neue Art von Sozialisierung allein von denen gerecht
fertigt werden kann, die den Menschen als Eigentümer, als ein animal
habens definieren; daß dieser Sozialisierung ein heimliches „habeo
ergo sum” zugrundeliegt. A ber auch dieser Schritt ist plausibel: Denn
nur derjenige, der zuvor das „S e in " des Menschen in dessen „H a b e n "
verlegt hat, kann, wenn er in actu der Zerstörung des Menschen dessen
„H a b e n " unangetastet läßt, davon überzeugt bleiben, daß er auch des
sen Sein intakt gelassen habe. N u r der kann sein gutes Gewissen be
halten.
Daß diese seine Überzeugung und sein gutes G ew issen illusorisch
sind, wissen w ir ja. N atürlich stellt der Rückstand, der nach der E x
propriierung übrigbleibt, keine echte „P e rso n ", kein wirkliches Indi
viduum mehr dar. Zurück bleibt vielmehr ein Wesen, das nur noch in
numerischem Sinne „es selbst" und „eines" ist; ein Seiendes, dessen
Selbstheit und Unverwechselbarkeit sich darin erschöpft, daß es die
Stücke A und B und C etc. besitzt, während seine Nachbarn die Stücke
A I,B ',C I oder A ',B ', oder C 2 etc. besitzen. (Die Tatsache, daß diese
Stücke, da sie zumeist Exemplare von Serienproduktionen sind, zu
meist gleich sind, lasse ich hier außer acht.)
D ieser Zustand ist widerm oralisch. Denn während der M oralist ei
gentlich verlangt, daß sich das Recht des Menschen darauf, Eigentümer
zu sein, letztlich daraus ableite, daß er Eigentum seiner selbst, also sein
eigener H err sei, steht ihm hier umgekehrt kein anderes Recht mehr zu
als das, Eigentümer zu sein.
Aber für die so Entrechteten ist diese Situation selbstverständlich.
U nd wenn sogar die „have nots" M r. Smith „the $ 275 ooo Mr. Sm ith"
oder Mrs. Astor „the $ 200 millions M rs. A sto r" nennen - und das ist
absolut üblich - , dann beweist das, daß selbst sie, die „n u r wenig
sind", weil sie „n ur wenig haben", die Definition des Menschen durch
dessen H abe akzeptiert haben.
Das hier gestellte Thema ist das antipodische Pendant zum Thema
Tendenzkunst. D enn was hier gefragt w ird, ist nicht: Wie sollen oder
können w ir Kunst machen, um die Masse zu beeinflussen?, sondern
umgekehrt: Wie machen w ir, angesichts der effektiv, z .B . in Rundfunk
und Fernsehen stattfindenden M assenwirkung, oder beeinflußt durch
die Tatsache „M assenw irkung“ , Kunst? Inwiefern machen w ir sie an
ders als früher?
D irekt ist diese Frage nicht beantwortbar. U nd zw ar deshalb nicht,
weil zuerst gefragt werden müßte: In welcher Weise vollzieht sich
denn die Beeinflussung der M asse bzw . unsere Beeinflussung durch die
Masse? Begegnen w ir der Masse denn direkt? Sind es nicht vielmehr
nur unsere Boten, nämlich unsere Produkte, die die Masse direkt tref
fen? Während w ir stattdessen nur mit dem ungeheuren R eproduk
tionsapparat konfrontiert sind? U nd tritt nicht auch die Masse selbst
fü r uns nur in Form von Produkten auf, nämlich in Form von R und
funksendungen, Film en, Fernsehsendungen, Zeitschriften etc.? Und
sind nicht diese Produkte selbst wiederum Produktionsm ittel, da sie ja
den spezifischen Massencharakter der heutigen Gesellschaft m itprodu
zieren? - Keine dieser Fragen soll hier beantwortet werden, aber ich
form uliere sie doch, um die Illusion zu unterbinden, w ir könnten
unmittelbar auf das Them a „D e r Künstler und die Gesellschaft“ losge
hen, und dieses Them a ließe sich direkt diskutieren. D ie Verhältnisse
sind sogar noch vermittelter, denn unser Produzieren ist ja durch jene
Massenprodukte (die ihrerseits den Massencharakter der Masse m it
produziert haben) mitbestimmt, also m itproduziert; und da w ir über-
dies zu denen gehören, die durch ihre Produkte diese Masse und deren
wirkliche oder angebliche Massennachfrage mitproduziert haben, sind
wir ja als Produzierende auch immer schon die „Produkte unserer
eigenen Produkte“ .
II
IV
Wie wirkt sich nun die Tatsache aus, daß „ B ild “ zur H auptkategorie
unseres Lebens geworden ist?
i. Wir werden der Erfahrung und der Fähigkeit zur Stellungnahme
beraubt. - D a w ir die weithorizontige W elt, die heute wirklich „unsere
W elt“ ist (denn „w irk lic h “ ist, was uns treffen kann und w ovon w ir
abhängen), nicht in direkter sinnlicher Anschauung kennenlernen kön
nen, sondern nur aus Bildern, begegnet uns gerade das Wichtigste als
Schein und Phantom, also in verniedlichter, wenn nicht sogar irreali-
sierter, Version. N icht als „W elt“ (Welt kann man sich allein durch
Fahren und Erfahren aneignen), sondern als uns ins Haus gelieferter
Konsumgegenstand. W er einmal eine Atom bom benexplosion als ins
H aus geliefertes Bild, also in Form einer tanzenden Postkarte, in sei
nem wohlgeheizten Zim m er konsum iert hat, der wird nunmehr alles,
w as er sonst über die Atomsituation hören m ag, m it diesem einmal
gesehenen nippes-artigen Heim ereignis assoziieren und damit der F ä
higkeit beraubt sein, die Sache selbst aufzufassen und zu dieser eine
angemessene Stellung zu beziehen. Was geliefert wird, und zw ar in
flüssigem Zustand, das heißt: so, daß es unmittelbar geschluckt werden
kann, macht Auseinandersetzung unmöglich, weil überflüssig. Z u
meist w ird ja sogar die gewünschte Stellungnahme selbst freundlich
mitgeliefert, weniges ist für die heutigen Sendungen so charakteristisch
wie die Frei-ins-H aus-Lieferung des Applauses. - Im Grunde gibt es
nicht mehr „ Außenwelt” , weil diese nur noch Anlaß einer möglichen
Heim-Vorstellung ist.
2. Wir werden der Fähigkeit beraubt, Realität und Schein zu unter
scheiden. - Wenn, wie es sowohl in Rundfunk- wie in Fernsehstücken
zumeist geschieht, Schein realistisch präsentiert w ird, dann nimmt um
gekehrt die (als Sendung nicht anders klingende und nicht anders aus
sehende) Realität das Aussehen von Schein, das einer bloßen Darbie
tung an; wenn die „B retter“ (die angeblich die Welt bedeuten) wie die
Welt selbst aussehen, dann verwandelt sich die Welt auch in „B re tte r“ ,
also in ein bloßes spectaculum, das nicht so ernst genommen zu werden
braucht. Insofern ist die ganze Bebilderung unseres Lebens eine Tech
nik des Illusionismus, weil sie uns die Illusion gibt und geben soll, w ir
sähen die W irklichkeit. D er „spectaculum -Eindruck“ , den die W irk
lichkeit auf dem Fernsehtisch erzeugt, hat „Rückschlagwirkung” , er
infiziert nämlich die W irklichkeit selbst: Die Tatsache, daß sich K en
nedy und N ixon jüngst für ihre Fernseh-Dispute schminken ließen,
beweist, daß die zwei nicht nur vom Publikum als „sh o w “ erwartet
wurden, sondern daß sie sich selbst bereits als Schauspieler auffaßten,
daß sie mit Fernseh-Stars in Konkurrenz traten, daß ihre effektive
politische Chance von ihrer show-Q ualität abhing. N icht nur die A u f
fassung der Realität durch das Publikum wird also unernst, sondern
die Realität selbst, da sie Rücksicht auf die Bilder zu nehmen hat.
Nunm ehr w ird die Welt zur „V orstellu ng“ , freilich in einem Sinne,
von dem Schopenhauer sich niemals etwas hätte träumen lassen. -
Dam it im engsten Zusammenhange:
3. Wir bilden unsere Welt den Bildern der Welt nach - „invertierte
Imitation” . - D a es kein Bild gibt, das nicht, mindestens potentiell, als
Vorbild w irkte, prägen w ir effektiv die Welt nach dem Bilde ihrer
Abbildungen: Jeder Johnn y küßt heute wie C lark Gable. Dam it wird
die W irklichkeit zum A bbild ihrer A bbilder (nicht etwa, wie bei Plato,
zum Abbild von Ideen).
4. Wir werden „passivisiert.” - D urch die Dauerbelieferung werden
wir in Dauerkonsumenten verwandelt. Während w ir zum Beispiel als
Leser noch selbständig sind, nämlich zurückblättern dürfen und das
Tem po des Aufnehmens noch selbst bestimmen können, sind w ir nun
mehr als pausenloses Seh- und H ör-Publikum gegängelt; konsumieren
w ir, dann haben w ir auch das gelieferte Tempo der Lieferung m itzu
konsumieren. - Das hatte zw ar vom Theater- und Konzertpublikum
stets gegolten, w ird nun aber zum Verhängnis, w eil die spectacula
nunmehr pausenlos ablaufen und durch diese Pausenlosigkeit unsere
Unselbständigkeit eingleisen.
Anders ausgedrückt: Der Verkehr des Menschen w ird a u f Unilate-
ralität gedrillt. D a w ir gewöhnt sind, die Bilder zu sehen, aber nicht
von ihnen gesehen zu w erden; Personen zu hören, aber von diesem
nicht gehört zu werden, gewöhnen w ir uns an ein Dasein, in dem w ir
einer H älfte unseres M enschseins beraubt sind. Wer nur hört, aber
nicht spricht und grundsätzlich nicht widersprechen kann, der w ird
nicht nur „passivisiert“ , sondern eben „h ö rig “ und unfrei gemacht.
5. D ieser Freiheitsverlust geht aber so vor sich, daß w ir nun, im
Unterschiede zu den Sklaven seligen Angedenkens, sogar der Freiheit
beraubt sind, den Freiheitsverlust zu bemerken. Denn die „H ö rigk eit“
wird uns ja als Unterhaltungsware und als Bequemlichkeit ins Haus
gebracht und vorgesetzt. U nd es gehört eine durchaus ungewöhnliche
Souveränität dazu, Bequemlichkeit nicht als Freiheit mißzuverstehen.
6. Wir werden „ideologisiert” . - Denn die Bilder von heute sind die
Ideologien von heute: die Bilddarstellungen sollen uns ein Bild der
Welt vermitteln, richtiger: die Flut von Einzelbildern soll verhindern,
daß wir zu einem Weltbild überhaupt kommen und daß wir das Fehlen
des Weltbildes überhaupt spüren. Die heutige Methode, mit deren
H ilfe man Verstehen systematisch unterbindet, besteht nicht darin,
daß man zuw enig, sondern darin, daß man zuviel liefert. Das zum Teil
kostenlose, zum Teil sogar unentrinnbare Angebot an Bildern (W er
bung) erstickt die M öglichkeit, sich ein Bild zu machen, man überw äl
tigt uns mit einer Abundanz an Bäumen, um uns daran zu hindern, den
Wald zu sehen. Die heutige Ignoranz w ird durch die M ultiplizierung
scheinbaren W issensstoffes hergestellt. Je weniger w ir uns in Entschei
dungen, die uns wirklich etwas angehen, einmischen sollen, um so
maßloser werden w ir in D inge „eingem ischt“ , die uns überhaupt
nichts angehen, etwa in die Seelennöte iranischer Kaiserinnen. Die
tausend Bilder decken den Zusammenhang der Welt zu, dies um so
mehr, als jedes Bild, auch jede nur einige Augenblicke währende W o
chenschau-Szene, fetzenhaft bleibt, uns also „kausalitätsblind“ macht.
D a Bilder kaum je Zusammenhänge zeigen, sondern eben nur ein „dies
und das“ , werden w ir in rein sinnliche Wesen verwandelt, und dieser
Sieg der „Sinnlichkeit“ ist ungleich verhängnisvoller als der Lolita
hafte unterhalb der Gürtellinie.
7. Wir werden „maschinell infantilisiert“ . - N icht anders als die
Säuglinge an den Mutterbrüsten hängen w ir an den nie versiegenden
Brüsten der A pparate, denn der gesamte Konsum bedarf und das, was
uns als Konsum bedarf aufgezwungen w ird, die Welt sow ohl wie die
sogenannte „W elt der K unst“ , w ird uns in liquidem Zustand vorge
setzt. D as heißt: sie w ird garnicht vorgesetzt, sondern so direkt gelie
fert, daß sie auch sofort gebraucht und verbraucht werden kann; da
liquide, ist das Produkt im Konsum schon wieder vorbei, also liqui
diert. D ie gelieferten „Stücke“ (bereits ein falscher Ausdruck) gerin
nen so wenig zu Gegenständen, wie die M uttermilch zwischen L iefe
rung und Aufnahme zu Käse oder Butter gerinnt; w ir haben sie inwen
dig, ehe w ir die Chance hatten, uns mit ihnen zu befassen, sie auch nur
aufzufassen. M odell der Sinnesaufnahme ist heute weder, wie in der
griechischen T radition, das Sehen; noch, wie in der jüdisch-christli
chen Tradition, das H ören, sondern das Essen. W ir sind in eine indu
strielle Oralphase hineinlaviert w orden, in der der K ulturbrei glatt
hinuntergeht. In dieser Phase soll das Gelieferte gar nicht mehr w ahr
genommen, sondern eben nur noch aufgenommen werden. Was die
background music von uns verlangt (und 99% der R adio- und Fern
sehmusik gehört dazu, w ird dazu, denn c’est la situation qui fait la
musique), ist nicht mehr, gehört zu w erden; vielmehr ist sie nur des
halb da, weil ohne sie ein unerträgliches Vakuum ausbräche. D ie L ie
ferware ist dem H örer „L u ft“ , und zw ar in doppeltem Sinne: i. ist sie
ihm gleichgültig, 2. aber kann er ohne sie nicht atmen. - Diese A rt der
Zerstörung, der Liquidierung des Gegenstandes, die durch die V erflüs
sigung, also Liquidierung, vo r sich geht, ist nicht etwa eine Spezialität
von Rundfunk und Fernsehen, sondern charakteristisch fü r die heutige
Produktion als solche. In den Vereinigten Staaten spricht man bereits
von dem Prinzip der gesteuerten Obsoleszenz, d. h. von dem Prinzip,
Produkte so herzustellen, daß sie als Gegenstände nicht halten. Sehr
begreiflicherweise: denn es liegt eben im Interesse der Produktion,
jedem Produkt A so rasch wie m öglich ein Produkt B nachzuschicken
- was nur dann durchgeführt werden kann, wenn man das Produkt A
so herstellt, daß es im Gebrauch selbst schon aufgebraucht, durch die
Lieferung also liquidiert wird. Im R undfunk und Fernsehen hat dieses
Prinzip seine bisher perfekteste Verw irklichung gefunden.
8. Das Gelieferte w ird „entschärft” . - D a die W are von einer m ög
lichst großen Zahl von Konsum enten konsumiert w erden soll, muß sie
mass appeal haben. Daß das für Film und Fernsehen im höchsten Maße
gilt, liegt auf der Hand. - Man w ird nun einwenden: für den Rundfunk
gelte das nicht, da w ir ja die Freiheit hätten, den Kulturwasserhahn zu
regulieren, ihn auf heiß oder lau oder gar auf avantgardistisch zu stel
len; da w ir also wählen könnten, wer oder was uns die Stube vollsingen
soll. - Daß im R undfunk und zuweilen auch im Fernsehen auch das
Avantgardistische, also das eigentlich Esoterische, eine gewisse Rolle
spielt, das ist zw ar w ahr; aber es fragt sich nun, welche Funktion dem
Avantgardistischen, da es uns als Lieferw are erreicht und nichts G e
w agtes oder Konspiratives mehr an sich hat, zukom m t. A ntw ort - und
dies gilt sogar fü r die erwartungsvoll und intakt dargebotenen Stücke:
Sie werden „entschärft“ . Denn durch die Tatsache der Lieferung
fügen sie sich bereits in die Klasse des Anerkannten ein, noch ehe sie
von uns, dem Publikum , erkannt sind; noch ehe w ir zu ihnen haben
Stellung nehmen können. D er K onform ism us stellt heute selbst fü r das
Unkonform istische eine Chance dar. D a dieses gewissermaßen in der
gleichen Verpackung ankommt wie die reputierliche oder die U n ter
haltungsware zur Rechten oder zur Linken, oder wie die vorgekaut
gelieferte Tageswelt, nehmen w ir das Unkonformistische nicht in der
Attitüde der Auseinandersetzung auf, sondern eben als Konsumenten,
die schlucken, auch w enn der Geschm ack vielleicht etwas bitter oder
unidentifizierbar ist. - Ich gebrauche das W ort „Entschärfen“ , w eil es
zum W esen der K un st eigentlich gehört, daß sie in der O pposition
steht: nämlich eine andere „W elt“ präsentiere. D ieser O ppositions
charakter kom m t minimal sogar der akademischsten Kunst zu, derje
nigen, die schönen Schein offeriert: denn auch der Schein ist ein insula
res, das W irkliche durchbrechendes oder verneinendes Stück innerhalb
des W irklichen; und andererseits sogar dem Naturalism us: denn dieser
zeigt die Welt eben anders, als das uns gewohnte oder aufgeprägte
W e ltb ild b e h a u p te t, daß das W ir k lic h e sei. - D a die A v a n tg a r d e alle
ih re W id e r s p rü c h e z u r W e lt d e r W e lt selb st v e r k a u fe n k a n n , u n d d a sie
v o n d ie se r n ic h t selten v e r w ö h n t w ir d , ist sie o ft in G e f a h r , d aß ih re
W e r k e , se lb st w o d ie se W a h r h e it m e in e n u n d w a h r h e its g e tr e u p r ä s e n
tie rt w e r d e n , d ie E m p fä n g e r in a u s g e b lu te te m Z u s t a n d e e r re ic h e n . E s
ist n ic h t a n d e rs, als w e n n A n a r c h is t e n d a r u m g e b e te n w ü r d e n , ih re
B o m b e n z u v e r k a u fe n , u n d als w e n n d iese d an n fü r ein M a s s e n fe u e r
w e r k z u m V e r g n ü g e n d e r B e v ö lk e r u n g v e r w e n d e t w ü r d e n . - D a d em
so ist,muß sich das wirklich Avantgardistische heute in die Unschein-
barkeit der Alltagssprache verkriechen. „ V o n d en a lte n A n t e n n e n “ ,
h e iß t es b e i B r e c h t , „ k a m e n d ie alten D u m m h e ite n . D i e W e ish e ite n
w u r d e n v o n M u n d z u M u n d w e it e r g e tr a g e n .“ U n d selb st n e u e W e is
h e ite n k ö n n e n d a d u r c h , daß sie w ie alte D u m m h e ite n v o n n eu en A n
ten n e n a u sg e stra h lt w e r d e n , z u alten D u m m h e ite n w e r d e n .
O d e r , s o z io lo g is c h a u s g e d r ü c k t: v e r m a s st k a n n alle s w e r d e n - s o g a r
d as A v a n tg a r d is t is c h e , s o g a r d as E s o t e r is c h e . „ W h y d o n ’ t y o u jo in o u r
in tim a te c a n d le lig h t c h a m b e r m u sic c lu b ? M illio n s jo in e d i t ! “ , e r k la n g
es im J a h r e 4 7 au s d em a m e rik a n is c h e n R u n d fu n k . D ie D if fe r e n z z w i
sc h en e x o te r is c h u n d e s o te r is c h ist m ith in in d as E x o t e r is c h e s e lb st
h in e in g e n o m m e n w o r d e n . - O d e r w ir t s c h a ft lic h a u s g e d r ü c k t: d ie I n
te re sse n te n d er K o n s u m m it t e lp r o d u k t io n h a b e n es fe r t ig g e b r a c h t, s o
g a r d ie a n tik o n s u m e n te n h a fte U n t e r s c h e id u n g z w is c h e n N ic h t k o n s u m
u n d K o n s u m in sic h a u fz u n e h m e n , a lso z u „ k o n s u m ie r e n “ . W ir sin d
b e r e its so w e it, d aß K o n s u m m it t e l z w e c k s V e r k a u f als N ic h t k o n s u m
m itte l a n g e p rie s e n w e r d e n .
E in e r der T r ic k s , m it d en en m an d ie p o litis c h e o d e r d ie ö k o n o m i
sch e F r e ih e it s b e r a u b u n g s c h e in b a r a u s z u g le ic h e n , in W a h r h e it u n
s ic h tb a r z u m a c h e n v e r s u c h t, b e ste h t d a r in , d aß m an a u f d en p o litis c h
u n d ö k o n o m is c h g le ic h g ü lt ig e n „ S e k t o r e n “ alle T a b u s a n n u llie r t. D a s
g ilt s o w o h l v o n d en alle G r e n z e n d e r D is k r e t io n s c h a m lo s d u r c h b r e
c h e n d e n N e w s - S e n d u n g e n (d ie selb st, u n d v o ll S t o lz a u f d ie eig en e
V o r u r t e ils fr e ih e it , D a t e n ü b e r d ie V e r d a u u n g v o n P rä sid e n te n o d e r d ie
U n t e r le ib s b lu t u n g e n d e r F r a u e n v o n „ P r e s id e n t s e le c t“ e n th a lten ) w ie
von den als Kunstwerken etikettierten Sendungen. Das ist um so leich
ter, als 1. zur Aufrechterhaltung von Tabus eine kanongebende Klasse
gehört - eine solche heute aber nicht existiert; und 2. im Laufe der
letzten Jahrzehnte, in Diktaturen und Kriegen, alle Tabus verletzt
worden waren, und zw ar so systematisch, daß diese Verletzungen als
solche kaum mehr empfunden w urden; und 3. als, außer in religiösen
Restgruppen, kein Absolutum mehr anerkannt w ird, das als sanktio
nierende Instanz figurieren könnte. - K u rz: als Ersatz für die keinen
W iderspruch duldenden Tabuierungen, die der politische K onform is
mus auferlegt, werden nun für Epatierlustige vergnügliche Ersatzre
gionen zur freien Benutzung geöffnet; dort dürfen, ja sollen sogar die
Form en der B. B. oder die der Lolita hineinschwellen. Verbote sind
hier verboten, 'Tabus tabu. Bei jeder derartigen uns zugestandenen
Freiheit sollten w ir uns fragen: Welche andere uns nicht zugestandene
Freiheit soll durch diese Erlaubnis der Tabudurchbrechnung verstopft
werden?
D ieser Zerfall der Tabus hat nun einen ganz direkten Einfluß auf
alles, was mit dem heutigen Theater zu tun hat - und dazu gehört
natürlich auch Film, Hörspiel und Fernsehspiel. Dem heutigen Thea
ter fehlt es nämlich deshalb an „ Spannung” - über deren Mangel wird
ja allgemein geklagt - , weil es keine Tabus mehr gibt. Denn die U r
spannung des Zuschauers und Lesers w ar stets die Spannung, ob ein als
absolut geltendes und anerkanntes Tabu gebrochen werden w erde; ob
es sich z .B . herausstellen werde, daß Odipus w irklich mit seiner M ut
ter geschlafen hat. Wo es diese lauernde Angst vor dem möglichen
Tabubruch nicht mehr gibt, gibt es nicht mehr die Spannung, selbst
nicht mehr den Kitzel, der die Unterhaltungsvariante der Spannung
ist; und bleierne Langew eile erfüllt den Zuschauer. Geschichtlich gese
hen hat die Verw andlung des heutigen Theaters in ein episches Theater
mit diesem Ende der Tabus zu tun, denn das epische Theater zieht
bewußt die Konsequenz und verzichtet auf Spannung.
Herstellbar wäre diese freilich sofort, wenn man den M ut hätte,
diejenigen Tabus, zu deren Aufrechterhaltung die anderen annulliert
w orden sind: also die politischen Tabus zu brechen. Die Gessler-Szene
in einem heutigen Theaterstück, in dem eine Figur es gewagt hätte,
einem führenden Politiker deshalb, w eil er an den N aziverbrechen
beteiligt war, den Gruß zu verweigern - diese Szene in einem heutigen
Theaterstück gesehen zu haben, kann ich mich nicht erinnern. Ich
breche mit dieser Schlußbemerkung zw ar ein Tabu, aber w ir können
davon überzeugt sein, daß mit einer solchen Szene das Theater wieder
spannend werden würde.
§/
Produkte, also D in g e , sind es, die den Menschen prägen. In der Tat
wäre es kaum eine Übertreibung, zu behaupten, daß Sitten heute fast
ausschließlich von Dingen bestimmt und durchgesetzt werden.
Das mag zw ar sonderbar klingen, w eil w ir gewöhnt sind, mit dem
Worte „Sitte” das System der (als üblich und gehörig angesehenen und
erwarteten) Umgangsformen zwischen Mensch und Mensch zu be
zeichnen; nicht das der Umgangsformen zwischen Mensch und Ding
oder zwischen Ding und Mensch. A ber dieses System ist nicht mehr in
Kraft. Was gilt, ist vielmehr, daß die Produkte an die Stelle der M it
menschen getreten sind; daß sie also auch die Weise, wie sich Mensch
zu Mensch benimmt, mitprägen. Charakteristisch für die gegenwärtige
Situation ist nicht nur, daß Moped oder Fernsehapparat oder die täg
lich auf dem Schirm gezeigte Phantomwelt unser Benehmen gegenüber
diesen Produkten prägen, sondern daß sie (bzw. der Produktbesitz)
Wer ist der Nachbar, verglichen mit dem Kühlschrank? 261
§2
§J
D IE T E C H N IK A L S S U B JE K T
D E R G E S C H IC H T E
§1
Ich bestreite nicht die Behauptung, daß der heutige Arbeiter unver
gleichlich kom fortabler lebt und arbeitet, als seine U rgroßväter gelebt
und gearbeitet hatten. A ber zu erwarten, daß er sich dieses Einstmals,
das er nicht miterlebt hat, und seines eigenen Aufstieges, also der
D ifferenz, bewußt bleibe, ist unrealistisch. E r lebt erinnerungslos, also
ungeschichtlich1. D en Arbeiter möchte ich sehen, dem es einfiele, z w i
schen dem Lebens-und Vegetierniveau seiner Ahnen und seinem eige
nen Lebensstandard einen Vergleich anzustellen; oder der sein Leben
deshalb als „m enschenwürdig“ oder als „unproletarisch“ einstuft, weil
dieses eben besser sei als das seiner Vorfahren.
Ü brigens gilt das auch vom Kleinbürger, der trotz der G röße der
konservativen Parteien, denen er oft zugehört, erstaunlich unge
schichtlich lebt. Wenn ihm aber nach Vergleichen zumute ist - ich
verwende absichtlich diesen vagen Ausdruck, denn das Vergleichen
findet immer nur ganz ungenau statt - dann bewertet er nicht die
Gegenwart höher als die (kaum konkret vorgestellte) Vergangenheit,
sondern umgekehrt diese, die „gute alte Z eit“ , höher als die Gegen
wart. U nd das tut er sogar auch dann, wenn seine Vergangenheit aus
Blutbädern bestanden hat. V on der das Erinnern durchweg begleiten
den Wehmut gilt das, was Aristoteles vom Dasein als solchem behaup
tet hatte, daß es ^öu n , etwas Süßes sei, und in der Tat macht das
Erinnern auch seinen Inhalt süß. In einem Wiener Kriegsverbrecher
tribunal habe ich es miterlebt, wie einem ehemaligen Lagerhäftling
während seiner Zeugenaussage über die Lagergreuel eine Träne ins
Auge stieg, und diese war, wie seine W orte bewiesen, keine Träne der
T rauer oder der Em pörung, sondern eine der Wehmut.
§2
§4
§6
§7
§8
Eine Bewegung hat bereits vor vierzig Jahren eingesetzt, die die
Vorherrschaft ungeschichtlicher O bjekte aufzuhalten versucht. D abei
habe ich nicht nur den schwunghaften H andel mit echten, und die
enorme Produktion von falschen Zeugen einer (zumeist rustikalen)
Vergangenheit, der die meisten K äufer garnicht entstammen, z .B . von
gußeisernen Wirtshausschildern, Petroleumlampen und dergleichen,
im A u ge; sondern ein Phänomen, das noch dialektischer ist: D a Repa
riertes bereits Seltenheitswert besitzt, werden (und zw ar von der W eg
werfindustrie selbst) „repariert“ , und damit „geschichtlich“ ausse
hende Produkte hergestellt; Produkte, die um so dialektischer sind, als
auch ihnen, obw ohl sie nach Vergangenheit riechen sollen, „O bsoles-
zenz“ eingebaut w ird. A b er da greifen w ir vor.
D ie prononciertesten Verkörperungen dieser neuen Produkte sind
die sogenannten „L e v y s “ , die Blue Jeans, deren Qualität in künstlich
hergestellter schlechter Qualität besteht, die geflickt, ausgewaschen
und zerfranst aussehen, also Vergangenheit, mindestens Gestrigkeit
simulieren müssen, um gekauft und verwendet zu werden. „O therw ise
they are not up to date“ (Ausspruch einer amerikanischen Sechzehn
jährigen, die sich der D ialektik ihrer W orte natürlich nicht bewußt
war). W irklich haben sich die ersten K äufer und Träger dieser ge
schichtsphilosophisch so interessanten Hosen als Rebellen gefühlt, als
Saboteure der „ungeschichtlichen“ Konfektionshosen, als Verächter
der „g lo ssy “ M assenkonfektion, als Protestierer gegen die Bügelfalte.
Blue-]eans-Träger aller Länder , vereinigt euch! In der Tat steckte et
was von „konservativer Revolution“ in dieser neuen, Altsein vorspie
gelnden Tracht. Zugleich schien sie, da sie von der Protestjugend
„klassenneutral“ , übrigens auch geschlechtsneutral, getragen wurde,
eine Bejahung der „E q u ality“ zu proklamieren, ein „w e are the
people“ -Gefühl. Schien. Denn im N u hatte sich die verpönte M assen
konfektion des protestierenden Außenseiters angenommen, um aus
der neuen Tracht eine Kollektivm ode zu machen, deren D iktat sich
auch nach kürzester Zeit kein Jugendlicher mehr entziehen konnte,
wenn er es nicht riskieren wollte, als zum Establishment gehörig auf
zufallen. Und schon seit Jahren dürfen es sich selbst die Kinder der
Fabrikanten nicht mehr leisten, diese unter Konform ism uszw ang ste
henden Antikonform ism us-H osen nicht zu tragen, da sie sonst als
weltanschaulich bzw. politisch nicht up to date, als nicht zu „p eop le“
gehörig, kurz: als nicht-auffällig auf fallen würden.
§9
Waffen sind Konsumgüter. D ie Antiquiertheit der Feindschaft.
Krieg und Mode Zwillinge
W orauf die Industrie in erster Linie abzielt, ist also nicht (was uns
die Produktion der Neutronenbom be glauben machen könnte) die
Liquidierung der Personen- und Materialwelt des Feindes (auf den ihre
W affen zielen), sondern die ihrer eigenen Produkte. D ie Strategie des
Blitzsieges, des sofortigen Totalruins des Gegners, die vor 3 5 Jahren
offenbar noch als praktisch gegolten hatte, ist heute längst obsolet
geworden, sie wäre ein geschäftswidriges Unternehmen. Was die Indu
strie am meisten liebt, ist der vertrauenswürdige Krieg, der K rieg, auf
dessen soliden jahrelangen Bestand man rechnen kann, also der K rieg
vom T yp des Vietnam krieges, der sogar mit einer militärischen N ie
derlage (was ja der Fall gewesen ist) enden darf, da er, gleich, ob
militärisch gewonnen oder nicht, auf jeden F all einen triumphalen Sieg
der kämpfenden Industriemacht, einen M aximalverbrauch von W eg
werfprodukten darstellt. So gesehen, ist Vietnam nur scheinbar ein
Feind der USA gewesen. In Wahrheit w ar es, gleich ob es das wollte
oder nicht, deren bester Warenabnehmer, damit deren engster Alliier
ter. Welcher andere Kunde außer einem solchen „F ein d “ hätte der
amerikanischen Industrie die Chance geschenkt, dreimal so viele B om
ben zu produzieren und zu verbrauchen wie im ganzen zweiten W elt
kriege ?'° Das Bedürfnis nach einem solchen, „Feind“ genannten, K un
den oder Alliierten, und das nach einer solchen, diese Beziehung er
leichternden und „Patriotism us“ genannten Mentalität - diese B edürf
nisse werden nicht weniger künstlich hergestellt als die nach drei
dimensionalen Schallplatten oder nach Farbfernsehern. Die Fabriken,
in denen diese Bedürfnisse erzeugt werden, sind die M assenmedien.“
Fassen w ir zusammen: M odernisierung der Produkte und K rieg
sind einander steigernde Zwillingsphänom ene. Beide dienen, jede auf
ihre A rt, der Zerstörung der Produkte, die ihrerseits die Produktions
kontinuität und -Steigerung gewährleistet. Diese Steigerung ist das ein
zige, was als Konstante und als ew ig während gewünscht wird. P ro
dukte dagegen sollen durchweg vergehen. Ebenso die Produktionsm it
tel, und zw ar deshalb, weil deren unveränderte Benutzbarkeit die
Nichtsteigerung der Produktion beweisen würde - ganz abgesehen
davon, daß in den Augen derer, die diese erzeugen, Produktionsm ittel
ja ebenfalls Produkte sind, und als solche natürlich dem Gesetz des
möglichst schnellen Verbrauchs und der möglichst baldigen Ersetzung
durch andere unterliegen. D er N am e für den hier geschilderten Prozeß
ist - dieser B egriff hat in der Tat sow ohl im W esten wie im Osten alle
Krisen und Katastrophen des Jahrhunderts aufs beschämendste über
dauert und ist der einzige ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht -
noch immer „Fortschritt“ .11
§ io
§u
§ 12
Ich nenne aber das M assaker von M yL ai, von dem w ir die heutige
Situation ablesen können, deshalb epochal, weil in ihm das Verhältnis
Mensch-M aschine ein qualitativ neues Stadium erreicht hat. Was der
Hiroshim apilot verübt hat, w ar „indirekter M assenm ord“ gewesen.
U nd ebenso indirekt waren auch noch die mörderischen A ktionen der
H elikopter im Vietnam krieg gewesen. Dagegen m arkiert das, was in
M y L a i geschehen ist, ein grundsätzlich neues, ein drittes Stadium, weil
hier die indirekte Handlung w ieder in „terms ofdirect action“ zurück
übersetzt wurde. „R ückübersetzung“ ist in der T at der Schlüsselbe
griff, ohne den, was in M y L a i geschehen ist, verschlossen bleibt.
V ollends deutlich läßt sich das Stadium, das die Beziehung M ensch
Maschine hier erreicht hat, dadurch kennzeichnen, daß man es mit
demjenigen Stadium vergleicht, das die Maschinenstürmerei des vo ri
gen Jahrhunderts dargestellt hatte. Während die Maschinenstürmer
gegen die Maschinenwelt als übermächtige Konkurrenzw elt aufbe
gehrt hatten, haben die Massenm örder von M yL ai deren Existenz als
legitim, nein als selbstverständlichen Maßstab akzeptiert - genau so,
wie w ir alle die M aschinenwelt einfach auf G rund ihrer M ächtigkeit
und Unentbehrlichkeit als selbstverständlich akzeptieren. U ns eine
maschinenlose Welt zu wünschen oder auch nur vorzustellen, wie es
die M aschinenstürmer des vorigen Jahrhunderts w ohl noch hatten tun
können, dazu sind w ir nicht mehr imstande. W er die Maschinen (na
türlich nur verbal, denn praktisch ist das längst schon undurchführbar)
bekämpfen würde, würde damit seiner eigenen täglichen Existenz w i
dersprechen und sich selbst bekämpfen. Nein, wogegen die G .I.s von
M y L a i revoltiert haben, w ar die Tatsache, daß ihnen, die ja schließlich
auch zum Apparat gehörten, diejenigen Rechte, die diesem zustanden,
nicht ebenfalls zustanden. Nicht a u f den Ruin der Maschinen zielten
sie ab, sondern darauf, „sicut machinae“ zu werden, dasjenige, was
diese durften, ebenfalls zu dürfen. U nd wenn sie über etwas moralisch
indigniert waren, so darüber, daß ihnen noch humane Tabus, also
M oral, zugemutet oder zugetraut wurden. N ich t als Menschen nach
einem erhofften Tode der Maschinen wünschten sie zu überleben,
sondern als Maschinenteile nach dem erhofften, nein beanspruchten,
Tode des H um anums. Wenn irgendwo mein Schlagwort von der „ A n
tiquiertheit des M enschen“ einen Sinn hat, dann hier: nämlich als Titel
für die negative Attitüde des Menschen gegenüber seinem Menschsein.
Fün f G ruppen haben etw as mit dem M yLai-Zw ischen fall zu tun
gehabt: die massakrierende Einheit selbst; die befehlerteilenden V o r
gesetzten; die mit dem Prozeß befaßten Personen; die Presse, die M il
lionen W örter darüber veröffentlichte; und schließlich der H auptange
klagte Lieutenant C alle y,J2 der seine A ttitüde nicht nur in seinen ge
richtlichen Aussagen, sondern auch in einer (freilich „ghostw ritten“ )
Autobiographie zu formulieren versucht hat. A b er unter den Genann
ten hat es nicht einen Einzigen gegeben, der das Grundsätzliche des
Ereignisses, das, was w ir die „R ückübersetzung“ genannt haben, ver
standen oder gar in W orte gefaßt hätte. U nd das ist sehr begreiflich.
N icht nur deshalb, weil es der von der T echnik dominierten M ensch
heit außerordentlich schwer fällt, ihren (technischen) Daseinsmodus
zu durchschauen - diese Hem m ungen sind ungleich größer und weiter
verbreitet als alle von der Psychoanalyse behandelten und etikettierten
Hemm ungen; sondern auch deshalb - und dieses Tabu ist die eigentli
che Ursache dieser Hemm ung - weil niemand diesen seinen Daseins
modus verstehen oder gar in W orte fassen sollte oder durfte: und dies
wiederum deshalb nicht, w eil jedes Verständnis, von Formulierungen
zu schweigen, einer Fundam entalkritik der Technik gleichgekommen
wäre, und eine solche K ritik natürlich unterbunden werden mußte.
Gleichviel, eine Ahnung davon, daß die am M assaker Beteiligten,
nicht anders als Aberm illionen ihrer Zeitgenossen, gewünscht hätten,
zu sein „sicut machinae“ , ist in den Wochen der Verhandlung als
Tatm otiv nicht ein einziges M al laut geworden. Erst durch unseren
B egriff der „R ückübersetzung“ gewinnt der Fall M yL ai grundsätzli
che und historische Bedeutung, erst durch ihn w ird es sichtbar, daß
Lieutenant Calley das heutige Verhältnis zwischen Technik und Moral
genau so exemplarisch vertritt, wie vor fünfunddreißig Jahren Eich-
mann und Eatherly die damalige Situation vertreten hatten.
§ 14
Wir sind alle Proletarier
§*5
D IE A N T IQ U IE R T H E IT
D ER M O D ERN E
W e r , aus d e r b le n d e n d e n E x h ib it io n is m u s - u n d W e r b e w e lt d es K a
p ita lis m u s k o m m e n d , in d ie S tra ß e n , a u c h d ie z e n tra le n G e s c h ä ft s s t r a
ß en e in e s s o z ia listis c h e n Sta a te s g e rä t - d e r Ü b e r g a n g v o n B e r li n - Z o o
z u B e r lin -F r ie d r ic h s t r a ß e ist e x e m p la r is c h - , d e r g la u b t n ic h t n u r, a u f
ein e m a n d eren K o n tin e n t g e lan d et z u sein , so n d e rn a u c h in e in e r an d e
re n Z e it . N e in , n ic h t in d e r Z u k u n f t , so n d e rn in d e r Vergangenheit.
D ie s e r E in d r u c k r ü h r t d a h e r, d aß m an in e in e W e lt z u r ü c k v e r s e tz t ist,
d ie , w ie es d ie v e r g le ic h s w e is e u n v e r lo g e n e re v o r v o r g e s t r ig e W e lt u n
s e r e r V o r fa h r e n g eta n h a tte , nicht aus Reizbildern besteht, s o n d e rn
n o c h a u fs r e d lic h s t e au s O b je k t e n , d ie s o „ a u s s e h e n , w ie sie s in d “ . 1
D ie s e s G e f ü h l d e s Z u r ü c k v e r s e t z t s e in s sc h e in t u m s o w id e r s p r u c h s
v o lle r , als ja z u m m illio n e n fa c h a u s p o s a u n te n S e lb s tv e r stä n d n is d e r
s o z ia lis tis c h e n S ta a te n d ie Ü b e r z e u g u n g g e h ö r t , d e n n ic h t -s o z ia lis t i
Fort
sc h e n w e it v o r a u s , w e it „ fo r t s c h r it t lic h e r “ als d ie se z u sein . A b e r
schrittlichsein ist nicht identisch mit Modernsein. In d e r T a t h a t d er
O s t e n d ie K a t e g o r ie d e r „ M o d e r n i t ä t “ n a c h e in e r M o d e r n it ä t s - E r u p
tio n in d e n fr ü h e n z w a n z ig e r J a h r e n v o r ein e m h a lb e n J a h r h u n d e r t
b e re its a u s r a n g ie r t. D a s hat m e h r e r e G r ü n d e .' E in m a l d e n , daß d ie
K a t e g o r ie „ m o d e r n “ n u r in d e r k a p ita lis tis c h e n W e lt e n tste h e n , u n d
n u r in d ie se r G ü l t i g k e i t e r w e rb e n k o n n te . W e n n m a n d ie K a t e g o r ie im
Zusammenhange mit der der (immer modernen) „M o d e " sieht, ist das
ganz klar. Da es im Interesse der Produktion liegt, daß sie so viele
Produkte wie möglich absetze, hat sie auch so häufig wie möglich
neuartige neue zu erzeugen. Das Produkt P, das zuerst auf Grund
seiner Neuigkeit bei der ersten Modevorführung durch Auffälligkeit
verlockend, also „modern“ war; und dann (da ja im Westen jeder seine
Kleidung hat) nur von einer Elite, die sich Überflüssiges leisten kann
und sich durch diese als Elite auszuweisen wünscht und tatsächlich
ausweist, angeschafft wird, dieses Produkt P wird - dies ist der erste
dialektische Umschlag - da niemand nicht zur Elite gehören möchte
oder (aus Sozialzwang) darf, durch Werbung zu einem sogenannten
„m ust" gemacht, das heißt: zu etwas, was niemand nicht haben darf:
zur Allerweltsmode. Ist dieser Moment, in dem jedermann (bzw. jede
Frau) das Produkt trägt, also der Augenblick der Sättigung, erreicht,
dann setzt der zweite dialektische Umschlag ein: Nicht nur der Bedarf
wird vom Produzenten hergestellt, sondern, was weniger bekannt ist,
auch der Überdruß. Es gibt nicht nur eine Werbe-, sondern auch eine
Abwerbe-Industrie. Man redet also der Kundenwelt ein: „dieses
Zeug“ („old stuff“ ) „kann man nicht mehr tragen“ .3 Und da die ersten
modischen Käufer ihrer Prärogative, durch Produkt P aufzufallen, nun
wirklich beraubt sind, glauben sie auch wirklich, etwas Neues zu „be
nötigen“ , nein, benötigen sie das Neue tatsächlich. Auf diesen Augen
blick hat der Produzent, um die Weiterproduktion zu gewährleisten,
noch während P 1 in Mode war und von ihm hergestellt und verkauft
wurde, methodisch hingearbeitet; die Phasen von P i und P2 „über
lappen“ . Noch während er für P 1 wirbt, entwirft er bereits P 2, das
dem P 1 den Garaus machen soll. Und ist dieses P 2 dran, dann
durchläuft es genau dieselbe vita wie sein Vorgänger: auch es wird
dann für jedermann „fällig“ gemacht, jedermann aufgezwungen, um
dann, wenn der Moment der Sättigung erreicht ist, dem von seinem
Produzenten hergestellten Überdruß anheimzufallen, und einer dritten
Produktgeneration den Platz zu räumen. Und was von der Kleidung
gilt, gilt mutatis mutandis von allen Produkten: von Stereo-Anlagen,
Autos, Maschinenpistolen, Tanks und Napalmbomben. Auch die wer
den rasch unmodern (gemacht), auch die werden durch Modelle neuer
Generationen abgelöst. Und diese nie abreißende Ablösung der Pro
duktmodelle ist nun die Geschichte von heute, zu der (wie schon oft,
aber ohne geschichtsphilosophische Einsicht bemerkt worden ist) ein
noch nie dagewesenes Prestissimo gehört. Ich füge freilich hinzu - und
durch diese Zufügung kehre ich zu dem vorhin erwähnten Unterschied
zwischen dem Aussehen der kapitalistischen und der nichtkapitalisti
schen Welt zurück - : diese geschichtsphilosophischen Überlegungen
treffen ausschließlich auf die kapitalistische Welt zu. Daß in vorkapita
listischen Zeiten „die Zeit langsamer vorwärtsgegangen“ ist als heute,
das heißt: daß Wechsel seltener eingetreten ist, das ist ja eine Binsen
wahrheit. Aber auch in einem hochindustrialisierten nichtkapitalisti
schen Lande wie der Sowjetunion ist, trotz der berühmt-berüchtigten
Forderung nach Steigerung des Tempo- und Plansolls, das Geschichts
tempo langsamer als bei uns. Die spezifische Hektik des Kapitalismus,
die daher rührt, daß täglich im Wettbewerb nicht nur mehr Produkte,
sondern Produkte neuer Art erzeugt werden müssen, die gibt es nicht
in den sozialistischen Ländern, weil sie dort nicht erforderlich ist - es
sei denn, diese Länder fürchten, namentlich auf dem Rüstungssektor,
den Wettbewerb mit den kapitalistischen Ländern zu verlieren. Die
Kategorie des Tempos der Geschichte kann gar nicht wichtig genug
genommen werden. Geschichts- und Zeitphilosophien bleiben so
lange leer, als sie uns keine Auskunft über das ökonomische System
erteilen, dessen „Z eit“ sie untersuchen; und solange sie uns nichts über
das Tempo der untersuchten Zeit verraten. Geschichtliche Zeit ist so
wenig ein „Existenzial“ wie sie eine „Form der Anschauung“ ist. Viel
mehr ist sie eine Form der Produktion, des Produktionswechsels und
des Konsums.
Der zweite Grund dafür, daß die Kategorie der „Moderne“ in sozia
listischen Staaten verschwindet (oder, wenn früher nicht dagewesen,
erst gar nicht aufkommt) besteht in der Tatsache, daß „modern“ (min
destens im Munde der Modemen) ein Auszeichnungswort ist, daß M o
dernsein Sache einer Elite (oft einer sich als Elite verstehenden außen
seiterischen Boheme) war, die von den „Unmodernen“ mit bis zur
Pogromhetze reichendem Ressentiment gehaßt und verfolgt wurde.4
Das Wort „modern“ ging zwar, namentlich zur Bezeichnung von
Konfektion, Autos und Kühlschränken, in den volkstümlichen
Sprachschatz ein; nicht aber zur Bezeichnung der eigenen geschichtli
chen Existenz oder als Name der Epoche („die Moderne“ ). Daß das
elitäre, also anti-egalitäre (gleich ob aristokratische, boheme- oder in-
telligentsiahafte) Moment, das dem Begriff der „Moderne“ anhing,
vom Sozialismus sowenig wie vom Nationalsozialismus5 als Lebens
ideal hat übernommen werden können, das liegt auf der Hand. Aber
für die weder sozialistischen noch faschistischen Massengesellschaften
des Westens ist dieses „Ideal“ ebenfalls inakzeptabel und unverwend
bar. Es sei denn, man behaupte, daß in der heutigen Massengesellschaft
niemand unmodern sei. Ein amerikanischer Werbeslogan lautet: „ You
can}t help being up to date“ . In der Tat ist heute ein ganz ungewöhnli
ches Maß an Widerstandskraft vonnöten, um unmodern zu sein. Und
zwar deshalb, weil heute jedermann dadurch, daß er Zwangskonsu
ment ist, an den „neuesten Errungenschaften“ automatisch teilnimmt,
und weil jedermann, erzogen durch die „planned obsolescence“ , sich
weigert, sich Gestriges „bieten zu lassen“ - man horche in den D op
pelsinn dieses Ausdrucks, der sowohl offerieren wie zumuten bedeu
tet, hinein. Es kann keine Rede mehr davon sein, daß an Modernem
teilzunehmen noch ein Vorrecht oder eine Auszeichnung sei; daß es
noch „Geheimtips“ gebe. Dabei denke ich nicht etwa nur an blue
jeans, nicht nur an die last hits der Unterhaltungsmusik oder an die
Kassettenrecorder, die uns das Trivialste und „Gestrigste“ vermittels
der raffiniertesten und „heutigsten“ Technik ins Haus schleusen, son
dern auch an die (wie es so schön barbarisch heißt) „Kulturwerte“ : an
diejenigen Produkte, die, etwa zu Beginn des Jahrhunderts, als der
Begriff der „Moderne“ noch modern war, vor allen anderen als „m o
dern“ rangiert hatten: an die Kunstwerke. Heute gibt es niemanden
mehr, der die in Millionenauflagen reproduzierten und deshalb konsu
mierten zeitgenössischen Avantgardisten nicht kennte. Sie sind „in “ .
Umgekehrt gilt heute, wer am Neuesten nicht teilnimmt, als nonkon
formistisch und als spleenig. Durch Nichtbesitz der allerneuesten
„musts“ fällt man heute genau so auf und macht man sich genau so
verdächtig, wie man früher durch Vorwegnahme des Modernen als
„D and y“ aufgefallen war und sich verdächtig gemacht hatte. Seit Jah
ren rechnet man es mir als Hochmut und als Zeichen „mangelnden
Demokratieverständnisses“ an, daß ich, da ich dafür keine Zeit habe,
keinen Fernseher besitze.
Dazu kommt, daß heute jedermann, wie paradox das auch klingen
mag, auch up to date der Spitzenleistungen der Vergangenheit zu sein
hat. Kein Zähneputzen ohne die „Unvollendete“ , kein Staubsaugen
ohne den „Liebestod“ . Möglich, daß dabei dann und wann ein Samen
korn in fruchtbaren Boden fällt. Hoffentlich. Aber beabsichtigt ist das
durchaus nicht. Weder von den Produzenten noch von den Konsu
menten. Was jene betrifft, so lieben diese - dies ist ihre etwa vor einem
halben Jahrhundert gemachte Entdeckung - die „Kulturwerte der Ver
gangenheit“ deshalb so leidenschaftlich, weil sie diese gratis ausschöp
fen können. Telemann oder Vivaldi brauchen sie keine Tantiemen zu
zahlen, die Kulturvergangenheit ist billig, eine Goldmine a discretion.
Und was die Staubsaugerinnen angeht, so ist ihnen wichtig allein, daß
etwas aus dem akustischen Wasserhahn strömt, nicht was. Aus diesen
Gründen wird auch Gewesenes „modern“ .
§2
Aber selbst damit ist die Dialektik der heutigen Situation noch nicht
erschöpft. Wie paradox es auch klingen mag: Heute gilt nämlich, vor
allem in den U SA, als modern derjenige, der (im Unterschied zu dem
ausschließlich im Jetzt lebenden „man in the street“ ) einen Bezug zur
Vergangenheit, etwas Stammbaumartiges, vorweisen oder vortäuschen
kann: der Pseudo-Aristokrat, der sich mit rustikalen (die Assoziation
„Landadel“ nahelegenden) oder mit „Continental“ (Kultur beweisen
den) Stücken umgibt. „Leichenteile der Geschichte“ hat Brecht sie
einmal genannt - sehr zu Unrecht. Denn diese „Leichenteile“ verwe
sen nicht nur nicht, vielmehr nehmen sie, je älter sie werden, einen um
so süßeren Duft an, sie werden durchwegs, wie früher nur Geigen oder
Weine, von Jahr zu Jahr wertvollerer Besitz; und um so köstlicher, als
jedermann weiß, daß sie nicht nur ein schönes Stück Geld gekostet
haben, sondern daß sie bei Wiederverkauf das Vielfache des Einkaufs
preises erbringen werden; oder noch besser: erbringen würden, denn
als besonders prestigesteigernd gilt es, wenn einer, trotz der täglichen
Wertsteigerung seines Objektes, dieses nicht veräußert, nicht zu veräu
ßern braucht. Tatsächlich ist es denen, die mit diesen Stücken handeln,
den Antiquitätenhändlern (im Unterschiede zu ihren Vorvätern, den
von Ort zu Ort ziehenden Altkleiderhändlern) gelungen, ihren Zeitge
nossen, namentlich denen in „geschichtsarmen“ Ländern wie Ame
rika, weiszumachen, daß alles, was sich aus alter Zeit erhalten habe,
durch dieses sein Alter gewissermaßen geadelt und dadurch ein Kunst
werk sei; daß der Wert dieser gebrauchten Gegenstände den der
brandneuen und natürlich viel besser funktionierenden hoch über
steige, weil er eben ein Pres tigewert sei. Oft freilich werden die alten
Gebrauchsgegenstände umfunktioniert und in das Gegenwartsleben
integriert, weil noch nicht alle Eigentümer, namentlich in Ländern mit
utilitaristischen Traditionen, gelernt haben, in der Bewandtnislosigkeit
eines Objektes eine Tugend zu sehen, und im Kantischen „uninteres
sierten Wohlgefallen“ eine ausgezeichnete und auszeichnende Atti
tüde. So habe ich in Hollywood einmal ein kirchliches Möbelstück
gesehen, das sich nicht einfach in ein Kunstwerk verwandelt hatte -
eines so zwecklosen Objektes hätte der Eigentümer sich geschämt -
sondern in eine elektrisch beleuchtete Hausbar. Gleichviel, niemals
werden diese ästhetischen Gegenstände einfach „betrachtet“ , vielmehr
besteht der „Kunstgenuß“ der Eigentümer fast immer darin, daß er sie
vorzeigt. Alte Objekte, die so aussehen, als bewiesen sie „roots“ , als
seien sie nicht käuflich erworben, sondern Erbgut, zu besitzen, das gilt
nun als ein Elitezeichen, der Eigentümer als „modern“ , aber gewisser
maßen nicht deshalb, weil er ein Avantgardist wäre, sondern weil er
sich als ein „Apresgardist" gerieren kann.
Freilich ist auch damit noch nicht das letzte Stadium der dialekti
schen Entwicklung erreicht. Denn da - diesen Umschlag der Elite
mode in Massenmode hatten wir ja geschildert - jedermann am Elitä
ren teilzunehmen wünscht und da dadurch schon seit vielen Jahren die
Nachfrage nach „echten“ Gegenständen unerfüllbar geworden ist, ist
eine „ Antiquitätenindustrie“ eingesprungen, die die Marktlücke aus
füllt, und zwar mit Gegenständen, die viel älter und viel echter ausse
hen als die wirklich alten und die echten echten. In der Tat darf man
von diesen unechten Stücken sagen, daß sie die echten Repräsentanten
unseres Zeitalters sind. Da neue Gegenstände besser sind als alte, sind
auch neue alte Gegenstände besser als alte alte. Und kein Partygast
erwartet von dem sinnlosen Spinnrad, das er im Living room seiner
Gastgeberin vorfindet, daß dieses wirklich echt sei. Im Gegenteil:
Schon vor mehr als dreißig Jahren habe ich es bei einer solchen Party
in California erlebt, daß die Wirtin, da sie darauf insistierte, daß ihr
altes Spinnrad wirklich ein „altes altes“ sei, als unsolidarisch empfun
den wurde und sich äußerst unbeliebt machte.
Ich möchte diesen Paragraphen nicht schließen, ohne von einem
ähnlichen, ebenfalls kalifornischen Erlebnis zu erzählen. Vor fünfund
dreißig Jahren habe ich in Westwood, California, in dem air condi-
tioned „A rt Room“ eines Hollywood-Would-be-stars ein am Plafond
aufgehängtes (ob echtes oder unechtes, wird es selbst nicht gewußt
haben) Rad eines Arizona-Planwagens gesehen (diese Wagen beziehen
ihren „sentimental value“ von der Rolle, die sie in sogenannten „West-
erners“ (Filmen) spielen); ein Rad, das seine Eigentümerin, wie sie mir
in naiver Schamlosigkeit erklärte, auf einer Prestige lizitierenden A u k
tion erstanden hatte; und zwar für einen exzessiv hohen Preis, da, wie
gesagt, unverwendbarer Plunder durch seine wahre (oder hergestellte)
Seltenheit, durch seine Nostalgie-Gesättigtheit und dadurch, daß nur
Wohlhabende sich Unverwendbares leisten können, unvergleichlich
viel höhere Preise erzielt als der beste heutige Hausrat. Da hing nun
also das Rad, nicht wissend, wo seine tausend Geschwister (sofern es
in Massenproduktion erzeugt worden war) geblieben waren; und rat
los, was es mit sich nun anfangen sollte. Denn so bewandtnislos her
umzurotieren wie sein Pendant: das damals noch ziemlich unbekannte
und als „modern“ erst intendierte, ihm unbegreiflich bleibende „m o
bile“ , hatte es keine Lust; und es langweilte sich tödlich. Kurz: Moder
nismus und Konservatismus (mindestens Protzerei mit einer vorge
spielten Vergangenheit) schlossen einander nicht nur nicht aus, sie
vollzogen sich sogar zusammen - und das ist in der Tat ein höchst
merkwürdiger Modus von „Geschichtlichkeit“ .
1978
D IE W E L T A L S S IR E N E
§1
Aber kehren wir noch einmal, aus dem strahlenden Westen kom
mend, nach Ostberlin zurück. Wenn dort keine blendenden Lichtre
klamen um uns werben, so ist das wahrhaftig kein Wunder. Denn wo
Kunden nach Waren, nicht Waren nach Kunden schreien, und wo es
keine Konkurrenten gibt, deren Waren oder Warenbilder man mit
eigenen zu überschreien oder zu überstrahlen gezwungen wäre, da
erübrigt sich Werbung. Aus diesem Grunde sieht der sozialistische
Osten so entsetzlich farblos aus. Und damit sind wir noch einmal bei
der Auslöschung des Sextabus. Da die Universalisierung des Sexreizes,
der im Westen zur Werbung für alles dient, nicht erforderlich ist, hat
auch die Löschung des Sextabus als solchen im Osten offensichtlich
nicht stattgefunden. Und das gilt selbst von der D D R - was ich des
halb hervorhebe, weil ja das dortige fernsehende Publikum nicht daran
gehindert werden kann, sich über diese Entwicklung zu informieren
und sich von dieser mit-affizieren zu lassen. Wie sonderbar diese Be
hauptung auch klingen mag - wer vor fünfzig Jahren diese Prognose
gewagt hätte, wäre für toll gehalten worden3 - aber es kann kein Zwei
fel darüber bestehen, daß die sozialistischen Staaten trotz. ihres Atheis
mus und ihrer Kirchenrepression die Sexualmoral der monotheisti
schen Religionen, die Monogamieregel und selbst den Sündenbegriff
(mindestens das schlechte Gewissen) ungleich besser konservieren, als
das die, die Freiheit der Religionen gewährleistenden, kapitalistischen
Staaten getan haben. Verantwortlich für diese auf einem Drittel des
Globus herrschende offizielle Zimperlichkeit ist natürlich auch die Tat
sache, daß jede revolutionäre Orthodoxie zum Asketismus neigt, nein:
diesen vorschreibt und durchsetzt, weil sie die Lust, von „Libertinage“
zu schweigen, beargwöhnt, eine inkalkulable und Law and Order ge
fährdende Naturkraft, eine Revolution innerhalb der Revolution, das
heißt: anarchisch zu sein. In China soll es ja angeblich sogar gelungen
sein - ich drücke mich so vorsichtig aus, weil die Sache absolut un
glaubhaft klingt - die Prüderie so gründlich durchzusetzen, daß die
Mehrzahl der bis Dreißigjährigen ein geschlechtsloses Leben führe.
„Geworben“ wird angeblich erst, wenn man dieses Alter erreicht hat.
Und dann natürlich nicht fü r etwas, sondern um etwas. Eben um die
Partnerin.
Wir haben vorhin gesagt, daß uns die Straßen im Osten altertümlich
vorkommen und mit Zeitweh erfüllen, weil sie, wie in Großvaters
Tagen, die „Redlichkeit“ haben, so „auszusehen wie sie sind“ , und
sich nicht dazu hergeben, als bloße Werbungsfolie zu dienen. Diese
„Redlichkeit“ , die wir nicht wirklich als Tugend verstehen, sondern
als eine Folge von „for ce majeure“ , hatten wir damit erklärt, daß sich,
wo kein kapitalistischer Wettbewerb und kein Übergewicht des Ange
bots über die Nachfrage bestehe, Werbung erübrige.
Nun, in dieser kategorischen Form ist unsere Behauptung nicht
aufrechtzuerhalten. Werbung, auch pompöse, gibt es auch im Osten.
Am ersten Mai sind die Häuser unsichtbar gemacht unter Bildern und
Transparenten. N ur handelt es sich dabei
1. nicht um Wettbewerb gegen Konkurrenten, die es ja (es sei denn,
man betrachte die gesamte kapitalistische Welt als die Konkurrentin
der sozialistischen) nicht mehr gibt; und
2. nicht um Werbung für Waren. Geworben wird vielmehr für den
Aufbau des Sozialismus oder für das, was sie mit diesem Namen be
zeichnen; für dessen Macht, dessen Regierung, dessen „Klassiker“ , für
die Erfüllung des Plansolls. Und
3. nicht um Werbung mit Hilfe von Lockmitteln. Nicht mit Hilfe
von Busen und Schenkeln geht man auf Seelenfang, sondern durch
Ausstellung von Einschüchterungsinstrumenten wie Raketenabwehrra
keten (die nicht „nach mehr aussehen“ als sie sind, sondern nach „w e
niger“ 4); oder durch Herumtragen von (aufs lächerlichste in Kolossal
Ikonen verwandelten) Marx- und Lenin-Photos; oder durch das sinn
lose Vorzeigen von (vielleicht sogar sinnvollen, aber aufs beschämend
ste in prä-alphabetische Riesenamulette transformierten) Texten. Zwar
kann man nicht leugnen, daß auch diese, am i. Mai regelmäßig ihren
Höhepunkt erreichenden, Werbungen das Aussehen der sozialisti
schen Städte verändern. Da aber, im Unterschied zu den Lockbildern
des Westens, die von Tag zu Tag wechseln, weil sie es müssen, um uns
von neuem gierig und neugierig zu machen . . . da aber die Kolossalbil
der dieselben sind wie am i. Mai des Jahres zuvor (und selbst bei
Ersetzung eines Kultporträts durch ein anderes beinahe dieselben
sind), gebricht es ihnen an jener die Neugierde aufstachelnden Attrak
tionskraft, die man, ob man es will oder nicht, den westlichen Lockbil-
dern nicht absprechen kann. Ebensowenig kommt jener vorhin behan
delte Effekt des Richtungswechsels zustande, durch den die Menschen,
statt Bilder anzublicken, von diesen angeblickt werden. Vielmehr blei
ben beide: Bilder wie Menschen, gelangweilt und blicklos.5Und wenn
es bei diesen feierlichen Anlässen etwas gibt, was die Masse wirklich
überwältigt, so ist es höchstens - die Imposanz dieser Masse selbst.
1955
§2
Den aber länger als ein paar Augenblicke zu halten, ging über seine
Kraft. „U nd selbst wenn Sie recht hätten“ , begann er von neuem, und
sogar patziger als vorher, „wozu sind wir denn Künstler? Wozu haben
wir denn unsere Vorräte? Wenn unsere Wahrnehmung nicht ausreicht,
dann rufen wir eben unsere Phantasie zu Hilfe.“
„G ew iß.“
Er war verdutzt.
„Sie rufen also Ihre Phantasie zu Hilfe. - Meinen Sie, um den wirkli
chen Gegenstand darzustellen? Den Gegenstand, dessen Aussehen zu
unansehnlich ist. Um diesen nun angemessener darzustellen? Oder gar
angemessen?“
„A ber natürlich“ , antwortete er mit großer Bestimmtheit, vermut
lich ohne sich etwas sehr Bestimmtes dabei zu denken.
„.Natürlich* ist gar nichts. - Aber neuartig wäre das schon.“
„D ie Phantasie zu Hilfe zu rufen?“
„Das nicht. Aber wozu Sie sie beriefen. - Frühere Künstler hatten
das nämlich getan, um die Wirklichkeit zu übertreffen. Sie dagegen
täten es, um die Wirklichkeit zu treffen; um ihr dadurch besser ge
wachsen zu sein: also um Realist zu bleiben. - Scheint das nicht auch
Ihnen neuartig?“ -
Gedanken, die er nicht sofort auffaßte, hielt er für Tricks: „Was Sie
einem nicht alles in den Mund legen“ , meinte er also vorwurfsvoll.
Und dann, und nicht ohne Stolz: „Im übrigen würde mich Neuartig
keit nicht so sehr erschrecken.“
„Und mich Ihre Unerschrockenheit nicht so tief beeindrucken. Mut
zur Neuartigkeit auf dem Schlachtfeld des Zeichenblocks oder der
Leinwand ist kein so imposantes Heldentum.“
Er zuckte mit den Schultern.
„Im übrigen“ , fuhr ich fort, „sagt sich das viel zu leicht, daß man
seine ,Phantasie zu Hilfe rufe*. Versuchen Sie das einmal bei der Atom
bombe.“
„Was meinen Sie damit?“
„D aß sie derart phantastisch ist, daß ihr nicht nur unsere Wahrneh
mung, sondern auch unsere Phantasie nicht gewachsen ist.“
„Ach. - Und die Tatsache, daß wir sie uns haben ausdenken können?
Die beweist nichts?“
„Was soll die denn beweisen?“
„Daß unsere Phantasie ihr eben gewachsen ist.“
Ich schüttelte meinen Kopf.
„ Wir könnten uns also D inge ausdenken, die w ir nicht ausdenken
können?“ Er sah mich triumphierend an.
„ Genau das. Und ausgezeichnet formuliert. N ur müssen Sie die
Vorsilbe ,aus‘ dabei so verstehen wie in den Worten ,auspressen‘ oder
,austrinken‘ ; also ,ausdenken‘ in dem Sinne von: eine Sache bis auf
ihren letzten Tropfen denken. Und das können wir bei der Atom
bombe nicht. Wir sind kleiner als wir selbst; durchaus nicht a u f der
Höhe dessen, was w ir selbst erfinden und machen können; und selbst
unserer Phantasie, oder den Produkten unserer Phantasie, ist unsere
Phantasie nicht gewachsen; gewiß nicht deren Konsequenzen.“
Daß er auf diese Behauptung, die für mich der Angelpunkt des
Arguments war, mit einem witzelnden „dem bin ich nicht gewachsen“
reagierte, war wirklich entmutigend.
„Und ich bin Ihrem Unernst nicht gewachsen!“ fuhr ich ihn an.
„Liegt Ihnen etwas an Ihrem Problem oder nicht?“
E r blickte mich sehr überrascht an.
„Sonst gehe ich nämlich.“
Er nickte betreten. Sogar nicht ganz ohne Bewunderung. „Sie
verstehen es wirklich gründlich, einen durcheinanderzubringen.“
„Lernen Sie doch endlich dazu!“ rief ich. „Daß nicht ich es bin, der
Sie durcheinanderbringt. Sondern die Wirklichkeit! Die Sie so ver
wirrt, weil sie selbst so verwirrt ist. Und sie, die eben unsere respekta
ble Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Phantasie über den
Haufen gerannt hat.“
Er lehnte sich stöhnend nach hinten. „A lso schon wieder etwas
Neues.“
„Durchaus nicht. Sondern immer dasselbe. In immer neuer Wen
dung. - Früher hatten wir doch wohl geglaubt, die Wahrnehmung
ziele auf Wirkliches; die Phantasie aber auf Unwirkliches. Oder?“
„Ich glaube schon“ , meinte er lustlos.
„U nd mit Recht. - Aber nun sind beide auf eines und dasselbe
bezogen: beide auf Wirkliches. Jawohl, auch die Phantasie. Denn dies
mal ging es Ihnen ja, als Sie sie zu Hilfe rufen wollten, nicht darum, das
Wirkliche zu übertreffen; sondern darum, die ,phantastischen' W ir
kungen des Wirklichen angemessen zu verbildlichen. Aber das gelang
Ihnen nicht. Ihre Phantasie blieb, genau so wie die Wahrnehmung, im
Unwirklichen; weil sie das Wirkliche, statt es zu treffen oder gar zu
übertreffen, nur untertreffen konnte. Da also beide: Phantasie wie
Wahrnehmung, gleicherweise zu kurz tragen und einander in ihrem
Versagen so gleichen, habe ich das Recht zu behaupten, daß sich der
Unterschied zwischen ihnen verwischt hat.“
Dazu schwieg er. Offenbar war er jetzt doch so weit desorientiert,
daß er auf extrakluge Bemerkungen keine Lust mehr hatte. Diese
Chance durfte ich nicht ungenützt lassen. „Glauben Sie aber nur
nicht“ , fuhr ich deshalb fort, „daß diese Überlegungen nur unsere
Beziehung zur Atombombe oder ähnlichen Geräten betreffen. Es geht
um Grundsätzlicheres. Nämlich um unsere Beschränktheit.“
„Auch dieses Wort im philosophischen Sinne?“
„A uch dieses Wort“ , sagte ich etwas hoffungsvoller. „Vergleichen
Sie doch einmal den Horizont unserer Sinnlichkeit (den unserer Augen
z. B „ den wir gewöhnlich ,Horizont‘ nennen) mit dem Umkreis des
sen, wovon wir effektiv abhängen; was uns effektiv angeht; was uns
effektiv bedroht. Also sagen wir ruhig: mit dem Horizont unserer
heute wirklichen Welt.“
Er zeigte auf eines seiner Landschaftsbilder. „Sie meinen einen sol
chen Horizont wie den da?“
„Ja . Diesen. Den Horizont unserer Sinnlichkeit. Den vergleichen
Sie einmal mit dem wirklichen. Ist er nicht lächerlich beschränkt? Weil
wir als sinnliche Wesen eben lächerlich beschränkt sind? Ist er nicht
ein Dorfhorizont? Ich gebe zu, daß Ihr Bild, im Sinne unserer Be
schränktheit, durchaus realistisch ist. Aber unsere Beschränktheit ist
eben nicht realistisch. Wie realistisch Ihr Bild sich auch geben mag -
durch diesen seinen Dorfhorizont verleugnet es die Realität unserer
wirklichen Welt. Darum wirkt es, und gewiß nicht nur auf mich, be
langlos und nichtssagend. Wenn nicht sogar unwahr.“
Er biß sich auf die Lippen.
„Ich weiß: was ich Ihnen jetzt sagen werde, wird Ihnen zuerst para
dox klingen. Aber Sie sind ein Phantast, weil Sie noch ein ,Realist‘ sind.
Bestreiten Sie es nicht so hastig. Denn was ich meine, ist, daß Sie sich
als Realist in den engen Bezirk unseres sinnlichen Horizonts zurück
ziehen; also, da dieser beschränkte Horizont nicht der wahre unserer
heutigen Welt ist, in einen unwirklichen und phantastischen. Als Rea
list sind Sie Eskapist.“
„D as ist nun aber wirklich die Höhe“ , fand er. „Realismus als Eska
pismus.“
„Ich habe Ihnen ja gesagt, es wird widerspruchsvoll klingen. Ich
gebe zu, das tut es. Besonders wenn man an die Leistung denkt, deren
Verdienst ja gerade darin bestanden hatte, den Schlupfwinkel des E s
kapismus auszuräuchern.“
„Eben“ , sagte er, als hätte ihm dies Argument auf den Lippen
gelegen.
„Beide Schlupfwinkel sogar: den der Romantik und den des Klassi
zismus.“
„E b en “ , wiederholte er.
„U nd trotzdem“ , sagte ich. „Denn heute hat sich die Situation eben
um 180° gedreht: Wer heute einen Weltausschnitt so wiedergibt, wie er
sich der Wahrnehmung bietet, also ,realistisch‘, der flieht, da das
Wahrnehmungsbild mit dem bildlosen Bild unserer heutigen horizont
losen Welt nichts mehr zu tun hat, in einen Elfenbeinturm - auch
wenn er diesen Turm mit der Portalaufschrift ,Wirklichkeit‘ tarnt, um
sich und andere zu beschwindeln.“
E r machte ein beleidigtes Gesicht.
„A ber ich bitte Sie“ , beruhigte ich ihn. „W o Sie doch in so zahlrei
cher Gesellschaft sind! Einer von Hunderttausenden! Was sind denn
z.B . unsere heutigen Filme - 99 % von ihnen - anderes als Eskapaden
von der Wirklichkeit, und zwar eben schwindelhafte, weil sie sich dazu
des realistischen Mittels der Photographie bedienen?“
E r winkte ab.
„U nd was tut denn die knipsende Menschheit anderes, die Legion
der Amateure, die herumzieht und Ihnen Konkurrenz macht!“
Er winkte noch verächtlicher ab.
„Durch ihre scheinbar realistischen Bilder versuchen sie, den phan
tastisch horizontlosen Charakter der Welt abzublenden und sich weis
zumachen, daß die Welt ganz normal aussehe und darum auch so sei.
Selbst die Photos aus der ,weiten Welt‘ , die in gewissem Sinne viel
leicht den ,Horizont erweitern“ und ein gewisses globales Bewußtsein
schaffen mögen, verengen ihn doch, weil eben jedes einzelne Photo ein
bloßes ,H ier‘ gibt, obwohl die heutige, horizontlose Welt ,hier-los'
geworden ist. Kurz: der optische Ausschnitt als solcher, der eine zu
enge Welt vortäuscht, ist, da heute jeder Punkt der Erde von jedem
anderen her erreichbar, bedrohbar, ja bedroht ist, unwahr. Das gilt
vom Photo, das gilt vom gemalten Bilde: die Friedlichkeit Ihrer ein
fach ,für sich' da liegenden impressionistisch gemalten Landschaft läuft
auf reine Fälschung hinaus.“
„A ber gerade deshalb“ , rief er fast weinerlich, „habe ich ja vor,
etwas so Reales und Heutiges hineinzusetzen wie die Atombombe.“
Ich zeigte wieder auf das Bild. „In diese Landschaft?“
„N icht unbedingt in diese.“
„A b e r in solche?“
Er nickte.
„D ie A-Bombe mit ihrem unübersehbaren Wirkungsradius in eine
Landschaft mit einem derart dörflichen Horizont?“
Er schwieg.
„Können Sie sich denn nicht vorstellen, was Sie damit ausrichten
würden? Genau das Gegenteil von dem, was Sie vorhaben. Völlig
unkenntlich würden Sie die Atom-Bombe machen; geradezu verleug
nen würden Sie sie. Denn jeder Gegenstand infiziert sich kategorial an
der Welt, in die man ihn versetzt
„Was tut er?“ fragt er, beinahe erschreckt.
„Verzeihung. Aber die Sache ist sehr einfach: im Augenblick, in
dem Sie zum Beispiel einen heiligen Antonius in eine impressionistisch
getupfte Landschaft setzen würden, würde er seine Heiligkeit einbü
ßen: sofort würde er sich an der ihm mitgegebenen Welt und an deren
Art infizieren und sich in einen Farbfleck verwandeln. - Was von ihm
gilt, gilt von der Atombombe.“
Das verstand er. „A b er was soll denn aus ihm werden?“ rief er
verzweifelt.
„A us wem?“
„A us dem H orizont!“
„A ber warum machen Sie sich denn um den solche Sorgen? Gar
nichts wird aus ihm werden. Horizonte sind auch früher schon abge
schafft worden.“
„Wann? Von wem?“
„V on Kopernikus zum Beispiel. Oder von Kolumbus.“
Er war verwirrt.
„A ls die moderne Malerei vor fünfhundert Jahren die Fläche durch
brach“ , erläuterte ich, „um in die Tiefe unserer Welt einzubrechen und
bis zum sinnlich glaubhaften Horizont vorzustoßen, da tat sie gewiß
einen epochalen Schritt. Aber unsere Generation hat einen Schritt von
ähnlich epochaler Bedeutung zu wagen: nämlich den damals erreichten
Horizont zu durchstoßen.“
„Und wie?“ fragte er, sich vorlehnend. Er sah aus, als hoffte er nun
doch, ein paar Schritte weiter in die Geheimnisse des Avantgardismus
von übermorgen eingeführt zu werden.
„Mein Lieber“ , warnte ich ihn, ehe ich antwortete, „reden Sie sich
um Gottes Willen nicht ein, daß ich Ihnen hier Rezepte gebe; oder daß
Sie dadurch vorwärtskämen, daß Sie von heute auf morgen ein einzel
nes Element Ihrer Malerei ausließen: also den Horizont. Den auslassen
können nur solche Maler, die in jeder Beziehung anders als Sie malen
würden; und zwar derart anders, daß man es ihren Bildern überhaupt
nicht mehr ansehen würde, daß ihnen der Horizont fehle.“
Sein Gesicht verzog sich, halb erstaunt, halb, als wäre er betrogen.
„Man würde es bei ihren Bildern überhaupt nicht merken?“
„M an dürfte es nicht. So wenig wie man das Fehlen des Horizontes
bei einem byzantinischen Mosaik merkt.“
Er war also um keinen Schritt weitergekommen.
„Und was kann unsereins da tun?“ fragte er nach einer Pause.
„Sie meinen, um der Unwahrheit Ihrer Malart zu entgehen?“
Er nickte. - „G ib t es da gar keine Mittel?“
„Vielleicht doch“ , sagte ich.
„A lso?“
„Zum Beispiel Fliegerphotos machen.“
„Photos !“ wiederholte er schulterzuckend.
„A ber warum so hochmütig? Landkartenhafte Flugaufnahmen sind
nicht annähernd so ,beschränkt‘ wie Ihre Landschaften. Und ungleich
wahrer. - Und noch näher kämen Sie der Wahrheit mit einem im Fluge
gedrehten Film, da solche Filme den Horizont stetig verschieben, ihn
damit dialektisch aufheben, jedes im Flug gezeigte Hier flugs schon
wieder verschwinden lassen - kurz: die Tatsache, daß unsere Welt
heute ,hier-los‘ geworden ist, zum sinnlichen Ereignis machen.“
„Ja damit“ , gab er selbstgerecht zu, „könnten meine Landschaften
freilich nicht konkurrieren.“
„Dann lassen Sie die Finger davon! Um so eher, als sich ja durch
solche Filme herausstellt, daß Ihre Landschaften nicht nur aus der
Froschperspektive gemacht sind, sondern eben auch aus der Baum
Perspektive. “
„Habe ich nie gehört.“
„Ich auch nicht. - Aber was mit dem Wort gemeint ist, ist ja deutlich
genug: daß eben jedes Ihrer Bilder einen unverrückten, unverrückba
ren Standort voraussetzt . . . damit, ob Sie wollen oder nicht, die Welt
erfahrung eines baumhaft eingewurzelten, stationären, seßhaften Men
schen - was unserer heutigen Existenz und der heute ,fahrend‘ ge
machten Welt-Erfahrung durchaus nicht entspricht; und was heute
unwahr wirkt.“
Während dieser Worte hatte er jenes Bild, in das er die Atombombe
hatte hineinmalen wollen, wütend fixiert.
„E s ist Ihnen gelungen“ , sagte er schließlich grollend.
„W as?“
„M ir mein Bild zu verleiden. Durch und durch. Plötzlich scheint es
auch mir zu eng: so als hätten Sie einen Zauberkreis um es geschlagen;
und zu starr: so als hätten Sie es verhext.“
Daß mir das leid täte, durfte ich nach meiner umständlichen Vorbe
reitung natürlich nicht behaupten. Ich schwieg.
„A ber was soll ich denn nun tun?“ fuhr er unglücklich fort.
„Schließlich bin ich ja kein fliegender Kameramann. Ist denn für den
Maler nichts übrig geblieben?“
„D och“ , begann ich, „vielleicht auch für ihn. Es gibt ja schließlich
den Surrealismus. Und der war, auch wenn sich dessen zahlreiche
Theoretiker darüber nicht im klaren waren, die Gegenmaßnahme ge
gen die Schwierigkeiten, über die wir in unserem Gespräch gestolpert
sind.“ -
Er horchte auf.
„Was bedeutet denn ,Surrealismus'?“ fragte ich. „O der ,sur-rea-
lite‘ ?“
„Überwirklichkeit“ , übersetzte er schulterzuckend.
„Sehen Sie. - Und nun erinnern Sie sich einmal an den Anfang
unseres Gespräches. Da hatten wir gewisse Gegenstände - ich gebe zu:
in einem etwas übertriebenen Sprachgebrauch - ,übersinnlich‘ ge
nannt; und damit gemeint, daß sie in Wirklichkeit viel mehr seien, als
was ihr betrügerisch-bescheidenes sinnliches Aussehen vorgebe; daß
sie ihr eigenes Aussehen übertreffen; ,über‘ = ,sur‘ in ,sur-realisme'.
Und weiter hatten w ir gefunden, daß es sich nicht allein um eine
besondere Klasse von Gegenständen handele (wie etwa um die Atom
bombe), sondern um unsere ganze, zu große, also horizontlos und
unabsehbar gewordene heutige Welt; unter dem ,zu groß“ hatten wir
ferner nicht nur das räumlich zu Große verstanden, sondern das in
seinen Konsequenzen Unabsehbare; und schließlich festgestellt, daß
dieser unabsehbaren Welt, obwohl sie unser Produkt oder das Territo
rium unserer Eroberung ist, nicht nur unsere Wahrnehmung nicht
gewachsen ist, sondern auch unsere Phantasie nicht; sowenig wie die
alten Römer ihrem eigenen großen Imperium gewachsen waren.“
Das gab er nun alles zu. „N u r was das mit dem Surrealismus zu tun
haben soll, begreife ich nicht.“
„Daß die eigene Welt die eigene Auffassungskraft übertrifft?“
„Ja. - Viele solche Bilder habe ich zwar nichtgesehen. Aber ich habe
immer gehört, die haben mit Freud zu tun. Mit dem Unbewußten und
so.“
„Gewiß auch. Aber das eine widerspricht nicht dem anderen. Im
Gegenteil. Ist nicht auch das Unbewußte etwas, was sich der unmittel
baren Wahrnehmung entzieht? Daß in unserer Epoche Innen- und
Außenwelt gleichermaßen zu ,sur-realites‘ werden, ist gewiß kein Z u
fall. Gleichviel, die Surrealisten gingen von den Schwierigkeiten aus,
die wir eben diskutiert haben: davon, daß das Wirkliche sich sowohl
der Wahrnehmung wie der Phantasie entziehe; davon, daß das Phanta
stische heute wirklich, das Wirkliche aber so phantastisch ist, daß
eigens Phantastisches zu erfinden, Eulen nach Athen tragen hieße. - Ist
ihnen einmal aufgefallen, daß auf surrealistischen Bildern tote Dinge,
Geräte z.B., oft wie organisches Leben, ja geradezu wuchernd, ausse
hen, während Menschen wie Roboter oder Gipsfiguren oder gar als
Gipsfiguren-Fragmente herumliegen?“
„Ja. - Widerlich“ , meinte er.
„U m so widerlicher, als manche heutigen Surrealisten das wu
chernde Leben der Apparate und das zu Scherben geschlagene oder
verdinglichte oder roboterhafte Leben höchst adrett servieren; offen
sichtlich als Genußobjekte; offensichtlich mit zynischer Freude.“
„Eben.“
„Aber das trifft auf den ursprünglichen Surrealismus durchaus nicht
zu. Worauf sie mit ihrer phantastischen Umkehrung von lebendig und
tot abzielten, war, eine, der Welt sonst nicht ,anzusehende' Wahrheit
,ansehnlich‘, also sichtbar, zu machen. Eben die Tatsache, daß heute
Dinge und Geräte (entweder in der Form wirklicher Apparate oder in
der gegenwärtig gewordener Institutionen) das Leben unserer Welt
ausmachen; während w ir Menschen dabei oft zu nichts anderem w er
den als zu Rädern dieser Maschinerie, zu Dingen oder zu Trümmer
stücken. Die Umkehrung ist also keine Erfindung des Surrealismus;
sondern ein Faktum. Aber eines, das durch bloßes Abkonterfeien von
Dingen oder Personen niemals sichtbar gemacht werden könnte. - Sie
sehen: was wir im Laufe unserer Unterhaltung festgestellt hatten, be
stätigt sich immer von neuem: Phantastisches und Wirkliches sind
durcheinandergeraten. An Zeugnissen dafür ist wirklich kein Mangel.
Was finden Sie z.B . phantastischer: das mondlandschaft-artige, übri
gens durchaus surrealistisch wirkende Bild Ihrer eigenen Haut, das Sie
wahrnehmen, wenn Sie durchs Mikroskop blicken; oder die Haut an
geblicher Phantasiewesen auf einem Bilde Böcklins ?“
„Ehrlich gesagt: das mikroskopische Bild.“
„A lso das wahrgenommene. Das Instrument, daswirzwischen Welt
und Auge einschalten, macht das Bild des Wirklichen phantastisch,
andere Instrumente machen das Wirkliche selbst unwahrscheinlich; so
phantastisch und unwahrscheinlich, daß eige ns Phantasiewesen zu er
finden, wie es etwa Böcklin getan hatte, völlig überflüssig wird. Sie
sehen also: der Böcklin ist heute genau so obsolet wie Ihr Trübner; der
Phantast genau so passe wie der Realist: wir stehen jenseits der Alter
native. Und diese Position jenseits versucht der Surrealist einzu
nehmen. “
„U nd wie tut er das nun?“
„Durch Austausch“ , antwortete ich. „U nd durch Schockwirkung.“
D as sagte ihm nichts. Er wartete.
„Die beiden Worte werden Ihnen gleich etwas sagen: Einen wichti
gen Fall von ,Austausch‘ haben wir ja soeben kennen gelernt: den von
Leben und Tod; von Mensch und Ding. Und schockiert hat Sie der
Austausch offensichtlich, denn Sie nannten ihn widerlich . . . was be
weist, daß er quer gegen Ihre Denk- und Sehgewohnheiten einschlug;
und daß er Sie zwang, einer Wirklichkeit, die zwar bekannt, aber
sinnlich sonst nicht sichtbar ist, doch ins Gesicht zu blicken. - Dieser
Austausch ist nun aber nur ein Fall unter anderen. Ihm zugrunde liegt
ein Austausch-Prinzip, ein Grundfall: und der ist eben der Austausch
von Empirischem und Phantastischem. Das heißt: um zu zeigen, daß
das Wirkliche das Phantastische ist, stellt der Surrealist alle uns ver
trauten Gegenstände in phantastischer Umgebung dar oder in phanta
stischer Verzerrung; während er andererseits alles Phantastische so
minutiös und mit so übertriebener Skrupelhaftigkeit darstellt, daß die
Darstellung den Eindruck erweckt, sie sei getreulich, ja pedantisch
,nach der N atur‘ gemalt. Zuweilen gehen die Maler so weit, daß man
von ihren Phantomen glaubt, grausam genaue medizinische Buntpho
tos vor sich zu haben. Wenn aber Phantome ,empirisch' wirken, und
Empirisches phantastisch aussieht, dann ist das Entw eder-O der von
Wahrnehmung und Phantasie ,wirklich aufgehoben'; wir erkennen
,unsere Welt nicht mehr* - und genau das will der Surrealist erreichen:
denn er findet eben mit Recht, daß das gewöhnliche Aussehen der
Welt ein Betrug ist.“
„Womit Sie also glücklich zum Anfang unseres Gespräches zurück
gekommen wären“ , meinte er. Er schien tief verstimmt über den Zu
sammenhang des Gespräches, der ihm erst jetzt ganz aufging.
„Ja, wir sind angekommen“ , gab ich ausdruckslos zu.
„Bei meinem Problem. - Und Sie meinen also, ich könnte die Atom
bombe nicht malen; der Surrealist aber könnte es.“
„Ja und nein“ , antwortete ich. „Denn der wahre Surrealist braucht
sie gar nicht eigens zu malen. Und zwar deshalb nicht, weil, was er
darstellt, schon ohnehin diejenige phantastische, unabsehbare und
,ausgetauschte‘ Welt ist, zu der eben auch die Atombombe gehört. Der
Schock, den ein solches Bild verursacht, ist in der Tat ein echter Zeit
genosse jenes Schocks, den der Gedanke an die Atombombe mit sich
bringt.“ - Damit glaubte ich das Problem zu seinem Abschluß ge
bracht zu haben. Und ich verabschiedete mich. -
Übrigens hat er, wie ich unterdessen erfahren habe, seine Atom
bombe doch stur in seine impressionistische Landschaft hineingesetzt.
Vielleicht hat er seinem Bilde dadurch eine unfreiwillig surrealistische
Note gegeben. Wie dem auch sei, diese Sturheit ist mir lieber, als wenn
er sich noch am gleichen Abend auf die Leinwand gestürzt hätte, um
nach Rezept ein surrealistisches Bild herzustellen.
1979
S [
Das Schlaraffenland
§2
§3
§4
§S
Zeit und Bedürfnis
Natürlich spreche ich hier nur vom Trend, vom Ideal des Zeitalters.
Ich sage: Abzuschaffendes, nicht Abschaffbares. Daß es keine noch so
eindrucksvolle Reduzierung von Zeitdauer gibt, die nicht als wie
derum reduzierbar gedacht werden könnte; daß wir, wie unermüdlich
wir auch bemüht bleiben, die Zwischenräume zwischen Wünschen
und Zielen zu verringern, immer einen untilgbaren Rest von Zeit in
unseren Händen zurückbehalten werden; daß unsere Versuche, Zeitlo-
sigkeit von Aktionen durchzuführen, ein für alle Male zum Asympto
tischen, also zum Scheitern verurteilt bleiben werden; daß uns vom
Zeitalter der Zeitlosigkeit immer wieder, immer noch, Zeit trennen
wird - alles das liegt auf der Hand. Aber den Tatbestand des „Trends“
berührt diese Vergeblichkeit nicht. Trotz aller Undurchführbarkeit
besteht das letzte und äußerste Ideal des homo faber von heute darin,
fähig zu werden und die Mitwelt dazu fähig zu machen, alle Hand
lungsziele magiergleich, nämlich unmittelbar, ohne Zeitverlust, ohne
Zeit zu erreichen. Abschaffung der Zeit ist der Traum unserer Zeit. Die
zeitlose (statt der klassenlosen) Gesellschaft die Hoffnung fü r morgen.
Und es gibt in dieser unserer Zeit kaum einen Augenblick, der nicht -
denn „Zeit spielt keine Rolle“ - dem Bemühen gewidmet wäre, die
Zeit abzuschaffen; die Zeit zu einer antiquierten Angelegenheit, zur
Sache von gestern, zu machen.
Wie gesagt, diese Antiquierung der Zeit, die Begierde nach Abschaf
fung von Zeit ist deshalb völlig plausibel, weil ja das Ideal unserer Zeit
Schlaraffenland heißt. Und da es in diesem entsetzlich glücklichen
Lande Usus war, daß die gebratenen Tauben direkt in die Mäuler
flogen, war ja die Zeit zwischen Wunsch und Erfüllung, zwischen Gier
und Genuß inexistent gewesen; diese goldene „Z e it“ wiederherzustel
len, ist der Traum unserer Epoche.
Um diese Behauptung zu verifizieren, wird es nötig sein, das Ver
hältnis von Bedürfnis und Ziel deutlicher zu bestimmen; das heißt: die
Zeit aus dem Bedürfnis zu deduzieren.
Was ist mit dem Ausdruck „Deduktion der Zeit aus dem Bedürfnis“
gemeint?
Daß Zeit als Dauer, als Leere, als Zwischenraum dann und nur dann
auftaucht, wenn Ziele noch nicht erreicht sind; nur so lange, als deside
rata, auf die (oder auf deren Gegenwart) wir aus sind, weil wir ohne sie
nicht leben können, abwesend bleiben. Zeit ist der Weg zum Haben.
Zeit gibt es nur deshalb, weil wir bedürftige Wesen sind; weil wir (und
zwar ständig) dasjenige, was wir eigentlich haben müßten, nicht ha
ben; weil wir (und zwar ständig) genötigt sind, das Nötige uns zu
beschaffen. Zeit ist so leer, wie wir selbst sind, so leer wie der leere
Magen, und die Zeit ist jeweils erst „erfüllt“ , wenn der Magen gefüllt
ist. In anderen Worten: sie ist Dasein im Modus des Nichthabens, bzw.
im Modus der Beschaffung des Desiderats - gleich ob diese Beschaf
fung im Erjagen oder im Herstellen besteht.1
Nicht „Form der Anschauung“ ist Zeit also, nicht einmal „Form der
Vorstellung“ , sondern Form der Nachstellung. Form unseres Lebens,
das weitergeht, während die Beute, hinter der wir her sind, entfernt
bleibt und sich entzieht oder sogar weiterflieht, bis wir sie endlich
ergriffen und gegenwärtig gemacht und uns an ihr gestillt haben. So
wie nur der Nichtsatte Hunger hat (weil er die Speise, die er eigentlich,
um zu sein, haben müßte, nicht hat), so hat auch nur der Nichtsatte
Zeit. Dem Glücklichen dagegen, demjenigen, der sich in der Gegen
wart des ihm Nötigen befindet, dem Gestillten, schlägt keine Stunde.
Er ist zeitlos.
Jedenfalls vorübergehend. Denn die Zeitlöschung ist selbst zeitlich
begrenzt. Da wir, konstitutionell unzulänglich, auf anderes Seiendes
angewiesen sind, gibt es keinen Konsum, der uns ein für alle Male
stillte. Auch wenn er uns pumpsatt macht, er bleibt unzulänglich. Aus
dieser grundsätzlichen Inkomplettheit der Stillung ergibt sich die son
derbare Tatsache, daß die Zeit, obwohl doch zweifellos vorwärtsge
hend, zugleich rückwärts fließt. Die Stillung durch das Gegenwärtige
versagt; das, was gegenwärtig war, das Beutestück, ist gerade, weil es
als Gegenwärtiges einverleibt wurde, vernichtet; dadurch ist auch die
Gegenwart vernichtet, der Hunger bricht von neuem aus. Aber die
Stillung ist nicht etwa deshalb unzulänglich, weil sie vergänglich ist,
sondern sie ist vergänglich, weil sie grundsätzlich unzulänglich ist.
Wir sagen: die Zeit gehe vorwärts. Das tut sie deshalb, weil wir, vom
Bedürfnis getrieben, vorwärts fliehen, dem Ziel entgegen, weil wir das
Nötige tun, um das vor uns Liegende zu erreichen oder zu verwirkli
chen und die Entfernung hinter uns zu bringen. Man wird einwenden,
das Gegenteil treffe zu. Denn man spüre die Flucht der Zeit um so
weniger, die Zeit sei um so deutlicher gelöscht, je intensiver man damit
beschäftigt sei, seinem Ziel nachzurennen. Aber das trifft nur auf die
Beschäftigungen zu, die selbst mit Interesse durchgeführt werden, die
selbst etwas Gegenwärtiges sind (und „Interesse“ besagt ja nichts an
deres), die Spaß machen, die selbst zu Evegyeiai werden. In der Ar-
beits- und Jagdfreude verfliegt die Zeit „im N u “ - und das heißt: sie
ist, obwohl objektiv und uhrmäßig verfließend, doch detemporalisiert.
- Umgekehrt kann die Zeit auch zu nichts werden, wenn sie mit so
monotoner Beschäftigung ausgefüllt wird, daß Annäherung an das Ziel
(auf Grund der immer gleichen Wegschritte) nicht mehr spürbar ist.
Dann schlägt (jeder, der sich in die Bedienung einer Maschine eingear
beitet hat, hat diese Erfahrung gemacht) die Langeweile in völlige
Zeitlöschung um. Darum ist die Arbeit, deren Eidos abmontiert ist3 -
und das ist heute bei nahezu jeder maschinellen Arbeit der Fall -
ungleich weniger quälend, als man gemeinhin vermutet. Daß sie so
wenig Qual verursacht, ist freilich ein Skandal, keine Tröstung.
N ur der vom Bedürfnis Gejagte „hat“ Zeit (nicht im Sinne von „viel
Zeit haben“ , sondern in dem von „als Zeitlicher leben“ ). Das Gejagt
sein hat aber auch einen ungleich konkreteren Sinn. Nicht nur von
unserem Bedürfnis, also von unserem Hunger, sind wir gejagt, son
dern auch von dem hungernden Anderen, der hinter uns her ist. Denn
nicht nur Fressende sind wir, sondern mögliches Futter. Wir sind nicht
nur „hinter etwas her“ , wir entfliehen auch demjenigen, der hinter uns
her ist. Und auch durch diese Grundgefahr unseres Daseins sind wir
„zeitlich“ . Der Verfolger, der hinter uns her ist, hat uns „noch nicht“ ,
„noch immer nicht“ - in der Flucht entsteht Zeit. Aber auch diese hört
wiederum auf, sobald wir uns in Sicherheit gebracht haben. Ideal wäre
das Dasein, dem niemand auf den Fersen wäre, dem also niemals die
Gefahr drohen würde, daß sich die Distanz zwischen dem Verfolger
und ihm verkleinere. Diese Situation - gleichfalls eine Schlaraffensitua-
tion - wäre genauso zeitlos wie die Situation nach der Mahlzeit. Auch
Sekurität löscht also Zeit - deren technische Herstellung geht auf das
gleiche Ziel los wie die Technik der Bedürfnisstillung. Und diese Situa
tion ist effektiv verwirklicht im Schlaf, während dessen wir uns von
jeder Gefahr abzuschließen versuchen; und in dem, sofern sich keine
Angst in ihn einschleicht, auch die Zeit stagniert.
Ich sagte: das utopische Ideal unseres Daseins sei das Schlaraffen
land, also das Dasein, in dem die Erfüllung magisch, ohne daß eine
Distanz überbrückt oder bewältigt zu werden braucht, dem Wunsch
auf den Fersen folge. Nichts anderes als die Annäherung an dieses
Schlaraffenziel erträumt unsere Technik. Wie unbestreitbar sie selbst
auch eine Vermittlung, also etwas „zwischen Wunsch und Erfüllung“ ,
ja geradezu ein Dschungel von Vermittlungen darstellen mag - ihre
letzte Abzweckung ist es eben, dasjenige, was dazwischen liegt, also
die Zwischenzeit zwischen Wunsch und dessen Erfüllung, bezw. zwi
schen Angst und deren Nichterfüllung, auf ein Minimum hinabzu
drücken. Oder am besten: diese abzuschaffen. Dies ist das Ideal unse
rer Zeit. Das ungeduldige „L e t’s get it over with“ ist die Maxime
unseres heutigen Lebens.
Aber unsere Situation ist noch viel komplizierter, nein geradezu
dialektisch. Aus folgendem Grunde:
Was wir heute als wertvoll, als „worthw hile" (das heißt: „des Ver-
weilens würdig“ ) anerkennen, ist nämlich zumeist dasjenige, was Wert
hat für etwas: also ausschließlich das Mittel. Dasjenige hingegen, für
das das Mittel Wert hat, der Zweck, bringt uns in Verlegenheit, wir
empfinden diesen (es sei denn, er sei seinerseits wiederum von Wert für
einen weiteren Zweck, z.B. für die Gesundheit), sogar als wertlos, weil
es als Zweck eben kein Mittel ist. In anderen Worten: Da wir im
Zeitalter des schlechten Gewissens der energeia und des Genusses le
ben, befinden w ir uns in einer hektisch-paradoxen Situation. Einerseits
sind w ir ungeduldig, weil Mittel und Wege „dauern“ , also Zeit in
Anspruch nehmen. Andererseits aber ertragen wir es nicht, am Ziele,
also bei der energeia, wirklich anzukommen, da durch diesen Aufent
halt diejenige Zeit, die für die Zurücklegung von Wegen verwendet
werden könnte, erst recht vergeudet zu werden scheint. Bekanntlich
verläuft unser Leben heute oft doppelspurig. So hören wir z.B ., wäh
rend wir auf dem Geleise unserer Hauptbeschäftigung fahren, auf fi-
nem Nebengeleise Radiomusik. Man glaube nur nicht, daß wir diese
Doppelspurigkeit des Daseins allein deshalb lieben, weil wir die N ot
der Arbeit mit der Süße der energeia (des Musikgenusses) überdecken
wollen. Umgekehrt suchen wir uns oft eine Arbeit während des Mu
sikhörens, um der Unerträglichkeit des Genusses, der zu nichts, außer
für sich selbst, gut ist, auszuweichen. „1 just can’t enjoy Beethoven
without doing my knitting“ ist nicht der Ausspruch einer einmaligen
Käuzin, sondern ein Bekenntniswort der Epoche. Und jene armen
Männer, die an Ferien oder Pensionierung zugrunde gehen, sind
gleichfalls keine Einzelfälle, vielmehr charakteristische Gestalten, die
der Moliere unserer Zeit, wenn es diesen gäbe, in einer repräsentativen
Figur auf die Bühne stellen müßte. Diese Männer erreichen das Ende
ihrer Zeit, weil es Zeit für sie nur so lange gibt, als sie einem Ziel
entgegenlaufen. Wenn sie angekommen sind, sind sie in einem ganz
unmetaphorischen Sinne nicht mehr da, das heißt: dann sterben sie.
§ 6
Let’s get it over with
I. DIE ZW EI W U RZELN
DER S IN N L O S IG K E IT
§ 1
Grundlos ist es wahrhaftig nicht, daß wir von der ,,Sinnlosigkeit des
heutigen Lebens“ sprechen. Was wir vor allem damit meinen, oder
richtiger: was diesem unseren sehr berechtigten Gefühl zugrundeliegt,
ist etwas, was man akademisch die „ negativ-intentionale Struktur un
seres heutigen Arbeitens“ nennen könnte. Damit meine ich nicht nur,
daß wir nicht Eigentümer der Produktionsmittel sind, mit deren Hilfe
wir arbeiten - dieser berühmte Defekt ist nur einer unter anderen, die
durchwegs Folgen der einzigen „Weltrevolution“ sind, die sich im
letzten Jahrhundert wirklich ereignet hat: der hüben wie drüben sieg
reichen technischen Revolution. Meine Analysen sind also, genau so
wie die des ersten Bandes, „system-neutral“ .
Mit dem so umständlichen Ausdruck „negativ-intentionale Struktur
unseres heutigen Arbeitens“ , den ich im Verlaufe meiner Untersu
chungen möglichst vermeiden werde, bezeichne ich die Tatsache, daß
wir (im Unterschied zum Handwerker, etwa zum Schuhmacher, der
weiß und sieht, was er tut, und der während seines ganzen Arbeitsgan
ges auf sein schön spiegelndes Endprodukt hinarbeitet) während der
Arbeit die Endprodukte, die wir herstellen (richtiger: deren Teile und
Teilesteile wir mit-herstellen) nicht vor uns sehen; daß wir vielmehr
währenddessen „eidoslos“ ' und die Produkte „transzendent“ bleiben.'
Das ist der Fall deshalb,
1. weil der Weg zwischen unserem ersten (Fließband-)Handgriff
und dessen schließlichem Produkt unendlich vermittelt ist;
2. weil in „unser“ Produkt zahllose Leistungen Anderer mit-einge-
hen, und der eigene Beitrag durch das Gestrüpp der anderen Beiträge
nicht hindurchscheint. In der Tat wäre der Versuch, während der A r
beit am laufenden Bande an das Schlußprodukt zu denken, albern. Die
Beziehung bliebe, da wir unseren eigenen Beitrag im Bilde des Schluß
produktes nicht mehr ausmachen könnten, eine rein äußerliche, eine
bloß „gewußte“ ;
3. weil wir uns auf denjenigen Teil des Teils, an dem zu arbeiten uns
jeweils obliegt, und auf den Jetztpunkt der jeweiligen Arbeit konzen
trieren sollen; und das auch, um genau zu arbeiten, müssen; und das
schließlich sogar auch wollen;
4. weil wir nicht auf den Gedanken kommen sollen, „unsere“ Pro
dukte (gar deren Bewandtnis) zu beurteilen oder zu kritisieren oder gar
zu sabotieren - was wir nicht nur unterlassen sollen, sondern wie
derum auch wollen. Und unterlassen wollen wir das deshalb, weil wir
uns, namentlich in Zeiten der Arbeitslosigkeit3, selbst damit sabotieren
würden.
§2
Das Mittel-Universum
Der zweite Grund für unser Gefühl der Sinnlosigkeit besteht in der
Tatsache, daß wir dazu verurteilt sind, in einem „ Mittel-Universum“
zu leben. Darunter verstehe ich die, durch die zweite industrielle R e
volution geschaffene, künstliche Welt, in der es keine Akte oder G e
genstände mehr gibt, die nicht Mittel wären, die nicht Mittel sein
sollen, deren Zweck nicht darin bestünde, die Produktion oder War
tung weiterer Mittel zu gewährleisten, weiterer Mittel, deren Zweck
wiederum darin besteht, weitere Mittel zu erzeugen oder erforderlich
zu machen usw. Einen „ Wert“ stellt ein Akt oder ein Produkt unter
diesen Umständen nur dann her, wenn dieser (bzw. dieses) „ gut fü r
etwas“ , also kein Sinn ist, sondern einen nur hat. Aber hier von „nur“
zu sprechen, ist unzulässig, weil ja ein Mittel für etwas zu sein als das
höchste, als das einzige gilt, was Existenz rechtfertigt.4 Endziele hätten
also, sofern solche (was niemals der Fall ist) in dem Mittel-Universum
auftauchen würden, keinen „Sinn“ - gerade sie wären (darin besteht
die Dialektik der Sinnlosigkeit) „sinnlos“ . Höchstens bestünde ihr
Sinn darin, daß sie der „Sinn der Mittel“ wären, da diese ja auf ihre
(der Ziele) Verwirklichung aus sind. Sinnlos ist also, da in diesem
Universum alles nur Mittel und nichts Zweck ist, dieses Universum als
ganzes, und der Zwang, in einem solchen sinnlosen Universum unent
rinnbar leben zu müssen.
II. DI E V E R D R Ä N G U N G DER S I N N L E E R E
Wenden w ir uns nun, nachdem wir die zwei Wurzeln der Sinnlosig
keit bloßgelegt haben, den Mitteln zu, mit denen Abhilfe gegen diese
versucht wird. Deren gibt es zwei: die Fremdhilfe und die Selbst
hilfe.
Die Fremdhilfe
Jeden, der die Literatur über diesen Gegenstand auch nur anblättert,
müßte es eigentlich verblüffen (was freilich nicht der Fall ist), daß von
der tatsächlichen Sinnlosigkeit unseres Lebens nur ganz selten, man
darf wohl sogar sagen: niemals die Rede ist, sondern immer nur vom
Gefühl der Sinnlosigkeit - so als wäre dieses Gefühl das eigentliche
Unglück, nur dessen Beseitigung erforderlich; so als wäre der Zahn
schmerz die Krankheit. Bei keinem Autor findet man den unzweideu
tigen Satz: „Jawohl, unser Leben ist effektiv sinnlos.“ Bei keinem die
Frage, ob das Verlangen nach Sinn überhaupt sinnvoll sei.
Natürlich ist das nicht grundlos so. Denn es liegt auf der Hand, daß
wer die Sinnlosigkeit als Tatsache zugestände, damit von der Technik
(die, wie wir gesehen haben, die Wurzel der Sinnlosigkeit ist) abrücken
würde; und ferner, daß sich jedes Establishment, gleich ob hüben oder
drüben, durch Distanzierung von der Technik selbst zum Tode verur
teilen würde. Aus diesem Grunde wird die Sinnlosigkeit fast durchweg
verdrängt. Und das nicht nur von den arbeitgebenden Establishments,
sondern auch von den Millionen von Arbeitern, da diese ja, wenn sie
der Sinnlosigkeit ihrer Arbeit und ihres Lebens wirklich ins Auge
blickten, total aufgeben müßten. In der Tat ist die Zahl der Ehrlichen,
also derer, die ihre Sinnlosigkeit zugeben - wir werden bald von ihnen
sprechen - ungleich geringer als die der „Verdränger“ . Diese - und es
handelt sich um hunderte von Millionen - betonen sehr begreiflicher
weise (und die von Arbeitslosigkeit Bedrohten und die effektiv A r
beitslosen am emphatischsten), daß Arbeit als solche ein heiliges
Grundrecht sei, auf das sie Anspruch hätten. Und da es in ihren Augen
absurd wäre, etwas, was sie als heiliges Recht proklamieren, als „sinn
los“ zu bezeichnen, verhindern sie sich erfolgreich daran, die Sinnlo
sigkeit ihrer Arbeit zu erkennen. Daß Arbeit, sogar die sinnvollste:
nämlich die unmittelbar Bedürfnisse stillende, ursprünglich und bis
vor noch ganz kurzem als Fluch gegolten hatte, das könnten sie, wenn
man sie an diese Bibelwahrheit erinnern würde, einfach nicht mehr
nachvollziehen, trotz der Tatsache, daß ihr Arbeiten „ verfluchter“ ist
als alle bisherige Menschenarbeit. Und zwar eben deshalb nicht, weil
sie unfähig sind, etwas gleichzeitig als „positiv“ , nämlich als heilig,
und als „negativ“ , nämlich als sinnlos und als Fluch, zu erleben.
§4
,,Sinn-Racketeers“
Aber wenden wir uns noch einmal Frankl zu. Richtig beobachtet er
- und da spricht er aus Erfahrung - daß in Auschwitz und Dachau
diejenigen, die auf einen „Sinn“ ausgerichtet gewesen wären - und
damit meinte er Gläubige jeder couleur: Christen sowohl wie Juden
wie Zeugen Jehovas wie Kommunisten oder Patrioten - am besten
befähigt gewesen seien, das Grauen zu überleben. Er hätte, analog zu
„Lebensmitteln“, von „ Überlebens-Mitteln“ sprechen können. Die
Konsequenz, die Frankl aus dieser Beobachtung zieht, wenn er sie
auch nicht expressis verbis so formuliert, würde lauten: Um leben und
überleben zu können, sollten wir jedes Auf-einen-Sinn-Ausgerichtet-
sein, jedes An-einen-Sinn-Glauben bejahen und fördern. Das klingt
zwar pluralistisch und tolerant, damit unanstößig und sogar empfeh
lenswert; für den Philosophen dagegen ist diese Einstellung schlecht
hin inakzeptabel. Und zwar deshalb, weil damit völlige Gleichgültig
keit gegenüber der Frage: Wahrheit oder Unwahrheit des Geglaubten
proklamiert wird. Schon Lessing, der in seiner Ringfabel gelehrt hatte,
daß alle drei Ringe „echt“ seien, hatte das Unglück der Wahrheitsneu
tralisierung (die allein dem Nichtglaubenden zusteht) angerichtet;
schon er an die Stelle der Wahrheit des Geglaubten die subjektive
Wahrhaftigkeit des Glaubenden gesetzt. Im Vergleich mit der heutigen
Wahrheitsneutralisierung war die seine freilich noch harmlos gewesen,
da er ja die drei Religionen nicht nur deshalb als gleich wahr hinstellt,
weil sie alle Glauben waren, sondern vor allem deshalb, weil sie im
Hauptcredo: nämlich im monotheistischen, übereinstimmten. Aber
selbst diesen Generalnenner verlangt der heutige Pluralist, der heutige
Psychotherapeut, nicht mehr als Bedingung. Für ihn ist alles schon in
Ordnung, wenn nur überhaupt geglaubt wird, gleich ob die Dogmen
„Trinität“ oder „klassenlose Gesellschaft“ heißen. Das bedeutet: statt
Glauben an bestimmte Inh alte bejaht er den Glauben an den Glauben.
Nämlich den Glauben an dessen Überleben fördernde Leistung.
Daß Frankl mit diesem seinem Postulat gerade in den angelsächsi
schen Ländern ein so überwältigendes Echo hervorgerufen hat, ist
natürlich kein Zufall. Die Voraussetzung der dortigen Toleranz hatte
ja schon seit langem darin bestanden, daß der zu Tolerierende glaube,
gleich was. Schon das war ein Sieg des Glaubens als seelischer Tätigkeit
über den Glauben als inhaltliches Credo gewesen. Dabei unterstellt
man naiv, daß alle Religionen gleichermaßen Varianten von „G lau
ben“ seien - was, da „Glauben“ im heutigen Sinne eigentlich erst mit
dem Christentum aufkam, gar nicht zutrifft. Gleichviel: Nicht einen
bestimmten Glauben verlangte man, sondern die Bestimmtheit, mit
der jemand glaubte. Noch das England des vorigen Jahrhunderts hat
von einwandernden Juden erwartet, daß sie orthodoxe Juden seien -
und die ohnehin orthodoxen erfüllten diese Bedingung natürlich
gerne. N ur unter dieser Bedingung (also kurioserweise unter der Vor
aussetzung der Nicht-Assimilierung) wurden sie als gleichberechtigt
geachtet. Und selbst in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts
konnte derjenige Bewerber für eine Universitätsposition in den Verei
nigten Staaten, der auf einem Formular die Frage „Religious affilia
tion?“ unausgefüllt ließ, ins Hintertreffen geraten.
Frankl spricht in der Tat so, als stammte er aus dieser Tradition.
Freilich begründet er sein Votum für Glauben (für das, nicht den)
nicht mehr religiös, vielmehr ausschließlich - und auch das klingt den
pragmatistischen Amerikanern natürlich _sehr vertraut - rein pragma
tisch. Nicht deshalb, weil er alle Religionen, wie Lessing, für Spielarten
einer einzigen Wahrheit hielte, ergreift er Partei für das Glauben; son
dern deshalb, weil, wie er nicht ohne Berechtigung feststellt, alle Reli
gionen gleichermaßen Kraft verleihen, weil ihnen allen der gleiche stär
kende, der gleiche therapeutische Wert zukommt. Das ist in seinen
Augen deren gemeinsamer „Sinn“ . Nicht als „Opium fürs Volk“ gel
ten ihm die Religionen, sondern als „ Kaffee fürs Volk“ . Verschmitzt
lächelt jemand im Hintergrunde: der große Mann, der schon vor mehr
als hundert Jahren behauptet hat, „w ahr“ sei nur ein Tarnwort für
„lebensfördernd“ : der jeden „Sinn“ bestreitende und jeden Glauben
weit von sich weisende Urvater des Nihilismus: Nietzsche. Die Kluft
zwischen den beiden ist freilich unüberbrückbar. Denn während
Nietzsche den Begriff der Wahrheit deshalb für unhaltbar hielt, weil
dieser, wie er glaubte, auf den bloß biologischer Nützlichkeit hinaus
lief, gesteht der so viel „positivere“ Frankl allem, was lebensfördernd
ist, eben auf Grund dieser Qualität, „Wahrheit“ bzw. „Sinn“ zu. Um
wieviel mutiger war doch der gewesen, der den Begriff der Wahrheit in
Frage zu stellen wagte, als derjenige, der alles Fördernde für „sinnvoll“
hält, dem also „jede Wahrheit recht“ ist. Aber es kommt noch schlim
mer: Denn Frankl verkündet ausdrücklich, daß es (so wörtlich) „keine
Situation gibt, die nicht einen Sinn hat“ (was schier unbegreiflich ist
nach seinem Auschwitz-Aufenthalt); und daß ,,Sinn nicht nur gefun
den werden muß, sondern auch kann“ ! Nun, das ist freilich die frohe
ste Botschaft, die einem Sinnhungrigen überbracht werden kann. Und
daß diese, namentlich im Lande der „Public Relations“ , eine ganz
außerordentliche Werbe- und Anziehungskraft ausgeübt hat und aus
übt, das ist wenig erstaunlich. In der Tat besagt diese Botschaft ja:
„Wie miserabel immer du dich fühlen magst, aus deiner, nur scheinbar
hoffnungslosen, Lage der Sinnleere ist dir nicht nur zu helfen, nein,
eigentlich ist dir, da diese Lage ja, wenn auch auf verborgene Art,
,sinnvoll‘ ist, immer schon geholfen.“ (Kein Zitat.) Und das ist nun
freilich eine Lehre, der gegenüber der Ausdruck „Opium fürs Volk“
eine unerlaubte Höflichkeit wäre.
§6
Der „ Kunstsinn“
IV. D E R K AMP F G E G E N DI E S I N N L E E R E
§7
i. Die Majorität derer, die ein sinnloses Leben führen, ist sich dieses
ihres Unglücks noch nicht einmal bewußt. Durch das ihnen aufge
zwungene Leben werden sie daran gehindert, dessen Sinnlosigkeit
wahrzunehmen. Daher tun sie auch nichts dagegen. Oder richtiger:
selbst dasjenige, was sie dagegen tun, ist etwas, was ihnen angetan,
ihnen nämlich geliefert wird. Damit meine ich: Da sie ihrer Selbstän
digkeit bzw. der Chance, selbständig zu werden, beraubt sind, bleiben
sie unselbständig auch während ihrer angeblichen „Freizeit“. Skla
visch, genau so sklavisch wie ihren Job, absolvieren sie ihren Genuß.
Wozu sie täglich vor ihrem TV-Schirm sitzen, was aus ihnen wird
durch den täglichen TV-Konsum - denn durch diesen werden sie na
türlich umgeformt, also zu Produkten gemacht8, und zwar zu unüber
bietbar trivialen - all das interessiert sie nicht nur nicht, all das bleibt
ihnen genau so unbekannt wie die Bewandtnis ihrer Arbeitsprodukte.
Nichts ist entsetzlicher als dieses kollektive „ Was aus uns wird, geht
uns nichts an” . Aus der einen Sinnlosigkeit: der der Arbeit, wechseln
sie über in die zweite: die der Muße, die einen gewissen Sinn freilich
doch besitzt: eben den, Erholung von der ersten Sinnlosigkeit zu bie
ten. Diese Erholung ist sogar unentbehrlich für sie geworden: Ohne
ihren täglich stundenlangen TV-Konsum können, wie Statistiker ge
zeigt haben, mehr als 75% unserer Zeitgenossen nicht mehr leben, da
sie nicht wissen, was sie „mit sich anfangen“ sollen. Es ist keine Über
treibung, von „Zwangsmuße” analog zur Zwangsarbeit zu reden.9
Und diesen Zwang akzeptieren sie nicht nur und nicht nur gerne, sie
machen einen geradezu moralischen Anspruch auf die ihnen ins Haus
zu liefernde Mußeware geltend. Ihrem, angeblich heiligen, Recht auf
den Arbeitsplatz entspricht ihr angeblich heiliges Recht auf den Fern
sehplatz. So die millionenfache Majorität.
2. Eine winzige Minderheit (wenn auch ihre absolute Zahl hoch ist)
läßt sich, wie wir gesehen haben, weismachen, daß ihr sehr berechtig
tes Sinnleere-Gefühl eine Krankheit sei. Und diese wenden sich nun an
die „racketeers der Sinnlosigkeit“, die Therapeuten, um von diesen
kuriert zu werden. -
3. Es bleibt eine dritte Gruppe, die zwar, verglichen mit der ersten,
klein, aber durch ihr lärmendes Außenseitertum am auffälligsten ist:
die derer, die ihr Elend der Sinnlosigkeit selbst in die Hand nehmen,10
oder richtiger: die aus ihrem Elend eskapieren; und die den Eskapis
mus (der ja durch die Vergnügungsindustrie ohnehin schon organi
siert, aber doch noch ins öffentliche Leben integriert ist) so überstei
gern, daß sie nun aus der Gesellschaft herausfallen. Ich spreche von
den Abertausenden, die Hasch oder Heroin konsumieren oder als
Hippies oder flippies nach Osten vagabundieren oder den diversen
Sekten zuströmen: den „TM“-Gruppen („Transcendental medita
tion“), den „Ananda Marga“ , den „Earth play“, der (von der CIA
patronisierten antikommunistischen) „Mun-Sekte“ , den „Children of
God“ , den „Jesuskindern“ , der „Scientology Church“ und wie die
(nicht zufällig ausnahmslos aus den U SA stammenden) Heilslehren,
-praktiken und -gruppen sonst noch heißen mögen. Die Glaubwürdig
keit der Behauptung dieser Millionen, daß sie deshalb zur Nadel grei
fen oder sich deshalb diesen Sekten anschließen, weil sie die Sinnlosig
keit ihres Lebens nicht mehr ertragen könnten, ist unbestreitbar. Nach
dem Scheitern der Versuche während des letzten Jahrhunderts, das
Leben durch politische Revolutionen menschenwürdig, mindestens
menschenwürdiger, zu machen; namentlich nach der Erfahrung, daß
die Entfremdung (da diese eben zu 90% der technischen Entwicklung
und nicht den Eigentumsverhältnissen entstammt) auch in sozialisti
schen Ländern nicht die geringsten Anstalten gemacht hat, auszuster
ben oder auch nur abzunehmen - nach dieser Erfahrung ist es kein
Wunder, daß sie in total apolitische, noch nicht einmal utopische,
sondern reine Trunkenheits-Zustände ausweichen. Erstaunlich ist um
gekehrt die Tatsache, daß die Zahl der Eskapisten bis heute noch ver
hältnismäßig niedrig geblieben ist, daß die Bewegung noch nicht H un
derte von Millionen mitgerissen hat. Aber dieses Faktum gründet eben
- ich wiederhole mich hier bewußt - in der Sache selbst, das heißt:
darin, daß die Meisten durch ihr Elend von der Erkenntnis ihres Elends
ausgeschlossen bleiben; daß sie bereits zu krank sind, um eben, wie die
Süchtigen, mit einer „Krankheit“ darauf zu reagieren.
§8
Häufig hat man mich, wenn ich im Gespräch die Frustration der
heutigen Jugend ernst und wichtig nahm, mit dem sinnlosen Wort
(denn ein Übel wird nicht durch die Tatsache vergangener Übel gerin
ger) vertröstet oder abgefertigt, dieses Phänomen sei wahrhaftig nichts
Erst- oder Einmaliges, denn Weltschmerz habe es auch früher, vermut
lich sogar immer, schon gegeben. 11 Ist dieser Einwand berechtigt?
Handelt es sich heute um einen „Weltschmerz“ ?
Nein. Denn Schmerz, Schwermut, Ekel und Empörung derer, die
im vorigen Jahrhundert unter „Weltschmerz“ litten, hatten sich ja
noch nicht, wie die heutige Krankheit, auf die „Sinnlosigkeit“ von
Leben und Welt bezogen, sondern auf deren Misere; vor allem auf das
von Schopenhauer so eindrucksvoll behauptete Übergewicht des krea-
türlichen Leidens über alle kreatürliche Lust. Das heutige Elend dage
gen ist, wie wir eingangs gesehen haben, Folge von etwas ganz Ande
rem: einmal davon, daß wir unser Leben mit Arbeiten zu verbringen
haben, die uns nichts angehen; und dann Folge davon, daß wir unent
rinnbar in ein „Mittel-Universum“ eingebaut sind. Für den Welt
schmerzkranken sind Leben und Welt deshalb sinnlos, weil sie misera
bel sind. Für uns Heutige dagegen sind Welt und Leben deshalb mise
rabel, weil sie sinnlos sind.
Und doch: in etwas stimmen die zwei Typen überein: Beide bleiben
nämlich unpolitisch, beide sind frustrierte Revolutionäre. Da der Welt
schmerzkranke es nicht in Betracht zog (es zumeist nicht in Betracht
ziehen durfte und dadurch auch nicht konnte), denjenigen Zustand,
unter dem er eigentlich litt: den politisch-sozialen, anzuklagen oder in
diesen gar gewaltsam einzugreifen, ersetzte er diesen „eigentlichen Ge
genstand“ seiner Kritik durch einen viel allgemeineren und dadurch
paradoxerweise viel harmloseren: nämlich durch die Welt. Er „m undo-
fizierte" das gesellschaftliche Elend. Unerträglich war nun nicht die
reaktionäre Regierung oder das physische Elend der Bevölkerung,
sondern das Universum. Und seine Anklage sublimierte er zur Klage:
aus seiner Empörung machte er einen „Kulturwert“ - was den jeweils
Herrschenden natürlich niemals unwillkommen war. Tatsächlich hat
kein noch so strenger Zensor jemals etwas gegen ein literarisches, phi
losophisches oder musikalisches Dokument des Weltschmerzes einzu
wenden gehabt. 12
Vorbei ist die Zeit, in der Religion als „O pium fürs Volk“ bezeich
net werden durfte. Vielmehr ist nun umgekehrt Opium (das hier für
alle Arten von Drogen steht) zur Religion fürs Volk geworden. Worauf
sie aus sind und was sie in der Ekstase erfahren, ist (obwohl sie das
Unglück der Sinnlosigkeit, mindestens vorübergehend, hinter sich las
sen) nicht „Sinn“ - kein Rückkehrer von einem Trip hatjemals mitge
teilt, er habe nun die Absenz von Sinnlosigkeit, oder gar positiv: einen
„Sin n “ , den der Welt oder des eigenen Daseins, erfahren. Vielmehr
berichten sie alle „nur“ von der Seligkeit, die sie erlebt hätten. Und
diese ist offenbar absolut, das heißt: sie hat weder etwas mit Sinn noch
mit Sinnlosigkeit zu tun. Keine Frage: der Gegenzustand gegen die
Unerträglichkeit der Sinnleere heißt nicht „Sinnbesitz“ , sondern
Glück, genauer: „Kunstglück“ - worunter ich kein Glück an der
Kunst, sondern künstlich hergestelltes Glück meine. Seit etwa i 5 Jah
ren leben wir - die süchtigen G. I.’s in Vietnam und die Blumenkinder
waren unsere ominösen Vorboten - in einem eudämonistischen, nein:
hedonistischen Zeitalter. Was, da die Möglichkeit einer universellen
Katastrophe von Tag zu Tag wächst, auch von Tag zu Tag allgemeiner
bekannt wird, nicht nur befremdlich ist, sondern empörend. Aber
wenn man diesem Verhängnis euphorisch statt angsterfüllt entgegen
taumelt, so nicht deshalb, weil man die Gefahr nicht kennt, auch nicht,
obwohl man sie kennt. Sondern wohl deshalb, weil man sie kennt. -
Das Glück, das sich unsere Väter und Vorväter und auch wir selbst
noch durch Verwandlung der menschenunwürdigen Gesellschaft in
eine menschenwürdige aufzubauen gehofft hatten, das verschaffen sie
sich nun also durch „ Transzendenzpillen und -injektionen“ . Und ich
argwöhne, daß sie das nicht nur können, sondern oft auch dürfen,
wenn nicht sogar sollen. Denn dem politischen Establishment sind
solche de-politisierte und de-moralisierte „Glückselige“ gar nicht so
unwillkommen. Viel willkommener jedenfalls, als es politische Oppo
sitionelle wären. Das Opium läßt man durchgehen als Religion fürs
Volk; wenn man es nicht sogar positiv als solche einsetzt und fördert.
Den Hiroshima-Piloten Claude Eatherly fütterte man mit tranquilli
zers, um ihn daran zu hindern, sich (angeblich „krankhafte“ ) Gedan
ken über die moralischen und politischen Implikationen des Bomben
abwurfs, an dem er mittelbar beteiligt gewesen war, zu machen. Also
um ihn zu demoralisieren und zu depolitisieren. Der Behauptung, der
U.S.High Command in Vietnam habe sich vergebens darum bemüht,
den Drogenkonsum, den sich ein sehr beträchtlicher Teil der dortigen
G .I.’s angewöhnt hatte, zu drosseln - dieser Behauptung kann man
nur schwer Glauben schenken. Das High Command hat in Vietnam
schwierigere Probleme gelöst. Daß es, wie es in Molussien der Fall
war, den Drogenhandel und -konsum heimlich selbst organisiert habe,
das behaupte ich zwar nicht; wohl aber, daß es dem Schwarzmarkt
gegenüber beide Augen zugedrückt hat, weil es sich darauf verlassen
konnte, daß die Drogenabhängigen nicht aufmüpfig werden würden,
sondern alles, also auch die mörderischsten „Missionen“ , mitmachen
würden, ohne sich über deren Sinn oder Unsinn oder über deren Mo
ral oder Unmoral den Kopf zu zerbrechen. Soviel steht fest, daß diese
„M ittel gegen Sinnlosigkeit“ als M ittel gegen „dissent“ und als Mittel
zur Herstellung bedingungsloser „loyalty“ , also als Gleichschaltungs
mittel gedient und sich bewährt haben. - Interessant übrigens der
Unterschied zwischen der Taktik im Osten und der im Westen: Wäh
rend man hier geistige Störung einreißen läßt, um politische Störung
zu vereiteln und um „dissent“ nicht aufkommen zu lassen, sperrt man
drüben politische dissenters oder Oppositionelle als angeblich geistig
Gestörte in Gefängnisse. Welche der zwei Praktiken die erfreulichere
ist, ist Geschmackssache.
Aber nicht nur gilt, daß das „Opium zur Religion fürs Volk“ ge
worden ist; umgekehrt gilt auch - und damit scheinen wir zur ur
sprünglichen Fassung der Redensart zurückzukehren -, daß die zahl
losen, namentlich in Amerika aufsprießenden, aber bereits die gesamte
westliche Hemisphäre überziehenden Sektenreligionen nichts Anderes
und nichts Besseres leisten als diese Drogen: daß sie also als Opium
funktionieren. Freilich meine ich damit nicht - das war der ursprüngli
che Sinn der berühmten Redensart gewesen -, daß die herrschende
Klasse diejenigen, die sich die kostspieligen Drogen nicht leisten kön
nen, um sie lammfromm zu halten, mit dem billigeren Ersatz „R eli
gion“ abspeise; vielmehr, daß sich die neuen Sekten (die ja wahrhaftig
nicht im „V olk “ , sondern im Mittelstande aufsprießen) strukturell den
Drogen angeähnelt haben: daß nämlich das Einzige, worauf es den
Sektierern, ohne daß sie sich dieser Tatsache bewußt werden, an
kommt, der psychische Zustand ist, in den sie durch ihre Drogen und
Ritualien versetzt werden; daß die Dogmen im Vergleich damit un
wichtig geworden sind und ohne große Einbuße über Bord geworfen
werden könnten. Dogmen und Ritualien spielen im besten Falle die
gleiche Rolle wie die Drogen, und sind heute, da diese als Waren leicht
beschafft werden können, zumeist bereits obsoleter und schwerfälliger
Drogenersatz. Zwar gibt es noch hunderte von Sekten, die irgendwel
che, scheinbar neue, zumeist aber aufgewärmte alte „Trivialdogmen“
propagieren17 - was heißt: „noch“ , da deren Zahl ja täglich steigt, da
das (aus der Geschichte des Protestantismus stammende) Wuchern von
religiösen Splittergruppen erst heute seinen Höhepunkt erreicht zu
haben scheint. Aber die Vielfalt trügt. Ich bin überzeugt davon, daß
die Hundemausende, die glauben, daß sie einen bestimmten Glauben,
einen „echten Ring“ , als Vehikel benötigen, um sich in den von ihnen
ersehnten Nirvanazustand zu versetzen, und daß nur ihr Ring „w ill do
the trick“ , sich das nur einreden. Denn die Dogmen sind austauschbar
geworden. Ob ein sektenanfälliger Mr. Smith vom Dogma der Sekte A
und Mr. Miller vom Dogma der Sekte B infiziert wird, das ist reiner
Zufall - ein Zufall, wie der, ob Mr. Smith auf Veronal und Mr. Miller
auf Geronox verfällt und schwört. Ein Dogma wirkt so gut wie jedes
andere, 99% sind ohnehin reine „Placebos“ - eine Behauptung, die
Smith und Miller, obwohl spinnefeind, natürlich mit dem gleichen
Eifer und mit der sie gleichmachenden Indignation zurückweisen wür
den. Gleichviel, Glaubensinhalte sind degradiert zu Rausch- und N ir-
vanamitteln, die, philosophisch gesprochen, avEU l-oyou sind und in
einer Reihe stehen mit Lebens- und Schlafmitteln.
V. D E R S I N N DE S B E G R I F F E S S I N N 18
Daß man vom eigenen Leben oder von Kreaturen oder Staaten oder
geschichtlichen Abläufen oder gar vom Universum als ganzem erwar
tet oder gar verlangt, daß sie nicht nur seien, sondern außerdem noch
einen Sinn haben - diese Zweiheit ist alles andere als selbstverständlich.
Für denjenigen, der sich von allen Vorurteilen, die ihm Umwelt- und
Alltagssprache eingeflößt haben, loseisen kann; der etwa wie ein die
Erde besuchender Marsmensch zu denken vermag - für den ist diese
Doppelheit sogar höchst merkwürdig. Wodurch entstand der Begriff
„Sinn“ ? Welchen Sinn verbinden wir mit ihm?
§ 10
Das Sinnmonopol
§n
§ 12
Nun erst, nachdem wir den ursprünglichen Sinn von „Sinn“ als das,
was Gott „im Sinne“ gehabt hatte, aufgeklärt haben, erhellt sich unsere
eingangs gemachte und rätselhaft klingende Behauptung, daß fast nie
mals nach dem Sinn von „ Positivem“ gefragt worden sei. Damit meine
ich, daß sich die Sinnfrage fast ausschließlich angesichts der Existenz
von Negativem entzündet hat, angesichts von Bösem und Entsetzli
chem, dessen Dasein prima, aber auch ultima, vista mit dem Im-Sinne-
Haben, also mit dem Willen Gottes, nicht vereinbart werden konnte,
und das Rechtfertigung erforderte.“
Niemals wäre es zum Begriff „Sinn“ gekommen, wenn es nur Posi
tives auf der Welt gegeben hätte. Die gesunden Brüder Hiobs hatten
keine Ursache gehabt, zu fragen, was Gott mit ihrem Wohlbefinden
wohl im Sinne gehabt habe. N ur der seine Schwären schabende Hiob
hatte die Sinnfrage nötig, und nur er konnte diese fragen. - Solange
Lissabon stand, wäre es Voltaire nicht im Traume eingefallen, zu fra
gen, wie er die Existenz der heilen Stadt rechtfertigen könne, also den
„Sinn“ der Stadt Lissabon zu erforschen. Nach der Verwüstung der
Stadt dagegen hat er Gott zur Rede gestellt und ihn aufgefordert, die
Katastrophe zu rechtfertigen. Als dieser Gedanke der Rechtfertigung
verblaßte, blieb an dessen Stelle nicht nichts, sondern eben der des
„Sinns“ , so daß wir sagen können: ,,Die Sinnfrage ist die säkularisierte
Version der Theodizee-Frage. Oder die getarnte Rechtfertigungs/rage
des Atheisten. “
§ i]
Exkurs über das „F ü r“
II
Das Problem, mit dem wir bald konfrontiert sein werden, wird nicht
mehr das der Energieverknappung sein, sondern das des Energie
Überflusses. Als verwendbar stehen uns nicht, wie heute noch, die
limitierten Restvorräte an organischen Stoffen wie Kohle oder 01 be
vor, sondern unerschöpfliche Naturkräfte wie die Sonnenenergie.
Darin sind sich Robert Jungk und ich völlig einig. Die morgige Frage
lautet: „ Wird die Industrie soviel Energie, wie man wirdproduzieren
(richtiger: melken, am richtigsten: sich in den Schoß wird fallen lassen)
können, nötig haben? Nötig haben können?“
N icht die bedürfnisstillenden Materialien und Energien werden be
grenzt sein, sondern umgekehrt die Bedürfnisse, da diese nicht, wie es
heute noch als selbstverständlich gilt, ad infinitum erweitert werden
können. Schon heute ist ja der - sit venia verbo - „ Vorrat an Bedürf
nissen“ derart verknappt, daß eigens solche erzeugt werden müssen;
diese Erzeugung von Bedürfnissen ist ja sogar schon zu einem der
mächtigsten Produktionszweige geworden, da ohne deren Existenz die
bedürfnisstillenden Produkte umsonst da wären. Aber selbst wenn
eine infinite Erweiterung der Bedürfnisse möglich wäre, sie wäre
absolut sinnlos. Außer für die Wirtschaft, die der Bedürfnisse bedarf.
Der Wettlauf, auf den wir uns schon heute gefaßt machen müssen,
wird sich also zwischen (limitierten) Bedürfnissen und (illimitierten)
Energiequellen abspielen. D ie Bedürfnisse werden versuchen müssen,
den Energiequellen - die Metapher ist ärgerlich, aber unentbehrlich -
„gewachsen“ zu bleiben. Nicht nach „untapped sources“ werden wir
bohren - die werden gratis oder nahezu gratis sprudeln - , sondern
nach „untapped needs“ . Nicht um das tägliche Brot werden wir beten,
sondern um den täglichen Hunger. Nicht Energie wird notwendig
sein, um die Produktion zu gewährleisten, umgekehrt wird es notwen
dig sein, zu produzieren, um zu verhüten, daß die aus den unzu-
schraubbaren Energiehähnen strömenden Energien verschwendet wer
den. Nicht Energien zu beschaffen und zu schaffen, wird unsere A u f
gabe sein, sondern Aufgaben zu schaffen, deren Zweck es ist, zu ver
hüten, daß das zu erwartende Quantum an Energie brach liege. Die
Zauberlehrlingsklage „die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht
los!“ wird sich bald nicht mehr nur auf die Katastrophengeräte bezie
hen, sondern auf die verfügbaren Energien als solche, da deren bloße
Kolossalität katastrophal werden wird.
Natürlich kommen diese meine Formulierungen, die durchwegs Va
riationen über ein und dasselbe Thema sind, wie die meisten meiner
Formulierungen, zu früh. Auch sie werden, statt als Prognosen, als
unzutreffende Diagnosen verhöhnt werden. Aber sie können sich ge
dulden. Die Höhnenden, die auch heute noch den Teufel der mangeln
den Energie an die Wand malen, die sind von gestern.
Eine neue Tugend und Weisheit wird nötig werden: nämlich die
Situation auszuhalten, in der man mehr bekommen kann, angeblich
soll, als man bewältigen kann. Bescheidung - nicht angesichts von
Knappheit, sondern angesichts von Überfluß. Freilich bezweifle ich,
daß es uns gelingen werde, uns zu einer Kultur der Bescheidung zu
erziehen. Lieber als dem Wirt etwas zu schenken, werden wir unseren
Magen verrenken.
1975
§1
D er verwandelte Zauberlehrling
Der Titel des Themas, über das zu sprechen ich gebeten worden
war, lautete ursprünglich: „Ü b er Religion im technischen Zeitalter“ .
Ich hatte noch nicht die zweite Seite meines Textes erreicht, als ich
mich dazu entschloß, ihm den Untertitel ,,D er verwandelte Zauber
lehrling“ zu geben. Den Haupttitel habe ich schließlich, als ich nun
nach dreizehn Jahren den Text erneut prüfte, durch: „D ie Antiquiert
heit der Bosheit“ ersetzt.
Nun, die Behandlung des Themas „Religion im technischen Zeital
ter“ könnte man sich leicht machen. Man könnte nämlich schildern,
empirisch, vielleicht sogar statistisch, wie es den Weltreligionen und
den kleineren religiösen Gemeinschaften in der hypertechnisch gewor
denen Welt ergehe, oder wie es ihnen ergehe trotz deren Hypertechni
fizierung; welchen Platz in dieser Welt sie noch einnehmen, ob und
wie sie zu dem Phänomen „Technik“ Stellung nehmen, ob es religiöse
oder kirchliche Technik-Theorien gebe und welche, und ob sie sich
schließlich mit Erfolg oder ohne Erfolg technischer Errungenschaften,
wie z.B . des Fernsehens, bedienen. -
Über diese Probleme und Tatsachen wissen Abertausende, nament
lich kirchlich tätige Menschen, besser Bescheid als ich. Mein Aus
gangspunkt ist ein anderer. Nicht die bestehenden Kirchen befrage ich,
ich untersuche nicht, was diese von der Technik halten - meine Be
handlung des Themas ist, trotz meiner notorischen Irreligiosität, un
gleich direkter. Was ich behaupte, ist nämlich, daß die zwei Verände
rungen, die heute festzustellen sind:
1. die Veränderung, die der Mensch als Erzeuger, Teil und Opfer
dieser seiner technischen Welt durchgemacht hat,
und 2. die Veränderung, die die Welt durch ihre Technifizierung
erfahren hat,
so fundamentaler Natur sind, daß die Begriffe, mit deren Hilfe man
diese zu behandeln hat, wohl als theologische bezeichnet werden kön
nen, vielleicht müssen.
Ehe ich zu diesem Religionsproblem komme, möchte ich erst einmal
über unser Verhältnis zur heutigen technifizierten Welt sprechen.
§3
D er beneidenswerte Zauberlehrling
Machen wir uns nichts vor. Das, was Goethe als ein Entsetzen erre
gendes und einer Ballade würdiges abenteuerliches Ausnahme-Ereig
nis bedichtet hatte, das stößt uns ununterbrochen zu, das passiert uns
pausenlos - sofern wir da überhaupt noch von „passieren“ reden dür
fen: denn von „passieren“ zu reden, ist ja eigentlich nur dann sinnvoll,
wenn das, was passiert, sich als Ausnahme von der Folie einer harmlo
sen und regelhaften Alltäglichkeit abhebt. Und gerade das ist heutzu
tage nicht der Fall. Was unsere Zeit abenteuerlich macht, das ist ja
umgekehrt, daß das Wahnsinnige, statt aufzufallen, gerade die Regel
ist; daß die mit Autonomie ausgestatteten „Besenstiele“ , also die Ap
parate (sowohl die im administrativen Sinne wie die im physikalisch
technischen Sinne), daß diese Apparate: die Kraftwerke, die atomaren
Raketen, die Weltraumgeräte, die industriellen Großanlagen, die für
deren Herstellung benötigt werden, zusammen unsere alltägliche Welt
ausmachen. Millionen leben davon, daß die Produktion dieser Geräte
autonom geworden ist; die Ökonomie ganzer Kontinente würde zu
sammenbrechen, wenn die Erzeugung dieser Objekte plötzlich ein
Ende fände - alle diese Tatsachen sind heute ja keine Ausnahmen,
keine Sensationen, die man balladesk besingen könnte, wie das sensa
tionelle Ereignis, das Goethe besungen hat.
Und ebenso gehört es ja zur Regel, zur Alltäglichkeit, daß wir nicht
daran denken, gegen das, was diese unsere „Geister“ tun und von uns
verlangen, aufzubegehren. Umgekehrt sehen w ir in der autonomen
bzw. automatischen Wirksamkeit unserer Produkte, die in Goethes
Augen noch etwas Schreckenerregendes gewesen war, etwas Normales,
nein sogar etwas Erfreuliches: nämlich die Garantie dafür, daß auch
unser eigenes Dasein glatt funktionieren werde, und daß uns die Last
eigener Verantwortung (die wir bereits als etwas Altertümliches, als
eine Mode von vorgestern empfinden) ein für allemal abgenommen
bleiben werde.
Und dazu kommt schließlich, daß diesen „Geistern“ die Sucht inne
wohnt, sich zu erweitern und zu vermehren; daß sie also nicht nur so
unabhängig von uns bleiben, wie sie es direkt nach ihrer „G eburt“
gewesen waren, sondern daß sie sich immer unabhängiger machen;
und umgekehrt uns durch diese ihre akkumulierende Macht und Un
abhängigkeit immer abhängiger machen. Goethe hat, als er den in zwei
Hälften zerschnittenen Roboter als ein Roboterpaar weiterarbeiten
ließ, eine ähnliche Akkumulation bereits im Auge gehabt. Wir wissen
ja, daß Apparate durchweg von der Tendenz getrieben sind, ineinander
zu greifen und sich (wie es in der Elektrotechnik heißt) zu „ N etzen"
vereinigen.1 Und daß das von den Netzen selbst ebenfalls gilt, d. h. daß
auch diese sich wieder, und ohne Rücksicht darauf, was sie uns damit
antun könnten, zu Netzen höherer Ordnung verflechten. Kurz: wäh
rend bei Goethe ein einziger einsamer, auf tolle Art autonomer Besen
stiel (und dann ein Besenstielpaar) auftrat, leben wir Heutigen in einem
dichten und immer dichter werdenden Walde von Besenstielen. Und
da es keine Möglichkeit gibt, diesen Wald abzuholzen oder diesem zu
entkommen, ist dieser unsere Welt.
Glückliche Zeiten waren es also, in denen man, wie Goethe, das
Roboterereignis als einen haarsträubenden Sonderfall darstellen durfte,
statt als den alltäglichen modus operandi der Welt; und in denen man
dieses Problem noch in Gedichtform behandeln durfte - was heute (im
Sinne des Adornoschen Dictums über L yrik nach Auschwitz) bereits
problematisch, vielleicht sogar ungehörig wäre; glückliche Zeiten, in
denen man es sich noch, ohne zu riskieren, als ahnungslos und unreali
stisch verhöhnt zu werden, erlauben durfte, die Figur eines Meisters
einzuführen, eines Mannes also, der den Gegenzauber beherrscht, und
der nur seine Lippen zu öffnen brauchte, um das happy ending doch
noch zustandezubringen. Wahrhaftig, glückliche Zeiten! Verglichen
mit uns Heutigen ist ja sogar der Zauberlehrling selbst, trotz der tiefen
Not, in die er sich hineinmanövriert hat, und trotz der gellenden Ver
zweiflung, mit der er nach Hilfe schreit, noch eine beneidenswerte
Figur. Aber was heißt hier „trotz“ ? Denn beneidenswert ist er ja um
gekehrt gerade deshalb, weil er, im Unterschied zur heutigen Mensch
heit, die Gefahr, die er heraufbeschworen hat, doch noch mit eigenen
Augen wahrnimmt, weil er ja noch begreift, daß ein Anlaß zur Ver
zweiflung vorliegt; und weil er ja deshalb noch den Versuch unter
nimmt, das, was er da angerichtet hat oder anzurichten im Begriffe
stand, doch noch aufzuhalten. Gemessen an unserer Situation, war die
des Goetheschen Zauberlehrlings eine bloße Kalamität; eine aufre
gende Episode.
§4
Nun werden Sie fragen: „Was hat das alles mit Religion zu tun?“
Die Antwort, die ich auf diese Frage gebe, wird, wie ich es bereits zu
Beginn angekündigt habe, anderer Art sein als die, die Sie vermutlich
erwarten. Wie wichtig es vielleicht auch wäre, sich die Attitüde klarzu
machen, die die existierenden Religionen unserem Zauberlehrlings
Status und der Verwandlung unserer Welt in eine Roboterwelt gegen
über einnehmen2 - ungleich wichtiger ist es, so scheint es mir, auszu
sprechen, daß die Lage, in die wir hineingeraten sind, selbst ein „reli-
giosum“ ist. Natürlich klingt das aus dem Munde eines notorisch anti
religiösen Mannes etwas erstaunlich. Was ich meine, ist, daß die Ver
wandlung, um die es sich hier handelt, so fundamental ist, daß zu ihrer
Charakterisierung andere als theologische, mindestens von der Theo
logie geliehene Kategorien nicht mehr ausreichen würden. Was meine
ich im einzelnen?
Erstens, daß wir uns mit Hilfe der von uns selbst geschaffenen G e
räte (und nicht etwa nur der atomaren) göttergleich, sogar gottgleich,
gemacht haben. Zwar „gottgleich“ nur im negativen Sinne, denn von
einer „creatio ex nihilo“ kann natürlich keine Rede sein;3 wohl aber
davon, daß wir nun einer totalen „reductio ad nihil“ fähig sind, daß
wir als Zerstörende wirklich omnipotent geworden sind. Denn als
„Allmacht“ dürfen wir es ja wirklich bezeichnen, daß wir (oder richti
ger: unsere „Besenstiele“ : die von uns gerufenen Geräte) die gesamte
Menschheit und Menschenwelt auslöschen können; daß wir unser ge
samtes Gewesensein von Adam an, unsere Vergangenheit annihilieren
können; und daß wir fähig sind, das schauerliche „zw eite Futurum“
Salomonis „w ir werden gewesen sein“ durch das zukunftlose Futur
„w ir werden nicht gewesen sein“ noch zu übertrumpfen. In der Tat ist
alles, was sich seit einem Jahrhundert als angeblicher „Nihilism us“
aufgespielt hat, neben dieser Möglichkeit der „Annihilierung“ reine
Kultursalbaderei gewesen. Nietzsche, auch der tierisch ernste Heideg
ger, wirken vor der Folie dieser Möglichkeit unernst. Gleich was wir
glauben oder nicht glauben, ob wir etwas glauben oder nichts glauben
- sowohl unser Status in der Welt als auch der, den die Welt durch das
Faktum der Technik angenommen hat, sind so von Grund auf verän
dert, daß andere als religiöse Begriffe zur Kennzeichnung nicht mehr
ausreichen.
Dieser unserer völlig neuartigen Allmacht entspricht zweitens eine
völlig neuartige Ohnmacht.
„Was soll das heißen?“ höre ich einwenden. „Ohnmächtig sind w ir
ja als Sterbliche sowieso und immer schon gewesen.“ - Gewiß. Aber
dieser Hinweis auf unsere gute alte und bewährte Ohnmacht und
Sterblichkeit stammt gewöhnlich von denjenigen, denen es opportun
scheint, die Ungeheuerlichkeit der neuen Situation zu verwischen. -
Die Antwort auf diesen Einwand lautet nämlich: Nicht alle Ohnmach-
ten sind einander gleich; nicht alle Sterblichkeiten solche derselben Art
und derselben Würde. Auf keinen Fall ist es ein und dasselbe, ob wir
als Geschöpfe eines Gottes bzw. der Natur ohnmächtig bzw. sterblich
sind; oder ob wir das durch unser eigenes Tun sind. Damit meine ich,
daß w ir heute primär nicht ,,sterbliche", sondern „tötbare“ Wesen
sind. Die Ereignisse Auschwitz und Hiroshima können zwar aus dem
Gedächtnis (sofern sie je in dieses eingedrungen sind) verdrängt w er
den - und das ist in der Tat geschehen. Nicht verdrängt werden kann
dagegen deren Wiederholbarkeit. Seit diesen zwei Ereignissen - das
heißt: seit nun über zwanzig Jahren - ist das sogenannte „natürliche
Sterben“ zu einer obsoleten Sonderbegünstigung geworden, ist die
Möglichkeit der gewaltsamen Selbstaustilgung der Menschheit pausen
los virulent. Und seitdem sind wir durch diese pausenlose Möglichkeit
pausenlos definiert. Aufs Furchtbarste definiert. Denn „die Möglich
keit unserer endgültigen Vernichtung ist, auch wenn diese niemals ein
tritt, die endgültige Vernichtung unserer Möglichkeiten“ • Die letzten
Boten eines würdigen Sterbens waren jene Konzentrationslagerhäft
linge, die, um nicht kollektiv vertilgt zu werden, dem Gas durch den
Suizid zuvorkamen.* -
Ferner gehört drittens zum neuen „religiösen“ (oder infernalischen)
Charakter unserer heutigen Situation, daß wir, wenn wir getötet wer
den, im Unterschiede zu unseren Vorfahren, kaum je von Mitmen
schen direkt getötet werden, kaum je „Tätern“ (selbst dieses Wort ist
schon unverdiente Ehre) zum Opfer fallen, die ihr Töten als Töten
gemeint (nein, auch nur in actu erkannt, nein, es wirklich auf uns
abgesehen, nein, auch nur von unserer Existenz etwas gewußt) hätten.
„Sterb ich, so tröst ich mich doch, von Menschenhänden zu sterben.“ 6
Selbst dieser Minimaltrost ist uns mißgönnt. Denn entweder kommen
wir durch Handlungen um, die Täter irgendwo, tausende von Kilome
tern von uns entfernt, als pflichtgemäße Arbeit verrichten; oder eben
durch hirn- und augenlose Geräte, die sich längst von den Händen
oder Absichten ihrer Erzeuger und Bediener emanzipiert und die das
Werk des Liquidierens nun völlig selbständig übernommen haben. Der
angeblichen Emanzipation der Menschen (sofern es diese überhaupt
jemals irgendwo gegeben hat) ist nun die unbestreitbare Emanzipation
der Objekte: der „Besenstiele“ gefolgt. Denen mit zum Opfer zu fal
len ist - und das meine ich wahrhaftig nicht zynisch - nicht tragisch,
sondern was viel furchtbarer ist, läppisch. Tragisch ist höchstens dieses
Fehlen der Tragik, also die Läppischkeit des Todes, der uns bevorsteht.
Und auch diese „Läppischkeit“ würde ich als ein „religiöses“ Faktum
bezeichnen: denn die totale Unwichtigkeit unserer Existenz, die mit
diesem Wort angezeigt ist, können wir wohl kaum anders denn als die
äußerste Negation der „Ebenbildlichkeit“ auffassen.
Und viertens gehört es zu unserer neuen „religiösen“ (oder inferna
lischen) - aber auch das Infernalische ist ja ein theologischer Begriff -
conditio humana, daß wir nun nicht mehr nur als Einzelne sterblich
oder tötbar sind, sondern daß wir nun alle zusammen - freilich nur
„zusammen” , wohl nicht „ gemeinsam” - umkommen können. In der
Tat besteht, seit es das Überangebot an Nuklearwaffen gibt, ununter
brochen die Möglichkeit (richtiger: die Wahrscheinlichkeit), daß wir
alle, und zwar eben (wie indirekt auch immer) durch eigene Hand
ausgelöscht werden. Und unter „uns allen“ verstehe ich dabei nicht
nur uns heute Lebende, sondern auch unsere Ahnen, da diese ja, von
niemandem erinnert, einen zweiten und endgültigen Tod sterben wür
den. Und schließlich auch unsere noch ungeborenen Kinder und Kin
deskinder, die ihren Tod schon vor ihrem Leben zu absolvieren haben
würden. Oder: werden.
Rilke hat vor einem halben Jahrhundert in feierlicher Larmoyanz
um das Geschenk des „eigenen Todes“ gebetet, und Heidegger hat,
wenn auch nicht flehend, sondern trotzig, in diesen Wunsch einge
stimmt. Dieser gehört nun schon einem vergangenen Zeitalter an. Wir
haben, sofern wir überhaupt zu beten haben, wahrhaftig um etwas
anderes zu beten als um den eigenen Tod: eben darum, daß wir nicht
durch eigenes Tun den gemeinsamen Tod erleiden. - Übrigens ist es
auch damals, zu Rilkes Zeiten, in einer Welt, in der nur einer ver
schwindenden Minderheit ein Anrecht auf eigenes Leben zugestanden
war, abgeschmackt gewesen, um die Gnade eines eigenen Sterbens zu
beten. Ganz abgesehen davon, daß nichts so wenig wie das den Einzel
nen seiner Einzelheit beraubende Sterben etwas „Eigenes“ sein kann.
Gute Zeiten waren das, als die Bosheit noch in Boshaften oder Bös
artigen verkörpert war, und als man noch hoffen durfte, das Böse
durch Kampf gegen Böse bekämpfen zu können. Auch dadurch, daß
wir das nicht mehr erhoffen dürfen - nun schließt sich der Kreis -, ist
unser neuer „religiöser Status“ mitdefiniert. Nicht deshalb, weil wir
von Natur aus oder durch einen „F all“ sündig geworden wären, be
drohen wir heute den Fortbestand der Welt, sondern deshalb,
weil wir Zauberlehrlinge sind, das heißt: weil wir mit bestem Gewis
sen nicht wissen, was wir tun, wenn wir unsere Produkte herstellen;
weil w ir es uns nicht klar machen, wonach diese, wenn sie erst
einmal unseren Händen entglitten sind, verlangen;
weil w ir es uns nicht vorstellen, daß diese, wenn sie erst einmal
funktionieren (und das tun sie bereits durch ihr bloßes Dasein), weiter
zu funktionieren wünschen, nein, weiterfunktionieren müssen, und
daß diese sich automatisch zusammenschließen, um ein Maximum an
Macht, und eben auch über uns: ihre Erzeuger, zu gewinnen; und daß
sie, wie jedes andere Erzeugnis, wie jede andere Ware, begierig darauf
sind, verwendet und verbraucht zu werden, um der Produktion neuer
Produkte nicht im Wege zu stehen; kurz: daß sie sich selbst in Einsatz
bringen werden, gleich ob dieser oder jener von uns den Einsatz aus
drücklich wünscht oder als politisches Ziel propagiert. -
Zauberlehrling-sein bedeutet:
nicht wissen, was man tut;
nicht wissen, daß Produzieren ein Handeln ist;
und sich nicht vorstellen, oder nicht fürchten, oder nachträglich
nicht bereuen können, was man durch das, was man herstellt, oder was
das, was man hergestellt hat, anstellen könnte.
1979
§1
Über Systematik
Daß dieser zweite Band gerade mit diesem Aufsatz über die „A n ti
quiertheit der Bosheit“ schließt, ist zufällig. Die Reihenfolge von Ka
piteln in philosophischen Büchern hat stets etwas Beliebiges an sich, da
diese, Kugeloberflächen vergleichbar, weder Anfang noch Ende ken
nen, und da alle ihre Aussagen mit Recht Anspruch darauf erheben
(um ein berühmtes Ranke-Wort zu variieren) „gleich nahe zur Wahr
heit“ , also Voraussetzung und Folge zugleich zu sein. Die Reihenfolge
der Kapitel gehört also ausschließlich zur Präsentierung der Sache,
nicht zur Sache. Die Zufälligkeit ist in unserem Falle um so größer, als
es sich hier um kein System handelt, sondern um Einzelaufsätze, die
jeweils okkasionellen Beobachtungen entsprungen sind, und denen ich
noch weitere folgen lassen könnte. Diese Beliebigkeit schließt aller
dings nicht aus, daß die Aufsätze - und das stelle ich nachträglich nicht
ohne Genugtuung fest - verraten, daß sie einer und derselben Werk
statt entstammen. Damit komme ich hier am Ende dieses Bandes noch
einmal auf das Problem der „Systematik“ zu sprechen, das ich bereits
im Vorwort gestreift hatte.
§2
Nicht nur kein System, auch keine Philosophie
Alle Menschen sind Afghanen
§3
§4
Prognostische Hermeneutik
Die Rückprägung
Die Behauptung, daß wir uns unserer Geräte bedienen, ist also un
genau und zu euphemistisch. Denn wir, die wir in die Gerätewelt
„geworfen“ sind, die wir freilich rasch nach dem „Wurf“ als die ein
zige und selbstverständlich akzeptieren, können uns nicht dagegen
wehren, von dieser in Dienst genommen zu werden - kein Bürger der
industrialisierten Welt kann darüber befinden, ob er im Alltagsleben
Gas oder elektrisches Licht oder Fließwasser oder Radio verwenden
soll oder nicht. Er muß. Und muß gerne. Wenn diese Beispiele die
einzigen wären, so dürfte, nein: müßte man ergänzen: uns soll nichts
Schlimmeres passieren. Aber diese Gegenstände, die wir gottseidank
verwenden müssen, sind nicht die einzigen, unter deren Zwang wir
stehen. Es gibt keine, unter deren Zwang wir nicht stünden. Der Kon
sumterror,1'’ dessen Bild ich vor zwanzig Jahren entworfen hatte, ist
nur ein kleiner Teil eines viel breiteren: des Verwendungsterrors.
Durch unser Geräte-Universum sind wir in Wesen verwandelt, die
dieses zu verwenden gezwungen sind. Damit behaupte ich natürlich
nicht, daß die Geräteproduzenten und -verkäufer diesen Zwang unbe
dingt aus bösem Willen ausüben, daß sie unsere Verwandlung durch
ihre Produkte bewußt beabsichtigten; die meisten denken gar nicht so
weit. U nd man darf ruhig behaupten, daß selbst die großen Werbe
Agenturen letztlich nicht begreifen, was sie tun - die Unschuld des
heutigen Lebens ist unüberbietbar. Denn auch sie stehen unter Zug
zwang. N icht nur können sie es nicht verhindern, daß ihre Produkte
(von denen sie natürlich ebenfalls geprägt sind) uns so oder so prägen;
sie haben auch nicht die Freiheit, für ihre uns prägenden Produkte
nicht zu werben. N icht Ziele, die sie bewußt anpeilen, habe ich also im
Auge, sondern die Effekte, die die Geräte unentrinnbaraufdiejenigen
ausüben, die unter Verwendungszwang stehen.
Überflüssig zu betonen, daß es nicht genüge, diese Tatsachen, na
mentlich die der „invertierten Prägung“, festzustellen. Vielmehr haben
wir, da unser morgiges Schicksal und das Aussehen des morgigen
Menschen davon abhängt, ob und wieweit wir fähig sind, in den Gerä
ten von heute die von diesen geprägte Menschheit zu erkennen, diese
unsere Fähigkeit auszubilden. Deuten ist heute nicht das Spezialge
schäft von „Geisteswissenschaftlern“ , vielmehr ist es zur moralischen
Aufgabe von uns allen geworden. Daß solche „prognostische Interpre
tation“ möglich ist, bezeugen viele frappante utopische Romanciers,
die nicht vom Heutigen auf das Morgige „ schließen“ , vielmehr im
Heutigen das Morgige „sehen“ . D ie Bedeutung Jules Vernes, den man
zum Kinderautor verharmlost hatte, ist ungeheuer. Er war der Prophet
der technischen Revolution, wie Marx der der sozialen gewesen war. -
Gleichviel, wir haben das zu lernen, was die „vates“ der Antike getan
oder zu tun sich eingeredet hatten: die Zukunft vorauszusehen. Die
Gedärme, die wir prognostisch lesen zu lernen haben, sind nicht die
der Opfertiere, sondern die der Apparate. Diese verraten uns die Welt
von morgen und den Typ unserer Kindeskinder, sofern es solche noch
geben wird. Und wenn sie das nicht von selber tun, dann haben wir sie
dazu zu zwingen. In Molussien hat es eine Redensart gegeben, die auf
deutsch lauten würde: „D ie Dinge foltern, bis sie ihr Geständnis
ablegen“ . Wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir das drohende
Verderben nicht kupieren können. Die Wahrscheinlichkeit des Gelin
gens schlage ich wahrhaftig nicht hoch an. Aber solange dessen U n
möglichkeit nicht bewiesen ist, bleibt es moralisch unmöglich, auf die
Versuche zu verzichten.
Vorwort
Einleitung
1. Zur heutigen Situation gehört es sogar, daß jede Maschine die Mit-Voraus-
setzung, damit die Mit-Herstellerin oder Mitinstandhalterin jeder anderen
Maschine ist; und daß die Legion der bestehenden Maschinen letzlich dahin
tendieren, zu einer einzigen Mega-Maschine zusammenzuwachsen und da
mit schließlich den „ Totalitarismus der Dingwelt“ zu begründen. (Siehe
den Essay „Die Antiquiertheit der Maschinen“, S. i i o ).
2. In dieser Bemühung um die Aufrechterhaltung der Produktion durch Kon
sum besteht, mindestem im Kapitalismus, die heutige „Sorge“ . Und darin
bestand sie auch schon vor 50 Jahren, als Heidegger, in dessen „Sein und
Zeit“ die Wirtschaft ebenso fehlte wie der Hunger oder das Geschlecht,
diese Kategorie als düsteres „Existenzial“ einführte.
3. Auch diese iteriert wiederum. Denn die Werbefirmen machen für sich selbst
genau so Werbung wie für andere Produkte. Siehe S. i6off.
4. Natürlich läßt man es nicht dabei bewenden, auch nach solchen Produkten
wird, oft post productionem, Nachfrage produziert, und zwar im Profitin
teresse der Produzenten, die ihre eigenen Interessen betrügerisch als Natio
nalbedürfnis darstellen. So hat die Lobby der Schwerindustrie in den USA,
und nicht nur während des kältesten Krieges (der ebenfalls ihr Produkt
war), durch Produktion falscher, die sowjetische Waffenproduktion betref
fender, Ziffern ein Sicherheits- und Schutzbedürfnis in der „Freien Welt“
produziert, auf Grund dessen nun die wildeste Produktion der monströse
sten Waffen und deren Ankauf durch die „Armed Forces“ gerechtfertigt
und in die Wege geleitet wurde.
5. Das immer wieder als Gegenbeispiel angeführte Giftgas macht da keine
Ausnahme, da dieses sich bereits 1918 wegen Gefährdung der eigenen Rei
hen als unverwendbar herausgestellt hatte.
6. Die Ausnahmen: doping oder Sporttraining oder Schönheitsoperation sind
nicht der Rede wert.
7. „Pathologie de la Liberte“, 1929. In: „Recherches Philosophiques“, Paris
1936.
8. Kritik der praktischen Vernunft, I. Buch, 8. Hauptstück. Kants Behauptung
freilich, daß, wie es an dieser Stelle heißt, „außer dem Menschen alles was
man will und worüber man etwas vermag“, als Mittel verwendet werden
dürfe (eine Behauptung, auf die sich die Ausrotter von Walen und Seehun
den berufen könnten), die haben wir niemals unterschreiben können. Diese
fürchterliche General-Lizenz, die nichts außer dem Menschen ein Tabu
zugesteht und alles andere als für den Menschen geschaffen unterstellt, und
das heißt: ihm zur Verfügung stellt, hat es außer im monotheistischen Raum
der jüdisch-christlichen Tradition (Gen. I, Kap. 26-28) nirgendwo gegeben,
weder in den Systemen der Magien noch in Polytheismen. Sie ist das Manko
unserer „abendländischen“ Ethik. Allein im Rahmen der anthropozentri
schen Tradition, in der die Welt als dem Menschen „untertan“ , also als
dessen Diener, Gegenstand, Lebensmittel gegolten hatte; und in der der
Mensch, obwohl auch „creatura“ , doch nicht als Stück der Natur, sondern
als unbeschränkter Herrscher über alles sonst Geschaffene gegolten hat -
nur in diesem Rahmen hatte Naturwissenschaft, damit Technik, damit
schließlich Industrialismus, entstehen können. Daß der Mensch Ziel, und
die Welt Mittel sei, dieser Anthropozentrismus war der (nur selten durch
pantheistische Intermezzos unterbrochene) Generalnenner der europä
ischen Philosophien und Vulgär-Weltanschauungen, deren zahllose Ver
schiedenheiten im Vergleich mit dem, was ihnen gemeinsam war, kaum
zählen. Heute haben natürlich Naturwissenschaften und Technik, die ohne
den theologischen Anthropozentrismus niemals hätten entstehen können,
auch bei denjenigen Völkern Fuß gefaßt, die, wie z.B. die Japaner, die
theologischen Voraussetzungen für diese nicht mitgebracht hatten. Aber
diese Voraussetzungen sind auch im jüdisch-christlichen Kulturkreis längst
vergessen. Nunmehr sind die technokratischen Länder nicht durch einen
Glauben geeint; umgekehrt verbindet sie der (zwar nur selten ausgespro
chene, aber doch ausgeübte) Atheismus, der (trotz der gelegentlichen Glau
bensbeteuerungen von Physikern) die Basis der Naturwissenschaften ist.
9. Ein amerikanischer Unternehmer, den ich über diese Entwicklung befragte,
replizierte gekränkt und ohne zu ahnen, wie sehr seine als Frage formulierte
Antwort derjenigen Kains ähnelte: „Why should I be responsible for the
regrettable fact that there are too many workers in the world? Am 1 their
nurse?“
10. Ihre Ersetzung durch die (selbst bereits industriell hergestellte) Porno-, Do-
it-yourself-und Sportwollust siehe S. 103.
1 1. Man dürfte annehmen, daß sich solche Schaffner ihrer Rückversetzung auf
die Ebene von Geräten (oder, da sie schlechter arbeiten als diese: unter
deren Ebene) schämen. Aber einer solchen Scham, die eine Spielart der im
ersten Band eingeführten „Prometheischen Scham“ wäre, bin ich kaum je
begegnet. Möglicherweise gibt es sie gar nicht - was freilich eine zweite
Beschämung rechtfertigen würde, da es ja nicht gerade sehr ehrenvoll ist,
sich mit der „Verdingung“ abzufinden. Denkbar, daß ich mich vor fünf
undzwanzig Jahren, als ich die „Prometheische Scham“ einführte, verspe
kuliert habe: nämlich ein Postulat als Tatsache dargestellt und dadurch die
Grenze zur „Philosophy Fiction” überschritten habe. Vielleicht muß ich
also diese Scham-These revozieren. Nicht revoziere ich hingegen, daß auch
dann, wenn Scham dieser Art nicht verspürt werden sollte, das vorliegt, was
die englische Sprache „shame“ nennt: nämlich eine Schande.
1. Dieser und der diesem folgende Aufsatz „Die Antiquiertheit der Masse“
basieren auf Tagebucheintragungen aus Tokio 1958. Geschrieben 1961.
2. Diese Weigerungssituation ist heute allgemein, sie herrscht in konformisti
schen Gesellschaften nicht weniger als in offen totalitären, wenn sie auch -
aber das macht ihr Wesen eben mit aus - nicht gesehen wird. Zum Wesen
der Verblendung, die hergestellt wird, gehört eben primär, daß sie selbst
nicht erkannt, auf keinen Fall aber als Verblendung erkannt werden darf.
Die Aufregung der Amerikaner über das östliche „brain washing“ ist eine
konformistischen Konsumenten konform gelieferte Aufregung über Her
stellung von Konformismus im Gegenlager. Und die Indignation Sowjet
rußlands über kapitalistische Meinungsmonopolisierung ist nicht weniger
hypokritisch. Die Tabuierungen der Anderen werden zwar gesehen, aber
die Erkenntnis, daß man selbst unter analogen Tabus lebt, bleibt immer
selbst unbekannt und tabu.
3. Ergänzung dieser Deutung, s. des Verfassers „Faule Arbeit und pausenloser
Konsum“ in Homo ludens, Januar 1959.
4. Im Frieden (der ja die Fortsetzung des Krieges mit anderen, sogenannten
„kalten“ , Mitteln ist) ist diese Zerstörungslust um nichts weniger wirksam,
nur wird sie durch verschiedene Maßnahmen und Umstände verdeckt. In
Massenproduktionsländern, z.B. in den Vereinigten Staaten, bleibt sie
durch die Tatsache, daß sie der Produktion nutzt, verdeckt, ja durch diese
wird sie geradezu in etwas Positives umfunktioniert. Da es nämlich im
Interesse der Produktion liegt, soviel wie möglich herzustellen, ist sie gierig
darauf, daß ihre Produkte so rasch wie möglich aufgebraucht, also zerstört
werden. Dadurch wird im öffentlichen Urteil Schonungslosigkeit, also auch
Zerstörungslust, ehrlich gemacht und sogar zur Tugend erhoben. Ja, die
Produktion hat geradezu neue Formen der Liquidierung produziert, einge
führt und verbindlich gemacht, um sich in Gang zu halten: Die jedes Jahr
neu aufgezwungenen Mode-Diktate sind nichts anderes als Gebote, gewisse
Produkte, selbst dann, wenn diese noch „halten“ , als liquidationsreif abzu
stoßen.
5. Tatsächlich ist der Typ des Automationsarbeiters ganz neu. Obwohl einsam
wie ein Flickschuster arbeitend, hält er doch niemals ein Produkt, ge
schweige denn ein eigenes Produkt in seiner Hand, vielmehr beobachtet er
nur Signale des ohne ihn ablaufenden Prozesses. Und obwohl unange
strengt dasitzend wie ein Buchschreiber, avanciert er dadurch nicht etwa
zum geistigen Arbeiter, sondern lediglich zum Polizisten der Maschine, zu
einem Polizisten, dessen Arbeit darin besteht, darauf zu hoffen, nichts und
niemanden arretieren zu müssen.
6. „Die Antiquiertheit des Menschen“ , Bd. \, S. 66ff.
7. Ich spreche hier nicht von Claude Eatherly, der ja nur das go-ahead-Signal
gegeben hat.
8. S. i^oH.
9. Einführung des Begriffes in Band I dieses Werkes, S. 36ff. Was mit „imita-
tio“ oder „kategorialer Angleichung“ gemeint ist, kann man sich an der
Analogie mit der Musik klar machen: Wer eine Musik spielt, der nimmt die
Struktur dieser Musik an; nicht nur im (unter Dacapozwang ablaufenden)
Sonatensatz herrscht zyklische Zeit, sondern auch im Sonatenspieler. Das
heißt: solange der Musizierende „in Musik“ ist, ist deren Gangart seine
Gangart, in gewissem Sinne sogar deren Seinsart seine Seinsart. - Entspre
chend wird der Gang der Maschine zum Gang des Maschinenbedieners -
nur (dieses „N ur“ ist freilich entscheidend) daß sich hier der Mensch mit
etwas Nichtmenschlichem auf gleiche Weise und im gleichen Grade identi
fizieren muß wie der Musiker mit der (ihn nicht entmenschenden) Musik.
1. Dies um so weniger, als auch diese nicht mehr „unsere“ sind. Vielmehr
stehen sie, wie alles Naturale, der Bearbeitung zur Verfügung, auch sie sind
längst schon Produkte. Mein Durst nach Coca Cola ist durchaus nicht
„meiner“ , sondern etwas vom Coca Cola-Produzenten in mir Hergestell
tes, nicht weniger Fertigware als das Gebräu selbst. Und zwar ein Gerät,
dessen Zweck und Leistung darin besteht, den Profitdurst der Produktion
zu stillen. Der Dürstende stillt also durch seinen Durst, bzw. durch dessen
Stillung, den Durst des Betriebs. Er leistet Auftragsarbeit.
2. Das Wort, das bei Marx ausschließlich die einem falschen Bewußtsein ent
sprungene Theorie bezeichnet hatte, bezeichnet heute (übrigens auch im
sowjetbeeinflußten Teil der Welt) jede Theorie, so daß man dort anstands
los, also ohne sich dadurch lächerlich zu machen, von der eigenen Ideologie
sprechen kann.
3. Wo, was heute schon der Fall ist, „falscher Wille“ ohne „falsches Bewußt
sein“ oder sogar „falsche Praxis“ ohne „falschen Willen“ erzeugt werden
kann, da erübrigt sich bereits die Herstellung von „falschem Bewußtsein“
bzw. „falschem Willen“ . Der atomare Knopfdrücker z.B. benötigt keine
Theorie oder Weltanschauung mehr, um gegen sein eigenes Interesse zu
wollen oder zu handeln - womit natürlich nicht gemeint ist, daß er ein
„wahres Bewußtsein“ habe, sondern nur, daß er genau so „jenseits von
wahr und falsch“ steht, wie er „jenseits von gut und böse“ steht: also in der
totalen Gedankenlosigkeit.
4. In unserer atomaren Situation ist es uns durchaus gelungen, diesen Zustand
herzustellen: die Indignation, die man erzeugt, wenn man Menschen auf
ihre wahren Wünsche (also auf das, was sie eigentlich wollen müßten)
aufmerksam macht, und darauf, daß sie, wenn sie Atomrüstung „mitwol
len“ , ihren eigenen Untergang wollen, ist wahrhaftig eines bessern .Anlasses
würdig.
1. Band 1, S. 102.
2. Nachbemerkung Juni 1979: Wenn die fernsehende Menschheit auf die tat
sächliche Massierung einer wirklichen Masse beim Papstbesuch in Polen
fassungslos (teil s entsetzt, teils enthusiasmiert) reagiert hat, so weil sie be
reits daran gewöhnt ist, daß Massenhaftigkeit zur bloßen Qualität ihrer
selbst (der Masseneremiten) geworden ist. In der Tat ist ja der Schrecken
über die Masse als Menschenquantum (statt als- bloßer Menschqualität)
nicht von einer wirklichen Masse erlebt worden, sondern wiederum von
Millionen von einsam oder zweisam vor ihren Bildschirmen sitzenden Kon
sumenten.
3. Daß es in der Kultur die größte Buntheit gibt, beweist nichts dagegen. Denn
es gehört zum Wesen der sanften Diktatur, daß sie Felder für Nichtkonfor
mes beläßt, Ventilprovinzen. - Freilich auch, daß sie bestimmt, welche
Felder als „Ventile“ frei bleiben dürfen. In Gedichten darf man mehr sagen
als in Leitartikeln, um so mehr, als die Zahl der Gedichteleser nicht der
Rede wert ist.
4. Das ging bekanntlich so weit, daß sie sogar ihren christlichen Glauben
dadurch legitim und glaubhaft zu machen suchten, daß sie ihn in eine
„Christian Science“ verwandelten.
5. Wenn die Formulierung paradox klingt, so weil die Situation selbst paradox
ist: weil nämlich mit „Wissen“ derjenige Glaube bezeichnet wird, der nicht
wissen soll, daß er nur Glaube ist.
6. Siehe S. 201.
7. Aber nicht weniger gilt, daß dieses Geheimterrorsystem seine zivile Hülle
von einem Tage zum anderen fallen lassen wird und den Harnisch, den
es unter dieser trägt, offen zeigen wird, wenn es das für opportun
hält.
8. Es gibt neue Experimente - ob sie sich bewähren werden oder nicht, dar
über sind die Meinungen noch geteilt, aber das Prinzip entscheidet - mit
sogenannter „subliminarer“ Bearbeitung des Menschen. Das heißt: Man
beeinflußt, Leibnizisch gesprochen, mit „petites perceptions“ , mit unter
schwelligen Reizen, von denen man erwartet, daß sie, obwohl nicht apper-
zipiert, doch wirksam sein werden. Zum Beispiel mit Kauf-Imperativen, die
zwischen die Bilder eines Films eingeschoben, dem Auge des Zuschauers
nur so kurz dargeboten werden, daß dieser sich von ihnen keine Rechen
schaft ablegt (nachher aber, so hofft man, wie unter posthypnotischem
Zwang, die gebotene Ware kaufen wird). Es kann kein Zweifel darüber
bestehen, daß diese oder ähnliche Methoden, wenn sie sich bewähren soll
ten, von der Politik übernommen werden. - „Geistesgeschichtlich“ ist diese
Barbarei besonders interessant: Das Subliminare, das wie gesagt eine (im
Zusammenhang mit dem Begriff des „Differentials“ konzipierte) Idee von
Leibniz gewesen war, ging als Begriff des „Unbewußten“ in Freud ein;
Freud wurde (aus Gründen, die hier nicht interessieren) in Amerika zum
Allgemeinbesitz. Dann stieß man auf der Jagd nach locos minoris resisten-
tiae des Käufers auf sein Unbewußtes und nahm es sofort in Arbeit. Dies ist
der Gang der Geistesgeschichte. Das Leibnizische Erbe ist also als psycho-
technischer Trick des Massenbetrugs zu Ehren gekommen. Wahrhaftig, kein
Philosoph kann voraussehen, als Diener welcher morgiger Herren er
schließlich Unsterblichkeit gewinnen wird.
1. Der Begriff stammt von Marx und Engels. Beide unterschieden „unge
schichtliche“ von „geschichtlichen“ Völkern. Als „ungeschichtlich“ be
trachteten sie wohl vor allem agrikulturelle Völker, wie denn Marx das
Landleben einmal „idiotisch“ nannte. Polen, das ja wiederholt das Opfer
„geschichtlicher Mächte“ gewesen war, hat er eine eigene Geschichte nicht
zugestanden.
2. Wie befremdlich diese Behauptung auch klingen mag, sie ist noch ganz
harmlos im Vergleich mit der spektakulären These Plotins, daß es noch
nicht einmal die Zeit immer gegeben habe. (Enn. 45, 98 ff.)
3. Gegen diesen Trend der Weltgeschichte werden jene Völker, die heute erst,
das 19. Jahrhundert nachholend, ihre nationale Identität zu erkämpfen
versuchen, nicht aufkommen. Die arabischen und zionistischen National
bewegungen z.B. sind, weltgeschichtlich gesehen, absurde Anachronismen.
4. Brecht hat mit seiner Frage, von wem die Pyramiden erbaut worden seien,
auf diese Unerwähntheit, damit Ungeschichtlichkeit, der Sklaven hingewie
sen und durch seinen Hinweis versucht, diese nachträglich, nach 6000 J ah-
ren zum ersten Male in das ihnen gebührende Licht der Geschichte zu
rücken und dadurch, um einen Rilkeschen Ausdruck zu verwenden, zu
„retten“ - wovon sie freilich nicht das Geringste mehr gehabt haben.
5. Schon Zola hat ihre (nicht mit Unsittlichkeit zu verwechselnde) Sittelosig-
keit, z.B. in „Germinal“ , meisterhaft dargestellt - was um so bewunderns
werter ist, als die Schilderung einer solchen „Leere“ einer lebenden Gruppe
ungleich schwieriger ist als die einer in einem positiven Sittesystem funktio
nierenden Gruppe.
6. Wahrscheinlich gilt das sogar von dem Proletariat nach seiner „Machter
greifung“ , also in der Sowjetunion, da es ja in Wirklichkeit nicht die herr
schende Klasse ist.
7. Im Zweiten Weltkrieg war die Situation anders: der Krieg gegen Hitler war
wohl (mindestens auch) einer im Interesse des Proletariats.
8. Ob es um die Kinder der Bourgeoisie in dieser Hinsicht viel besser bestellt
ist, darf man bezweifeln.
9. Die auf Inhalte, die ihn eigentlich nichts angehen, gerichtete Wißbegierde
des Wissenschaftlers ist freilich eine Ausnahme, die nicht unterschätzt wer
den darf, nein der sogar philosophisch-anthropologische Bedeutung zu
kommt. In der Tat ist der Mensch das einzige animal, das Objekte „an
geht“ , die es „nichts angehen“ ; das einzige, das nicht „beschränkt“ ist, das
gerne „fremdgeht“ , von „Transzendieren“ zu schweigen. Mit seinem in der
„Kritik der Urteilskraft“ eingeführten Begriff der „Interesselosigkeit“ hat
Kant bereits in diese Richtung gewiesen.
10. Darum waren und sind alle Gedächtnistests mit sinnlosen Silben, Zahlen
konglomeraten und dgl. völlig sinnlos, sie sagen über das Gedächtnis der
Versuchspersonen garnichts aus (um so mehr freilich über die Unintelligenz
der Testpsychologen). Sinnloses (z.B. Kursbücher) auswendig wissen nur
gestörte Kinder. Die bezuglose Neugierde ist nur ganz selten „Altgierde“ ,
also curiositas, die auf Gewesenes aus ist. Die in der heutigen populären
Sachbuch-Literatur herrschende „Archäologie-Welle“ widerspricht dieser
These nicht. Denn die Gegenstände dieses Interesses sind Substitute, das
Interesse entspringt fast ausschließlich der Angst vor der Bewältigung der
jüngsten Vergangenheit. An deren Stelle setzt man uralte Fremdvergangen
heit. Die Bilder der Auschwitzmörder werden verdrängt, in die so entste
hende Lücke schiebt man die Bilder der Etrusker oder Hittiten.
i i. Deren letzter Vertreter war der professionelle Hoffer Ernst Bloch gewesen,
der sich durch kein Auschwitz und kein Hiroshima einschüchtern oder
enttäuschen ließ.
i 2. Auf der Platte eines Seminartisches einer deutschen Uni fand man folgenden
Vers eingeschnitten:
PRINZIP VERZWEIFLUNG ODER EINMAL ETWAS ANDERS
ernst bloch spricht:
„wir sind noch nicht.“
ernster als bloch
wäre: „gerad’ noch.“
anders wär:
„nicht mehr.“
13. Siehe des Verfassers „Endzeit und Zeitenende“ , S. 1 7off.
14. Die Do-it-yourself-Bewegung, der Vegetarismus, die Nacktkultur und was
es an Maschinenstürmereien und Rousseauismen des kleinen Mannes noch
geben mag, sind nur die Eskapaden, die die Regel bestätigen. Im übrigen
sind sie ohne maschinelle Hilfsmittel gar nicht durchführbar: Zum Nudi
stenstrand fliegt man, und die Rohgemüse zersaftet man elektrisch.
15. Siehe des Verfassers Fabel „Das Ende“ , in: „Der Blick vom Mond“ , Mün
chen 1968.
16. Siehe des Verfassers Fabel „Die Kanne“ , in: „Der Blickvom Mond“ , Mün
chen 1968.
17. Auschwitz, wo man Hunderttausende als bloße Behälter von Haaren und
Goldzähnen einstufte und die Behälter vernichtete, um sich der Inhalte zu
bemächtigen, kann man als die Probebühne für diese „reine Menschenver
nichtung“ (in der Tat wird die Neutronenbombe ja als „saubere Waffe“
empfohlen) betrachten.
18. Das ungeheure Anschwellen der Konservenindustrie, die ja nicht Obsoles-
zenz, sondern Ewigkeit, mindestens Dauerhaftigkeit, zu planen und zu
erzeugen scheint, widerspricht nicht unserer These. Auch die Konserve
benützen wir ja nur ein einziges Mal, auch sie verbrauchen wir ja durch
Gebrauch. Davon, daß wir die „canned peaches“ oder Gänseleber „scho
nen“ , davon kann also keine Rede sein. Was wir tatsächlich gewinnen, ist
die nahezu freie Bestimmung des Zeitpunktes, an dem wir sie durch Ge
brauch verbrauchen.
19. Das hat die sonderbare Tatsache zur Folge, daß gerade in den sozialistischen
Staaten jenes „Schonen“ der Alltagsgegenstände, von dem ich vorhin gesagt
hatte, daß es bei uns bereits ausgestorben sei, noch nicht unmodern gewor
den ist; daß sich also gerade dort noch, wie jeder Reisende verblüfft fest
stellt, die Attitüden unserer Urgroßväter erhalten haben.
20. Umgekehrt haben die Vietnamesen die ungeheuren Metallmassen, die in
Form von Bomben auf ihrLand niederregneten, als Rohstoff fürihre eigene
kleine Industrie verwandt, also den Feind zugleich als Gratislieferanten
benutzt.
21. Freilich kann der Versuch, solche Bedürfnisse zu erzeugen, auch fehlschla
gen. Wir haben es vor einigen Jahren miterlebt, wie die Millionen von
Fernsehern, die durch die Vietnamkriegs-Sendungen eigentlich für diesen
hatten gewonnen werden sollen, programmwidrig reagiert haben, und zwar
nicht etwa nur mit Indifferenz, sondern mit Abscheu und Empörung. In
der Tat hätte die Anti-Vietnamkrieg-Bewegung ohne die tägliche Offerie-
rung der Kriegsereignisse durch das Fernsehen niemals die politische Stoß
kraft gewinnen können, die sie tatsächlich gewonnen hat. Diese Erfahrung
widerspricht meiner im ersten Bande entwickelten Charakterisierung des
Fernsehens. Die in Television gesehenen Vietnam-Greuel erreichten die
Zuschauer offenbar nicht nur als „Phantome“ . Meine damalige Analyse
bedarf einer Revision.
22. Nach dieser Darstellung der Zerstörung als Zieles der Produktion muß
die Einschätzung der Neutronenbombe revidiert werden. Offenbar ist
diese, die Produktewelt schonende, Waffe für unsere heutige Situation gar
nicht so charakteristisch, wie es gewöhnlich angenommen wird: vielleicht
sogar geradezu ein Irrweg - was ihre Erfindung und ihren eventuellen
Einsatz natürlich um nichts besser macht. Es würde mich aber durchaus
nicht überraschen, wenn übermorgen die „negative Neutronenbom be“ er
funden werden würde, deren Auswahlprinzip dem der heutigen Neutro
nenbombe entgegengesetzt wäre: die also - was viel besser dem Interesse
der Industrie dienen würde - ausschließlich Produkte vernichten und auf
die Liquidierung von Menschen keinen sonderlichen Wert legen würde.
Schon heute kann ich die „humanistische“ Rechtfertigung dieser Erfindung
hören.
23. „Endzeit und Zeitenende“ S. 183.
24. Jawohl, wir dürfen ihn einen „Halbgott“ nennen, und das nicht nur aus
dem formellen Grunde, weil ihm zugleich menschliche Gestalt und über
menschliche Kraft zukommt, sondern aus dem spezielleren Grunde, weil er
das Pendant des wichtigsten Halbgottes der Antike ist: nämlich des Prome
theus: weil er als Prometheus von heute das uns aus der Hand gesunkene
Feuer (angeblich) wieder zurückgebracht hat. - Die Klassifizierung ist auch
deshalb rechtmäßig, weil er, wie fast jeder etwas auf sich haltende Gott oder
Heros, als Ausgewachsener zur Welt gekommen, und seit damals überhaupt
nicht gealtert ist. Soweit man heute „ewig“ sein kann, ist Superman das -
das heißt: er wird uns, solange unser technisches Zeitalter und damit die
Menschheit und die Welt überhaupt bestehen werden, begleiten.
25. Auch das hat Superman mit allen mythischen Figuren gemein, daß sein
Erfinder (im Unterschied zu allen Bildern seit dem 15. Jahrhundert) an
onym bleibt. Selbst wenn dessen Name eruiert werden könnte (was vermut
lich möglich wäre, da er den von ihm erfundenen Gott - keinem Gotte vor
ihm ist diese Ehre erwiesen worden - durch eine Copyright-Nummer ge
schützt hat): für die Millionen seiner Bewunderer und Anhänger blieb der
Name des Erfinders irrelevant, da sie die Figur als eine betrachten, die es
schon seit ihrer frühen Kindheit, nein, wohl seit eh und je, gegeben hat.
26. „Endzeit und Zeitenende“ S. 1 55.
27. Außer wohl in der kommunistischen Welt - für diese ist der amerikanische
Gott, der politisch immer sehr systemfreundlich gewesen war und während
des kalten Krieges keine Hand vor den Mund, bzw. vor die Sprechblase
genommen hatte, natürlich politisch untragbar. Ob es in der stark an
schwellenden (und zum Teil sehr geistvollen) sowjetrussischen und polni
schen Science-Fiction-Literatur eine Pendant-Figur zu Superman, also eine
Figur der menschgewordenen Technik gibt, ist mir unbekannt.
28. Nicht nur im zeitlichen Sinne.
29. Sogar die Vernichtung der Juden durch den Nationalsozialismus ist ja,
soweit es möglich war, diskret durchgeführt worden. Ab er daß sie über
haupt hat durchgeführt werden können, daß normale Zeitgenossen, Leute
wie meine Nachbarn, gewissenhaft Millionen ihresgleichen hatten umbrin
gen können, diese Tatsache bliebe, wenn unsere Imperative nicht anerkannt
wären, schlechthin unbegreiflich.
30. Freilich scheint das „epochale Ereignis“ MyLai schon heute, nur drei Jahre
nach dem Höhepunkt der globalen Publizität des Falles, vergessen, das
heißt: verdrängt, sogar in tiefere Tiefen verdrängt zu sein, als das 25 Jahre
zurückliegende Auschwitz. Im übrigen hatte es natürlich schon vorher
zahllose MyLais gegeben, und vermutlich haben sich auch nach dem be
rühmten Fall noch zahllose weitere abgespielt. - Daß gerade der eine Fall
solche Publizität erreicht hat, ist reiner Zufall gewesen .
3 1. Freilich handelt es sich dabei nicht um einen echten Imperativ, sondern um
eine Lizenz, um eine Anrechtsanmeldung.
32^ Natürlich suchte man die Schuld ausschließlich einem „little fish‘‘, eben
dem genannten CaUey, anzuhängen. Aber selbst wenn man so fair gewesen
wäre, die Verantwortung auch in höheren Rängen zu suchen und diesen
zuzuweisen, die wirkliche, die „technologische“ , Bewandtnis des Falles
wäre damit nicht erhellt worden.
1. Auch die kolossalen Hochhäuser im Konditorstil, die man vor dreißig Jah
ren in die Hauptstädte des Ostblocks hineingepatzt hatte, und die zwar
(denn Architektur ist Schicksal) noch lange werden stehen müssen, aber die
doch auch dort schon als Zeugen (namentlich der aufgedrängten Sowjet
macht) behandelt werden, die man nicht mehr gerne vorzeigt, die also auch
dort schon der Vergangenheit anzugehören versuchen - auch diese Bauten
waren primär nicht als Werbe-Objekte gemeint. Ihre Gestik war nicht so
sehr die der Verlockung, als die der Einschüchterung . Selbst die erbärmli
chen Ornamente, die diesen gigantischen Eisbomben angekitscht wurden,
dienten nicht der Attraktion, sondern nur der Machtprotzerei. Sie gleichen
jenen Medaillen, mit denen sich Stalin (der sie sich selbst verliehen hatte)
gerne photographieren, oder, um die „Kultur“ vollzumachen, abpinseln
ließ.
2. Auch bei uns beginnt übrigens die Kategorie „modern“ , die erst sehr spät
im i 9. Jahrhundert aufgetaucht ist (bei Nietzsche klingt sie noch modern)
und nur wenige Jahrzehnte lang „modern“ gewesen war, unmodern zu
werden. Sartres direkt nach Kriegsende für seine Zeitschrift verwendeter
Titel „Temps Modernes“ war damals schon ebenso unmodern wie Cha
plins Filmtitel „Modern Times“ . An die Stelle des unmodern gewordenen
Wortes „modern“ ist das weniger anspruchsvolle „neu“ getreten. Der So
zialismus hofft nicht auf einen „moderneren“ , sondern auf einen „neuen“
Menschen. Das Unmodernwerden des Begriffes „modern“ begann bereits
vor einem halben Jahrhundert, Beispiele: „Neue Sachlichkeit“ , „nouvelle
vague“ , „new look“ .
3. Ober die unerwachsene Reaktion darauf: die „Blue Jeans“ und deren Prin
zip: „N ur Getragenes, nein Abgetragenes, ist up to date“ , siehe S. 283 ff.
4. Auf dieses Ressentiment spekulierte der Nationalsozialismus, der die Mo
derne dort, wo sie vergleichsweise unwichtig war: also in der Kunst (nicht
in der Technik), der Volkswut preisgab.
5. Dieser machte freilich zwecks Irreführung das ganze Volk zur Elite - für die
er eine Folie der Nicht-Elite, des „Ungeziefers“ , brauchte. Als Folie sind
Millionen Sklaven und Juden liquidiert worden. Dazu siehe des Verfassers
„Besuch im Hades“ , München 1979, S. 212.
6. Siehe S. 279.
D ie A n tiq u ie rth eit d er G eschichte I I I
1. Die Berufung auf Freud als Autorität stellt, da dieser die Anerkennung und
Einhaltung von Tabus als Voraussetzung der Zivilisation bejaht hat, ein
kolossales Mißverständnis dar.
2. Manche Werbebilder versprechen den Berufsvoyeurs, die den Schritt in den
wahren Konsum aus finanziellen oder sexualpathologischen Gründen nicht
tun können, die also ewig im Provisorium des bloßen Schauens verharren,
Bilder, durch die sie auf ihre Art auf ihre Kosten kommen werden. Ich
denke da z.B. an die vor Pornokinos ausgestellten Lockphotos (die soge
nannten „stills“ ), die gewissermaßen Bilder der „wirklichen Bilder“ , der
„pictures“ oder die Wegweiser zu diesen sind (die nun ihrerseits wieder
durch „commercial spots“ , also durch Reizbilder von anderen Waren oder
für andere Waren durchsetzt sind). - Sowohl in den Augen der Produzen
ten als auch in denen der Kunden gilt das bloße Anschauen der „pictures“
als deren eigentlicher Konsum. Die „stills“ , selbst Bilder, werben also fü r
Bilder. - Daß sich die „Iteration der Abbildung“ , die Plato bereits, freilich
mit völlig anderen Absichten, formuliert hatte (gemalte Bilder der Welt
seien eidola von eidola), heute wiederholt, ist höchst merkwürdig. (Dazu
siehe die philosophische Glosse „Die Antiquiertheit des Materialismus“ )
- Vor kurzem habe ich in einer Ausstellung „Geschichte des Plakats“
Werbebilder aus den Zwanziger Jahren gesehen, die (da die propagierten
Produkte unterdessen ausgestorben waren) kein Wozu mehr hatten und
sich dadurch in Kunstwerke verwandelt hatten. Viele Bilder religiösen In
halts entsprechen heute diesen Plakaten.
3. Ich kann mich noch daran erinnern, daß in den ersten Jahren nach der
bolschewistischen Revolution in reaktionären Blättern Europas und der
USA diese mit „Weibergemeinschaft“ identifiziert wurde. „Gruppensex“
ist ganz woanders zur Sitte geworden.
4. Siehe oben: „Die Antiquiertheit des Aussehens“ , S. 37ff.
5. Daß es den Nationalsozialisten so viel besser gelungen ist als den russischen
Machthabern, Werbeveranstaltungen durchzuführen, hat seinen Grund
darin, daß jene bereits auf die Werbe- und Ausstellungstechniken des Kapi
talismus zurückgreifen konnten; und weil sie nicht erst durch Degeneration
ihrer Prinzipien, sondern prinzipiell und ab ovo, Betrüger waren. Von den
überwältigenden Massenexhibitionen des Ufafilms „Metropolis“ zu den
Riefenstahlschen der Nürnberger Parteitage war es nur ein sehr kleiner
Schritt - was Fritz Lang, der Regisseur des bombastischen Ufa-Films, den
ich im Jahre ' 1940 auf die frappierende Ähnlichkeit aufmerksam machte,
stumm nickend zugegeben hat.
i. Zuerst veröffentlicht in „Die Sammlung“ , März 1955.
D ie m o lu s s is c h e K a ta k o m b e
Roman
H i r o s h i m a is t ü b e r a ll
D er Mann auf der Brücke (Tagebuch aus H iroshim a und Nagasaki,
1958). O ff limits für das Gewissen (Der Briefwechsel zwischen
dem H iroshim a-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders,
1959-1961 ). D ie T oten (Rede über die drei W eltkriege, 1964)
D i e a to m a r e D r o h u n g
B e s u c h im H a d e s
A uschw itz und Breslau 1966 /N a c h ,H olocaust‘ 1979
W ir E i c h m a n n s ö h n e
Offener Brief an Klaus Eichmann
M e n s c h o h n e W e lt
Schriften zur Kunst und Literatur
K e t z e r e ie n
D e r B li c k v o m T u r m
Fabeln. M it 12 A bbildungen von A. Paul Weber
T a g e b ü c h e r u n d G e d ic h te
L ie b e n g e s t e r n
N o tizen zur Geschichte des Fühlens
D ie A n tiq u ie r th e it d es M e n s c h e n
E rster B a n d
Ü b e r d ie Seele im Z eita lter der z w e ite n
in d u strie lle n R e v o lu tio n
7. Auflage. 1987. IX, 3 Seiten.
Paperback (Beck’sche Reihe 3 19 ) und Leinen
Vittorio Hösle
P h ilo so p h ie der ö k o lo g is c h e n K rise
Moskauer Vorträge
1991. 1p Seiten. Paperback
Beck’sche Reihe Band 432
Manfred Wöhlcke
U m w e ltz e r s tö r u n g in der D r itte n W elt
1987. 12 3 Seiten. Paperback
Beck’sche Reihe Band 33 1
V e r la g C . H . B e c k M ü n c h e n
„Dieses Buch von Inders ist, so meine ich,
eines der wichtigsten in diesen Jahren,
unerläßlich für jeden, der wissen wil, in
welcher Welt wir leben, und der in dieser
Welt über seinen Privatbereich hinaus mit-
wirken,ja verändernd wirken will. Aktionen
und Progr^^me, die nicht durch das Fege
feuer der Anders’schen Beobachtung gegan
gen sind, dürften sich vor dem Be^ginen
schon als überholt erweisen. Philosophie,
die von dieser Philosophie sich nicht
berühren läßt, dürfte sich als Luxus
erweisen.“ Helmut GoUwiteer
16.80