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Rezension

Bastian Hein, Die SS. Geschichte und Verbrechen (München: C. H. Beck, 2015).

von Riccardo Altieri

Der Privatdozent und Mitarbeiter im Bundes- 1926 auf etwa 1.000 Mann an, die wiederum in
kanzleramt, Bastian Hein, der sich bereits über 75 Staffeln unterteilt waren. Damit war die SS
die Geschichte der SS1 habilitiert hat, veröf- nicht zum letzten Mal um ein Vielfaches klei-
fentlichte 2015 eine kurze Einführung zur um- ner als die SA, die als „Frontbann“ unter Ernst
fassenderen Thematik der gesamten SS- Röhm (1887-1934) 1925 bereits circa 30.000
Geschichte mit speziellem Fokus auf ihre Ver- Mitglieder zählte. Bis zum Sommer 1934 blieb
brechen, die für den schnellen und informati- die SS deshalb der Obersten SA-Führung un-
ven Einstieg hervorragend geeignet ist. terstellt (S.11f.). Als die SS infolge der Welt-
Als „beinahe ‚normales‘ Kind ihrer Zeit“ beti- wirtschaftskrise bis Ende 1930 rund 4.000
telt Hein die Schutzstaffel (SS) im ersten Ab- Mitglieder vorweisen konnte, war die SA pa-
satz des Initialkapitels seines Buches (S.7). rallel auf 88.000 Kämpfer angewachsen; im
Damit meint er zweifelsfrei die Koexistenz Januar 1933 – also im Monat der nationalso-
unter einer schier unüberblickbaren Anzahl zialistischen „Machtergreifung“ – standen
von Freikorps – eine Einschätzung, die sicher- 52.000 Männer in den Reihen der SS und
lich zutreffend ist. Denn ebenso wie den Frei- 427.000 in Röhms SA (S.12). Trotz des quanti-
korps erging es den ersten Mitgliedern der SS, tativen Überhangs der SA lag der „Qualitätsan-
die den Verlust des Militärdienstes als Verlust spruch“ im Straßenkampf auf Seiten der SS,
der „Schule der Männlichkeit“ und der „Schule die deutlich häufigere und intensivere Ausei-
der Nation“ begriffen (S.8). Einer der Gründe, nandersetzungen mit dem Rotfrontkämpfer-
weshalb sich neben der Sturmabteilung (SA) bund der KPD oder dem Reichsbanner
noch eine weitere nationalsozialistische Orga- Schwarz-Rot-Gold der (Sozial-)Demokraten
nisation gründete, war Adolf Hitlers (1889- provozierte (S.13). „Die SS war also bis
1945) Unzufriedenheit mit der Unzuverlässig- 1933/34 keineswegs feiner, schicker oder res-
keit der SA-Angehörigen sowie deren teilweise pektabler als die SA (…), vielmehr war die
„Doppelmitgliedschaft“ in anderen Freikorps. Schutzstaffel bis 1934 Fleisch vom Fleische
Um zunächst also eine schnell greifbare der Sturmabteilung“ (S.14).
„Schlägertruppe“ in Reichweite zu haben, Im zweiten Kapitel skizziert Hein die sukzes-
gründete er im März 1923 eine Stabswache, sive Abspaltung der SS von der SA und den
der er zwei Monate darauf den martialischen Aufstieg Heinrich Himmlers (1900-1945) zum
Namen „Stoßtrupp“ verlieh (S.9). Als sich Reichsführer-SS. Zunächst führt der Autor
diese Organisation allerdings am 9. November kurz in die Biographie Himmlers ein (S.15)
1923 offen am Hitlerputsch beteiligte, wurde und verweist darauf, dass eine protofaschisti-
sie vorerst verboten (S.10). Nach Hitlers Frei- sche Genese2 des zunächst katholisch erzoge-
lassung wuchs der nun gegründete „Orden nen Heinrich seit Peter Longerichs umfassen-
unter dem Totenkopf“ unter Reichsführer-SS der Biographie3 ausgeschlossen werden kann.
Joseph Berchtold (1897-1962) bis zum Juli
2
Zuletzt im Jahr 1980 behauptet von Andersch,
1
Hein, Bastian: Elite für Volk und Führer? Die Alfred: Der Vater eines Mörders: Eine Schuldge-
Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925-1945, schichte, Zürich 72012.
3
München 2012 (Habilitationsschrift, Regensburg Longerich, Peter: Heinrich Himmler. Biographie,
2011). München 2008.
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Himmler zog eine Reihe – teils gesellschaftlich nahmerichtlinien nach und nach gelockert, um
eher ausgegrenzter – Individuen auf einfluss- das Volk nach Karl Marx’ (1818-1883) unge-
reiche Posten. Den Chef des Sicherheitsdiens- liebter „Klassenkampftheorie“ nicht in Wider-
tes (SD) Reinhard Heydrich (1904-1942) rette- stand aufgrund einer „Rassenkampftheorie“ zu
te er nach dessen unehrenhafter Entlassung aus bringen, was Hitlers „Volksgemeinschaftsideo-
der Reichsmarine infolge sexueller Eskapaden logie“ (S.35) widersprochen hätte. Um auf-
und den „Inspektor der Konzentrationslager“ grund des mäßigen Zuwachses an Mitgliedern
Theodor Eicke (1892-1943) rehabilitierte er eine zuverlässige Quelle zu akquirieren, be-
sogar aus der geschlossenen Psychiatrie (S.17, schlossen Himmler und Baldur von Schirach
63). Nach Röhms Beförderung zum Reichsmi- (1907-1974), die 10 % der besten eines jeden
nister, dem 4,5 Millionen SA-Männer unter- Jahrganges in der Hitlerjugend direkt an den
standen, was Himmler als Münchner Polizei- „Schwarzen Orden“ zu übergeben (S.36).
präsident mit einigem Argwohn beobachtete, Zwischen 1934 und 1937 musste sich die SS
konnte er zwischen dem 30. Juni und 2. Juli wiederholt der öffentlichen Kritik stellen, le-
1934 seine gesamte Schutzstaffel alarmieren, diglich eine Bande dienstunlustiger, interessen-
die im Anschluss in etlichen SS- loser Trunkenbolde zu sein, die in ihren eige-
Rollkommandos eine vorbereitete „schwarze nen Reihen nicht nur Homosexuelle, sondern
Liste“ abarbeitete und circa 1.100 Personen sogar Juden duldeten, wie beispielsweise Emil
verhaftete; zwischen 150 und 200 – darunter Maurice (1897-1972), der als Gründungsmit-
auch Röhm selbst – von ihnen fanden dabei glied des Stoßtrupps Hitler und als dessen
einen gewaltsamen Tod (S.22f.). Duzfreund sogar als „Ehrenarier“ geduldet
In der Folge sollte es Himmler gelingen, seine wurde (S.38). Zur nachhaltigen Disziplinierung
Vorstellungen des perfekten, nordischen „Ari- seiner Schutzstaffel führte Himmler die „Ge-
ers“ in die Tat umzusetzen. Er proklamierte die schenkkartothek“ ein, die mit kleinen Ge-
Schutzstaffel als „‚Auslese besonders ausge- schenken wie Schokolade oder Fruchtsäften,
suchter Menschen‘ der ‚nordischen Rasse‘“ aber auch mit Zuschüssen und Krediten aus
(S.25) und legte zunächst fest, dass der ideale dem „Sonderkonto R“ die Moral der Truppe
SS-Mann mindestens 1,70 m groß sein musste. aufrecht erhalten sollte (S.41).
Seine Mimik musste auf Offenheit, Gehemmt- Auch auf dem sportlichen Feld war Himmlers
heit, Psychopathie oder ein undefiniertes Lau- „Elite“ nicht annährend so gut, wie er es sich
ern hin untersucht werden, Gesicht und Schä- gewünscht hätte. Das Reichssportabzeichen,
del wurden nach den Richtlinien der Eugeniker das unter anderem einen Fünfkilometerlauf in
vermessen und auf ihre „nordische“ Qualität unter 25 Minuten, einen Fünfundzwanzigkilo-
geprüft (S.30). Ein sogenannter „Erbgesund- metermarsch in unter vier Stunden und einen
heitsbogen“, der sogar die Sterilisation der Kugelstoß von 16 Metern erforderte, erlangten
noch lebenden Verwandtschaft bedeuten konn- nur rund 10 % (S.43). Und selbst auf intellek-
te, war man nicht vollständig gesund, war tueller Ebene – vor allem im Bereich der Aus-
ebenso obligatorisch wie ein Nachweis über bildung – glänzte die Schutzstaffel nicht durch
die „arische“ Herkunft bis zum Jahr 1800 außerordentliche Raffinesse. So bediente man
(S.31). Bewertet wurden zudem Körperbau, sich beispielsweise in der Erziehung zum Anti-
„rassische“ Qualität und „soldatische“ Ge- semitismus der „Protokolle der Weisen von
samthaltung (S.32). Da so gut wie nie sämtli- Zion“ (S.46), die schon seit 1920 in der Lon-
che Kriterien erfüllt waren, wurden die Auf- doner Times als Fälschung identifiziert wur-
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den.4 Die numerisch begrenzten kognitiven lantis“ für bare Münze nahmen, was erst 1937
„Leuchttürme“ innerhalb der SS resultierten aufgeklärt werden konnte (S.54).
womöglich aus der Rekrutierungspolitik, die es Im Februar des Jahres 1933 entschied man
einem SS-Offizier nicht vorschrieb, ein Abitur sich, dass 15.000 der 50.000 Mann starken
besitzen zu müssen, einem Offizier der Wehr- Hilfspolizei Angehörige des „Schwarzen Or-
macht hingegen schon (S.63). dens“ sein mussten. Ihre Hauptaufgabe lag im
Ein weiterer Aspekt, den Hein in seinem Buch Kampf gegen Kommunisten und Sozialdemo-
untersucht, ist die Religiosität der Schutzstaf- kraten als „Erzfeinde der Nationalsozialisten“
fel, um die sich nicht selten unbelegte Mythen (S.59). Politische Häftlinge dieser beiden Par-
ranken. Spirituell kam die Inspiration zur nor- teien wurden in erster Linie in das Konzentra-
dischen Götterwelt von Karl Maria Wiligut tionslager Dachau deportiert, wo Himmler den
(1866-1946), einem ehemaligen k. u. k. Offi- gewaltbereiten Theodor Eicke – am 1. Juli
zier aus Österreich, der sich seit den 1920er 1934 war er es, der Ernst Röhm in Stadelheim
Jahren als „Weisthor“ bezeichnete (S.49). Die- erschossen hatte – als Kommandanten einge-
ser sah sich selbst als Nachfahre germanischer setzt hatte. Dessen „Modell-KZ“ sollte maß-
Könige mit der interessanten „Begabung“ des geblich den Alltag in allen Konzentrations-
Erbgedächtnisses, was ihm ein umfassendes und Vernichtungslagern mitbestimmen (S.62).
Wissen aus der antiken Welt verschaffen soll- Da sich Ende 1934 die Häftlingszahl in sämtli-
te. Als Himmler in der zweiten Hälfte der chen Konzentrationslagern auf 3.000 reduziert
1930er Jahre herausfand, dass Wiligut von hatte, ordneten der Reichsjustizminister Franz
1924 bis 1927 in einer Nervenheilanstalt war, Gürtner (1881-9141) und der Reichsinnenmi-
distanzierte sich der Reichsführer-SS von sei- nister Wilhelm Frick (1877-1946) die Abschaf-
nem einstigen Idol. Jeglicher „kultische Un- fung der Lager an. Hitler widersprach dem
fug“ in diesem Zusammenhang sollte von Alf- Einwurf der „Legalisten des Unrechtsstaates“5
red Rosenberg (1892-1946) abgestellt werden und gab damit Himmlers „extralegalen KZs“
(ebd.). Da es den Angehörigen der SS freige- den Vorzug (S.65). Dessen „wichtigster Ver-
stellt war, aus der Kirche auszutreten, verlie- bündeter“ in der anschließenden Fusion aus SS
ßen bis Ende 1938 rund 61.000 Männer die und Polizei war Reinhard Heydrich. Nach der
katholische oder evangelische Gemeinde und Usurpation der Geheimen Staatspolizei wurde
galten fortan dem Pass nach als „gottgläubig“. Himmler von Hitler – einem Versprechen
Mit einem Anteil von 20 % waren die „Gott- nachkommend – zum „Chef der deutschen
gläubigen“ in der SS fünfmal so stark vertreten Polizei“ ernannt (S.69). Die Führung der Kri-
wie im Rest der Bevölkerung (S.50). minalpolizei ging in der Folge an Heydrich,
Ein weiterer Fauxpas unterlief den Nationalso- und „wo irgend möglich wurden neu geschaf-
zialisten, als sie die 1933 ins Deutsche über- fene Stellen mit SS-Männern besetzt“ (S.70).
setzte und von Herman Wirth (1885-1981) Ordnungsbeamte kamen dabei in die Allge-
herausgegebene „Ura-Linda-Chronik“ mit meine SS, Sicherheitspolizisten in den SD.
ihren angeblich germanischen Relationen zu Zwei der wenigen akademisch gebildeten Bei-
den sagenumwobenen Inseln „Thule“ und „At- spiele für die Einrichtung des Reichssicher-
heitshauptamtes waren der Niedersachse Otto
4
Sammons, Jeffrey L. (Hg.): Die Protokolle der
5
Weisen von Zion: die Grundlage des modernen Neliba, Günter: Wilhelm Frick. Der Legalist des
Antisemitismus – ein Fälschung. Text und Kommen- Unrechtsstaates. Eine politische Biographie, Pa-
tar, Göttingen 42007, S.21. derborn 1998.
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Ohlendorf (1907-1951) und der Promovierte jedoch kaum bestritten werden, zumal ihre
Werner Best (1903-1989). Mit einer Abseg- Haupteinsatzzeit nach der Kriegswende von
nung durch Hitler selbst stellten die beiden 1941 lokalisiert werden muss (S.84).
Juristen zahllose Weichen für die härtere Be- „Noch weit mehr Energie als in die ‚Germani-
strafung von Einbrechern, Homosexuellen, sierung‘ der Ostgebiete steckten die Männer
„Zigeunern“, Prostituierten, Obdachlosen, der Schutzstaffel in den Versuch, ihr Herr-
Bettlern, Alkoholikern und Frauen, die abge- schaftsgebiet ‚judenfrei‘ zu machen.“ Bis Ende
trieben hatten. Nach dem „Anschluss“ Öster- 1937 hatten deshalb bereits 127.000 Juden das
reichs 1938 folgten noch Juden aus dem neuen Deutsche Reich verlassen (S.90). An dieser
Reichsgebiet und die Zahl der „Schutzhäftlin- Stelle führt Hein eine weitere „gescheiterte
ge“ in den Konzentrationslagern stieg auf Existenz“ an: Adolf Eichmann (1906-1962).
54.000 an (S.73). Oswald Pohl (1892-1951) Durch den Polenfeldzug waren 1,7 Millionen,
war es schließlich, der den Alltag der Gefan- durch den Russlandfeldzug weitere 2,5 Millio-
genen konstruierte, indem er das Moment der nen Juden in den Herrschaftsbereich der Nati-
Zwangsarbeit einführte. Mit der zynischen onalsozialisten gelangt. Ab dem Frühjahr 1941
Inschrift „Arbeit macht frei“ an vielen Lagern ging man rücksichtslos gegen Männer, Frauen
im gesamten Reichsgebiet unterstrich er seinen und Kinder jüdischen Glaubens vor (S.93).
grausamen Humor (S.74). Wer sich gegen die Erschießungsbefehle wei-
Das fünfte Kapitel befasst sich mit den Ein- gerte, wurde zumeist strafversetzt oder ander-
satzgebieten der Schutzstaffel während des weitig bestraft, Inhaftierungen oder gar Exeku-
Weltkrieges. Schon die Leibstandarte Adolf tionen hatte jedoch entgegen der weitläufigen
Hitler übernahm früh die Funktion einer Präto- Meinung kein SS-Mann zu befürchten (S.94).
rianergarde für den „Führer“ (S.77). Als Ein- So führte die neue Praxis zu Handlungsmus-
heiten der Totenkopfverbände im Polenfeldzug tern, die den gewöhnlichen Soldaten psychisch
eingesetzt wurden, taten sie sich jedoch nicht überforderten. Das grausame Verbrennen von
entscheidend hervor: „Eine durchschnittliche 700 in eine Synagoge gesperrten Juden in Bia-
Einheit, noch unerfahren, nichts Außerge- lystok am 27. Juni 1941, die Ermordung von
wöhnliches“, urteilte General Johannes Blas- 35.000 Juden in den Pripjat-Sümpfen zwischen
kowitz in diesem Kontext (S.79). Nach herben Juli und September 1941 oder das 36 Stunden
Verlusten und mangelnden Rekrutierungser- andauernde Akkord-Erschießen von 33.000
folgen entschied man sich rasch, Neumitglie- Kiewer Juden am 29. September 1941 und die
der der Waffen-SS auch in Skandinavien, den anschließende „Bestattung“ unter einer ge-
Beneluxstaaten und Frankreich, aber inkonse- sprengten Klippe sorgten für nervliche Zu-
quenter Weise auch in Estland, Litauen, Lett- sammenbrüche, Magengeschwüre, Alkoholex-
land, Weißrussland, Ungarn, Kroatien, Bosnien zesse oder psychosomatische Erkrankungen
und der Ukraine einzuziehen. Hein analysiert (S.94f.). „Sehen Sie in die Augen der Männer
treffend, dass diese Praxis einer Vielvölkerar- des Kommandos, wie tief erschüttert sie sind!
mee in „krassem Widerspruch zur eigenen Solche Männer sind fertig für ihr ganzes Le-
Ideologie“ stand (S.81). Begründet wurde die- ben. Was züchten wir uns damit für Gefolgs-
ser „Makel“ mit Abendlandsdiskursen und männer heran? Entweder Nervenkranke oder
antibolschewistischer Rhetorik (S.81f.). Rohlinge“, diagnostizierte Erich von dem
Kriegsentscheidende militärische Manöver Bach-Zelewski (1899-1972) dem Reichsfüh-
konnten von den Verbänden der Waffen-SS rer-SS (S.95).
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Eine der grausamsten menschlichen Taten ist das auf Blausäure basierende Zyklon B der
und bleibt die Euthanasie während der „Aktion Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämp-
T4“ unter der Aufsicht des Arztes Viktor Her- fung (Degesch) (S.100). Nicht nur aus den
mann Brack (1904-1948). Nachdem 70.000 rund 50 Außenlagern, auch aus dem Deutschen
Erwachsene und 5.000 Kinder dem Wahnsinn Reich kamen über die sogenannten Eichmann-
zum Opfer gefallen waren, intervenierten die Transporte ab März 1942 regelmäßig Gefan-
Kirchen und Hitler ließ die Vergiftungen offi- gene in das Vernichtungslager. Die Erfurter
ziell einstellen, nur um sie kurz darauf erneut Firma Topf & Söhne stellte die Hochleistungs-
einzusetzen. Bis Kriegsende starben 190.000 krematorien her, um das Pensum von Tausen-
Menschen mit Behinderung an dieser „Be- den Toten pro Tag einhalten zu können
handlung“ (S.96). Vergleichbar war auch die (S.101). Bis zur Befreiung durch die Rote Ar-
Tötung von 500.000 Juden durch Auspuffgase, mee am 27. Januar 1945 starben in Auschwitz
die mithilfe von 30 fahrbaren Gaswägen unter rund 1,1 Millionen Menschen, davon 900.000
der Verantwortung von SS-Sturmbannführer in den Gaskammern.
Walther Rauff (1906-1984) vollzogen wurde. Das sechste und letzte Kapitel widmet der
Allein in Kulmhof starben bis 1945 circa Autor der Nachkriegszeit und vor allem der
150.000 Menschen durch die Hand von SS- gerichtlichen Verfahren gegen die NS-
Männern (S.97). Odilo Globocnik (1904- Verbrechen. So äußerte sich der Münchner
1945), in SS-Kreisen als „Globus“ bekannt, Polizeipräsident in diesem Kontext derartig,
hatte mit seiner Verantwortung für gleich drei dass die „große Masse“ der SS-Angehörigen
Konzentrationslager – Belzec und Sobibor in rein gar nichts von der Judenvernichtung ge-
der Nähe von Lublin und Treblinka nordöstlich wusst hätte (S.104). Obwohl die Nürnberger
von Warschau – die zahlenmäßig meisten Op- Prozessrichter die Schutzstaffel in allen drei
fer zu verzeichnen (ebd.). Während der „Akti- Anklagepunkten – Verbrechen gegen den Frie-
on Reinhard“ zu Ehren Heydrichs – des „Ar- den, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen
chitekten des Holocaust“ – wurden dort allein die Menschlichkeit – schuldig gesprochen
1,5 Millionen Juden umgebracht (S.98). hatte, mussten nur die wenigsten der 750.000
Nach der Wannseekonferenz vom 20. Januar SS-Veteranen persönliche Konsequenzen
1942 war das Schicksal für 11 Millionen Juden fürchten (S.105). In der amerikanischen Zone
in Europa von der nationalsozialistischen wurden beispielsweise 27.656 SS-Männer
„Endlösung der Judenfrage“ betroffen. Die verurteilt, davon befand man jedoch nur 111
endgültige Antwort sollte das Konzentrations- für „Hauptschuldige“ und 2.592 für „Belaste-
und Vernichtungslager Auschwitz sein. Dessen te“ (ebd.). In den drei westlichen Besatzungs-
Kommandant Rudolf Höß (1900-1947) trat zonen wurden insgesamt nur 5.025 Menschen
bereits 1922 in die NSDAP ein, verbrachte überhaupt verurteilt, davon 806 zum Tode,
dann jedoch die Jahre 1923 bis 1928 wegen wovon wiederum nur 486 tatsächlich voll-
Mordes im Gefängnis. Über die gesamte Zeit streckt wurden. In der sowjetischen Zone wur-
seines Schaffens zweifelte Höß kein einziges den von 5.000 Verurteilten etwa 1.000 hinge-
Mal an seinen Taten und beteuerte während richtet (S.106). Auch im langen Nachkriegs-
seiner Haft in Polen, dass er seine „‚Leistun- prozess wurden „bis 2005 nur 166 NS-Täter
gen‘ in Himmlers Diensten“ nicht bereue von deutschen Richtern zu lebenslang verur-
(S.99). Unter seiner Ägide wechselte man im teilt“ (S.107). Verständlicherweise kommen-
Vergasungsprozess von Kohlenmonoxid auf tierte der Tübinger Strafrechtsprofessor Jürgen
Rezension

Baumann (1922-2003) diesen Sachverhalt wie (1903-1987). Sein Eindruck war – dessen
folgt: „Ein Täter und sechzig Millionen Gehil- konnte man sich während der Lektüre der Mo-
fen – das deutsche Volk, ein Volk von Gehil- nographie nur selten erwehren: Bei den Ange-
fen“ (S.108). Diejenigen Täter, die sich ihres hörigen des „Schwarzen Ordens“ handelte es
juristischen Schicksals zu entziehen versuch- sich vorwiegend um „Tiefunzufriedene,
ten, kamen zum Teil in Francisco Francos Nichterfolgreiche, durch irgendwelche Um-
(1892-1975) faschistischem Spanien oder dem stände Zurückgesetzte, um Minderbegabte
Argentinien unter Juan Perón (1895-1974) aller Art und häufig genug um sozial geschei-
unter. Allein im letzten Fall waren es 180 NS- terte Existenzen“ (S.116).
Täter, unter ihnen Adolf Eichmann und Josef
Mengele (1911-1979) (S.111). Nach zum Teil Würzburg, den 27.3.2015
jahrelangen Haftstrafen konnten ehemalige SS-
Männer in Deutschland auf Seilschaften und
Vetternwirtschaft bauen. Firmen wie Porsche
und die Allianz-Versicherung, aber auch die
Akademie für Führungskräfte in Bad Harz-
burg, die „Managerkaderschmiede der Bundes-
republik“, nahmen die Kameraden von einst
mit offenen Armen auf (S.112). Im Jahr 1958
waren 33 der 57 leitenden Beamten im Bun-
deskriminalamt (BKA) ehemalige SS-Männer,
im Bundesamt für Verfassungsschutz fanden
sich über ein Dutzend wieder (S.113). Der
22.000 Mann starke Waffen-SS-Veteranen-
Verband „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitig-
keit“ (HIAG) wurde von Bundeskanzler Kon-
rad Adenauer (1876-1967) ebenso umgarnt wie
von Oppositionsführer Kurt Schumacher
(1895-1952). In der Folge gewährte man den
SS-Männern sogar Anrechnungen auf die Ren-
tenversicherung für ihre Jahre in der Waffen-
SS (ebd.). Lediglich die Bundeswehr war auf-
grund ihrer strengen Einzelfallprüfung kein
großes Sammelbecken für Altgediente. 1960
fanden sich lediglich „700 ehemalige SS-
Angehörige im Sold“ des neuen Dienstherren
wieder (S.114).
Zuletzt verweist der Autor auf den Zeitzeugen-
bericht eines Häftlings, der sieben Jahre von
der SS misshandelt wurde – der intellektuelle
Vater der Bundesrepublik, Eugen Kogon6
Bastian Hein: Die SS. Geschichte und Verbrechen.
6
Kogon, Eugen: Der SS-Staat – Das System der C. H. Beck: München 2015, 126 Seiten, broschiert.
deutschen Konzentrationslager, München 442006. Erschienen am 10.2.2015.

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