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Zdenek Zofka:

Die Entstehung des NS-Repressionssystems


oder: Die Machtergreifung des Heinrich Himmler
Die Entstehung des NS-Repressionssystems ist eng verknüpft mit der Karriere Heinrich Himmlers, des „Reichsführer SS“.
Seinem fulminanten Aufstieg stellten sich viele Widersacher entgegen, keineswegs aus persönlicher Rivalität, sondern vor
allem, weil sie programmatisch ganz andere Vorstellungen verfolgten. Der Reichsführer SS hatte jedoch einen wichtigen
Verbündeten: Adolf Hitler. Der „Führer“ blieb zunächst im Hintergrund, gab sich scheinbar zögerlich und traf sogar eine
Reihe von Entscheidungen, die für Himmlers Aufstieg als Rückschlag gewertet werden mussten. Aber letztendlich konnte
sich der Reichsführer SS mit seinen Vorstellungen voll durchsetzen, weil Hitler, dessen Machtposition inzwischen gefestigt
war, sich immer offener auf seine Seite stellte. Der vorliegende Artikel präsentiert Auszüge eines Referates, das im Rahmen
der Veranstaltung der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit „Anfänge der Braunen Barbarei“ am
21. November 2003 in Nürnberg gehalten wurde.

„Die Autorität des Staates steht in störung der Staatsautorität durch die strumentarium des Staates, das von
Gefahr durch die allseitigen, unberech- maßlose Hybris der Parteiinstanzen Diktaturen missbraucht werden
tigten Eingriffe politischer Funktionäre zum Ausdruck bringt. Die nationalso- kann, um damit die Opposition und
in das Räderwerk der normalen Ver- zialistische „Revolution“ droht aus die Bevölkerung insgesamt zu unter-
waltung. Jeder NSBO-Mann, NSBO- dem Ruder zu laufen. drücken: Polizei und Justiz. Sie spiel-
Ortsgruppenleiter, NSBO-Kreisleiter Die wichtigsten Ziele sind längst ten auch im Repressionssystem des
. . . jeder politische Stützpunktleiter, erreicht: Die Gewerkschaften sind NS-Staates eine wichtige Rolle, wur-
Ortsgruppenleiter, politische Kreisleiter zerschlagen, die Parteien sind verbo- den jedoch maßgeblich ergänzt durch
erlässt Verfügungen, die in die unteren ten oder haben sich aufgelöst, Länder die Partei, die selbst eine wichtige
Befehlsgewalten der Ministerien eingrei- und Gemeinden sind gleichgeschaltet, Funktion in diesem System über-
fen, also in die Befehlsbefugnisse der etc. Doch der Terror geht weiter. Noch nahm: Als Massenorganisation war
Kreisregierungen, Bezirksämter, runter immer existieren mehr als hundert sie bestens geeignet, die Kontrolle der
bis zur kleinsten Gendarmeriestation. überwiegend kleine Konzentrations- Gesamtbevölkerung im Alltag zu
Jeder verhaftet jeden . . ., jeder droht lager, in denen Oppositionelle in übernehmen, man denke nur an die
jedem mit Dachau . . . Bis zur kleinsten „Schutzhaft“ gehalten werden. Nie- berüchtigten Zellen- und Blockwarte.
Gendarmeriestation ist bei den besten mand mehr hat einen Überblick, wer Durch die totale Durchdringung des
und zuverlässigsten Beamten eine in diesen Lagern noch festgehalten Vereinslebens, d. h. durch die „Gleich-
Instanzenunsicherheit eingetreten, die wird. Es unterliegt der ganz persönli-
sich unbedingt verheerend und staats- chen Willkür lokaler Nazigrößen, wen
zerstörend auswirken muss.“ sie verhaften, wen sie eingesperrt las-
sen und wen sie frei lassen. Wie hat
Diese Sätze, geschrieben am 1. Ju- sich aus dem Chaos der frühen Kon- In dieser Ausgabe:
li 1933, also ein knappes halbes Jahr zentrationslager, aus dem anfängli-
nach der Ernennung Hitlers zum chen „Terror ohne System“ das über- Die Entstehung des NS-
Reichskanzler, stammen nicht aus aus effiziente, durchorganisierte Repressionssystems . . . . . . . . . . . . 1
der Feder eines in den Untergrund Repressionssystem des „Dritten Bilder von Afrika vom Beginn
gegangenen Sozialdemokraten oder Reichs“ entwickelt? „Repressionssys- des kurzen 20. Jahrhunderts
Kommunisten, sondern sie wurden tem“ – was soll man sich darunter der Europäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
von einem Nationalsozialisten formu- vorstellen? Was sind seine Bestand- „Sushi statt Schweinebraten“ 14
liert, einem hohen SA-Offizier, dem teile? Klaus Schroeder:
Sonderkommissar der Obersten SA-
Rechtsextremismus und
Führung bei der Regierung von Ober- Der Kern des NS-Repressi- Jugendgewalt in Deutschland 16
bayern, SA-Gruppenführer Schmid,
onssystems: Gestapo und KZ Bilanz der Bundestagswahl
der in seinem Brandbrief an den
Bayerischen Ministerpräsidenten Sie- Zum NS-Repressionssystem ge- 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
bert seine Bestürzung über die Zer- hörte zu allererst das klassische In-

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überhaupt fortgeführt werden sollte,
und wenn ja, nach welchem Modell es
sich orientieren sollte, Schutzhaftbe-
griff und Gegnerdefinition waren hef-
tig umstritten und auch hier spielte
die Frage der Zuordnung zur Justiz,
eine wichtige Rolle, also z. B. die Fra-
ge, ob Anwälte bei Schutzhaftfällen
hinzugezogen werden sollten oder
nicht.

Maßnahmenstaat gegen
Normenstaat
In diesem Konflikt gegenüber
standen sich Himmler und seine SS-
Untergebenen, vor allem Heydrich
und Best, auf der einen Seite, auf der
anderen Seite die „Etatisten“, die
nationalsozialistischen Spitzenpoliti-
ker, die sich, ähnlich wie der ausführ-
lich zitierte SA-General Schmid, Sor-
gen um die Autorität des Staates
machten, und die die Machtausübung
schaltung“ aller Vereine und Organi- Gestapo den Regierungspräsidenten im NS-Regime in erster Linie in den
sationen zerstörte sie praktisch die und Oberpräsidenten zugeordnet Händen der traditionellen Staatsins-
Kommunikationsbasis jeglicher frü- werden sollten und wie das Verhält- titutionen sehen wollten. Man kann
herer oder potentieller neuer Opposi- nis zwischen Gestapo und Justiz aus- Letztere – nach der Theorie Ernst
tion und erstickte sie damit im Keim. sehen sollte. Was das KZ-System be- Fraenkels vom nationalsozialistischen
Auch die Untergliederungen der NS- traf, so stand zunächst in Frage, ob es Doppelstaat – auch als Vertreter des
DAP spielten eine wichtige Rolle, ins-
besondere SA und SS, die Terrorinst-
rumente des NS-Staates schlechthin, Alltag im Nationalsozialismus:
aber auch in zunehmendem Maße die Die NS-Jugendorganisation bringt die
Jugendorganisationen HJ und BDM, politische Kontrolle
die die ideologische Kontrolle des Re-
gimes bis in das intime Familienleben
bis in die Familie
hineintrugen.
Den eigentlichen Kern des Repres-
sionssystems bildete jedoch der Ver-
bund aus Konzentrationslagern und
Gestapo, beide Einrichtungen übten
staatliche Funktionen aus – politische
Polizei und Strafvollzug –, wurden
aber aus dem Staatsapparat heraus-
gelöst und gerieten zunehmend unter
die Kontrolle einer Parteiuntergliede-
rung, der SS, d. h. des Reichsführers
SS Heinrich Himmler. Der Prozess
der Machtübernahme der SS über
Konzentrationslager und Gestapo „Mutter, du soll-
ging einher mit dem Aufstieg dieses test vorsichtiger
Mannes vom Polizeipräsidenten der sein mit deinen
Stadt München im März 1933 bis zur Äußerungen, ich
Ernennung zum Chef der deutschen trage das Kleid
Polizei im Frühjahr 1936. des Führers!“
Bis zu diesem Zeitpunkt war auch
das NS-Repressionssystem weitge-
hend ausgebaut.
Doch der Weg bis zu diesem Stadi-
um verlief keineswegs gradlinig und
war von heftigen Konflikten geprägt.
Was die Gestapo betrifft, so wurde
z. B. um die Frage gestritten, ob sie in
die Polizei wieder eingegliedert und
dem Innenministerium zugeordnet Quelle:
werden sollte, ob die Leitstellen der Kurt Halbritter: Adolf Hitlers „Mein Kampf“ – Gezeichnete Erinnerungen an eine Große Zeit, Frankfurt 1968

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„Normenstaates“ sehen, die SS-Seite
als Vertreter des „Maßnahmenstaa-
tes“, obwohl streng genommen die
Kerninstitutionen des NS-Repressi-
onssystems, KZ-System und Gestapo,
gar keine wirklich staatlichen Institu-
tionen mehr waren, da sie durch die
SS quasi „entstaatlicht“ (Buchheim)
wurden.
Zu diesen „Etatisten“ gehörte zu
allererst der Reichsinnenminister
Frick, der die Gestapo wieder in die
Polizei eingliedern und dem Innenmi-
nisterium unterstellt sehen wollte,
der aus der DNVP kommende Reichs-
justizminister Gürtner, und auch,
wenngleich mit Abstrichen, der Preu-
ßische Ministerpräsident Hermann
Göring, der allerdings gelegentlich
ausscherte und zumindest in einem
Fall auch ein Bündnis mit Himmler
gegen Frick (in der Frage der Zuord-
nung der Gestapo zum Innenministe-
rium) schloss. Besonders in Bayern, Luftaufnahme des KZ Dachau von 1944 oder 1945
wo Himmlers Karriere ja ihren Ur-
sprung genommen hatte, standen ihm
auf Regierungsebene viele „etatisti- so wurde aus dem Konzentrationsla- deshalb zwangläufig dann auf den
sche“ Gegner gegenüber, allen voran ger für ihn eine Institution, über die Widerstand der Justiz treffen. Justiz-
der Reichsstatthalter Franz Ritter er völlig uneingeschränkt, ohne an minister Hans Frank berief deshalb
von Epp, Ministerpräsident Siebert Ordnung und Gesetz gebunden zu am 2. Juni 1933 eine Besprechung
und Justizminister Hans Frank. sein, verfügen konnte, wobei aber die ein, an der auch Reichsstatthalter
Hitler erschien anfangs schwan- staatliche Besoldung der SS-Wach- Epp und Ministerpräsident Siebert
kend, zeigte sich beeinflussbar durch mannschaften bestehen blieb, da die- teilnahmen. Diese Zusammenkunft
Gesprächspartner und durch klar do- se ja eine staatliche Aufgabe erfüll- auf höchster Ebene wurde für Himm-
minierende Meinungen bei großen ten. ler zum Fiasko: Er wurde so in die
Besprechungen, schlug sich jedoch im Kaum war die Landespolizei abge- Enge gedrängt, dass ihm nichts ande-
Laufe des Jahres 1935 dann zuse- rückt, kam es in Dachau zu einer Se- res übrig blieb, als sich von seinem
hends auf die Seite Himmlers, und rie von Morden, was allerdings die Lagerkommandanten zu distanzieren
verhalf ihm so zum endgültigen Staatsanwaltschaft tätig werden ließ, und diesen abzuberufen.
Durchbruch. die die Todesursachen untersuchte
und Verfahren eröffnete. Himmler Eickes „Disziplinar- und
Konflikt um die Dachauer musste tief in die Trickkiste greifen, Strafordnung“
um die Strafverfahren gegen seine
Lagerordnung Untergebenen abzuwenden. Bei den Als Nachfolger setzte er den nicht
Doch zwei Jahre zuvor, 1933, am Ermittlungen war die Staatsanwalt- minder brutalen Theodor Eicke ein,
Beginn von Himmlers Aufstieg, war schaft jedoch auch auf die Lagerord- der alsbald mit der Formulierung ei-
dies noch keineswegs absehbar. Im nung des Konzentrationslagers Dach- ner neuen „Disziplinar- und Straford-
Gegenteil: Nach seinen ersten Erfol- au gestoßen, die vom ersten Lager- nung“ begann, die am 1. Oktober 1933
gen geriet Himmler erst einmal stark kommandanten Dachaus, Hilmar in Kraft trat. Der Text dieser neuen
unter Druck und musste eine herbe Wäckerle, verfasst worden war. Die- Lagerordnung machte natürlich Kon-
Niederlage einstecken. Was war ge- ser hatte das Standrecht über Dachau zessionen an die Kritik aus der Justiz,
schehen? Am 22. März 1933, wenige verhängt und eine eigene „Gerichts- so wurde beispielsweise der Begriff
Tage nach seiner Ernennung zum barkeit“ für das Konzentrationslager „Gerichtsbarkeit“ vermieden. Sub-
Polizeipräsidenten von München, verkündet, die vom Lagerkomman- stantiell änderte sich jedoch nichts,
hatte er in einer Pressekonferenz die danten auszuüben sei. Nur bei Fällen im Gegenteil. So wurde das Strafsys-
Eröffnung des neu geschaffenen Kon- von „Widersetzlichkeit“, für die die tem „verfeinert“, in dem z. B. die Prü-
zentrationslagers Dachau bekannt Todesstrafe vorgesehen war, sollte gelstrafe eingeführt wurde. Die To-
gegeben. ein aus SS-Leuten bestehendes La- desstrafe wurde keineswegs abge-
Das Lager war als staatliches Kon- gergericht eingesetzt werden, dessen schafft, sondern nur rechtlich anders
zentrationslager gegründet worden, Vorsitz ebenfalls vom Kommandan- abgesichert. So heißt es z. B. in dem
wenige Wochen später wurde es je- ten geführt werden sollte. Ein Rechts- Dokument: „Wer Greuelpropaganda
doch von der SS übernommen, die beistand für angeklagte Häftlinge weitergibt, wird Kraft revolutionären
bislang als Hilfspolizei dort Wach- war nicht vorgesehen. Rechts als Aufwiegler gehängt . . .“.
dienste geleistet hatte. Der „politische Diese Lagerordnung, die tief in die Die Berufung auf das Ausnahme-
Polizeikommandeur“ Himmler über- Angelegenheiten der Justiz eingriff, recht der „nationalen Revolution“
gab also das von ihm gegründete La- und nach rechtsstaatlichen Gesichts- sollte Justiz und Staat die Möglich-
ger an den Reichsführer SS Himmler, punkten völlig untragbar war, musste keit geben, sich von den Vorgängen in

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den Konzentrationslagern distanzie- freien konnte, scheint es ihm ein Be- wuchsen, wurde doch gleichzeitig das
ren zu können. Der tschechische His- dürfnis gewesen zu sein, durch neue Eis, auf dem er sich bewegte, immer
toriker und ehemalige Dachauhäft- Provokationen zu signalisieren, dass dünner: Zu dem Zeitpunkt, an dem er
ling Stanislav Zamecnik bringt er nicht daran dachte, sich der Justiz begann, sich auf das „revolutionäre
Himmlers Taktik trefflich auf den zu unterwerfen. So ist auch der zen- Recht“ zu berufen, hatte Hitler längst
Punkt: „Was Himmler als Staatsbe- trale Satz in der Einleitung zu Eickes das Ende der nationalsozialistischen
amter mit Hilfe der ‚Sonderbestim- Disziplinarordnung zu verstehen: Revolution verkündet. Die überra-
mungen‘ nicht durchsetzen konnte, da „Die vollziehende Strafgewalt liegt in schend schnelle Konsolidierung des
diese im Widerspruch zur geltenden den Händen des Lagerkommandan- NS-Staates stärkte eher die Position
Rechtsordnung standen, verschob er ten, welcher für die Durchführung der seiner Gegner, die „Etatisten“ waren
als Parteifunktionär, als Reichsführer erlassenen Lagervorschriften dem im Aufwind.
SS, auf das Feld einer Art revolutio- politischen Polizeikommandeur per- Vor allem Göring und Frick schlu-
nären Rechts“. sönlich verantwortlich ist.“ gen nun einen scharfen Kurs gegen
Bei den Vorschriften für die Wach- Das bedeutet doch nichts anderes, SS und SA ein, der darauf abzielte,
mannschaften findet sich auch der als, dass diese neuen Lagervorschrif- der Wegherrschaft der beiden Organi-
denkwürdige Satz „Selbsthilfe bedeu- ten Himmler bekannt sein mussten, sationen ein Ende zu setzen, die
tet Mangel an Disziplin“. Hier wird und, dass er, der „politische Polizei- Schutzhaft einzuschränken und die
deutlich, worum es der SS ging: Der kommandeur“ von Bayern sich klar Konzentrationslager Schritt für
von ihr in den Konzentrationslagern zu seiner Verantwortung für die Vor- Schritt aufzulösen. Inzwischen waren
ausgeübte Terror sollte nicht der gänge in „seinem“ Konzentrationsla- Maßnahmen ergriffen worden, die es
Willkür der Wachleute überlassen ger bekannte. Das bedeutete für jeden der Justiz ermöglichten, gegen das
bleiben, sondern er sollte gezielt und ermittelnden Staatsanwalt, dass er NS-Regime gerichtete politische Akti-
kontrolliert stattfinden, auf Anord- nicht gegen einzelne Täter in den vitäten verfolgen zu können, so die
nung oder zumindest mit Wissen und Konzentrationslagern sondern gegen Einrichtung von Sondergerichten und
Billigung der Lagerleitung. Dafür den mächtigen und immer mächtiger der Erlass der so genannten „Heimtü-
wurde andererseits den SS-Männern werdenden Reichsführer SS vorgehen ckeverordnung“. Es war offensicht-
Schutz gegenüber dem Zugriff der musste. lich, dass die Konzentrationslager, in
Justiz zugesagt: „Der Posten, der in denen die Zahl der Häftlinge rasch
Ausübung seiner Pflicht einen Gefan- zurückging, zur Sicherung der NS-
Ende der NS-Revolution Herrschaft nicht mehr unentbehrlich
genen erschießt, geht straffrei aus.“
Dieser Satz stellte natürlich eine neu- waren.
Vom November 1933 bis Januar
erliche Provokation gegenüber der Mit Hilfe von zum Teil bewaffne-
1934 gelang es Himmler, seinen
Justiz dar, der ja allein eine solche ten Polizeieinsätzen wurden in Preu-
Machtbereich gewaltig auszudehnen:
Entscheidung zustand. ßen die schlimmsten „Prügelstätten“
Er wurde zum politischen Polizeikom-
aufgelöst, 34 regionale Konzentrati-
Obwohl, oder gerade weil Himmler mandeur sämtlicher deutscher Län-
onslager wurden bis Oktober 33 ge-
durch neue Ermittlungen der Justiz der mit Ausnahme Preußens und des
räumt, die Lagerinsassen teils in grö-
in Dachau wieder in arge Bedrängnis kleinen Schaumburg-Lippe einge-
ßere Lager verlegt, teils entlassen.
geriet, aus der er sich nur mit Hilfe setzt. Doch obwohl Himmlers Macht
Weitere 14 Lager wurden in der glei-
seines Chefs, SA-Stabschef Röhm, be- und vor allem sein Selbstbewusstsein
chen Weise bis zum 9. Mai 1934 auf-
gelöst. Als im Februar 1934 Berichte
über die Zustände in den Lagern
Kemna im Ruhrgebiet und Vulkan-
werft in Stettin an die Öffentlichkeit
gelangten, reagierte Göring sofort: Er
ließ die beiden „wilden Lager“, die von
SA und SS geführt worden waren und
sich bislang jeglicher staatlicher Kon-
trolle entzogen hatten, von der Polizei
besetzen und auflösen, die Justiz lei-
tete ein Verfahren ein, die mit der
Bestrafung einer Reihe von „Exzess-
tätern“ endeten.
Durch Runderlasse versuchten so-
wohl Frick als auch Göring, den Miss-
brauch der Schutzhaft einzuschrän-
ken, Göring verbot Dienststellen der
Partei, Inhaftierungen vorzunehmen,
und drohte, er werde „die missbräuch-
liche Anwendung der Haft . . . in Zu-
kunft unnachsichtlich ahnden“. In
Preußen wurde eine Zentralstaatsan-
waltschaft geschaffen, um die „Aus-
wüchse“ des Terrors in den Konzent-
rationslagern, vor allem in den „wil-
den Lagern“ juristisch verfolgen zu
Himmler wird Chef der politischen Polizei in den deutschen Ländern können – ohne die Staatsanwälte den

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Pressionen der örtlichen NS-Größen de für die Verhaftung beinhalte, und Epps Vorstoß gegen
auszusetzen. dessen Inhalt sowie der Ort der Ver-
haftung den Angehörigen des Schutz-
Himmler
Das Thema „Zustände in den Kon-
zentrationslagern“ stand auch auf der häftlings mitzuteilen seien. Zum ers-
Nur eine Woche nach der Reichs-
Tagesordnung einer Konferenz der ten Mal wurde der Zweck der Schutz-
statthalterkonferenz, die für Fricks
Reichsstatthalter am 13. März 1934, haft eindeutig definiert: „Die Verhän-
Erlass grünes Licht gegeben hatte,
an der auch Frick, Göring und Hitler gung der Schutzhaft ist nur zulässig
unternahm der Bayerische Reichs-
teilnahmen. Göring berichtete über a) zum eigenen Schutz des Häftlings, statthalter Ritter von Epp einen Vor-
Vorkommnisse in einzelnen Konzent- stoß, die Verhältnisse in Bayern in
b) wenn der Häftling durch sein Ver-
rationslagern und forderte die Einset- geordnete Bahnen zu lenken. In ei-
halten, insbesondere durch staats-
zung von Kommissionen, die die KZs nem Schreiben an Ministerpräsident
feindliche Betätigung die öffentli-
inspizieren sollten. Frick erklärte, es Siebert vom 20. März 1934 machte er
che Sicherheit und Ordnung un-
liege im staatlichen Interesse „Aus- auf das zahlenmäßige Missverhältnis
mittelbar gefährdet.“
wüchse“ zu verhindern, und schlug bei den Schutzhäftlingen zwischen
vor, die preußischen Gegenmaßnah- Der Erlass nennt ausdrücklich ei-
Bayern und Preußen aufmerksam:
men reichsweit anzuwenden. ne Reihe von Gründen, bei denen
Während in Preußen die Zahl der
Schutzhaft nicht zulässig ist, die aber
Schutzhäftlinge auf 2.800 gesunken
Fricks Schutzhafterlass bislang offensichtlich in nicht selte-
war, waren in Bayern immer noch
nen Fällen zu Schutzhaft geführt
Hitler ließ sich offensichtlich von 3.500 eingesperrt, obwohl Bayern
hatten: „Eine Verhängung von Schutz-
der einhelligen Meinung der Konfe- deutlich weniger Einwohner zählte
haft (ist) nicht zulässig insbesondere
renz beeindrucken, denn schon einen als Preußen. Epp beschwerte sich
a) gegen Personen, die lediglich von auch über die missbräuchliche An-
Monat später, am 12. April 1934, er- einem ihnen nach bürgerlichen
folgte dann Fricks Schutzhafterlass, wendung der Schutzhaft auf Delikte
oder öffentlichen Recht zustehen- wie „Trunksucht, Misshandlung der
der am 26. April durch einige Zusatz- den Anspruch (z. B. Anzeige, Klage,
bestimmungen ergänzt wurde. In der Ehefrau, Fangen von Singvögeln,
Beschwerde) Gebrauch machen, Holzfrevel, Unterschlagung von Orga-
Einleitung wird festgestellt, dass die
Notverordnung vom 28. Februar 1938 b) gegen Rechtsanwälte wegen der nisationsgeldern, unsittlicher Lebens-
(Reichstagsbrandverordnung) das Vertretung von Interessen ihrer wandel, grober Unfug, Arbeitsscheu“
Recht der Freiheit der Person nur Klienten, sowie die Beleidigung von Parteifunk-
„zeitweilig aufgehoben“ habe und nur tionären oder Kritik an Gesetzen und
c) wegen persönlicher Angelegenhei-
vorerst die „Zeit für die völlige Besei- Verordnungen. Ein solches Vorgehen
ten wie z. B. Beleidigungen,
tigung der Schutzhaft noch nicht reif“ verletze jedes staatsbildende Rechts-
d) wegen irgendwelcher wirtschaftli- vertrauen und sei „eine Frontstellung
sei. Es gilt hier aber unbedingt, eine cher Maßnahmen (Lohnfragen,
missbräuchliche Anwendung zu ver- gegen den vom Führer geforderten
Entlassung von Arbeitnehmern u. und proklamierten Rechtsstaat“. Er
hindern, deshalb wurden die Stellen, dgl.).
die in Zukunft befugt sein sollten, betont in seinem Schreiben auch, dass
Schutzhaft zu erlassen, eingeschränkt Die Verhängung von Schutzhaft ist der „totale nationalsozialistische
auf die Gestapo und Regierungs- und ferner nicht zulässig zur Ahndung Staat, wie er heute besteht, über genü-
Oberpräsidenten. In der Ergänzung strafbarer oder nicht strafbarer, aber gend gesetzliche und andere Mittel“
vom 26. April wurde dieses Recht auf sonst verwerflicher Handlungen. verfüge, „die die Schutzhaft entbehr-
die Reichsstatthalter erweitert. Strafbare Handlungen sind durch die lich machen“.
Ausdrücklich wurde aber festge- Gerichte abzuurteilen.“ Daraufhin ließ Himmler eine Liste
legt: „Nicht befugt zur in Schutzhaft- Der Erlass fordert auch, dass die der Schutzhäftlinge in Bayern erstel-
nahme sind Stellen der NSDAP und Dauer der Haft solange aufrechter- len, die die Befürchtungen Epp’s in
der SA (Kreisleiter, Gauleiter, SA- halten werden solle, „als ihr Zweck es jedem Punkt bestätigte. Obwohl diese
Führer)“. Diese könnten zwar die erfordert“, eine amtliche Überprüfung Liste Epp nicht übermittelt wird, gibt
Verhängung der Schutzhaft bei den sollte spätestens alle drei Monate Innenminister Wagner in seinem
zuständigen Amtsstellen „anregen“, stattfinden. Antwortschreiben, das offenbar von
diese aber besäßen allein das Recht
der Entscheidung, aber auch die
Pflicht, die angegebenen Gründe zu
überprüfen. Um dem weit verbreite- Die Zusammensetzung der Schutzhäftlinge in Bayern
ten Missbrauch einen Riegel vorzu- Himmlers Liste vom 10. April 1934
schieben, greift der Erlass sogar zum
Mittel der Strafandrohung: „Wer ohne Kommunistische Betätigung 942 Arbeitsscheue 24
Befugnis einen Menschen einsperrt
KPD-Funktionäre 589 Trunksucht 23
oder auf andere Weise des Gebrauchs
der persönlichen Freiheit beraubt, Sozialdemokratische Betätigung 98 Persönliche Sicherheit 17
macht sich der Freiheitsentziehung SPD-Funktionäre 24 Unsittlicher Lebenswandel 10
(§§ 239, 341, 358 des Strafgesetzbu- Hochverrat 222 Misshandlung 9
ches) schuldig. Gegebenenfalls ist die Landesverrat 33 Unterschlagung 7
Strafverfolgung rücksichtslos durch- Staatsabträgliche Kritik 101 Holzfrevel 2
zuführen.“ Volksschädlinge 96 Grober Unfug 1
Der Erlass fordert weiterhin, dass Beleidigung 89 Sonstiges 81
für jede Inhaftierung ein Schutzhaft- Asoziales Verhalten 82 Insgesamt 2.450
befehl auszustellen sei, der die Grün-

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Himmler aufgesetzt worden war, un- Lippe, das er wenige Monate später in (in seiner Rolle als Preußischer Mi-
umwunden zu, dass die Schutzhaft in seine Hand bekommt. nisterpräsident) gibt Göring das
Bayern sehr großzügig angewendet Die preußische Gestapo hatte sich Kommando über diese Sonderbehörde
wurde: „Ohne weiteres zutreffend ist auch aus der schon bestehenden poli- zunächst nicht aus der Hand. Himm-
die Feststellung, dass die Verhängung tischen Polizei der Weimarer Repub- ler wird – formal – nur sein Stellver-
der Schutzhaft wegen Trunksucht, lik entwickelt. Diese hatte in Preußen treter, übernimmt aber schon jetzt die
Holzfrevel, Unterschlagung von Orga- aus der relativ kleinen Abteilung I A tatsächliche Befehlsgewalt. Als Chef
nisationsgeldern, unsittlichen Lebens- der Berliner Polizeibehörde bestan- des Gestapa ernennt er Reinhard
wandels, Arbeitscheu usw. nicht ganz den. Noch am 30. Januar 1933, am Heydrich, seine „rechte Hand“. Erst
den Buchstaben der geltenden Bestim- Tag von Hitlers Ernennung zum am 20. November 1934 überträgt Gö-
mungen entspricht. Wohl aber ent- Reichskanzler, überträgt Göring die ring, der für sich andere Karrierefel-
spricht sie dem nationalsozialisti- Leitung der Abteilung I A dem der der entdeckt hat, die alleinige Verant-
schen Empfinden. Kampf gegen den NSDAP angehörenden Oberregie- wortung für die Gestapo an den
lebensfremden Bürokratismus, Kampf rungsrat Rudolf Diels, der bis dahin Reichsführer SS.
gegen eine unfähige Gesetzgebung wa- die politische Polizeigruppe des preu-
ren die Hauptargumente des national- ßischen Innenministeriums geleitet Die Reorganisation
sozialistischen Kampfes gegen den al- hatte. der Konzentrationslager
ten Staat. Wenn heute die gleichen
Tendenzen wiederkehren sollten, die Bereits am 3. März erging eine Himmler gibt sich mit dem Er-
beim alten Staat bekämpft wurden, so preußische Ministerialverordnung, reichten keineswegs zufrieden, son-
würde dies von den Kämpfern der na- die die bislang geltenden Kompetenz- dern beauftragt schon wenige Wochen
tionalsozialistischen Idee nicht ver- beschränkungen der Polizei aufhob. nach seinem Amtsantritt in Berlin
standen werden.“ Damit war ein erster Schritt zur Ent- den Dachauer Kommandanten Eicke
lassung der Gestapo aus der Bindung mit der Umorganisation der übrigen
an die Gesetze vollzogen. Mit dem
Himmler wird stellvertre- ersten Gestapogesetz vom 26. April
Konzentrationslager, um sie in seine
Hand zu bekommen. Um Eicke mehr
tender Gestapochef 1933 wurde eine neue Behörde ge- Autorität zu geben, verleiht ihm
In dreister Weise setzt sich Himm- schaffen, das Gestapa (Gestapoamt) Himmler den Titel des „Inspekteurs
ler mit ideologischen Argumenten in Berlin, das dem Minister des In- der Konzentrationslager“ und beruft
über klare rechtliche Bestimmungen nern unmittelbar unterstand und die ihn zum Führer im Stab des Reichs-
hinweg. Sein wachsendes Selbstbe- Stellung einer Landespolizeibehörde führers SS. Eicke geht sofort ans
wusstsein steht im Einklang mit sei- hatte. Doch schon ein halbes Jahr Werk, übernimmt am 29. Mai das
nem unaufhaltsamen weiteren Auf- später, mit dem zweiten Gestapoge- Konzentrationslager Lichtenburg und
stieg in der NS-Hierarchie: Am setz vom 30. November 1933 wird die gestaltet es nach dem Vorbild des
20. April 1934 wird er zum Inspek- Gestapo ein völlig selbstständiger „Modells Dachau“ aus. Er hebelt auf
teur und stellvertretenden Chef der Zweig der inneren Verwaltung, die diese Weise das Modell der staatli-
Gestapo in Preußen ernannt. Himm- direkt dem Ministerpräsidenten un- chen Konzentrationslager in Preußen,
ler ist nun Herr der politischen Poli- terstellt ist. das sich an den üblichen Regeln des
zeien aller deutscher Länder, mit Trotz der unmittelbaren Unter- staatlichen Strafvollzugs orientierte,
Ausnahme des kleinen Schaumburg- stellung der Gestapo unter sich selbst aus.
Die Kernelemente des Dachauer
Modells waren:
– die alleinige Verfügungsgewalt der
SS;
– die Trennung in innere Verwaltung
und Bewachung: Die SS-Wachtrup-
pen blieben – da sie als „Hilfspoli-
zei” eine staatliche Aufgabe wahr-
nahmen, jedoch unter staatlicher
Besoldung;
– die innere Organisationsstruktur
mit einer „politischen Abteilung”
(Gestapo), die die Einlieferung und
Entlassung der Häftlinge regelte,
sowie einer hierarchischen Verwal-
tungsstruktur, die ihr Spiegelbild
in einer entsprechenden Häftlings-
hierarchie (Lagerältester, Blockäl-
tester, Kapo, etc.) fand und damit
die Häftlinge an inneren Entschei-
dungen mitbeteiligte, sie dadurch
aber auch kompromittierte;
– die Eicke’sche Straf- und Diszipli-
narordnung, die die Grundlage für
Berlin, 20. April 1934: Amtseinführung Himmlers als „Inspekteur der Gestapo“ den systematischen Terror inner-
durch Hermann Göring. halb des Lagers bildete.

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Konzentrationslager
als „rechtsfreier
Raum“
Eicke unternahm alles,
um die Lager von der Außen-
welt vollständig abzuschot-
ten: Nicht einmal die Feuer-
polizei hatte Zutritt, um die
Einhaltung von Vorschriften
zu überprüfen. Um auch ei-
ne mögliche Einmischung
übergeordneter politischer
Instanzen in das Lager aus-
zuschließen, musste jedoch
Himmler persönlich aktiv
werden: Am 15. Juni. 34, 14
Tage, nachdem Eicke sich
der Lichtenburg bemächtigt
hatte, teilte Himmler dem
zuständigen Regierungsprä-
sidenten von Meerseburg la-
pidar mit, dass dessen
„Dienstaufsicht über das
staatliche Konzentrationsla-
ger Lichtenburg hiermit auf-
gehoben“ sei. Ein gleich lau-
tendes Schreiben sandte er
am 21. Juni. an den Ober-
präsidenten von Hannover,
bezüglich des Konzentrati-
onslagers Esterwegen, das
nächste Objekt, das Eicke
nach dem Reglement des
Dachauer Modells umgestal-
ten sollte.
Doch kaum hatte Eicke
mit der Arbeit begonnen,
wurde er nach München ge-
rufen. Eine wichtigere Auf-
gabe erwartete ihn dort:
Hitler hat sich entschlossen,
die unbequem gewordene
SA-Führung zu beseitigen,
und dazu braucht er die Hil-
fe ihm bedenkenlos ergebe-
ner SS-Truppen. Die Wach-
mannschaften des KZs
Dachau spielen bei dem
Massaker, das als Nieder-
schlagung des angeblichen
„Röhmputsches“ von der NS-
Propaganda der Öffentlich-
keit „verkauft“ wird, eine
zentrale Rolle. Eicke selbst
erschießt eigenhändig auf Himmler enthebt den Regierungspräsidenten von Merseburg seiner Zuständigkeit für
Befehl Hitlers SA-Stabschef das KZ Lichtenburg.
Röhm, nachdem dieser sich
geweigert hatte, Selbstmord zu bege- Zum besseren Verständnis des NS- entstand, wobei man allerdings davon
hen. Regimes und seiner Entwicklung ausgehen kann, dass es so, wie es
Hitler zeigte sich erkenntlich: Die muss hervorgehoben werden, dass schließlich entwickelte, durchaus den
Gewichte in der Auseinandersetzung sein Repressionssystem nicht auf de- Wünschen Hitlers entsprach.
zwischen Himmler und den „Etatis- tailliert ausgearbeiteten Plänen be- Der vollständige Text (mit Fußno-
ten“ veränderten sich entscheidend, ruhte, die zielsicher und konsequent ten und Literaturangaben) wird in
der Konflikt ging weiter, doch nun umgesetzt wurden, sondern dass es diesem Jahr in einer Publikation der
unter deutlich anderen Vorzeichen. als Ergebnis eines Machtkampfes Landeszentrale veröffentlicht.

BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung 7


Peter März:

Bilder aus Afrika vom Beginn


des kurzen 20. Jahrhunderts der Europäer
Von George F. Kennan, der als Di- kratiegewinn im Weltmaßstab. Ganz ka entsandt. Die deutschen Truppen
plomat und Historiker die Anfänge zu Beginn der spezifisch deutschen umzingelten unter seinem Komman-
des Kalten Krieges analysiert, zu- Geschichte dieser Zeit steht vor jetzt do am 11. und 12. August 1904 das
gleich auf meisterhafte Weise das einhundert Jahren, im Sommer und Hererovolk am Waterberg, rund
Entstehen jener Mächtestruktur un- Herbst 1904, der Völkermord an der 200 Kilometer nördlich der südwest-
tersucht hat, die mit zum Ersten Ethnie der Hereros in der damaligen afrikanischen und heute namibischen
Weltkrieg führte1), stammt die be- Kolonie Südwestafrika. Sie hatten Hauptstadt Windhuk. Als es großen
rühmte Formel vom kurzen 20. Jahr- gegen die deutsche Herrschaft einen Teilen der Herero gelang, diesen Be-
hundert der Europäer, beginnend mit Aufstand unternommen, Farmen und lagerungsring zu durchbrechen und
dem Ausbruch des Ersten Weltkrie- einzelne Posten in dem dünn besiedel- die östlich gelegene Omahekewüste
ges 1914 und endend mit der Implosi- ten, wüstenartigen Land überfallen zu erreichen, wurde ihnen von dort
on des Kommunismus und dem Ende und wurden dann zum Opfer eines ein weiteres Entkommen unmöglich
des Ost-West-Konflikts 1989/90. Vernichtungsfeldzuges, den General- gemacht. Trotha erließ am 2. Oktober
Dieses 20. Jahrhundert ist nicht leutnant Lothar v. Trotha befehligte, 1904 jene berüchtigte Proklamation,
einfach durch Kriege gekennzeichnet, nach einschlägigen Erfahrungen bei in der es hieß: „Innerhalb der deut-
sondern durch Entgrenzungen, durch der Niederschlagung des chinesischen schen Grenze wird jeder Herero, mit
Brutalisierungsschübe und Zivilisati- Boxeraufstandes im Jahre 1900 von oder ohne Gewehr, mit oder ohne
onsbrüche, aber auch durch Demo- Kaiser Wilhelm II. nach Südwestafri- Vieh, erschossen. Ich nehme keine

Parade einer Kamelreiter-Kompanie der deutschen „Schutztruppe“ in Südwestafrika.

1
) George F. Kennan: Bismarcks Europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875–1890, Frankfurt
am Main u.a. 1981; ders.: Die schicksalhafte Allianz. Frankreich und Russland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Köln 1990

8 BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung


BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung 9
Weiber und Kinder mehr auf, treibe werden Fotos aus dem Bestand von als bayerischer Pfälzer, seinen Wehr-
sie zu ihrem Volke zurück oder lasse Peter Mayer abgedruckt. Peter May- dienst beim Dritten Korps der bayeri-
auf sie schießen.“ Darauf verdurstete er, Großvater des Autors, war ur- schen Armee in Speyer und Würzburg
der größte Teil des Hererovolkes in sprünglich Steinmetz und stammte und meldete sich 1912 freiwillig zur
der Wüste. Von ursprünglich 80.000 aus dem westpfälzischen Dorf Klein- Kolonialtruppe in Südwestafrika. Al-
Angehörigen sollen 15.000 überlebt steinhausen an der Grenze zu Loth- le Pläne, es dort später zum Farmer
haben. ringen, dessen östlicher Teil damals, zu bringen, zerschlugen sich, als zwei
Im Großen Brockhaus, 15. Ausga- seit dem Frankfurter Frieden von Jahre später der Erste Weltkrieg aus-
be, hier Bd. 8, aus dem Jahr 1931, 1871 und bis 1918, zum Deutschen brach. Seit der Kapitulation der deut-
heißt es über die Hereros und zu die- Reich gehörte. Peter Mayer leistete, schen Kolonialtruppe in diesem Land
sen Vorgängen: „Bis 1904 waren sie
ein mächtiges, freiheitsliebendes,
kriegerisches Volk, seit dem Herero-
Aufstand sind sie stark degeneriert
und an Zahl sehr zurückgegangen
(vor 1904 rund 100.000 Köpfe). (. . .).
Durch den Sieg am Waterberg
(11. August 1904) wurden die Herero
völlig unterworfen; ihre Hauptmasse
wurde dabei jedoch in die wasserarme
Sandwüste abgedrängt, wo sie größ-
tenteils umkam. Der Rest lebt auf
Reservationen. [sic!]“ Darstellung
und Sprachregelung stammen aus
der Spätzeit der Weimarer Republik.
Deutschland hatte zwar im Vertrag
von Versailles seine Kolonien verlo-
ren, aber Kolonialbesitz als Ausdruck
von Großmachtstatus, europäisches
Superioritätsdenken und vielfaches
Unverständnis für den Anspruch so
genannter farbiger Völker auf Leben
und Menschenwürde waren offenkun-
dig noch sehr verbreitete Anschauun-
gen. Dem entsprach bis in offiziöse
enzyklopädische Darstellungen die
Glorifizierung der damals jüngsten
deutschen, kaiserzeitlichen Vergan-
genheit.
Gewiss führt vom Herero-Aufstand
1904 keine direkte Linie zu Holocaust
und Völkermord des Zweiten Welt-
krieges. General Trothas barbarische
Vorgehensweise geriet in Deutsch-
land bald in die Kritik, die Kirchen
protestierten gegen ihn und auch im
Generalstab scheint man sich bald
seiner Strategie geschämt zu haben.
Im Reichstag kam es zu kritischen
Anfragen und 1905 wurde der Gene-
ral seines Kommandos in Südwest-
afrika enthoben. Trotzdem erinnert
doch manches an dem Geschehen von
1904 u. A. an die vor jetzt genau
60 Jahren zu Ende gegangene Belage-
rung Leningrads, der zweitgrößten
sowjetischen Stadt, die, seit Spätsom-
mer 1941 von deutschen Truppen
zerniert, nicht erobert, sondern aus-
gehungert werden sollte und in der
rund eine Million Menschen an Hun-
ger und Entkräftung starb.
Hier endet die große und hier be- Auf dieser Postkarte Peter Mayers in seine pfälzische Heimat hieß es: „Weihnach-
ginnt die kleine, die vermeintlich pri- ten im engsten Familienkreis“ (Aufnahme von Weihnachten 1912 oder 1913).
vate Geschichte. Aber auch sie gehört Der farbige Diener hält ein Bierglas mit klassischem bayerischen Zinndeckel
zum Beginn des kurzen 20. Jahrhun- in der Hand. Eine Szene, die man anheimelnd oder befremdend oder vielleicht
derts der Europäer. In diesem Beitrag auch beides finden kann.

10 BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung


„Schutztruppen-Abteilung passiert die Naros-Schlucht“, so lautete die Betextung dieser Postkarte. Landschaft und heroi-
sche Männlichkeit erinnern an frühe schwarz-weiß-Western, an die Mythologisierung der US-Kavallerie des 19. Jahrhun-
derts im weiten Land zwischen Mississippi und Rocky Mountains.

ein Jahr nach Kriegsausbruch, war er unterschiedlicher Milieus, aber das stand von Jahrhunderten haben, als
von 1915–1919 in britischer Kriegsge- ist schon eine andere und auch sehr unserer Gegenwart. Denn dazwischen
fangenschaft und kehrte dann, an deutsche Geschichte. liegt jenes kurze 20. Jahrhundert, das
Leib und Seele entkräftet, über Mün- Die hier abgedruckten Fotos bzw. die Welt wie keine Zeit zuvor verän-
chen in die Pfalz zurück. Briefe von kolorierten Postkarten stammen aus dert hat. Und doch: Wer an Imperia-
damals offenbaren Orientierungslo- den Friedensjahren von 1912 bis 1914 lismus, Kolonialisierung und Entko-
sigkeit, ja Verzweiflung angesichts in Südwestafrika. Sie zeigen, ganz im lonialisierung, an historische Erb-
der Niederlage. In einem wohl bri- Kontrast zur brutalen Niederwerfung schaften wie an Globalisierungsfolgen
tisch werdenden Südwestafrika blei- des Herero-Aufstandes knapp ein denkt, der muss auch durch die Bilder
ben oder zurückkehren ins nun fran- Jahrzehnt zuvor, urdeutsche Szenen hindurch sehen und zu der Erfahrung
zösisch besetzte Linksrheinische, bei- beim Schützenfest und an Weihnach- finden, dass Geschichte nie wirklich
des schien einem jungen, in den nati- ten, sie zeigen die Weite eines Landes, vergeht.
onalen Bahnen von damals denken- das bildhaft an die Western John
den Menschen kaum zumutbar. Un- Fords aus den 40er und 50er Jahren
sere europäisierte Gegenwart tut sich erinnert, sie zeigen eine Welt ganz
zwar schwer mit den Phobien von da- selbstverständlicher europäischer
mals, aber sie muss sie gleichwohl für Suprematie, sie vermitteln etwas vom BLZ-Report
die Zeit des Versailler „Schandver- Fernweh, das deutsche Jungen aus Vierteljährliche Beilage
trags“, wie die Zeitgenossen sagten, der Provinz anzog, und sie offenbaren der Bayerischen Staatszeitung
historisch in Rechnung stellen. Peter Archetypen von kriegerischer Männ- Herausgeber:
Verlag Bayerische Staatszeitung GmbH,
Mayer geriet dann in ein immer stär- lichkeit, die mit den Schlachten und Herzog-Rudolf-Straße 3, 80539 München
ker deutschnationales Fahrwasser, mit dem massenhaften Töten des Ers- Verantwortlich:
das ihn schließlich auch, obwohl Zeit ten und Zweiten Weltkrieges unterge- Werner Karg,
seines Lebens überzeugter Katholik gangen ist. Obwohl den Autor nur Brienner Straße 41, 80333 München
und Mensch bürgerlicher Prinzipien, zwei Generationen von diesen neun- Redaktion:
Andrea Fichtbauer
in zumindest über längere Strecken zig Jahre alten Bildern trennen,
Druck:
starke Affinität zum Nationalsozialis- scheinen diese doch lange zurücklie- Druck+Verlag Ernst Vögel GmbH
mus führte. So überschnitten sich genden Epochen näher zu sein, zu Kalvarienbergstraße 22, 93491 Stamsried
dann in seiner Person die Kreise ganz denen wir einen chronologischen Ab-

BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung 11


Szene in Keetmanshoop, Südwestafrika.

Deutsche Soldaten im Biwak: Das Lager ist durch eine Dornenhecke geschützt, an den Krempen der „Südwester-Hüte“
sind die schwarz-weiß-roten Kokarden erkennbar. Auffällig ist die ungemein selbstbewusste Haltung, die die Soldaten
einnehmen.

12 BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung


Schützenfest im kaiserlich-deutschen Windhuk.

Kamelreiter-Patrouille der deutschen Schutztruppe bei einer Rast in der Kolonie. Offenkundig ist bei der nachträglichen
Kolorierung zu viel des Guten getan worden – die Landschaft ist grüner als in dem so niederschlagsarmen Land wohl
möglich. Unter den Soldaten befinden sich ersichtlich auch Farbige, die in den deutschen Dienst getreten waren. In Süd-
westafrika war dies allerdings sehr viel seltener als in der Kolonie Ostafrika, in der Askari-Soldaten eine militärisch
wesentliche Rolle spielten.

BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung 13


„Sushi statt Schweinebraten“
oder: Beobachtungen und Erfahrungen eines bayerischen
Studenten in Japan

Der folgende Beitrag ist ein Erfah- und westlichem Essen, natürlich des. Der Flug verläuft ereignislos.
rungsbericht des Studenten Philipp wählen wir japanisch. Wenn Japan, Wir sind zu gespannt.
Aubert über seine Eindrücke in Tokyo. dann richtig. Es gibt frittiertes Hühn-
Nach dem Abitur am Theresiengym- chen, dazu eine Art Mayonnaise, Ana- Gastgeschenke
nasium in der bayerischen Landes- nas, Reis und grünen Tee. Es
hauptstadt hat er an der Münchner schmeckt viel besser als die westliche Felix fragt mich, was ich alles an
Ludwig-Maximilians-Universität das Variante, was nicht anders zu erwar- Gastgeschenken dabei habe. Gastge-
Studium der Japanologie aufgenom- ten war. schenke sind in Japan extrem wich-
men. Zur Zeit verbringt er ein Studi- tig, vor allem, wenn man in eine
Zur Unterhaltung werden vier Ki-
enjahr an der Taisho-Universität in fremde Familie aufgenommen wird.
nofilme angeboten. Alle sind mehr
Tokyo. Nach einem vierwöchigen Kurs Selbst wenn man zu Bekannten
oder weniger aktuell, japanische Fil-
an derselben Hochschule im Jahr eingeladen wird, ist es unabdingbar,
me sind natürlich auch im Sortiment.
2002 ist dies sein zweiter Aufenthalt ein Gastgeschenk mitzubringen. Die-
In einem ICE sind an den Armleh- ses Geschenk wird dann mit dem
in Japan – ein Stück gelebter Globali-
nen Knöpfe installiert, mit denen Spruch „obwohl es etwas Langweili-
sierung im Spagat zwischen Kulturen.
man den Kanal wechseln kann. Ähn- ges ist“ übergeben. Langweilig muss
Nicht zuletzt macht das Bild der an-
lich sieht die Einrichtung bei JAL das Geschenk dabei gar nicht sein. Es
deren Kultur auch Defizite in unserem
aus. Doch wenn man einen bestimm- gehört zur japanischen Höflichkeit,
eigenen Sozialverhalten drastisch
ten Knopf drückt, springt die ganze sich selbst und die Dinge, die man
deutlich.
Armatur aus der Lehne und man hält übergibt, abzuwerten.
eine Fernbedienung in der Hand. Die
Flug ins Land der aufgehen- kann wahlweise als gewöhnliche
Andere, vielleicht nachvollziehba-
rere Floskeln sind „ob es Ihnen wohl
den Sonne Fernbedienung oder als Controller für gefallen wird“, „es ist sicher nicht be-
Das erste, was ich von Japan sehe, eine Videospielauswahl dienen. Ich sonders schwer“ (am Flughafen beim
ist das Flugzeug. Wir fliegen JAL. weiß nicht, wie es z. B. bei American Abschied sehr passend) oder „es
Felix, ein Student der Religionswis- Airlines ist, aber für Felix und mich nimmt nicht viel Platz weg“. Egal, um
senschaft, der Japanologie im Neben- ist das neu und wir müssen lachen. was es sich bei dem Geschenk wirk-
fach studiert, ist mit dabei. Wie ich Hinter uns sitzen zwei andere lich handelt, es muss untertrieben
hat auch er ein Stipendium für einen Deutsche, die wohl das erste Mal nach werden. Ein besonders höflicher Ja-
einjährigen Japanaufenthalt bekom- Japan reisen. Ansonsten sind fast nur paner erwidert das dadurch, dass er
men. JAL bedeutet Japan Airlines. Es Japaner in der Maschine, die Stewar- das Geschenk nicht vor den Augen
ist wohl eine der teuersten Fluggesell- dessen sind auch Japanerinnen. Be- der Schenkenden aufmacht, sondern
schaften überhaupt. reits in München können wir die kommentarlos einsteckt. Wichtig ist
Das Essen ist ziemlich gut, ich ha- Asahi-Shinbun lesen, eine der vier vor allem, dass das Geschenk origi-
be die Wahl zwischen japanischem wichtigsten Tageszeitungen des Lan- nell verpackt ist.
Der Inhalt sollte immer etwas mit
der Heimat zu tun haben. Wer aus
München kommt, sollte einen klassi-
schen Bierkrug schenken, Berliner
schenken Überreste der Mauer. Das
kommt immer gut an.
Japaner, die längere Zeit in Mün-
chen waren, würden sich bestimmt
eine Lederhose bzw. ein Dirndl kau-
fen. Aber Deutsche kaufen sich in Ja-
pan auch gerne einen Yukata, einen
Sommerkimono, was für Japaner ge-
nauso befremdend wirken kann, ob-
wohl ein Japaner fast immer, sollte
ein Ausländer traditionelle japani-
sche Kleidung tragen, „Steht Ihnen
wunderbar“ sagt.
Geschenke spielen eine wichtige
Rolle, nicht nur bei Ausländern.
Wenn sich zwei Japaner treffen, ist es
üblich, ein Geschenk mitzubringen.
Es darf zwar auch klein sein, aber
ohne Geschenk bei einem Treffen auf-
Die „Shinjuku-Straße“, Tokyos Time Square. zutauchen, vor allem wenn sich nur

14 BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung


entfernte Bekannte begegnen, ist äu-
ßerst unhöflich.

Ankunft in Tokyo
Die Ankunft in Tokyo gestaltet
sich etwas anstrengender, als wir ge-
dacht hatten. Wir stehen ungefähr
drei Stunden an, bis wir endlich unse-
re Pässe mit der Einreisegenehmi-
gung und dem eingetragenen Visum
vorzeigen können.
Die Alien-Registration-Card, die
so schön in meinen Pass eingefaltet
ist, wird einfach rausgerissen. Ich be-
komme eine kleine Karte, so groß wie
drei Briefmarken, zurück. Die muss
ich binnen vier Wochen bei der Ver-
waltungsbehörde des Stadtbezirks, in
dem ich wohnen werde, einreichen.
Sollte ich die Frist versäumen, kann
ich sofort zurückreisen.
Wegen der langen Wartezeit müs- Shinjuku-Station – South Exit.
sen wir nicht mehr am Gepäckfließ-
band warten, unsere Koffer liegen beschenken. Das könnte nach Korrup- Obwohl der Herbst schon fast ange-
unbewacht auf dem Boden. Daneben tion aussehen. fangen hat, ist es immer noch so heiß
steht ein Schild mit unserer Flug- wie in München im Juli. Dazu kom-
nummer. Alles noch da. Glück ge- Erste Tage men eine hohe Luftfeuchtigkeit und
habt. ein recht belastender Smog. Eine Kli-
Wir passieren den Ausgang, nichts Ich wohne zunächst bei Felix in
seinem Apartment. Denn wegen maanlage ist zwar installiert, aber
zu verzollen, klar, und schon stehen weil Felix Strom sparen will (er muss
sie vor uns: Frau Uchida, Herr Goto SARS wird über uns eine 10-tägige
Quarantäne verhängt. Das bedeutet, für Miete und Nebenkosten selbst
und Herr Watanabe. Sie kommen alle aufkommen), wird sie nur spärlich
vom „Kokusai-Senta“ der Taisho-Uni- wir werden medizinisch durchge-
checkt, bevor wir die Universität be- eingesetzt. Auch Insekten sind in Ja-
versität, das ist die Abteilung, die sich pan nicht untätig, vor allem bei der
um die Angelegenheiten der Aus- treten dürfen und ich darf für diesen
Zeitraum auch nicht in den Tempel Hitze. Bereits nach der ersten Nacht
tauschstudenten kümmert. „Kokusai“ bin ich von Mücken zerstochen.
heißt „international“ und „Senta“ einziehen, in dem ich eigentlich woh-
nen soll. Die Yamamoto-Residence, so heißt
heißt, wie der Name schon andeutet, unsere neue Klause, liegt direkt ne-
„Center“. Das Kokusai-Senta holt die Obwohl in Japan eigentlich keine
SARS-Gefahr besteht (angeblich gab ben einer Hauptstraße, über die noch
Studenten vom Flughafen ab, brieft ein 4-spuriger Highway gebaut ist.
uns über die Behördengänge und ist es in Tokyo nur einen Fall), könnte es
sein, dass wir uns im Flugzeug ange- Aber an die Lautstärke gewöhnen wir
sozusagen unser Manager, Kummer- uns schnell.
kasten, unsere Begleitung in allen steckt haben. Ein SARS-Fall in einem
Tempel würde zudem bedeuten, dass Da wir kein Telefon haben, ma-
Dingen, die uns in Japan beschäftigen chen wir uns auf die Suche nach In-
werden. Herr Watanabe ist der Chef dieser geschlossen werden müsste.
Wir merken aber schon am ersten ternet-Cafés, was in Tokyo gar nicht
der Abteilung. so leicht ist, denn Internet gibt es fast
Tag, dass es nicht so ganz ernst mit
Die Fahrt vom Narita-Flughafen in jedem Haushalt.
der Quarantäne ist, denn wir fahren
bis zur Uni dauert knapp zwei Stun- In Japan ist es üblich, auf den
ja doch gleich in die Uni und essen
den, obwohl wir im sogenannten „Na- Straßen Flyer zu verteilen. Die Flyer
dort auch noch zu Abend.
rita-Express“ sitzen, der uns extra sind oft in eine Packung Taschentü-
schnell in die Stadt bringt. Kein ande- cher gesteckt. Und es werden anders
rer Flughafen auf der Welt ist so weit Als Student in Japan als in Europa keine Partys promotet,
von der Stadt entfernt wie der Nari- wohnen sondern ganz normale Geschäfte.
ta. Felix’ Wohnung fasst 6 Chô. Ein Wenn ein bestimmter Friseursalon
In der Uni angekommen, gibt es Chô ist ein klassisches japanisches für eine Woche Sonderpreise anbietet
erstmal japanische Buchweizennu- Flächenmaß und hat die Größe einer oder ganz neu aufmacht, wird diese
deln (Soba) mit frittiertem Fisch und Tatami-Matte (180 cm x 90 cm). Das Information samt Wegbeschreibung
Gemüse (Tempura) und Herr Schau- sind die berühmten japanischen Bo- zusammen mit einlagigen Taschentü-
mann, ein deutscher Professor, der an denmatten, die nicht mit Schuhen chern an den Mann gebracht. Wer
der Taisho-Universität unterrichtet, betreten werden dürfen. 6 Chô bedeu- Schnupfen hat, muss einfach nach
hilft uns, die Sprachbarrieren zu tet also 6 Matten. Und das bedeutet Ikebukuro fahren (Stadtteil Tokyos
überschreiten. wiederum, dass wir zu zweit wie in mit vielen Bars und Kaufhäusern).
Obwohl wir sehr beeindruckt sind einer Telefonzelle wohnen. Nur mit Denn dort ist die Taschentücher-Ver-
von diesem freundlichen Empfang dem Unterschied, dass kein Telefon teiler-Dichte pro Quadratmeter am
und der Betreuung, dürfen wir die drin ist. Das größte Problem ist nicht höchsten. Und als wir eben durch Ike-
Mitglieder des Kokusai-Senta nicht der enge Raum, sondern die Hitze. bukuro laufen, wir haben zunächst

BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung 15


vergeblich gesucht, bekommen wir dass man das gesuchte Gebäude so- bitte einen Moment“. Ich stelle mich
doch noch den Flyer für das neue „Ma- fort findet. Also wird eine Karte ge- auf zwei Stunden Wartezeit ein, wie
goo!“ (der Name kommt bekannt vor) zeichnet, die die Orientierung erleich- ich es vom Münchner KVR gewohnt
-Internetcafé, das letzte Woche aufge- tert. Die Japaner lieben zwar das bin, aber schon nach 10 Min. werde
macht hat. Kartenzeichnen. Aber die Karten sind ich aufgerufen. Ich bekomme eine
Die Küchengeräte kauft Felix ent- meistens nicht allzu genau, deswegen provisorische Aufenthaltsgenehmi-
weder im Recycle-Store, wo man z. B. wird zur Sicherheit noch während des gung. Die richtige ist eine Woche spä-
Waschmaschinen, Gasherde oder Zeichnens der Weg mündlich erklärt. ter fertig. Alles in allem hat die Proze-
Reiskocher, aber auch Anzüge, Kra- „Sie steigen in Shibuya aus und neh- dur keine halbe Stunde gedauert. Das
watten und allerhand Nippes aus men den West-Ausgang. Dann laufen längste an dem Behördengang war
Nippon zum günstigen Preis, aber Sie geradeaus am Fluss entlang, bis die Hinfahrt.
eben gebraucht, kaufen kann. zu einem Café, das ,Graffiti‘ heißt, Auch die Krankenversicherung ist
Für Messer, Teller oder andere biegen nach links ab und laufen bis eine recht einfache Sache. In Japan
nötige Gegenstände kann der Hun- zur Mitsubishi-Bank. Gegenüber der gibt es nur eine staatliche Versiche-
dert-Yen-Shop dienen. Bank liegt die Verwaltungsbehörde. rung. Sie erstattet 30 Prozent der
Wie der Name schon sagt, wird Sie gehen durch Eingang 2, nehmen Kosten. In meinem Fall zahlt die Uni
hier alles für hundert Yen verkauft. den Lift, steigen im dritten Stock aus die restlichen 70 Prozent, also muss
Von der Krawatte bis zum Kochtopf, und gehen zu Schalter Nr. 3“. Das ich mir keine Sorgen machen. Alle
von den Essstäbchen bis zum Schul- funktioniert gut und klappt auch drei Monate zahle ich um die 6.000
heft. Ich besorge mir eine Digitaluhr. meistens. Es sei denn, man nimmt Yen, entweder in bar in der Behörde
100 Yen sind 79 Cent. Tokyo muss den falschen Ausgang. „Gut funktio- oder an jeder beliebigen Bank oder
nicht immer teuer sein. Die Produkte nieren“ heißt, dass man auf jeden Fall am Postamt. Die Versicherungskarte
werden, wie uns Herr Watanabe lä- das Ziel erreichen wird. Aber die Zeit bekomme ich binnen 5 Minuten am
chelnd erzählt, in Nordkorea herge- ist eine andere Sache. Generell ist es Schalter.
stellt. Deswegen sind sie so billig. ratsam, 20 Minuten zusätzlich einzu- Immer wird man mit einem „Herz-
Aber jeder Japaner liebt den „Hyaku- rechnen. Für den Fall der Fälle. Denn lich willkommen, Herr Kunde“ von
en-Shop“ (Hyakuen = 100 Yen). speziell in großen U-Bahnhöfen ist es äußerst freundlichem Personal, das
schnell geschehen, dass man sich ver- sogar noch Englisch spricht, begrüßt.
Behördengänge läuft. Kein Wunder, dass Japaner in Mün-
chen sich vor dem KVR-Personal
In der ersten Woche sind wir vor Einmal angekommen, wird alles
fürchten. Wer einmal japanische
allem mit Formalitäten beschäftigt: zügig abgewickelt. Ähnlich wie beim
Dienstleistung erfahren hat, schüttelt
Krankenhausbesuch, Einschreibung Kreisverwaltungsreferat (KVR) in
den Kopf bei dem Gedanken an die
bei den Behörden und Austüfteln des München muss ich eine Nummer zie-
grummelnden Sachbearbeiter der
Stundenplans. Die Wegbeschreibun- hen. Drei Minuten später komme ich
Münchener Meldebehörde.
gen zu den Stellen bekommen wir dran. Ich zeige meinen Reisepass mit
ausgedruckt. Einreisegenehmigung vor, meinen
Auf den Zetteln steht wirklich al- Studentenausweis (den bekommen Dienstleistungen
les, was wir wissen müssen, um sicher wir am dritten Tag) und zwei Fotos. In allem, was mit Dienstleistung
zum richtigen Schalter zu gelangen. Dann muss ich ein Formular ausfül- zu tun hat, trifft das japanische Kli-
Wenn man eine japanische Adresse len, in dem ich meine neue Adresse schee der Höflichkeit voll und ganz
bekommt, heißt das noch lange nicht, angebe. Danach heißt es „warten Sie zu.
Ob im Restaurant oder beim Ein-
kaufen, der Kunde ist nicht nur der
König, sondern das höchste Wesen.
Es wird alles unternommen, damit
sich der Kunde wohl fühlt. Beim Fri-
seur werden nicht einfach nur die
Haare geschnitten. Als erstes geht es
in die Umkleide, wo mir ein Ange-
stellter einen mehrteiligen Kittel an-
legt, damit auch wirklich gar kein
Haar in den Nacken fällt. Dazu gibt
es Kaffee, grünen Tee oder ein ande-
res Getränk nach Wahl, selbstver-
ständlich perfekt dem Körper ange-
passte Sitze.
Rasur und Massage noch dazu.
Alles im Preis inbegriffen. Der kann
natürlich hoch sein, aber in diesem
Fall bekommt man auch den Service,
der dem Preis mehr als angemessen
ist.
Taxis sind in Japan Wunder der
Service-Technik. Blitzsauber und mit
weißen Kopfpolstern, die noch einen
Der Eingang zu meinem Zuhause. speziellen Überzug haben. Der Fah-

16 BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung


rer käme gar nicht auf die Idee, den
Fahrgast mit Fragen zu bombardie-
ren oder ihm seine politische Meinung
kundzutun (beides ist in München
keine Seltenheit) und umgekehrt ver-
zieht ein Taxifahrer keine Miene,
wenn sich die Fahrgäste mies beneh-
men. Im Extremfall wird im allerhöf-
lichsten Ton darauf hingewiesen,
doch bitte das Beschmutzen des Wa-
gens zu unterlassen.
Wenn man ein Taxi ruft, dann hält
der Wagen so, dass der Fahrgast so-
fort auf dem Rücksitz Platz nehmen
kann. Die Tür öffnet sich von allein.
Und wer meint, beim Verlassen des
Taxis die Tür schließen zu müssen,
damit der Fahrer das nicht machen
muss, zieht Gelächter auf sich, denn
freilich schließt sich die Tür von
selbst.
Als ich einen PC kaufe, bekomme
ich noch zwei DVD-Rohlinge, ein
Mousepad und einen Gutschein, mit Eine typische Straße in Akihabara mit Verkauf von elektronischen Geräten.
dem ich für 5.000 Yen das nächste
Mal in demselben Stadtviertel ren, bin ich gewillt, mehr zu zahlen. scheinlich das beste Sushi, das ich je
(NICHT Kaufhaus) einkaufen kann. Mürrische Bedienungen wird man in konsumieren konnte. Dementspre-
Bei McDonalds ist es ebenso. Keine Japan vergebens suchen. Wenn das chend fällt der Preis aus. Mein Gast-
genervten Bedienungen, die im bar- Essen oder das Bier zu spät kommt geber blättert 30.000 Yen, also knapp
schen Ton „zum Mitnehmen?“ fragen. und man sich deswegen beschwert, 300 Euro, hin. Er meint lächelnd, er
Hier wird gelächelt. Zu jeder Uhrzeit, dann entschuldigt sich der Kellner, sei jede Woche hier. Danach gehen
in jeder Situation und wenn es noch Verbeugung inklusive. Und weil Ja- wir in seine Lieblingsbar. Als er mir
so viel Stress gibt. pan den Service schon so perfektio- die Cocktailkarte zeigt („Suchen Sie
Auch im Supermarkt: Der Kunde niert, ist es unmöglich, Trinkgeld zu sich aus, was Sie wollen“) lehne ich
wird immer angelächelt und mit der geben. Selbst wenn ich es noch so doch ab. Ich habe in 20 Minuten Un-
größten Höflichkeit bedient. Das freundlich anbiete, wird es strikt ab- terricht. Ich erkläre ihm das und er
Rückgeld wird vor den Augen des gelehnt. Die Preise schließen Trink- nickt verständnisvoll, drückt mir
Kunden nachgezählt. Auf die Idee, geld meistens sowieso aus. nochmal 3.000 Yen fürs Taxi mit den
den Kunden übers Ohr zu hauen, Worten „Behalten Sie den Rest“ in die
kommt hier keiner. Und selbst wenn Einmal hat mich Herr Wake, mein
Gastvater vom letzten Jahr, zum Sus- Hand. Herr Wake ist ein extremes
es passieren sollte, so geschieht es Beispiel für den spendablen Japaner,
eher zu Gunsten des Kunden. hi-Essen eingeladen. Er muss davor
nur kurz zur Bank. Wieviel er abhebt, der seinen Gast einladen muss. Es
Beim Zahlen wird das Geld nicht darf keinen Grund geben, dass vor
in die Hand des Angestellten an der weiß ich zwar nicht, aber der Laden
scheint teuer, mit Springbrunnen am allem der Ausländer sich schlecht
Kasse übergeben, sondern auf ein über ihn äußert. Deswegen muss ge-
kleines Holztablett gelegt. Genauso Eingang und in der Mitte steht ein
Aquarium, aus dem die noch lebenden rade dem Ausländer der beste Service
wird mit dem Rückgeld verfahren, geboten werden.
aber manchmal gibt der Verkäufer Fische und Garnelen, die für das Sus-
das Geld in die Hand, z. B. im McDo- hi vorgesehen sind, herausgenommen
und geschlachtet werden. Je frischer Lächeln
nalds oder im Convenience Store. Das
geschieht dann äußerst zeremoniell, das Sushi, desto teurer. Diesmal ist es Alle Dienstleistungen werden in
der Kunde streckt die offene Hand sehr frisch. Ein Hummer liegt auf Japan freundlich und lächelnd ver-
aus, der Verkäufer legt offen seine unserem Tisch. Herr Wake meint, das richtet. Das ist inzwischen sprich-
linke Hand wiederum unter die Hand Tier lebe noch. Ich sehe ihn ungläubig wörtlich. Darüber hinaus begleitet
des Kunden und mit der rechten über- an und er gibt dem Hummer einen das Lächeln aber auch jeglichen ge-
gibt er das Rückgeld. Es fühlt sich ein Stups. Und siehe da, das Tier bewegt sellschaftlichen Umgang. Allerdings
bisschen so an, als ob der Verkäufer sich, obwohl seine Innereien ausgeris- bedarf es einer längeren Übung bzw.
mit mir Händchen halten würde, und sen daneben liegen. Sushi made in eines großen Einfühlungsvermögens,
ich bekomme auch noch Geld dafür. Japan schmeckt übrigens tausendmal das Lächeln in den verschiedenen Si-
Der Kunde soll sich wie im Him- besser als Sushi made in Germany. tuationen richtig zu deuten.
mel fühlen. Das Restaurant ist mein Das Sushi des teuersten Japaners in Wenn mich ein Japaner auf einer
Hirte, mir soll nichts mangeln. Dafür München würde in Japan wegen der Feier auffordert, ich sollte ihn doch
steigt der Preis ein bisschen, aber nur mittelmäßigen Qualität wahr- mal besuchen kommen, dann sind das
man fühlt sich wirklich immer gut scheinlich im Supermarkt verkauft nur Floskeln. Solange er kein „unbe-
aufgehoben. Allein schon für das Lä- werden. dingt“ oder „ich würde mich wirklich
cheln der Bedienungen, die auf jeden In dem Restaurant, wo ich mit sehr freuen“ mit einbaut, ist es nicht
Wunsch binnen kürzester Zeit reagie- Herrn Wake sitze, esse ich wahr- ernst gemeint, und wenn nun der

BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung 17


Ausländer freundlich berührt seinen fach und meinem Forschungsvorha- richtig zu machen und ein bisschen
Terminkalender herausholt, um eine ben passen. Selbstdarstellung, von seinen Hob-
Zeit auszumachen, wird sich der Ja- bys, von seinen Interessen und was
Die Sprachbarrieren sind jedoch,
paner ziemlich erschrecken und lä- man sonst noch im Leben vorhat.
auch wenn man sich in Deutschland
cheln. Aber eigentlich ist diese Vorstellung
bereits angestrengt hat, Japanisch zu
Dies ist die eine Seite des japani- rein formell. Es muss gar nicht der
lernen, viel zu hoch. Um zu ermitteln,
schen Lächelns: Wenn etwas zu weit Wahrheit entsprechen, was man da so
wie gut die Japanischkenntnisse des
geht, wird gelächelt, weil man be- erzählt, aber in dem Moment, wo der
Austauschstudenten sind, gibt es den
schämt ist. Als ich bei dem Besuch in Vortrag gehalten wird, muss es so
Jitsuryoku-tesuto. Den „wahres-Kön-
einer Familie den Sohn frage, ob ihm authentisch wie möglich rüberkom-
nen-Test“. Der Name ist Programm.
sein Studium gefalle, lächelt er – als men. Asiaten können so etwas gene-
Wir bekommen eine Japanisch-Klau-
Zeichen, dass ich ihn so etwas bitte rell besser. Einfach, weil in Asien im
sur vorgelegt, die mehr oder weniger
nicht fragen soll. Japanisches Lächeln Allgemeinen und in Japan im Beson-
schwer ist. Es müssen einige schwie-
muss also nicht unbedingt positiv deren der Unterschied zwischen der
rige Zeichen eingesetzt, grammati-
sein. So erklärten es mir die Japaner, äußeren Vorstellung und dem eigent-
sche Formen richtig gewählt und
die ich darüber ausgefragt habe. An- lichen Wollen ziemlich drastisch ist.
Fragen auf Japanisch beantwortet
dererseits kann Lächeln natürlich Der Schein muss gewahrt werden und
werden. Doch das ist nicht alles. Es
auch „sich freuen“ heißen. „Tatemae“ die Vorstellung muss professionell
sind zwei „Jikoshokais“, zwei Selbst-
ist, was man vorgibt, der äußere sein. Kim, unser koreanischer Kom-
vorstellungen fällig. Einmal im Rah-
Schein, die Fassade; dagegen ist militone hat bei der Ankunft am Flug-
men der Zeremonie, wo die neuen
„Honnin“, was man eigentlich meint, hafen bereits einen Anzug getragen.
ausländischen Studenten sich der
die Absicht. Um nicht ins Fettnäpf- Der erste Eindruck muss stimmen.
Chefetage der Universität vorstellen,
chen zu treten, was eigentlich ein Der Unterschied zwischen Gesagtem
und danach nochmal im kleinen
Ding der Unmöglichkeit ist, sollte und Gemeintem ist äußerst schwer zu
Kreis, vor Herrn Watanabe und dem
man schweigen, so bescheiden sein, begreifen (s. o.).
Abteilungsleiter der Fakultät, für die
wie es geht, und . . . lächeln. Jedoch, Und da stehe ich nun, vor dem
man sich eingeschreiben hat. Die ers-
selbst wenn man über japanische Stab der Taisho-Universität. „Guten
te ist eine offizielle Veranstaltung.
Sprachkenntnisse verfügt, bleibt die Tag, meine Damen und Herren. Mein
Nach einer kurzen Vorrede ruft Herr
Verständigung oft schwer. Name ist . . . usw. . . . und ich denke,
Watanabe einzeln die Namen der Stu-
ein sinnvolles Studium in Japan zu
denten auf. Die erheben sich dann
führen . . .“ Wir müssen den Text aus-
Vorstellung an der von ihren Sitzen, verbeugen sich ein-
wendig, ohne Spickzettel fehlerfrei
Universität mal vor dem Publikum, danach vor
vortragen. Und es muss natürlich
den Präsidenten und Abteilungslei-
spontan und locker klingen. Ein Do-
Meinen Eintritt in die Uni hatte tern der Universität, bekommen ein
zent vor mir nickt mir pro Satz immer
ich mir etwas leichter vorgestellt. Ich Mikrophon ausgehändigt und müssen
zu und das beruhigt mich. Nach 30
dachte zuerst, alles läuft so, wie ich es eine Rede halten. Je länger, höflicher
Sekunden bin ich fertig, so schwer
mir in Deutschland vorgenommen und lobender desto besser. Der Inhalt
war es gar nicht. Es folgt Applaus.
habe. Vor meinem Abflug nach Japan der Rede sollte sich vor allem darum
Danach kommt dasselbe nochmal,
hatte ich mir bereits einige Seminare drehen, wie glücklich man ist, hier zu
aber ohne Publikum. Es ist ein biss-
ausgesucht, die zu meinem Studien- sein, dass man sich anstrengt, alles
chen wie beim Casting: Wir sitzen zu
viert in einem Raum. Zuerst wird Kim
aufgerufen, er geht in ein Zimmer, ich
sehe nur noch seine erste Verbeu-
gung, dann macht Frau Uchida von
außen die Tür zu. 20 Minuten später
bin ich dran. Frau Uchida flüstert mir
noch schnell zu, dass ich mich zwei-
mal verbeugen müsse, einmal in der
Tür und danach nochmal, kurz bevor
ich mich hinsetze. Ich versuche es, so
gut es geht. Verbeugungen sind nicht
so leicht, wie man sich das vorstellt.
Der Rücken muss absolut gerade sein
und je höher der Gegenüber gestellt
ist, desto tiefer muss die Neigung des
Oberkörpers sein. Ganz wichtig ist es,
dem Gegenüber nicht in die Augen zu
schauen. Die Faustregel lautet: Star-
ren Sie den Boden an. (Beim Sport, z.
B. bei Karate, geht die Verbeugung
etwas anders. Hier muss der Gegner
angeschaut werden. Man verbeugt
sich so weit, wie man dem Gegner in
die Augen sehen kann.)
Plastiniertes Essen – praktisch für alle, die kein Japanisch können oder den Meine Vorstellung läuft nicht so
Namen des Gerichts nicht wissen. toll, wie ich es gehofft habe; das liegt

18 BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung


vor allem daran, dass ich den Profes-
sor, der mit mir spricht, kaum verste-
he. Nun ist es klar: Ich muss noch
mehr den Sprachkurs besuchen. Von
meinen Seminaren, die ich ursprüng-
lich besuchen wollte, bleibt keins üb-
rig. Alles überschneidet sich mit dem
Sprachkurs. Schließlich darf ich im
Wintersemester nur zwei Seminare
besuchen, eben wegen der mangeln-
den Sprachkenntnisse.
Das ist schade, aber mein Japa-
nisch wird dadurch sicher besser, weil
wir in eine Klasse mit 20 Chinesen
gesteckt werden, die alle schon ein
Jahr in Japan sind und so gut Japa-
nisch können, dass ich zuerst dachte,
sie seien wirklich Japaner. Das Ni-
veau ist sehr hoch, wir übersetzen
Artikel aus Asahi Shinbun, die meis-
tens von aktuellen Themen handeln.
Von meinem ursprünglichen For-
schungsvorhaben bleibt nicht viel üb-
Das S-Bahn-Netz des Großraums Tokyo.
rig. Ich habe auch keine Zeit mehr,
mich damit zu beschäftigen. Die zwei
Seminare, die ich nun belege, sind in- Wenn die Ampeln auf Grün schalten, nicht. Aber die Gebäude sehen alle
teressant, aber wegen des hohen Ni- sind alle Übergänge für Fußgänger aus wie aus dem Boden gestampft
veaus eine enorme Herausforderung. gleichzeitig freigeschaltet. Ein Zebra- und aus Holz und Plastik zusammen-
streifen fasst so viele Menschen wie gekleistert. Die Wände sind meist
Die Kapitale die Münchner Fußgängerzone am grau.
Samstagnachmittag. Die erste Hälfte
Tokyo als Stadt ist schwer zu be- kann man ohne weiteres überqueren, Es gibt unglaublich viele Krähen
schreiben. Kulturelle Sehenswürdig- aber dann trifft man auf den Gegen- in der Stadt. Das liegt am Müll. Die
keiten gibt es nicht viele. Dafür sollte verkehr. Stadt unternimmt große Anstrengun-
man nach Kyoto fahren. Zum Ver- gen, um mit den enormen Müllmen-
Abgesehen von den lärmenden Au- gen fertig zu werden. Und deshalb ist
gleich: In Tokyo stehen knapp 400
tomotoren und den rasselnden U- auf dem Plakat, das zum Vermeiden
Tempel. In Kyoto ca. 1200. Dagegen
Bahn-Zügen, die oft überirdisch fah- von Müll aufrufen soll, ein Haufen
ist die Tokyoter Bevölkerungszahl
ren, wird die Szene noch mit Tausen- von Krähen zu sehen, die sich eben
dreimal so groß wie die von Kyoto,
den von Monitoren, Fernsehbildschir- auf einem dieser Müllberge laben, mit
wenn nicht größer.
men und Neonreklamen akustisch der Überschrift „Ah, in Tokyo lässt
In Tokyo gibt es vor allem Hoch-
wie optisch untermalt. sich’s gut leben“.
häuser, Wohnblocks, U-Bahn-Linien,
überfüllte Straßen, Menschen auf Weil so viele Menschen unterwegs
sind, bilden sich überall automatisch Und eigentlich stimmt das auch.
engstem Raum, Smog und Lautstär- Vor allem jetzt im Winter, da die Son-
ke. Schlangen. Sich auf eigene Faust
durchdrängeln hat keinen Zweck, es ne früh untergeht und die Neon-Lich-
Wären die Distanzen, die mit der ter früh brennen, entwickelt Tokyo
U-Bahn zurückzulegen sind, nicht so ist zu anstrengend. Also läuft man
direkt hinter dem Vordermann, der seinen Charme. Steigt man auf das
weit, dann könnte man die Sehens- Rathaus, das übrigens genauso hoch
würdigkeiten der Stadt wahrschein- wiederum seinem Vordermann folgt,
etc. Auf diese Weise bilden sich paral- ist wie der Tokyo-Tower, das Ziel der
lich an einem Tag abhaken. Die Frage meisten Touristen, und das einen viel
ist natürlich, was man als „Sehens- lel fünf bis sechs Reihen. Aus seiner
Reihe sollte man auch nicht heraus- schöneren Ausblick bietet, so liegen
würdigkeit“ bezeichnet. Wenn es um plötzlich die Sterne unter einem und
Tempel, Museen, Monumente oder laufen und genauso wenig sollte man
stehen bleiben. Denn dann bliebe der es entsteht eine ganz besondere At-
Parks geht, dann hat Tokyo nicht so mosphäre.
viel zu bieten. Der Reiz von Tokyo Hintermann auch stehen, und darauf-
liegt in der schieren Größe der Stadt hin auch dessen Hintermann, bis die Um Tokyo wirklich genießen zu
und den Eigenheiten, die die Urbani- ganze Schlange stillsteht. Auch an können, ist jedoch ein prall gefüllter
sierung hervorgebracht hat. Was ist der Kasse funktioniert in Japan das Geldbeutel vonnöten. Kochen zu Hau-
das für ein Gefühl, in Shibuya über Schlangestehen. Natürlich stellen se kann man vergessen, solange man
den Zebrastreifen zu laufen? Im Prin- sich die Japaner auch am Bus an, et- keinen festen Job hat. Das Essen in
zip sind es sechs Zebrastreifen in ei- wa wie in England. manchen Restaurants ist billiger. Ich
nem. Die sich kreuzenden Straßen Seinen eigentlichen Reiz entwi- kann für 700 Yen (6 Euro) eine große
sind so breit wie die Champs-Elysées ckelt Tokyo bei Nacht. Am Tag ist es Schüssel chinesische Nudelsuppe es-
in Paris und alle vier Übergänge sind eher eine wenig ansprechende Metro- sen, die sehr gut schmeckt. Für das-
mit einem 30 Meter breiten Zebra- pole. Der Boden ist zwar sehr sauber selbe Geld bekomme ich im Super-
streifen gekennzeichnet. Die zwei an- und einen spezifischen U-Bahn-Ge- markt z. B. nur eine Packung Manda-
deren Übergänge laufen diagonal. ruch wie in Paris gibt es hier gar rinen und 350 g Butter.

BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung 19


Man sollte auch keine Angst vor Eine weitere Charakteristik der werden. Überall stehen Marktschrei-
engen Räumen haben. Das bezieht Stadt sind die Automaten, auch „Ven- er vor einem kleinen Tisch, auf dem
sich nicht nur auf die kleinen Woh- ding Machines“ genannt. Alle 20 Me- alles Mögliche angeboten werden
nungen, sondern auch auf die U- ter kann man einen erblicken. Es kann, vom gebrauchten Laptop bis
Bahn. Wer um 23 Uhr stadtauswärts werden nicht nur Zigaretten oder Ge- zum gebrauchten Prozessorlüfter,
fahren muss, hat ein Problem: es ist tränke verkauft, sondern auch Essen. Kabel, Teleobjektive, Videokameras,
Rush-Hour. Und das ist dann tatsäch- Man sucht sich einfach das gewünsch- Taschenrechner, wahrscheinlich so-
lich so, wie man das aus den einschlä- te Gericht aus, indem man den ent- gar Nachtsichtgeräte oder digitale
gigen Fernsehreportagen kennt. Ge- sprechenden Knopf drückt, und war- Wörterbücher, die aussehen wie ein
sichter plattgedrückt an den Fenster- tet ein paar Sekunden. Denn das Es- Mini-Laptop. Und aus jedem Laden
scheiben, von den Menschen sind nur sen wird noch aufgewärmt. Man zieht ertönt: „Irrasshaimasssssssssseeeee-
noch die Konturen erkennbar, keiner eine Klappe hoch und vor einem liegt ee“, das „Herzlich willkommen“. Je
kann sich bewegen und von außen ein runder Becher aus Aluminium. mehr Kunden anstehen, desto lauter
wird nochmal reingedrückt (weiße Sieht aus wie ein Joghurtbecher, al- schreit der Verkäufer. Das ist ein Zei-
Handschuhe, klar), irgendwie gehen lerdings in Übergröße. Beliebt sind chen dafür, dass der Laden gut läuft.
noch 10 Leute rein und wenn die U- Nudelsuppe oder Curryreis. So richtig Es ist schon ein bizarres Gefühl, wenn
Bahn beschleunigt und dabei einer schmeckt das allerdings nicht, aber ich vor einem dieser Stände stehe und
umfällt, gibt es eine Kettenreaktion. für Deutschland sind diese Automa- der Verkäufer einen Meter vor mir
Aussteigen ist auch immer ein Kraft- ten immer noch Zukunftsmusik. Für immer noch derart brüllt, dass ich
akt, da hilft nur eins: durchboxen. den schnellen Durst, und der kann bei mein eigenes Wort nicht verstehen
Anders gehts eben nicht. Oder ich den hohen Sommertemperaturen un- kann. Egal welchen technischen
lasse mich einfach von den Fahrgäs- versehens eintreten, sind die Maschi- Schnickschnack du schon immer in
ten herausdrücken, die hinter mir nen ideal. Japan kaufen wolltest, in Akihabara
stehen, aber das kann manchmal weh kriegst du ihn. Mit etwas Glück sogar
Was ist in Tokyo nun sehenswert, mit 12% Ermäßigung. Wie in einem
tun. Dafür hat die Tokyoter U-Bahn
außer der Skyline und den nächtli- Basar, muss man auch in Akihabara
keine Verspätungen und es funktio-
chen Neon-Lichtreklamen? Was wirk- feilschen. Das ist viel leichter als er-
nieren auch alle Rolltreppen.
lich jeder Tokyo-Reisende sehen wartet. Als ich mir meinen Laptop
Tokyo ist fast nicht von seiner U- muss, ist das Stadtviertel Akihabara, kaufen wollte, habe ich dem Ange-
Bahn zu trennen, allein schon wegen „Ursprung der Herbstblätter“, so die stellten einfach meinen Studenten-
der großen Entfernungen. Zu Fuß zu direkte Übersetzung. Hier gibt es al- ausweis mit den Worten gezeigt „Ich
gehen, kommt nicht in Frage, ein Taxi les, was nur irgendwie mit elektri- bin Student. Gibt es eine Ermäßi-
ist zu teuer und selbst Autofahren schen Geräten zu tun hat. Alles, was gung?“. Klar, gab es. Der Verkäufer
macht keinen Spaß. Es herrscht übri- einmal ein Elektroingenieur erfunden zieht einen Taschenrechner heraus,
gens Linksverkehr. Von meinem oder gebaut hat, gibt es hier zu kau- tippt ein bisschen herum, nach wel-
Tempel aus fahre ich täglich 20 Min. fen, verteilt auf Tausende von Läden. chen Regeln auch immer, und zeigt
mit dem Fahrrad zur U-Bahn-Stati- Der U-Bahn-Ausgang heißt „Akihaba- mir das Resultat. Ich spare 200 Euro.
on, dann eineinhalb Stunden mit der ra Electric Town“. Der Name ist Pro- Ich willige ein.
Bahn zur Uni. Also fahre ich jeden gramm. Interessant wird es vor allem
Tag drei Stunden U-Bahn, aber daran in den kleinen Straßen. Dort kommt
gewöhnt man sich. Manchmal kann man sich wie in einem Basar vor, wo Schreine und Tempel
man lesen oder schlafen. allerdings nur Ersatzteile verkauft Wer es etwas traditioneller mag,
sollte zwei Orte besichtigen, den Mei-
ji-Schrein und das Stadtviertel Asa-
kusa. Der Meiji-Schrein wurde zu
Ehren des berühmten Kaisers Meiji
errichtet, der von 1868 bis 1912 re-
gierte. Der Hinweg führt durch einen
Park und ist recht idyllisch, käme aus
dem Off nicht der Lärm der S-Bahn,
die 200 Meter weiter rechts vorbei-
rauscht. Der Schrein ist sehr groß
und erinnert fast schon an einen Tem-
pel. Wobei Schreine und Tempel
nichts miteinander zu tun haben.
Schreine sind shintôistisch, Tempel
buddhistisch. Der Unterschied zwi-
schen Shintô und Buddhismus ist so
groß wie der zwischen dem Christen-
tum und den Bräuchen der Indianer,
d. h. es gibt keine Gemeinsamkeiten.
Der Shintôismus ist eine Art Schama-
nismus, hier werden die Geister, die
Kami, die in allen Dingen wohnen,
verehrt. Die Kami sind überall, z. B.
in den Bäumen, im Wasser und na-
Straßenkreuzung in Tokyo. türlich sind die toten Ahnen auch alle

20 BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung


Kami. Shintô ist die ursprüngliche
Religion Japans. Noch bevor im 6. Jh.
n. Chr. der Buddhismus aus China
über Korea nach Japan kam, wurde
in Japan das Shintô praktiziert. Inte-
ressant ist, dass es im Shintô keine
grundlegende Schrift wie die Bibel
gab, genausowenig gibt es ein Lehr-
system. Ziel ist es, die Kami zu be-
sänftigen und die Harmonie herzu-
stellen. Wenn man einen Schrein be-
sucht, wirft man zuerst eine 5-Yen
Münze in eine Truhe (5 ist eine
Glückszahl, diesen Brauch gibt es
auch im Buddhismus), klatscht zwei-
mal in die Hände und verbeugt sich.
Auf diese Weise wird den Kami gehul-
digt. Die Rituale sind sehr stark mit
Sitten und Gebräuchen verbunden, je
nach Region gibt es andere Rituale
und Auffassungen. Schreine werden
für Hochzeiten und Geburten besucht,
ähnlich wie im Christentum die Kir-
che. Begräbnisse finden in einem Gedränge zum Meiji-Schrein am Jahreswechsel 2003/2004.
Tempel statt. Denn im Shintô ist der
Kontakt mit Leichen (auch mit Blut
cherweise in China und Japan als eine „Tariki“, eine „andere Kraft“-
und allem anderen Unreinen) verbo-
Provokation empfunden, zumal er von Schule, weil eben durch eine fremde
ten.
amtierenden Politikern besucht wird Kraft, die des Buddhas, die Erleuch-
Das Prinzip der Reinheit spielt in
und für rechte Gruppen ein Wall- tung garantiert wird. Im Gegensatz
der japanischen Kultur eine wichtige
fahrtsort ist. dazu stehen die „Jiriki“, die „eigene
Rolle und hängt mit dem Grundge-
Alle Schreine haben eine „Tôrii“, Kraft“-Schulen. Ein Beispiel dafür ist
danken des Shintô zusammen. In ei-
das sind die berühmten Tôrii, durch die berühmte Zen-Schule, wo eben
nem Schrein soll die Harmonie mit
die die Kami Kontakt mit der realen nur durch strenge Meditation die Er-
den Göttern, den Kami, wiederherge-
Welt nehmen. Eine Tôrii besteht aus leuchtung erreicht werden kann. Eine
stellt werden, der Zustand soll wieder
Balken, die nebeneinander wie ein weitere in Japan nicht allzu stark
„ins Reine gebracht werden“. Bereits
Tor aufgestellt sind, über den zwei vertretene „Jiriki“-Schule ist die
in der japanischen Mythologie findet
Balken liegt ein dritter. Die Größe der Shingon-Schule, in der esoterische
sich dieser Gedanke, wo die Göttin
Tôriis ist unterschiedlich, je nachdem Rituale praktiziert werden.
Izanami, nachdem sie ihren Bruder
Izanagi getötet hat, ihr Blut im Meer wie wichtig der Schrein ist. Sie sind Alle Tempel sind einem Haupttem-
abwäscht, um sich zu reinigen. Kon- mindestens so groß, dass ein Mensch pel untergeordnet und jede Schule
kret manifestiert sich dies im japani- durchpasst. Die Tôriis sind meistens hat ihren eigenen Haupttempel. Der
schen Alltagsleben, wenn zu Hause rot, wie die des Meiji-Schreins. Die der Shingon-Schule befindet sich z. B.
die Tatami-Matten nicht mit Schuhen Tôrii des Yasukuni-Schreins ist pas- auf dem Koya-Berg in der Nähe von
betreten werden dürfen. Mit der Mei- senderweise aus Stahl. Vor dem Ya- Kyoto, da Kukai, der Begründer des
ji-Restauration in der zweiten Hälfte sukuni-Schrein liegt eine Auffahrtsal- Shingon-Buddhismus, seinen Tempel
des 19. Jh. wurde Shintô zu einer lee, auf der Paraden abgehalten wer- im 9. Jh. eben auf dem Koya-Berg
Staatsreligion und der Tennô als das den. Mitten auf dieser Allee steht die bauen ließ. Aber auch die meisten
höchste Prinzip im Staat erklärt; ihm Bronzestatue eines Samurais. Er ist kleinen Tempel sind ziemlich alt und
musste dementsprechend gehuldigt der Gründer der ersten japanischen es ist keine Seltenheit, dass ein Tem-
werden. Armee. pel bereits aus dem Mittelalter
Die Japaner mussten sich nun Nach dem Zweiten Weltkrieg gab stammt.
auch an einem Schrein registrieren der Tennô den Status göttlicher Exis- Der Tempel, in dem ich wohne, der
lassen. Tempel und alle anderen bud- tenz auf und der staatliche Zuschuss Eiganji, „Tempel des ewigen Frie-
dhistischen Institutionen wurden zu für die Schreine wurde eingestellt. dens“, gehört der Jodo-Schule an.
Gunsten der Schreine vernachlässigt. Zugleich wurde wieder mehr Wert auf Nach westlicher Vorstellung ist ein
Zu Ehren des Kaisers Meiji wurde der den Buddhismus gelegt. asiatischer Tempel häufig ein riesiger
Meiji-Schrein gebaut. Dieser Schrein Im Buddhismus gibt es mehrere Bau, in dem eine Vielzahl von Mön-
hat eine Sonderstellung, denn der Sekten, die die Religion auf verschie- chen jeden Tag betet und hart arbei-
Bau wurde staatlich finanziert, an- dene Weise ausgelegt haben. Die po- tet, etwa wie in dem Film „Erleuch-
ders als die normalen Schreine. Es ist pulärste Schule ist die Jôdô-Schule, tung garantiert“ dargestellt. Solche
einer der größten Schreine in Japan, die Schule des „Reinen Landes“. Laut Einrichtungen gibt es natürlich, aber
zusammen mit dem „Hauptschrein“ Jôdô-Schule reicht es für die Erleuch- der Eiganji, sowie die meisten ande-
in Ise und dem umstrittenen Yasuku- tung aus, einmal im Leben ein spezi- ren Tempel, besteht aus einem großen
ni-Schrein, der eine Gedenkstätte für elles Gebet, das Nenbutsu, zu spre- Einfamilienhaus, einem Friedhof, ei-
alle gefallenen japanischen Soldaten chen. Eigene Anstrengung ist nicht nem Raum für Besucher und natür-
ist. Dieser Schrein wird verständli- nötig, deswegen ist die Jôdô-Schule lich einer Halle, in der eine Bud-

BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung 21


dhastatue steht und Gebete gehalten den. Generell geht es den Tempeln Obwohl ich in einem Tempel woh-
werden. Jeder Tempel wird von einer jedoch sehr viel besser als den Schrei- ne, bekomme ich im Alltag von den
Familie verwaltet. Der Tempel wird nen, denn diese bekommen keine Un- Riten nicht allzu viel mit. Ich gehe je-
innerhalb der Familie vererbt, jeden- terstützung mehr, mit Ausnahme der den Morgen um 8 Uhr aus dem Hau-
falls in der Jôdô-Schule. In der Shin- staatlichen Schreine. se, um in die Uni zu fahren. Der letzte
gon- oder in der Zen-Schule kann Unterricht endet um 21.30 Uhr.
auch vom Tempelbesitzer ein Nach- Ich werde in Briefen aus Deutsch- Manchmal sind Besucher im Tempel,
folger ernannt werden, der nicht der land häufig gefragt, ob es in meinem aber die bleiben lieber unter sich. Ich
Familie angehört. Tempel Mönche gibt. Der Eiganji ist habe jedoch Gelegenheit, an bestimm-
Die Finanzierung eines Tempels klein, es gibt nur einen Priester. Im ten Feierstunden teilzunehmen.
ist kompliziert, es gibt Steuererleich- Buddhismus gibt es keinen Unter- Den Umstand, in diesem Tempel
terungen, bzw. es werden auch Steu- schied zwischen Mönch und Priester. unentgeltlich wohnen zu dürfen, ver-
ern für die Tempel erhoben und jeder Jeder, der einmal die Weihe erhalten danke ich den guten Beziehungen, die
Tempel wird von dem jeweiligen hat, darf predigen und spätestens zwischen dem Japanzentrum der
Haupttempel finanziell unterstützt. wenn der Vater es verlangt, muss das LMU und dem Tempelbesitzer, der
Eine gesetzliche Neuregelung hat in auch praktiziert werden. Konflikte in auch an der Taisho-Universität lehrt,
jüngster Zeit die Besteuerung der der Familie kommen vor, denn nicht bestehen. Der relativ enge Kontakt
Tempel verschärft. Ihre wichtigste jeder Sohn will auch wirklich den zur „Tempelfamilie“ wird dazu beitra-
Einnahmequelle sind Almosen und Tempel übernehmen. Die Ausbildung gen, dass sich die anfängliche Fremd-
Spenden. Dabei ist die Popularität zum Priester dauert 60 Tage. Nach heit verliert und dass sich Vertraut-
des Tempels ausschlaggebend. Ist der der Weihe kann der Priester theore- heit mit der fremden Kultur einstellt.
Tempel nicht beliebt, bleiben die Be- tisch einen Tempel leiten, vorausge-
sucher aus und es gibt weniger Spen- setzt er hat einen. Philipp Aubert

Neuerscheinung:

Klaus Schroeder: Rechtsextremismus und


Jugendgewalt in Deutschland
Aus der Einleitung des Autors

Das wiedervereinigte Deutschland deutschen Teilstaaten nach 1945 in


erlebte Anfang und Ende der neunzi- Kapitel II verdeutlicht, inwieweit
ger Jahre des letzten Jahrhunderts systembedingte und systemunab-
zwei (diffus) rechtsextremistisch mo- hängige Faktoren die Entstehung
tivierte Gewaltwellen, die die Öffent- und Verbreitung begünstigen.
lichkeit erschütterten, aber auch auf- Die ebenfalls vergleichende Re-
rüttelten. Inzwischen haben sich er- konstruktion der Entwicklung in
wiesene oder vermutete Straf- und Ost- und Westdeutschland nach
Gewalttaten von rechtsextremistisch der Wiedervereinigung liefert In-
eingestellten Personen auf hohem Ni- dizien, inwiefern die in den beiden
veau stabilisiert, wobei offen ist, ob Teilstaaten unterschiedlichen Be-
eingeleitete Gegenmaßnahmen dieses dingungen und Erfahrungen auf
Gewaltpotenzial nachhaltig einge- das Verhalten nachwirken und wo
dämmt haben oder ob nach neuen aktuelle Geschehnisse und Verei-
auslösenden Ereignissen wieder eine Der Autor, PD Dr. Klaus Schroeder,
nigungsfolgen konstitutiv sind. Es
Steigerung zu verzeichnen sein wird. bei der Vorstellung der Studie im
geht also um die Beantwortung der
bayerischen Kultusministerium
Unser am Forschungsverbund Fragen, ob über zwölf Jahre nach
SED-Staat der Freien Universität der Vereinigung in diesem Feld Un-
Berlin angesiedeltes und im Januar terschiede oder Gemeinsamkeiten Die meisten Erklärungsansätze
2001 begonnenes Forschungprojekt, überwiegen und ob (extremistische) knüpfen dabei mehr oder weniger
dessen Ergebnisse hiermit in Buch- Einstellungen und Verhaltenswei- erkennbar an tradierte Theorien
form vorliegen, versucht, der Erklä- sen vornehmlich sozialisations- zur Erklärung des Faschismus/
rung von Rechtsextremismus und Ju- oder situationsbedingt sind. Nationalsozialismus/Extremismus
gendgewalt auf mehrfache Weise nä-
Seit den achtziger Jahren versuchen an. Dabei überwiegen Versuche,
her zu kommen.
Sozialwissenschaftler verschiede- marxistische Erklärungsvarianten
– Die vergleichende historische Be- ner Disziplinen wieder verstärkt, zu aktualisieren, wobei die Band-
trachtung der Entwicklung rechts- den Phänomenen Rechtsextremis- breite von marxorthodoxen The-
extremistischer Einstellungen und mus und Jugendgewalt auch the- orieentwürfen bis zur Kritischen
Verhaltensweisen in den beiden oretisch auf die Spur zu kommen. Theorie reicht. Andere theoretische

22 BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung


Überlegungen stellen sich in die nisoffener abzufra-
Tradition einer marxistisch ange- gen. Da wir davon
hauchten Modernisierungstheorie ausgehen, dass Ge-
oder soziologischer Ansätze zur waltakzeptanz und
Erklärung von gesellschaftlicher -bereitschaft nicht
Anomie und Deprivation. unmittelbar konsti-
– Die in Kapitel III erfolgte Darstel- tutiv für rechtsex-
lung und vergleichende Bewertung tremistisch einge-
der wichtigsten theoretischen Er- stellte Jugendliche
klärungen zum Rechtsextremismus sind, sondern Ge-
und zur Jugendgewalt verdeutlicht walt eher mit anti-/
die Überschneidungen und Abgren- nichtzivilen Ein-
zungen der verschiedenen Ansätze, stellungsmustern
legt aber zugleich offen, dass die verknüpft ist,
sozialwissenschaftliche Theoriede- haben wir zwei
batte bisher keine allgemein akzep- getrennte Skalen
tierten Antworten auf die Fragen „Rechtsextremis-
geben kann, was Rechtsextremis- tische Einstellun-
mus ausmacht und hervorruft. gen“ und „Anti-/
nichtzivile Einstel-
Seit der Veröffentlichung der heftig lungen“ gebildet.
umstrittenen Sinus-Studie Anfang Darüber hinaus
der achtziger Jahre, die einen von enthält der Frage-
der Öffentlichkeit nicht erwarteten bogen Skalen zur
hohen Anteil rechtsextremistisch Familiensituation
eingestellter Personen in der deut- und zum Antiame-
schen Bevölkerung (vermeintlich) rikanismus sowie
feststellte, wurde eine Vielzahl verschiedene Ein-
standardisierter Befragungen zu zelitems u. a. zur
dieser Thematik durchgeführt. Sie politischen Selbst-
unterscheiden sich im Design und einstufung und
Ergebnis mitunter erheblich. zum DDR-Bild.
– Die wichtigsten standardisierten
– Die Auswertung der standardisier- Fallstudien neben dem Selbstbild
Befragungen und ihre Ergebnisse
ten Befragung erfolgt in Kapitel V der Befragten Sichtweisen ver-
werden in Kapitel IV vorgestellt
vergleichend nach verschiedenen schiedener Akteure auf die rechts-
und vor allem hinsichtlich ihrer
Kategorien und erlaubt eine Ein- extremistische und gewaltbereite
Operationalisierung von Rechtsex-
grenzung der Erklärungsfaktoren.
tremismus kritisch analysiert. Szene, ohne dass diese selbst in die
Die Vergleichsebenen erstrecken
Nicht repräsentativ, aber analy- Interviews einbezogen wurde.
sich von Alter und Geschlecht über
tisch tiefer und umfangreicher fal- Schultypen bis zu Städten und Re-
len Studien aus, die kleine Gruppen Die integrale Betrachtung und
gionen.
von Jugendlichen befragen oder die Analyse der verschiedenen Unter-
Biographien jugendlicher Gewalt- Die Ergebnisse der standardisierten suchungsebenen ermöglicht uns
täter mit und ohne rechtsextremis- Befragung zeigen ein von den meis- eine differenzierte Einschätzung
tischem Hintergrund auswerten. ten Studien deutlich abweichendes
von rechtsextremistischen und
Die Ergebnisse dieser Studien, von Resultat. Zur tiefergehenden Erklä-
anti-/nichtzivilen Einstellungen
denen einige ebenfalls in Kapitel IV rung und Erhärtung oder Modifika-
tion der Ergebnisse führten wir in und Verhaltensweisen sowie ihrer
diskutiert werden, decken sich nur Wahrnehmung durch theoretische
zum Teil mit denen der standardi- den vier Kleinstädten Fallstudien
durch. Zu diesem Zweck wurden Erklärungsansätze und empirische
sierten Befragungen.
Schüler, Lehrer, Sozialarbeiter, Studien.
Das „Herzstück“ unserer eigenen Kommunalpolitiker und ortsansäs-
Projektarbeit stellt die Durchfüh- sige Experten interviewt. – Die Schlussfolgerungen hieraus und
rung und Auswertung einer um- aus den Ergebnissen der eigenen
fangreichen standardisierten Be- – Die vergleichende Auswertung der
Fallstudien in Kapitel VI zeigt die Studien sowie die Formulierung ei-
fragung von knapp 1.000 Schülern
jeweiligen Dimensionen sozialer nes eigenen Erklärungsansatzes in
der verschiedenen Schultypen in
vier ost- und westdeutschen Klein- und politischer Interaktionen sowie Kapitel VII schließen die darstel-
städten dar. das Zusammenspiel der wichtigsten lende und analytische Betrachtung
Akteure auf. ab.
Aufgrund unserer theoretischen Vo-
rannahmen und Kritik an anderen Befragt wurden „normale“ Jugend-
– Im Anhang findet der Leser zum
Studien konzipierten wir einen Fra- liche mit zwar unterschiedlichen
Auffassungen und politischen Ori- besseren Verständnis neben dem
gebogen, der zwar einzelne Items
aus vorliegenden Untersuchungen entierungen, die aber weit überwie- Fragebogen die detaillierte Auswer-
übernimmt, aber auch mit eigenen gend nicht zu rechtsextremistischen tung aller Items sowie zusammen-
Operationalisierungen versucht, und/oder gewaltbereiten Milieus fassende Gruppenprofile für die
Einstellungen präziser und ergeb- gehören. Insofern vermitteln die einzelnen Kategorien.

BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung 23


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24
Fragebogen
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BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung


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25
Neuerscheinung:

Bilanz der Bundestagswahl 2002


Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen
Welche Bedeutung der Bundes- Sicherheitspolitik (Na-
tagswahl 2002 in der künftigen Zeit- to-Doppelbeschluss)
geschichtsschreibung einmal zuge- wie in der Finanz- und
messen werden wird, ist heute offen. Wirtschaftspolitik tat-
Zunächst jedenfalls ist man geneigt, sächlich so disparat,
der Bundestagswahl 1998 tiefer grei- dass Regierung und
fende Bedeutung zuzumessen: Sie Koalition zwei Jahre
brachte das erste Mal in der deut- später an ein Ende
schen Nachkriegsgeschichte einen gelangten, auch und
vom Wähler unmittelbar an der Urne gerade, weil die diszi-
herbeigeführten, vollständigen Aus- plinierende Wirkung
tausch von Regierungs- und Oppositi- eines herannahenden
onsparteien. Vier Jahre später wur- Wahltermins nicht
den jedenfalls zunächst die bestehen- mehr bestand. In wel-
den Rollen bestätigt: Wer bislang re- che Kontinuität bzw.
gierte, konnte es weiterhin tun, wer Diskontinuität wird
bislang in der Opposition stand, die Bundestagswahl
musste es weiterhin tun. 2002 eingefügt sein?
Auch in einem anderen Punkt Ein Ergebnis ist
schien 2002 eher nur moderate Fort- unbestreitbar histo-
setzung, nicht Zäsur zu sein: Die risch: Das Verschwin-
Kampagne von und für Gerhard den der PDS, bis auf
Schröder 1998 stellte den bisherigen zwei Direktmandate,
Höhepunkt an medialen Inszenierun- aus dem Deutschen
gen in der Wahlkampfgeschichte der Bundestag. Ist damit
Bundesrepublik dar: Sie war ganz auf bereits auf nationaler
das Fernsehen und auf plebiszitäre Ebene eine parlamen-
Elemente abgestimmt, wie bei der tarische Kraft an ihr
„Vorwahl“ der Landtagswahl wenige Ende gelangt, die für
Monate in Niedersachsen zuvor, die die historische Konti-
Schröder in die Rolle des Herausfor- nuität des Linksextremismus in Irak-Intervention der USA, unter
derers von Bundeskanzler Helmut Deutschland seit der Konstituierung welchen Umständen auch immer, und
Kohl und damit des Kanzlerkandida- der KPD 1918, für den Antagonismus schließlich die Präsentation von neu-
ten katapultierte. Medial wirkte hin- der Systemauseinandersetzung auf en Rezepten zur Bekämpfung der Ar-
gegen 2002 eher als eine Fortsetzung: deutschem Boden nach 1945 und die beitslosigkeit, die die so genannte
Die „Kampa“ der SPD, das ausgela- schließlich auch für den Versuch ge- Hartz-Kommission vorgelegt hatte –
gerte Herz und Hirn ihrer Wahl- standen hatte, dieses „Erbe“ in die all dies zeigte, welche Findigkeit und
kampfanstrengung, war nun nichts neue Welt einer pluralen, offenen par- welche Triebkräfte in einer für Amts-
Neues mehr, die Unionsparteien hiel- lamentarischen Ordnung einzubrin- inhaber demoskopisch kritischen La-
ten jetzt mit eigenen Medienberatern, gen? Auch wenn der Wahlkampf zur ge notwendig und zugleich abrufbar
darunter insbesondere dem Journa- Bundestagswahl 2002 nicht mehr je- sein können.
listen Michael Spreng, dagegen. ne medialen Innovationen gebracht
Allerdings zeigt die Geschichte der haben mag wie der Wahlkampf zur Umgekehrt müssen auch Fragen
Bundesrepublik, dass auch Wahlen, Bundestagswahl 1998, so produzierte an Strategie und Taktik der Oppositi-
die erst scheinbar im Ergebnis nur er doch unbestreitbar eindrucksvolles on gestellt werden: Brachte sie stets
Kontinuität anzeigen, bei näherem Anschauungsmaterial für die Techni- die richtigen Themen zur richtigen
Zusehen seismografische Verände- ken und Taktiken politischer Akteure Zeit oder hielt sie zulange an einem
rungen erkennen lassen, die erst in und ihre Findigkeit gerade dann, Monopol-Thema – der Situation in
späteren Entwicklungen manifest wenn ihnen der Verlust der exekuti- der Wirtschaft und auf dem Arbeits-
werden. Das eindrucksvollste Beispiel ven Kommandohöhen droht, Auswege markt – fest? Wie erfolgreich waren
für diesen Befund ist wohl die Bun- und Improvisationen zu erschließen, ihre Medieninszenierungen? Die hier
destagswahl 1980, die zunächst, im die zu neuer Mobilisierung führen. aufgeworfenen Fragen an Regierung
arithmetischen Ergebnis gegenüber Die Inszenierung nationalen Zusam- und Opposition weisen über den
der Wahl 1976 sogar gesteigert, den menhalts angesichts der Flutkatas- Wahltag hinaus: Sie berühren grund-
Fortbestand der sozialliberalen Koali- trophe im Elbe-Einzugsgebiet im Au- sätzliche Themen wie die Instrumen-
tion zu gewährleisten schien. Aber die gust 2002, die populäre, respektive talisierung von Außen- und Sicher-
Kräfte unter Bundeskanzler Helmut populistische Absage an eine Beteili- heitspolitik für innenpolitische Zwe-
Schmidt waren in der Außen- und gung der Bundesrepublik an einer cke, die Bestandsfähigkeit und Plan-

26 BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung


barkeit von Kampagnen und schließ-
lich das Thema, wann und wie es ge-
lingt, so genannte weiche an die Stelle
so genannter harter Themen zu setz-
ten. Gerade im Blick auf den Wahl-
kampf im Jahr 2002 wurde auch die
Gewichtung von so genannten Kom-
petenz- wie von so genannten Sympa-
thiewerten intensiv diskutiert.
Schließlich bestätigte bzw. ver-
stärkte das Wahljahr 2002 für das
politische System der Bundesrepublik
wichtige Befunde: zum ersten die Tat-
sache, dass im föderalen, im staatli-
chen Mehrebenensystem der Bundes-
republik Regierungschefs, die bereits
amtliche Regierungsfähigkeit bewie-
sen haben bzw. beweisen, besondere
Chancen besitzen, in den Rang von
Quelle: FGW, Politbarometer, jeweilige Befragung.
Kanzlern bzw. Kanzlerkandidaten
aufzusteigen: Mit Gerhard Schröder,
von 1990–1998 Regierungschef in wohl auch verbunden mit wachsen- Wahlkampfverlauf und Wahlkampf-
Niedersachsen, und Edmund Stoiber, den Diskrepanzen in der Prosperität strategien der Parteien
seit 1993 Regierungschef in Bayern, der einzelnen Landesteile, ein außer-
standen einander zwei Akteure mit ordentlich spannendes Thema gewor- RAINER-OLAF SCHULTZE
einer solchen politischen Biografie den ist. Strukturierte Vielfalt als Wähler-
gegenüber. Das heißt nicht, dass „rei- entscheidung heute?
Die Beiträge gehen auf ein Sympo-
ne“ Bundespolitiker keine Chance auf Eine Analyse der Bundestagswahl
sion der Bayerischen Landeszentrale
den Einzug ins Bundeskanzleramt vom 22. September 2002
für politische Bildungsarbeit, der
hätten. Aber, an dieser Erkenntnis
Sächsischen Landeszentrale für poli-
führt kein Weg vorbei, die Schule ei- HARALD SCHOEN/JÜRGEN W. FALTER
tische Bildung und des Lehrstuhls
ner Staatskanzlei in einer Landes- Wahlsieg, aber auch Wählerauf-
von Prof. Dr. Eckhard Jesse an der
hauptstadt ist in jedem Falle sehr trag?
Technischen Universität Chemnitz
aussichtsreich. Der zweite bemer- Stamm-, Wechsel- und Nichtwähler
im Oktober 2002 zurück. Sie bündeln
kenswerte Befund ist die geografische bei der Bundestagswahl 2002 und
– und das macht den Wert dieses Ban-
Fragmentierung der deutschen Wahl- ihre Wahlmotive
des aus – nicht nur die tagespolitische
landschaft: Nicht nur traten die seit
Momentaufnahme des Wahlausgan-
der ersten Bundestagswahl 1990 er-
ges, sie enthalten zugleich Reflexio- ALEXANDER GALLUS
kennbaren Besonderheiten in den
nen, die dieses Ergebnis in die politi- Wahl als „Demoskopiedemo-
neuen Ländern wieder hervor, die
sche Verfasstheit der Republik inte- kratie“?
außerordentlich niedrige Parteibin-
grieren. Gerade in diesem Sinne ist Überlegungen zur Meinungsfor-
dung wie die Rolle der PDS als ost-
dem Band für die politische Bildung schung und zu ihren Wirkungen aus
deutscher Regionalpartei. Wie selten
weite Verbreitung zu wünschen. Anlass der Bundestagswahl 2002
zuvor wurde im Jahr 2002 auch ein
Nord-Süd-Gegensatz erkennbar. Ob
er wesentlich durch die Polarisierung Dr. Peter März ROLAND STURM
zwischen einem nord- und einem süd- Bayerische Landeszentrale Episode oder Projekt?
deutsch-bayerischen Kanzlerkandi- für politische Bildungsarbeit Die rot-grüne Koalition seit 1998
daten begründet wurde, oder ob sich
dahinter tief greifende, politisch- WERNER J. PATZELT (UNTER MITARBEIT
strukturelle Gegensätze verbergen VON KARIN ALGASINGER)
die, wie manche historische Beobach- Inhaltsverzeichnis Fit für fordernde Verantwor-
ter meinten, bis in das 19. Jahrhun- tung?
dert zurückführen, bis in die Konfron- ECKHARD JESSE Die Zusammensetzung des 15. Deut-
tation von liberalem und katholi- Einleitung schen Bundestages
schem Lager, ist einstweilen so leicht
nicht zu beantworten. Schließlich ero- ECKHARD JESSE UWE THAYSEN
berte die CDU bereits wenige Monate Zwei Parteiensysteme? Fehlstart der Regierung
nach der Bundestagswahl, bei der sie Parteien und Parteiensystem in den Schröder II?
insbesondere in den großen Städten alten und neuen Ländern vor und Regierungsbildung in der Bundes-
West- und Norddeutschlands sehr nach der Bundestagswahl 2002 republik Deutschland – das Beispiel
ungünstig abgeschnitten hatte, die 22. September 2002 bis 14. März
Regierungsmacht in Niedersachsen. OSKAR NIEDERMAYER 2003
Klar ist aber jedenfalls, dass die poli- Wandel durch Flut und Irak-
tische Topografie in Deutschland, Krieg? Autorenverzeichnis

BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung 27


Tabelle 1: Berufsstatistik Deutscher Bundestag – 13. bis 15. Wahlperiode

13. Bundestag 14. Bundestag 15. Bundestag


Stand: 1. Jan. 1995 Stand: 1. Jan. 1999 Stand: 1. Jan. 2003

Abgeordnete insgesamt: 672 (= 100%) 669 (= 100%) 603 (= 100%)


CDU/CSU 294 245 248
SPD 252 298 251
FDP 47 43 47
Grüne 49 47 55
PDS 30 36 (2)

Die Berufsgruppen1) 13. Bundestag 14. Bundestag 15. Bundestag

1. Beamte
a) So genannte politische Beamte 8 8
b) Andere Beamte des höheren Dienstes (Verwaltung) 57 36
c) Beamte des gehobenen und mittleren Dienstes (Verwaltung) 14 13
d) Richter und Staatsanwälte 16 9
e) Berufssoldaten 4 ..
f) Kommunale Wahlbeamte 35 33
g) Professoren an Universitäten und Hochschulen 15 5
h) Andere Wissenschaftler an Universitäten und Hochschulen 41 31
i) Lehrer an Gymnasium (u. ä.) 40 33
j) Lehrer an Grund-, Haupt- und Realschulen (u. ä.) 36 34
Beamte zusammen 229 (= 34,1%) 246 (= 36,8%) 202 (= 33,5%)

2. Angestellte des öffentlichen Dienstes (auch von Körper-


schaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts)
zusammen 72 (= 10,7%) 56 (= 8,4%) 49 (= 8,1%)

2. a) Bedienstete der EG/EU zusammen 2 (= 0,3%) 2 (= 0,3%) 2 (= 0,3%)

3. (Ev.) Pfarrer und Diakone zusammen 9 (= 1,3%) 7 (= 1,0%) 6 (=1,0 %)

4. Angestellte von politischen und gesellschaftlichen


Organisationen
a) Angestellte von Parteien, Fraktionen (u. ä.) 44 37
b) Angestellte von Gewerkschaften und anderen Arbeitnehmer-
organisationen
c) Angestellte sonstiger Organisationen und Institutionen mit
politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und karitativen Ziel-
setzungen 20 19
Angestellte dieser Organisationen zusammen 89 (= 13,2%) 84 (= 12,6%) 70 (= 11,6%)

5. Angestellte in der Wirtschaft (in Industrie, Handel, Hand-


werk, Gewerbe und entsprechenden Verbänden) zusammen 69 (= 10,5%) 92 (= 13,8%) 89 (= 14,8%)

6. Selbstständige (oft zugleich in entsprechenden Verbänden


tätig)
a) Selbstständige in Industrie, Handel, Handwerk und Gewerbe 32 32
b) Selbstständige in Land- und Forstwirtschaft 14 9
Selbstständige zusammen 56 (= 8,3%) 46 (= 6,9%) 41 (= 6,8%)

7. Angehörige freier Berufe


a) Rechtsanwälte und Notare2) 48 56
b) Angehörige anderer freier Berufe (Ärzte, Apotheker, Architek-
ten, Ingenieure, Steuerberater, Schriftsteller und Journalisten
u. a.) 23 26
Freiberufler zusammen 59 (= 8,8%) 71 (= 10,6%) 82 (= 13,6%)

8. Hausfrauen zusammen 18 (= 2,7%) 7 (= 1,0%) 4 (= 0,7%)

9. Arbeiter (ohne solche Abgeordnete, die zwar beruflich als Ar-


beiter begonnen haben, jetzt aber anderen Gruppen zuzurech-
nen sind) zusammen 10 (= 1,5%) 9 (= 1,3%) 3 (= 0,5%)

10. Sonstige (darunter in der Ausbildung befindliche, Arbeitslose


oder bisher ohne Berufsausbildung) zusammen 25 (= 3,7%) 22 (= 3,3%) 25 (= 4,1%)

11. Nicht verwendbare Angaben (fehlende genaue Angaben im


Sinne des vorliegenden Schemas) zusammen 34 (= 5,1%) 27 (= 4,0%) 30 (= 5,0%)

Insgesamt 672 (= 100%) 669 (= 100%) 603 (= 100%)


1
) Aus Gründen der besseren Übersicht wurde auf eine Ergänzung der weiblichen Berufsbezeichnungen verzichtet. Die Begriffe sind daher
geschlechtsneutral zu verstehen.
2
) Als Rechtsanwälte und Notare sind nur diejenigen aufgeführt, die tatsächlich auch freiberuflich als solche tätig waren. Maßgeblich für die
Einordnung in die Gruppe 7a ist daher nicht die berufliche Selbstbezeichnung der Abgeordneten, da Rechtsanwälte durchaus beispiels-
weise auch als Beamte (Gruppe 1), Selbstständige (Gruppe 6) oder Angestellte in der Wirtschaft (Gruppe 5) tätig sein können.

Quelle: Franziska Deutsch/Suzanne S. Schüttemeyer: Die Berufsstruktur des Deutschen Bundestages – 14. und 15. Wahlperiode, in: Zeitschrift für
Parlamentsfragen 34 (2003), dort Tabelle 1

28 BLZ-Report / Januar 2004 / Beilage der Bayerischen Staatszeitung

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