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Karin Orth und die in der überwiegenden Mehrheit bis zum Kriegsende bestanden, kon­

statieren: Beide Formen des Lagers unterschieden sich hinsichtlich der institu­
Die nationalsozialistischen Konzentrationslager 1
i:
tionellen Trägerschaft, der Organisationsstrukturen und der Verfolgungspra­ ~
xis, hinsichtlich der Verfolgtengruppen, der Haftbedingungen sowie der Zahl ~;
der Opfer. Will man dies analytisch fassen, muß für diese Phase des NS-Regi­ 1
mes der Begriff des »Konzentrationslagers« aufgegeben und - wie bereits in
Teilen der Forschung üblich - durch den des »frühen Lagers« ersetzt werden.
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Der Terminus kann verdeutlichen, daß die Jahre 1933/34 von einer spezifi­ 'Ij

Vom politischen Schutzhaftlager zum Konzentrationslager


schen, die Errichtung einer Diktatur begleitenden Form der Terrorisierung
der politischen Gegner geprägt waren, die sich grundsätzlich von späteren i(
I
Phasen des Dritten Reiches unterschied. Der Terrorapparat, der die Verfol­
Um den Prozeß, der zur Errichtung der Konzentrationslager führte, genau be­ gungsmaßnahmen seit 1936 bestimmte, hatte sich noch nicht formiert.
trachten zu können, gilt es zunächst den Beginn der NS-Diktatur, den Martin 1933/34 bestanden vielmehr verschiedene, miteinander konkurrierende Ver­
Broszat die »Phase der revolutionären Machtübernahme« genannt hat,2 ge­ folgungsinstanzen. Erst die Ernennung von Heinrich Himmler zum Leiter des
nauer zu betrachten. Der Zeitraum ist vor allem dahingehend zu untersuchen, preußischen Geheimen Staatspolizeiamtes im April 1934 und die Ermordung
ob bereits zu diesem Zeitpunkt von einem einheitlichen Typus des Konzentra­ Ernst Röhms und der SA-Führung im Juni desselben Jahres markiert eine Zä­ 'Iil
tionslagers gesprochen werden kann und ob Pläne existierten, ein System von sur: Die bayrische Gruppe der SS-Führung um Himmler und Reinhard Heyd­ oll
Konzentrationslagern einzurichten. Es läßt sich hinreichend belegen, daß dies rich hatte sich in der Auseinandersetzung um die Verfügungsrnacht über die :i
nicht der Fall war. 3 Vielmehr existierte eine Vielzahl von Lagern, Haftstätten Politische Polizei und die Lager gegenüber der rivalisierenden SA und gegen
und »Prügelkellern« - deren genaue Zahl bislang nicht ermittelt werden die neu eingesetzten Länderchefs und Gauleiter durchsetzen können. Erst da­ J!
konnte -, in denen mehrere zehntausend Personen gefangengehalten und ge­ mit war die Voraussetzung gegeben, daß Himmler in der Folgezeit daran ge­
foltert wurden. Sie wiesen - strukturell betrachtet - wenig Einheitlichkeit auf~ ,hen' konnte, die Politische Polizei im gesamten Reichsgebiet ebenso wie die be­
alle waren jedoch durch ein - im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren - . , stehenden Lager und Haftstätten zu vereinheitlichen.
Höchstmaß an Brutalität gekennzeichnet. Die Orgie der Gewalt, die sich in Das Modell der Gegnerverfolgung und Lagerbeherrschung, auf das Himmler
den frühen Haftstätten entlud und die in erster Linie die politischen Gegner zurückgriff, um jene einheitlich auszurichten, war 1933 in Dachau von Theodor 1
1

des Nationalsozialismus traf, markiert den grundsätzlichen Unterschied zur Eicke entwickelt worden. Himmler ernannte Eicke im Frühsommer 1934 zum.
Weimarer Republik, obgleich sich bereits diese durch ein vergleichsweise ho­
hes Maß an Gewalttätigkeit auszeichnete. Die deutsche und internationale Öf­
»Inspekteur der Konzentrationslager« und beauftragte ihn, die bestehenden La­
ger entweder aufzulösen oder sie nach dem sogenannten Dachauer Modell zu
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fentlichkeit registrierte, daß eine neue Stufe der Eskalation erreicht war. Aus strukturieren. Zudem schuf er eine ihm unterstehende und zunächst sehr kleine
der Rückschau und im Vergleich zu späteren Jahren der NS-Herrschaft relati­ Dienststelle, die »Inspektion der Konzentrationslager« (IKL), die sich in den fol­ I1

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viert sich jedoch diese Einschätzung. Der Terror der Jahre 1933/34 ist Aus­ genden Jahren zur zentralen Verwaltungsinstanz für die KZ entwickelte. Eicke
druck der Tatsache, daß eine autoritäre Diktatur errichtet wurde; er bedeutet gelang es, binnen kurzer Zeit den Auftrag Himrnlers umzusetzen. 111,
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nicht notwendigerweise die geplante Vorstufe eines umfassenden Terror- und Die Phase zwischen 1934 und 1936 ist gekennzeichnet durch die.Auflösung o'd~i
!.
Vernichtungssystems. bzw. Reorganisation der bestehenden Lager und den Versuch Himmlers, diese J
In vielerlei Hinsicht lassen sich prinzipielle Unterschiede zwischen den dem Einfluß anderer Instanzen zu entziehen. Doch die Entwicklung führte :11
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1933/34 bestehenden Lagern und denjenigen, die seit 1936 eröffnet wurden nicht bruchlos zur Errichtung eines Lagersystems. Vielmehr wurden in diesem .11

Zeitraum Überlegungen laut, die Lager gänzlich aufzulösen, die Schutzhäft­ :~I
Vgl. auch Orth, -Karin: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager ­ linge der Justiz zu übergeben und sie in den normalen Strafvollzug zu re­ iii
eine politische Organisationsgeschichte. Hamburg 1999; Herbert, Ulrich; Orth, Karin; integrieren. Die Bestrebungen zeigen, daß die Etablierung des NS"Regimes 'I!I
Dieckmann, Christoph (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwick­ abgeschlossen war; es hatte seine Gegner politisch isoliert, eingesperrt oder
lung und Struktur. 2 Bde. Göttingen 1998. [,1,
2 Broszat, Martin: Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945. In: Buchheim, umgebracht. Die Zahl der in Haft befindlichen Personen sank auf einen Tief~
;:il
Hans u. a.: Anatomie des SS-Staates. Bd. 2. München 1982, S. 13. stand - ebenso wie die Zahl derjenigen Lager, die Eicke im Zuge der Reorga­ :11
3 Die Phase der frühen Lager haben vor aJlem Klaus Drobisch und Johannes Tuchel nisation der IKL unterstellt hatte.
erforscht. Vgl. Drobisch, Klaus; Wieland, Günther: System der NS-Konzentrationsla­ Es ist auf einige grundsätzliche Entscheidungen Hitlers aus dem Jahre 1935 )1
ger 1933-1939. Berlin 1993; TucheI, Johannes: Konzentrationslager. Organisationsge­
schichte und Funktion der »Inspektion der Konzentrationslager« 1934-1938. Boppard
zurückzuführen, daß die Schutzhaftlager beibehalten wurden. Auf Vorlage
1991 (Schriften des Bundesarchivs; 39). Himmlers entschied Hitler nicht nur, daß die Gefangenen weiterhin der SS un­

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terstehen, sondern auch, daß die Wachtruppen zu einem militärischen Ver­ Der Ausbau des KZ-Systems seit 1936 war eng verknüpft mit den Kriegs­
band ausgebaut werden sollten. Darüber hinaus billigte er Himmlers Vor­ vorbereitungen. Sicherheitspolitische Aspekte sind anzuführen, etwa die
schlag, beide - Wachtruppe wie Schutzhaftlager - aus staatlichen Mitteln zu Überlegungen, in den Grenzregionen des Deutschen Reiches, aber auch in
finanzieren und letztere endgültig vor dem Zugriff der Justiz abzuschotten. 4 zentralen Regionen (etwa in der Nähe der Reichshauptstadt, in dem als poli­
Im Sommer 1936, mit der Ernennung Himmlers zum »Chef der deutschen Po­ tisch besonders unsicher geltenden Thüringen usw.) ein KZ einzurichten, also
lizei«, dem 3. Gestapo-Gesetz und der Zusammenführung von Politischer Polizei ein flächendeckendes Netz von allein der SS unterstehenden Haftstätten zu
und Kriminalpolizei unter dem Dach der »Sicherheitspolizei« kam die Phase der etablieren. Zudem ist die von Himmler forcierte Strategie zu nennen, die be­
Zentralisierung zum Abschluß. Erneut hatte sich Himmler, und zwar mit der aus­ waffneten SS-Verbände zum »zweiten Waffenträger der Nation« aufzubauen.
drücklichen Unterstützung Hitlers, durchsetzen können: gegen die Regierungs­ Diesem Ziel sollte auch die Ausbildung und Aufstockung der SS-Totenkopf­
präsidenten, das Reichsministerium des Innern und das Justizministerium. Seit verbände, die die KZ-Wachtruppen stellten, zu einem militärischen Verband
diesem Zeitraum waren die Lager dem Einfluß der traditionellen Behörden ent­ dienen. Tatsächlich konnte Himmler die Umstrukturierung der Wachverbän­
zogen. Erst jetzt waren die Voraussetzungen zur Errichtung eines Lagersystems de in Gang setzen.?
geschaffen. Himmler ließ die Lager, die bereits der IKL unterstanden, auflösen, Als entscheidender Faktor, der es rechtfertigt, aUein die seit 1936 errichte­
da sie sich in Anbetracht seiner Planungen als zu klein erwiesen. Im Sommer 1937 ten Lager als nationalsozialistische Konzentrationslager zu bezeichnen, ist an­
waren alle Lager (mit der Ausnahme Dachaus) aufgelöst oder endgültig an ande­ zuführen, daß sich Mitte der dreißiger Jahre ein tiefgreifender Wandel der
re Institutionen (etwa an die Gestapo oder die Justiz) abgegeben worden. An ihre Verfolgung vollzogen hatte. Dies betraf zunächst die Ebene der Konzeptio­
Stelle trat ein neuer Lagertypus: das nationalsozialistische Konzentrationslager. nen. Innerhalb der Gestapo-Führung setzte sich Mitte der dreißiger Jahre das
Von 1936 bis Kriegsbeginn wurden fünf Konzentrationslager errichtet, näm­ Prinzip der »rassischen Generalprävention« (Ulrich Herbert) durch. Die Ver­
lich Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Mauthausen und Ravensbrück; haftungswellen der Jahre 1937 und 1938, die in erster Linie sogenannte Aso­
Dachau wurde erheblich erweitert. 5 Nicht nur der gemeinsame Entstehungszeit­ ziale betrafen (und nicht länger mehr die politischen Gegner des Regimes),
raum, das organisatorische Dach der IKL sowie das Bestreben der SS-Führung, zeigen, daß das sozialrassistische und rassebiologische Gegnerkonzept auch
ausschließlich diese Lager als »Konzentrationslager« bezeichnet zu wissen, recht­ Eingang in die Praxis der Verfolgungsbehörden fand. 8 Durch die Ausweitung
fertigt es, die genannten KZ von den bisherigen Lagern und Haftstätten abzu­ der Definition derjenigen Gruppen, die als Bedrohung des Staates und des
grenzen und sie als Teil eines Systems zu begreifen. Das Charakteristische und deutschen Volkes angesehen wurden, und durch die massenhafte Verhaftung
qualitativ Neuartige bestand in einer Reihe weiterer Faktoren: AUe Konzentra­ von »Kriminellen« und »Asozialen« wuchs die Zahl der KZ-Häftlinge 1937/
tionslager waren nach dem Vorbild des Dachauer Modells strukturiert. Sie wie­ 38 erheblich an. Sie erreichte mit dem Novemberpogrom 1938 kurzfristig ei­
sen zum einen eine gleichartige innere Verwaltungs- und Organisationsstruktur nen Höchststand. Die Verschleppung von rund 30000 Juden für etwa sechs
auf, die Teilung der Lager-SS in einen (in Abteilungen untergliederten) Kom­ bis acht Wochen in die KZ und ihre barbarische Behandlung dienten in erster
mandanturstab einerseits, die Wachtruppe andererseits. Zum zweiten waren aUe Linie dazu, den Druck auf die jüdische Bevölkerung zu erhöhen, aus Deutsch­
Häftlinge der gleichen Lagerordnung unterworfen, die durch den Versuch cha­ land - unter Zurücklassung ihres Eigentums - auszuwandern. 9
rakterisiert ist, den Terror durch Normierung zu systematisieren. Alle seit 1936 Zudem ist seit 1937/38 von einer verstärkten Ausbeutung der KZ-Häftlinge
errichteten Konzentrationslager wurden zudem eigens gebaut (während für die auszugehen. Hatte der Arbeitseinsatz der Gefangenen in den ersten Jahren
frühen Lager in der Regel bereits vorhandene Gebäude oder Anlagen genutzt der NS-Herrschaft in voUkommen sinnlosen Beschäftigungen b~standen oder
worden waren), und zwar nach ähnlichen architektonischen Plänen. Das wesent­ dem Lageraufbau gedient, setzte die SS die Häftlinge nun für ihre eigenen
liche Gestaltungsmerkmal bestand in der räumlich-funktionalen Zusammenfas­
sung zu einem geschlossenen Komplex, der die folgenden Bauelemente umfaßte: 7 Vgl. Wegner, Bernd: Hitlers politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933-1945. Studien zu
Schutzhaftlager, Kommandantur, Lagerwerkstätten, Kasernen der SS-Wach­ Leitbild, Struktur und Funktion einer nationalsozialistischen Elite. Paderbom 1983,
verbände und die Wohnsiedlung der Mitglieder des Kommandanturstabes. 6 S. 95-105,112-123.
8 Vgl. Ayaß, Wolfgang: »Asoziale« im Nationalsozialismus. Stuttgart 199~--8. 139-165;
Terhorst, Karl-Leo: Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeu­
4 VgJ. Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und gungshaft im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte vorbeugender Verbre­
Vernunft 1903-1989. Bonn 1996, S. 168-170; Tuchei: Konzentrationslager, S. 307-315. chensbekämpfung. Heidelberg 1985, S. 115-130 (StUdien und Quellen zur Geschichte
5 VgJ. zum Forschungsstand zu den einzelnen KZ Orth, Karin: Studien zur Geschichte der des deutschen Verfassungsrechts, Reihe A: Studien; 13); Wagner, Patrick: »Vernichtung
nationalsozialistischen Konzentrationslager - ein Forschungsüberblick. In: La Revue d'AI­ der Berufsverbrecher«. Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung der Kriminalpolizei
lemagne, erscheint in Heft I (Februar)j2000. bis 1937. In: HerbertjOrthjDieckmann (Hg.): Konzentrationslager, S. 87-110.
6 Vgl. Hartung, Ulrich: Gestalterische Aspekte von NS-Konzentrationslagern unter be­ 9 Zur antijüdischen Politik des NS-Regimes in dieser Phase vgl. Friedländer, Saul: Das
sonderer Berücksichtigung des SS-Musteriagers Sachsenhausen. Unver. Manuskript. Dritte Reich und die Juden. Bd. I: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939. München 1998,
Düsseldorf 1994. S.291-328.

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wirtschaftlichen Interessen ein, die letztendlich eine politische Autonomie be­ vention« wurden und sich die Zusammensetzung der Häftlingsgruppen grund­
zweckten. Oswald Pohl, der Verwaltungschef der SS, koordinierte die ökono­ legend veränderte, war ein Lagertypus entstanden, der historisch neuartig
mischen Aktivitäten, insbesondere die Tätigkeit der SS-eigenen Unternehmen, war: das nationalsozialistische Konzentrationslager.
etwa der »Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH« (DESt) oder der »Deut­
schen Ausrüstungswerke GmbH« (DAW), die Himmler in diesem Zeitraum
gründen ließ. Darüber hinaus bot er 1938 an, Baustoffe für das geplante na­ Die erste Kriegshälfte
tionalsozialistische Städtebauprogramm zu liefern; sie sollten von KZ-Häft­
lingen produziert werden. Albert Speer, der für dieses in seiner Eigenschaft als Mit Kriegsbeginn expandierte das KZ-System. Der lange vorbereitete Krieg I
führte zu einem erheblichen Anwachsen der Häftlingszahlen. In weniger als
»Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt« verantwortlich zeichnete,
griff auf das Angebot zurück, da zu jener Zeit bereits ein spürbarer Arbeits­ drei Jahren vervierfachte sich die Anzahl der Gefangenen: von etwa 21000 im 1
kräftemangel im Bausektor herrschte. Die Auswahl der Standorte für die neu August 1939 auf schätzungsweise 70000 bis 80000 im Frühjahr 1942. 11 Auf­ :1
errichteten KZ wurde nun auch davon abhängig gemacht, ob Steinbrüche
oder Tonvorkommen in der Nähe lagen. In eigens aufgebauten Ziegelwerken
grund der Vorkehrungen, die das NS-Regime getroffen hatte, nahm man un­
mittelbar nach Kriegsbeginn zahlreiche »feindliche Elemente« in »Schutz­ 1
sollten KZ-Häftlinge dann die benötigten Baustoffe herstellen. Die Produk­ haft«: tatsächliche oder potentielle Gegner des Nationalsozialismus. Dazu
tivität blieb jedoch weit hinter den Versprechungen zurück, die Himmler ge­ gehörten Personen, die sich bereits früher in Haft befunden hatten (wie .bei­
geben hatte. Die Steinbrüche erwiesen sich als besonders grausame Arbeits­ spielsweise Mitglieder der Arbeiterbewegung oder Juden, die nach ihrer Ent­
kommandos, in denen die SS zahlreiche Menschen zu Tode brachte. Die lassung aus dem KZ 1938/39 nicht ausgewandert waren), aber auch erstmals
insbesondere gegen sogenannte Asoziale, Berufsverbrecher und Arbeitsscheue inhaftierte Gruppen, etwa Vorbestrafte, die mlm wegen »Arbeitsbummelei«
gerichteten Verhaftungswellen der Jahre 1937/38 dienten also sowohl dem aufgriff, Geistliche oder Personen, die verdächtigt wurden, »Unruhe« in die
»vorbeugenden Schutz der Volksgemeinschaft« als auch der Zwangsrekrutie­ Bevölkerung zu tragen. In erster Linie jedoch ist der erhebliche Anstieg der
rung von Arbeitskräften. lO Beide Intentionen schlossen sich nicht aus, son­ Häftlingszahlen auf die Einlieferung von Bewohnern der durch die Wehr­ flll'

macht besiegten Staaten zurückzuführen. i


dern ergänzten einander. ~1

Die Zusammensetzung der Häftlingsgruppen veränderte sich seit 1937/38 Die Verhaftungen in Westeuropa richteten sich vorwiegend gegen Wider­ 11

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grundlegend. Die SS paßte die Mittel der Lagerbeherrschung der Verände­ standsgruppen und Saboteure, in Osteuropa nahmen sie zum Teil auch die
rung an: Sie begann nun, reagierend auf die Einweisung neuer Opfergruppen, Gestalt von summarischen Verhaftungswellen an, die der Durchsetzung der
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die Gefangenen zu kennzeichnen. Erst jetzt wurden die Häftlinge nach einem nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik sowie der Zwangsrekrutierung
einheitlichen Schema kategorisiert und mit einem »Winkel« ausstaffiert, des­ von Arbeitskräften dienten. Seit 1940 stellten die nichtdeutschen Gefangenen
sen Farbe den vermeintlichen oder tatsächlichen Haftgrund anzeigte. Die sy­ - zunächst vor allem die Polen - einen erheblichen Prozentsatz; in einigen KZ :Iill'
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stematische Kategorisierung der Häftlingsgruppen erwies sich als Herrschafts­ bildeten sie bereits in der ersten Kriegshälfte die Mehrzahl. Diese Tendenz ,I;
instrument, denn durch die Spaltung in Teilgruppen verlagerte die SS den verstärkte sich stetig. Die unterschiedlichen Entwicklungen in den verschiede­
Terror in die Häftlingsgruppen hinein. Diesem Zweck diente auch die Über­ nen KZ bewußt außer acht lassend, ist für das KZ-System insgesamt festzu­
tragung bestimmter Verwaltungs- und Wachaufgaben an ausgewählte Gefan­ halten, daß die deutschen KZ-Insassen während des Krieges in eine kleine
gene, die sogenannten Funktionshäftlinge. Minderzahl gerieten. Die Gruppe der »reichsdeutschen«, also d.eLdeutschen
Die Umsetzung eines umfassenden gesellschaftsbiologischen und rassisti­ und österreichischen Gefangenen umfaßte bei Kriegsende etwa fünf bis zehn
schen Konzeptes in die Praxis der Verfolgungsbehörden erwies sich als Zäsur. Prozent aller KZ-Häftlinge. 'ill
!
Nicht mehr ausschließlich politische Gegner des NS-Regimes waren nun von Mit der zunehmenden Internationalisierung, die zeitlich versetzt dem
Verfolgung und Haft bedroht, sondern auch und in erster Linie gesellschaft­ Kriegsverlauf folgte, veränderte sich die Binnenstruktur der Häftlingsgruppen
liche Gruppen, die aus sozialhygienischen oder rassistischen Gründen dauer­ erneut tiefgreifend, möglicherweise in noch stärkerem Maße als 1937/38. An
haft »verwahrt« werden sollten. An beiden Intentionen, der Verfolgung der die Stelle des Winkelsystems der Vorkriegszeit trat die auf rassistisehen Krite­
politischen wie der »rassischen« Gegner des Staates und der nationalsozialisti­ rien beruhende nationale Hierarchisierung der Gefangenengruppen. Während
schen »Volksgemeinschaft«, hielt das NS-Regime bis zu seinem Zusammen­ die SS den sogenannten reichsdeutschen KZ-Insassen (unabhängig davon,
bruch fest. Indem die Lager zu Vollzugsstätten der »rassischen Generalprä­ welchen Winkel sie trugen) meist eine privilegierte Position innerhalb des Sy­

11 Zahlen nach Kaienburg, Hermann: })Vernichtung durch Arbeit«. Der Fall Neuen­
gamme. Die Wirtschaftsbestrebungen der SS und ihre Auswirkungen auf die Existenz­
10 Broszat: Konzentrationslager, S. 77; Wagner:}) Vernichtung der Berufsverbrecher«, S. 98 f. bedingungen der KZ-Gefangenen. Bonn 1990, S. 229 (Anm. 9).

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sterns der Funktionshäftlinge oder in einem geschützten Arbeitskommando Stutthof und der für die Bewachung des Lagers zuständige »SS-Wach­
zuwies, setzte sie die slawischen KZ-Insassen sowie die jüdischen Häftlinge be­ sturmbann Eimann« unterstanden nicht der IKL, sondern dem Höheren SS­
sonderen Schikanen und den schlechtesten Arbeitskommandos aus. und Polizeiführer (HSSPF) Danzig und Westpreußen Richard Hildebrandt.
Der Kriegsbeginn führte zu einer Verschlechterung der Haftbedingungen: Nach Ende der Kampfhandlungen ließ Himmler die IKL prüfen, ob Stutthof
Die SS reduzierte die Verpflegung und steigerte den Arbeitseinsatz ebenso wie sowie alle anderen während des Feldzuges gegen Polen entstandenen Lager
die Mißhandlungen. Seit dem ersten Kriegswinter dürfte Unterernährung die und Haftstätten als Konzentrationslager geeignet seien und von der IKL
häufigste Todesursache in den KZ gewesen sein. Durch die verminderte Ver­ übernommen werden könnten. Die Maßnahme zielte nicht nur auf die Erwei­
pflegung, die Verschlechterung der Unterbringung sowie die nicht vorhandene terung des KZ-Systems, sondern auch und möglicherweise in erster Linie dar­
oder nur sehr eingeschränkt gewährte medizinische Versorgung breiteten sich auf, Lager oder Wachverbände, die aus Himmlers Perspektive »eigenmächtig«
nun in allen KZ Unterernährung, Krankheiten und Epidemien aus; die Sterb­ errichtet worden waren, wieder unter die Kontrolle der SS-Führung zu brin­
lichkeitsraten stiegen - vor allem im Winter - zum Teil dramatisch an. 12 Die gen. Trotz des zunächst positiven Berichts über Stutthof entschied Himmler,
vorliegenden Einzelstudien zeigen jedoch auch, daß die verschiedenen natio­ Stutthof nicht der IKL zu unterstellen. Während andere Lager, die Himmler
nalen und sozialen Gruppen in unterschiedlichem Ausmaß von der Ver­ in diesem Zeitraum überprüfen ließ, geschlossen wurden, blieb Stutthof zwar
schlechterung bedroht waren. Auch der Anstieg der Sterblichkeitsrate traf bestehen, aber als regional verankerte Haftstätte.
nicht alle Gefangenengruppen gleichermaßen. Insbesondere die Gefangenen Himmler nutzte die Auseinandersetzung mit Hildebrandt, um grundsätz­
der Strafkompanien, die jüdischen KZ-Insassen, die slawischen sowie - in lich darauf hinzuweisen, daß ausschließlich diejenigen Konzentrationslager
Mauthausen/Gusen - die politisch besonders exponierte Gruppe der »Rotspa­ als solche bezeichnet werden dürften, die der IKL (und in wirtschaftlicher
nier« verzeichneten besonders hohe Todesraten. Die SS setzte die Mehrheit Hinsicht Poh!) unterstünden. In einem Runderlaß des Chefs der Sicherheits­
der Gefangenen Bedingungen aus, die am Rande des Existenzminimums polizei und des SD an die Inspekteure der Sicherheitspolizei vom 3. Mai 1940
lagen, nicht aber ihre Vernichtung intendierten. Bestimmte Gruppen wurden hieß es: »Das Bestehen der verschiedenen Lager wie Kriegsgefangenen-, Inter­
jedoch bereits in der ersten Kriegshälfte Opfer einer gezielten Vernichtungspo­ nierungs-, Durchgangs- und Arbeitslager usw. hat zuweilen in der Öffentlich­
litik. Der tödliche Terror der SS richtete sich in erster Linie gegen die Gefan­ keit den Eindruck erweckt, als handele es sich um Konzentrationslager. Diese
genen slawischer Herkunft sowie gegen die Juden. Bezeichnung dürfen nach ausdrücklicher Weisung des Reichsführers-SS nur
In der ersten Kriegshälfte eröffnete die SS-Führung zusätzlich zu den sechs die dem Inspekteur der Konzentrationslager unterstellten Lager wie Dachau,
bestehenden Konzentrationslagern fünf neue: Auschwitz, Neuengamme, Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Mauthausen und das Frauen­
Natzweiler, Groß-Rosen und Majdanek. Darüber hinaus entstanden in die­ Konzentrationslager Ravensbrück führen.«13
sem Zeitraum zwei weitere, allerdings vergleichsweise kleine Konzentrations­ Im Zusammenhang mit der Überprüfung bestehender oder geplanter Lager
lager: das KZ Niederhagen bei Paderborn und das SS-Sonderlager Hinzert im wurde Himmler auch auf Auschwitz aufmerksam; es war das einzige Lager,
Hunsrück. Die Häftlinge des KZ Niederhagen sollten im wesentlichen eine dessen Übernahme bzw. Einrichtung die IKL in diesem Zeitraum befürworte­
Burganlage - die Wewelsburg - zu einer Kultstätte der SS umbauen; das SS­ te. Doch nicht allein Himmlers Interesse an der Errichtung eines Konzentra­
Sonderiager Hinzert diente als Durchgangslager. Beide Lager nahmen also in­ tionslagers in Ostoberschlesien war dafür ausschlaggebend, daß in Oswi~cim
nerhalb des KZ-Systems hinsichtlich ihrer Größe und ihrer sehr spezifischen das riesige »Interessengebiet KL Auschwitz« entstand. Vielmehr führten vier
Funktion eine Sonderstellung ein. Motive dazu: sicherheitspolitische Erwägungen der regionaleIl_Besatzungs­
Die Erweiterung des KZ-Systems erfolgte langsamer als vielfach angenom­ instanzen, das Interesse Pohls, die Gefangenen zur Produktion von Baumate­
men. Es handelte sich vielmehr um einen allmählich einsetzenden und weit bis rialien einzusetzen, die Firmenstrategie der IG-Farben, die in der Nähe des
in die erste Kriegshälfte hineinreichenden Erweiterungsprozeß. Bereits im Lagers ein lange geplantes Buna-Werk errichten wollte sowie die auf den
Herbst 1939 begann die SS-Führung, nach Standorten für neue Konzentra­ »Osten« gerichteten Siedlungspläne Himmlers.
tionslager zu suchen. Neben der Absicht, das KZ-System zu erweitern, zeigte Erst im Frühjahr 1940 richtete die IKL mit Auschwitz und Neuengamme
sich Himmler auch bestrebt, gegenüber rivalisierenden Instanzen die alleinige zwei neue KZ ein. 14 Neuengamme wurde zu diesem Zeitpunkt in--den Rang
Verfügungsgewalt über die Konzentrationslager zu behaupten. Am Beispiel eines selbständigen Konzentrationslagers erhoben; bis dahin hatte es dem KZ
des Lagers Stutthof, bei Kriegsbeginn in der Nähe von Danzig errichtet, um
politische Gegner des NS-Regimes und Teile der polnischen Intelligenz zu in­ 13 Runderlaß des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 3.5.1940, BArch (Berlin),
haftieren, kann dieses Bemühen' exemplarisch gezeigt werden. Sammlung Schumacherj329.
14 Zu Neuengamme vgl. Kaienburg: »Vernichtung durch Arbeit«. Zur Geschichte des KZ
Auschwitz liegen einige Monographien und Sammelbände vor. Vgl. zum Beispiel Buszko,
12 V gl. Pingel, Falk: Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Ver­ Jozef u. a.: Auschwitz. Faschistisches Vernichtungslager. Warschau 1981; Czech, Danuta:
nichtung im Konzentrationslager. Hamburg 1978, S. 81 (Historische Perspektiven; 12). Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945.

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Sachsenhausen als Außenlager unterstanden. Neuengamme und die im Som­ Planmäßige Massentötungsaktionen und Versuchsprojekte '1
mer 1940 ebenfalls als Außenlager des KZ Sachsenhausen eingerichteten KZ des Arbeitseinsatzes ~
Groß-Rosen1 5 und Natzweiler l6 (beide wurden erst im Frühjahr 1941 zu ei­
genständigen Hauptlagern erklärt) erfüllten sicherheitspolitische Interessen Bezogen auf das KZ-System markiert das Jahr 1941 eine qualitativ neue Stufe
der SS-Führung, lagen doch alle drei KZ in Grenzregionen des Deutschen des Terrors. Die SS nutzte die Konzentrationslager seit Beginn ihres Be­
Reiches. Darüber hinaus läßt sich ihre Errichtung mit der Ambition Himm­ stehens, um bestimmte Personen oder Häftlingsgruppen zu Tode zu bringen;
lers erklären, unentbehrlich für das nationalsozialistische Städtebaupro­ in einigen Konzentrationslagern nahmen die Morde zum Teil auch systemati­
gramm zu werden. Die Standorte Groß-Rosen und Natzweiler wurden des­ schen Charakter an. Im Frühjahr 1941 fanden nun erstmals systematisch und
halb ausgewählt, weil sich in unmittelbarer Nähe Steinbrüche befanden, die planmäßig Massenmordaktionen statt, die das gesamte KZ-System durchzogen.
für die Bauvorhaben ausgebeutet werden sollten; in Neuengamme waren Ton­ Die Morde sind nicht nur für ein bestimmtes Konzentrationslager als typisch
vorkommen sowie eine stillgelegte Ziegelei, die von der SS-eigenen DESt anzusehen, sondern für alle Konzentrationslager, die der IKL unterstanden.
übernommen wurde, für die Standortwahl ausschlaggebend. Die erste derartige Aktion war gegen die kranken und schwachen KZ-Häftlin­
Seit Kriegsbeginn läßt sich also von einem erneuten Funktionswandel des ge gerichtet, die die SS in den überfüllten KZ zunehmend als »Last« empfand,
KZ-Systems sprechen: Die SS-Führung nutzte die Konzentrationslager nun die zweite gegen die als »russische Kommissare« klassifizierten sowjetischen
auch als Instrument der Bekämpfung des Widerstandes in den besetzten Staa­ Kriegsgefangenen. Seit April 1941 bereiste eine Ärztekommission der mit der
ten, in Osteuropa dienten sie zudem der Durchsetzung der nationalsozialisti­ »Euthanasie« befaßten, nach ihrem Sitz in der Berliner Tiergartenstraße 4 be­
schen Besatzungs- und Bevölkerungspolitik. Die SS-Führung verband diese nannten Tötungsorganisation »T 4« die Konzentrationslager, um kranke und
Absichten mit einer Intention, die sich bereits seit 1937/38 nachweisen läßt: geschwächte KZ-Häftlinge auszusondern. Sie war von April 1941 bis April
mit der Ausbeutung der Arbeitskraft der KZ-Häftlinge für die Zwecke und 1942 in mindestens zehn Konzentrationslagern tätig. Die ausgesuchten Häft­
Interessen der SS. Entgegen einer weit verbreiteten Wahrnehmung ist zu beto­ linge wurden »auf Transport« geschickt. Die SS streute gezielt Gerüchte, daß
:11
nen, daß die Konzentrationslager der IKL in der ersten Kriegshälfte nicht in sie in ein »Sanatorium« überstellt würden. Tatsächlich jedoch brachte man sie
erster Linie der Inhaftierung und Terrorisierung der jüdischen Bevölkerung in die »Euthanasieanstalten« Bernburg, Sonnenstein oder Hartheim und töte­
dienten. Zwar wurden in den Konzentrationslagern auch Juden gefangenge­ te sie hier durch Kohlenmonoxyd. Die Lager-SS nutzte die Tötungsaktion
halten, doch blieb ihre Zahl relativ und absolut gering. Die Mehrheit der Ju­ auch, um jüdische und politisch mißliebige Häftlinge ermorden zu lassen.
den, die durch den Krieg in den Machtbereich der Deutschen gerieten, wurde Die Gesamtzahl der Toten ist nicht genau bekannt: mindestens 10 000,
in anderen Haftstätten zusammengetrieben. Zu nennen sind vor allem die in möglicherweise aber auch 15000 oder 20000 Häftlinge wurden getötet. 18 Das
großer Zahl errichteten Ghettos und »Zwangsarbeitslager für Juden«Y Das Mordprogramm, nach einem Aktenkürzel der IKL Aktion »14fl3« genannt,
KZ-System war nur ein Element der nationalsozialistischen Verfolgungs- und überschnitt sich seit Sommer 1941 mit der Ermordung der sowjetischen
Vernichtungspolitik; andere Lagertypen und Formen des Terrors - insbeson­ Kriegsgefangenen.
dere gegen die jüdische Bevölkerung - bestanden parallel. Innerhalb des KZ­ Himmler hatte mit der Wehrmacht vereinbart, sowjetische Kriegsgefangene
Systems waren die jüdischen Gefangenen allerdings besonderen, zum Teil töd­ in seinen Machtbereich zu übernehmen. Er ließ aus diesem Grunde seit Okto­
lichen Schikanen ausgesetzt. ber 1941 zwei riesige Lagerkomplexe errichten: die »Kriegsgefangenenlager
der Waffen-SS« Majdanek und Birkenau. Beide unterstanden der IKL,
Majdanek als selbständiges KZ, Birkenau blieb bis 1943 als Außenlager dem
Reinbek 1989; Gutman, Yisrael; Berenbaum, Michael (Hg.): Anatomy of the Auschwitz KZ Auschwitz zugeordnet. Die gigantischen Planungen Himmlers - in
Death Camp. Bloomington 1994.
15 Zum KZ Groß-Rosen vgl. ausführlich Sprenger, Isabell: Groß-Rosen. Ein Konzen­ Majdanek sollten 50000, in Birkenau 100000 Kriegsgefangene untergebracht
trationslager in Schlesien. Köln u. a. 1996 (Neue Forschungen zur Schlesischen Ge­ werden - wurden jedoch nicht realisiert.
schichte; 6). Im Herbst 1941 lieferte die Wehrmacht mehrere zehntausend sowjetische
16 Die Geschichte dieses KZ ist kaum untersucht. Vgl. Brunner, Bernhard: Auf dem Weg Kriegsgefangene an Himmler aus. Sie wurden auf die bestehenden KZ verteilt
zu einer Geschichte des Konzentrationslagers Natzweiler. Unver. Magisterarbeit. Frei­ und dort »in primitivster Form«19 untergebracht, in sogenannten Kriegsge­
burg 1997.
17 In Polen begann die Zwangsumsiedlung der jüdischen Bevölkerung - etwa 2,3 Millio­ fangenenlagern oder Kriegsgefangenenarbeitslagern, die nun bei allen KZ ent­
nen Menschen - bereits im Oktober 1939. Vgl. Schwarz, Gudrun: Die nationalsoziali­
stischen Lager. Frankfurt a. M. 1996, S. 126f., 130f. und 137-149. Im Sommer/Herbst 18 Zahlen nach Orth: System, S. 116.
1940 befanden sich allein im Distrikt Lublin schätzungsweise 50000 bis 70000 Juden in 19 Fernschreiben der IKL an den Lagerkommandanten des KZ Flossenbürg vom
insgesamt 76 Lagern. Vgl. Pohl, Dieter: Die großen Zwangsarbeitslager der SS- und 15.9.1941. In: Tuchei, Johannes: Die Inspektion der Konzentrationslager 1938-1945.
Polizeiführer für Juden im Generalgouvernement 1942-1945. In: Herbert/Orth/Dieck­ Das System des Terrors. Eine Dokumentation. Berlin 1994, S.73 (Schriftenreihe der
mann (Hg.): Konzentrationslager, S. 415-438. Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten; I).

36 37

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standen. Im Grunde handelte es sich lediglich um eigens abgezäunte Bereiche bestimmtes Tötungsverfahren zu »erproben«. Zu den Versuchen zogen die
der Schutzhaftlager, in denen die SS die sowjetischen Soldaten (die sie nicht in SS-Männer vielfach sowjetische Soldaten aus den Kriegsgefangenenarbeitsla­
die Lagerregistratur eintrug) zusammenpferchte. Offenbar plante Himmler, gern heran. Weil und indem die Tötungsmacht an die einzelnen Kommandan­
sie im Bedarfsfall zum Arbeitseinsatz heranzuziehen; de facto blieben sie ohne turen überging, entwickelte sich kein standardisiertes Tötungsverfahren.
jegliche Versorgung dem Tode überlassen. Die Todesraten waren immens. Stattdessen wurden verschiedene Mordmethoden angewandt, wie etwa das
Die in den Kriegsgefangenenlagern der KZ untergebrachten Soldaten waren »Abspritzen« oder das »Totbaden«. Auch die »Erfindung« der Gaskammer in
jedoch nicht nur Hunger und Seuchen ausgesetzt. Zumindest für das KZ Au­ Auschwitz ist in den Zusammenhang der eigenverantwortlich initiierten Tö­
schwitz ist belegt, daß eine Gestapo-Sonderkommission gezielt sogenannte po­ tungsexperimente zu stellen. Das Tötungsverfahren - das Ersticken durch I
litische Kommissare aussonderte und einen Teil von ihnen tötete. 20 Die Mehr­
heit der in den KZ erschossenen »politischen Kommissare« stammte jedoch
Gas ­ war der Lager-SS aus den »Euthanasieanstalten« bekannt, hatten doch
einige SS-Männer den Transport der im Rahmen der Aktion» 14 fl3« ausge­ '1,
aus den Lagern der Wehrmacht. Ein Erlaß des Oberkommandos der Wehr­ sonderten Häftlinge nach Sonnenstein begleitet, die dort angewandte Mord­
macht, der berüchtigte »Kommissarbefehl«, bestimmte, daß die als »Kommis­ methode in Augenschein genommen und nach ihrer Rückkehr über die Tö­
sare« eingestuften sowjetischen Kriegsgefangenen den SS-Einsatzgruppen bzw. tung durch Kohlenmonoxydgas berichtet. In Auschwitz setzte die SS ein
Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD zu übergeben seien. Der anderes Gas ein, das in großen Mengen zur Verfügung stand, nämlich Zy­
von Heydrich herausgegebene »Einsatzbefehl Nr. 8« vom 17. Juli 1941 regelte, klon B. Die Lager-SS in Auschwitz versuchte seit 1940, mit Zyklon B Seuchen
welche Personen als »politische Kommissare« anzusehen und wie diese aus den zu bekämpfen. .
Kriegsgefangenenlagern »auszusondern« seien. Am 21. Juli legte Heydrich zu­ Es wäre allerdings ein Fehler, das Jahr 1941 nur unter der Perspektive der
dem fest, daß ihre Ermordung im nächstgelegenen Konzentrationslager durch­ Entwicklung von Tötungsverfahren zu betracnten. Im gleichen Zeitraum legte
geführt werden solle. 21 Offenbar intendierte die SS-Führung, die als politisch man vielmehr auch die Grundlagen für den Einsatz der KZ-Häftlinge in der
indifferent klassifizierten sowjetischen Soldaten in den Kriegsgefangenenlagern Industrie. Gleichzeitig zu den planmäßigen Massentötungsaktionen des Jah­
der Wehrmacht oder den Kriegsgefangenenarbeitslagern bei den KZ zu halten res 1941 - und dem im Sommer 1941 einsetzenden systematischen Völker­
(um ihre Arbeitskraft bei Bedarf auszubeuten); die als »Kader« angesehenen mord an den sowjetischen Juden - kam es zu einer Zusammenarbeit zwischen
»politischen Kommissare« hingegen sollten sogleich vernichtet werden. In allen KZ-System und Industrie. Zwei Versuchsprojekte bestanden zu diesem frühen
KZ fanden seit Spätsommer 1941 derartige Massenerschießungen statt. Der
Mordaktion fielen vermutlich mindestens 34000 (möglicherweise jedoch über
Zeitpunkt: Die IKL vermietete seit Frühjahr 1941 Häftlinge aus Auschwitz an
die IG-Farben und Gefangene aus Mauthausen an die Steyr-Daimler-Puch
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45000) sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer. 22 AG. Sowohl die IG-Farben als auch die Steyr-Daimler-Puch AG versuchten­ i
Die Lager-SS ging im zweiten Halbjahr 1941 dazu über, selbständig der wenn auch aus strukturell unterschiedlichen Gründen ­ einen Arbeitskräfte­ 11
Weisung nachzukommen, die Zahl der kranken und geschwächten Häftlinge
zu dezimieren. Sie übernahm zum Teil und auf Weisung der IKL die Tätigkeit
der Ärztekommission. 23 Zunächst fanden offenbar Experimente statt, um ein
mangel durch den Einsatz von Zwangsarbeitern zu kompensieren. Allerdings
stellten die KZ-Häftlinge in der ersten Kriegshälfte nur eine verschwindend
geringe Zahl der Belegschaft: bei den IG-Farben wurde ein kurzfristiger
Höchststand von 2000 KZ-Häftlingen erreicht, bei der Steyr-Daimler-Puch
AG waren 1941 300 KZ-Insassen eingesetzt. Zudem blieb der Einsatz auf
I 1I
II
20 Czech: Kalendarium, S. 143; Pingel: Häftlinge, S. 12.
21 Einsatzbefehl Nr. 8 des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 17.7.1941. In: Bau- und Hilfsarbeiten beschränkt. Die SS-Führung kam den ~emühungen !f
Streim, Alfred: Sowjetische Gefangene in Hitlers Vernichtungskrieg. Berichte und Do­ der Konzerne, an KZ-Arbeitskräfte zu gelangen, entgegen - sofern die Anfor­ Ir
kumente. 1941-1945. Heidelberg 1982, S. 202-211; Einsatzbefehl Nr. 9 des Chefs der derungen eigenen Interessen nicht zuwiderliefen. Himmler spekulierte offen­ i!
Sicherheitspolizei und des SD vom 21.7.1941. In: ders.: Die Behandlung sowjetischer
bar auf materielle Vorteile: im Falle der Steyr-Daimler-Puch AG auf günstige .,~
Kriegsgefangener im »Fall Barbarossa«. Eine Dokumentation. Heidelberg, Karlsruhe
Rüstungsgüter für die Waffen-SS, im Falle der IG-Farben erhoffte er sich, an ;1
1981, S. 322 f. Zum Hintergrund und zur Bedeutung des Befehls Jacobsen, Hans Adolf:
Kommissarbefehl und Massenexekution sowjetischer Kriegsgefangener. In: Buchheim dringend benötigte Baumaterialien für den Ausbau des KZ Auschwitz heran­ :~
u. a.: Anatomie. Bd. 2, S. 143-152; Streit, Christian: Keine Kameraden. Die Wehrmacht zukommen. Doch verlor die SS die Verfügungsgewalt über die KZ;'Häftlinge I
und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945. Stuttgart 1978, S. 44-49 (Studien nicht. Vielmehr blieben die Häftlingszwangsarbeiter weiterhin in Auschwitz ~
zur Zeitgeschichte; 13); Gerlach, Christian: Die Ausweitung der deutschen Massen­
morde in den besetzten sowjetischen Gebieten im Herbst 1941. Überlegungen zur Ver­ bzw. Mauthausen untergebracht, SS-Männer überwachten ihre Arbeit auf der
nichtungspolitik gegen Juden und sowjetische Kriegsgefangene. In: ders.: Krieg, Ernäh­ Baustelle.
rung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Im Gegensatz zu der anfänglich geäußerten Zufriedenheit über das Zustan­
Weltkrieg. Hamburg 1998, S.24f. dekommen der Kooperation entwickelte sich die konkrete Zusammenarbeit

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22 Zahlen nach Orth: System, S. 130 f.
23 Vgl. Runderlaß der IKL an die Lagerkommandanten vom 10.12.1941, Nürnberger Do­ aus der Sicht der Unternehmen allerdings alles andere als positiv. Beide Fir­
kument PS-1151-C. men beklagten, daß der tägliche An- und Abtransport der Gefangenen deren

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Arbeitsleistung mindere, auch, daß die Häftlinge - aufgrund des Mangels an Im Winter 1941/42 kam Himmler mit den Hauptgeschäftsführern der Volks­
Wachpersonal - ineffizient eingesetzt würden. Die Vertreter der IG-Farben wagen GmbH überein, eine Leichtmetallgießerei durch KZ-Häftlinge aufbau­
beschwerten sich darüber hinaus, daß die Zahl der zur Verfügung gestellten en zu lassen. Das Unternehmen erhoffte, sich dadurch unabhängig von den
KZ-Häftlinge weit hinter den ursprünglichen Vereinbarungen zurückbleibe. bestehenden Zuliefererstrukturen zu machen, Himmler hingegen sah in der Zu­
Beschwerden über die Mißhandlung der Häftlinge hatten demgegenüber nur sammenarbeit mit Volkswagen Vorteile für die Ausstattung der Waffen-SS so­
geringen Stellenwert. Unabhängig voneinander brachten beide Firmen nach wie eine Möglichkeit, den wirtschaftlichen Einfluß der SS auszuweiten. Nach
etwa einem Jahr den Vorschlag vor, die Gefangenen in unmittelbarer Nähe außen hin führten beide Seiten jedoch kriegswirtschaftliche Notwendigkeiten
der Baustellen unterzubringen. In beiden Fällen konnte dieser - nach anfäng­ an. Tatsächlich ließ sich Hitler von den Argumenten überzeugen. Im Frühjahr
lichem Widerstand - schließlich umgesetzt werden. 1942 begannen die Bauarbeiten in Fallersleben. Das Aufbaukommando (die
In der ersten Kriegshälfte hatte die Zusammenarbeit zwischen KZ-System Gefangenen waren zuvor in Neuengamme inhaftiert gewesen) wurde zudem in
und Industrie also nur geringes Gewicht, und zwar sowohl hinsichtlich des den Rang eines selbständigen Konzentrationslagers erhoben - Ausdruck der
Umfangs, als auch hinsichtlich der nicht zufriedenstellend verlaufenden Ko­ Tatsache, daß Himmler und Pohl dem Vorhaben einen hohen Stellenwert ein­
operation. Erst als sich die Funktionszuweisung an die Konzentrationslager räumten. Denn unabhängig von den ursprünglichen Planungen besaß das »KL
erneut veränderte, diese als Arbeitskräftereservoir für die Kriegsindustrie in Arbeitsdorf« nun plötzlich - im Frühjahr 1942 - die Funktion eines Versuchs­
den Blick gerieten, erwiesen sich die skizzierten Fälle plötzlich als eine Art projektes für die seit diesem Zeitpunkt mit oberster Priorität verfolgte Zusam­
Modell. menarbeit zwischen KZ-System und Rüstungsindustrie, von der jedoch noch
Auch die Forcierung und Neuorganisation des Arbeitseinsatzes, die die weitgehend unklar war, wie sie aussehen könnte.
IKL im Herbst 1941 durchführte, zielte zunächst nicht auf die Kriegsindu­ Beide Entwicklungslinien, die sich innerhalb des KZ-Systems im Laufe des
strie, sondern vorwiegend auf umfangreiche Siedlungsvorhaben »im Osten«. Jahres 1941 abzeichneten und die schlagwortartig in den Begriffen »Vernich­
Himmler hatte im Sommer 1941 mit dem sogenannten Generalplan Ost Ent­ tung« und »Arbeit« zusammengefaßt wurden, standen nicht im Widerspruch
würfe zu einem bevölkerungs- und raumpolitischen Gesamtplan erstellen las­ zueinander. Sie betrafen verschiedene Opfergruppen, die die SS-Führung mit
sen. 24 Die dort formulierten Siedlungspläne wurden durch ein umfangreiches unterschiedlich intensivem Vernichtungswillen verfolgte. In dieser Phase
Bauprogramm, das »vorläufige Friedensbauprogramm«, ergänzt, das Pohl zielten die Maßnahmen auf die systematische Vernichtung der kranken und
und seine Mitarbeiter im Herbst 1941 ausarbeiteten. Es sollte nahezu aus­ politisch mißliebigen KZ-Häftlinge, auf die Tötung der »politischen Kom­
schließlich mit zwangsweise rekrutierten Arbeitskräften realisiert werden: mit rriissare« unter den sowjetischen Kriegsgefangenen und der Juden. Die ar­
sowjetischen Kriegsgefangenen, KZ-Insassen, jüdischen Häftlingen und aus­ beitsfähigen, nichtjüdischen und politisch indifferenten KZ-Häftlinge hinge­
ländischen Zivilarbeitern. 25 Aus diesem Grunde und mit Blick auf »die späte­ gen, die in den KZ der IKL die Mehrzahl der Gefangenen bildeten, sowie die
re Besiedlung des Gaues Danzig-Westpreussen«26 entschied Himmler Ende sowjetischen Soldaten in den Kriegsgefangenenarbeitslagern bei den KZ dien­
des Jahres 1941 auch, Stutthofals Konzentrationslager der IKL zu unterstel­ ten der SS-Führung in zunehmendem Maße als Verfügungsrnasse ihres
len - zwei Jahre nachdem dies erstmals erwogen und verworfen worden war. machtpolitischen Kalküls. Die SS-Führung erhoffte sich von der Ausbeutung
Während Himmler die KZ-Häftlinge bis zum Herbst 1941 noch nahezu dieser Gefangenengruppen ökonomische Eigenständigkeit und daraus resul­
ausschließlich in Bereichen arbeiten ließ, die dem Ziel dienten, die Macht der tierend politische Autonomie. Aus diesem Grunde waren die Einsatzorte letzt­
SS zu stärken und der Waffen-SS Vergünstigungen zu verschaffen, so rückten endlich variabel. Die Häftlinge wurden seit Mitte der dreißiger}ahre zum un­
sie seit Winter 1941/42 als Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie in den Vor­ mittelbaren Nutzen der SS herangezogen (als Arbeitskräfte zum Aufbau der
dergrund seiner machtpolitischen Interessen. Im Schnittpunkt beider Ent­ Konzentrationslager oder in den SS-eigenen Werkstätten). Himmler setzte sie
wicklungen stand das KZ Arbeitsdorf. 27 seit 1937/38 zur Herstellung von Baustoffen ein, solange das nationalsoziali­
stische Städtebauprogramm Prestige und die Gunst Hitlers versprach. Zudem
24 Zum Generalplan Ost vgl. Gerlach: Ausweitung, S. 13 -30 (und die dort angegebene wurden sie seit Frühjahr 1941 an einige wenige Industriebetriebe vermietet,
Literatur). die im Gegenzug Baumaterialien, Geld oder Rüstungsgüter für-d-ie Waffen-SS
25 Kaienburg: )}Vernichtung durch Arbeit«, S. 125 f. abgaben. Im Herbst 1941 plante Himmler, sie als Zwangsarbeiter für das gi­
26 Brief Himmler an Pohl vom 19.12.1941, BArch (Berlin), NS 3/52.
27 Zum folgenden vgl. Mommsen, Hans; Grieger, Manfred: Das Volkswagenwerk und gantische Bau- und Siedlungsprogramm einzusetzen, mit dem er nach dem er­
seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 1996, S. 496-598; Budraß, Lutz; Grieger, warteten »Endsieg« Osteuropa zu kolonisieren beabsichtigte. Der Kriegsver­
Manfred: Die Moral der Effizienz. Die Beschäftigung von KZ-Häftlingen im Beispiel lauf machte die Umsetzung derartiger Pläne jedoch zunichte.
des Volkswagenwerkes und der Henschel Flugzeug-Werke. In: Jahrbuch für Wirt­
schaftsgeschichte, Heft 2/1993, S. 94-103; Siegfried, Klaus-Jörg: Das Leben der
Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939-1945. Frankfurt a. M., New York 1988,
8.40-45.

40 41

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Zwangsarbeit und Völkermord innerhalb des KZ-Systems

Als sich im Winter 1941/42 abzeichnete, daß sich der Krieg gegen die Sowjet­
union länger hinziehen würde, ließ Himmler das »vorläufige Friedensbaupro­
linge an Rüstungsunternehmen vermietet und in eigens eingerichteten Außen­
lagern untergebracht werden sollten.
Erst im Winter 1942/43 eröffnete die IKL in nennenswertem Umfang Au­
ßenlager. Der Zeitpunkt ist besonders hervorzuheben, da häufig angenommen
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gramm« fallen. An seine Stelle trat die Orientierung auf den Rüstungssektor, wird, daß das KZ-System bereits 1942 in einen gigantischen Rüstungskom­
dessen Bedeutung innerhalb der NS-Führung rapide zunahm. Aus machtpoli­ plex transformiert und um eine Vielzahl von Außenlagern erweitert worden
I
tischem Kalkül beabsichtigte Himmler, die Konzentrationslager, die schein­
bar über ein unerschöpfliches Potential an Gefangenen verfügten, in ein Ar­
sei. De facto griff die Umstrukturierung erst im Jahre 1943, ab 1944 beschleu­
nigte sich die Entwicklung rapide. Die Initiative zur Errichtung der Außenla­
}
beitskräftereservoir für die Kriegswirtschaft umzustrukturieren. Im ersten ger ging in der Regel von den Betrieben aus; sie suchten beim WVHA um die
Halbjahr 1942 griffen eine Reihe von Maßnahmen, die auf die Umstellung Zuweisung von KZ-Häftlingen nach, meist, um einen akuten Arbeitskräfte­ 1
des KZ-Systems zielten. Im März gliederte Himmler die IKL als Amtsgrup­ mangel auszugleichen. Einige Unternehmen führten als Begründung auch an,
pe D in das kurz zuvor errichtete SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt daß die Produktion durch den ständigen Wechsel der bislang beschäftigten
(WVHA) ein. Mit diesem Schritt versuchte er, das KZ-System vor dem Zu­ ausländischen Arbeiter erheblich behindert sei. Im Vergleich zu den ersten
griff des zum »Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz« ernannten Ansätzen einer Zusammenarbeit zwischen KZ-System und Industrie, die auf
Fritz Sauckel zu schützen. Mit der Ernennung Pohis zum Chef des WVHA das Jahr 1941 zurückgehen, lassen sich drei wesentliche Unterschiede benen­
und der Unterstellung der IKL unter dieses schrieb Himmler eine langjährige nen: Zum einen wurden die Häftlinge nun direkt bei den Betrieben unterge­ I
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Entwicklung fest: den stetig wachsenden Einfluß Pohls auf das KZ-System. bracht; zum zweiten fanden sie auch in der Produktion Verwendung; zum I
Um die »Mobilisierung aller Häftlingsarbeitskräfte«28 durchzusetzen, be­
gann Pohl zum einen, den eigenen Dienstbereich umzustrukturieren, zum
dritten entwickelte sich die Zusammenarbeit offenbar - zumindest lassen Ein­
zelstudien dies vermuten - zur Zufriedenheit der Unternehmen. l
zweiten nahm er Verhandlungen mit dem Rüstungsministerium und der Pri­ Die Grundsatzentscheidung des Herbstes 1942 zeitigte für die verschiede­ 1
vatindustrie auf. Die zunächst verfolgten Pläne, nämlich Waffen in den Kon­ nen Gruppen der KZ-Inhaftierten unterschiedliche Konsequenzen. Für die in
zentrationslagern zu produzieren, scheiterten allerdings an den Befürchtungen den Konzentrationslagern auf dem Reichsgebiet inhaftierten jüdischen KZ­
des Rüstungsministeriums, daß es Himmler gelänge, die Macht der SS mittels Insassen bedeutete sie das Todesurteil, denn die Entscheidung bedeutete ihre
eigenständiger Rüstungsfertigungen weiter auszudehnen. Deportation in die Vernichtungslager. Anfang Oktober 1942 erging eine Wei­
Der Einspruch Speers, im Februar 1942 zum »Reichsminister für Bewaff­
nung und Munition« ernannt, führte auch zur Auflösung des KZ Arbeitsdorf.
sung an die KZ-Kommandanturen, Himmler wünsche, daß »sämtliche im
Reichsgebiet gelegenen KL judenfrei gemacht werden«.3o Nur äus Buchen­
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Speer bezweifelte (zu Recht) die kriegswirtschaftliche Relevanz des Projektes wald ist bislang bekannt, daß die Lagerleitung qualifizierte jüdische Fachar­
und untersagte Mitte September 1942 die Fertigstellung der Leichtmetallgie­ beiter von der Deportation ausnahm. 234 Juden blieben in Buchenwald inhaf­
ßerei ebenso wie den Produktionsbeginn - das Versuchsprojekt war damit ge­ tiert, 405 wurden von hier aus nach Auschwitz überstellt. In Sachsenhausen
scheitert. Das KZ Arbeitsdorf erlangte jedoch insofern erhebliches Gewicht, kam es zu einem Aufstandsversuch der jüdischen Häftlinge. 3! Mindestens
als es sich - ebet:lso wie die Anfänge einer Zusammenarbeit der SS mit den 1559 jüdische KZ-Häftlinge (1037 Männer und 522 Frauen) wurden im
IG-Farben und der Steyr-Daimler-Puch AG - als Modell erwies, auf das die Herbst 1942 nach Auschwitz deportiert. 32 Die Mehrzahl dürfte dort ermordet
SS mit der Errichtung von Außenlagern bei den Rüstungsbetrieben zurück­ worden sein. ~~ ,
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griff und das seit 1943/44 verbreitet Anwendung fand. Für die nichtjüdischen KZ-Häftlinge bedeutete die Grundsatzentscheidung
Daß jedoch überhaupt Außenlager bei Industrieunternehmen errichtet vom Herbst 1942 die Durchsetzung des Prinzips der Zwangsarbeit bei priva­
wurden, geht auf eine Grundsatzentscheidung des Herbstes 1942 zurück. 29 ten oder staatlichen Rüstungsbetrieben. Um den Arbeitseinsatz zu forcieren,
Erst damit fand das Planungsstadium des ersten Halbjahres 1942 mit seinen ließ die SS-Führung zum einen die systematischen Massenvernichtungsaktio­
zum Teil widersprüchlichen und wenig stringenten Entwicklungen ein Ende. nen, denen 1941 viele tausend kranke KZ-Häftlinge und als »politische Kom­ 'i·"·
Hitler, Himmler und Speer legten im September 1942 fest, daß die KZ-Häft­
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30 Runderlaß WVHA an die Lagerkommandanten vom 5.10.1942, Nürnberger Doku­
28 Brief Pohl an Himmler vom 30.4.1942. Dienststelle des Generalinspekteurs in der Briti­ ment PS-3677.
schen Zone für die Spruchgerichte (Hg.): Beweisdokumente für die Spruchgerichte in 31 Zu Buchenwald vgl. Stein, Harry: Juden in Buchenwald 1937-1942. Weimar 1992,
der Britischen Zone. Hamburg 1947, GJ. Nr. 110. S. 125f.; zu Sachsenhausen vgl. Sachsenhausen. Dokumente, Aussagen, Forschungser­
29 Vgl. Herbert, Ulrich: Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der gebnisse und Erlebnisberichte über das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen.
»Weltanschauung« im Nationalsozialismus. In: ders. (Hg.): Europa und der »Reichs­ Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der Deutschen Demokrati­
einsatz«. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutsch­ schen Republik (Hg.). Berlin (DDR) 1974, S. 124-129.
land 1938-1945. Essen 1991, S.406ff. 32 Zahlen nach Orth: System, S. 174.

42 43
missare« klassifizierte sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer gefallen waren, Kriegshälfte gewertet werden kann: Zum einen sank die absolute Zahl der ge­
einschränken bzw. einstellen. Die IKL erklärte diejenigen sowjetischen Solda­ töteten KZ-Insassen infolge der großen Zahl der Neueinlieferungen in weit ge­
ten, die die furchtbaren Haftbedingungen in den Kriegsgefangenenarbeitsla­ ringerem Maße als die Prozentangaben vermuten lassen; zum zweiten beruhen
gern der KZ überlebt hatten, im März 1942 kurzerhand zu KZ-Häftlingen, die an Himmler gemeldeten Zahlen über den Rückgang der Todesrate zum
zog sie zur Zwangsarbeit heran und löste die separaten Lagerabschnitte auf. Teil auf Fälschungen (um zu demonstrieren, daß man seiner Forderung nach­
Auch die Aktion» 14 fl3« wurde erheblich eingeschränkt. Als wichtiger jedoch gekommen sei);36 zum dritten gingen die Todesraten in den KZ partiell des­
erwies sich, daß es der SS gelang, die Zahl der KZ-Häftlinge erheblich zu stei­ halb zurück, weil kranke und sterbende Häftlinge in die Vernichtungslager de­
gern. portiert und dort - ohne registriert zu werden - umgebracht wurden.
Im Winter 1942/43 übergab der Reichsjustizminister Otto Thierack etwa Die Höherbewertung der Arbeitskraft steigerte die Überlebenschancen der
12000 sogenannte Sicherungsverwahrte an Himmler zur - so expressis verbis KZ-Gefangenen nicht. Die vorliegenden Studien zu einzelnen KZ lassen viel­
das Protokoll der Besprechung zwischen Himmler und Thierack - »Vernich­ mehr den Schluß zu, daß die SS die Arbeitskraft der KZ-Häftlinge in der Re­
tung durch Arbeit«.33 Zudem fanden nun großangelegte Razzien und Verhaf­ gel gering bewertete, eben weil sie massenhaft zur Verfügung zu stehen schien.
tungsaktionen statt, die sich in erster Linie gegen polnische und sowjetische Die Chance, das Konzentrationslager zu überleben, war abhängig von der
Zwangsarbeiter im Deutschen Reich richteten. Im Laufe eines halben Jahres Stellung des oder der einzelnen im Arbeitseinsatz und in der nach rassistischen
verdoppelte sich die Zahl der KZ-Insassen nahezu: von rund 110000 Häftlin­ Kriterien gestaffelten Häftlingszwangsgesellschaft. Die propagierte Umstruk­
gen im September 1942 auf 203 000 im April 1943. Im August 1943 befanden turierung der Konzentrationslager in ein Arbeitskräftereservoir und der tat­
sich etwa 224000, ein Jahr später 524286 Menschen in KZ-Haft. 34 sächliche Einsatz eines großen Teils der Häftlinge als Zwangsarbeiter führte
In den KZ-Hauptlagern stellte die zweite Kriegshälfte daher eine eigenstän­ nicht zur Verbesserung der Haftbedingungen, sondern zur Verschlechterung.
dige Etappe dar. Erst in diesem Zeitraum setzte ihre enorme Vergrößerung Dies galt nur für eine Minderheit der Gefangenen nicht, nämlich für dieje­
ein. Es lassen sich zwei Wachstumssprünge markieren: der Herbst/Winter nigen, die an der Spitze der rassistischen Häftlingshierarchie standen, sowie
1942 sowie das Jahr 1944. In diesen Phasen kam es zu erheblichen Expan­ für diejenigen, von deren beruflicher Qualifikation die SS profitierte. Diesen
sionsschüben und zwar hinsichtlich der Zahl der Inhaftierten, der getöteten Gruppen - den meist deutschen Funktionshäftlingen sowie der sich langsam
Menschen und der Zahl der errichteten Außenlager. herausbildenden Schicht der Häftlingsfacharbeiter, die in der Produktion eine
Die häufig geäußerte Annahme, daß die Umstrukturierung des KZ-Sy­ qualifizierte Arbeit ausübten - räumte die SS bessere Arbeits- und damit Le­
stems in ein Arbeitskräftereservoir der Kriegswirtschaft zur Verbesserung der bensbedingungen ein. Allein diese beiden Gruppen profitierten auch von dem
Haftbedingungen geführt habe, ist aufgrund neuerer Forschungsergebnisse im Mai 1943 eingeführten sogenannten Prämiensystem, das für besondere
widerlegt. Zwar sind zahllose Anweisungen des WVHA, die darauf zielten, Leistungen Geldprämien und Hafterleichterungen versprach.J7 Die Initiative
den Arbeitseinsatz effektiver zu gestalten und die Leistungen der KZ-Häftlin­ zur Etablierung eines derartigen Systems ging allerdings nicht vom WVHA
ge zu steigern, überliefert, doch der Blick auf die Lagerrealität zeigt, daß die aus, sondern von Industriebetrieben, die KZ-Häftlinge beschäftigten. Es ist
meisten Anordnungen niemals umgesetzt wurden. Nur zwei Anweisungen von mindestens zwei Unternehmen, nämlich der IG-Farben und den Heinkel­
brachten tatsächlich eine Erleichterung: Erstens beantragte die Lager-SS Ver­ Werken, nahezu zeitgleich entwickelt worden. Aus ihrer Perspektive war es of­
pflegungs-Zulagen für Schwerarbeiter und gab sie tatsächlich auch aus, zwei­ fenbar naheliegend, Anreize zu schaffen, um die Häftlinge zu höheren Ar­
tens erlaubte Himmler seit Herbst 1942, daß Lebensmittelpakete in die KZ ge­ beitsleistungen anzuhalten. Faktisch jedoch scheiterte das »PräI1!j~Dsystem«­
schickt werden durften. eben weil es nur einer kleinen Minderheit der Gefangenen zugute kam. Wie in
Schwieriger zu beurteilen ist die Frage nach der Entwicklung der Sterblich­ den Jahren zuvor blieb das KZ-System auch in der zweiten Kriegshälfte ein
keitsrate. Nachweisbar ist, daß das WVHA zunächst die Lagerärzte, dann die Instrument der Herrschaftssicherung und des Terrors, das gegen diejenigen
Kommandanten explizit aufforderte, diese zu senken. Bezogen auf das ge­ Gruppen gerichtet war, die aus politischen oder »rassischen« Gründen den
samte KZ-System ging sie offenbar tatsächlich zurück: von zehn Prozent im NS-Staat und die imaginierte »Volksgemeinschaft« bedrohten.
zweiten Halbjahr 1942 auf 2,8 Prozent im Juni 1943. 35 In der zweiten Kriegshälfte ist das KZ-System nicht ausschließlich durch
Drei Argumente sind jedoch gegen die These vorzubringen, daß dies als In­ die Versuche der SS-Führung charakterisiert, das Prinzip der Zwangsarbeit
diz für eine allgemeine Verbesserung der Haftbedingungen in der zweiten
36 Vgl. Karny, Miroslav: »Vernichtung durch Arbeit«. Sterblichkeit in den NS-Konzen­
33 Protokoll der Besprechung zwischen Thierack und Himmler vom 18.9.1942. Dienststelle trationslagern. In: Sozialpolitik und Judenvernichtung. Gibt es eine Ökonomie der
des Generalinspekteurs in der Britischen Zone für die Spruchgerichte (Hg.): Beweisdo­ Endlösung? Berlin 1987, S.136f. (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits­
kumente für die Spruchgerichte in der Britischen Zone. Hamburg 1947, GJ. Ne. 104. und Sozialpolitik; 5).
34 Zahlen nach Broszat: Konzentrationslager, S. 131 f. 37 Prämien-Vorschrift Pohls vom 15.5.1943, Nürnberger Dokument NO-400. Zum fol­
35 PingeI: Häftlinge, S. 182f. genden vgl. Orth: System, S. 195-198. ~

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durchzusetzen. Neben den überwiegend im »Altreich« gelegenen Konzentra­
tionslagern entstanden im gleichen Zeitraum mit Auschwitz-Birkenau und
tenkammer, beschäftigt. Im Spätherbst 1944 ließ Himmler die Vernichtung
stoppen. Nach den Untersuchungen von Franciszek Piper ermordete die SS
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Majdanek zwei Vernichtungslager, die sich zu Zentren des Völkermordes an bis Anfang des Jahres 1945 in Auschwitz mindestens 1,2 Millionen Menschen
den europäischen Juden entwickelten. Die Parallelität beider Faktoren, die - davon etwa eine Millionen Juden.42 J
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sich bereits 1941 abgezeichnet hatten, kennzeichnet das KZ-System in der Die Geschichte des Lagers Majdanek zerfällt in vier Phasen. Da sich die 11
zweiten Kriegshälfte: die Gleichzeitigkeit von Zwangsarbeit und Völkermord.
Die Geschichte des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und die dort
Funktionszuweisung häufig veränderte und es nie ganz aus dem Planungssta­
dium herauskam, charakterisieren polnische Historiker es als »multifunktio­
1
verübten Verbrechen sind in ihren Grundzügen bekannt. Der Völkermord an nales Provisorium«.43 Die erste Phase (sie reichte von Oktober 1941 bis zur
~
',1
den europäischen Juden in Auschwitz-Birkenau begann Anfang des Jahres Mitte des folgenden Jahres) war durch den Aufbau des Lagers geprägt. Erst
1942; er nahm im Sommer 1942 systematische Form an. 38 Zunächst spora­
disch, ab 4. Juli 1942 regelmäßig,39 selektierten SS-Ärzte und Angehörige des
Mitte des Jahres 1942 stieg die Zahl der Gefangenen von etwa 2000 auf bis J.,
zum Jahresende über 10 000 Menschen an. In diesem Zeitraum nutzte die SS
Kommandanturstabes die nach Auschwitz deportierten Juden. Sie schickten Majdanek vorwiegend als Sammel- und Haftstätte für Juden und Polen aus
einen Großteil, Schätzungen gehen von etwa achtzig Prozent aus,40 meist un­ der Region Lublin, die im Rahmen umfangreicher Aussiedlungs- und Vergel­
mittelbar nach Birkenau und damit in den Tod. Diejenigen, die als »arbeits­
fähig« galten, wurden bis zu ihrer physischen Erschöpfung in Arbeitskom­
tungsaktionen gefangengenommen worden waren. Zudem verschleppte die SS f
polnische Juden aus den Ghettos in Warschau und Bialystok nach Majdanek. ::l
mandos des Lagerkomplexes Auschwitz eingesetzt. Bis Ende des Jahres 1942 sollten - so der Befehl Himmlers, der den Hinter­
Birkenau entwickelte sich seit 1942 zu einem riesigen Lagerkomplex, der
mehrere Teillager und Bereiche umfaßte. Etwa 8000 Gefangene arbeiteten
grund für diese Maßnahmen bildete - alle Juden des Generalgouvernements
getötet sein. Nur diejenigen, die in den Rüstungsbetrieben als unabkömmlich
J
täglich auf den Baustellen. Die Haftbedingungen in Birkenau waren von Be­ galten, waren ausgenommen. Sie sollten in fünf Sammellagern (nämlich in
ginn an katastrophal: Eine auch nur annähernd ausreichende Versorgung mit Warschau, Krakau, Radom, Cz~stochowa und Lublin) konzentriert werden. 44
Nahrungsmitteln oder Wasser fehlte, die hygienischen und sanitären Verhält­ Das Jahr 1943 bildete insofern eine eigenständige Entwicklungsetappe, als
nisse spotteten jeder Beschreibung. Die Zahl der Gefangenen, die zur gleichen ,', ..
sich die Funktionszuweisung erneut veränderte: Majdanek diente nun als Ver­ I::
Zeit hier eingesperrt waren, erreichte 1944 einen Höchststand von etwa nichtungslager, darüber hinaus zum Teil als Sammelstelle für polnische und w
100000 Menschen. sowjetische Bauern, die im Zuge der nationalsozialistischen Kolonisierungs­ ;/1
In zwei Schüben erweiterte die SS die Vernichtungsanlagen: Im August und und Repressionspolitik hierher deportiert wurden. Während sich Majdanek iii
September 1942 begannen die Bauarbeiten an den Krematorien 11 und 111, im zu einem Zentrum des Völkermordes an den Juden entwickelte, zeichneten
November an den Krematorien IV und V. Sie wurden zwischen März und sich zugleich jedoch auch Bestrebungen ab, die jüdischen Häftlinge des Gene­
Juni 1943 abgeschlossen. 41 Hinzu kamen - in Verlängerung des Bauabschnit­ ralgouvernements in das Wirtschaftsimperium des WVHA zu integrieren. !i
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tes II - eine Entlausungsanlage (im Dezember 1943 fertiggestellt) und ein Bad
(die sogenannte Sauna) sowie ein umfangreicher Magazinbereich mit dreißig
Tatsächlich konnte Pohl erste diesbezügliche Schritte unternehmen. Im "I',i, ·'
"

Baracken, in dem die Habe der Ermordeten gesichtet, sortiert und verpackt
Herbst 1943 entschied die NS-Führung jedoch, auch diese jüdischen Häftlinge rr
weitgehend zu ermorden. Am 3./4. November 1943 wurde die überwiegende :ilil.
wurde. Über 2000 Gefangene waren hier, in der »Kanada« genannten Effek­ Mehrheit der zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Juden des Distrikts Lublin 1

getötet. Der Massenmord fand nahezu zeitgleich in den drei Lagern Poniato­
.",1 ,/1 '1

38 Vgl. Piper, Franciszek: Die Rolle des Lagers Auschwitz bei der Verwirklichung der na­ wa, Trawniki und Majdanek statt. Pie dort zusammengezogenen SS-Einhei­ ','I'1
ten erschossen an zwei Tagen insgesamt SChätzungsweise 40000 bis 43000 ;!!jJ
tionalsozialistischen Ausrottungspolitik. Die doppelte Funktion von Auschwitz als
:;j".'
Konzentrationslager und als Zentrum der Judenvernichtung. In: Herbert/Orth/Dieck­ Menschen. In Majdanek wurden rund 17000 Juden getötet, darunter auch die
mann (Hg.): Konzentrationslager, S. 392ff. Die Zahl der nach Auschwitz-Birkenau de­ etwa 8000 jüdischen Häftlinge des Lagers. 45 Die - so der Deckname - »Ak­
portierten Juden nahm seit Juni 1942 sprunghaft zu: im Mai 1942 wurden 7716 Juden
hierher gebracht, im Juni bereits 21 496, im August nahezu 42000, bis Jahresende dann
monatlich jeweils etwa 20000 Menschen. Zahlen nach ders.: Die Zahl der Opfer von 42 Zur Zahl der Opfer und der Diskussion um diese Zahlen vgl. Piper: Zahl.
Auschwitz. Aufgrund der QueIlen und der Erträge der Forschung 1945 bis 1990. il
43 Vgl. Kranz, Tomasz: Das KL Lublin - zwischen Planung und Realisierung. In: Herbert/
OSwi~cim 1993 (TabeIle D zwischen S.144 und 145). ~[
Orth/Dieckmann (Hg.): Konzentrationslager, S. 381. Zur Lagergeschichte insgesamt vgl.
39 Vgl. Czech: Kalendarium, S. 241 ff. ,11\
neben Kranz: KL LUblin, vor aIlem Marszalek, Josef: Majdanek. Konzentrationslager
40 Zur Berechnung des Prozentsatzes vgl. M. Broszats Erläuterungen in Broszat, Martin
(Hg.): Rudolf Höß: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen.
Lublin. Warschau 1984; Mencel, Tadeuszu.a.: Majdanek 1941-1944. Lublin 1991.
44 Vgl. Kranz: KL Lublin, S. 372f.
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:!
München 1992, S. 163 f. (Anm. I). Höß selbst gab den Prozentsatz mit 25 bis 30 Prozent
45 Zahlen nach: Urteil gegen Hackmann u.a. vom 30.6.1981, StA Düsseldorf, 8 Ks 1/75, 11
an. Ebenda, S. 163. S. 471; Gutman, Yisrael u. a. (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und
41 Vgl. Piper: Zahl, S. 23. Ermordung der europäischen Juden. 3 Bde. Berlin 1993. S. 418 f.

46
47
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turelle Ähnlichkeiten mit den im Inneren des Deutschen Reiches gelegenen
tion Erntefest« ist als eine der größten Massenerschießungen in der Ge­
Konzentrationslagern feststellen: Herzogenbusch erfüllte die Funktion eines
schichte der nationalsozialistischen Judenvernichtung anzusehen.
Durchgangslagers für jüdische Häftlinge in die Vernichtungslager;49 die im
In der letzten Phase der Lagergeschichte, die nach der »Aktion Erntefest«
Baltikum bestehenden Lager - hier waren nahezu ausschließlich jüdische Ge­
einsetzte und bis zur Räumung Majdaneks reichte, versuchte Pohl, den Ar­
fangene inhaftiert - müssen möglicherweise partiell selbst als Vernichtungsla­
beitseinsatz für .die Betriebe der DAW im Distrikt Lublin zu reorganisieren.
ger angesehen werden, da die Haft- und Arbeitsbedingungen mörderischen
Die Versuche scheiterten; Majdanek diente nun vielmehr als Exekutionsstätte
Charakter hatten.
für polnische Zivilisten, vornehmlich jedoch als Auffanglager für kranke und
Während in den überwiegend im Reich gelegenen Konzentrationslagern im
geschwächte KZ-Häftlinge, die die SS aus den überwiegend im »Altreich» ge­
Winter 1942/43 die logistischen und organisatorischen Voraussetzungen ge­
legenen Konzentrationslagern nach Lublin überstellte. Die Gesamtzahl der
Opfer in Majdanek liegt bei 170000 oder gar 250000 Menschen, darunter schaffen wurden, um die KZ-Häftlinge massenhaft in der Rüstungsindustrie
einzusetzen, führte die SS im Osten den Massenmord an den Juden fort, der
mindestens 90000 Juden. 46 mit dem Einmarsch in die Sowjetunion im Sommer 1941 eine neue Dimension
Eine erneute Ausweitung des Lagersystems des WVHA erfolgte im Som­ I
mer 1943. Zwischen Juni und September 1943 übernahm Pohl die jüdischen erreicht hatte. Völkermord und Zwangsarbeit, die das KZ-System seit 1942
prägten, standen nicht im Widerspruch zueinander, da sie unterschiedliche
Ghettos und »Zwangsarbeitslager für Juden« des »Reichskommissars Ost­
land«, das Gestapo-Gefängnis in Warschau sowie im Januar 1944 das
Verfolgtengruppen betrafen: Juden und nichtjüdische KZ-Häftlinge. Die Dif­
ferenzierung des Systems brach im ersten Halbjahr 1944 auf. Seit April 1944,
J
»Zwangsarbeitslager für Juden« in Krakau und wandelte diese in die selbstän­
mit der allmählichen Auflösung des Vernichtungslagers Majdanek sowie der
digen Konzentrationslager Riga, Kaunas, Vaivara, Warschau und Plaszow
um. Zudem wurde im Januar 1943 im äußersten Westen, in den besetzten Nie­ 1943 »im Osten« übernommenen Lager mit sein~n jüdischen Insassen, begann
eine neue Etappe in der Entwicklung des KZ-Systems.
derlanden, das KZ Herzogenbusch errichtet. Damit standen seit Sommer
1943 zwanzig selbständige Hauptlager unter der Verwaltung des WVHA.47
Das Näherrücken der Roten Armee veranlaßte das WVHA seit Frühjahr
Das KZ-System im letzten Kriegsjahr
1944, die 1943 »im Osten« übernommenen Lager sowie das Vernichtungslager
Majdanek zu räumen. Die Zahl der KZ-Hauptlager reduzierte sich auf fünf­
Im letzten Kriegsjahr stieg die Gefangenenzahl sowie die Zahl der eröffneten
zehn. Nebenlager erheblich an. Die Versuche des NS-Regimes, die sich abzeichnen­
Der Kenntnisstand über die 1943/44 dem WVHA unterstellten Lager ist
de Niederlage mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln abzuwenden,
ausgesprochen gering. Aufgrund dieser Forschungslage können daher nur er­ :.·I!
:
ste Hypothesen geäußert werden. Offenbar wurden die genannten Lager - mit die begleitet wurden von immer drängenderen Forderungen der Kriegsindu­
strie nach Arbeitskräften, führten zu einer erneuten Ausweitung der Verhaf­ i
Ausnahme des »KL Warschau«, das ausschließlich dazu eingerichtet wurde, ;1

um die Spuren der in Warschau begangenen Verbrechen zu beseitigen - nicht tungspraxis sowohl im Deutschen Reich als auch in den besetzten Gebieten. :1

48 Der Rückzug der deutschen Truppen ging mit Razzien und Verhaftungswel­
zu Konzentrationslagern im engeren Sinne umgeformt. Hinsichtlich der in­ "li
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len einher; auch in West- und Nordeuropa wurden nun massenhaft und wahl­
neren Verwaltungs- und Organisationsstruktur, der Zusammensetzung der
Häftlingsgruppen sowie des Personals lassen sich jedenfalls nur bedingt struk­ los Tausende gefangengenommen und in die KZ verschleppt. Die Zahl der
Häftlinge stieg im August 1944 auf 524286; am 15. JanuarJ245 waren ";!
714211 Menschen der Gewalt der Lager-SS ausgesetzt. 50
46 Zahlen nach Kranz: KL Lublin, S. 373, S. 380f. Zur Diskussion der Todeszahlen vgl. Die Nachfrage nach Arbeitskräften hatte zur Folge, daß das seit 1942 ver­ <~!i
ebenda, S. 380 f., 388 (Anm. 72/73). folgte Prinzip, das Reichsgebiet »judenfrei« zu machen, im Frühjahr 1944 auf­
47 Es handelte sich um die KZ Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Maut­ ·!I
gegeben wurde. Ein Teil der ungarischen Juden, die zu diesem Zeitpunkt in
hausen, Ravensbrück, Neuengamme, Auschwitz, Groß-Rosen, Natzweiler, Majdanek
und Stutthof. Arbeitsdorf und Niederhagen waren bereits aufgelöst. 1943 kamen die
den deutschen Machtbereich gerieten, wurde von der unmittelbaren Vernich­
KZ Herzogenbusch, Riga, Warschau, Kaunas, Vaivara sowie (durch eine Umstruktu­ tung ausgenommen und von Auschwitz aus in die Konzentrationslager im
rierung des Gesamtkomplexes Auschwitz) Auschwitz II (Birkenau) und Auschwitz UI
(Monowitz und andere Außenlager) hinzu, im Januar 1944 zudem das KZ Plaszow. 49 Zu Herzogenbusch vgl. Stuldreher, Coenraad J. F.: Deutsche Konzentrationslager in
48 Zu den KZ im Baltikum Hinweise bei Streim, Alfred: Konzentrationslager auf dem Ge­ !I
den Niederlanden. Amersfoort, Westerbork, Herzogenbusch. In: Dachauer Hefte. 5
biet der Sowjetunion. In: Dachauer Hefte. 5 (1989), 5, S.174-187; Ezergailis, Andrew:
The Holocaust in Latvia 1941-1944. Riga 1996; Vestermanis, Margers: Die nationalso­
(1989), 5, S. 141-173; ders.: Das Konzentrationslager Herzogenbusch - ein »Musterbe­ ,:.\ ,
trieb der SS«? In: HerbertjOrthjDieckmann (Hg.): Konzentrationslager, S. 327-348. 1·1'
:1 I
zialistischen Haftstätten und Todeslager im okkupierten Lettland 1941-1945. In: Her­
50 Stärkemeldung des WVHA vom 15.8.1944, Nürnberger Dokument NO-399; Liste der ~
bertjOrthjDieckmann (Hg.): Konzentrationslager, S. 472-492; Dieckmann, Christoph:
Konzentrationslager und ihrer Belegung vom I. und 15.1.1945, BArch (Berlin), Samm­ IJ
Das Ghetto und das Konzentrationslager in Kaunas 1941-1944. In: ebenda, S.439-471;
lung Schumacherj329.
sowie Schwarz: Lager, S. 200-204,221-223 und 232-234.
49
48
Reich überstellt. Darüber hinaus ließ das WVHA seit Sommer 1944 die KZ durch einen nochmaligen Wachstumsschub auszeichnete. Die KZ-Stammlager
im Baltikum, in denen nahezu ausschließlich jüdische Gefangene unterge­ entwickelten sich zunehmend zu Auffang-, Durchgangs- und Quarantänela­
bracht waren, Richtung Westen räumen. Aufgrund dieser beiden Ereignisse gern. Sowohl diejenigen Personen, die nun erstmals in KZ-Haft gerieten, wur­
gelangten binnen kurzer Zeit mehrere zehntausend jüdische Häftlinge ins den hierher gebracht als auch diejenigen Gefangenen, die sich in Gefängnissen,
Deutsche Reich und die dort bestehenden Konzentrationslager. Die dramati Lagern oder Haftstätten befunden hatten, die die SS-Führung beim NäherIÜk­
sche Überfüllung der Konzentrationslager - insbesondere in der zweiten ken der Roten Armee auflösen ließ. Die Einweisung immer neuer Häftlings­
Hälfte des Jahres 1944 - wurde von den dort inhaftierten Menschen als le­ gruppen in die KZ-Stammlager gewann in der zweiten Hälfte des Jahres 1944
bensbedrohliche Chaotisierung der Lagerverhältnisse erlebt. Die drastische eine rasante Dynamik und erreichte ungeheure Ausmaße.
Verknappung der Ressourcen, die mit einer Verschärfung der Mißhandlungen Nun bildeten sich innerhalb der Häftlingslager spezifische Teilbereiche aus:
und einer Ausweitung der Zwangsarbeit einherging, führte zu einem Massen­ Neben den normalen Baracken entstanden einerseits Elendszonen (etwa die
sterben, das in den Konzentrationslagern bislang unbekannte Ausmaße er­ »Quarantänelager« oder eigens errichtete Zelte), andererseits aber auch ein ­
relativ - privilegierter Unterkunftsbereich. Die Lagerzonen grenzten häufig
reichte. unmittelbar aneinander - und sie waren doch jeweils ein Universum für sich.
.~
Immer deutlicher zeichnete sich ab, daß innerhalb des KZ-Systems zur glei­ rf
chen Zeit verschiedene Typen des Konzentrationslagers bestanden, denen je­ Während in den Verelendungszonen die Häftlinge (viele von ihnen jüdischer
weils eine unterschiedliche Funktion zukam: Zu nennen sind die KZ-Stamm­ oder slawischer Herkunft) dahinvegetierten, lebten die Funktionshäftlinge
und die Facharbeiterhäftlinge in vergleichsweise gut ausgestatteten Blöcken.
lager, das Netz der Außenlager sowie das Vernichtungslager Auschwitz­ ,!~
Birkenau. Hinzu traten nun zwei gänzlich neuartige Ausformungen des Kon­ Die zuletzt genannten Gruppen bildeten innerhalb des herrschenden Chaos
zentrationslagers, die ich als »KZ der Verlagerungsprojekte« einerseits, als den stabilen und einflußreichen Kern. Zudem dienten sie bei der Errichtung
»Sterbelager« andererseits bezeichnen möchte. Weiter unten wird auf diese neuer Außenlager sowohl der SS als auch den Rüstungsbetrieben als Rekru­
tierungsbasis der Stammbelegschaft. Die SS wählte diejenigen Gefangenen,
ausführlich einzugehen sein.
Zwischen Frühjahr und Spätherbst 1944 erreichte der Völkermord in die in dem zu errichtenden Nebenlager Funktionsstellen einnehmen sollten,
Auschwitz-Birkenau einen furchtbaren Höhepunkt: In wenigen Wochen töte­ hier aus, die Industriebetriebe die benötigten Facharbeiter. ij'
te die SS 350000 ungarische Juden,51 die im »Theresienstädter Familienlager« Gemessen an der Zahl der Inhaftierten kehrte sich das Verhältnis der
i!!1
untergebrachten Menschen, die Häftlinge des »Zigeunerlagers« sowie die nach Stammlager zu den Außenlagern allmählich um. Prozentual und absolut im­ 11
Birkenau deportierten Insassen des Ghettos in L6dz. Im Frühjahr 1944 ließ mer mehr KZ-Insassen hielt die SS in den Nebenlagern gefangen. Die Mehr­
die Lager-SS die Vernichtungsanlagen perfektionieren: Erst jetzt wurde die heit war jedoch zunächst, zumindest kurzfristig, im Hauptlager unterge­
Verlegung der Eisenbahngleise bis unmittelbar vor die Gaskammern und Kre­ bracht; nur wenige Gefangene wurden direkt in die Außenlager eingewiesen.
Die Stammlager erhielten daher die Funktion einer Drehscheibe; sie wurden
matorien abgeschlossen.
Die Macht der SS war jedoch nicht grenzenlos. Vielmehr ist nachzuweisen, zu Verteilerstationen, von denen aus die KZ-Häftlinge zur Zwangsarbeit in
daß sich 1944 die Widerstandstätigkeit in Auschwitz erhöhte - zu erinnern ist die anderen KZ oder die angeschlossenen Außenlager überstellt wurden.
insbesondere an den Aufstand des jüdischen »Sonderkommandos« -, daß zahl­ Seit 1944 nahm die Zahl der Außenlager stark zu; auch in den ersten Mo­
naten des Jahres 1945 setzte sich diese Tendenz fort. 53 Staatliche und private
~.
reiche Häftlinge versuchten zu flüchten. Dies sowie die näher rückenden Ver­
bände der Roten Armee veranlaßten die SS im zweiten Halbjahr 1944, Pläne Rüstungsbetriebe griffen auf das Arbeitskräftereservoir der KZ-Häftlinge zu­ ..
rück, obwohl deren Leistung im Vergleich zu der freier Arbeiter oder auch
zur Räumung des Lagerkomplexes Auschwitz auszuarbeiten. Seit Sommer .~
1944 wurden zudem größere Gruppen von Häftlingen nach Westen verlegt: Et­ Zwangsarbeiter deutlich geringer war und die Produktivität offenbar gering
1.
wa 70000 Menschen, insbesondere polnische und sowjetische Gefangene, ließ blieb. Nach ersten Schätzungen betrug sie nicht mehr als etwa fünfzehn Pro­
zent im Vergleich zur privaten Industrie. 54 Eine (bislang ausstehende) Typolo- •
~~
die Amtsgruppe D noch vor der eigentlichen Räumung des Lagerkomplexes
Auschwitz in andere Konzentrationslager überstellen. 52 ", __
Für die KZ ist das letzte Kriegsjahr als eigenständige Entwicklungsetappe 53 Ende des Jahres 1943 bestanden 186 KZ-Außenlager, im Juni 1944 mindestens 341, im ~!
anzusehen. Anhand der vorliegenden Einzelstudien läßt sich zeigen, daß es sich Januar 1945 mindestens 662. Die häufig genannte Zahl von 1000 oder gar 1200 Neben­ J
lagern, die zum Jahreswechsel 1944/45 existiert haben sollen, ist hingegen eine kumula­ ~
~
51 Zum Schicksal der ungarischen Juden vgJ. Braham, Randolph L.: The Politics of Geno­ tive Angabe, die die Schließung zahlreicher Außenlager bis zu diesem Zeitpunkt nicht u
eide. The Holocaust in Hungary.:2 Bde. New York 1981; Czech: Kalendarium, S. 698ff.; berücksichtigt. ~!
Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt a. M. 1990, S. 1045; 54 Herbert, Ulrich: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. In: Bran­ ~.,.

Safrian, Hans: Die Eichmann-Männer. Wien, Zürich 1993, S. 293-307. denburgische Gedenkstätten für die Verfolgten des NS-Regimes. Perspektiven, Kontro­
52 Strzelecki, Andrzej: Endphase des KL Auschwitz. Evakuierung, Liquidierung und Be­ versen und internationale Vergleiche. Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Itll

freiung des Lagers. Oswi~cim 1995, S. 89 -92.


Kultur des Landes Brandenburg (Hg.). Berlin 1992, S. 25. '~I

50
51
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gie der Außenlager, die das gesamte KZ-System umfaßt, müßte folgende Kammler« koordinierte die umfangreichen Bautätigkeiten. Zudem waren an
Kriterien der Differenzierung berücksichtigen: insbesondere die Art der ver­ den Verlagerungsprojekten zahlreiche Industriebetriebe, darunter auch Bau­
richteten Zwangsarbeit, die entsprechenden Arbeits- und Organisationsstruk­ unternehmen, und die »Organisation Todt« (OT) beteiligt.
turen, Trägerschaft und institutionelle Verankerung des Außenlagers, Größe Aus der Sicht Speers erzielte Kammler in Mittelbau-Dora binnen kürzester
sowie nationale und soziale Zusammensetzung der Häftlingsgruppen, Anzahl Zeit erstaunliche Erfolge: die Produktion der »V-Waffen« konnte bereits im
und Art des Bewachungspersonals und schließlich die Todesrate. Denn die Januar 1944 aufgenommen werden. Aus diesem Grunde berief Speer Kamm­
Überlebenschance hing wesentlich von der Art der Zwangsarbeit und der Stel­ ler in den am I. März 1944 gegründeten sogenannten Jägerstab. Die »Erfolge«
lung des oder der einzelnen in der rassistischen Häftlingshierarchie ab. Faßt Kammlers waren durch die rigorose Ausbeutung und den Tod Tausender
man die vorliegenden Studien zu einer ersten Schlußfolgerung zusammen und KZ-Häftlinge erkauft worden.
gliedert sie nach den genannten Kriterien, so läßt sich festhalten, daß minde­ Die Aufgabe des Jägerstabes, einer eigenständigen Zentralinstanz, die sich
stens zwei Typen von Außenlagern aufgrund der großen Zahl der dort einge­ aus Industriellen, Mitarbeitern des Reichsluftfahrtministeriums und des Rü­
setzten Häftlinge besondere Bedeutung erlangten: »Fabriklager« einerseits, stungsministeriums zusammensetzte, bestand darin, Maßnahmen zu ergreifen,
»Baulager« andererseits. In beiden Lagertypen war der vermutlich größte Teil um die nahezu gänzlich zerschlagene Luftfahrtindustrie zu schützen bzw. wie­ ;
der überhaupt zur Zwangsarbeit herangezogenen KZ-Häftlinge beschäftigt. 55
deraufzubauen. Da der Jägerstab die Untertage-Verlagerung von Produk­
._~

Als wesentlicher Unterschied zwischen beiden ist zunächst die Art der Arbeit tionsstätten als besonders sinnvoli erachtete, nahm die Zahl derartiger Projek­
zu nennen: In den Fabriklagern wurden die Gefangenen vornehmlich in der te, die man zu einem erheblichen Teil mit KZ-Häftlingen bewerkstelligte, seit
Produktion von Rüstungsgütern eingesetzt, in den Baulagern hingegen vor­ Frühjahr 1944 erheblich zu. Die Hälfte der etwa 480000 KZ-Häftlinge, die
nehmlich zu Bau-, Erd- und Aufräumarbeiten. Auch scheint die Todesrate die SS Ende des Jahres 1944 als »arbeitsfähi~« einstufte (die Gesamtzahl der
mit der Differenzierung zu korreilieren: Sie lag in den Fabriklagern deutlich Inhaftierten lag bei rund 600000), leistete Zwangsarbeit für private Industrie­ ~
;
niedriger als in den Baulagern. betriebe, die andere Hälfte war in den Verlagerungsprojekten des Kammler­
:i
';
Bereits die Unterscheidung in Fabrik- und Baulager deutet auf den Um­ stabes und bei Bauvorhaben der OT eingesetzt. 56 ,~
"~
stand hin, daß im letzten Kriegsjahr eine Vielzahl verschiedener Nebenlager
Die Berufung Kammlers in den Jägerstab stellte einen erheblichen Macht­
mit höchst unterschiedlichen Haft- und Arbeitsbedingungen existierte. Dar­ zuwachs für die SS-Führung dar. Alierdings war dieser nicht von Dauer. Die
über hinaus jedoch zeichnete sich insofern eine neuartige Struktur ab, als sich Zusammenarbeit mit der SS auf den Baustellen erwies sich aus der Sicht der
einige Außenlager zu gigantischen Komplexen entwickelten, zu Verbünden di­ anderen beteiligten Instanzen als schwierig, zudem konkurrierte (He SS bei der
verser Unter- und Nebenlager, in denen oft mehrere tausend Häftlinge unter­ Vergabe von Verlagerungsprojekten mit anderen Institutionen, insbesondere
gebracht waren. mit der OT. Die Aktivität der SS in diesem Bereich blieb daher vor allem auf
Auch die »KZ der Verlagerungsprojekte« bestanden aus einem ganzen BausteIlen für Renommierprojekte und auf Großverhaben mit hohem Ar­
Komplex von Außenlagern. Die Ursprünge dieser KZ gehen auf das Jahr beitskräfteaufwand beschränkt.
1943 zurück. Zunächst dienten sie ausschließlich dem Zweck, die Produktion Seit Frühjahr 1944 erörterten das Rüstungsminsterium und die beteiligten
und Montage der sogenannten Vergeitungswaffe (»V2«) in bombensichere Industriebetriebe alternative Pläne zur Sicherung der Kriegsproduktion. Zwei
Räume zu verlagern. Himmler sagte zu, für die gigantischen Bauvorhaben Konzepte setzten sich durch: zum einen der Bau gigantischer Stollenanlagen
KZ-Häftlinge als Arbeitskräfte bereitzusteilen und ließ im August 1943 das zu ebener Erde, zum zweiten der Bau oberirdischer Großbunker. Im April
dem KZ Buchenwald zugeordnete Außenlager Mittelbau-Dora eröffnen. Die 1944 beauftragte Hitler die OT - und nicht die SS - mit dem Bau der Groß­
Häftlinge bauten eine riesige Stollenanlage im Harz aus, in der die »V-Waf­ bunker. Die Ersetzung des Jägerstabes durch den »Rüstungsstab« im August
fen« produziert werden sollten. Zudem ernannte Himmler Hans Kammler, 1944 (der nun für die Sicherung und nötigenfalis Verlagerung aller als kriegs­
den bisherigen Chef der Amtsgruppe C (Bauwesen) im WVHA, zum Sonder­ entscheidend erachteten Fertigungsanlagen sorgen sollte) brachte schließlich
beauftragten für die Baurnaßnahmen. eine weitere Machteinbuße für die SS-Führung mit sich.
Das Organisations- und Kompetenzgefüge, das in Mittelbau-Dora in den
folgenden Wochen und Monaten entstand, wies nur bedingt Ähnlichkeiten
mit der Verwaitungsstruktur der bestehenden Konzentrationslager auf. Es
entwickelte sich vielmehr zum Modell der Verlagerung von Rüstungsindu­ 55 Zum Jägerstab vgL Milward, AIan S.: Die deutsche Kriegswirtschaft 1939-1945. Stutt­
gart 1966, S. 125 -133 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; 12);
strien insgesamt, die 1944 immense Ausmaße annahm. Die oberste Leitung Neander, Joachim: Das Konzentrationslager »Mittelbau« in der Endphase der natio­
und die Koordination lag beim Rüstungsminsterium, eigens eingerichtete Ge­ nalsozialistischen Diktatur. Zur Geschichte des letzten im »Dritten Reich« gegründeten
sellschaften (im Falle Mittelbau-Doras die Mittelwerk GmbH) trugen die Ver­ selbständigen Konzentrationslagers unter besonderer Berücksichtigung seiner Auflö­
sungsphase. Clausthal-Zellerfeid 1997, S. 64f.
antwortung für die unternehmerische Gesamtleitung, und der »Sonderstab "}
56 Vernehmung Pohl vom 25.8.1947. Zit. nach Herbert: Arbeit und Vernichtung, S.413.
52
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von unterirdischen Produktionsanlagen, von Großbunkern oder von ebener­
Gleichzeitig zur Entscheidung Hitlers, die OT mit der Errichtung der Groß­
digen Stollen herangezogen; die KZ-Überlebenden bezeichnen sie aus diesem
bunker zu betrauen, wurde innerhalb der Amtsgruppe D ein weiterer Amts­
Grunde als »Bauhäftlinge«. Die Zahl der Inhaftierten lag offenbar meist über
chef etabliert; ein einmaliger Akt in der Geschichte dieser Institution. Man be­
auftragte den - mit Martin Weiß relativ prominent besetzten - »Amtschef 10 000, möglicherweise handelte es sich mitunter ausschließlich um jüdische
Gefangene, die zuvor innerhalb des Vernichtungskomplexes des WVHA im
z. b. V.« [zur besonderen Verwendung - K. 0.] im Herbst 1944, als Sonderbe­
auftragter der Amtsgruppe D beim Bau des Großbunkers »Weingut I« bei Osten inhaftiert gewesen waren. Sie arbeiteten unter im wahrsten Sinne des
Mühldorf am Inn zu fungieren. 42 Firmen hatten sich hier zu einer Dach­ Wortes mörderischen Bedingungen; die Todesraten waren ungeheuer hoch.
Innerhalb der Lagerverbünde bildete sich ein abgestuftes System der Arbeit
gesellschaft, der Weingut-Betriebs-GmbH, zusammengeschlossen, um den
und des Leidens heraus. Am Beispiel des KZ Mittelbau-Dora ist gezeigt wor­
Bunker nach seiner Fertigstellung zur Produktion von Kriegsgerät oder als
den, 58 daß die »abgearbeiteten« Bauhäftlinge in neu entstehende Außenlager
Lagerhalle zu nutzen. Weiß sollte mit der Weingut-Betriebs-GmbH und der
des Gesamtkomplexes abgeschoben wurden, wo sie entweder bis zur völligen
örtlichen Bauleitung der OT alle Maßnahmen abstimmen, die im Zusammen­
hang mit der Unterbringung und dem Einsatz der KZ-Häftlinge auftraten. Erschöpfung weiterhin zu Bauarbeiten gezwungen oder aber dem Tode über­
lassen wurden. Am unteren Ende der hierarchischen Gliederung des Gesamt­
Beides, die Schaffung eines fünften Amtschefs innerhalb der Amtsgruppe D
sowie der Auftrag, den Weiß erhielt, läßt sich als Reaktion auf den seit Früh­ komplexes standen reine Sterbelager.
Erreichten die Verlagerungsprojekte das Stadium der Produktion, verän­
jahr 1944 eskalierenden Machtkampf um die Verfügungsgewalt über das Ar­
beitskräftepotential der KZ-Häftlinge interpretieren. Die Amtsgruppe D ver­ derte sich die Art der Zwangsarbeit und offenbar auch die Zusammensetzung
der Häftlingsgruppen. In der Produktion wurden nun Facharbeiterhäftlinge
suchte, Terrain zurückzugewinnen, das sie im Laufe des Jahres 1944 an
Kammler, die OT und das Rüstungsministerium verloren hatte. Dies gelang (die sogenannten Produktionshäftlinge) eingesetzt, die offenbar zum Teil in
ihr letztendlich - selbst auf der Ebene der Planungen - nicht. Ein überliefertes den KZ-Stammlagern gezielt gemustert worden waren. Da die Betriebe von
Dokument, ein projektierter Organisationsplan der Weingut-Betriebs-GmbH, der Qualifikation der Häftlinge zu profitieren trachteten und auf deren Ar­
zeigt, daß die Festlegung der Arbeits- und Haftbedingungen für die Gefange­ beitskraft angewiesen waren, sorgten sie für vergleichsweise erträgliche Ar­
nen in der Produktionsphase an die Betriebsgesellschaft übergegangen wäre. beitsbedingungen. Die Produktionshäftlinge hatten daher eher eine Chance,
Wären diese Pläne Realität geworden, hätte die Amtsgruppe D endgültig ihre zu überleben.
Im letzten Kriegsjahr bildete sich ein zweiter neuartiger Typus des Konzen­
Verfügungsgewalt über die KZ-Häftlinge verloren.
Die Planungen der Weingut-Betriebs-GmbH sind aus einem zweiten Grund trationslagers heraus: die »Sterbelager«. In allen KZ-Hauptlagern (und auch
beachtenswert. Denn sie zeigen, daß in den letzten Wochen des Krieges offen­ in einigen Außenlagerkomplexen) entstanden im Laufe des Jahres 1944 Zonen
bar Pläne geschmiedet wurden, die weit über das Kriegsende hinausreichten. der Verelendung - Orte, an denen neueingelieferte oder »abgearbeitete«, kran­
Auffanggesellschaften wie die Weingut-Betriebs-GmbH dienten offenbar »ge­ ke und vollkommen geschwächte KZ-Häftlinge dem Tod überlassen wurden.
wissermaßen als >Mantel< für eine eigenständige industrielle Interessenpolitik, Die Lager-SS tötete in diesen Bereichen nicht durch Erschießen oder Gift,
die sich angesichts des verlorenen Krieges nun endgültig von den Perspektiven sondern durch Hunger und Durst, Seuchen und Kälte, durch systematische
der Kriegs- und Rüstungspolitik des NS-Staates ab- und den Bedingungen ei­ Unterversorgung. Offenbar war der Anteil der jüdischen Häftlinge hier über­
ner zu erwartenden Nachkriegszeit zuwandte«.57 Seit Herbst 1944 läßt sich al­ proportional hoch. Nur ein einziges Lager dieses Typus wurde in den Rang
so _ ohne daß dieses Phänomen bereits detailliert untersucht worden wäre ­ eines eigenständigen Konzentrationslagers erhoben: Bergen-BelseIL
beobachten, daß die Untertage- und Rückverlagerung diverser Industriebe­ Himmler hatte Bergen-Belsen 1943 zunächst als »Aufenthähslager« ein­
richten lassen; er verfolgte mit diesem Lager das Ziel, bestimmte Gruppen von
triebe mit industriellen Nachkriegsplanungen verschmolzen.
Nur ein einziges KZ dieses Typus, nämlich Mittelbau-Dora, wurde in den Juden an einem Ort zu konzentrieren, um sie vor ihrer Deportation in die Ver­
Rang eines selbständigen Stammlagers erhoben. Weitere bestanden in Maut­ nichtungslager als Unterpfand für einen möglichen Austausch mit deutschen
Staatsbürgern zur Verfügung zu haben. Tatsächlich wurde ein solcher Aus­ i
hausen, Groß-Rosen, Dachau, Natzweiler und Buchenwald. Doch die Unter­ il
stellung war im wesentlichen formaler Natur; das jeweilige Hauptlager und tausch nur in höchst geringem Umfang realisiert. Seit dem Jahre 1944 zeich­
die dort tätigen SS-Führer verfügten nur über wenig Einfluß. Die »KZ der nete sich vielmehr ein allmählich einsetzender, in der zweiten Jahreshälfte an tlt·
Verlagerungsprojekte« sind jedoch nicht nur durch die neuartigen Organisa­ Geschwindigkeit rapide zunehmender Transformationsprozeß ab. Bergen-Bel­
tionsstrukturen gekennzeichnet, sondern auch durch die Art der hier verrichte­ sen entwickelte sich zu einem Auffanglager für immer neue Transporte kran­
ten Zwangsarbeit charakterisiert. Die Gefangenen wurden auf den Baustellen

58 Vgl. Wagner, Jens-Christian: Das Außenlagersystem des KL Mittelbau-Dora. In: Her­


57 Fröbe, Rainer: Der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen und die Perspektiven der Indu­
bert/Orth/Dieckmann (Hg.): Konzentrationslager, S. 707-729. ,I
strie 1943-1945. In: Herbert (Hg.): Europa und der »Reichseinsatz«, S. 372. 'I
I
55 "

54
il
ker, sterbender und toter Menschen und stellt daher »nicht den Prototyp des Häftlinge Richtung Westen in Marsch: 58000 Häftlinge aus Auschwitz,
nationalsozialistischen Konzentrationslagers« dar. 59 Es wurde vielmehr zum 11000 aus Stutthof (ein erheblicher Teil der Gefangenen blieb in Stutthof zu­
Sterbelager und infernalen Endpunkt des zusammenbrechenden KZ-Systems. rück und wurde erst im April 1945 »evakuiert«) und 44000 Gefangene aus
Groß- Rosen. Nachweisbar ist, daß 24500 Gefangene den Marsch Richtung
Westen nicht überlebten; die Gesamtzahl jedoch dürfte weitaus höher liegen,
da nicht einmal geschätzt werden kann, wieviele Häftlinge aus Groß-Rosen
Die Räumung der Konzentrationslager
den Todesmarsch nicht überlebten. 60 Die Ankunft der vollkommen ge­
Die »Evakuierung« der Konzentrationslager zog sich über ein Jahr hin. Der schwächten, kranken und sterbenden Menschen in den Konzentrationslagern
Versuch der SS, sämtliche Dokumente der Lagerregistratur zu vernichten, im Inneren des Deutschen Reiches führte dort zu einer letzten Stufe der Eska­
ging mit einer zunehmenden Personalisierung der Entscheidungen einher. Das lation.
Handeln der mittleren und unteren Instanzen des Verfolgungsapparates be­ Bis Ende März 1945 unterblieb ein Befehl, die noch bestehenden Konzen­
stimmte wesentlich das Geschehen. Während die Amtsgruppe D vor allem trationslager zu räumen. Die Lager-SS nutzte die Interimszeit, um die bevor­
eine koordinierende Funktion übernahm und festlegte, wohin die »Evakuie­ stehende »Evakuierung« vorzubereiten. Dazu gehörte die Planung der eigenen
rungstransporte« geleitet werden sollten, bestimmten die HSSPF den konkre­ Flucht und die Beseitigung von Dokumenten oder anderen Spuren, die Aus­
ten Zeitpunkt der »Evakuierung«. Auch die zu Reichsverteidigungskommissa­ kunft über die in den KZ verübten Verbrechen hätten geben können. Wichti­
ren ernannten Gauleiter versuchten - oft in Zusammenarbeit mit oder aber in ger jedoch war, daß die SS in diesem Zeitraum dazu überging, gezielt zwei
Konkurrenz zu den HSSPF -, auf das Geschehen Einfluß zu nehmen. Die La­ Gruppen von KZ-Insassen zu töten: diejenigen Häftlinge, die aus ihrer Sicht
gerkommandanten schließlich sorgten für die Umsetzung des Räumungsbe­ den Strapazen des »Evakuierungsmarsches« nicht gewachsen sein würden, so­
fehls. Sie gaben zudem (aller Wahrscheinlichkeit nach mündlich) die Weisung wie diejenigen, die sich bei der Annäherung feindlicher Truppen als »gefähr­
an die Begleitposten aus, daß jeder Häftling zu töten sei, der zurückblieb, zu lich« erweisen könnten. Da nur wenige Quellen überliefert sind, läßt sich der
flüchten versuchte oder in irgend einer Weise den Marsch störte. Die damit er­ Befehlsweg nicht zweifelsfrei klären. Die Indizien sprechen jedoch dafür, daß
öffneten Handlungsspielräume wurden erbarmungslos ausgenutzt: Die Räu­ die Befehle zur Tötung der »marschunfähigen« sowie der »gefährlichen« Häft­
mung des KZ-Systems zeichnete sich durch ungeheure Brutalität und im­ linge zum Teil vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA), zum Teil auch vom
mense Todeszahlen aus. Zahlreiche Marschkolonnen irrten ziellos umher, WVHA ausgingen. Sie wurden offenbar über die Amtsgruppe D an die Lager­
weil die Wege abgeschnitten waren oder die Orientierung verlorenging. Einige kommandanten weitergeben. In allen bestehenden Konzentrationslagern sind
Transporte erreichten über Umwege Auffang- und Sterbelager im Inneren des derartige Mordaktionen nachweisbar: In Dachau, Flossenbürg,Sachsenhau­
Reiches; eine ungeheuer große (und bis heute nicht bekannte) Zahl von Men­ sen und Neuengamme wurden die »gefährlichen« sowie die »marschunfähi­
schen starb unterwegs. Die »Evakuierungsmärsche« werden zu Recht als »To­ gen« Häftlinge erschossen oder durch Giftinjektionen getötet; in Ravens­
brück, Sachsenhausen, Stutthof und Mauthausen wurden sie zudem im Gas
desmärsche« bezeichnet. erstickt. In Mauthai.J.sen und Sachsenhausen nutzte die Lager-SS bereits be­
Trotz des chaotischen Verlaufs der Räumungen ist nicht zu übersehen, daß
dem Abmarsch detaillierte Planungen vorangingen. Die Lagerkommandanten stehende Gaskammern, in Ravensbrück und Stutthof wurde eigens zu diesem :~

arbeiteten, offenbar zum Teil in Absprache mit den zuständigen HSSPF bzw. Zweck eine Gaskammer gebaut.
Gauleitern, Räumungspläne aus und orientierten ihr Handeln an diesen. Zeitgleich zu den Mordaktionen, die der »Evakuierung« vorangingen, kon­
Meist wurden zunächst die Außenlager ins Stammlager zusammengezogen, kretisierten und radikalisierten sich die Pläne zur Räumung der noch be­
von hier aus begann schließlich die Räumung des Lagerkomplexes. Die Auf­ stehenden KZ. In diesem Zusammenhang tauchten nun auch Überlegungen
lösung des KZ-Systems erfolgte in drei Etappen, von April bis September auf, alle KZ-Häftlinge beim Näherrücken der alliierten Truppen zu ermorden.
1944, von Mitte Januar bis Mitte Februar 1945 sowie von Ende März bis Ende Himm1er jedoch sprach sich im März 1945 gegen derartige Konzepte aus ­
und stellte darüber hinaus die jüdischen Gefangenen unter seinen besonderen
Apri11945. Schutz. Himmlers Weisung lagen keine humanitären Einsichten ·zugrunde.
Im Frühjahr 1944 ließ Pohl das Vernichtungslager Majdanek räumen, seit
Sommer die Lager im Baltikum, im Herbst 1944 schließlich die beiden am Vielmehr versuchte er seit Mitte des Jahres 1944, Verhandlungen mit den
weitesten im Westen gelegenen KZ Herzogenbusch und Natzweiler. Die zwei­ Westmächten aufzunehmen, um einen Separatfrieden auszuhandeln; die jüdi­
te Phase der Räumung wurde durch den Beginn der sowjetischen Winterof­ schen Gefangenen dienten ihm als Geiseln. Im Frühjahr 1945 traf Himmler
fensive ausgelöst. Seit Mitte Januar setzte die SS mindestens 113000 KZ­ zudem mit dem Präsidenten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes,
earl J. Burckhardt, sowie mit dem Vizepräsidenten des Schwedischen Roten "
59 Kolb, Eberhard: Bergen-Belsen. Vom »Aufenthaltslager« zum Konzentrationslager
60 Zahlen nach Orth: System, S. 286.
1943-1945. Göttingen 1991, S. 9.
57
56
Kreuzes, Graf Folke Bernadotte, zusammen. Himmler willigte in die Forde­
rungen Bernadottes ein, alle skandinavischen KZ-Häftlinge zu sammeln und In allen noch bestehenden KZ zeichneten sich nun zwei Entwicklungssträn­
sie zu entlassen. Tatsächlich wurden die skandinavischen Häftlinge nach Neu­ ge ab: Der Abschluß der seit Ende Januar/Anfang Februar betriebenen Tö­
engamme verlegt und noch vor Kriegsende nach Schweden gebracht. Durch tung der kranken und politisch mißliebigen KZ-Insassen (sowie der Zerstö­
die »Aktion Bernadotte« gelangten über 20000 KZ-Insassen vor Kriegsende rung der Lagerakten und der Verwischung der Spuren des Verbrechens)
in die Freiheit, darunter etwa 8000 Skandinavier. 61 einerseits, die Verschleppung der als noch marschfähig deklarierten Gefange­
Himmler setzte die jüdischen Häftlinge in den Verhandlungen als Faust­ nen andererseits. Zwei Marschrouten bildeten sich aus: die Südroute, auf die
pfand ein. Aus diesem Grunde befahl er im März 1945, daß kein Jude mehr die Kolonnen der KZ Flossenbürg und Dachau getrieben wurden, und deren
getötet werden dürfe, und beauftragte keinen Geringeren als Pohl, seinen Be­ Ziel die sogenannte Alpenfestung war; sowie die Nordroute, auf der die Häft­
fehl an die Lagerkommandanten zu überbringen. Himmlers Weisungen wur­ linge aus Neuengamme, Sachsenhausen, Stutthof und Ravensbrück in Rich­
den allerdings nicht befolgt. Durch die Strategie Himmlers unterblieben je­ tung der sogenannten Festung Nord marschierten. Die Teilung in eine südli­
doch für einige Wochen jegliche Befehle, die noch bestehenden KZ im che und eine nördliche Route war durch die erneute Großoffensive der Roten
Inneren des Deutschen Reiches zu räumen. Armee bedingt, die die Spaltung des Deutschen Reiches in eine nördliche und
eine südliche Hälfte entscheidend beschleunigte.
Erst Anfang April wurde die »Evakuierung« fortgesetzt. Zunächst wurde
Mittelbau-Dom geräumt, dann (zumindest teilweise) das KZ Buchenwald. 62 Am 19. und 20. April setzte die SS etwa 25000 bis 30000 Gefangene aus
Am 11. bzw. 13. April trafen amerikanische Truppen in diesen beiden KZ ein, Flossenbürg zunächst in Richtung Dachati in Marsch; etwa 6600 erreiChten
zwei Tage später wurde Bergen-Belsen den Briten übergeben. Die Übergabe dieses Ziel. 65 Die Räumung des Lagerkomplexes Dachau begann wenige Tage
des Sterbelagers stellte einen einmaligen Akt in der Geschichte der »Evakuie­ später, umfaßte jedoch nur einen Teil der Häf~inge. Am 26. April trieb die SS
rung« dar; sie wurde durch einen lokalen Waffenstillstand zwischen dem zu­ etwa 10000 Menschen Richtung Süden; einige wenige erreichten tatsächlich
ständigen deutschen Wehrmachtskommandeur und dem britischen Stabschef, die Grenze nach Österreich. Angesichts der näher rückenden alliierten Truppen
Brigadier Taylor-Balfour, ermöglicht. 63 Beide befürchteten wegen der in Ber­ setzten sich immer mehr Bewacher ab - die Häftlinge waren plötzlich frei. Auch
gen-Belsen grassierenden Fleckfieberepidemie, daß es zu Kampfhandlungen in Mauthausen, dem einzigen Konzentrationslager, das nicht geräumt wurde,
in diesem Seuchengebiet kommen könnte. Letztendlich jedoch konnte die flüchtete die SS Anfang Mai 1945 und überließ die Gefangenen der Freiheit.
Übergabe nur deshalb zustande kommen, weil Himmler nicht befohlen hatte, In der Nordhälfte des Reiches begann die »Evakuierung« ebenfalls kurz nach
auch Bergen-Belsen zu räumen. der Übergabe B~rgen-Belsens: Am 19. April setzten sich die Marschkolonnen
Unmittelbar nachdem die Alliierten Mittelbau-Dora, Buchenwald und Ber­ aus Neuengamme in Bewegung, am 20./21. folgten die Häftlinge aus Sachsen­
gen-Belsen betreten hatten, entschied Himmler, daß Flossenbürg und Dachau hausen, am 25. April begann die zweite Teilräumung des KZ Stutthof, am 27.
und 28. April schließlich verließen über 20 000 Gefangene Ravensbrück. 66
zu räumen seien. Der Befehl enthielt auch die Weisung, daß kein Häftling in
die Hände des Feindes fallen dürfte. 64 Wahrscheinlich traf Himmler diese Das Ziel der südlichen Route, die Alpenfestung, war im Grunde (und ent­
Entscheidung deshalb, weil die Alliierten ihr Entsetzen über die Zustände in gegen 67ihrer Bedeutung in der nationalsozialistischen Propaganda) eine Schi­
Mittelbau-Dora, Buchenwald und Bergen-Belsen nicht verhehlten und es in märe. Die nachweisbaren Planungen zum Ausbau einer Festungsanlage in
Radioberichten öffentlich machten. den Ötztaler Alpen wurden niemals auch nur in Ansätzen realisiert. Die Fe­
stung Nord, die nicht nur als Sammelpunkt der KZ-Häftlinge diente, sondern
61 Zahlen nach Koblik, Steven: »No Truck with Himmler«. The Politics of Rescue and auch als Rückzugsrevier der Lager-SS, des RSHA, der Sicherheitspolizei und
the Swedish Red Cross Mission, March-May 1945. In: Scandia. 51 (1985), zit. nach nicht zuletzt Himmlers, ist bislang weniger detailliert untersucht worden. Bei
lensen, Ulrike: »Es war schön, nicht zu frieren«. Die »Aktion Bernadotte« und das genauer Betrachtung zeigt sich, daß sich hinter der Festung Nord mehr als
»Skandinavierlager« des Konzentrationslagers Neuengamme. In: Beiträge zur Ge­ nur ein Trugbild verbarg. Einige Lagerkommandanten gaben nach Kriegsen­
schichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland. Heft 2 (1995),
S.32. de zu Protokoll, daß die nördliche Route ein konkretes Ziel gehabt habe. Sie
62 Zur Räumung des KZ Mittelbau-Dora vgl. Neander: Konzentrationslager. Zu Buchen­ nannten Lübeck, Fehmarn oder Schweden. Zudem lassen einige Indjzien den
waid vgl. Schäfer, Christine: Evakuierungstransporte des KZ Buchenwald und seiner Schluß zu, daß erste Maßnahmen getroffen wurden, um in Norw~gen ein
Außenkommandos. Weimar-Buchenwald 1983 (Buchenwaldheft; 16).
63 Vgl. detailliert Kolb, Eberhard: Bergen-Belsen. Geschichte des »Aufenthaltslagers«
1943-1945. Hannover 1962, S. 157-164. Der Text des Waffenstillstandsabkommens 65 Zahlen nach Siegert, Toni: Das Konzentrationslager Flossenbürg. Gegründet für soge­
dort auf S. 225 ff. nannte Asoziale und Kriminelle. In: Broszat, Martin; Fröhlich, Elke (Hg.): Bayern in
64 Zur Existenz und Geschichte dieses Befehls (er liegt als Dokument bis heute nicht vor) der NS-Zeit. Bd. 2: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil A. München, Wien
1979, S. 485.
vgl. Zamecnik, Stanislav: »Kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes fallen.« 66 Zahlen nach Orth: System, S. 324.
Zur Existenz des Himmler-Befehls vom 14./18. April 1945. In: Dachauer Hefte. I
(1985), I, S. 219-231. 67 Vgl. Henke, Klaus-Dietmar: Die amerikanische Besetzung Deutschlands. München
1995, S. 937-939 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 27).
58
59
Konzentrationslager aufzubauen. Auch durch das faktische Geschehen ist be­
legt, daß die SS angestrengt darum bemüht war, die KZ-Gefangenen in ihrer Vernichtungslagern des WVHA durch Zyklon B um: mindestens eine Million
Gewalt zu behalten und sie nach Norden zu verschleppen. Die Gefangenen in Auschwitz-Birkenau 69 und mindestens 50000 in Majdanek. Des weiteren tö­
aus Sachsenhausen und Ravensbrück erreichten das anvisierte Ziel wegen der tete die SS in Majdanek mindestens weitere 40 000 Juden auf andere Weise. 70
näher rückenden alliierten Verbände nicht; die Häftlinge gelangten auf ihrem Die Zahl der Todesopfer in den Konzentrationslagern der IKL bzw. der
Weg Richtung Schleswig-Holstein in die Freiheit. Amtsgruppe D des WVHA ist weniger genau bekannt; bislang war man im
Die Häftlinge aus Neuengamme hingegen wurden über Lübeck in den Ha­ wesentlichen auf ältere Schätzungen angewiesen. Auf der Grundlage der vor­
fen von Neustadt gebracht und Ende April/Anfang Mai auf drei Schiffe ver­ liegenden Forschungsergebnisse läßt sich die Gesamtzahl der in den Konzen­
laden. Kurze Zeit später trafen auch die Gefangenen aus Stutthof in der Lü­ trations- und Vernichtungslagern der IKL bzw. des WVHA getöteten Men­
becker Bucht ein. Sie waren auf Schuten über die Ostsee nach Neustadt schen (also einschließlich der in Auschwitz und Majdanek ermordeten Juden)
transportiert worden und wurden nun zum Teil ebenfalls auf die Schiffe im mit über 1,8 bis über zwei Millionen angeben. 71 Möglicherweise sind jedoch
Neustädter Hafen verladen, zum Teil wurden sie am Strand abgeladen. Es ist weitaus mehr Häftlinge ums Leben gebracht worden, denn Zum Teil kann le­
nicht anzunehmen, daß - wie die Gefangenen befürchteten - die SS plante, die diglich die Zahl der registrierten Toten angegeben, zum Teil können nur
Schiffe zu versenken. Diese lagen fünf Tage in der Lübecker Bucht, ohne daß höchst unpräzise Schätzungen vorgenommen werden, zum Teil liegen keiner­
lei Forschungsergebnisse vor.
die SS auch nur einen derartigen Versuch unternommen hätte; zudem befan­
den sich an Bord auch zahlreiche SS-Männer. Aufgrund der Quellenlage kann Die Mehrheit der KZ-Toten kam in der zweiten Kriegshälfte um. Betrach­
nicht belegt werden, daß die Schiffe Fehmarn, Schweden oder Norwegen an­ tet man nur die Konzentrationslager (und klammert folglich die Vernich­
steuern sollten. Bevor jedoch - wie auch immer geartete - Planungen der SS, tungslager des WVHA aus), so ist zudem ~ervorzuheben, daß die Mehrheit
die Gefangenen weiter nach Norden zu verschleppen, Realität werden konn­ der Toten nicht durch direkte Mordaktionen Ums Leben kam, sondern auf­
ten, griffen am 3. Mai 1945 britische Jagdflugzeuge die in der Lübecker Bucht grund 72
der katastrophalen und sich stetig verschlechternden Haftbedingun­
liegenden Schiffe »Thielbek« und »Cap Arcona« sowie die kurzfristig in den gen. Während der letzten Kriegswochen und während der Räumung des
Neustädter Hafen zurückgekehrte »Athen« an und bombardierten sie - offen­ KZ-Systems erreichten die Todeszahlen einen furchtbaren Höhepunkt. Min­
sichtlich in der Annahme, es handele sich um Kriegsschiffe mit deutscher Be­ destens ein Drittel der über 700000 registrierten KZ-Häftlinge, die sich im Ja­
satzung. Während die »Athen« nur leicht getroffen wurde und weitgehend un­ nuar 1945 in der Gewalt der SS befanden, oder gar die Hälfte starb auf den
versehrt blieb, so daß die knapp 2000 im Schiffsrumpf untergebrachten Todesmärschen oder in den Sterbelagern;73 der Anteil der jüdischen Gefange­ ,
nen unter ihnen war groß.
Häftlinge überlebten, gerieten die »Cap Arcona« und die »Thielbek« in Brand. ~
Nur wenige hundert Häftlinge konnten sich aus den kenternden Schiffen be­
freien und den - vermeintlich rettenden - Strand erreichen. Doch sie sowie die
;~
dorthin gebrachten KZ-Häftlinge aus Stutthof überlebten nicht; ein Massaker
~'~
beendete ihr Leben. 1

Bilanz der Opfer

Über die Zahl der Opfer des Holocaust wird seit dem Ende des NS-Regimes
diskutiert. Die neuesten Forschungsergebnisse zeigen, daß mindestens 5,29
Millionen und maximal knapp über sechs Millionen Juden ermordet wurden. 68 69 Zahlen nach Benz: Dimension, S. 19. Vgl. zudem Hilberg: Vernichtung, S.1299. Zu
Auch die verschiedenen Todesursachen lassen sich genau benennen: Massener­ Auschwitz-Birkenau vgl. Piper: Zahl, S.202. Zur Quellenproblematik und zur öffentli­
chen Wahrnehmung der Todeszahlen in West- und Osteuropa vgl. ebenda, S. 54-100.
schießungen, Verelendung in den Ghettos, Lagern und anderen Haftstätten so­ 70 Zu Majdanek vgl. Kranz: KL Lublin, S.373, 380f. Zur Diskussion der TodeszahIen
wie die Ermordung durch Giftgas. Fast drei Millionen Juden wurden im Gas ebenda, S. 380f., 388 (Anm. 72/73).
erstickt. Etwa zwei Millionen starben in Kulmhofund den Vernichtungsstätten 71 Orth: System, S. 345f.
der »Aktion Reinhard«. Weit über eine Million Juden brachte die SS in den 72 Auch in Majdanek kamen etwa 60 Prozent der Opfer aufgrund der Haftbedingungen
um und nicht durch gezielte Tötungsaktionen. Zahlen nach Kranz: KL Lublin, S. 381.
73 Vgl. Broszat: Konzentrationslager, S. 132f. (ein Drittel); Bauer, Yehuda: The Death
68 Vgl. Benz, Wolfgang: Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Marches, lanuary-May, 1945. In: Marrus, Michael R. (Hg.): The Nazi Holocaust:
Nationalsozialismus. München 1991, S. 17 (Quellen und Darstellungen zur Zeitge­ Historical Articles on the Destruction of European lews. Bd. 9. Westport, London
schichte; 33). 1989, S.492 (50 Prozent); Zonik, Zygmunt: Anus Belli. Ewakuacja i wyzwolenie hit­
lerowskych obozow koncentracyjnych. Warszawa 1988, S. 6 (200000 von 700000).
60
61
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Peter Reif-Spirek
Bodo Ritscher (Hg.)

Speziallager in der SBZ


Gedenkstätten mit
»doppelter Vergangenheit«

eh. Links Verlag, Berlin


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t
Dieses Buch entstand in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Buchenwald und der
Landeszentrale für politische Bildung Thüringen Inhalt

Vorwort der Herausgeber 7

Ulrich Herbert
Das »Jahrhundert der Lager«: Ursachen, Erscheinungsformen,
Auswirkungen 11
Karin Orth
Die nationalsozialistischen Konzentrationslager 20

Bernd Bonwetsch \
Der GULag - das Vorbild für die Speziallager in der SBZ 62
Jö'rg Osterloh
Deutsche und sowjetische Kriegsgefangenenlager im
Zweiten Weltkrieg 81
Lutz Niethammer
Alliierte Internierungslager in Deutschland nach 1945:
Ein Vergleich und offene Fragen 100 .I
Alexander von Plato ~~~
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950:
Ergebnisse eines deutsch-russischen Kooperationsprojektes 124 t
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Speziallager in der SBZ: Gedenkstätten mit »doppelter Vergangenheit« I


Peter Reif-Spirek ; Bodo Ritscher (Hg.). [In Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte
Buchenwald und der Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen]. - 1. Aufl. - Berlin :
Ralf Possekel t~~
Links, 1999
Stalins Pragmatismus: Die Internierungen in der SBZ als .~:
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ISBN 3-86153-193-3 Produkt sowjetischer Herrschaftstechniken (1945 -1950) 149 ;i:.

1. Auflage, Oktober 1999 Jan Foitzik


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© Christoph Links Verlag - LinksDruck GmbH Der Sicherheitsapparat der sowjetischen Besatzungsverwaltung. I::'
Zehdenicker Straße I, lO 119 Berlin, Tel. (030) 440232-0 in der SBZ 1945-1949
Internet: www.linksverlag.de 182
Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines historischen Nikita W. Petrow
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Lageplans des Speziallagers Sachsenhausen i'~

Lektorat: Thomas Schulz Die gemeinsame Arbeit der Staatssicherheitsorgane der UdSSR
Satz und Lithos: SATZFABRIK 1035, Berlin und DDR im Osten Deutschlands (1949-1953) {I
192 ~:
Karten: Hinz&Kunst"Braunschweig ri
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Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Peter Erler i
ISBN 3-86153-193-3 j
Zur Tätigkeit der sowjetischen Militärtribunale in Deutschland 204
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Jürgen Danye/
Zwischen Repression und Toleranz: Die Politik der SED zur
politischen Integration der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in
derSBZ/DDR 222
Friedhe/m Bol!
Todeserfahrung und Gedenken: Lebensgeschichten von
Häftlingen sowjetischer Speziallager und aus Zuchthäusern der
frühen DDR 239
Thomas Lutz
Gedenken und Dokumen tieren an Orten von NS- und NKWD-
Lagern in Deutschland 249
Christian Schö"/ze/
Ungedruckte Quellen zum Thema Speziallager in der SBZ/DDR I;
in russischen und deutschen Archiven und Bibliotheken 265 I

Die Speziallager der SBZ im Überblick 275

Speziallager Mühlberg 278


Speziallager Buchenwald 282
Speziallager Hohenschönhausen 286
Speziallager Bautzen 290
Speziallager Ketschendorf 294
Speziallager Jamlitz 298
Speziallager Sachsenhausen 302
Speziallager Torgau (Nr. 8) 306
Speziallager Fünfeichen 310
Speziallager Torgau (Nr. 10) 314

Anschriften von Lagergemeinschaften und Initiativgruppen


ehemaliger Insassen der Speziallager 316

Anhang
1
.~ Ausgewählte Literatur 317
j;
~i Abkürzungsverzeichnis ~:.j'j
320 ,~

Abbildungsnachweis 323 }'1


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Personenregister
Zu den Autoren und Herausgebern
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