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OLDENBOURG MGZ 81/1 (2022): 1–27

Einleitung

Felix Ackermann, Janine Fubel und Claudia Weber


Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg
Praktiken der Deportation, Räumung und Zerstörung im
militärischen Rückzug

https://doi.org/10.1515/mgzs-2022-0001

Wenige Tage vor dem Heranrücken der Roten Armee erschossen deutsche Täter
am 31. Januar 1945 in der Justizvollzugsanstalt Sonnenburg über 800 Insassen.
Sonnenburg, das heutige Słońsk und 15 Kilometer östlich der einstigen Festung
Küstrin (Kostrzyń nad Odrą) gelegen, gehörte zu einem weit verzweigten Netz aus
deutschen Gefängnissen, Zwangs‑ und Arbeitslagern auf dem damaligen Gebiet
der preußischen Provinz Mark Brandenburg.1 Im Sonnenburger Gefängnis sowie
im angeschlossenen Arbeitslager waren zeitweilig über tausend Personen aus den
deutsch besetzten Gebieten Europas vor allem aus den Niederlanden, Frankreich,
Belgien, Luxemburg und Norwegen inhaftiert. Die meisten waren zuvor als
Widerstandskämpfer verhaftet und nach Deutschland verschleppt worden, ohne
dass die Angehörigen Informationen über ihren Verbleib erhielten – viele im Zuge
der berüchtigten »Nacht und Nebel«-Aktionen. Die Mehrzahl der 1945 noch in
Sonnenburg Internierten überlebte das Kriegsende nicht. Auf Anordnung des

1 Wir bedanken uns für die kritische Reflexion dieser Einleitung bei Markus Günnewig, Laura Eckl,
Alexandra Klei, Johannes Spohr, Christian Stein und Martin Zückert sowie für die Kommentare bei
den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Workshops »Evakuation – Rückzug – Liquidierung.
Praktiken der Verschiebung und Auflösung von Staatlichkeit im 20. Jahrhundert«, der anlässlich
des 75. Jahrestag der gewaltsamen Räumung des Zuchthauses Sonnenburg (Neumark) vom 30. bis
31.1.2020 in Frankfurt/Oder und Słubice stattfand. Ausrichtende Institutionen waren das Deutsche
Historische Institut Warschau und die Kulturwissenschaftliche Fakultät der Europa-Universität
Viadrina in Partnerschaft mit der Gedenk‑ und Dokumentationsstätte »Opfer politischer Gewalt-
herrschaft«, dem Muzeum Martyrologii w Słońsku sowie dem Institut für angewandte Geschichte.

Kontakt: Felix Ackermann, Deutsches Historisches Institut Warschau,


E-Mail: ackermann@dhi.waw.pl
Janine Fubel, Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin,
E-Mail: fubeljan@cms.hu-berlin.de
Claudia Weber, Professur für Europäische Zeitgeschichte, Kulturwissenschaftliche Fakultät der
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), E-Mail: cweber@europa-uni.de

MGZ, © 2022 ZMSBw, Potsdam. Publiziert von De Gruyter


2 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

Staatssekretärs im Reichsjustizministerium, Herbert Klemm, ermordeten etwa


zwanzig Gestapobeamte aus Frankfurt an der Oder Ende Januar 1945 vor Ort die
meisten Gefangenen. Die nächtliche Erschießungsaktion gehört zusammen mit
den anderen im Zuge der gewaltsamen Auflösung brandenburgischer Haftstätten
und Zwangslager begangenen Morden zu den größten Massenverbrechen, die auf
dem Gebiet des sogenannten Altreiches ab Januar 1945 begangen wurden.2
Vorrückende sowjetische und polnische Verbände hatten im Januar 1945 den
Rückzug der deutschen Einheiten hinter die östliche Grenze des Deutschen
Reiches von 1938/39 erzwungen. Mit jenen Tätern, die zuvor vor allem im militä-
rischen Hinterland der Ostfront die Vernichtungsgewalt des Nationalsozialismus
freigesetzt hatten, kehrten spezifische Praktiken des deutschen »Ostfeldzuges« in
das Reich »zurück«. Die Massenerschießung von Sonnenburg gehörte zu jenem
Repertoire des Mordens »vor Ort«,3 das Deutsche seit 1939 in den besetzten
Gebieten Europas, insbesondere jedoch in den Borderlands4 an den östlichen
Rändern Mitteleuropas – in der historischen Forschung auch als Bloodlands5
gefasst – in die Tat umsetzten. Gleichzeitig weist das Massaker die Charakteristik
der sogenannten Endphaseverbrechen des Zweiten Weltkrieges in Europa auf.6
Unser Themenheft unterbreitet den Vorschlag, einen neuen Weg zur Analyse
und Theoretisierung von Rückzugs‑, Räumungs‑ und Transformationsgewalt7
einzuschlagen und sowohl »Evakuierung« als auch »Liquidation« als spezifische
Formen extremer Gewalt8 im Zweiten Weltkrieg – und nicht nur in dessen
Endphase – weiterzudenken. Der Fokus liegt auf den Kontinuitäten und Unter-
schieden des Evakuierungsgeschehens in unmittelbarer Nähe zu unterschiedli-
chen ost‑ und mitteleuropäischen Kriegsschauplätzen und ‑zeiten des Zweiten

2 Vgl. Daniel Queiser, Das Massaker in der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945. In: Das Konzentra-
tionslager und Zuchthaus Sonnenburg. Hrsg. von Hans Coppi, Kamil Majchrzak, Berlin 2015,
S. 49–61; siehe auch den Beitrag von Janine Fubel.
3 Vgl. Bernd Weisbrod, Die Dynamik der Gewalt und der Holocaust »vor Ort«. In: Werkstatt
Geschichte, 58 (2011), S. 87–97.
4 Vgl. The Holocaust in the Borderlands. Interethnic Relations and the Dynamics of Violence in
Occupied Eastern Europe. Ed. by Gaëlle Fisher und Caroline Mezger, Göttingen 2019 (= European
Holocaust Studies, 2); vgl. auch Timothy Snyder, Black Earth. The Holocaust as History and
Warning, New York 2015.
5 Timothy Snyder, Bloodlands. Europe Between Hitler and Stalin, New York 2010.
6 Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Hrsg. von Cord Arendes, Edgar
Wolfrum und Jörg Zedler, Göttingen 2006 (= Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, 6).
7 Zum Begriff der Transformationsgewalt vgl. Alexander Korb, Transformationsgewalt in Europa
1944–1950. Perspektiven auf das Ende des Zweiten Weltkriegs. In: S.I.M. O. N. Shoah: Intervention.
Methods, Documentation, 2 (2015), 2, S. 38–55.
8 Zum Begriff der extremen Gewalt vgl. Elissa Mailänder Koslov, Gewalt im Dienstalltag. Die
SS-Aufseherinnen des Konzentrations‑ und Vernichtungslagers Majdanek, Hamburg 2009, S. 29 f.
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 3

Weltkrieges. In dieser Perspektive erscheint der Zweite Weltkrieg als Evakuie-


rungskrieg, den wir in Bezug auf die Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte
der Akteure analysieren.9 Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen die inhä-
renten (militärischen) Logiken, die das Evakuierungshandeln von Evakuierenden
und Evakuierten prägten und eigene Gewaltdynamiken ermöglichten. Zentral
hierfür ist die übergeordnete Frage nach den Kontinuitäten und Brüchen deut-
schen Agierens im militärischen Hinterland der Ostfront 1941–1945. Erst durch die
Integration der Rückzugs‑ und Evakuierungsplanungen sowie ‑erfahrungen lässt
sich die in der Endphase des Zweiten Weltkrieges im Reichsinneren freigesetzte
Gewalt der Haftstätten‑ und Zwangslagerräumungen sowie der Todesmärsche
erklären. Wir zeigen, dass die Endphase des Krieges 1944/45 nicht allein und
ausschließlich als Phase eines chaotischen, unkoordinierten Zerfalls zu begreifen
ist, sondern immer auch bestimmten Evakuierungs‑ und Rückzugs-Skripten
folgte, die zuvor verfasst und erprobt worden waren. Der Blick auf die extreme
Gewalt sogenannter Gebietsräumungen ermöglicht die klare Distanzierung von
einem tradierten Verständnis von Endphasenverbrechen, das in der juristischen
Aufarbeitung entlastend wirken sollte.10
Wie die Beiträge dieses Themenheftes in unterschiedlichen räumlichen und
zeitlichen Kontexten zeigen, folgten »Aktionen« wie der Gefangenenmord von
Sonnenburg, Zwangslagerräumungen, Todesmärsche und Evakuierungen über-
wiegend Plänen, Regeln und Verfahren, die schon zu Kriegsbeginn entworfen
und erprobt worden waren und nach über fünf Jahren längst zum Handlungs-
repertoire deutscher Kriegführung gehörten. Im besonderen Maße gilt dies für
Evakuierungen als geplante Prozesse der Auflösung von Orten und des Transfers
von Menschen. In Sonnenburg wurde ein Teil der noch lebenden Gefangenen
zunächst westwärts in Richtung der unmittelbar an der Autobahnbrücke über die
Oder gelegenen brandenburgischen Ortschaft Schwetig (Świecko) und dann in
das etwa 90 Kilometer entfernte Konzentrationslager Sachsenhausen nach
Oranienburg im Norden von Berlin verbracht. Die Mehrzahl der zurückgelassenen
Gefangenen war kurz vor Ankunft der Roten Armee noch vor Ort erschossen

9 Reinhart Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Katego-


rien. In: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt
a. M. 2010, S. 349–375.
10 1954 wurde dazu eigens ein Straffreiheitsgesetz vom Bundestag verabschiedet, das den
angenommenen »Einfluß der außergewöhnlichen Verhältnisse zwischen dem 1. Oktober 1944 und
dem 31. Juli 1945« in teilweise Straffreiheit überführte. Siehe Gesetz über den Erlaß von Strafen und
Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren vom 17.7.1954. In:
Bundesgesetzblatt, 21/1954, S. 203–209, hier S. 206.; vgl. auch Norbert Frei, Vergangenheitspoli-
tik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 2003, S. 127 f.
4 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

worden. Die Kontinuität von Gewaltpraktiken, die partielle Umsetzung von


Vorkriegsplänen sowie die Anwesenheit von bereits zuvor durch besondere Bruta-
lität aufgefallenen Akteuren stellt nicht nur eine Verbindung zwischen den unter-
schiedlichen Phasen des Zweiten Weltkrieges her. Vielmehr zeigt die Gesamt-
schau der Aufsätze, dass Endphase und Rückzug, Evakuierung und Massenmord
keine Begleiterscheinung des Zweiten Weltkriegs waren, die jenseits des militäri-
schen Kriegsverlaufs vollzogen wurden oder als bloße Reaktionen auf diesen zu
verstehen sind. Sie verdeutlichen im Gegenteil, dass Rückzüge und die mit ihnen
einhergegangenen gewaltsamen Evakuierungen einen zentralen Modus der Krieg-
führung ausmachten.
Der Begriff des Evakuierungskriegs umreißt ein Forschungsprogramm, das
den militärischen Rückzug und die ihn begleitenden Evakuierungen als räum-
liche Verschiebung von Staatlichkeit und Herrschaft systematisch in den Blick
nimmt. Eine Grundlage dafür bietet die Forschung von Christian Stein, der die
Rückzüge der Wehrmacht als Kern des Kriegsgeschehens vor allem der zweiten
Kriegshälfte untersucht und in seinem Beitrag die militärischen Logiken des deut-
schen Rückzugs für den Zeitraum des Jahres 1944 beleuchtet. Daran anschließend
verweist Johannes Spohr auf die aktive Rolle von ukrainischen Schutzmann-
schaften als Mittäter im Deportationsgeschehen, die ab 1943 selbst westwärts
evakuiert wurden. Martin Zückert analysiert das kritische Verhältnis von Staat-
lichkeit und Bevölkerung in konkurrierenden Gebietsräumungen in der Slowakei
1944/45. Janine Fubel untersucht die Verlagerung des Kriegsschauplatzes »Ost-
front« in die östlichen Kreise Brandenburgs 1945, die zentral für die Entschei-
dungen zum Auftakt von Evakuierungen und zur Freisetzung extremer Gewalt
war. Felix Ackermann analysiert die Mikrogeschichte einer Gefängnisevakuie-
rung im September 1939 als Teil der Auflösung der Polnischen Republik. Laura
Eckl bringt mit einer Studie zur sowjetischen und deutschen Evakuierung der
ukrainischen Industriestadt Charkiv eine vergleichende Perspektive ein. Um diese
Beiträge in einen Analyserahmen einzubinden, schärfen wir im folgenden
zweiten Teil der Einleitung historische Begriffe und zeigen ihre unterschiedlichen
Bedeutungsebenen auf. Im dritten Teil ordnen wir das vorliegende Themenheft in
die Forschungslandschaft zu Evakuierungen ein, um danach eine zweifache theo-
retische Grundierung von Evakuierungen als staatlich geplante, vorbereitete und
freigesetzte Gewaltdynamik sowie als Praktiken der aktiven (Selbst-)Auflösung
von Staaten vorzunehmen.
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 5

Evakuierung – Räumung – Freimachung:


Eine kurze Begriffsgeschichte

Der Terminus »Evakuierung« geht zurück auf die lateinische Bezeichnung


»evacuare« für »Ausleerung«.11 Aufgrund einer als Notlage gefassten Situation wie
Naturereignissen, Havarien oder Krieg werden Räume geleert.12 Der Vorgang
»Evakuierung« – auch als »Evakuation«13 bezeichnet – fasst zeitlich begrenzte
Sicherungs‑ und Schutzmaßnahmen. Insbesondere im Zeitalter der Weltkriege
stellten diese, im Nationalsozialismus synonym als »Räumung« und »Freima-
chung« bezeichnet, ein flächendeckendes Phänomen dar.14 Evakuierungen
bedeuten in aller Regel für die betroffene Zivilbevölkerung eine Form der Zwangs-
migration. Der Zwangscharakter ergibt sich aus der behördlichen Anordnung und
der Gefahrensituation, die beispielsweise ein Kriegsschauplatz darstellt.15 Inner-
halb der historischen Militär‑ und der Migrationsforschung werden sie als ange-
ordneter Bevölkerungstransfer im Falle von Kriegshandlungen gefasst und un-
tersucht. Die als temporär konzipierten und staatlicherseits durchgesetzten
Maßnahmen zielen auf Bewegungen, die aus einem Kriegsgebiet hinaus in als
sicher erachtete Räume führen sollen und aufgrund von militärischem Kalkül

11 Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin [u. a.] 1989,
S. 192. Eine frühere Version des folgenden Abschnitts sowie der Übersicht zum Forschungsstand
befindet sich in der unveröffentlichten Dissertationsschrift von Janine Fubel, die unter dem Titel
»Krieg, Bewegung und extreme Gewalt im Raum Berlin-Brandenburg: Die Evakuierung und Liqui-
dierung des Konzentrationslagerkomplexes Sachsenhausen 1945« am Historischen Institut der
Humboldt-Universität Berlin eingereicht wird.
12 Diese Begriffsgeschichte nimmt direkt Bezug auf Reinhart Kosellecks historisches Forschungs-
programm zu den Bedeutungsschichten historischer Termini. Reinhart Koselleck, Zeitschichten.
Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2000; Reinhart
Koselleck. Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen
Sprache, Frankfurt a. M. 2006.
13 Die Herausgeber des vorliegenden Themenheftes verstehen die Begriffe Evakuierung und
Evakuation als weitgehend kongruent. Dennoch verwenden wir in dieser Einleitung durchgehend
Evakuierung. Die Autoren und Autorinnen der einzelnen Texte weichen zum Teil von dieser
Entscheidung ab, wenn in dem von ihnen behandelten Kontext eher Evakuation verwendet wurde.
14 Vgl. Johannes Großmann und Fabian Lemmes, Evakuierungen im Zeitalter der Weltkriege.
Stand der Forschung, Konzepte und Perspektiven. In: Evakuierungen im Europa der Weltkriege –
Les évacuations dans l’Europe des guerres mondiales – Evacuations in World War Europe. Hrsg.
von Olivier Forcade [u. a.], Berlin 2014, S. 11–35.
15 Vgl. ebd., S. 15; sowie Jochen Oltmer, Einführung: Migrationsregime und »Volksgemeinschaft«
im nationalsozialistischen Deutschland. In: Nationalsozialistisches Migrationsregime und »Volks-
gemeinschaft«. Hrsg. von Jochen Oltmer, Paderborn [u. a.] 2012 (= Nationalsozialistische »Volks-
gemeinschaft«, 2), S. 9–25, hier S. 14 f.
6 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

sowie auf Basis eines relationalen Raumverständnisses neue Raumgebilde konsti-


tuieren.16
Auch die Ingenieurwissenschaften oder die Psychologie befassen sich mit der
»[o]rganisierte[n] Verlegung von Menschen und Tieren aus einem gefährdeten
Gebiet mit Transport, Unterkunft und Versorgung«. Bei Evakuierungen handle
es sich sowohl um eine längerfristige Verlegung als auch um eine Verlegung mit
einem ausreichenden Zeitvorlauf zur Organisation.17 Für die von Evakuierungs-
maßnahmen betroffenen Menschen stellen Evakuierungen Ausnahmesituationen
dar, die durch bestimmte, sich wechselseitig beeinflussende Faktoren gekenn-
zeichnet sind: »Der Anlass des Aufenthalts an einem Ort, die Art der Gefahr,
die betroffene Umwelt bzw. Infrastruktur und der Faktor Mensch [...] Diese
Faktoren interagieren auf vielfältige Art miteinander.«18 Die Art der Gefahr oder
das eine Evakuierung auslösende Ereignis haben Auswirkungen darauf, welche
Risiken bestehen und welche Wege genutzt werden können. Letztere hängen
zudem von infrastrukturellen Eigenschaften, der Wegeführung und der Bewe-
gungsgeschwindigkeiten des abzutransportierenden Personenkreises ab.
Zu flächendeckenden Evakuierungsmaßnahmen kam es bisher vor allem im
Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Johannes Großmann und Fabian Lemmes
konnten folgende idealtypischen Abläufe bestimmen:

»Die erste Phase umfasste die behördliche Planung und Vorbereitung der Evakuierung. Die-
se konnten in manchen Fällen unter großem zeitlichen Druck ablaufen und hochgradig
improvisiert sein [...] An die Planungen schließt sich als zweite Phase die eigentliche Durch-
führung der Evakuierung an [...] Als dritte Phase können Ankunft und Unterbringung in den
jeweiligen Aufnahmegebieten unter die Lupe genommen werden [...] Die vierte Phase
umfasst die Rückkehr der Evakuierten [...] und die Normalisierung bzw. den Neubeginn des
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in den von der Räumung betroffenen Gebie-
ten.«19

16 Vgl. Armin Nolzen, Planung und Durchführung der »Freimachungen« an der westlichen
Reichsgrenze 1939/40. In: Nationalsozialistisches Migrationsregime (wie Anm. 15), S. 243–263,
S. 261 f.
17 Günther Müller, Kriterien für Evakuierungsempfehlungen bei Chemikalienfreisetzungen, Bonn
1998 (= Zivilschutz-Forschung, N.F., 32), S. 25 f. Vgl. Klaus Müller, Handbuch Evakuierung.
Maßnahmen im Brand‑ und Katastrophenfall, Berlin 2009, S. 7–15.
18 Vgl. Gesine Hofinger, Laura Künzer und Robert Zinke, »Nichts wie raus hier?!« Entscheiden in
Räumungs‑ und Evakuierungssituationen. In: Entscheiden in kritischen Situationen. Neue
Perspektiven und Erkenntnisse. Hrsg. von Rudi Heimann, Stefan Strohschneider und Harald
Schaub, Frankfurt a. M. 2013, S. 247–261, hier S. 249.
19 Großmann/Lemmes, Evakuierungen (wie Anm. 14), S. 19 f.
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 7

Der Grad der Wirksamkeit von Evakuierungen – dies betonen insbesondere


psychologische Untersuchungen – ist vom Verhalten der Evakuierenden und der
Evakuierten in den als Extremsituationen gefassten Notfällen abhängig. Im Unter-
schied zu Evakuierungswegen und ‑zeiten lässt sich dieses Verhalten schwer
planen und kontrollieren: »Neben physischen Eigenschaften wird angenommen,
dass auch Eigenschaften wie Persönlichkeit, der aktuellen [sic!] Zustand, soziales
und kulturelles Umfeld sowie Kognitionen das Verhalten von Menschen in
Ausnahmesituationen maßgeblich beeinflussen.«20 Von Relevanz sind zudem
subjektive Gefahrenwahrnehmungen und ‑bewertungen. In diese spielen Erfah-
rungen mit Gefahren‑ und Fluchtsituationen, aber auch persönliche Strategien
des Umgangs mit derartigen (Stress‑)Situationen hinein.21 Hinzu kommen, wie die
Beiträge im Heft zeigen, ideologische und politische Bewertungen, wer oder was
als »evakuierungswert« oder als »Sicherheitsrisiko« erachtet wird. Der Erfolg
einer Evakuierungsmaßnahme steht nicht zuletzt in Abhängigkeit von der früh-
zeitigen Planung, Information und Kommunikation sowie von der Unterstützung
durch bereitgestelltes, ortskundiges Personal.22
Der Schwerpunkt der vorliegenden Publikation liegt auf Evakuierungen,
welche im Zusammenhang mit der räumlichen Verschiebung der deutschen
Ostfront in den Kriegsjahren 1939–1945 stehen. Zeitgenössische Nachschlage-
werke wie der Duden von 1937 fassen unter »Evakuation« beziehungsweise »Eva-
kuierung« einerseits ebenfalls die Ausleerung und Räumung von Staatsgebieten.
Andererseits rekurriert der Begriff dort auch auf die Ausweisung von Menschen
aus Territorien, welche nur wenige Jahre später mit Blick auf die Deportationen
jüdischer Menschen »in den Osten« gängige Praxis werden sollte. Mit der am
Berliner Wannsee im Januar 1942 getroffenen historischen Entscheidung für die
Maßnahmen zur »Endlösung der Judenfrage« verkehrte sich der Begriff – als
Tarnbezeichnung für die Deportationen zu den Gaskammern – in sein Gegenteil.
Laut Duden von 1937 bezeichnete der Begriff auch den Vorgang, in einem Gefäß
durch die Entnahme von Luft aktiv ein Vakuum herzustellen.23 Ein ähnliches

20 Laura Künzer, Robert Zinke und Gesine Hofinger, Mythen der Entfluchtung. In: 60. Jahresfach-
tagung, 21.–23.5.2012. Hrsg. von der Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes e.V.,
Köln 2021, <https://team-hf.de/wp-content/uploads/2021/03/2012-kuenzerl.zinker.hofingerg.
mythen-der-entf.pdf> (letzter Zugriff 30.1.2022), S. 1–11, hier S. 1.
21 Hofinger/Künzer/Zinke, »Nichts wie raus hier?!« (wie Anm. 18), S. 250 f.
22 Vgl. J. D. Sime, Crowd psychology and engineering. In: Safety Science, 21 (1995), 1, S. 1–14.
23 Vgl. Der große Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter, Leipzig
1937, S. 151. An dieser Stelle würde es sich sicher lohnen, weiter über nationalsozialistisches
Sprachhandeln nachzudenken. Der Ansatz kann hier allerdings nicht weiterverfolgt werden. Vgl.
dazu Nicolas Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008 (= Toldot:
Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, 3), sowie Nicolas Berg, Bilder von »Luftmenschen«.
8 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

sprachliches Bild der aktiven Leerung eines Gefäßes ist auch dem Begriff »Liqui-
dierung« eingeschrieben, der während des Zweiten Weltkriegs im Zusammen-
hang mit Gebietsräumungen als Euphemismus für Massenmorde verwendet
wurde. Wortwörtlich handelt es sich bei der Verflüssigung um eine weitere Option
zur Entleerung eines Gefäßes. Im Anschluss an den Spatial Turn und der diesem
zugrunde liegenden kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der sozialen
Produktion von Räumen, ist davon auszugehen, dass die historische sprachliche
Verwendung des Evakuierungs-Begriffs somit auf einem Verständnis von staatli-
chen Räumen als Container basiert.24
Dem Evakuierungshandeln im Kriegsfall sind stets militärische Logiken inhä-
rent, wie sich anhand der Begriffserklärungen im Deutschen Militärlexikon von
1962 nachvollziehen lässt. Dementsprechend handelt es sich bei »Evakuierung«
um einen »militärischen Begriff für den Abtransport von Zivilbevölkerung und die
Verlegung von Betrieben aus den Gebieten, die vom Gegner bedroht werden«. Für
ein derartiges militärstrategisches Vorgehen finden zudem die Termini »Abtrans-
port« – von »Geschädigte[n], Kranke[n] und Gefangene[n]« –, »Abschub« – von
»beschädigte[n], technische[n] Kampfmittel[n] und von Leer‑ und Beutegut« –
und »Räumung« als »Herausführen der Truppen und militärischen Einrichtungen
aus einem vom Gegner bedrohten Gebiet« für ein im Zusammenhang mit Krieg
stehendes Evakuierungsgeschehen Verwendung.25
Konkrete Handlungsanleitungen, die auf die Evakuierung von bestimmten
Grenzräumen im Falle kriegerischer Handlungen zielten, lagen in der Weimarer
Republik seit Mitte der 1920er Jahre vor. Im Deutschen Reich unter nationalsozia-
listischer Herrschaft nahmen die Planungen weiter an Fahrt auf. Der für den
Kriegsfall konzipierte Bevölkerungstransfer wurde in den Richtlinien, welche das
Reichsverteidigungsministerium 1934 an die Wehrkreise ausgegeben hatte, als
»Räumung« bezeichnet. Die Dokumentensammlung stellte einen militärstrategi-
schen Maßnahmenkatalog für den Fall eines Angriffes dar und wurde mit der
Ausdehnung der operativen Planungen 1936 aktualisiert.26 Für den Fall eines

Über Metapher und Kollektivkonstruktion. In: Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer


Geschichte. Hrsg. von Dan Diner, Göttingen 2005 (= Toldot: Essays zur jüdischen Geschichte und
Kultur, 1), S. 199–224, hier S. 220 f.
24 Vgl. Stephan Günzel, Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung, Bielefeld 2017 (= Edi-
tion Kulturwissenschaft, 143), S. 60–69.
25 Vgl. Deutsches Militärlexikon. Hrsg. von einem Kollektiv der Militärakademie der Nationalen
Volksarmee, Berlin (Ost) 1962, S. 12, 14, 116 und 333.
26 Zu den militärischen Planungen der Reichswehr/Wehrmacht vgl. Nolzen, Planung (wie
Anm. 16), S. 247–253. Vgl. auch Birgit Arnold, Die Freimachung und Räumung der Grenzgebiete
in Baden 1939/40, Heidelberg 1996 (= Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren
Geschichte, N.F., 9).
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 9

Angriffs durch einen der Nachbarstaaten sahen die deutschen Weisungen den
Abtransport der bedrohten Bevölkerung in als sicher erachtete Ausweichorte
vor. Hierfür wurden die Grenzräume nach bestimmten Kategorien in Zonen
aufgeteilt.27 Obwohl primär als militärische Aufgabe interpretiert, sahen sich
zunehmend auch zivile und NSDAP-Stellen mit Angelegenheiten der Mobilma-
chung – zu denen die Gebietsräumungen im Zuge von (bevorstehenden) Gefechts-
handlungen gezählt wurden – befasst. Jedoch führte erst die Dynamik des deut-
schen Angriffskrieges dazu, dass sich die Arbeitsteilung dieser drei Instanzen mit
Blick auf das Evakuierungs‑ und das gesamte Mobilisierungsgeschehen im
NS-Staat intensivierte.28 Mit den Reichsverteidigungskommissaren (RVK) schuf
Adolf Hitler im Jahr 1939 mehrheitlich in Personalunion mit den regionalen
Parteistellen der Gauleiter Instanzen, die ihre Befugnisse im Hinblick auf das
Evakuierungsgeschehen im Reich kriegsbegleitend zunehmend ausweiten und
die Wehrkreiskommandos aus diesem zuvor primär militärisch erachteten Evaku-
ierungsfeld herausdrängen konnten.29
Die im Deutschen Reich unter nationalsozialistischer Herrschaft vorliegenden
Richtlinien für den Verteidigungs‑ beziehungsweise Mobilmachungsfall folgten
der Doktrin des »totalen Krieges«30 und wandelten sich von Handlungsanlei-
tungen für eine defensive Kriegführung im Jahr 1934 zwei Jahre später zu einer
offensiven, die vor allem auf die Rückführung der wehrpflichtigen männlichen
Bevölkerung und Facharbeiter der Rüstung zielte. Zudem bezogen sie den
Abtransport von Gütern und Nutztieren aus den »Räumungsgebieten/-gauen« in
als nicht bedroht geltende »Bergungsgebiete/-gaue« ein. Im Zuge einer allumfas-
senden, das heißt gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung als kriegswichtige
Ressourcen erachtet, sollten Menschen und Materialien so der Wehrmacht und
deutschen Rüstungsproduktion erhalten bleiben »oder aus anderen Gründen dem

27 Die zu räumenden Gebiete der deutsch-französischen Grenze waren als »Rote Zone« bezeichnet
worden.
28 Vgl. dazu Beiträge in Mobilisierung im Nationalsozialismus. Institutionen und Regionen in der
Kriegswirtschaft und der Verwaltung des »Dritten Reiches« 1936 bis 1945. Hrsg. von Oliver Werner,
Paderborn [u. a.] 2013 (= Nationalsozialistische Volksgemeinschaft, 3); Vgl. auch Nolzen, Planung
(wie Anm. 16), S. 258, insb. Anm. 67.
29 Vgl. Arnold, Die Freimachung (wie Anm. 26), S. 230–234; sowie vgl. Verwaltung contra
Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System. Hrsg. von
Dieter Rebentisch und Karl Teppe, Göttingen 1986.
30 Vgl. dazu die Beiträge in: An der Schwelle zum totalen Krieg. Die militärische Debatte über den
Krieg der Zukunft 1919–1939 Hrsg. von Stig Förster, Paderborn [u. a.] 2002 (= Krieg in der
Geschichte, 13).
10 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

Feind entzogen werden«.31 Gemäß den Konzeptionen waren von Beginn der
Planungen an auch Haftanstalten und so genannte Schutzhaftlager zu räumen
und deren Insassen abzutransportieren.32 Als potenzielle Gefahr im Landes-
inneren und mögliche Quelle einer »fünften Kolonne«33 waren die Gefangenen-
räume im Falle von bevorstehenden Kampfhandlungen zu leeren.
Die tatsächliche Mobilmachung für den anvisierten deutschen Krieg fand
1939 auch in der neuen Bezeichnung der Evakuierungsmaßnahmen ihren Nieder-
schlag. Anhand der »Freimachungsrichtlinien West« waren Gebiete nun bei
Ausgabe vorher festgelegter Stichwörter zu leeren.34 Aufgrund des ihm zugrunde
liegenden defensiven Charakters sollte der Evakuierungsbegriff auf Anordnung
des deutschen Propagandaministeriums sowohl in den kriegsvorbereitenden wie
auch in den nun kriegsbegleitenden Evakuierungsmaßnahmen wie den »Gebiets-
freimachungen« oder der luftkriegsbedingten »(Erweiterten) Kinderlandverschi-
ckung« vermieden werden.35 Nach dem deutschen Angriff auf Polen wurden
im September 1939 nur im polnischen Grenz‑ und Rückzugsraum Evakuierun-
gen angeordnet.36 Während die ostdeutschen Grenzkreise nach derzeitigem
Forschungsstand nicht evakuiert worden waren, sahen sich zu dieser Zeit vor
allem die Bevölkerungen und Unternehmen, welche im deutsch-französischen
Grenzraum lokalisiert waren, von derartigen Maßnahmen betroffen.37 Als Reaktion

31 Richtlinien für die Räumung feindbedrohten Reichsgebietes des Reichsverteidigungsministe-


riums vom 11.6.1934, BArch, RW 19/2414 zit. nach: Arnold, Die Freimachung (wie Anm. 26), S. 20.
32 Vgl. Arnold, Die Freimachung (wie Anm. 26).
33 Dieser Begriff wurde historisch in Anlehnung an die Franco-Anhänger verwendet, die sich
während des Spanischen Bürgerkriegs auf dem Herrschaftsgebiet der Regierungstruppen aufhiel-
ten. Er fand während des Zweiten Weltkriegs in unterschiedlichen Kontexten Anwendung als Sinn-
bild für eine angenommene feindliche Gefahr von »innen«.
34 Vgl. Nolzen, Planung (wie Anm. 16), S. 253–260; sowie Arnold, Die Freimachung (wie
Anm. 26), S. 4.
35 Vgl. Luise Stein, Grenzlandschicksale. Unternehmen evakuieren in Deutschland und Frank-
reich, 1939/1940, Berlin [u. a.] 2018 (= Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte,
31), S. 19; sowie Großmann/Lemmes, Evakuierungen (wie Anm. 14), S. 18; vgl. auch Katja Klee, Im
»Luftschutzkeller des Reiches«. Evakuierte in Bayern 1939–1953: Politik, soziale Lage, Erfahrun-
gen, München 1999 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 78), S. 45, insb.
Anm. 135.
36 Vgl. Beitrag Felix Ackermann im vorliegenden Heft.
37 Vgl. Maude Williams, »Ihre Häuser sind gut bewacht« – Kriegskommunikation und Eva-
kuierung in Deutschland und Frankreich 1939/40, Berlin 2019 (= Evakuierungen im Zeitalter der
Weltkriege, 3). Vgl. zudem Stein, Grenzlandschicksale (wie Anm. 35); sowie Christine Odent-Guth,
Le déroulement des évacuations en Moselle en 1939/40. In: Evakuierungen im Europa der Welt-
kriege (wie Anm. 14), S. 81–94; vgl. auch Nicholas J. Williams, The Saarland and Lorraine in 1939.
A Tale of Two Evacuations. In: ebd., S. 236–249. Vgl. auch Nolzen, Planung (wie Anm. 16); sowie
Arnold, Die Freimachung (wie Anm. 26); Klee, Im »Luftschutzkeller des Reiches« (wie Anm. 35).
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 11

auf die Generalmobilmachung in Frankreich und Großbritannien am 2. September


waren von deutscher Seite mehr als 900 000 Personen evakuiert worden. Obwohl
diese Maßnahme bis zum Juli 1940 anhielt, war eine Vielzahl der Evakuierten
aufgrund der schlechten Koordination und Versorgung staatlicherseits bereits im
Herbst 1939 in die als »Rote Zone« bezeichneten Räumungsgebiete zurückgekehrt.
Trotz der umfangreichen Planungen seit Anfang 1939 war die Praxis der vom Deut-
schen Reich vollzogenen Evakuierungen weit von der Theorie der Konzeptionen
der erfolgreichen Durchführung von »Freimachungen« entfernt.38
Als deutsche Truppen im Juni 1941 an der zwei Jahre zuvor gemeinsam
vereinbarten deutsch-sowjetischen Grenze zum Angriff auf die UdSSR ansetzten,
gab die sowjetische Führung die Anweisung, Betriebe, politische Institutionen
und Teile der Zivilbevölkerung, unter ihnen zahlreiche Flüchtlinge, ostwärts zu
evakuieren.39 Im Zusammenspiel mit den nationalsozialistischen »Umsiedlun-
gen« fand der Evakuierungsbegriff zu diesem Zeitpunkt auch zunehmend im
Deutschen Reich Verwendung. Er diente als Euphemismus zur Tarnbezeichnung
für das Deportationsregime, das Juden und Jüdinnen sowie Angehörige der Roma
und Sinti zur Zwangsarbeit und Ermordung »in den Osten« verschleppte.40 Seit
1939 in Polen eingeübt, stellten Deportationen, Raub und Mord elementare
Bestandteile des deutschen Vernichtungskrieges auf dem Territorium der UdSSR
dar. Die sich gegen sowjetische Soldaten und Soldatinnen sowie die Zivilbe-
völkerung richtende deutsche Vernichtungsgewalt blieb – als »Evakuierung«
bezeichnet – eine bis 1945 die Ostfront und deren militärisches Hinterland kenn-
zeichnende Kriegsspezifik. Mit dem Blick auf diesen Evakuierungskrieg wird
deutlich, wie sich das in den Jahren zuvor eingeübte und praktizierte Gewalthan-
deln auf das spätere Evakuierungshandeln im Deutschen Reich auswirkte. Die
desolate deutsche Kriegslage führte im Jahr 1944 zur Neukonzeption der Reichs-
verteidigung, die auch Weisungen für den »Eva[kuierungs]-Fall« der in das Reich
eingegliederten vormals westpolnischen Gebiete enthielt.41 Der Kriegsschauplatz
»Ostfront« bewegte sich westwärts auf das Deutsche Reich zu.

38 Vgl. Nolzen, Planung (wie Anm. 16), S. 244 und 254.


39 Vgl. Beitrag Laura Eckl im vorliegenden Heft; sowie Alexander Friedmann, Die Evakuierung
von 1941 in der Sowjetunion zwischen Propaganda und Wirklichkeit. Der Fall Weißrussland. In:
Evakuierungen im Europa der Weltkriege (wie Anm. 14), S. 141–156.
40 Vgl. Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin [u. a.] 2007, S. 219.
41 Vgl. Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Hrsg. von
Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann, Göttingen 1998, S. 305; vgl. auch Danuta
Drywa, The Extermination of the Jews in Stutthof Concentration Camp 1939–1945, Gdańks 2004,
S. 260.
12 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

Seit 1943 lagen der Wehrmacht zeit-räumlich organisierte Maßnahmenkata-


loge vor, mit denen die Politik der »verbrannten Erde« systematisiert und geplant
wurde. In diese flossen bis zum Kriegsende auch neu gewonnenen Erfahrungen
ein. Das Akronym der »ALRZ-Maßnahmen« stand für »Auflockerung«, »Räu-
mung«, »Lähmung« und »Zerstörung«.42 Der Abtransport wertvoller Rohstoffe und
Fertiggüter sowie die Entzerrung von konzentrierten Anhäufungen von Vorrats-
lagern, Stäben und Industriebetrieben wurde als »Auflockerung« gefasst. Diese
Maßnahme sollte bei Annäherung der gegnerischen Truppen an ein bestimmtes
von deutscher Seite besetztes Gebiet durchgeführt werden. Er umfasste zudem
auch den Abtransport der in Kriegsgefangenenlagern oder anderen Internierungs‑
und Haftstätten konzentrierten Militärangehörigen des vorrückenden Feindes.43
Unter »Lähmung« wurden Maßnahmen gefasst, die auf die Demontage und den
Abtransport wichtiger Industrieanlagen und Werkstoffe zielten. Wenn Kampf-
handlungen bis in die unmittelbare Nähe des Gebietes vorrückten, sollten die
Werke so temporär produktionsunfähig gemacht werden.
Wie bereits erwähnt, lagen den deutschen Räumungsplanungen der
Vorkriegszeit Konzeptionen zugrunde, die auf eine vorübergehende Gebietsauf-
gabe abzielten.44 1943 bezeichnete »Räumung« hingegen Maßnahmen für den
Fall des endgültigen Verlustes eines besetzten Gebietes. Wenn dieser unmittelbar
bevorstand, sollte neben den dort noch vorhandenen Vorräten, Anlagen und
Fertigwaren auch die als »arbeitsfähig« erachtete Bevölkerung abtransportiert
werden. Als »Greifaktionen« bezeichnet, verliefen die Deportationen zur Zwangs-
arbeit nach Dringlichkeitsstufen:
1. Bergbau‑ und Metallfacharbeiter,
2. Fach‑ und Spezialarbeiter,
3. Landwirtschaft und
4. sonstige.45

42 Vgl. Beitrag Christian Stein; vgl. auch Okkupation, Raub, Vernichtung. Dokumente zur Besat-
zungspolitik der faschistischen Wehrmacht auf sowjetischem Territorium 1941–1944. Hrsg. von
Norbert Müller, Berlin (Ost) 1980 (= Schriften des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR),
S. 409 f.
43 Vgl. Beitrag Janine Fubel.
44 Vgl. Stein, Grenzlandschicksale (wie Anm. 35), S. 50.
45 Vgl. Fabian Lemmes, Zwangsarbeit im besetzten Europa. Die Organisation Todt in Frankreich
und Italien, 1940–1945. In: Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im »Dritten Reich«. Im
Auftrag von MTU Aero Engines und BMW Grop hrsg. von Andreas Heusler, Mark Spoerer und Hel-
muth Trischler, München 2010 (= Perspektiven, 3), S. 219–254; sowie Die Deutsche Wirtschaftspo-
litik in den besetzten sowjetischen Gebieten 1941–1943: der Abschlussbericht des Wirtschafts-
stabes Ost und Aufzeichnungen eines Angehörigen des Wirtschaftskommandos Kiew. Hrsg. von
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 13

Im Rahmen der deutschen Rückzüge wurden so schätzungsweise 2,5 Millionen


Menschen aus den deutsch-besetzen »Ostgebieten« zur Zwangsarbeit in Rüstung
und Versorgung verschleppt.46 Auch die in den besetzten oder eingegliederten
Gebieten eingerichteten Konzentrationslagerkomplexe der SS oder die durch die
Gestapo genutzten Gefängnisse wurden geräumt. Die Gefangenen wurden in als
sicher erachtete Hafträume im Reichsinneren deportiert.47
Gelang es zeitlich nicht mehr, besetzte Gebiete zu räumen, beschlossen die
deutschen Besatzer, die aufgegebenen Räume mittels umfassender Zerstörung in
»Wüstenzonen« zu verwandeln.48 Sie ließen die kranke und als »arbeitsunfähig«
erachtete Zivilbevölkerung ohne Versorgung und Schutz vor Kälte oder Regen in
den nun unbewohnbar gemachten Gegenden zurück und gaben sie somit dem
Tod preis. Mussten Nutztiere zurückgelassen werden, töteten Wehrmachtangehö-
rige diese. Vielerorts warfen deutsche Soldaten die Kadaver anschließend in
Brunnen oder verbrannten sie. Bei als endgültig erachteten Gebietsaufgaben kam
die Zerstörung der Verkehrsinfrastruktur hinzu, um den Vormarsch des militäri-
schen Gegners abzubremsen. Deutsche Pioniereinheiten sprengten Brücken und
Eisenbahngleise. Für die Zerstörung Letzterer kamen auch als »Schwellenreißer«
oder »Schienenwölfe« bezeichnete Zugvorrichtungen zum Einsatz, die das
Gleisbett für den Eisenbahnverkehr unbefahrbar machten. Derartige Zerstörungs-
maßnahmen begleiteten vor allem den deutschen Rückzug aus den westlichen
Sowjetrepubliken sowie dem Territorium der Polnischen Republik. Aber auch das
deutsche Zurückweichen aus Italien und Frankreich war durch massive Gewalt-
anwendung und Zerstörungen gekennzeichnet.49
Die Beschäftigung mit der Begriffsgeschichte und die daran anschließende
Frage nach den Logiken, die den Evakuierungssemantiken zugrunde lagen,
eröffnet einen neuen Forschungszugang auf die Geschichte des Zweiten Weltkrie-
ges. Für die Spezifik der Sprache des Nationalsozialismus kann zudem offenge-
legt werden, dass die Verwendung von »Evakuierung« ebenso wie deren Nicht-

Rolf-Dieter Müller, Boppard am Rhein 1991 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahr-
hunderts, 56), S. 561–563.
46 Vgl. Rolf-Dieter Müller, Es begann am Kuban ... Flucht und Deportationsbewegungen in
Osteuropa während des Rückzugs der deutschen Wehrmacht 1943/44. In: Flucht und Vertreibung.
Zwischen Aufrechnung und Verdrängung. Hrsg. von Robert Streibel, Wien 1994, S. 42–76.
47 Vgl. Beitrag Janine Fubel; sowie Daniel Blatman, Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel
des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek bei Hamburg 2011.
48 Vgl. Beitrag Johannes Spohr.
49 Vgl. Carlo Gentile, Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg: Italien 1943–1945, Pader-
born [u. a.] 2012 (= Krieg in der Geschichte, 65), S. 201–304; vgl. auch Peter Lieb, Konventioneller
Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich
1943/44, München 2007 (= Quellen und Darstellung zur Zeitgeschichte, 69), S. 417–504.
14 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

verwendung und Nutzung von Synonymen wie beispielsweise »Räumung« oder


»Freimachung« Ausdruck eines systematischen Vorgehens und Planens war, das
bereits vor Beginn der eigentlichen Kriegshandlungen einsetzte und zum Ziel
hatte, die konkrete Kriegslage als auch die massenhaft zum Einsatz kommende
Gewalt sprachlich zu verdecken. Die Beschäftigung mit dem spezifisch national-
sozialistischen Gehalt der Evakuierungs-Semantik verweist somit einmal mehr
auf die »Verschränkung von Sprache und Gewalt im Nationalsozialismus, deren
Nexus des ›Sprachhandelns‹ sich als gewaltsame Funktionalisierung der deut-
schen Sprache in der NS-Terminologie präsentiert.«50

Die Forschung zu Evakuierungen als Mittel


der Kriegführung
In der Zeit der Weltkriege – der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – geriet neben
den am Kriegsgeschehen unmittelbar beteiligten Akteuren aufgrund von Deporta-
tion, Evakuierung und Vertreibung millionenfach auch die hiervon betroffene
Bevölkerung in Bewegung. Der Schwerpunkt des vorliegenden Heftes liegt auf den
Evakuierungsschauplätzen des Zweiten Weltkrieges im östlichen Europa. Erste
publizierte Untersuchungen zu diesem Forschungsfeld stammen aus den 1990er
Jahren. Im Hinblick auf die Evakuierungspolitiken und ‑praktiken im Deutschen
Reich unter nationalsozialistischer Herrschaft sind die Untersuchungen von Birgit
Arnold und Katja Klee eine zentrale Grundlage.51 In den vergangenen 15 Jahren
rückte das Evakuierungsgeschehen in der Forschung zu beiden Weltkriegen erneut
in den Fokus einer nun vor allem (transnational) vergleichenden Geschichtswis-
senschaft. Diese betont, dass es sich bei großangelegten und staatlich organi-
sierten Evakuierungen um Praktiken handelte, die zum Ersten eng mit den Nations-
bildungsprozessen in Zentral‑ und Süd‑/Osteuropa nach dem Ersten Weltkrieg
verknüpft waren. Während Evakuierungen zum Beginn des Ersten Weltkriegs eine
Form der Sicherung imperialer Herrschaft waren, prägte nach 1918 die ethnische
Lesart des Nationalismus das Geschehen.

50 Cornelia von Einem, Tagungsbericht: »Sprachhandeln«. Reflexionen über die deutsche


Sprache nach dem Holocaust, 21.10.2019–22.10.2019 Leipzig. In: H-Soz-Kult, 23.3.2020, <www.hsoz
kult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8701> (letzter Zugriff 30.1.2022), Hervorhebung im
Original; vgl. auch Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin 1947.
51 Vgl. Arnold, Die Freimachung (wie Anm. 26); Klee, Im »Luftschutzkeller des Reiches« (wie
Anm. 35).
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 15

Die Errichtung von Nationalstaaten verstärkte die Vorstellung ethnischer


Homogenität innerhalb dieser. Dabei wurden der Staat als Gefäß und die Bevöl-
kerung als dessen Inhalt gedacht. Ethnische Minderheiten galten als Fremdkör-
per, ihre Zwangsassimilation oder Entfernung wurde zur vermeintlichen Voraus-
setzung für die Existenz der Nation. Neben Assimilierungspolitiken stellten
Evakuierungen in diesen europäischen Nationsbildungsprozessen somit – davon
zeugt der Duden-Eintrag von 1937 – ein staatliches Mittel groß angelegter Auswei-
sungs‑ und Umsiedlungspolitiken dar. Der auf gesellschaftliche Homogenisie-
rung abzielende Bevölkerungszwangstransfer war vielerorts von Gewalt geprägt.
Dementsprechend lassen sich Evakuierungen als Deportationspraktiken zum
Zweck räumlicher Neuordnungen nach unterschiedlichen Kriterien fassen.52 Zu
diesen Kriterien gehörten auch rassistische Ordnungsvorstellungen, die unter
anderem in die Verfolgung und Vernichtung jüdischer Menschen mündeten. Der
Holocaust überführte dabei das zeitgenössische Verständnis bevölkerungspoliti-
scher Maßnahmen in einen systematischen Mord. Die nationalsozialistischen
Täter verstanden diesen spätestens nach dem gescheiterten Angriff auf Moskau
Ende 1941 auch als antisemitische »Feindabwehr«. Seit dem Sommer 1941 im
militärischen Hinterland an der einheimischen jüdisch-sowjetischen Bevölkerung
vollzogen, zielte diese nicht mehr auf »Umsiedlung«, sondern auf »Endlösung«
mittels Vernichtung ab und bezog das gesamteuropäische Judentum zunehmend
in diese Pläne und Maßnahmen mit ein.53
Zweitens stellten staatliche Evakuierungsmaßnahmen ein europa-übergrei-
fendes Phänomen dar, welches über das Zeitalter der Weltkriege hinaus auch den
Spanischen Bürgerkrieg 1937/38 und die Kolonialkriege der 1950/60er Jahre
kennzeichnete.54 Diese standen zumeist in Zusammenhang mit der Luftkriegfüh-
rung und umfassten den staatlich organisierten Abtransport von Kindern (und
ihren Müttern) aus luftkriegsgefährdeten Städten in als sicher erachtete Räume.
Während des Spanischen Bürgerkriegs waren so bereits mehrere tausend Kinder
aus der Zweiten Spanischen Republik in die Sowjetunion oder nach Großbritan-

52 Vgl. Pertti Ahonen [u. a.], People on the Move. Forced Population Movements in Europe in the
Second World War and its Aftermath, Oxford [u. a.] 2008 (= Occupation in Europe Series, 3),
S. 1–10.
53 Vgl. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bonn 2011.
54 Vgl. Großmann/Lemmes, Evakuierungen (wie Anm. 14), S. 12–14. Für außereuropäische
Kriegsschauplätze wie Japan vgl. Bruce Makoto Arnold, Materiel Matters. The Japanese State’s
Evacuation of Elementary Schoolchildren During The Second World War. In: Anistoriton Journal,
13 (2012/13), 1; sowie Thomas R. H. Havens, Valley of Darkness. The Japanese People and World
War Two, New York 1973.
16 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

nien gelangt.55 Im Zweiten Weltkrieg führten kriegsbeteiligte Staaten wie das


Vereinigte Königreich oder das Deutsche Reich spezielle Evakuierungspro-
gramme durch. Zu diesen beispielsweise als »(Erweiterte) Kinderlandverschi-
ckung« bezeichneten Maßnahmen sind vor allem in den 1990er Jahren umfang-
reiche Studien entstanden.56 Als kriegsbedingte Zwangsmigration gefasst, kamen
Evakuierungen seit dem Ersten Weltkrieg außerdem (Grenz-)Regionen umfassend
zur Anwendung. Grundlage hierfür war das Verständnis einer Kriegsmobilisie-
rung, welche die gesamte Bevölkerung als erhaltenswerte volkswirtschaftliche
Ressource erachtete und in die Kriegs‑ und Rüstungspolitik einbezog. Insbeson-
dere im Umfeld eines mehrjährigen binationalen Forschungsprojekts zur »Ver-
gleichenden Geschichte der Evakuierungen im deutsch-französischen Grenz-
gebiet während des Zweiten Weltkrieges« sind in den vergangenen Jahren
mehrere Studien zu diesem Thema publiziert worden.57 Eine Grundlagenarbeit
stellt der Sammelband »Evakuierungen im Europa der Weltkriege« und insbeson-
dere die analytische Schärfung in der dort von Johannes Großmann und Fabian
Lemmes vorangestellten Einführung dar. Der Band behandelt Evakuierungen als
eine eigenständige Form des Bevölkerungstransfers während der Weltkriege und
versammelt Beiträge zum Evakuierungsgeschehen unterschiedlicher am Ersten
oder Zweiten Weltkrieg beteiligter Staaten.58 Im Rahmen des deutsch-französi-
schen Forschungsprojektes entstanden zudem die Dissertationen von Luise Stein
und Maude Williams. Während Stein unter Bezugnahme auf Forschungen der

55 Vgl. Online-Modul: Spanischer Bürgerkrieg. Evakuierung von Kindern, <http://lernen-aus-der-


geschichte.de/Online-Lernen/content/12921> (letzter Zugriff 12.3.2021).
56 Vgl. exempl. Carsten Kressel, Evakuierungen und Erweiterte Kinderlandverschickung im
Vergleich. Das Beispiel der Städte Liverpool und Hamburg, Frankfurt a. M. 1996 (= Europäische
Hochschulschriften). Für Großbritannien vgl. Niko Gärtner, Administering »Operation Pied
Piper« – how the London County Council prepared for the evacuation of its schoolchildren
1938–1939. In: Journal of Educational Administration & History, 42 (2010), 1, S. 17–32. Für das Deut-
sche Reich vgl. exempl. Klee, Im »Luftschutzkeller des Reiches« (wie Anm. 35); vgl. auch Gerhard
Kock, »Der Führer sorgt für unsere Kinder« – Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg,
Paderborn [u. a.] 1997.
57 Vgl. Homepage samt Literaturliste des abgeschlossenen DFG-ANR-Forschungsprojektes
(2011–2016) unter der Leitung von Prof. Rainer Hudemann (Universität des Saarlandes, Saar-
brücken), Prof. Olivier Forcade (Sorbonne Université, Paris) und Juniorprof. Fabian Lemmes
(Ruhr-Universität, Bochum) und Juniorprof. Johannes Großmann (Eberhard Karls Universität,
Tübingen), in Zusammenarbeit mit Dr. Nicholas Williams. In: Universität des Saarlandes <www.
nng.uni-saarland.de/forschung/forschungsschwerpunkte/evakuierungen.htm> (letzter Zugriff
4.5.2021).
58 Vgl. Evakuierungen im Europa der Weltkriege (wie Anm. 14).
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 17

Border Studies die Evakuierungen von Unternehmen im deutsch-französischen


Grenzraum 1939/40 untersucht hat, analysiert Williams in ihrer Studie die Kriegs
kommunikation und Evakuierungen in Deutschland und Frankreich 1939/40.59
Mit dem deutsch-französischen Grenzraum hat sich auch Birgit Arnold
befasst, deren Studie zur Region Baden ebenfalls als Grundlagenarbeit für die als
»Räumung« und »Freimachung« bezeichneten Evakuierungsplanungen und
‑maßnahmen im Deutschen Reich der 1930er Jahre anzusehen ist. Am Beispiel
Bayerns hat Katja Klee die luftkriegsbegleitenden Maßnahmen als Teil deutscher
Evakuierungspolitik im Deutschen Reich 1939–1945 sozial‑ und alltagsgeschicht-
lich untersucht.60 Der regionale Fokus der Forschung zu Evakuierungen im
Zweiten Weltkrieg lag bisher vor allem auf dem süd/westdeutschen Grenzraum.
Das Evakuierungsgeschehen im deutsch-polnischen Grenzraum (in den Grenzen
von 1939) stellt hingegen nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar. Zur
Evakuierungspolitik der Sowjetunion als Reaktion auf den deutschen Angriff im
Sommer 1941 liegen erste Studien vor.61 Zum deutschen Rückzug aus der Sowjet-
union liegen Teilstudien vor.62 Bastiaan Willems veröffentlichte unlängst zudem
eine Studie zur Verteidigung und dem Rückzug der Wehrmacht in der Region
Ostpreußen 1944/45.63 Zur Räumung des als »Warthegau« in das Deutsche Reich
eingegliederten Westens der Republik Polen erschien bereits in den 1990er Jahren
eine Quellenedition.64 Ein Forschungsdesiderat bleibt das Evakuierungsgesche-
hen, das im Zuge der Verschiebung der südlichen und mittleren Teilabschnitte

59 Vgl. Stein, Grenzlandschicksale (wie Anm. 35); Williams, »Ihre Häuser sind gut bewacht« (wie
Anm. 37).
60 Vgl. Arnold, Die Freimachung (wie Anm. 26); Klee, Im »Luftschutzkeller des Reiches« (wie
Anm. 35).
61 Vgl. Auch Rebecca Manley, To the Tashkent Station. Evacuation and Survival in the Soviet
Union at War, Ithaca, London 2009; Klaus Segbers, Die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Die
Mobilisierung von Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft im »Großen Vaterländischen Krieg«
1941–1943, München 1987 (= Studien der Zeitgeschichte, 32).
62 Vgl. Christian Stein, Die Rückzüge der Wehrmacht an der Ostfront 1941–1945. Projektskizze im
Portal Militärgeschichte, <http://portal-militaergeschichte.de/taxonomy/node/1931> (letzter Zu-
griff 13.5.2020).
63 Vgl. Bastiaan Willems, Violence in Defeat: The Wehrmacht on German Soil, 1944–1945,
Cambridge 2021 (= Cambridge Military History); vgl. auch Bastiaan Willems, Nachbeben des
Totalen Kriegs. Der Rückzug der Wehrmacht durch Ostpreußen und seine Folgen. In: Vierteljahrs-
hefte für Zeitgeschichte, 66 (2018), 3, S. 403–433.
64 Die Räumung des »Reichsgaus Wartheland« vom 16. bis zum 26. Januar 1945 im Spiegel amtli-
cher Berichte. Bearb. von Joachim Rogall, Sigmaringen 1993 (= Schriftenreihe des Ludwig-Petry-
Instituts Mainz).
18 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

der Ostfront zur Jahreswende 1944/45 zunehmend das alte Reichsgebiet um-
fasste.65
Es ist das Anliegen des Heftes, das Evakuierungsgeschehen am Kriegsschau-
platz »deutsche Ostfront« systematisch zu untersuchen. Neben vordergründigen
Fragen danach, wer und was evakuiert werden sollte, wer die Evakuierungen
vornahm und koordinierte oder wie sich diese konkret auf bestimmte Personen-
kreise auswirkten, wird herausgestellt, dass diese Maßnahmen von Beginn an
zum Kriegsgeschehen zählten und sich im Zuge der deutschen Rückzüge »aus
dem Osten« besonders gewaltvoll und zerstörerisch gestalteten. Dem Deutschen
Reich dienten Evakuierungsmaßnahmen hier nicht nur dem Schutz oder der
Sicherung von bestimmten Personen oder Gut und von zum Operationsgebiet
erklärten Räumen, sondern gleichzeitig auch immer einer aktiv betriebenen
Zerstörungs‑ und Vernichtungspolitik, die den deutschen »Ostfeldzug« im Unter-
schied zu den deutschen Interessen in Westeuropa – zumindest in der Anfangs-
zeit deutscher Besatzung – von Beginn an gekennzeichnet hatte.

Zur Freisetzung staatlicher Gewalt während


des Rückzugs im »Altreich«
Die Ermordung der Gefangenen von Sonnenburg erfolgte zu einem Zeitpunkt, an
dem der nationalsozialistische Krieg gegen den »Feind im Osten« bereits verloren
war. Wenige Tage zuvor hatten die Rote Armee und die ihr angeschlossenen
polnischen Verbände die bis 1939 existierende Grenze zwischen dem Deutschen
Reich und der Republik Polen überschritten. Die sowjetische Eroberung von
Teilen Ostpreußens hatte bereits im Spätsommer 1944 eingesetzt. Damit war klar,
dass das Deutsche Reich selbst in seiner Existenz bedroht war. Warum beendete
die Militärführung nach dem Überschreiten der Grenzen des sogenannten
Altreichs nicht wie 1918 den Weltkrieg? Einen Erklärungsansatz formuliert Janine
Fubel in ihrem Text über die Verschiebung der Ostfront auf das Territorium des
NS-Gau Mark Brandenburg: Die Befehlsgewalt zur Verteidigung des östlichen
Brandenburg übernahmen in der zweiten Januarhälfte 1945 diejenigen Akteure
der SS und deutschen Polizei, die zuvor in Warschau und an anderen Orten in
Polen Massenverbrechen an der Zivilbevölkerung zu verantworten hatten. Mit

65 Aspekte des konkreten Evakuierungsgeschehens in der Mark Brandenburg im Frühjahr 1945


untersucht Janine Fubel in ihrem Dissertationsprojekt »Krieg, Bewegung und extreme Gewalt im
Raum Berlin-Brandenburg: Die Evakuierung und Liquidierung des Konzentrationslagerkomplexes
Sachsenhausen 1945«.
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 19

dieser grundlegenden Personalentscheidung übertrug Hitler die gewalttätige


Praxis der Räumung aus dem besetzten Polen auf die Kriegführung im Inneren
des Deutschen Reichs.
Eine zweite Antwort gibt die theoretische Auseinandersetzung mit dem
Verhältnis von Raum und Gewalt in Bezug auf die zu Kriegsbeginn und Kriegs-
ende entwickelten Dynamiken. Zentral für diese Auseinandersetzung ist das
Verständnis davon, dass Herrschaft an Räume gekoppelt ist, die in sozialer Inter-
aktion hergestellt werden. Wir verstehen Angriffs‑ und Bewegungskriege als Modi
der gewaltsamen Erweiterung eines Staatsterritoriums, die neue räumliche
Konfigurationen hervorbringen, deren Schaffung mit der Freisetzung von Gewalt-
dynamiken einhergeht. Timothy Snyder hat zur Erklärung der frühen Radikalisie-
rung antijüdischer Gewalt in den ersten Wochen nach dem deutschen Überfall auf
die Sowjetunion die Abwesenheit staatlicher Strukturen stark gemacht.66 Das von
uns in der Auseinandersetzung mit Evakuierungsschauplätzen geschärfte kriti-
sche Verständnis von »Räumung« und »Leerung« betont hingegen die Anwesen-
heit des Staates in diesen Phasen des Herrschaftswechsels. Die Wehrmacht hatte
in den von Snyder sichtbar gemachten Borderlands als Institution des Deutschen
Reichs die Vorraussetzungen für den Mord an Juden und Jüdinnen aktiv her-
gestellt. Auch wenn die Territorialisierung deutscher Herrschaft durch die
flächendeckende Einrichtung von Gendarmerieposten in den peripheren Gebieten
Ende Juni/Anfang Juli 1941 noch nicht abgeschlossen war, handelte es sich um
einen aktiv hergestellten Herrschaftsraum des Deutschen Reichs.
Überträgt man diese Feststellung auf die Endphase des Zweiten Weltkriegs
um den Jahreswechsel 1944/45, wird deutlich, dass nach dem sowjetischen Über-
schreiten der Grenze des »Altreichs« die Auflösung staatlicher Strukturen des
Deutschen Reichs (und in Brandenburg parallel dazu auch Preußens) einsetzte.
Zwar handelte es sich noch um einen deutschen Herrschaftsraum, solange die
Wehrmacht in diesem Bereich kämpfte. Doch im Zuge der militärisch für
notwendig erachteten Evakuierung von Angehörigen ziviler Behörden konnten
diese nur noch eingeschränkt hoheitliche Aufgaben wahrnehmen. In beiden
Phasen zerfielen also zivile staatliche Strukturen durch das Vorrücken des
Militärs. Allerdings schuf die militärische Besatzung selbst neue Räume, in denen
sich Gewaltdynamiken entfalteten. Ein kritisches Verständnis von Evakuierungen
zeigt auf zweifache Weise, wie problematisch die ihnen eingeschriebene Vorstel-
lung von Entleerung ist. Einerseits enthält wie zuvor gezeigt der Begriff Evakuie-
rung selbst die Entleerungsmetapher, die während des Zweiten Weltkrieges als

66 Vgl. Snyder, Black Earth (wie Anm. 4), S. 95–134 und 341–344.
20 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

Chiffre der Gewalt verstanden wurde. Andererseits ist auch das Konzept von
Staaten als territoriale Gefäße problematisch, deren Inhalt man entfernen kann.67
In dieser Lesart des militärischen Angriffs als Neukonfiguration eines Herr-
schaftsgebiets erscheinen Evakuierungen und Räumungen als aktive Reaktionen
auf die absehbare Veränderung des staatlichen Territoriums. Die Evakuierung
von Gefängnissen und Konzentrationslagern auf dem Gebiet des »Altreichs« war
eine aktive Form der staatlichen Selbstauflösung des Deutschen Reichs. Deshalb
werden Endphaseverbrechen auf dem Territorium des Deutschen Reichs in
diesem Heft vor dem Hintergrund unterschiedlicher Praktiken des Rückzugs aus
dem besetzten Europa kontextualisiert. Die in Sonnenburg in der Nacht vom 30.
zum 31. Januar 1945 freigesetzte Gewalt verstehen wir nicht nur als Endphasever-
brechen – einen Gewaltakt, der auf dem Gebiet des Deutschen Reichs in den
letzten Monaten der NS-Herrschaft begangen wurde.68 Wir verorten die Massen-
erschießung im Spektrum einer mit dem Beginn des Krieges 1939 einsetzenden
Evakuierungskriegführung, bei der Gebiets(teil)räumungen stets mit systemati-
scher Gewalt einhergingen.
In den durch staatliche Gewalt veränderten Herrschaftsräumen lässt sich
gesondert die Gewalt gegen die dort lebenden Menschen untersuchen. Jan
Philipp Reemtsmas triadische Typologie fokussiert diese Frage auf den gewalt-
samen Umgang mit Körpern.69 In dieser Perspektive lassen sich Evakuierungen
als Form dislozierender Gewalt deuten, die »dem anderen Körper einen Ort
zuweist.«70 Organisierte Deportationen, systematische Vertreibungen sowie
sogenannte Todesmärsche im Zuge der Auflösung von Konzentrationslagern sind
demnach Formen dislozierender Gewalt. Diese richten sich jedoch nicht gegen
die Körper einzelner Individuen, sondern gegen die »Kollektivkörper« sozialer
Gruppen, deren Mitglieder in einem bestimmten Gebiet leben oder bestimmten
Kollektivgruppen zugeordnet werden. Zwangsarbeit, die durch die Gewinnung
und den Erhalt kriegsrelevanter Arbeitskräfte eine Rolle bei der Planung und
Durchführung von Evakuierungen spielte, stellt – derselben Typologie zufolge –

67 Vgl. Anthony Giddens, A Contemporary Critique of Historical Materialism, vol. 2: The Nation-
State and Violence, Berkeley 1987, S. 120; Peter J. Taylor, The State as Container: Territoriality in
the Modern World System. In: Progress in Human Geography, 18 (1994), 2, S. 151–162.
68 Vgl. Sven Keller, Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 2013
(= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 97); sowie Terror nach Innen (wie Anm. 6).
69 Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation
der Moderne, Hamburg 2008, S. 86 f.
70 Jan Philipp Reemtsma, Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie. In: Die Natur der
Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in
Kassel 2006, Teilbd 1. Hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M. 2008, S. 42–64.
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 21

eine Form raptiver Gewalt dar, in der es um die physische Kontrolle von Körpern
geht.71
Auf der Grundlage ideologischer Feindkonfigurationen wurde die von Evaku-
ierungen betroffene Bevölkerung einerseits in »gefährlich« und andererseits in
»sicherungswürdig«, »systemrelevant« oder »schützenswert« unterteilt. Gemäß
derartiger Konzeptionalisierungen kam es während des Zweiten Weltkriegs in von
unterschiedlichen Akteuren als kritisch erachteten Situationen zum Mord an
Angehörigen der ersten Gruppe, während Letztere – in der Regel auch unter
Einsatz extremer Gewalt – evakuiert wurden. Wurden Situationen als unmittelbar
bedrohlich eingeschätzt, ist noch pauschaler und, mit der Erteilung von
Räumungsverboten, auch konträr verfahren worden. Diese Beobachtung aufgrei-
fend, lässt sich der phänomenologische Ansatz Reemtsmas erweitern und die bei
Evakuierungen zur Anwendung kommende Logik von Bevölkerungsverschie-
bungen als eine auf unterschiedliche soziale Kollektive körpergerichtete Gewalt
beschreiben, der die Annahme einer Verknüpfung von einem bestimmten Herr-
schaftsgebiet mit einer konkreten Bevölkerung zugrunde lag.
Damit wird deutlich, dass die Verengung von Zeit und Raum im Angesicht
bedrohter Herrschaft zur situativen Beschleunigung und Radikalisierung beitrug.
Die Grundzüge der jeweiligen Ausprägung von Gewalt waren aber schon zuvor
angelegt. Merkmale der Verbrechen, die in der Endphase des Krieges 1944/45 auf
dem Reichsgebiet vollzogen wurden, sind ihre Radikalität und die räumliche
Verlagerung der zuvor weiter östlich angewandten Formen von Vernichtungs-
gewalt und Terror auf das Gebiet des Deutschen Reiches. Da bereits seit Beginn
des Krieges im September 1939 kollektive Strafen, Massenmorde und systemati-
sche Zerstörungen Teil der deutschen Kriegführung im östlichen Europa waren,
ist nicht die Radikalisierung kennzeichnend für Evakuierungen und Endphase-
verbrechen, sondern ihre räumliche Verschiebung in westlicher Richtung und
Durchsetzung – zumeist in abgeschwächter Form – auf dem Territorium des »Alt-
reiches«.72
Die massive Propaganda gegen die »äußeren Feinde« des Deutschen Reichs,
die die Kriegsgewalt stets begleitete, führte nach dem Erreichen der Grenze des
»Altreiches« zur Übertragung der radikalen Kriegführung an die »innere Front«.
Charakteristisch war, dass sich der »Endkampf gegen den Bolschewismus« und
das Vorgehen gegen vermeintliche Feinde im Reich zunehmend überlagerten.
Das führte dazu, dass nun auch Personen aus der Zivilbevölkerung, aus Zwangs-
lagern geflohene Gefangene, über dem Reichsgebiet abgeschossene westalliierte

71 Vgl. Reemtsma, Vertrauen und Gewalt (wie Anm. 69).


72 Vgl. Willems, Nachbeben (wie Anm. 63).
22 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

Piloten sowie sich absetzende Wehrmachtsoldaten verstärkt verfolgt wurden.73


Auch diese Gewalt war, ähnlich wie im Fall der Massengewalt an Gefangenen,
nicht der Ausdruck von Eskalation, spontaner Verschärfung oder panischem
Kontrollverlust, sondern resultierte aus der systematischen Übertragung von
»Sicherungs-« und Besatzungstechniken auf das eigene Staatsgebiet.74 Aus dieser
Logik resultierte die intensiviert fortgesetzte Verfolgung vermeintlicher Regime-
kritiker und von Deserteuren. Im Anschluss an den so genannten Nero-Befehl
vom 19. März 1945 begannen staatliche Vertreter zusätzlich mit der Zerstörung
kriegswichtiger Infrastrukturen auf dem Reichsgebiet. Trotz dieser Formen der
Gewalt lassen sich für den deutschen Rückzug auf dem Gebiet des Altreiches
wortwörtlich keine »verbrannten Dörfer« finden. Dieser elementare Unterschied
im Vergleich zur aktiven Aufgabe der zuvor besetzten »Ostgebiete« ist eine wich-
tige Einschränkung unserer Transferthese. Es kam zwar zu einer Übertragung
radikalisierter staatlicher Gewaltpraktiken von der »äußeren« an die »innere
Front«, diese richteten sich auf dem Territorium des Deutschen Reichs aber nicht
gegen die gesamte Bevölkerung, sondern in zugespitzter Form gegen bestimmte
Gruppen und Bevölkerungsteile, von denen die nationalsozialistischen Repräsen-
tanten des Deutschen Reichs im Angesichts des Vorrückens alliierter Truppen
ausgingen, dass sie potenziell illoyal seien.
Die in diesem Heft vorgenommene Kontextualisierung der Massenerschie-
ßungen von Sonnenburg ordnet die Ermordung von als »Gegner« oder »Feinde«
erachteten Personen(-gruppen) als Handlungsoption einer Diktatur und damit
charakteristisch für das nationalsozialistische Herrschaftsverständnis ein. Im
Zuge des Krieges fiel dieses Herrschaftsverständnis mit der Logik der Kriegsfüh-
rung zusammen. Zugleich folgte die Entscheidung, nicht alle Gefangenen aus
Sonnenburg in Richtung Frankfurt an der Oder ab‑ und nach Oranienburg weiter-
zutransportieren, auch einer pragmatischen Evakuierungslogik, die, wie Janine
Fubel in ihrem Beitrag zeigt, durch das schnelle Heranrücken der Roten Armee
in Gang gesetzt wurde. Nach einem langen Verharren und vor dem Hintergrund
der Entscheidung, die deutsche Bevölkerung Ostbrandenburgs selbst im Januar
1945 nicht zu evakuieren, handelte es sich bei der gewaltsamen Auflösung
von Sonnenburg um ein rationales und geplantes Vorgehen, das gleichzeitig
Züge von Spontanität und Panik trägt. Das Beispiel ist deshalb exemplarisch,
weil es zeigt, dass es sich bei dem Massaker nicht in erster Linie um eine militäri-
sche Entscheidung handelte. Von der Gestapo umgesetzt, war der Räumungs-

73 Vgl. Terror nach Innen (wie Anm. 6).


74 Vgl. Markus Günnewig, »Die Betreffenden sind zu vernichten.« Gestapoverbrechen in der
Endphase des Zweiten Weltkrieges, Dissertationsschrift, eingereicht am 20.11.2020 am Seminar für
Geschichte und Geschichtsdidaktik der Europa-Universität Flensburg.
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 23

befehl zuvor von den zivilen Justizinstanzen des Deutschen Reichs bzw. Preußens
und dem Reichsverteidigungskommissar und Gauleiter der Mark Brandenburg,
Emil Stürtz, erteilt worden.75 Das ist ein wichtiger Unterschied zum deutschen
Evakuierungshandeln in der besetzten Sowjetunion, wo die Initiative in aller
Regel von der Militärbesatzung als staatlicher Struktur ausging.
Der vorliegende Band zeigt somit Verbindungslinien und Unterschiede zwi-
schen der »Räumung« der Ostukraine und den Evakuierungen in der Slowakei
über die Massenerschießungen von Sonnenburg bis hin zum Beginn der gewalt-
samen Auflösung des Konzentrationslagerkomplexes Sachsenhausen auf. Mit
dieser vergleichenden Kontextualisierung von Weltkriegsverbrechen als Phä-
nomene einer aktiven Evakuierungskriegführung stellen wir das einfache
Verständnis von so genannten Endphaseverbrechen als neue Qualität der Gewalt
in den letzten Kriegsmonaten infrage. Gerade der genaue Blick auf die Konzep-
tionen und Planungen von Konzentrationslagerräumungen macht deutlich, dass
im Falle der Notwendigkeit einer temporären Gebietsaufgabe der Abtransport von
Gefangenen und »Schutzhäftlingen« schon vor Kriegsbeginn als »Skript der
Gewalt«76 in die Maßnahmenkatalogen deutscher Kriegführung eingeschrieben
und damit zu einer formalisierten, abrufbaren Handlungsoption geworden war.77
Der Kriegsverlauf und die in Polen, der Sowjetunion und auf den deutschen Rück-
zügen gemachten Erfahrungen der Besatzer beeinflussten wechselseitig auch die
Radikalisierung der Gewalt im Reichsinneren. Die ab der Kriegswende 1942/43
stark ansteigenden Gefangenenzahlen wie auch die der Zwangsarbeiter und
Zwangsarbeiterinnen trugen zusätzlich zu den für die Kriegsendphase kennzeich-
nenden Gewaltdynamiken bei, da die betroffenen Menschen zunehmend als
Gefahrenquelle im Inneren des Deutschen Reiches galten.

75 Vgl. Beitrag Fubel in diesem Heft, sowie Johannes Tuchel, Die Todesurteile des Kammer-
gerichts 1943 bis 1945. Eine Dokumentation. Hrsg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in
Kooperation mit dem Forum Recht und Kultur im Kammergericht e.V., Berlin 2016, S. 45; vgl. auch
Queiser, Das Massaker (wie Anm. 2).
76 Vgl. Ulrike Jureit, Skripte der Gewalt. Städtischer Raum und kollektive Gewalt in der mittelfrän-
kischen Provinz. In: Städte im Nationalsozialismus. Urbane Räume und soziale Ordnungen. Hrsg.
von Winfried Süß und Malte Thießen, Göttingen 2017 (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozia-
lismus, 33), S. 47–65.
77 Vgl. Arnold, Die Freimachung (wie Anm. 26).
24 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

Evakuierungen als aktive Auflösung staatlicher


Herrschaft

Eine Spezifik von Evakuierungsverbrechen ist, dass sie eng mit einer anstehen-
den räumlichen Verschiebung staatlicher Herrschaft verbunden sind. Diese
Beobachtung unterstreicht die räumliche Dimension von Gewalt, die in konkreten
Konfigurationen vor Ort entfacht wird. Ein theoretischer Beitrag des For-
schungsansatz zu Evakuierungen als Mittel der Kriegführung besteht darin, das
Verhältnis der temporären und räumlichen Dimension von Staatlichkeit in den
Mittelpunkt der Analyse von Evakuierungen zu stellen. Die Beiträge des Themen-
heftes zeigen dazu empirisch, wie unterschiedliche staatliche Akteure in
konkreten Situationen des militärischen Rückzugs auf den absehbaren Verlust
von Staatlichkeit in dem von ihnen beherrschten Territorium reagieren.
Das kritische Verhältnis von Zeit und Raum beim (bevorstehenden) Verlust
von Herrschaft und damit auch die Bedrohung der Staatlichkeit an sich lenkt die
Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung seitens der Bevölkerung und der staatli-
chen Akteure. Sowohl die Bewohner eines Gebietes als auch die für seine
Kontrolle Verantwortlichen reagierten wie Seismografen auf den Verlust staat-
licher Herrschaft, da ihre Lebensgrundlage und ihre Sicherheit bis zu diesem
Zeitpunkt vom Staat und seinen Institutionen gewährleistet wurden. Staatliche
Herrschaft selbst wird durch das (zumindest vorgestellte) Gewaltmonopol
gewährleistet, das im Augenblick einer militärischen Auseinandersetzung zusam-
menzubrechen droht. Aus diesem Grund spielte noch im Vorfeld des Zweiten
Weltkriegs die öffentliche Beobachtung von Mobilmachungen und später das
Verfolgen von Frontverläufen eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung von
Menschen, die sich in der Nähe eines potenziellen Frontverlaufs oder von kriti-
schen Infrastrukturen befanden.78 Das Wissen über räumliche Veränderungen

78 Siehe dazu den Beitrag von Felix Ackermann zum September 1939 in diesem Heft. Diese Wahr-
nehmungsgeschichte von Frontverläufen lässt sich auf den Ersten Weltkrieg zurückführen, siehe
etwa das Kriegstagebuch des deutschen Stadtkommandanten von Grodno: Kurt Klamroth, Meine
Erlebnisse im Weltkriege. Nach meinem Kriegstagebuche für meine Kinder niedergeschrieben,
Berlin 1919–1920, Familienarchiv Wibke Bruhns, Berlin-Charlottenburg. Sowohl in den Berichten
von Juden im Versteck jenseits der Ghettogrenzen als auch in Erinnerungen von Gefängnisinsassen
spielten selbst kleinste Versatzstücke von Wissen über den Frontverlauf eine zentrale Rolle für
die psychische Konstituierung der Betroffenen, vgl. Jochen Voit, Gedenkstätte Andreasstraße.
Haft, Diktatur und Revolution in Erfurt, Berlin 2016, S. 21; Gerhard Buchan, Dokumentation der
Gedenkveranstaltung von B-project anlässlich des Massakers an Häftlingen des Zuchthauses
Stein am 6. April 1945, Wien 1997. Dasselbe galt auch für ihre Verfolger und Aufseher, die eben-
falls gespannt jede Information über die näher rückende Front verfolgten. Vgl. Krystian
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 25

sowie die hypothetische Hochrechnung zukünftiger Frontverläufe ermöglichten


Prognosen über die verbleibende Zeit, in der die staatlichen Stellen zur Verfügung
stehenden zivilen und militärischen Ressourcen ausreichen, um die Existenz des
Staats beziehungsweise einer Herrschaftsform im Gebiet zu sichern. Genau
deshalb sind die bereits zuvor in Evakuierungsplanungen enthaltenen Festlegun-
gen, wer und was genau als Ressource oder wer als Gefahr gilt, von zentraler
Bedeutung für die Umsetzung von Evakuierungen als Teil von Kriegshandlun-
gen.79
Ein zentrales Kennzeichen von Evakuierungen ist die Verknappung von Zeit
und Raum, in deren Angesicht staatliche Akteure gezwungen sind, Entschei-
dungen über den Verbleib zentraler Güter zu fällen, um das eigene Überleben –
sowohl der Akteure als auch des von ihnen repräsentierten Staates in dem von
ihnen verantworteten Gebiet – zu sichern. Gelten bestimmte Güter oder Menschen
in der konkreten Situation als relevant für den Fortbestand des Gesamtstaates,
wird ihre aufwendige, weil knappe Ressourcen verschlingende Verbringung aus
dem vom angenommenen Herrschaftsverlust bedrohten Gebiet in ein Kern‑ bzw.
Ausweichterritorium geplant. Ob diese Planung umgesetzt werden kann, hängt
davon ab, wie viele Ressourcen für die Umsetzung verbleiben und wie schnell
sich durch das Heranrücken der gegnerischen Armee das zuvor kalkulierte Zeit-
fenster schließt.80
Kennzeichnend für Evakuierungen ist somit, dass bei ihrer Durchführung
staatliche Akteure auf die absehbare Auflösung des eigenen Gewaltmonopols
reagieren (müssen). Sie dislozieren dafür staatliche Institutionen im umkämpften
Territorium, um die dort gebundenen materiellen und personellen Ressourcen
durch die räumliche Verschiebung vor der Zerstörung zu retten.81 Ebenfalls kenn-

Bedyński, Pracownicy więziennictwa II Rzeczypospolitej zamordowani na Białorusi. In: Przegląd


Więziennictwa Polskiego, Warszawa, 62/63 (2009), S. 49–76. Nach dem Erreichen der Grenze des
Deutschen Reichs betraf diese existenzielle Unsicherheit ab Ende 1944 auch zunehmend deut-
sche Zivilisten, die vergeblich auf einen Evakuierungsbefehl der lokalen NSDAP-Kader warteten.
79 Siehe den Beitrag von Janine Fubel in diesem Heft, in dem sie die frühen Planungen für eine
Evakuierung des Konzentrationslagers Sachsenhausen aufzeigt.
80 Die konzertierte Evakuierung zentraler Gefängniseinrichtungen und Konzentrationslager in
den letzten Januartagen 1945 ist ein Beispiel für die Reaktion vonseiten der zuständigen Stellen auf
ein sich im Zuge des Vormarsches der Roten Armee schließendes Zeitfenster. Die Entscheidungen
über den Zeitpunkt und die Art der Evakuierung nahmen auf diese veränderte Raum-Zeit-Konfigu-
ration Bezug, allerdings auf Grundlage früherer Planungen. Siehe dazu die Beiträge von Felix
Ackermann und von Christian Stein in diesem Heft.
81 Während der sogenannten Aktion Warschau haben deutsche staatliche Stellen im Zuge der
Niederschlagung des Warschauer Aufstandes Wirtschaftsgüter von Warschau nach Posen
verbracht – ein Hinweis darauf, dass sich die Entscheidungsträger im September 1944 noch nicht
26 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG

zeichnend für diesen Prozess ist, dass Akteure davon ausgehen, dass es sich um
eine vorübergehende Verschiebung der Staatsgrenzen und des Verlustes von
Staatsgebieten handelt. Eine systematische Untersuchung der Aufgabe von Terri-
torien als aktive Form der temporären Verschiebung von Staatlichkeit steht noch
aus. Die in diesem Themenheft versammelten Beiträge zeigen bereits eindrück-
lich, dass in meist unreflektiert verwendeten Sprachbildern vom Zusammenbruch
eine Vorstellung der Auflösung von Staatlichkeit enthalten ist, die von einem
Zerfall staatlicher Herrschaft unter der Einwirkung von Gewalt ausgeht. In den
dabei zum Tragen kommenden Bildern erscheint der Staat als Gebäude, das bei
Verlust der Statik durch die Beschädigung einzelner tragender Elemente »in sich
zusammenfällt«.
Das von Felix Ackermann kontextualisierte Beispiel einer Gefängnisevakuie-
rung am Beginn des »Polenfeldzugs« und Laura Eckls Analyse sowjetischer
Evakuierungsmaßnahmen in Charkiv weisen über das nationalsozialistische
Exempel hinaus. Auch die Vertreter der Polnischen Republik und der Sowjet-
union mussten Entscheidungen treffen, wie sie die Auflösung staatlicher Struk-
turen im Angesicht des deutschen Angriffs vornehmen. Dazu gehörte etwa die
Zerstörung von Dokumenten und Industrieanlagen, aber auch die Verschiebung
ganzer Institutionen und Industrieanlagen ostwärts.82 Werden Evakuierungen als
proaktive Form der territorialen Verschiebung von Staatlichkeit gefasst, tritt
zutage, dass der hier skizzierte Ansatz bestehende Forschungen zu militärischen
Rückzügen aufgreift und erweitert. Das Ergebnis ist eine systematische Betrach-
tung des Zusammenspiels der Akteure ziviler und militärischer Institutionen, die
das staatliche Vorgehen bei einer bevorstehenden Gebietsaufgabe gestalten. Auf
diese Weise tritt außerdem zum Vorschein, was für alle hier untersuchten
Beispiele zutrifft: Da die Akteure eines in Auflösung begriffenen Staates sowohl
Bürger als auch Vertreter dieser Herrschaftsform darstellen, sind sie Handelnde
und Betroffene zugleich. Sie entscheiden über die räumliche Verschiebung jener
für den Staat als wichtig erachteten Ressourcen. Die Dualität dieser Situation

vorstellen konnten, dass die Front schon in wenigen Monaten die Grenze zwischen dem Deutschen
Reich und der Republik Polen von 1939 erreichen wird. Siehe den entsprechenden Bestand im
Staatsarchiv Posen: Archiwum Państwowe w Poznaniu 53/299/0 Namiestnik Rzeszy w Okręgu
Kraju Warty – Poznań, Signatur 5.5 Aktion Warschau; sowie Łuczak Czesław, Aktion Warschau. In:
Studia Historiae Oeconimcae 2 (1967), S. 201–207.
82 Vgl. Adam Stebelski, The Fate of Polish Archives During World War II, Warszawa 1964; Patricia
Kennedy Grimsted, Trophies of War and Empire. The Archival Heritage of Ukraine, World War II,
and the International Politics of Restitution, Cambridge, MA 2001 (= Harvard Papers in Ukrainian
Studies). Siehe dazu ein laufendes Forschungsprojekt zu Beuteakten am Deutschen Historischen
Institut Moskau, online: <https//www.dhi-moskau.org/de/forschung/20-bis-21-jahrhundert-die-
udssr-und-russland-in-der-welt/deutsche-akten-im-camo.html> (letzter Zugriff 28.3.2022).
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 27

besteht darin, dass die auf dem Territorium verbleibenden Akteure zur letzten
Instanz des Staates gehören. Sie sind für dessen Schutz verantwortlich, auch,
um in Angesicht von Kriegs‑ und Kampfhandlungen ihr eigenes (Über-)Leben zu
sichern. Mit dem geschärften Blick auf die Doppelrolle staatlicher Akteure lässt
sich beispielsweise das Evakuierungsverhalten von Angehörigen des Strafvoll-
zugs der Polnischen Republik in den ersten Septembertagen 1939 mit dem von
Mitgliedern der Kommunistischen Partei in den Westgebieten der Sowjetunion
im Juni 1941 und selbst mit dem Handeln von SS, Gestapo und NDSAP im Früh-
jahr 1945 in eine analytische Beziehung setzen, ohne die Evakuierungen gleich-
zusetzen und das hierbei vollzogene Handeln zu relativieren. Die Gesamtschau
der von uns versammelten Beiträge zeigt, dass sich die Skala des Zwangs und der
Gewalt unterschied ebenso wie ihr Ausmaß mit der bereits vor Kriegsbeginn in die
vorherrschende Ideologie eingeschriebenen Gewalt korrelierte.

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