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Einleitung
https://doi.org/10.1515/mgzs-2022-0001
Wenige Tage vor dem Heranrücken der Roten Armee erschossen deutsche Täter
am 31. Januar 1945 in der Justizvollzugsanstalt Sonnenburg über 800 Insassen.
Sonnenburg, das heutige Słońsk und 15 Kilometer östlich der einstigen Festung
Küstrin (Kostrzyń nad Odrą) gelegen, gehörte zu einem weit verzweigten Netz aus
deutschen Gefängnissen, Zwangs‑ und Arbeitslagern auf dem damaligen Gebiet
der preußischen Provinz Mark Brandenburg.1 Im Sonnenburger Gefängnis sowie
im angeschlossenen Arbeitslager waren zeitweilig über tausend Personen aus den
deutsch besetzten Gebieten Europas vor allem aus den Niederlanden, Frankreich,
Belgien, Luxemburg und Norwegen inhaftiert. Die meisten waren zuvor als
Widerstandskämpfer verhaftet und nach Deutschland verschleppt worden, ohne
dass die Angehörigen Informationen über ihren Verbleib erhielten – viele im Zuge
der berüchtigten »Nacht und Nebel«-Aktionen. Die Mehrzahl der 1945 noch in
Sonnenburg Internierten überlebte das Kriegsende nicht. Auf Anordnung des
1 Wir bedanken uns für die kritische Reflexion dieser Einleitung bei Markus Günnewig, Laura Eckl,
Alexandra Klei, Johannes Spohr, Christian Stein und Martin Zückert sowie für die Kommentare bei
den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Workshops »Evakuation – Rückzug – Liquidierung.
Praktiken der Verschiebung und Auflösung von Staatlichkeit im 20. Jahrhundert«, der anlässlich
des 75. Jahrestag der gewaltsamen Räumung des Zuchthauses Sonnenburg (Neumark) vom 30. bis
31.1.2020 in Frankfurt/Oder und Słubice stattfand. Ausrichtende Institutionen waren das Deutsche
Historische Institut Warschau und die Kulturwissenschaftliche Fakultät der Europa-Universität
Viadrina in Partnerschaft mit der Gedenk‑ und Dokumentationsstätte »Opfer politischer Gewalt-
herrschaft«, dem Muzeum Martyrologii w Słońsku sowie dem Institut für angewandte Geschichte.
2 Vgl. Daniel Queiser, Das Massaker in der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945. In: Das Konzentra-
tionslager und Zuchthaus Sonnenburg. Hrsg. von Hans Coppi, Kamil Majchrzak, Berlin 2015,
S. 49–61; siehe auch den Beitrag von Janine Fubel.
3 Vgl. Bernd Weisbrod, Die Dynamik der Gewalt und der Holocaust »vor Ort«. In: Werkstatt
Geschichte, 58 (2011), S. 87–97.
4 Vgl. The Holocaust in the Borderlands. Interethnic Relations and the Dynamics of Violence in
Occupied Eastern Europe. Ed. by Gaëlle Fisher und Caroline Mezger, Göttingen 2019 (= European
Holocaust Studies, 2); vgl. auch Timothy Snyder, Black Earth. The Holocaust as History and
Warning, New York 2015.
5 Timothy Snyder, Bloodlands. Europe Between Hitler and Stalin, New York 2010.
6 Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Hrsg. von Cord Arendes, Edgar
Wolfrum und Jörg Zedler, Göttingen 2006 (= Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, 6).
7 Zum Begriff der Transformationsgewalt vgl. Alexander Korb, Transformationsgewalt in Europa
1944–1950. Perspektiven auf das Ende des Zweiten Weltkriegs. In: S.I.M. O. N. Shoah: Intervention.
Methods, Documentation, 2 (2015), 2, S. 38–55.
8 Zum Begriff der extremen Gewalt vgl. Elissa Mailänder Koslov, Gewalt im Dienstalltag. Die
SS-Aufseherinnen des Konzentrations‑ und Vernichtungslagers Majdanek, Hamburg 2009, S. 29 f.
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 3
11 Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin [u. a.] 1989,
S. 192. Eine frühere Version des folgenden Abschnitts sowie der Übersicht zum Forschungsstand
befindet sich in der unveröffentlichten Dissertationsschrift von Janine Fubel, die unter dem Titel
»Krieg, Bewegung und extreme Gewalt im Raum Berlin-Brandenburg: Die Evakuierung und Liqui-
dierung des Konzentrationslagerkomplexes Sachsenhausen 1945« am Historischen Institut der
Humboldt-Universität Berlin eingereicht wird.
12 Diese Begriffsgeschichte nimmt direkt Bezug auf Reinhart Kosellecks historisches Forschungs-
programm zu den Bedeutungsschichten historischer Termini. Reinhart Koselleck, Zeitschichten.
Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2000; Reinhart
Koselleck. Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen
Sprache, Frankfurt a. M. 2006.
13 Die Herausgeber des vorliegenden Themenheftes verstehen die Begriffe Evakuierung und
Evakuation als weitgehend kongruent. Dennoch verwenden wir in dieser Einleitung durchgehend
Evakuierung. Die Autoren und Autorinnen der einzelnen Texte weichen zum Teil von dieser
Entscheidung ab, wenn in dem von ihnen behandelten Kontext eher Evakuation verwendet wurde.
14 Vgl. Johannes Großmann und Fabian Lemmes, Evakuierungen im Zeitalter der Weltkriege.
Stand der Forschung, Konzepte und Perspektiven. In: Evakuierungen im Europa der Weltkriege –
Les évacuations dans l’Europe des guerres mondiales – Evacuations in World War Europe. Hrsg.
von Olivier Forcade [u. a.], Berlin 2014, S. 11–35.
15 Vgl. ebd., S. 15; sowie Jochen Oltmer, Einführung: Migrationsregime und »Volksgemeinschaft«
im nationalsozialistischen Deutschland. In: Nationalsozialistisches Migrationsregime und »Volks-
gemeinschaft«. Hrsg. von Jochen Oltmer, Paderborn [u. a.] 2012 (= Nationalsozialistische »Volks-
gemeinschaft«, 2), S. 9–25, hier S. 14 f.
6 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG
»Die erste Phase umfasste die behördliche Planung und Vorbereitung der Evakuierung. Die-
se konnten in manchen Fällen unter großem zeitlichen Druck ablaufen und hochgradig
improvisiert sein [...] An die Planungen schließt sich als zweite Phase die eigentliche Durch-
führung der Evakuierung an [...] Als dritte Phase können Ankunft und Unterbringung in den
jeweiligen Aufnahmegebieten unter die Lupe genommen werden [...] Die vierte Phase
umfasst die Rückkehr der Evakuierten [...] und die Normalisierung bzw. den Neubeginn des
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in den von der Räumung betroffenen Gebie-
ten.«19
16 Vgl. Armin Nolzen, Planung und Durchführung der »Freimachungen« an der westlichen
Reichsgrenze 1939/40. In: Nationalsozialistisches Migrationsregime (wie Anm. 15), S. 243–263,
S. 261 f.
17 Günther Müller, Kriterien für Evakuierungsempfehlungen bei Chemikalienfreisetzungen, Bonn
1998 (= Zivilschutz-Forschung, N.F., 32), S. 25 f. Vgl. Klaus Müller, Handbuch Evakuierung.
Maßnahmen im Brand‑ und Katastrophenfall, Berlin 2009, S. 7–15.
18 Vgl. Gesine Hofinger, Laura Künzer und Robert Zinke, »Nichts wie raus hier?!« Entscheiden in
Räumungs‑ und Evakuierungssituationen. In: Entscheiden in kritischen Situationen. Neue
Perspektiven und Erkenntnisse. Hrsg. von Rudi Heimann, Stefan Strohschneider und Harald
Schaub, Frankfurt a. M. 2013, S. 247–261, hier S. 249.
19 Großmann/Lemmes, Evakuierungen (wie Anm. 14), S. 19 f.
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 7
20 Laura Künzer, Robert Zinke und Gesine Hofinger, Mythen der Entfluchtung. In: 60. Jahresfach-
tagung, 21.–23.5.2012. Hrsg. von der Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes e.V.,
Köln 2021, <https://team-hf.de/wp-content/uploads/2021/03/2012-kuenzerl.zinker.hofingerg.
mythen-der-entf.pdf> (letzter Zugriff 30.1.2022), S. 1–11, hier S. 1.
21 Hofinger/Künzer/Zinke, »Nichts wie raus hier?!« (wie Anm. 18), S. 250 f.
22 Vgl. J. D. Sime, Crowd psychology and engineering. In: Safety Science, 21 (1995), 1, S. 1–14.
23 Vgl. Der große Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter, Leipzig
1937, S. 151. An dieser Stelle würde es sich sicher lohnen, weiter über nationalsozialistisches
Sprachhandeln nachzudenken. Der Ansatz kann hier allerdings nicht weiterverfolgt werden. Vgl.
dazu Nicolas Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008 (= Toldot:
Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, 3), sowie Nicolas Berg, Bilder von »Luftmenschen«.
8 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG
sprachliches Bild der aktiven Leerung eines Gefäßes ist auch dem Begriff »Liqui-
dierung« eingeschrieben, der während des Zweiten Weltkriegs im Zusammen-
hang mit Gebietsräumungen als Euphemismus für Massenmorde verwendet
wurde. Wortwörtlich handelt es sich bei der Verflüssigung um eine weitere Option
zur Entleerung eines Gefäßes. Im Anschluss an den Spatial Turn und der diesem
zugrunde liegenden kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der sozialen
Produktion von Räumen, ist davon auszugehen, dass die historische sprachliche
Verwendung des Evakuierungs-Begriffs somit auf einem Verständnis von staatli-
chen Räumen als Container basiert.24
Dem Evakuierungshandeln im Kriegsfall sind stets militärische Logiken inhä-
rent, wie sich anhand der Begriffserklärungen im Deutschen Militärlexikon von
1962 nachvollziehen lässt. Dementsprechend handelt es sich bei »Evakuierung«
um einen »militärischen Begriff für den Abtransport von Zivilbevölkerung und die
Verlegung von Betrieben aus den Gebieten, die vom Gegner bedroht werden«. Für
ein derartiges militärstrategisches Vorgehen finden zudem die Termini »Abtrans-
port« – von »Geschädigte[n], Kranke[n] und Gefangene[n]« –, »Abschub« – von
»beschädigte[n], technische[n] Kampfmittel[n] und von Leer‑ und Beutegut« –
und »Räumung« als »Herausführen der Truppen und militärischen Einrichtungen
aus einem vom Gegner bedrohten Gebiet« für ein im Zusammenhang mit Krieg
stehendes Evakuierungsgeschehen Verwendung.25
Konkrete Handlungsanleitungen, die auf die Evakuierung von bestimmten
Grenzräumen im Falle kriegerischer Handlungen zielten, lagen in der Weimarer
Republik seit Mitte der 1920er Jahre vor. Im Deutschen Reich unter nationalsozia-
listischer Herrschaft nahmen die Planungen weiter an Fahrt auf. Der für den
Kriegsfall konzipierte Bevölkerungstransfer wurde in den Richtlinien, welche das
Reichsverteidigungsministerium 1934 an die Wehrkreise ausgegeben hatte, als
»Räumung« bezeichnet. Die Dokumentensammlung stellte einen militärstrategi-
schen Maßnahmenkatalog für den Fall eines Angriffes dar und wurde mit der
Ausdehnung der operativen Planungen 1936 aktualisiert.26 Für den Fall eines
Angriffs durch einen der Nachbarstaaten sahen die deutschen Weisungen den
Abtransport der bedrohten Bevölkerung in als sicher erachtete Ausweichorte
vor. Hierfür wurden die Grenzräume nach bestimmten Kategorien in Zonen
aufgeteilt.27 Obwohl primär als militärische Aufgabe interpretiert, sahen sich
zunehmend auch zivile und NSDAP-Stellen mit Angelegenheiten der Mobilma-
chung – zu denen die Gebietsräumungen im Zuge von (bevorstehenden) Gefechts-
handlungen gezählt wurden – befasst. Jedoch führte erst die Dynamik des deut-
schen Angriffskrieges dazu, dass sich die Arbeitsteilung dieser drei Instanzen mit
Blick auf das Evakuierungs‑ und das gesamte Mobilisierungsgeschehen im
NS-Staat intensivierte.28 Mit den Reichsverteidigungskommissaren (RVK) schuf
Adolf Hitler im Jahr 1939 mehrheitlich in Personalunion mit den regionalen
Parteistellen der Gauleiter Instanzen, die ihre Befugnisse im Hinblick auf das
Evakuierungsgeschehen im Reich kriegsbegleitend zunehmend ausweiten und
die Wehrkreiskommandos aus diesem zuvor primär militärisch erachteten Evaku-
ierungsfeld herausdrängen konnten.29
Die im Deutschen Reich unter nationalsozialistischer Herrschaft vorliegenden
Richtlinien für den Verteidigungs‑ beziehungsweise Mobilmachungsfall folgten
der Doktrin des »totalen Krieges«30 und wandelten sich von Handlungsanlei-
tungen für eine defensive Kriegführung im Jahr 1934 zwei Jahre später zu einer
offensiven, die vor allem auf die Rückführung der wehrpflichtigen männlichen
Bevölkerung und Facharbeiter der Rüstung zielte. Zudem bezogen sie den
Abtransport von Gütern und Nutztieren aus den »Räumungsgebieten/-gauen« in
als nicht bedroht geltende »Bergungsgebiete/-gaue« ein. Im Zuge einer allumfas-
senden, das heißt gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung als kriegswichtige
Ressourcen erachtet, sollten Menschen und Materialien so der Wehrmacht und
deutschen Rüstungsproduktion erhalten bleiben »oder aus anderen Gründen dem
27 Die zu räumenden Gebiete der deutsch-französischen Grenze waren als »Rote Zone« bezeichnet
worden.
28 Vgl. dazu Beiträge in Mobilisierung im Nationalsozialismus. Institutionen und Regionen in der
Kriegswirtschaft und der Verwaltung des »Dritten Reiches« 1936 bis 1945. Hrsg. von Oliver Werner,
Paderborn [u. a.] 2013 (= Nationalsozialistische Volksgemeinschaft, 3); Vgl. auch Nolzen, Planung
(wie Anm. 16), S. 258, insb. Anm. 67.
29 Vgl. Arnold, Die Freimachung (wie Anm. 26), S. 230–234; sowie vgl. Verwaltung contra
Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System. Hrsg. von
Dieter Rebentisch und Karl Teppe, Göttingen 1986.
30 Vgl. dazu die Beiträge in: An der Schwelle zum totalen Krieg. Die militärische Debatte über den
Krieg der Zukunft 1919–1939 Hrsg. von Stig Förster, Paderborn [u. a.] 2002 (= Krieg in der
Geschichte, 13).
10 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG
Feind entzogen werden«.31 Gemäß den Konzeptionen waren von Beginn der
Planungen an auch Haftanstalten und so genannte Schutzhaftlager zu räumen
und deren Insassen abzutransportieren.32 Als potenzielle Gefahr im Landes-
inneren und mögliche Quelle einer »fünften Kolonne«33 waren die Gefangenen-
räume im Falle von bevorstehenden Kampfhandlungen zu leeren.
Die tatsächliche Mobilmachung für den anvisierten deutschen Krieg fand
1939 auch in der neuen Bezeichnung der Evakuierungsmaßnahmen ihren Nieder-
schlag. Anhand der »Freimachungsrichtlinien West« waren Gebiete nun bei
Ausgabe vorher festgelegter Stichwörter zu leeren.34 Aufgrund des ihm zugrunde
liegenden defensiven Charakters sollte der Evakuierungsbegriff auf Anordnung
des deutschen Propagandaministeriums sowohl in den kriegsvorbereitenden wie
auch in den nun kriegsbegleitenden Evakuierungsmaßnahmen wie den »Gebiets-
freimachungen« oder der luftkriegsbedingten »(Erweiterten) Kinderlandverschi-
ckung« vermieden werden.35 Nach dem deutschen Angriff auf Polen wurden
im September 1939 nur im polnischen Grenz‑ und Rückzugsraum Evakuierun-
gen angeordnet.36 Während die ostdeutschen Grenzkreise nach derzeitigem
Forschungsstand nicht evakuiert worden waren, sahen sich zu dieser Zeit vor
allem die Bevölkerungen und Unternehmen, welche im deutsch-französischen
Grenzraum lokalisiert waren, von derartigen Maßnahmen betroffen.37 Als Reaktion
42 Vgl. Beitrag Christian Stein; vgl. auch Okkupation, Raub, Vernichtung. Dokumente zur Besat-
zungspolitik der faschistischen Wehrmacht auf sowjetischem Territorium 1941–1944. Hrsg. von
Norbert Müller, Berlin (Ost) 1980 (= Schriften des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR),
S. 409 f.
43 Vgl. Beitrag Janine Fubel.
44 Vgl. Stein, Grenzlandschicksale (wie Anm. 35), S. 50.
45 Vgl. Fabian Lemmes, Zwangsarbeit im besetzten Europa. Die Organisation Todt in Frankreich
und Italien, 1940–1945. In: Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im »Dritten Reich«. Im
Auftrag von MTU Aero Engines und BMW Grop hrsg. von Andreas Heusler, Mark Spoerer und Hel-
muth Trischler, München 2010 (= Perspektiven, 3), S. 219–254; sowie Die Deutsche Wirtschaftspo-
litik in den besetzten sowjetischen Gebieten 1941–1943: der Abschlussbericht des Wirtschafts-
stabes Ost und Aufzeichnungen eines Angehörigen des Wirtschaftskommandos Kiew. Hrsg. von
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 13
Rolf-Dieter Müller, Boppard am Rhein 1991 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahr-
hunderts, 56), S. 561–563.
46 Vgl. Rolf-Dieter Müller, Es begann am Kuban ... Flucht und Deportationsbewegungen in
Osteuropa während des Rückzugs der deutschen Wehrmacht 1943/44. In: Flucht und Vertreibung.
Zwischen Aufrechnung und Verdrängung. Hrsg. von Robert Streibel, Wien 1994, S. 42–76.
47 Vgl. Beitrag Janine Fubel; sowie Daniel Blatman, Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel
des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek bei Hamburg 2011.
48 Vgl. Beitrag Johannes Spohr.
49 Vgl. Carlo Gentile, Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg: Italien 1943–1945, Pader-
born [u. a.] 2012 (= Krieg in der Geschichte, 65), S. 201–304; vgl. auch Peter Lieb, Konventioneller
Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich
1943/44, München 2007 (= Quellen und Darstellung zur Zeitgeschichte, 69), S. 417–504.
14 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG
52 Vgl. Pertti Ahonen [u. a.], People on the Move. Forced Population Movements in Europe in the
Second World War and its Aftermath, Oxford [u. a.] 2008 (= Occupation in Europe Series, 3),
S. 1–10.
53 Vgl. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bonn 2011.
54 Vgl. Großmann/Lemmes, Evakuierungen (wie Anm. 14), S. 12–14. Für außereuropäische
Kriegsschauplätze wie Japan vgl. Bruce Makoto Arnold, Materiel Matters. The Japanese State’s
Evacuation of Elementary Schoolchildren During The Second World War. In: Anistoriton Journal,
13 (2012/13), 1; sowie Thomas R. H. Havens, Valley of Darkness. The Japanese People and World
War Two, New York 1973.
16 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG
59 Vgl. Stein, Grenzlandschicksale (wie Anm. 35); Williams, »Ihre Häuser sind gut bewacht« (wie
Anm. 37).
60 Vgl. Arnold, Die Freimachung (wie Anm. 26); Klee, Im »Luftschutzkeller des Reiches« (wie
Anm. 35).
61 Vgl. Auch Rebecca Manley, To the Tashkent Station. Evacuation and Survival in the Soviet
Union at War, Ithaca, London 2009; Klaus Segbers, Die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Die
Mobilisierung von Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft im »Großen Vaterländischen Krieg«
1941–1943, München 1987 (= Studien der Zeitgeschichte, 32).
62 Vgl. Christian Stein, Die Rückzüge der Wehrmacht an der Ostfront 1941–1945. Projektskizze im
Portal Militärgeschichte, <http://portal-militaergeschichte.de/taxonomy/node/1931> (letzter Zu-
griff 13.5.2020).
63 Vgl. Bastiaan Willems, Violence in Defeat: The Wehrmacht on German Soil, 1944–1945,
Cambridge 2021 (= Cambridge Military History); vgl. auch Bastiaan Willems, Nachbeben des
Totalen Kriegs. Der Rückzug der Wehrmacht durch Ostpreußen und seine Folgen. In: Vierteljahrs-
hefte für Zeitgeschichte, 66 (2018), 3, S. 403–433.
64 Die Räumung des »Reichsgaus Wartheland« vom 16. bis zum 26. Januar 1945 im Spiegel amtli-
cher Berichte. Bearb. von Joachim Rogall, Sigmaringen 1993 (= Schriftenreihe des Ludwig-Petry-
Instituts Mainz).
18 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG
der Ostfront zur Jahreswende 1944/45 zunehmend das alte Reichsgebiet um-
fasste.65
Es ist das Anliegen des Heftes, das Evakuierungsgeschehen am Kriegsschau-
platz »deutsche Ostfront« systematisch zu untersuchen. Neben vordergründigen
Fragen danach, wer und was evakuiert werden sollte, wer die Evakuierungen
vornahm und koordinierte oder wie sich diese konkret auf bestimmte Personen-
kreise auswirkten, wird herausgestellt, dass diese Maßnahmen von Beginn an
zum Kriegsgeschehen zählten und sich im Zuge der deutschen Rückzüge »aus
dem Osten« besonders gewaltvoll und zerstörerisch gestalteten. Dem Deutschen
Reich dienten Evakuierungsmaßnahmen hier nicht nur dem Schutz oder der
Sicherung von bestimmten Personen oder Gut und von zum Operationsgebiet
erklärten Räumen, sondern gleichzeitig auch immer einer aktiv betriebenen
Zerstörungs‑ und Vernichtungspolitik, die den deutschen »Ostfeldzug« im Unter-
schied zu den deutschen Interessen in Westeuropa – zumindest in der Anfangs-
zeit deutscher Besatzung – von Beginn an gekennzeichnet hatte.
66 Vgl. Snyder, Black Earth (wie Anm. 4), S. 95–134 und 341–344.
20 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG
Chiffre der Gewalt verstanden wurde. Andererseits ist auch das Konzept von
Staaten als territoriale Gefäße problematisch, deren Inhalt man entfernen kann.67
In dieser Lesart des militärischen Angriffs als Neukonfiguration eines Herr-
schaftsgebiets erscheinen Evakuierungen und Räumungen als aktive Reaktionen
auf die absehbare Veränderung des staatlichen Territoriums. Die Evakuierung
von Gefängnissen und Konzentrationslagern auf dem Gebiet des »Altreichs« war
eine aktive Form der staatlichen Selbstauflösung des Deutschen Reichs. Deshalb
werden Endphaseverbrechen auf dem Territorium des Deutschen Reichs in
diesem Heft vor dem Hintergrund unterschiedlicher Praktiken des Rückzugs aus
dem besetzten Europa kontextualisiert. Die in Sonnenburg in der Nacht vom 30.
zum 31. Januar 1945 freigesetzte Gewalt verstehen wir nicht nur als Endphasever-
brechen – einen Gewaltakt, der auf dem Gebiet des Deutschen Reichs in den
letzten Monaten der NS-Herrschaft begangen wurde.68 Wir verorten die Massen-
erschießung im Spektrum einer mit dem Beginn des Krieges 1939 einsetzenden
Evakuierungskriegführung, bei der Gebiets(teil)räumungen stets mit systemati-
scher Gewalt einhergingen.
In den durch staatliche Gewalt veränderten Herrschaftsräumen lässt sich
gesondert die Gewalt gegen die dort lebenden Menschen untersuchen. Jan
Philipp Reemtsmas triadische Typologie fokussiert diese Frage auf den gewalt-
samen Umgang mit Körpern.69 In dieser Perspektive lassen sich Evakuierungen
als Form dislozierender Gewalt deuten, die »dem anderen Körper einen Ort
zuweist.«70 Organisierte Deportationen, systematische Vertreibungen sowie
sogenannte Todesmärsche im Zuge der Auflösung von Konzentrationslagern sind
demnach Formen dislozierender Gewalt. Diese richten sich jedoch nicht gegen
die Körper einzelner Individuen, sondern gegen die »Kollektivkörper« sozialer
Gruppen, deren Mitglieder in einem bestimmten Gebiet leben oder bestimmten
Kollektivgruppen zugeordnet werden. Zwangsarbeit, die durch die Gewinnung
und den Erhalt kriegsrelevanter Arbeitskräfte eine Rolle bei der Planung und
Durchführung von Evakuierungen spielte, stellt – derselben Typologie zufolge –
67 Vgl. Anthony Giddens, A Contemporary Critique of Historical Materialism, vol. 2: The Nation-
State and Violence, Berkeley 1987, S. 120; Peter J. Taylor, The State as Container: Territoriality in
the Modern World System. In: Progress in Human Geography, 18 (1994), 2, S. 151–162.
68 Vgl. Sven Keller, Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 2013
(= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 97); sowie Terror nach Innen (wie Anm. 6).
69 Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation
der Moderne, Hamburg 2008, S. 86 f.
70 Jan Philipp Reemtsma, Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie. In: Die Natur der
Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in
Kassel 2006, Teilbd 1. Hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M. 2008, S. 42–64.
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 21
eine Form raptiver Gewalt dar, in der es um die physische Kontrolle von Körpern
geht.71
Auf der Grundlage ideologischer Feindkonfigurationen wurde die von Evaku-
ierungen betroffene Bevölkerung einerseits in »gefährlich« und andererseits in
»sicherungswürdig«, »systemrelevant« oder »schützenswert« unterteilt. Gemäß
derartiger Konzeptionalisierungen kam es während des Zweiten Weltkriegs in von
unterschiedlichen Akteuren als kritisch erachteten Situationen zum Mord an
Angehörigen der ersten Gruppe, während Letztere – in der Regel auch unter
Einsatz extremer Gewalt – evakuiert wurden. Wurden Situationen als unmittelbar
bedrohlich eingeschätzt, ist noch pauschaler und, mit der Erteilung von
Räumungsverboten, auch konträr verfahren worden. Diese Beobachtung aufgrei-
fend, lässt sich der phänomenologische Ansatz Reemtsmas erweitern und die bei
Evakuierungen zur Anwendung kommende Logik von Bevölkerungsverschie-
bungen als eine auf unterschiedliche soziale Kollektive körpergerichtete Gewalt
beschreiben, der die Annahme einer Verknüpfung von einem bestimmten Herr-
schaftsgebiet mit einer konkreten Bevölkerung zugrunde lag.
Damit wird deutlich, dass die Verengung von Zeit und Raum im Angesicht
bedrohter Herrschaft zur situativen Beschleunigung und Radikalisierung beitrug.
Die Grundzüge der jeweiligen Ausprägung von Gewalt waren aber schon zuvor
angelegt. Merkmale der Verbrechen, die in der Endphase des Krieges 1944/45 auf
dem Reichsgebiet vollzogen wurden, sind ihre Radikalität und die räumliche
Verlagerung der zuvor weiter östlich angewandten Formen von Vernichtungs-
gewalt und Terror auf das Gebiet des Deutschen Reiches. Da bereits seit Beginn
des Krieges im September 1939 kollektive Strafen, Massenmorde und systemati-
sche Zerstörungen Teil der deutschen Kriegführung im östlichen Europa waren,
ist nicht die Radikalisierung kennzeichnend für Evakuierungen und Endphase-
verbrechen, sondern ihre räumliche Verschiebung in westlicher Richtung und
Durchsetzung – zumeist in abgeschwächter Form – auf dem Territorium des »Alt-
reiches«.72
Die massive Propaganda gegen die »äußeren Feinde« des Deutschen Reichs,
die die Kriegsgewalt stets begleitete, führte nach dem Erreichen der Grenze des
»Altreiches« zur Übertragung der radikalen Kriegführung an die »innere Front«.
Charakteristisch war, dass sich der »Endkampf gegen den Bolschewismus« und
das Vorgehen gegen vermeintliche Feinde im Reich zunehmend überlagerten.
Das führte dazu, dass nun auch Personen aus der Zivilbevölkerung, aus Zwangs-
lagern geflohene Gefangene, über dem Reichsgebiet abgeschossene westalliierte
befehl zuvor von den zivilen Justizinstanzen des Deutschen Reichs bzw. Preußens
und dem Reichsverteidigungskommissar und Gauleiter der Mark Brandenburg,
Emil Stürtz, erteilt worden.75 Das ist ein wichtiger Unterschied zum deutschen
Evakuierungshandeln in der besetzten Sowjetunion, wo die Initiative in aller
Regel von der Militärbesatzung als staatlicher Struktur ausging.
Der vorliegende Band zeigt somit Verbindungslinien und Unterschiede zwi-
schen der »Räumung« der Ostukraine und den Evakuierungen in der Slowakei
über die Massenerschießungen von Sonnenburg bis hin zum Beginn der gewalt-
samen Auflösung des Konzentrationslagerkomplexes Sachsenhausen auf. Mit
dieser vergleichenden Kontextualisierung von Weltkriegsverbrechen als Phä-
nomene einer aktiven Evakuierungskriegführung stellen wir das einfache
Verständnis von so genannten Endphaseverbrechen als neue Qualität der Gewalt
in den letzten Kriegsmonaten infrage. Gerade der genaue Blick auf die Konzep-
tionen und Planungen von Konzentrationslagerräumungen macht deutlich, dass
im Falle der Notwendigkeit einer temporären Gebietsaufgabe der Abtransport von
Gefangenen und »Schutzhäftlingen« schon vor Kriegsbeginn als »Skript der
Gewalt«76 in die Maßnahmenkatalogen deutscher Kriegführung eingeschrieben
und damit zu einer formalisierten, abrufbaren Handlungsoption geworden war.77
Der Kriegsverlauf und die in Polen, der Sowjetunion und auf den deutschen Rück-
zügen gemachten Erfahrungen der Besatzer beeinflussten wechselseitig auch die
Radikalisierung der Gewalt im Reichsinneren. Die ab der Kriegswende 1942/43
stark ansteigenden Gefangenenzahlen wie auch die der Zwangsarbeiter und
Zwangsarbeiterinnen trugen zusätzlich zu den für die Kriegsendphase kennzeich-
nenden Gewaltdynamiken bei, da die betroffenen Menschen zunehmend als
Gefahrenquelle im Inneren des Deutschen Reiches galten.
75 Vgl. Beitrag Fubel in diesem Heft, sowie Johannes Tuchel, Die Todesurteile des Kammer-
gerichts 1943 bis 1945. Eine Dokumentation. Hrsg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in
Kooperation mit dem Forum Recht und Kultur im Kammergericht e.V., Berlin 2016, S. 45; vgl. auch
Queiser, Das Massaker (wie Anm. 2).
76 Vgl. Ulrike Jureit, Skripte der Gewalt. Städtischer Raum und kollektive Gewalt in der mittelfrän-
kischen Provinz. In: Städte im Nationalsozialismus. Urbane Räume und soziale Ordnungen. Hrsg.
von Winfried Süß und Malte Thießen, Göttingen 2017 (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozia-
lismus, 33), S. 47–65.
77 Vgl. Arnold, Die Freimachung (wie Anm. 26).
24 F. Ackermann, J. Fubel und C. Weber OLDENBOURG
Eine Spezifik von Evakuierungsverbrechen ist, dass sie eng mit einer anstehen-
den räumlichen Verschiebung staatlicher Herrschaft verbunden sind. Diese
Beobachtung unterstreicht die räumliche Dimension von Gewalt, die in konkreten
Konfigurationen vor Ort entfacht wird. Ein theoretischer Beitrag des For-
schungsansatz zu Evakuierungen als Mittel der Kriegführung besteht darin, das
Verhältnis der temporären und räumlichen Dimension von Staatlichkeit in den
Mittelpunkt der Analyse von Evakuierungen zu stellen. Die Beiträge des Themen-
heftes zeigen dazu empirisch, wie unterschiedliche staatliche Akteure in
konkreten Situationen des militärischen Rückzugs auf den absehbaren Verlust
von Staatlichkeit in dem von ihnen beherrschten Territorium reagieren.
Das kritische Verhältnis von Zeit und Raum beim (bevorstehenden) Verlust
von Herrschaft und damit auch die Bedrohung der Staatlichkeit an sich lenkt die
Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung seitens der Bevölkerung und der staatli-
chen Akteure. Sowohl die Bewohner eines Gebietes als auch die für seine
Kontrolle Verantwortlichen reagierten wie Seismografen auf den Verlust staat-
licher Herrschaft, da ihre Lebensgrundlage und ihre Sicherheit bis zu diesem
Zeitpunkt vom Staat und seinen Institutionen gewährleistet wurden. Staatliche
Herrschaft selbst wird durch das (zumindest vorgestellte) Gewaltmonopol
gewährleistet, das im Augenblick einer militärischen Auseinandersetzung zusam-
menzubrechen droht. Aus diesem Grund spielte noch im Vorfeld des Zweiten
Weltkriegs die öffentliche Beobachtung von Mobilmachungen und später das
Verfolgen von Frontverläufen eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung von
Menschen, die sich in der Nähe eines potenziellen Frontverlaufs oder von kriti-
schen Infrastrukturen befanden.78 Das Wissen über räumliche Veränderungen
78 Siehe dazu den Beitrag von Felix Ackermann zum September 1939 in diesem Heft. Diese Wahr-
nehmungsgeschichte von Frontverläufen lässt sich auf den Ersten Weltkrieg zurückführen, siehe
etwa das Kriegstagebuch des deutschen Stadtkommandanten von Grodno: Kurt Klamroth, Meine
Erlebnisse im Weltkriege. Nach meinem Kriegstagebuche für meine Kinder niedergeschrieben,
Berlin 1919–1920, Familienarchiv Wibke Bruhns, Berlin-Charlottenburg. Sowohl in den Berichten
von Juden im Versteck jenseits der Ghettogrenzen als auch in Erinnerungen von Gefängnisinsassen
spielten selbst kleinste Versatzstücke von Wissen über den Frontverlauf eine zentrale Rolle für
die psychische Konstituierung der Betroffenen, vgl. Jochen Voit, Gedenkstätte Andreasstraße.
Haft, Diktatur und Revolution in Erfurt, Berlin 2016, S. 21; Gerhard Buchan, Dokumentation der
Gedenkveranstaltung von B-project anlässlich des Massakers an Häftlingen des Zuchthauses
Stein am 6. April 1945, Wien 1997. Dasselbe galt auch für ihre Verfolger und Aufseher, die eben-
falls gespannt jede Information über die näher rückende Front verfolgten. Vgl. Krystian
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 25
zeichnend für diesen Prozess ist, dass Akteure davon ausgehen, dass es sich um
eine vorübergehende Verschiebung der Staatsgrenzen und des Verlustes von
Staatsgebieten handelt. Eine systematische Untersuchung der Aufgabe von Terri-
torien als aktive Form der temporären Verschiebung von Staatlichkeit steht noch
aus. Die in diesem Themenheft versammelten Beiträge zeigen bereits eindrück-
lich, dass in meist unreflektiert verwendeten Sprachbildern vom Zusammenbruch
eine Vorstellung der Auflösung von Staatlichkeit enthalten ist, die von einem
Zerfall staatlicher Herrschaft unter der Einwirkung von Gewalt ausgeht. In den
dabei zum Tragen kommenden Bildern erscheint der Staat als Gebäude, das bei
Verlust der Statik durch die Beschädigung einzelner tragender Elemente »in sich
zusammenfällt«.
Das von Felix Ackermann kontextualisierte Beispiel einer Gefängnisevakuie-
rung am Beginn des »Polenfeldzugs« und Laura Eckls Analyse sowjetischer
Evakuierungsmaßnahmen in Charkiv weisen über das nationalsozialistische
Exempel hinaus. Auch die Vertreter der Polnischen Republik und der Sowjet-
union mussten Entscheidungen treffen, wie sie die Auflösung staatlicher Struk-
turen im Angesicht des deutschen Angriffs vornehmen. Dazu gehörte etwa die
Zerstörung von Dokumenten und Industrieanlagen, aber auch die Verschiebung
ganzer Institutionen und Industrieanlagen ostwärts.82 Werden Evakuierungen als
proaktive Form der territorialen Verschiebung von Staatlichkeit gefasst, tritt
zutage, dass der hier skizzierte Ansatz bestehende Forschungen zu militärischen
Rückzügen aufgreift und erweitert. Das Ergebnis ist eine systematische Betrach-
tung des Zusammenspiels der Akteure ziviler und militärischer Institutionen, die
das staatliche Vorgehen bei einer bevorstehenden Gebietsaufgabe gestalten. Auf
diese Weise tritt außerdem zum Vorschein, was für alle hier untersuchten
Beispiele zutrifft: Da die Akteure eines in Auflösung begriffenen Staates sowohl
Bürger als auch Vertreter dieser Herrschaftsform darstellen, sind sie Handelnde
und Betroffene zugleich. Sie entscheiden über die räumliche Verschiebung jener
für den Staat als wichtig erachteten Ressourcen. Die Dualität dieser Situation
vorstellen konnten, dass die Front schon in wenigen Monaten die Grenze zwischen dem Deutschen
Reich und der Republik Polen von 1939 erreichen wird. Siehe den entsprechenden Bestand im
Staatsarchiv Posen: Archiwum Państwowe w Poznaniu 53/299/0 Namiestnik Rzeszy w Okręgu
Kraju Warty – Poznań, Signatur 5.5 Aktion Warschau; sowie Łuczak Czesław, Aktion Warschau. In:
Studia Historiae Oeconimcae 2 (1967), S. 201–207.
82 Vgl. Adam Stebelski, The Fate of Polish Archives During World War II, Warszawa 1964; Patricia
Kennedy Grimsted, Trophies of War and Empire. The Archival Heritage of Ukraine, World War II,
and the International Politics of Restitution, Cambridge, MA 2001 (= Harvard Papers in Ukrainian
Studies). Siehe dazu ein laufendes Forschungsprojekt zu Beuteakten am Deutschen Historischen
Institut Moskau, online: <https//www.dhi-moskau.org/de/forschung/20-bis-21-jahrhundert-die-
udssr-und-russland-in-der-welt/deutsche-akten-im-camo.html> (letzter Zugriff 28.3.2022).
OLDENBOURG Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg 27
besteht darin, dass die auf dem Territorium verbleibenden Akteure zur letzten
Instanz des Staates gehören. Sie sind für dessen Schutz verantwortlich, auch,
um in Angesicht von Kriegs‑ und Kampfhandlungen ihr eigenes (Über-)Leben zu
sichern. Mit dem geschärften Blick auf die Doppelrolle staatlicher Akteure lässt
sich beispielsweise das Evakuierungsverhalten von Angehörigen des Strafvoll-
zugs der Polnischen Republik in den ersten Septembertagen 1939 mit dem von
Mitgliedern der Kommunistischen Partei in den Westgebieten der Sowjetunion
im Juni 1941 und selbst mit dem Handeln von SS, Gestapo und NDSAP im Früh-
jahr 1945 in eine analytische Beziehung setzen, ohne die Evakuierungen gleich-
zusetzen und das hierbei vollzogene Handeln zu relativieren. Die Gesamtschau
der von uns versammelten Beiträge zeigt, dass sich die Skala des Zwangs und der
Gewalt unterschied ebenso wie ihr Ausmaß mit der bereits vor Kriegsbeginn in die
vorherrschende Ideologie eingeschriebenen Gewalt korrelierte.